Politisches Denken und Architektur im Mittelalter 3770565134, 9783770565139

Der Autor legt die wachsende Bedeutung der Architektur im politischen Denken des Mittelalters dar. Er demonstriert, wie

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German Pages 448 [445] Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
I Politik und Mauern: Geschichte des behandelten Problems
II Die Begrenzungen der Untersuchung: Quellen und Methoden
III Gehen wir ein Stück? Der Ablauf der Ausführungen
Erster Teil Zur Geltung der Architektur im politischen Denken des Mittelalters
1.1 Die Bibel und erste Stellungnahmen zur Architektur
1.1.1 Architektur und Stadt in der Bibel
1.1.2 Schriftsinne und Architektur im politischen Denken Augustins
1.1.3 Martianus Capella und der Kanon der artes liberales
1.1.4 Atto von Vercelli: Architektur als Machtmittel des Tyrannen
1.1.5 Arbeit und Körperlichkeit im urbanen Raum
1.2 Über die Aufwertung der Architektur
1.2.1 Die Schule von Chartres
1.2.2 Hugo von St. Viktor und die Kanonisierung der mechanica
1.2.3 Stellung der Architektur im Umfeld Hugos von St. Viktor
1.3 Architektur im politischen Denken des 13. Jahrhunderts
1.3.1 Das Speculum Maius des Vinzenz von Beauvais
1.3.2 Baukunst bei Brunetto Latini
1.3.3 Architektur bei Albertus Magnus
1.3.4 Zur Bedeutung der Architektur im Werk des Thomas von Aquin
1.3.4.1 Architektur im Politik-Kommentar
1.3.4.2 Summa contra Gentiles und Summa theologiae
1.3.4.3 Zu Fragen der Architektur in De regno ad regem Cypri
1.3.5 Das 13. Jahrhundert: ein rascher Blick zurück
1.4 Das 14. Jahrhundert: nacherzählt anhand von vier Beispielen
1.4.1 Dante und die Architektur
1.4.2 Architektur in Marsilius von Paduas Defensor Pacis
1.4.3 Ambrogio Lorenzettis Fresken in Sienas Palazzo Publico
1.4.4 Bartolus von Sassoferrato und der Diskurs um Festungsbauten
1.5 Machiavelli und Hobbes: Nichts Neues am Beginn der Neuzeit?
Zweiter Teil Die Architektur des Denkens
2.1 Eine Frage aus dem Elfenbeinturm
2.2 Die Ursprünge der Dichotomie von Stadt und Land
2.3 Denkräume der Antike
2.3.1 Das Land als präferierter Denkort
2.3.2 Denken im urbanen Raum
2.3.3 Von der Ortlosigkeit antiken Denkens
2.4 Zwerge auf den Schultern von Riesen: Denkorte im Mittelalter
2.4.1 Zur mittelalterlichen Ortlosigkeit des Denkens
2.4.2 Vom Rückzug auf das Land
2.4.3 Städtische Räume des Denkens
2.4.4 Die utopische Ortlosigkeit weiblichen Denkens
2.5 Die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Denkprozessen
2.5.1 Die Pose des Denkers
2.5.2 Denken im Gehäus
2.5.3 Parodie, Kritik und feindliche Übernahme
2.5.4 Versuch einer Erklärung
2.6 Eine etwas andere Geschichte der Universität im Mittelalter
2.6.1 Von räumlicher Öffnung
2.6.2 Von räumlicher Schließung
Schluss
Bildteil
Abbildungsnachweis
Literaturverzeichnis
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Politisches Denken und Architektur im Mittelalter
 3770565134, 9783770565139

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Politisches Denken und Architektur im Mittelalter

Benjamin Schmid

Politisches Denken und Architektur im Mittelalter

BRILL | Wilhelm Fink

Umschlagabbildung: Ambrogio Lorenzetti, Auswirkungen der guten Regierung auf das städtische Leben (Detail), 1338-1340, Palazzo Publico, Siena.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2020 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6513-9 (hardback) ISBN 978-3-8467-6513-5 (e-book)

Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I Politik und Mauern: Geschichte des behandelten Problems . . . . 2 II Die Begrenzungen der Untersuchung: Quellen und Methoden . . 22 III Gehen wir ein Stück? Der Ablauf der Ausführungen . . . . . . . . . . . 26 Erster Teil – Zur Geltung der Architektur im politischen Denken des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.1 Die Bibel und erste Stellungnahmen zur Architektur . . . . . . . . . . . 33 1.1.1 Architektur und Stadt in der Bibel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.1.2 Schriftsinne und Architektur im politischen Denken Augustins  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1.1.3 Martianus Capella und der Kanon der artes liberales . . . . 48 1.1.4 Atto von Vercelli: Architektur als Machtmittel des Tyrannen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1.1.5 Arbeit und Körperlichkeit im urbanen Raum . . . . . . . . . . . . 55 1.2 Über die Aufwertung der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1.2.1 Die Schule von Chartres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1.2.2 Hugo von St. Viktor und die Kanonisierung der mechanica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1.2.3 Stellung der Architektur im Umfeld Hugos von St. Viktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1.3 Architektur im politischen Denken des 13. Jahrhunderts  . . . . . . . 94 1.3.1 Das Speculum Maius des Vinzenz von Beauvais . . . . . . . . . 95 1.3.2 Baukunst bei Brunetto Latini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1.3.3 Architektur bei Albertus Magnus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1.3.4 Zur Bedeutung der Architektur im Werk des Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1.3.4.1 Architektur im Politik-Kommentar . . . . . . . . . . . . 120 1.3.4.2 Summa contra Gentiles und Summa theologiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1.3.4.3 Zu Fragen der Architektur in De regno ad regem Cypri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1.3.5 Das 13. Jahrhundert: ein rascher Blick zurück  . . . . . . . . . . . 158

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Inhalt

1.4 Das 14. Jahrhundert: nacherzählt anhand von vier Beispielen . . . 163 1.4.1 Dante und die Architektur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1.4.2 Architektur in Marsilius von Paduas Defensor Pacis . . . . . 171 1.4.3 Ambrogio Lorenzettis Fresken in Sienas Palazzo Publico . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1.4.4 Bartolus von Sassoferrato und der Diskurs um Festungsbauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1.5 Machiavelli und Hobbes: Nichts Neues am Beginn der Neuzeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Zweiter Teil – Die Architektur des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2.1 Eine Frage aus dem Elfenbeinturm  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2.2 Die Ursprünge der Dichotomie von Stadt und Land . . . . . . . . . . . . 208 2.3 Denkräume der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2.3.1 Das Land als präferierter Denkort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.3.2 Denken im urbanen Raum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2.3.3 Von der Ortlosigkeit antiken Denkens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2.4 Zwerge auf den Schultern von Riesen: Denkorte im Mittelalter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2.4.1 Zur mittelalterlichen Ortlosigkeit des Denkens . . . . . . . . . . 227 2.4.2 Vom Rückzug auf das Land  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2.4.3 Städtische Räume des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2.4.4 Die utopische Ortlosigkeit weiblichen Denkens . . . . . . . . . . 275 2.5 Die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Denkprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2.5.1 Die Pose des Denkers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2.5.2 Denken im Gehäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2.5.3 Parodie, Kritik und feindliche Übernahme . . . . . . . . . . . . . . 293 2.5.4 Versuch einer Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 2.6 Eine etwas andere Geschichte der Universität im Mittelalter . . . 316 2.6.1 Von räumlicher Öffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 2.6.2 Von räumlicher Schließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Bildteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Dank Das vorliegende Buch habe ich im Sommer 2017 an der Universität der Bundeswehr München als Dissertation eingereicht. Die Idee zu dieser Arbeit nahm erstmals im Seminar Politische Philosophie im Mittelalter Gestalt an, an dem ich im Wintersemester 2008/2009 an der Ludwig-MaximiliansUniversität München teilnehmen durfte. Aus meinem Seminarleiter wurde mein Doktorvater. Ihm, Prof. Dr. Dirk Lüddecke, schulde ich zuvorderst meinen Dank für seine Betreuung, das Gespräch und den Austausch mit ihm. Zu Dank verpflichtet bin ich ebenfalls meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Thomas Bohrmann, der sich der Arbeit mit großer Sorgfalt und kritischem Blick angenommen hat. Der Freundeskreis der Universität der Bundeswehr München e.V. hat die Arbeit 2018 mit seinem Forschungspreis ausgezeichnet. Auch ihm bin ich zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Ohne die Hilfe und Unterstützung meiner Kollegen, Freunde und Familie wäre die Arbeit nicht geschrieben worden. Ihnen allen Danke ich von Herzen. München im Sommer 2019

Einleitung Ursprung aller Politik ist die Architektur. Ihr Wirken kreiert den Raum, der für das Zusammenkommen der Menschen notwendig ist, und erzeugt damit zugleich eine Identität der so zusammengekommenen Menschenmenge, indem sie definiert, wer der Versammlung zugehörig ist und wer nicht.1 Für Außenstehende galt die Agora, die Bezeichnung der Griechen für die Versammlung der Menschen, aber eben auch den Ort dieser Versammlung, als das bestimmende Merkmal einer Polis.2 Dem griechischen Philosophen Heraklit gemäß sind die von wie auf einer Agora beschlossenen Normen für das Gemeinwesen nicht minder wichtig als seine Bauten und Mauern.3 In diesem Sinne ließ man auch die Demokratisierung Athens mit der Flotte, den von Herodot sogenannten „Mauern aus Holz“, ihren Anfang nehmen.4 In diesem Sinne steht am Anfang auch der römischen Geschichte der Satz des Remus über die eben erst erbaute Mauer seines Bruders.5 Und in diesem Sinne nennt Titus Livius seine Geschichte Roms Ab urbe condita, von condere gründen aber eben auch erbauen. Untrennbar ist die Gründung Roms mit der Architektur verbunden. Untrennbar verbunden ist die Gründung der politischen Gemeinschaft mit der Architektur sodann auch in der Bibel. Der erste Politiker und der erste Architekt der Menschheit sind in der Schrift vereint in ein und derselben Person: dem Brudermörder Kain, dem Begründer von Henoch.6 Konfrontiert mit der griechisch-römischen Traditionslinie auf der einen Seite und dem biblischen Herkommen von Architektur und Politik auf der anderen Seite, setzten sich die politischen Denker des Mittelalters in ihren Werken mit dem Verhältnis beider auseinander und entwickelten im Verlauf 1  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 33 und 264. Drechsel: Mauer. S. 132. Nunn: Einleitung. S. 13. Sofsky: Die Verteidigung des Privaten. S. 30 und 37-38. Hierzu auch die These von Chantal Mouffe: Über das Politische. S. 8. 2  So der Perserkönig Kyros II. in Herodot: Historien. I,153, S. 143. Hierzu und zur Etymologie der Agora siehe Kolb: Agora. Sp. 267 und Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 264. Zur Bedeutung der Agora für die Polis Hölscher: Öffentliche Räume in frühen griechischen Städten. S. 29-45. 3  Diels/Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. 22 B 44, S. 160. 4  Herodot: Historien. VII,140-144, S. 971. Bleicken: Die athenische Demokratie. S. 49-50. Schulz: Die Antike und das Meer. 93-95. Skeptischer zu dieser Deutung dagegen Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. S. 66-68. 5  Plutarch: Große Griechen und Römer. Bd. 1. Romulus 10-11, S. 87-89. Titus Livius: Römische Geschichte. I,6,3-I,7,3, S. 23. Ovid: Fasti. III,59-72, S. 101-103 und IV,807-848, S. 193-195. Properz: Gedichte. IV,1,56-57, S. 199. 6  1. Mose IV,16-17.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765135_002

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Einleitung

der Diskussion Antworten auf Fragen etwa zum wissenschaftssystematischen Standort der Baukunst, zu ihrer Bedeutung für die Politik sowie ihrem Einfluss auf das politische Denken selbst. Die nachfolgenden Seiten sollen anhand einer zweifachen Fragestellung eine Rekonstruktion dieser Diskussion und des Verhältnisses von politischem Denken und Architektur im Mittelalter leisten. Gefragt wird hierfür einerseits nach der Bedeutung der Architektur innerhalb des politischen Denkens des Mittelalters und andererseits danach, ob dieses Denken einen architektonisch geformten Raum benötigt, um überhaupt gedacht werden zu können.7 I

Politik und Mauern: Geschichte des behandelten Problems

Folgt man der Spur der Wörter zurück zu ihrer Herkunft, so deutet bereits die Etymologie der Begriffe Architektur und Politik eine Verbindung beider Sphären an. Architektur, ein lateinisches Kunstwort, zusammengesetzt aus 7   Untersuchungen zum Ort des Denkens haben vorgelegt etwa: Wolfgang Liebenwein mit seiner Studie zur Geschichte des Studierzimmers vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (Liebenwein: Studiolo. S. 9), Heidrun Friese und Peter Wagner, die im Raum den Ausdruck der gesellschaftlichen Rolle, sozialen Stellung und Funktion des Gelehrten sehen (Friese/ Wagner: Der Raum des Gelehrten. S. 8) und Karin Priem, für die der Raum nicht allein Schauplatz, sondern mehr noch Einflussfaktor auf Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse ist (Priem: Pädagogische Räume – Räume der Pädagogik. S. 27. Siehe hierzu auch Kühn: Architekturkolumne. S. 27). Der Bezug der Kategorie des Wissens zum Raum wird thematisiert ferner in dem von Katharina Bahlmann, Elisabeth Oy-Marra und Cornelia Schneider herausgegebenen Sammelband Gewusst wo! Wissen schafft Räume (Oy-Marra/ Schneider: Einleitung. S. XIII). Weiterhin wird die Verortung des Denkens in dem von Murat Ates, James Garrison, Georg Stenger und Franz Wimmer herausgegebene Sammelband Orte des Denkens – Places of Thinking thematisiert (Ates/Garrison/Stenger/Wimmer: Vorwort. S. 11-12). Eine Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Orten des Denkens jedoch fehlt in diesem Sammelband. Zu einer philosophischen Vorbestimmung des Ortes siehe Stenger: Ort/e – Ortungen – Orientierungen. S. 23-25. Philosophiegeschichtlich bedeutsam ist die Bestimmung des Ortes bei Aristoteles (Aristoteles: Physik. IV,1, 208a, S. 149). Zu Abgrenzung des Ortes vom Nicht-Ort Augé: Nicht-Orte. S. 83-84. Dem Thema Raum und Raumvorstellung im Mittelalter widmete sich der Band 25 der Miscellanea Mediaevalia. Jan Aertsen stellt in ihm einleitend fest, dass die Kategorie des Raums in der Mediävistik bislang zu kurz gekommen sei und der Sammelband diese Lücke schließen solle (Speer: Zur Einleitung. S. XI-XII). In der Philosophie der Architektur zeichnet Ludger Schwarte den Erscheinungsraum konkreter Handlungsmöglichkeiten nach, indem er architektonische Manifestationen wie den Stadtplatz, die Bibliothek oder das Parlament untersucht (Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 10). Zum spatial turn der Überblick bei Bachmann-Medick: Cultural Turns. S. 284-330. Als theoretisch und politisch kurzsichtig wird der spatial turn dagegen etwa bewertet bei Lippuner/Lossau: In der Raumfalle. S. 47-48.

Politik und Mauern: Geschichte des behandelten Problems

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den griechischen Termini archē und tektainomai beziehungsweise tektōn, bezeichnet das Bauen (tektainomai) beziehungsweise den Baumeister (tektōn) und zugleich die Herrschaft (archē).8 Herrschaft aber benötige, so Marc Augé, die Werke der Baukunst, um sich den Zufälligkeiten der Zeit zu entziehen und sich auf Dauer zu stellen.9 Diese Verstetigung nimmt ihren Anfang in der Architektur. Ein Anfang, der seinerseits im Griechischen archē anklingt, benennt das Wort doch nicht allein Herrschaft, sondern eben auch Anfang, Ursprung oder Quelle.10 Am Anfang griechischen Philosophierens versteht der Milesier Anaximander den Anfang (archē) als das Unbegrenzte.11 Am Anfang christlichen Denkens dagegen steht nicht das Unbegrenzte Anaximanders. „Im Anfang“ (en archē), schreibt der Evangelist Johannes, „war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“12 Aber nicht das Wort Gottes steht dem Unbegrenzten Anaximanders entgegen, sondern dessen Stein gewordene Manifestationen: die Mauern und das Tor Edens, vor allem aber das von Menschenhand erbaute Henoch, die erste Stadt der Menschheit, der erste Ort ihrer Versammlung nach der Vertreibung aus dem Paradies. Mit ihr nimmt die politische und architektonische Tätigkeit der Menschen ihren Anfang und 8  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 17. Feldtkeller: Architektur. S. 286. Abweichend hiervon die Etymologie bei Rather: Architektur. Sp. 861. 9  Augé: Nicht-Orte. S. 65-66. Paradigmatisch nachvollziehbar ist diese Verbindung anhand der Beschäftigung mit dem Fortuna zugeschriebenen Wirken. Im XXV. Kapitel des Principe macht Niccolò Machiavelli darauf aufmerksam, dass das Wirken dieser unbeherrschten Macht durch Werke der Baukunst beherrschbarer werden könne (Machiavelli: Il Principe. S. 193). Hierzu ähnlich hat eine Skulptur den spanischen König Philipp II., anlässlich seines Einzugs in Mantua 1549, dargestellt, wie er Fortuna an einen marmornen Quader kettet (Brink: Fortuna. S. 355). Korrespondierend zu dieser Darstellungsform Fortunas, steht rund ein Jahrhundert später ein Emblem Otto van Veens unter dem Motto, dass Bewegliches befestigt werde (mobile fit fixum), wenn es den Globus auf einem mit Ruhe beschriebenen Würfel abbildet (Brink: Fortuna. S. 357-358). Fortuna dagegen steht für Mobilität und Bewegung. Zu ihren Attributen gehören Flügel, Kugel und Rad (Brink: Fortuna. S. 353). Architektur aber nimmt Fortuna die Fähigkeit zur Bewegung. Eine andere, von den bisher genannten abweichende Darstellung erblickt man in Albrecht Dürers Stich Nemesis oder das große Glück. Dürer zeigt die Göttin über der Welt, über Natur und von Menschhand Geschaffenem schwebend. Architektur vermag ihr keine Ketten anzulegen (Eichler: Albrecht Dürer. S. 64-68. Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers. S. 122-125. Rebel: Albrecht Dürer. S. 192-193). 10  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 15. Feldtkeller: Architektur. S. 286. 11  Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. II,1, S. 73. Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 15. Von Anaximanders Auffassung abweichend verstand beispielsweise Thales nicht das Unbegrenzte, sondern das Wasser als archē (Aristoteles: Metaphysik. (Schwarz) I,3, 983b, S. 24-25). Zu Thales und Anaximander Schulz: Die Antike und das Meer. S. 70-73. Scholtz: Philosophie des Meeres. S. 13-25. 12  Joh I,1. Nestle: Novum Testamentum Graece. Joh I,1, S. 230.

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Einleitung

ihr Bauherr, der Brudermörder Kain, wird zum Gründungsvater der Architektur gleichwie der Politik.13 Den biblischen Anfängen von Politik hierin ähnlich war auch die Praxis der Neugründung einer Polis, wie sie die Griechen vor allem mit dem Einsetzen der Kolonisationsbewegung seit dem späten 8. vorchristlichen Jahrhundert betrieben. Zu einer der ersten Aufgaben zählte die Errichtung der Mauer.14 Der Mauerbau gehört somit zum Gründungsakt der politischen Gemeinschaft.15 Für Karolina Zobel ist demnach selbst der Begriff des Bürgers bei Homer von der Mauer abhängig. Bürger sei jener, der hinter der Mauer in einer Stadt lebe. Folgerichtig würden in der Ilias allein die Trojaner als Bürger bezeichnet, nicht jedoch die Achäer, die lediglich in ihrem Feldlager Quartier bezogen haben.16 Derart hervorgehoben hat die Bedeutung der Mauern für die politische Welt der Griechen auch Hannah Arendt. Mauern und Gesetze seien es, die den Zusammenhalt dieser durch den agonalen Geist ihrer Bewohner bedrohten Welt eine gemeinsame Grundlage geben.17 Dagegen liest man wiederholt, dass dem Begriff Politik ein Bezug zu den Mauern, zur Architektur allgemein, fremd sei. Eine in wissenschaftlicher Literatur selten anzutreffende Einigkeit macht es nahezu gleichgültig, welche Werke man zu Rate zieht, über die Wurzeln des Wortes Politik findet man allerorten dieselben oder zumindest doch vergleichbare Antworten. Im Griechischen sei die Wurzel von Politik zu verorten. Mit der Polis habe sie etwas zu tun und bei Denkern wie Platon oder Aristoteles sei sie zu finden. Zu den Wurzeln von Politik gerechnet werden neben der Polis, die griechischen Bezeichnungen für den Bürger (politēs), die öffentlichen Angelegenheiten (ta politika) und ferner 13  Zur architektonischen Einfassung Edens sowie der Personalie Kains als erstem Baumeister und Politiker: Mayer-Tasch/Mayerhofer: Hinter Mauern ein Paradies. S. 11. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 55. Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. IV/1. Sp. 1390-1392. Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. VII. Sp. 1453. 1. Mose IV,16-17. Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,1, S. 212-214. 14  Coulanges: Der antike Staat. S. 179-189. Höcker: Städtebau. Sp. 906. Homer: Odyssee. VI,7-10, S. 157. Schulz: Die Antike und das Meer. S. 41-42. Hölscher: Öffentliche Räume in frühen griechischen Städten. S. 67-68. James Tracy: Introduction. S. 1 hebt hervor: „the earliest settlements that archeological research commonly recognizes as cities are also the earliest cities known to have been walled.“. 15  Nunn: Einleitung. S. 13. Drechsel: Mauer. S. 132. 16  Zobel: Polizei. S. I,2. Homer: Ilias. XV,558, S. 523 und XXII,429, S. 765. Siehe auch Lauffer: Πολίτης. S. 376. Für die Bedeutung der Mauern im mittelalterlichen Diskurs um den Bürger siehe Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 51-71. 17  Arendt: Sokrates. S. 50-51. Vgl. auch Arendt: Was ist Politik? S. 99. Zum agonalen Geist der Griechen Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. 15-16.

Politik und Mauern: Geschichte des behandelten Problems

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die Kunst der Führung oder Verwaltung eben jener Angelegenheiten (politikē technē).18 Ebenso wird die Herkunft des Wortes Politik im Wörterbuch der Gebrüder Grimm wie in Ernst Wasserziehers etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache von ta politika abgeleitet.19 Schließlich sucht man auch in den entsprechenden Artikeln des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik, den Geschichtlichen Grundbegriffen und dem Historischen Wörterbuch der Philosophie vergeblich nach einer anders lautenden Deutung. Vielmehr heißt es auch dort, dass Politik von der griechischen Bezeichnung ta politika herrühre, bei der es sich um die Substantivierung des Adjektivs politikos handele, welches seinerseits von politēs abgeleitet sei.20 Die genannten Texte gleichen sich schließlich nicht allein in ihrer übereinstimmenden Haltung über die Herkunft des Wortes Politik, sie gleichen sich auch durch die angegebenen Quellen für ihre Befunde. Auf Platon, Thukydides und Xenophon wird ebenso verwiesen wie auf Aristoteles.21 Dem hielt Karolina Zobel auf den ersten Seiten ihrer Untersuchung über die Geschichte und den Bedeutungswandel des Begriffs Polizei eher beiläufig entgegen, dass die Autoren dieser Werke damit nicht nur bei den Quellen, sondern auch bei den genannten sprachlichen Wurzeln eine falsche Fährte verfolgen. Nicht in den Termini Polis oder Bürger sei der sprachliche Ursprung von Politik zu suchen, sondern im Verbum polizein: eine Polis, oder präziser, eine Mauer erbauen. Die Mauer bestimme, was eine Polis und wer ein Bürger sei.22 Zur Absicherung ihres Befundes stützte sich Zobel dabei auf eine wesentlich ältere Quelle als die zuvor erwähnten Texte, nämlich Homers Ilias.23 Gleichwohl sich

18  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. 7. Schmidt: Wörterbuch zur Politik. S. 729. Schmidt: Politik. S. 83. Schmitt: Politik (1936). S. 138. Schultze: Politik/ Politikbegriff. S. 488. Auf letzteren beruft sich auch Schwaabe: Politische Theorie 1. S. 11. 19  Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. VII. Sp. 1979. Wasserzieher: Woher? S. 186. 20  Nippel: Politik. Sp. 1445. Sellin: Politik. S. 789. Meier: Politik. Sp. 1038. Meier/Papenheim/ Steinmetz: Semantiken des Politischen. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. S. 7. 21  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. 7. Schmidt: Politik. S. 83-84. Sellin: Politik. S. 789. 22  Zobel: Polizei. S. I,1-I,2. Curtius: Grundzüge der griechischen Etymologie. S. 282 scheint zumindest die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Polis und polizein in Betracht zu ziehen. Erwähnung findet die Arbeit Zobels bei Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. S. 131-133. 23  Zobel: Polizei. S. I,1 verweist auf Homer: Ilias. VII,453, S. 246-247. Einen weitaus älteren Quellentext, das Gilgamesch-Epos, lässt Zobel jedoch unerwähnt. Auch hier bestimmt die Mauer Politik. Siehe Maul: Gilgamesch, König von Uruk. S. 37-38. Zur Beeinflussung der Ilias wie der Odyssee durch das Gilgamesch-Epos Burkert: Die Griechen und der Orient. S. 28-54. Schrott: Homers Heimat. S. 175-181. Steymans: Gilgameš im Westen. S. 328-334. Ungnad: Gilgamesch-Epos und Odyssee. S. 137. West: The East Face of Helicon. S. 334-437.

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diese These in der Forschung nicht durchzusetzen vermochte, bietet sie doch einen phänomenologisch ergiebigen Ansatz. Dabei ist der bei Homer aufzufindende Standpunkt bereits unter den Griechen keineswegs unstrittig. Von Platons reservierter Haltung Homer gegenüber soll hierbei gar nicht erst die Rede sein.24 Schon eher gilt es, auf die Aussagen des Aristoteles zu verweisen, wonach die Mauer zwar eine für die Sicherheitsbelange der Polis relevante Konstruktion sei, sie darüber hinaus aber nicht als deren Grundlage angesehen werden könne.25 Die Polis sei, so der Philosoph bereits im ersten Satz der Politik, als eine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft der Bürger aufzufassen, wie er im weiteren Verlauf des Werkes näher ausführt.26 Derart lautete auch das Urteil in Aischylos’ Tragödie die Perser. Im dreihundertneunundvierzigsten Vers wird auf die Frage, ob die Stadt der Athener noch unzerstört sei, die Antwort gegeben: „Wo Männer sind, schirmt eines Walles sichre Wehr.“27 Es ist also eben nicht die Mauer, durch die die Polis definiert wird. Entscheidend sind allein die Bürger. Somit hätten doch die eingangs erwähnten Darstellungen recht, die in ihnen, den Bürgern, die Wurzeln von Politik erblicken möchten. Dementsprechend fällt auch das Urteil im König Oidipus des Sophokles aus: „Denn lenkst du künftig dieses Land, wie du ja herrschst, / ist es mit Menschen schöner als im leeren Raum, / und nichts mehr wert ist weder fester Wall noch Schiff, / entblößt der Männer und von niemand mehr bewohnt.“28 Schließlich findet sich auch in Thukydides’ 24  Platon: Der Staat (Politeia). II,16-17, 376e-378e, S. 150-153. Erwägenswert erweist sich hingegen Hannah Arendts Interpretation von Platon: Phaidon. 80e-84b, S. 43-48. Die religiöse Wirkung dieser Platon-Passage habe, so Arendt, ihre ursprüngliche Erfahrungsgrundlage überdeckt. So geriet in Vergessenheit, dass Platon, wenn er den Körper ein Gefängnis der Seele nenne, den Konflikt zwischen Politik und Philosophie anspreche. Einen Konflikt, den er abermals im Höhlengleichnis thematisiere (Platon: Der Staat (Politeia). VI,1-2, 514a-517a, S. 326-330). Politik und Architektur können in Arendts Auslegung insofern als eins gedacht werden, wenn sie betont, dass der Körper die Stadt der Menschen bewohne, die Philosophie aber die Trennung vom Körper erfordere, da für alle Formen des Denkens das Alleinsein notwendig sei (Arendt: Sokrates. S. 63 und 68-74. Vgl. Bruns: Der politische Raum als verborgener Grund des metaphysischen Denkens. S. 375-378). Zwar ist es hier noch möglich, Stadt als einen Zusammenschluss der Menschen zu erfassen, berücksichtigt man jedoch die Szenerie des Phaidon, das in Phleius gelegene Gefängnis, in dem Sokrates seiner Hinrichtung harrt, (Platon: Phaidon. 57a, S. 3) wie auch die Örtlichkeit des Höhlengleichnisses, wird eine Verbindung von Politik und Architektur möglich. Eine Verbindung indes, die dem Denken entgegensteht und deswegen zumindest skeptisch betrachtet werden muss. 25  Aristoteles: Politik. VII,11, 1330b-1331a, S. 347 und III,3, 1276a, S. 159. 26  Aristoteles: Politik. I,1, 1252a, S. 75 und III,3, 1276b, S. 159. 27  Aischylos: Perser. 348-349, S. 283. 28  Sophokles: König Oidipus. 54-57, S. 361. Jedoch kann in den Werken des Sophokles auch eine hiervon abweichende Haltung gefunden werden. In der Antigone wird die

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Geschichte des Peloponnesischen Krieges die an die Männer von Athen gerichtete Aussage, „[…] dass ihr selbst, sobald ihr euch irgendwo niederlasst, schon eine Stadt seid […] denn Männer machen eine Stadt aus, nicht Mauern und nicht unbemannte Schiffe.“29 Eine Sonderstellung in der Auseinandersetzung nimmt der Kyniker Diogenes von Sinope ein. Zwei seiner Bemerkungen lassen sich als Notizen zur Bedeutung der Bauten für die Bestimmung der Polis lesen. Doch lassen sich diese Bemerkungen verstehen als Notizen sowohl für als auch wider die Bedeutung der Bauten. Eine gesicherte Zuordnung von Diogenes’ Denken ist daher kaum möglich, gleicht das von ihm Überlieferte doch oftmals eher Anekdotischem mit dem Ziel, feststehende Sichtweisen in Frage zu stellen.30 Bei Diogenes Laertios ist die Episode überliefert, der zufolge der Kyniker beim Anblick des überdimensionierten Tors von Myndos den Bürgern der Stadt geraten haben soll, das Tor zu schließen, „sonst wandert euch die Stadt aus.“31 Zwei Lesarten bieten sich für diesen Ausspruch des Diogenes von Sinope an: Verstehen lässt er sich einerseits als eine sarkastische Anmerkung zu einem in der Tradition des Aristoteles stehenden Verständnisses von Mauern und Toren als einer den Schutz der Polis gewährleistenden Konstruktion. Eine schützende Funktion erkennt Diogenes selbst beiden nicht zu. Vielmehr sperren sie die Bürgerschaft von Myndos ein. Sie, die Bürger, sind es demnach, die die Polis ausmachen. Interpretieren lässt sich der Ausspruch andererseits aber auch dahingehend, dass Diogenes die Bauten innerhalb des Mauerrings als die Stadt verstanden wissen möchte. Der Spott des Diogenes zielt demnach auf das jedwedes Maß sprengende Tor der Stadt, das groß genug sei, dass all die Bauten von Myndos durch das geöffnete Tor entweichen könnten. Eindeutiger ist dagegen die im Florilegium des Johannes Stobaios überlieferte Anekdote, nach der Diogenes den Megarern zurief, dass ihnen weniger die Größe ihrer Mauern Sorge bereiten solle, als die Größe derer, die dereinst Titelheldin von Kreon dadurch bestraft, dass sie in einem Felsenschacht eingemauert und damit aus der Polis ausgeschlossen wird (Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. 191. Sophokles: Antigone. 769-780, S. 287). Hier dient die Mauer somit als Bestimmungsmerkmal für die Zugehörigkeit zur Polis. Ausgeschlossen wird Antigone mit dieser Bestrafung allerdings aus einer korrumpierten, zur Tyrannis gewordenen Polis (Sophokles: Antigone. 733-739, S. 285). Zwischen den von Sophokles im König Oidipus und der Antigone vertretenen Positionen muss daher nicht zwingend ein Widerspruch gesehen werden. Möglich ist es zudem in der Antigone eine Kritik an der Baupolitik des Perikles zu erkennen (Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. S. 220-221). 29  Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. VII,77, S. 1079-1081. 30  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/2. S. 283-284. 31  Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. VI,57, S. 323.

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auf diesen Mauern stehen würden.32 In auffälliger Weise wird hier den Bauten eine den Bürgern nachgeordnete Stellung zugeschrieben. Die teils widersprüchlichen Überlieferungen des Diogenes von Sinope sind damit mehr Zeugnis für die Existenz der Auseinandersetzung selbst, als dass man mit ihnen den Kyniker einer Richtung innerhalb der Diskussion zuordnen könnte. Doch nicht nur in der griechischen Klassik, auch in späteren Jahrhunderten, wurde die Diskussion um die Mauern fortgesetzt und fand die von Aristoteles, Aischylos und anderen vertretene Position ihre Verfechter. So beispielsweise bei Lukian, Aurelius Augustinus und Isidor von Sevilla.33 Wenngleich in einem anderen Zusammenhang vorgetragen, offeriert eine vergleichbare Verbindung auch Peter Abaelard dem Leser seines moralphilosophischen Traktats Scito te ipsum, das der Autor selbst nur Ethica nennt.34 Unter § 28 legt Abaelard dar, dass die Person dem Bauwerk vorangehe. Eine anderslautende Reihung geschehe allein „aus einem zweckmäßigen Gespür für Verwaltungsangelegenheiten, […].“35 In Anlehnung an die oben genannten Einwände des Aristoteles wider die Bedeutung der Mauern betonen in der Folge die mittelalterlichen Kommentatoren des Philosophen deren Nichtigkeit für die Bestimmung einer Stadt (civitas). Albertus Magnus, Thomas von Aquin oder Petrus von Alvernia wiederholen in ihren Ausführungen zur Politik des Stagireten dabei das bereits von Aristoteles vorgetragene Argument, wonach eine Stadt durch ihre Mauern nicht bestimmt werde, da man auch den Peloponnes durch eine Mauer einfassen könne, er deswegen aber noch keine Stadt sei.36 Fern der mittelalterlichen Aristoteles-Kommentatoren, fern auch des Mittelalters können mit Jacob Burckhardt, Max Weber und Christian Meier schließlich auch drei Vertreter dieser Position aus der jüngeren Vergangenheit benannt werden.37 32  Stobaei: Anthologii. VII,47, S. 321. Zum Werk des Stobaios Overwien: Die Sprüche des Kynikers Diogenes in der griechischen und arabischen Überlieferung. S. 55-56. Zu dem auf die Megarer bezogenen Diktum ferner auch ebd. S. 59 und 389. 33  Lucian: Anacharsis, or Athletics. S. 31. Augustinus: Sermones de scripturis. PL 38, 505. Isidor von Sevilla: Etymologiarum libri XX. PL 82, 536. 34  Steger: Einleitung. S. XII. 35  Abaelard: Scito te ipsum [Ethica]. § 28, S. 55. 36  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 212-213. Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 190. Petrus von Alvernia: Super librum politicorum. S. 90. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 57. 37  Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. S. 255. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Zweiter Halbband, 7. Abschnitt § 2, S. 944. Vgl. hierzu auch die Definition des Verbandes: Erster Halbband, 1. Teil, 1. Kapitel § 12, S. 34-36. Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. S. 27 und S. 253-254.

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Die permanente Betonung der Belanglosigkeit der Mauer ist jedoch verdächtig. Wenn Mauern keine Bedeutung für Politik haben, welcher Sinn liegt dann im fortwährenden Dementi ihrer Bedeutung? Noch einmal ist der Blick zurück auf die Griechen zu richten. Sollte mit den vorherigen Aussagen der Eindruck entstanden sein, dass die Vertreter der Klassik geschlossen gegen Homers Position standen, gilt es diesen zu relativieren. Im Schrifttum der klassischen Epoche der griechischen Geschichte offenbart sich vielmehr ein tiefgehender Riss quer durch alle Genres, sei es Philosophie, Historiographie oder Poesie. Entgegen den bisher vorgestellten Sichtweisen ist die Gruppe der Autoren, die im Sinne Homers argumentierten, die Mauer also als Bestimmungsmerkmal für die Polis und ihre Bürger ansahen, keineswegs geringer als jene, die sich gegen ihn gestellt haben. So ließe sich das Fragment B 44 Heraklits, „kämpfen soll die Bürgerschaft für ihr Gesetz wie für ihre Mauer“, in diesem Sinne deuten.38 Nur ist hier nicht direkt von der Polis, sondern vom Gesetz, vom Nomos, die Rede. Jedoch wird dieses mit der Mauer gleichgesetzt. Der Nomos, das Gesetz, ist die Grundlage der Polis. Über ihn definiert sie sich. Und die Mauer ist sein Garant.39 Das Fundament der Polis im Gesetz wird von Heraklit im Fragment B 114, „[…] auf das Gesetz die Stadt sich stützt […]“, ein weiteres Mal betont.40 Nicht minder deutlich ist die Identifikation der Mauer mit der Polis in Herodots Historien. Im vierten Buch heißt es dort über die als Nomaden lebenden Skythen: Sie seien „Leute, die sich weder Städte noch Mauern gegründet haben, […].“41 Ebenso ist auch der im siebten Buch wiedergegebene Spruch des Orakels von Delphi zu verstehen, wonach sich die Athener im bevorstehenden Krieg gegen die Perser der Mauern aus Holz, der Flotte, bedienen sollten.42 Ohne die hölzerne Mauer könne die Polis nicht bestehen. Wie bei Heraklit wird also auch bei Herodot die Mauer als Gewähr der autonomen Existenz der Polis dargestellt.43 Als Erkennungsmerkmal der Polis erscheint die Mauer schließlich auch in der Dichtung. So etwa in Euripides’ Satyrspiel Der Kyklop. Auf den menschenleeren Höhen Siziliens gelandet lässt Euripides Odysseus darin die Frage formulieren: „Wo sind die Türme, wo die Mauern einer Stadt?“44 Ebenso wird 38  Diels/Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. 22 B 44, S. 160. 39  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. 172. Eaton: Die ideale Stadt. S. 30. Rieger: Polis. S. 485. 40  Heraklit: Fragmente. B 114, S. 35. 41  Herodot: Historien. IV,46, S. 537. 42  Herodot: Historien. VII,140-144, S. 969-975. 43  Burckhardt: Befestigungswesen. Sp. 535. Höcker: Städtebau. Sp. 905-906. 44  Euripides: Der Kyklop. 115, S. 465.

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die Mauer auch in der von Aristophanes verfassten Komödie Die Vögel als das bestimmende Merkmal der Polis präsentiert. Das erste und einzige Bauwerk der Polis der Vögel ist die Stadtmauer. Mit dem Abschluss des Mauerbaus ist zugleich die neue Polis entstanden.45 In großer Zahl finden sich in der Geschichte des politischen Denkens fortan weitere Zeugnisse, die Homers Urteil bestätigen. Es soll an dieser Stelle genügen, auf einige wenige dieser Beispiele einzugehen. Einen ersten Hinweis etwa findet man in Ciceros De re publica, in der betont wird, dass erst dann von einer Stadt gesprochen werde, wenn der Wohnsitz durch „der Hände Werk geschützt [saepire, schützen, aber auch einhegen, umzäunen, d. Verf.]“ sei.46 Von noch größerer Relevanz für die römische Geschichte ist freilich der Gründungsmythos der Stadt selbst, die Geschichte der Brüder Romulus und Remus. Plutarch und Titus Livius, Ovid ebenso wie auch Properz schildern die Gründung Roms und betonen dabei alle die Rolle der Mauer bei der Entstehung der Stadt.47 Besondere Beachtung verdient dabei Properz, der für die Bezeichnung Roms nicht die Begrifflichkeiten civitas oder urbs bemüht, sondern die Stadt mit der Mauer (moenia) benennt. Unübersehbar ist die Betonung der Mauer schließlich auch in der sogenannten Jupiter-Prophezeiung in Vergils Aeneis. In ihr heißt es: schweren Krieg wird [Aeneas] in Italien führen und wilde / Völker zermalmen, den Männern begründen Sitten und Mauern, / bis der dritte Sommer in Latium sah seine Herrschaft, / und für die Ruteter, die er bezwingt, drei Winter schon Krieg war. / Jung-Askanius aber – […] / dreißig große Kreise im Schwung der rollenden Monde / herrschte er mit Macht, er trägt sein Reich von Lavinium fort, wird / Alba Longa stolz und stark zur Feste erbauen. / Hier wird drei Jahrhunderte nun beim Stamme des Hektor / bleiben das Reich; dann wird eine Priesterin, Tochter des Königs, / Ilia, schwanger von Mars und Mutter von Zwillingssöhnen. / Prangend umhüllt vom gelblichen Fell seiner Amme, der Wölfin, / führt dann Romulus weiter den Stamm: die Mauern der Marsstadt /

45  Aristophanes: Die Vögel. I,550-552, S. 31. 46  Cicero: De re publica. I,26 (41), S. 133. 47  Plutarch: Große Griechen und Römer. Bd. 1. Romulus 10-11, S. 87-89. Titus Livius: Römische Geschichte. I,6,3-I,7,3, S. 23. Ovid: Fasti. III,59-72, S. 101-103 und IV,807-848, S. 193-195. Properz: Gedichte. IV,1,56-57, S. 199. In den Metamorphosen offeriert Ovid eine andere Wertung der Mauern als in den Fasti. Troja, Roms Mutterstadt, die Heimat des Aeneas, wird in den Metamorphosen erstmals in Buch XI genannt, wenn Ovid vom Bau der Stadtmauern berichtet. Hier ist der Bau der Mauern allerdings eine nachgeordnete Tat. Vollzogen wird sie erst unter Trojas zweitem König Laomedon, zu einer Zeit, als die Stadt bereits bestand (Ovid: Metamorphosen. XI,199-205, S. 749-751).

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baut er auf und nennt nach seinem Namen die Römer. / Diesen setze ich weder in Raum noch Zeit eine Grenze, / endlos Reich hab ich ihnen verliehn; […].48

Nicht nur ist hier die Gründung Roms an die Mauer gebunden, deren Bau erst den Gründungsakt vollzieht, darüber hinaus werden auch die Sitten des Gemeinwesens, ähnlich wie schon bei Heraklit, mit der Mauer identifiziert. Eine derartige Verbindung von Sitten und Normen des Gemeinwesens mit den die Stadt umgebenden Mauern findet sich auch in der römischen Historiographie wieder. In einer Episode der von Pompeius Trogus geschriebenen und von Iustinus in Auszügen veröffentlichten Historiae Philippicae heißt es über die Gallier, dass diese ihr barbarisches Wesen ablegten, als sie von den Griechen die Praxis übernahmen, ihre Städte (urbes) mit Mauern zu umgeben und „nach Gesetzen und nicht bloß mit Waffengewalt zu leben“.49 Der Bau der Mauern und die Herrschaft der Gesetze geht auch hier Hand in Hand, ist zumindest ein zeitgleich stattfindendes Phänomen. Beobachten lässt sich der mit der Mauer verbundene Gründungsakt des Gemeinwesens ebenfalls im Mittelalter. So wurden in der Übergangsphase von der Spätantike zum Frühmittelalter durch den Verfall antiker Urbanität Städte vielfach zu burgartig bewehrten Siedlungen umfunktioniert. Hierzu führte Günter Bandmann aus, dass die durch ihre Mauern geschützte Burg (castrum) zunehmend als die eigentliche Stadt (civitas, urbs) verstanden und auch so bezeichnet wurde. Die Bewohner der Burg wurden damit zu den eigentlichen Bürgern (cives). Die in den unbefestigten Vorstädten (suburbium, burgus, portus, vicus) Wohnenden erhielten stattdessen die Bezeichnung burgenses.50 Die Bedeutung der Burg als Ausgangs- und Mittelpunkt von Politik wurde durch die Einfälle der Normannen, Sarazenen und Ungarn noch verstärkt. Da sich die Streitkräfte der karolingischen Könige als zu schwerfällig erwiesen, 48  Vergil: Aeneis. I,263-279, S. 21-23. Schmid, Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 53. 49  Pompeius Trogus: Weltgeschichte von den Anfängen bis Augustus. XLIII,4, S. 458. Zu den Verfassern der Historiae Philippicae Pompeius Trogus: Weltgeschichte von den Anfängen bis Augustus. Widmungsbrief an einen Unbekannten, S. 83-84. Seel: Einleitung. S. 7-12. Nicht genannt werden die Mauern in der Historiae Philippicae allerdings in der Erzählung der Gründung Roms (Pompeius Trogus: Weltgeschichte von den Anfängen bis Augustus. XL,2, S. 455-456). 50  Bandmann: Die vorgotische Kirche als Himmelsstadt. S. 81-82. So leitet sich auch das neuhochdeutsche Wort Bürger von der Burg ab. Köbler: Bürger, Bürgertum. Sp. 10081009. Wurde die Stadtmauer geschleift, so verloren die Bewohner ihren Status als Bürger (Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 147-148). Eine anders lautende Deutung des Begriffs burgenses findet man dagegen bei Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 111.

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um den Angriffen in angemessener Weise zu begegnen, führten die Invasoren die Bildung kleinteiliger politischer Gemeinschaften herbei, da nur die lokalen Herren in der Lage waren, schnell genug Verteidigungsstellungen zu errichten und instandzuhalten. Die Burg etablierte sich dadurch als Zentrum der neuen politischen Strukturen.51 Zugleich bemühten sich die politischen Ordnungsformen des Mittelalters darum, die Anbindung an ihre antiken Vorgänger nicht abreißen zu lassen, sie vielmehr auch über die Architektur herzustellen. Bereits Karl der Große wollte das Erbe Roms auch auf diesem Wege antreten und derart die renovatio imperii romani vorantreiben. Die Vita Karoli Magni weist in diesem Zusammenhang auf die Aachener Pfalzkapelle hin, für die der Kaiser „Säulen und Marmor aus Rom und Ravenna bringen [ließ], da er sie sonst nirgends bekommen konnte.“52 Die nicht weiter ausgeführte Nennung verdeckt im ersten Moment, dass der nach dem Vorbild von Justinians San Vitale in Ravenna errichtete Bau in Aachen gezielt auf Baumaterial der einstigen Kaisersitze zurückgriff, um mit ihnen die eigene Herrschaft zu nobilitieren und legitimieren.53 Auf eine ähnliche Art strebte Kaiser Friedrich II. an den Bezug auf das antike Rom auch über die Architektur herzustellen. Bei der Gründung Victorias machte der Staufer Gebrauch vom überlieferten Vorbild antiker Städtegründungen.54 Beispielsweise ließ er hierfür den von den Mauern zu umschließenden Raum der Stadt von einem Pfluggespann markieren – eine Vorgehensweise, von der etwa die Etymologiae des Isidor von Sevilla berichtete.55 Die Kontinuität zu Rom suchten aber nicht allein die Kaiser. Auch kommunale politische Ordnungsformen waren versucht, sich Rom und dessen architektonische Überreste zu Eigen zu machen. Durch die Verwendung von antiken Mauern, zum Teil auch nur bloßer Mauerreste, versuchten Kommunen des 11. und 12. Jahrhunderts den politischen Körper der Stadt am Tiber auch für sich nutzbar zu machen. Durch die alten Mauern wurde es ihnen möglich, selbst zu einem Stück Rom zu werden und so die 51   Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 61-65. Warnke: Politische Landschaft. S. 48-50. Meckseper: Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter. S. 32-38. Rader: Die Burg. S. 118. 52  Einhard: Vita Karoli Magni. S. 51. 53   Reudenbach: Die Kunst des Mittelalters. S. 82-83. Ranaldi/Novara: Karl der Große, Ravenna und Aachen. S. 117-120. Panofsky: Die Renaissancen der europäischen Kunst. S. 60. Kaiser: Romanische Architektur in Deutschland. S. 33. 54  Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite. S. 598-599. Braunfels: Mittelalterliche Stadtbaukunst. S. 52. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 54. 55  Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite. S. 598. Isidor von Sevilla: Etymologiarum libri XX. PL 82, 536-537. Hierzu auch schon Vergil: Aeneis. I,425, S. 31.

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Legitimation für die erhobenen Ansprüche auf ein Mehr an Autonomie buchstäblich zu untermauern.56 Die Mauer dient somit einmal mehr als Ausdruck eigener Sitten und Gesetze, eigener Geschichte und letztlich der Begründung eines eigenständigen politischen Daseins. Zugleich wird sie damit aber auch als ein Gegengewicht zu den Versuchen der Kaiser, Rom exklusiv für sich in Anspruch zu nehmen, positioniert, indem durch sie ein anders akzentuiertes Rombild betont wird. An die Stelle imperialer Tradition tritt das Erinnern an die Existenz der republikanischen Zeit römischer Geschichte.57 In den Arbeiten politischer Denker fand die Auseinandersetzung um die Bedeutung von Mauern und Architektur für das Gemeinwesen bereits zur Zeit Kaiser Karls des Großen ihren Niederschlag. Einen ersten vorläufigen Höhepunkt erfährt dieser Diskurs in der Aussage des Mainzer Erzbischofs Hrabanus Maurus, dass die Mauer die Stadt selbst sei.58 Eine dieser Tautologie vergleichbare Haltung begegnet auch im Werk des Florentiner Dichters Dante Alighieri. Die Mauer ist ihm genug, um im fünfundzwanzigsten Paradiesgesang der Commedia seine Heimatstadt Florenz zu benennen.59 Bereits zuvor hatte der Jenseitswanderer die civitas diaboli Dis allein durch ihre turmbewehrte Mauer gekennzeichnet.60 Eine mit dem zuvor Geschilderten vergleichbare Argumentation entworfen hat ferner Felix Fabri in seinem Tractatus de civitate Ulmensi. In seiner Schrift weist der Dominikaner darauf hin, dass obzwar die Stadt Ulm „schon viele Jahre ohne Mauerkranz dastand, weil die Bürger mit dem Bau ihrer eigenen Häuser beschäftigt waren“,61 Ulm nicht als Stadt zu betrachten sei. „Denn von der Zeit König Konrads, der im Jahr des Herrn 1139 regierte, bis zum Jahr des Herrn 1300 hatte Ulm wie ein Dorf keine Mauern besessen, weshalb man heute behauptet, Ulm sei ein Dorf gewesen.“62 Zugleich könne Ulm, wie Felix Fabri unmittelbar zu Beginn seines Werks bemerkt, mit verschiedensten Begrifflichkeiten charakterisiert werden. Geeint werden all diese Begriffe dadurch, dass für sie die Abgrenzung von den Mauern oder die Bezugnahme auf die Mauern zentral ist. Demgemäß führt Fabri urbs, civitas, oppidum, opidum, villa, castrum, burgum und vicus als 56  Esch: Antike Mauern im Mittelalter. S. 87-88. 57  Esch: Antike Mauern im Mittelalter. S. 87-88. 58   Hrabanus Maurus: De Universo libri vinginti duo. PL 111, 384. Anderslautend die Argumentation bei Jacques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 140. Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter. S. 20 und S. 93. 59  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. XXV,4-6, S. 360. 60  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. VIII,67-IX,133, S. 34-38. 61  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 253. 62  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 253.

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mögliche Umschreibungen Ulms an. Urbs sei Ulm, weil sich das Wort einerseits von orbis ableite und Ulm kreisrund sei. Urbs sei Ulm andererseits, weil sich das Wort von urbare ableite. Gemeint sei damit, die Stadt „mit einem Pflug durch eine kreisrunde Furche [zu] begrenzen, um den Umfang der zu errichtenden Mauern zu bestimmen.“63 Civitas sei Ulm, weil Papst und Kaiser sie als solche bezeichnet hätten, weil dort nach den Gesetzen des Kaisers regiert werde, aber auch, weil Eintracht unter den Bürgern herrsche, denn „man sagt auch civitas, weil weder Felsen noch Mauern oder Gräben, sondern die Einheit der Bürger eine civitas ausmacht.“64 Opidum, von ops oder opes kommend, wie Fabri schreibt, sei Ulm, „weil es seinen Einwohnern Hilfe und Schutz gewährt und nicht geringe Mittel und Reichtümer besitzt.“65 Mit oppidum hingegen sei gemeint: „entgegengesetzt, wegen des Gegeneinanders der Mauern, weil eine Mauer gegen die andere steht, so wie die inneren Mauern stadteinwärts den Häusermauern und den Mauern der äußeren Befestigungsanlagen gegenüber stehen. Nach anderer Meinung nennt man oppidum ein ummauertes Stück Land, das keinen Bischof hat […], so wie es in Ulm der Fall ist.“66 Auch für die Möglichkeit, Ulm als castrum zu bezeichnen, führt Fabri zwei Optionen an, deren zweite er wiederum mit den Mauern verbindet. So erklärt er erstens, dass castrum von der herausgehobenen Örtlichkeit herkomme, an der sich die Stadt befinde, da castrum hohes Haus bedeute. Zweitens aber stamme castrum von kastrieren ab, „weil dort die Menschen kastriert, d.h. eingeschlossen werden, damit sie nicht gefangen werden, wenn sie umherschweifen.“67 „Wegen seiner starken Befestigung“ sei Ulm ferner burgus.68 Villa werde Ulm genannt, nicht nur, aber auch, weil damit ein Ort bezeichnet werde, „der nicht von Mauern umgeben ist.“69 Weiler (vicus) zuletzt sei Ulm „im übertragenen Sinn. Denn ein Weiler wird nicht nach einer städtischen Ordnung regiert, nicht durch Mauern und Gräben beschützt, sondern gilt als ein Ort, der allenthalben von Straßen durchschnitten wird; mit Blick auf Letzteres wird Ulm ein Weiler genannt, […].“70 Sucht man darüber hinaus auch außerhalb des christlich geprägten Kulturraums, kann man ebenfalls bei Denkern aus dem islamischen Kulturraum bemerkenswerte Texte ausmachen, beispielsweise bei Abū Naṣr Al-Fārābī, Abū 63  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 11. 64  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 13. 65  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 13. 66  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 13. 67  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 13. 68  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 13. 69  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 13-15. 70  Fabri: Tractatus de civitate Ulmensi. S. 15.

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l-ʿAlāʾ al-Maʿarrī, Abū Bakr Ibn Ṭufail oder Ibn Khaldūn. So ist an Fārābīs Schrift über die vortreffliche Stadt etwa die Frage nach der Bedeutung des Terminus’ Stadt (madīna) im Titel von Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt (Mabādī’ ārā’ ahl al-madīna al-fāḍila) zu stellen. Der Diskussion um die Auslegung des Titels von Augustins De civitate Dei ähnlich,71 bezeichne der Begriff Stadt beim Kirchenvater Augustin wie auch bei Fārābī nicht die Baulichkeiten, sondern das Gemeinwesen,72 so dass das Denken über die Architektur bei Fārābī vorrangig durch ihr Fehlen zu begreifen wäre. Auch wenn Erkenntnis und Politik an den städtischen Raum gebunden seien, blieben diese, weil über das Verständnis der Stadt als Gemeinwesen hinaus nicht näher definiert, architektonisch unspezifisch. Stutzig macht indes eine Wendung im Titel. Die Rede ist auch von den Bewohnern der vortrefflichen Stadt. Mit dieser Formulierung wird die Stadt wiederum bestimmt nicht allein durch das Band der Gemeinschaft, sondern durch den Aufenthalt an einem Ort. Die im Titel nur angerissene räumliche Bestimmung des Gemeinwesens wird im fünfzehnten Kapitel der Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt von Fārābī anhand architektonischer Unterscheidungsmerkmale zu einer näheren Auslegung der Stadt genutzt. Die Stadt grenze sich einerseits ab von den größeren Gemeinschaftsformen, der Nation und der Gemeinschaft aller Erdenbewohner, sowie andererseits den kleineren Formen der Gemeinschaft, dem Haus, der Straße, dem Viertel und schließlich dem Dorf.73 Vom Haus als kleinster Einheit der Gemeinschaft ausgehend erhalten architektonische Elemente somit auch bei Abū Naṣr Al-Fārābī einen, wenn auch kleinen, Platz in seinem politischen Denken. Unscheinbar wirkt auch der metaphorische Gebrauch der Architektur bei Abū l-ʿAlāʾ al-Maʿarrī. Doch dient ihm die sporadische Verwendung architektonischer Elemente dazu, dem Jenseits im Sendschreiben über die Vergebung eine Struktur zu geben. Die Höllenbrücke oder die Schlösser der beiden Weisen Zuhair ibn Abī Sulmā al-Muzanī beziehungsweise ʿAbīd ibn al-Abras al-Asadī 71  Siehe Kapitel 1.1.2. 72  Ferrari: Nachwort. S. 154. In diesem Sinne erfolgt auch die Auslegung des Begriffs madanī bei Fārābī in der philologischen Analyse von Dimitri Gutas (Gutas: The Meaning of madanī in al-Fārābī’s “Political” Philosophy. S. 261-267). In diesem Zusammenhang ist auch auf die Aphorismen des Staatsmannes (Fuṣūl al-madanī) von Fārābī hinzuweisen. In den §§ 20-22 greift Fārābī die Ausführungen aus der Politik des Aristoteles über das Wesen der Stadt und des Hauses auf und führt beide Erscheinungen als Personenverbände ein, die durch mehr als nur den Wohnort geeint sind (Abū Naṣr Al-Fārābī: Fuṣūl al-madanī. §20-22, S. 36-37). 73  Abū Naṣr Al-Fārābī: Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt. XV,2, S. 83.

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entwerfen eine über das Bild des Paradiesgartens hinausgehende Topographie des Jenseits.74 Vorrangig die Rolle des Gegenstücks zum vorgestellten Ideal nimmt die Baukunst ferner implizit im Ḥayy ibn Yaqẓān des Abū Bakr Ibn Ṭufail ein. Die Geschichte der auf einer Insel fern von anderen Menschen lebenden Titelfigur Ḥayy ibn Yaqẓān wird von Ibn Ṭufail als Paradigma seiner Erkenntnistheorie erzählt, in der Architektur und Gemeinschaft nur mehr der Stellenwert eines Erkenntnishindernisses zukommen. Stattdessen wird das Leben als Eremit für den Erkenntnisgewinn von Ibn Ṭufail nicht nur als förderlich, sondern auch als notwendig ausgewiesen.75 Über die ihr bei Ibn Ṭufail zugeschriebene Rolle hinaus begegnet die Architektur schließlich auch in der Muqaddima des Ibn Khaldūn, erfährt darin zunächst jedoch nur metaphorischen Gebrauch, wenn Ibn Khaldūn eine apokryphe Schrift Platons zitiert, die er jedoch irrtümlicherweise der Politik des

74  Abū l-ʿAlāʾ al-Maʿarrī: Paradies und Hölle. S. 61-62 und 125-126. 75  Abū Bakr Ibn Ṭufail: Der Philosoph als Autodidakt. S. 100 und 109-113. Im Frontispiz der von Simon Ockley besorgten und 1708 erschienen englischen Übersetzung des Hayy ibn Yaqzān wird die Frage nach einem Zusammenhang von Erkenntnis und Architektur auf unerwartete Weise thematisiert. Entgegen der Argumentation bei Ibn Tufail wird in ihr eine Verbindung von Erkenntnis und Baukunst unterstellt. In Begleitung abgebildet steigt der Wilde hier die Stufen empor zu einem mit der Mondsichel gekrönten Kuppelbau, dessen Eingang von Statuen des Avicenna und Averroës flankiert wird (Abu Jafaar Ebn Tophail: The improvement of human reason exhibited in the life of Hai Ebn Yokdhan. Das Frontispiz dieser Ausgabe ist auch als Titelbild der jüngst erschienen deutschen Übersetzung von Patric Schaerer gebraucht. Siehe Abū Bakr Ibn Ṭufail: Der Philosoph als Autodidakt. Vgl. auch ebd. S. LXXXVII). Zwei Auslegungen bieten sich an, je nachdem wer als der Begleiter des Hayy ibn Yaqzān ausgewiesen wird. Am Ende des Werks kommt es zum Kontakt zwischen Hayy ibn Yaqzān und den auf einer nahen Insel Lebenden Absāl und Salāmān. In Verbindung mit der Gestik der Abgebildeten wäre eine Darstellung Salāmāns im Frontispiz des Hayy ibn Yaqzān wohl demnach zu deuten, dass Salāmān Hayy zum Betreten des Bauwerks einlädt, Hayy dies jedoch ablehnt. Als unwahrscheinlich anzusehen ist diese Auslegung jedoch, da damit auch eine Ablehnung von Avicenna und Averroës zum Ausdruck gebracht würde. Beide Denker wären als der Erkenntnis hinderlich ausgewiesen. Berichtet wird jedoch davon, dass Ibn Tufail Averroës geschätzt, ihn nicht als der Erkenntnis hinderlich verstanden habe (Schaerer: Einleitung. S. XII). Unwahrscheinlich ist diese Auslegung ferner, da Salāmān in den übrigen Illustrationen nicht dargestellt ist. Die abgebildete Gestalt weist indes deutliche Ähnlichkeit zum Bild Absāls auf (vgl. dessen Abbildung in: Abū Bakr Ibn Tufail: Der Philosoph als Autodidakt. S. 102). Ist im Frontispiz Absāl als Begleiter Hayys dargestellt, ergibt sich ein Widerspruch zwischen Bild und Text, weil Absāl wie Hayy Erkenntnis in der Zurückgezogenheit fern von Architektur und sozialem Leben anstrebt (Abū Bakr Ibn Ṭufail: Der Philosoph als Autodidakt. S. 99-100 und 109-113).

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Aristoteles zuordnet.76 In einer längeren Reihung von sich aufeinander beziehenden Aussagen schreibt Ibn Khaldūn: Die Welt ist ein Garten, dessen Einfriedung die Dynastie ist. Die Dynastie ist ein Herrschertum, durch welches dem überlieferten Gesetz Leben gegeben wird; das überlieferte Gesetz ist eine Handlungsanweisung, die von der Herrschaft umgesetzt wird; die Herrschaft ist eine Ordnung, die das Heer aufrechterhält; das Heer besteht aus Helfern, die gehalten werden durch das Vermögen; das Vermögen ist der Lebensunterhalt, den die Untertanen zusammenbringen: die Untertanen sind Untergebene, welche die Gerechtigkeit schützt; die Gerechtigkeit ist jedermann bekannt, und in ihr liegt der Bestand der Welt. Die Welt ist ein Garten […].77

Hier ist nicht die Stadt oder die Stellung als Bürger von der Mauer abhängig. Nein, Politik, verstanden als Herrschaft, die dem Gesetz Geltung verschafft, wird selbst zur Mauer erklärt. Fern der metaphorischen Verwendung einer solch architektonisch gefärbten Bildsprache sind in der Muqaddima aber auch Aussagen von grundsätzlicherer Art über menschliche Bautätigkeit auszumachen. Und so verzichtet Ibn Khaldūn auch nicht auf die Charakterisierung einer Siedlung als Stadt mittels ihrer Mauern. Sie ist in dem der Architektur gewidmeten Abschnitt der Muqaddima zu finden. Im vierundzwanzigsten Abschnitt des fünften Kapitels widmet sich Ibn Khaldūn der Baukunst, dem „erste[n] und älteste[n] Handwerk der sesshaften Kultur.“78 Erst durch die Einfriedung eines Ortes mittels der Mauern, „wird das Ganze ein einziger Ort oder eine Stadt, […].“79 Nicht nur in metaphorischer Hinsicht, wie in dem von Ibn Khaldūn zuvor zitierten apokryphen Text Platons wird Architektur somit zur Grundlage von Politik erklärt. Die Definition der Stadt in Abhängigkeit des sie umgebenden Mauerwerks setzt die Akzente in der von Aristoteles übernommenen Deutung des Menschen als von Natur aus politischem Wesen neu.80 Anders als Aristoteles begreift Ibn Khaldūn das Phänomen Stadt nicht primär als Ort, an dem der Mensch seine ihm innewohnenden Potentiale verwirklichen könne, sondern hebt das Schutzbedürfnis des Menschen gegenüber

76  Zur Zuordnung dieses Textes Ibn Chaldun, Ausgewählte Abschnitte aus der muqaddima. Aus dem Arabischen von Annemarie Schimmel, Tübingen 1951, Anm. 16, S. 14. 77  Ibn Khaldūn: Die Muqaddima. Vorrede, S. 107. Zur Verbindung des Gartens mit der Mauer auch Mayer-Tasch/Mayerhofer: Hinter Mauern ein Paradies. S. 10-11. 78  Ibn Khaldūn: Die Muqaddima. V,24, S. 375. 79  Ibn Khaldūn: Die Muqaddima. V,24, S. 376. 80  Ibn Khaldūn: Die Muqaddima. I,1, S. 111.

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seiner Umwelt, der Tierwelt wie auch seiner Mitmenschen durch die Fortifikation des städtischen Raums hervor.81 Jenseits dieser Reflexionen lassen die Architekturtheoretiker der Renaissance, wie etwa Leon Battista Alberti, in ihren Traktaten die Errichtung einer Stadt ebenfalls mit der Konstruktion der Mauer beginnen.82 So bezieht sich Alberti hierfür auf die aus dem Altertum überlieferte Praxis, mittels eines von Rindern gezogenen Pfluges den künftigen Verlauf der Stadtmauer zu bestimmen.83 Aufgegriffen und visuell umgesetzt findet sich der Bezug zur Antike ebenso wie andere zuvor genannten Aspekte, die Burg oder die Integration antiker Bausubstanz in zeitgenössische Mauern, paradigmatisch in den von Andrea Mantegna für den Palazzo Ducale in Mantua gefertigten Fresken. Im Hintergrund des im Auftrag der Gonzaga Gezeichneten sind sowohl in der Darstellung des fürstlichen Jagdgefolges wie in der sogenannten Begegnungsszene in der Camera picta architektonische Motive markant in Szene gesetzt. In Anbetracht der Funktion des Hofes als Schaubühne, auf der symbolischen Kommunikationsformen große Bedeutung beigemessen wurde,84 in Anbetracht auch der mit den Fresken verbundenen Intention, dem Bemühen der Familie Gonzaga über eindrucksvolle Kunstprojekte mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen,85 können die Fresken als ein Versuch gedeutet werden, den Herrn von Mantua „als Ordnungsstifter auf italienischer Bühne“ zu präsentieren.86 Derart verstanden erheben sich in der Darstellung des fürstlichen Jagdgefolges eine fertiggestellte und eine noch im Bau befindliche, eingerüstete Burg auf den Plateaus phantastischer Felsformationen (Abb. 01). Die Herrscherfamilie der Gonzaga erscheint als Garant von Stabilität und Ordnung, Frieden und Sicherheit. Unter ihrer Herrschaft prosperiert das Leben. Ihre Herrschaft zähmt sogar die Natur, gelingt es doch, selbst unzugängliche Regionen baulich zu erschließen.87 81   Ibn Khaldūn: Die Muqaddima. I,1, S. 111-114. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 158-159. 82  Zur Mauer als erstem Bauakt, ohne den nicht von einer Stadt zu sprechen sei, siehe Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. IV,1, S. 179-180. 83  Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. IV,3, S. 191. 84  Reinhardt: Die Renaissance in Italien. S. 71-72. Zum Hof als Schaubühne und dem am Hof Agierenden als Schauspieler etwa die Ausführungen von Machiavelli: Il Principe. S. 139141 und Castiglione: Der Hofmann. S. 35-36. 85  Tönnesmann: Die Kunst der Renaissance. S. 49-50. 86  Reinhardt: Die Renaissance in Italien. S. 85. 87  Tönnesmann: Die Kunst der Renaissance. S. 57. Lightbown: Mantegna. S. 112-113. Zu weit scheint hierbei die Auslegung von Martin Warnke zu gehen, der die Burgen zu einer

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Eine um weitere Aspekte ergänzte Bezugnahme auf die Baukunst erkennt der Betrachter sodann im Hintergrund der Begegnungsszene (Abb. 02). Die dort abgebildete Stadtmauer ist keine gleichförmige Fläche, sondern setzt sich aus altem und neuem, dunklem und hellem Gestein, Ziegeln und Quadern zusammen. Mantegnas Mauer sei „Ergebnis eines historischen Prozesses. Geschichte projiziert auf eine Mauerfläche.“88 Hier wird ins Bild gesetzt, was zuvor beschrieben wurde: die Bezugnahme auf Geschichte, vor allem auf die Antike und das antike Rom. Weitere architektonische Reminiszenzen stellen die Herrschaft der Gonzaga in einen historischen Bezug. So befindet sich auf der Spitze der Anhöhe, um die herum die Stadtmauer gezogen wurde, eine Festung ähnlich jener, die Mantegna später im Triumph Caesars und abermals in Die Einführung des Kybele-Kultes in Rom auf dem Haupt der Kybele, der Erbauerin, Regentin und Bewahrerin von Städten, zeichnen wird.89 Innerhalb des Mauerkranzes erkennt man ferner ein Amphitheater und vor den Toren der Stadt eine Statue des Herkules, zu deren Füßen Arbeiter damit beschäftigt sind, Baumaterial von einem nahegelegenen Steinbruch heranzutragen.90 Architektur und die mit ihr bewirkte Symbiose von Altem und Neuem wird als Ausdruck und zugleich Nobilitierung der Politik der Gonzaga ausgewiesen. Als Grundlage von Politik erscheinen die Mauern in den nachfolgenden Jahrhunderten beispielsweise in Peter Paul Rubens Frontispiz zu Frederik de Marselaers Legatus libri duo (Abb. 03). Die Politik, abgebildet in Gestalt einer weiblichen Büste, ist von Rubens in Kontinuität zur antiken Gottheit Kybele präsentiert. Ihr Attribut ziert auch das Haupt der Politik: eine Krone in Form einer Stadtmauer.91 Politik und Mauern sind in Rubens Frontispiz damit als Einheit zu denken. An prominenter Stelle begegnen die Mauern alsdann sowohl im premier als auch im deuxième discours Jean-Jacques Rousseaus. Bereits im Discours sur „dekorativen Formel […] geschrumpft“ und zugleich als Bestandteil einer „feindlichen Landschaft“ sieht (Warnke: Politische Landschaft. S. 51-52). 88  Esch: Antike Mauer im Mittelalter. S. 99. Siehe auch Esch: Leon Battista Alberti, Poggio Bracciolini, Andrea Mantegna. S. 148-152. In Mantegnas Werken ist eine solche Darstellung von Mauerwerk kein Einzelfall, sondern findet sich auch in der Szene Christus am Ölberg, dem linken Bild der Predella des Triptychons in San Zeno Maggiore in Verona, und Die Qual im Garten. 89  Takacs: Kybele. Sp. 950. Martindale: The Triumphs of Caesar. S. 131-132 und 140-141. Lightbown: Mantegna. S. 218. 90  Lightbown: Mantegna. S. 112-113. 91  Büttner: Rubens. S. 79. Takacs: Kybele. Sp. 950. Siehe hierzu auch die von Rubens selbst gegebene Beschreibung in Rubens: In frontispicium legati. S. 199. Überdies war Rubens mit den Arbeiten Mantegnas und den dort gegebenen Darstellungen der Kybele vertraut (Arlt: Andrea Mantegna „Triumph Caesars“. S. 73-74).

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les sciences et les arts verwendet Rousseau die Mauer als Symbol des Gemeinwesens.92 Und im Discours sur l’inégalité werden Mauern, wenn auch nicht als mit der Politik eins, so doch als ein den état civil begründendes Element gedacht. Neben der Verkündigung „Dies ist mein“ und der Einfältigkeit der Menschen ist es die Einfriedung, die für die Begründung der zivilen Gesellschaft, des état civil, konstitutiv wird.93 Ähnlichkeiten mit der Argumentation in Rousseaus deuxième discours weist der § 203 der Grundlinien der Philosophie des Rechts von Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf. Hierin hebt Hegel unter anderem hervor, dass der Anfang der Staatswesen in der Einführung des Ackerbaus gesehen werden müsse. Das Formieren des Bodens, Sicherung und Befestigung seien als Basis der Staaten und Abkehr vom „schweifende[n] Leben des Wilden“ zu verstehen.94 Derart schreibt auch Jewgenij Samjatin, dass „der Mensch […] erst dann aufgehört [habe], ein unzivilisiertes Geschöpf zu sein, als er die erste Mauer errichtete.“95 Mauern und Schranken seien Ausdrucksformen göttlich-begrenzender Weisheit, weshalb die Mauer die wahrscheinlich bedeutsamste Erfindung der Menschheit gewesen sei.96 Eine gewichtige Rolle nimmt die Mauer überdies in Carl Schmitts Überlegungen zum Nomos der Erde ein. In der Gründung einer Stadt, so Schmitt, werde der Nomos sichtbar, da der Nomos als eine Mauer bezeichnet werden könne.97 Zuletzt ist in diesem Zusammenhang noch auf Michael Walzer zu verweisen. Den Liberalismus deutet er als eine Denkart der Trennung, die sich der Mauern bediene und auf den Mauern fuße. Erst das trennende Werk der Mauer könne Freiheiten erzeugen, wie Walzer schreibt. Ich schlage vor, wir betrachten den Liberalismus als eine bestimmte Art und Weise, die Landkarte der sozialen und politischen Welt zu zeichnen. Die alte, vorliberale Landkarte zeigte eine weitgehend undifferenzierte Landmasse, mit Flüssen und Bergen, großen und kleinen Städten, aber ohne Grenzen. […] Gesellschaft wurde als ein organisches und integriertes Ganzes aufgefaßt. Man konnte sie unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, dem der Religion, Politik, Wirtschaft oder Familie, aber sie alle durchdrangen einander und bildeten eine einzige Wirklichkeit. […] Gegenüber dieser Welt predigten und praktizierten die Denker des Liberalismus die Kunst der Trennung. Sie zogen Trennungslinien, grenzten verschiedene Reiche ab, und schufen die sozialpolitische Landkarte, die uns heute noch vertraut ist. Die berühmteste Trennungslinie ist die 92  Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. S. 33. 93  Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. S. 74. 94  Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. S. 171. 95  Samjatin: Wir. S. 89. 96  Samjatin: Wir. S. 89. 97  Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. S. 40.

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zwischen Kirche und Staat verlaufende ‚Mauer‘, aber es gibt zahlreiche andere. Der Liberalismus ist eine Welt von Mauern, und jede erzeugt eine neue Freiheit.98

Die Trennung mittels der Mauern, der Stadtmauern sowie der Mauern der Häuser, hatte, wie zuvor gesehen werden konnte, bereits Felix Fabri thematisiert und unter den Begriff oppidum gefasst.99 Eine freiheitliche Komponente erhalten die Mauern somit nicht erst bei Michael Walzer. Hiermit wie mit dem vordem Genannten ergeben sich im Kern drei miteinander verwobene Komponenten, auf denen die Stadt in der Geschichte politischen Denkens basiert: Die Stadt ist erstens ein Rechtsträger, ein Rechtsraum. Bezogen ist dieser Raum zweitens auf die wieder und wieder genannten dichotomen Charakteristika, die Gemeinschaft der Bürger einerseits, die Bauten und die Burg andererseits.100 Zugleich entwickelt sich die Stadt im Mittelalter drittens sukzessive zu einem Erfahrungshintergrund, vor dem sich politisches Denken entfaltet. Darüber hinaus sogar zu einem Ort, an dem politisches Denken erst als zu denken möglich erachtet wird. Anzuführen ist in diesem Zusammenhang etwa die Verortung der Bettelorden, vor allen anderen Dominikanern und Franziskanern, wie der Universitäten in den Städten. So ist es nicht verwunderlich, dass beispielsweise die überwältigende Mehrheit der mittelalterlichen Kommentatoren des Aristoteles einem urbanen Umfeld entstammt.101 Dennoch ist eine einheitliche Linie in den Aussagen mittelalterlicher Denker über die Architektur nicht zu erkennen. Ob Architektur von ihnen als Grundlage von Politik erachtet wurde, ob Architektur ferner als Grundlage des politischen Denkens selbst angesehen wurde, wird in dieser Arbeit näher zu betrachten sein.

98  Walzer: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. S. 38. Walzer steht damit dem Diktum von Jean-Jacques Rousseau diametral entgegen, wonach er „stets jenen Römer als den hochachtungswürdigsten Mann betrachtet [habe], der wünschte, sein Haus werde so gebaut, dass man alles, was darin vorginge, sehen könne.“ (Rousseau: Julie oder die neue Héloïse. S. 444. Vgl. auch Han: Transparenzgesellschaft. S. 72-73. Ergänzend zu Hans Argumentation Sofsky: Verteidigung des Privaten. S. 23.) 99  Leon Battista Alberti ergänzt dies um die Möglichkeit mittels innerstädtischer Mauern soziale Segregation zu erzielen (Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,1, S. 221). Edward Coke führt die Bedeutung der eigenen vier Wände als Schutzraum gegenüber dem Staat und den Mitbürgern an, wenn er über den Semayne’s Case schreibt, dass „in this famous case, the King’s Bench described the privileges of a house owner, who may defend it as his castle and refuge.“ (Coke: The Selected Writings and Speeches of Sir Edward Coke. S. 136.) 100  Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 147. 101  Meier: Mensch und Bürger. Anm. 7, S. 67.

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Als Eduard Mörike in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts des noch unvollendeten Münsters in Ulm gewahr wurde, beschrieb er das Gesehene mit den Worten: „das Fehlende hinzu gedacht, ist Alles unvergleichlich.“102 Fehlendes ist auch dieser Arbeit hinzuzudenken, denn die Ausrichtung der Untersuchung verlangt nach Reduktion. Eine erste derartige Reduktion ist die Begrenzung auf Quellen der Geschichte politischen Denkens.103 Seien dies nun schriftliche Zeugnisse oder Bildquellen.104 Die Betrachtung von politischem Denken und Architektur wird zweitens begrenzt durch den zeitlichen Fokus auf die Jahrhunderte des europäischen Mittelalters. Lediglich kurze Blicke werden auf die antiken Vorläufer mittelalterlicher Denker und die Rezeption ihres Denkens geworfen. Gegenstand der Arbeit sind drittens allein Quellen aus dem lateinsprachigen Kulturraum. Diese Ausrichtung hat zur Folge, dass die Ausführungen etwa von Denkern aus dem arabischen Sprachraum wie die beispielsweise bereits genannten Abū Naṣr Al-Fārābī, Abū l-ʿAlāʾ al-Maʿarrī, Abū Bakr Ibn Ṭufail oder Ibn Khaldūn nicht weiter berücksichtigt werden können, gleichwohl Architektur auch in ihren Werken eine zu diskutierende Rolle spielt. Abseits dieses dem islamischen Kulturraum entstammenden politischen Denkens ist eine vierte Reduktion schließlich phänomenologischer Art. Betrachtet werden lediglich zwei Ausformungen im Verhältnis von politischem Denken und Architektur. Im ersten Teil der Arbeit wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung Architektur innerhalb des politischen Denkens des Mittelalters zukommt. Begegnet sie einzig als eine der vielen 102  Mörike: An Luise Rau. Ulm, Obermarchtal, Honau, 17.-20. Juli 1831. S. 205. Der im 16. Jahrhundert abgebrochene Bau wurde, wie auch der Kölner Dom, erst nach der Reichsgründung 1871 zum Abschluss gebracht (Schöllkopf/Haas: Das Ulmer Münster. S. 28-30). Zum Kölner Dom Suckale: Die Kathedrale. S. 109-110. Huse: Nationaldenkmäler. S. 39-41. Görres: Der Dom in Köln (1814). S. 56. Friedrich Wilhelm IV. von Preußen: Rede bei der Grundsteinlegung für die Vollendung des Kölner Doms (1842). S. 56-57. Kritik am Weiterbau des Kölner Doms äußerte Heinrich Heine in seinem Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen (ebd.: Deutschland. S. IV,37-65, S. 98-99). 103  Zum Konzept des politischen Denkens und dessen Abgrenzung etwa von politischer Theorie oder politischer Philosophie siehe Ottmann: In eigener Sache: Politisches Denken. S. 1-5. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. V und 2-3. 104  Zur politischen Ikonographie exemplarisch Fleckner/Warnke/Ziegler: Vorwort. S. 8-10. Grundlegend zu Ikonologie und Ikonographie Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. S. 38-43. Siehe auch Panofsky: Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. S. 1057. Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. 1074-1075. Einführend ferner Kopp-Schmidt: Ikonographie und Ikonologie. S. 51-65. Zum iconic turn exemplarisch Bachmann-Medick: Cultural Turns. S. 329-380.

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gebrauchten Metaphern? Wird sie damit sogar beliebig? Kann ein Bild wie das vom Gemeinwesen als Haus oder seinem Gründer als Architekt ausgetauscht werden durch Metaphern vom Staatsschiff, dem Staatskörper, dem Steuermann oder dem Arzt? Oder ist die Auseinandersetzung mit Architektur substantieller? Auf die im ersten Teil der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse aufbauend wird im zweiten Teil geprüft, ob das politische Denken des Mittelalters, um überhaupt gedacht werden zu können, einen bestimmten Raum benötigt. Wie beeinflusste Architektur das in ihr entstehende Denken? Nicht intendiert ist dabei eine Enzyklopädie mittelalterlicher Denkorte, ihrer Vorgänger und ihrem Fortwirken vorzulegen. Lediglich vier Archetypen sollen hier vorgestellt werden: Die Stadt als Ort des Denkens, das Land als Denkort, die Ortlosigkeit von Denkprozessen und zuletzt die utopische Ortlosigkeit weiblichen Denkens. Die Vielzahl all der in Antike, Mittelalter und Neuzeit präsentierten und diskutierten Denkorte kann diese Untersuchung nur andeuten. So wird nur angedeutet beispielsweise das Motiv der Wanderung. Mit ihm vertraut ist der Leser antiker Texte etwa durch die Szenerie in Platons Nomoi: Auf Kreta begeben sich die Teilnehmer am Gespräch über die beste Verfassung auf einen Weg „von Knossos zu der Grotte des Zeus und zu seinem Heiligtum.“105 Im Mittelalter, an erster Stelle noch vor allen anderen, hat für dieses Motiv der Weg des Wanderers Dante Alighieri durch die Reiche des Jenseits zu stehen.106 Eng verwoben ist das Motiv bei Dante zudem mit der Erfahrung des Exils, das als eine Sonderform der Ortlosigkeit des Denkens erscheint. Dabei werden dem Erleben des Exils von Seiten mittelalterlicher Denker grundverschiedene Bewertungen zuteil. Während Dante es bedauert und über die „ungerechte Verbannung“ klagt,107 hatte Hugo von St. Viktor das Exil als eine zu begrüßende Erfahrung umschrieben. Vollkommen sei für ihn nur, wem die ganze Welt Exil sei, da die Lösung von der Bindung an ein Heimatland zu Freiheit führe.108 Jenseits der Auseinandersetzung mit dem Exil zeugen dann auch Francesco Petrarcas 105  Platon: Die Gesetze. 625a, S. 5-6. 106  Zu Dante als dem reisenden Wanderer Helmrath: Dante. S. 211. Augé: Nicht-Orte. S. 90. 107  Dante Alighieri: Über die Beredsamkeit in der Volkssprache. I,6,3, S. 17. Zur Erfahrung des Exils und dessen Einfluss auf Dantes Denken siehe auch Azzaro: Politik und Religion bei Dante. S. 16-17. Hierzu wie auch zur zitierten Passage Stierle: Exil und Werk. S. 9-10. 108   Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 778. Das Exil als für den Intellektuellen charakteristischen Erfahrungshintergrund schildert ferner Said: Götter, die keine sind. S. 57-67. Exemplarisch verweist Said aber nicht etwa auf Dante oder Hugo von St. Viktor, sondern führt unter anderem Adornos Minima Moralia an. Adorno notiert darin: „In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslich sich ein. […] Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.“ (Adorno: Minima Moralia. Nr. 51, S. 95-96) Zur Rolle des Exilanten und Emigranten als Wegbereiter von

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Besteigung des Mont Ventoux ebenso wie sein Reisebuch zum Heiligen Grab vom Einfluss des zurückgelegten Wegs auf das Denken und die hieraus gewonnene Erkenntnis.109 Schließlich machen in der Folge von dem Motiv Gebrauch auch Peter Paul Rubens, Jean-Jacques Rousseau mit seinen Les rêveries du promeneur solitaire oder Henry David Thoreau mit seinem knappen Text Walking.110 Wie das Motiv der Wanderung nur angerissen wird, werden ebenfalls die in der Geschichte politischen Denkens aufzufindenden Aussagen zu Wald und Meer, dem Studierzimmer und der Gefängniszelle oder dem Schlachtfeld als Ort des Denkens nur knapp erörtert.111 Entnationalisierung und Globalisierung des Wissens Burke: Die Explosion des Wissens. S. 246-258. 109  Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux. S. 9-15 und 23-25. Die Schilderung der Reise an das Heilige Grab ist für Petrarca mehr als nur ein Bericht über den Weg dorthin. Der Autor verbindet die Reise mit dem Weg zu Seelenheil und Bildung (Petrarca: Reisebuch zum Heiligen Grab. S. 11-13. Reufsteck: Nachwort. S. 94 und 107). 110  Für Rubens steht das Reisen nach dem Tod seiner ersten Frau für den Weg zur Wiedererlangung stoischer Gelassenheit (Büttner: Rubens. S. 89-90). Die Wanderung als für die Entfaltung des Denkens essentiell, begegnet bei Rousseau insbesondere zu Beginn des zweiten Spaziergangs seiner Rêveries (Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers. S. 19). Über die Rêveries als Pfad zur Selbsterkenntnis etwa Meier: »Les rêveries du Promeneur Solitaire«. S. 49-52. Zu den Motiven des Wanderns und Nachdenkens Stackelberg: Nachwort. S. 205-208. Thoreau: Vom Wandern. S. 76-77. Selbst einer imaginären Wanderung sei die Möglichkeit Erkenntnisse zu erzeugen eigen (ebd.: Vom Wandern. S. 40-41). Zur Wanderung als Erkenntnismittel bei Thoreau Allié: Henry David Thoreau. S. 134-137. 111  Der Wald wird etwa von Bernhard von Clairvaux als Ort des Denkens ausgegeben (Bernhard von Clairvaux: Epistola CVI. Sp. 242). Auf die Bedeutung des Meeres für den Gewinn von Erkenntnis macht Johannes Scotus Eriugena gemäß Michel Mollat du Jourdin ebenso aufmerksam wie Nikolaus von Kues (Mollat du Jourdin: Europa und das Meer. S. 63. Zu Nikolaus von Kues Richter: Das Meer. S. 88-89). Die Reise auf dem Meer als Erkenntnisweg beschreibt ferner François Garde in seiner Lesart der Navigatio Sancti Brendani (Garde: Das Lachen der Wale. S. 188-189). Auch Johann Gottfried Herder äußert sich über das Meer als Denkort, das dem Geist Freiheit verschaffe, wohingegen man an Land „an einen toten Punkt angeheftet“ sei (Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. S. 14). Ähnlich argumentiert Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. III,240, S. 191. Hierzu Richter: Das Meer. S. 97-98. Über die Eignung des Studierzimmers als Denkort sprechen etwa Plutarch: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? 1129C, S. 55 (hierzu Feldmeier: Der Mensch als Wesen der Öffentlichkeit. S. 83-84. Hirsch-Luipold: Gedeihen im Licht – Verderben im Dunkel. S. 101), Francesco Petrarca: Familiaria. XV,3,14 S. 107, Niccolò Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407 oder Julien Offray de La Mettrie: L’Homme machine. S. 19. Spannen lässt sich der Bogen bis hin zu Virginia Woolfs Essay Ein zimmer für sich allein [sic] (Woolf: Ein zimmer für sich allein. S. 96-98). Grundlegend für die Untersuchung dieser Raumform ist die Arbeit von Liebenwein: Studiolo. Hier wird die Geschichte des Raumtyps in Italien vom 14. bis 16.

Die Begrenzungen der Untersuchung: Quellen und Methoden

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Gänzlich ausgeklammert wird schließlich auch die Fragestellung, ob sich politisches Denken in der Architektur des Mittelalters niedergeschlagen habe. Seit Erwin Panofskys Studie Gotische Architektur und Scholastik. Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter hat die Forschung dieses Feld wieder und wieder bearbeitet.112 Jahrhundert nachgezeichnet (Liebenwein: Studiolo. S. 9). Boethius und seine Philosophiae Consolationis wiederum kann als ein Exempel für die Gefängniszelle als Ort des Denkens dienen. Zu dieser Szenerie Klinger: Erklärung zum Titelbild. S. 183-184. Als selbstgewähltes Gefängnis kann die Zelle des Mönchs als eine Sonderform dieses Denkortes aufgefasst werden. Diese begegnet etwa in dem in Kapitel 2.5.2. zu behandelnden Bildtypus des Denkers im Gehäus. Eine weitere Sonderform der Gefängniszelle als Denkort findet man im Irrenhaus, über das Friedrich Dürrenmatt in seiner Komödie Die Physiker schreibt: „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken.“ (Dürrenmatt: Die Physiker. S. 75) Skeptisch äußert sich Jean-Jacques Rousseau über die Eignung des Verlieses als Denkort (Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers. S. 95). Zum Schlachtfeld schließlich etwa Dante Alighieri: Das Neue Leben. S. 98. Dante Alighieri: Monarchia. III,1,3, S. 179. 112   Panofsky schreibt darin, „in der ›Hoch‹-Phase dieser erstaunlich synchronen Entwicklung, das heißt in der Zeit zwischen 1130/40 und etwa 1270, kann man, so scheint mir, eine Beziehung zwischen gotischer Architektur und Scholastik erkennen, die konkreter ist als eine einfache Parallelentwicklung und doch allgemeiner als jene (sehr wichtigen) Einzeleinflüsse, die gebildete Berater zwangsläufig auf Maler, Bildhauer oder Architekten ausübten. Im Gegensatz zu einer bloßen Parallelentwicklung handelt es sich bei dem Zusammenhang, den ich meine, um eine wirkliche Beziehung von Ursache und Wirkung; […].“ (Panofsky: Gotische Architektur und Scholastik. S. 18) Zu Panofskys Studie und ihrer Bedeutung für die Kulturgeschichte Brown: Was ist Kulturgeschichte? S. 23-24. Ebd. S. 185188 zur Einordnung der Arbeit in eine Reihe mit Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien, Elias’ Über den Prozess der Zivilisation oder Foucaults Überwachen und Strafen. Zum Vergleich von gotischer Architektur und Scholastik ferner Metz: Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. S. 19, 28, 65, 71 und 145. Eco: The Aesthetics of Thomas Aquinas. S. 213. Simson: Die Kunst des Hohen Mittelalters. S. 11. Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 154, 254 und 261-262. Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. S. 38. Seidel: Scholastik, Mystik und Renaissancephilosophie. S. 130. Jostmann: Das Weltende. S. 145. Grodecki: Architektur der Gotik. S. 20. Behling: Die Pflanzenwelt mittelalterlicher Kathedralen. S. 120-123. Dehio/Bezold: Die kirchliche Baukunst des Abendlandes. S. 15. Speer: Die Summa theologiae lesen – eine Einführung. S. 1. Allerdings weist Speer auf S. 4 darauf hin, dass diese These skeptisch zu betrachten sei. Unabhängig von Panofskys Thesen wird die Gleichsetzung von Gotik und Scholastik in älteren Arbeiten postuliert: Grabmann: Einführung in die Summa Theologiae des hl. Thomas von Aquin. S. 88. Zur Gleichsetzung von Gotik und Scholastik skeptisch äußerte sich Baeumler: Ästhetik. S. 35. Gegen die Überlegungen Panofskys ausgesprochen hat sich besonders Otto von Simson: Die gotische Kathedrale. S. 6-7, Anmerkung 3. Sowohl mit der Arbeit Panofskys als auch von Simsons befasste sich Christoph Markschies. Er kommt zu dem nüchternen Ergebnis, dass es fraglich bleibe, ob es eine Theologie der gotischen Kathedralen gebe, ob ferner nachweisbare Verbindungen zwischen gotischer Architektur und scholastischer Theologie vorhanden seien (Markschies: Gibt es eine „Theologie der gotischen Kathedrale“?

26 III

Einleitung

Gehen wir ein Stück? Der Ablauf der Ausführungen

Die angestrebte Rekonstruktion der im Mittelalter geführten Auseinandersetzung um das Verhältnis von politischem Denken und Architektur wird mittels zweier Fragestellungen erarbeitet: Welche Bedeutung nimmt die Architektur im politischen Denken des Mittelalters ein? Welche Bedeutung wurde der Architektur für das Zustandekommen politischen Denkens zugewiesen? Benötigt dieses Denken also, um überhaupt gedacht werden zu können, eine architektonisch geformte Umgebung? Die Frage nach der Bedeutung der Architektur im politischen Denken des Mittelalters wird im ersten Teil der Arbeit erörtert. Ausgehend von der Behandlung der Baukunst in der Bibel soll in Kapitel 1.1. die Skepsis gegenüber der Architektur zu Beginn des Mittelalters nachvollziehbar gemacht werden, gleichwohl über sie im Buch der Bücher kein durchweg negatives Urteil gefällt wurde (1.1.1.). Aurelius Augustinus jedoch hob besonders die Bindung der Baukunst an ihren Gründer Kain hervor (1.1.2.) und Martianus Capella verwehrte ihr die Aufnahme in den Kanon der artes liberales (1.1.3.). Hinzu trat der bei Atto von Vercelli konstatierte Zusammenhang von Architektur mit der Herrschaft eines Tyrannen (1.1.4.) und eine sich nur allmählich wandelnde Wahrneh­ mung körperlicher Arbeit. Zu nicht unerheblichen Teilen aus einer feudal-­ aristokratischen Geringschätzung der Handarbeit gespeist galt dem Mittelalter körperliches Arbeiten lange als eine Folge des Sündenfalls (1.1.5.). Durch all dies wurde eine Geisteshaltung innerhalb des mittelalterlichen politischen Denkens geprägt, die der Architektur nicht wohlgesonnen begegnete. Eine Neuausrichtung in der Wahrnehmung der Architektur erfolgte ansatzweise durch die Schule von Chartres (1.2.1.) vor allem aber durch Hugo von St. Viktor. Beeinflusst etwa durch das antike Architekturtraktat des Vitruv, will S. 64-65). Jurgis Baltrušaitis schließlich erwähnt die im 18. Jahrhundert aufgekommene Ansicht, dass die Gotik ein Import aus dem islamischen Raum gewesen sei (Baltrušaitis: Imaginäre Realitäten. S. 93). Hierzu etwa Young: The Origin and Theory of the Gothic Arch. S. 58-59. Zur Verbindung von Sakralarchitektur und monarchischer Ordnung etwa Viollet-le-Duc: Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle. S. 285. Ranke: Über die Epochen der Neueren Geschichte. S. 258-259. Sedlmayr: Epochen und Werke. S. 182-185. Simson: Die gotische Kathedrale. S. 95-113. Joubert: Der Stil in Kunst und Architektur zur Zeit Ludwigs des Heiligen. S. 1476. Le Pogam: Die Sainte-Chapelle in Paris. S. 1491-1493. Le Pogam: Stifterfigur des Königs Childebert. S. 1500. Le Goff: Ludwig der Heilige. S. 125 und 506-511. Zur Metapher des Staatsgebäudes Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. S. 596-699. Wolfgang Brückle untersuchte die Symbolik des französischen Königtums sowie dessen Selbstauffassung und Verbindungen zum politischen Aristotelismus am Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert (Brückle: Civitas terrena. S. 8).

Gehen wir ein Stück ? Der Ablauf der Ausführungen

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der Viktoriner in seinem Didascalicon die mechanica nun als Wissenschaften verstanden wissen (1.2.2.). Auch wenn sich die Sichtweise Hugos von St. Viktor bei seinen Zeitgenossen noch nicht ausnahmslos durchzusetzen vermochte, repräsentieren er und Denker wie Honorius Augustodunensis oder Joachim von Fiore die fortan tonangebende Ausrichtung in der Debatte (1.2.3.). Im politischen Denken des 13. Jahrhunderts (1.3.) festigt sich die durch Hugo von St. Viktor initiierte Veränderung in der Wahrnehmung von Architektur und Architekt. Mit Vinzenz von Beauvais (1.3.1.), Brunetto Latini (1.3.2.), Albertus Magnus (1.3.3.) und Thomas von Aquin (1.3.4.) werden exemplarisch vier Denker dieses Jahrhunderts präsentiert, anhand derer sich die angesprochene Neubewertung nachvollziehen lässt. Sukzessive wird in den Abschnitten ihrer Werke, die Aussagen zur Baukunst wie zum Bauherrn enthalten, die Lösung von Kain als dem Ahnherrn der Architektur nachvollziehbar. Untersucht wird hierfür das Speculum Maius des Vinzenz von Beauvais, Brunetto Latinis Li Livres dou Trésor, Albertus Magnus’ Kommentare zur Politik und Nikomachischen Ethik einerseits, die in Augsburg gehaltenen Predigten über den heiligen Augustin andererseits, sowie Thomas von Aquins Politik-Kommentar, die Summa contra Gentiles gleichwie die Summa theologiae, nicht zuletzt sein Fürstenspiegel De regno ad regem Cypri. Insbesondere im Fürstenspiegel des Thomas von Aquin geht diese Lösung von Kain mit der Vorstellung einher, den Architekten als den Begründer des Gemeinwesens zu begreifen und der Architektur damit eine neue Wertigkeit zukommen zu lassen. Vier Vertreter politischen Denkens sollen exemplarisch für die Beschäftigung mit der Architektur im Laufe des 14. Jahrhunderts behandelt werden: Dante Alighieri, Marsilius von Padua, Ambrogio Lorenzetti und Bartolus von Sassoferrato. Trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen an und Sichtweisen auf das Verhältnis von Politik und Architektur verbindet sie die Anerkennung der Baukunst als eine Disziplin, die innerhalb des Denkens über die Politik nicht mehr unbeachtet bleiben kann. Der Gebrauch architektonischer Motive in der Commedia, die Frage, was kennzeichnend für eine Stadt sei, ihre Bauten oder ihre Bürger, und damit verbunden die Beschreibung des Weges hin zu der Erkenntnis, dass Architektur ein unverzichtbarer Bestandteil menschlicher Existenz sei, stehen im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Denken Dante Alighieris (1.4.1.). In weit weniger ausgeprägter Art und Weise wird Architektur im Defensor Pacis des Marsilius von Padua thematisiert (1.4.2.). Marsilius macht von ihr vorrangig metaphorischen Gebrauch, betont jedoch abermals, dass dem Menschen ohne das Wirken der Baukunst ein gutes Leben nicht möglich sei. Vielschichtiger als bei Marsilius von Padua erweist sich das Verhältnis von Politik und Architektur in Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus im Palazzo Pubblico in Siena (1.4.3.). Vielschichtiger und der

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Einleitung

Interpretation bedürftiger als der Defensor Pacis ist Lorenzettis Schöpfung bereits aufgrund des genutzten Mediums der Freskomalerei. Als eng verwoben mit dem Wesen und den Auswirkungen der guten wie der schlechten Regierung stellt Lorenzetti Architektur in seinen Fresken dar. Den Fokus ganz auf die schlechte Regierung richtet dann Bartolus von Sassoferrato. In seinem Tractatus de Tyrannia wird Architektur, namentlich Befestigungsarchitektur, als Charakteristikum tyrannischer Herrschaft ausgewiesen (1.4.4.). Bartolus von Sassoferrato steht damit beispielhaft für eine Debatte über das Wesen und den politischen Nutzen fortifikatorischer Bauten, der noch weit über das Mittelalter hinaus geführt wird. Ob das hier vorgestellte politische Denken des Mittelalters sein Ende in den Ausführungen von Niccolò Machiavelli oder Thomas Hobbes findet oder ob es sich bei ihrem Denken über das Verhältnis von Politik und Architektur nicht um die Fortführung mittelalterlicher Argumentationsfiguren handelt, ist Gegenstand des letzten, den ersten Teil abschließenden, Kapitels (1.5.). Mit Machiavellis Schilderung der Entstehung seines im Principe niedergeschriebenen Denkens, dessen Ursprung in seinem Schreibzimmer und der imaginären Verortung inmitten der „Säulenhallen der großen Alten“,113 erfolgt die Überleitung zum zweiten Teil der Untersuchung. Dort stehen die Darstellung mittelalterlichen Denkens gleichwie Denkprozesse begünstigende beziehungsweise benachteiligende Denkräume im Vordergrund des zu Erarbeitenden. Hierfür wird zunächst eine erste Antwort auf die Frage formuliert, ob das politische Denken eine räumliche Entsprechung kennt oder es ein ortloses Denken geblieben ist. Ausführungen wie jene des Alexander von Roes, Gerhard von Seeon oder Walther von der Vogelweide legen eine Verbindung von politischem Denken und der den Denker umgebenden Örtlichkeit nahe (2.1.). Die Anfänge dieser Verbindung in der Dichotomie von Stadt und Land und deren ideengeschichtliche Wurzeln werden im folgenden Kapitel behandelt (2.2.). Die der Antike entstammenden Ursprünge mittelalterlicher Abwägungen werden anhand dreier archetypischer Ausformungen der Debatte um den Ort des Denkens im Altertum präsentiert (2.3.). Durch jeweils drei Beispiele werden das Land, die Stadt und die Ortlosigkeit als präferierte Denkorte vorgestellt. Lukrez, Cicero und Platon repräsentieren dabei das Eintreten für das Land als Ort des Denkens (2.3.1.). Während Lukrez diese Position mittels der Bezugnahme auf den politischen Epikureismus begründet, sieht Cicero dagegen einen Rückzug auf das Land und die Hinwendung auf das Studium erst dann als schicklich an, wenn zuvor der gegenüber der res publica bestehenden Pflicht 113  Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407.

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Genüge getan wurde. Verbunden wird die Möglichkeit, über Politik zu denken bei Cicero zudem mit einem mnemotechnischen Motiv. Der ihn umgebende Raum weckt die Erinnerung an die Akademie Platons. In sie möchte Cicero sich imaginieren, um dort in die Diskussion mit den Vorvätern politischen Denkens einzutreten. Platon selbst entzog sich mit seiner Akademie der Polis, weilte bewusst außerhalb der Tore Athens. Die Abkehr von der Agora, die Wendung hin zum Hain des Akademos, lassen sich damit als möglicher Ausdruck einer aristokratischen Ausrichtung in Platons politischem Denken deuten. Von dieser Verortung des Denkens abweichend sprechen sich Plutarch, Juvenal und Quintilian für den urbanen Raum als das Denken beheimatende Lokalität aus (2.3.2.). Plutarch wendet sich gegen die von Seiten der Epikureer vertretene Position und betont stattdessen, dass das Denken und die aus ihm zu gewinnende Erkenntnis nicht in Isolation gelingen könne, sondern den Kontakt mit der Gemeinschaft im Urbanen benötige. Zu Gunsten der Stadt als Ort des Denkens argumentiert auch Juvenal. Als eigentümlich erweist sich sein Argument, da er der Stadt zugesteht, neben ihren genuinen Charakteristika auch die Vorteile der Natur übernehmen zu können. Explizit wider die Natur wendet sich schließlich Quintilian. Sie könne das politische Denken nicht beheimaten, da sie kein politischer Raum sei. Politik finde statt nicht in der Abgeschiedenheit der Natur, sondern in den Städten. Das Nachdenken über sie setze den Austausch mit anderen voraus. Als Vertreter der Ortlosigkeit des Denkens in der Antike sind zudem Seneca, Plinius der Ältere und Dion Chrysostomos anzuführen (2.3.3.). Gemeinsam ist ihnen eine detaillierte Schilderung der den Denkenden umgebenden Räumlichkeit. Doch wird diese mit dem Plädoyer verbunden, sich von dieser Umgebung abzuwenden und den Rückzug in sich selbst anzutreten. Damit ist eine Denkfigur angesprochen, die zu Beginn des Mittelalters wieder begegnet. Auf den antiken Ausführungen aufbauend übernimmt die Diskussion um den Ort des Denkens im Mittelalter die aus der Antike tradierten Archetypen. Mit der monastischen Ortlosigkeit des Denkens bei Benedikt von Nursia und der von Aurelius Augustinus konstatierten Verdrängung des über das Gespräch gewonnenen Wissens beginnt diese Geschichte (2.4.1.). Am Anfang des Mittelalters steht die Figur des auf die Gnade göttlicher Eingebung Hoffenden damit an hervorgehobener Position. Ihr tritt alsbald das Motiv des für das Denken notwendigen Rückzugs auf das Land zur Seite (2.4.2.). Walther von der Vogelweide, Ramon Lull, Bernhard von Clairvaux, Marbod von Rennes und Francesco Petrarca haben sich in ihren Werken mit diesem Motiv auseinandergesetzt. Für Walther von der Vogelweide wie auch für Ramon Lull ist der Rückzug in die Natur allerdings mit der Rückkehr in die Gemeinschaft verbunden, da es die in der Natur gewonnenen

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Einleitung

Erkenntnisse dort umzusetzen gelte. Jenseits dieser Parallele weist die Beschäftigung beider mit dem Motiv des Rückzugs auf das Land bedeutende Unterschiede auf, die ihren augenfälligsten Ausdruck im Modus der Erkenntnisgewinnung findet. Während bei Walther von der Vogelweide Inspiration unmittelbar durch das Werk Gottes erfahren wird, ist bei Ramon Lull die Diskussion das Erkenntnis fördernde Medium. Scharfe Kritik an einer solchen Diskussionskultur hatte zuvor dagegen Bernhard von Clairvaux vorgetragen. Die bei ihm postulierte Wendung zum Land ist eine Wendung gespeist nicht aus den Vorzügen des Landes, sondern dem Makel der Stadt. Eine Rückkehr in die städtische Gemeinschaft ist bei Bernhard von Clairvaux daher mitnichten intendiert. Eine Walther von der Vogelweide und Ramon Lull näher stehende Sicht vertrat Marbod von Rennes. Auch seine Argumentation folgt der Vorstellung, dass der zur Selbstbefragung vollzogene Rückzug auf das Land die Rückkehr in die Stadt vorbereiten soll. Eine in ihren Nuancen wiederum anders vorgetragene Begründung für das Land als Ort des Denkens wird am Ende des Mittelalters von Francesco Petrarca formuliert. Sein Landgut in Vaucluse und die Betrachtung der Natur initiieren den Prozess der Reflexion. Die durch ihn gewonnen Erkenntnisse aber werden nicht als im diskursiven Ringen mit anderen erworben dargestellt, sondern sind das Ergebnis einer Anlehnung an die von Autoritäten aufgestellten Beweise. Den Fürsprechern der Ortlosigkeit des Denkens sowie des Landes als zu präferierendem Denkort stehen die Vertreter einer Bevorzugung der Stadt als das Denken ermöglichenden und begünstigenden Raum entgegen (2.4.3.). In großer Zahl finden sich im Mittelalter Verteidiger städtischer Denkräume. Richard de Bury, Gerhard von Seeon, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Dante Alighieri, Ambrogio Lorenzetti oder Nikolaus von Kues treten in diesem Sinne für die Stadt ein. Als Hort von Büchern und Bibliotheken begegnet sie bei Richard de Bury, als Heimstatt der Philosophie im Genre des Städtelobs, wie es etwa Gerhard von Seeon auf Bamberg anstimmt oder als Erfahrungshintergrund, vor dem das politische Denken jener entsteht, die den sich in den Städten niederlassenden Bettelorden und Universitäten angehören. Die an verschiedenen Universitäten lehrenden Dominikaner Albertus Magnus und Thomas von Aquin etwa gehören den beiden letztgenannten Gruppen an, während Dante Alighieri und Ambrogio Lorenzetti in ihren Werken Miniaturen des universitären Lebens entwerfen. Nikolaus von Kues schließlich wendet sich von vielen der zuvor eingenommenen Positionen ab: Das Studium der Bücher vermag keine Erkenntnis zu vermitteln. Einzig die in der Stadt gewonnenen Lehren des tätigen Lebens seien hierzu imstande. Neben diese aus der Antike übernommenen Archetypen tritt im Mittelalter noch ein vierter Typus: die utopische Ortlosigkeit weiblichen Denkens (2.4.4.).

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Da Frauen der Zugang zu den von Männern kontrollierten klassischen Denkorten weitgehend verwehrt blieb, bot die Imagination eines eigenen Denkortes einen Ausweg aus dieser Situation an, wie das Beispiel der von Christine de Pizan erdachten Cité des Dames zeigt. Die Vielfalt der zum Teil aus der Antike übernommenen, zum Teil eigenständigen Abwägungen über den Prozess des Denkens und die Verortung dieses Denkprozesses wird in der Rezeption der nachfolgenden Jahrhunderte erheblich reduziert. Der isoliert für sich selbst Denkende wird fortan zum dominanten Typus in der visuellen Umsetzung mittelalterlichen Denkens und mittelalterlicher Denker. Vorrangig äußert sich dies in zwei Darstellungsformen: der im gestus melancholicus Abgebildete einerseits (2.5.1.) und der in der Tradition des Hieronymus-im-Gehäuse-Bildtypus stehende Denker andererseits (2.5.2.). Aufgegriffen werden diese beiden Bildtypen ferner, um mit ihnen Kritik am Bildungswesen des Mittelalters zu üben, es zu parodieren. Derart machen von ihnen unter anderem Hieronymus Bosch, Sebastian Brant und Rembrandt van Rijn Gebrauch. Kritik und Parodie jedoch erweisen sich nicht als die alleinigen Ziele, derentwegen diese Motive herangezogen werden. Von den Gegnern mittelalterlichen Denkens werden sie auch übernommen, um mit ihnen den Anbruch einer neuen Form des Denkens und die Ablösung der überkommenen alten Denkform ins Bild zu setzen, wie es paradigmatisch erkennbar ist in Darstellungen von Gottfried Wilhelm Leibniz und JeanJacques Rousseau (2.5.3.). An die Ausführungen der drei vorangegangenen Kapitel anknüpfend werden anschließend mögliche Erklärungen für diese Einschränkung an Typen visueller Umsetzungen mittelalterlichen Denkens aufgezeigt. Die Betonung von Individualität und individuellem Genius, die Veränderungen von Lesegewohnheiten und Lehrformen sind hier ebenso wie die Raumform des Studierzimmers anzuführen (2.5.4.). In der Folge ist der seit dem ausklingenden Mittelalter und der einsetzenden Renaissance weit verbreitete Topos der Scholastik-Kritik zu behandeln. Eng hängt dieser Topos mit der Entstehung der Universität und der ihr eigenen Architektur zusammen (2.6.). Zunächst zeichnet sich diese Entstehungsgeschichte durch eine räumliche Öffnung aus. Die architektonisch vorerst nicht eingefasste Scholastik bricht das örtlich in Kloster-, Dom- und Kathedralschulen fixierte Denken heraus und verlagert es in den öffentlichen Raum, auf die Straßen und Plätze der Stadt (2.6.1.). Aber bereits im 13. Jahrhundert beginnen sich erste Gegenbewegungen abzuzeichnen, die im 14. und 15. Jahrhundert eine räumliche Schließung nach sich ziehen werden, als die Universitäten Gebäude erwerben, selbst als Bauherren tätig werden. Eingesperrt hinter den Mauern der Hörsäale beginnt das Denken allmählich zu erstarren (2.6.2.).

Erster Teil

Zur Geltung der Architektur im politischen Denken des Mittelalters 1.1

Die Bibel und erste Stellungnahmen zur Architektur

Mit den Worten der Heiligen Schrift nimmt die hier zu erzählende Geschichte ihren Anfang. Für das politische Denken des Mittelalters gleichwie für die Beschäftigung mit der Baukunst ist das Buch der Bücher unverzichtbarer Drehund Angelpunkt der Auseinandersetzung. Auf dem in der Bibel gezeichneten Bild der Baukunst aufbauend hat Architektur im politischen Denken jener Jahrhunderte, die den Beginn des Mittelalters umfassen, allerdings keinen leichten Stand. Zu stark war die Wirkung der Schrift, die, gleichwohl kein durchweg negatives Bild, so doch ein zumindest ambivalentes Bild der Baukunst zeichnete. Am Beginn der Genesis findet sich das Menschengeschlecht in einer durch Bautätigkeit vermeintlich unberührten Umgebung.1 Konfrontiert mit der Architektur wird der Mensch erst infolge des Sündenfalls. Hier begegnen dem Leser der Schrift die Figur des Kain und Städte wie Babylon, Sodom und Gomorrha.2 Eine positive Bewertung des Bauens auf der Grundlage eines solchen Personals, einer solchen Folge verdorbener Städte vorzunehmen, ist ein schier aussichtsloses Unterfangen. Das Ende der Schrift jedoch verheißt dem Menschen eine Zukunft inmitten einer Stadt.3 Das himmlische Jerusalem tritt an die Stelle des praelapsarischen Garten Edens und ist hierin Ausdruck eines sich geänderten Sinns für die Architektur. Allenfalls bedingt wird dieser Zwiespalt in den Überlegungen des Kirchenvaters Aurelius Augustinus thematisiert, während Martianus Capella ihm nicht einmal Beachtung schenkt. Der Baukunst stand Augustin skeptisch gegenüber, wertete vor allem ihr Herkommen von Kain als eine nicht zu begleichende Hypothek.4 Martianus Capella wiederum verwehrte der Architektur die Aufnahme in den Kanon der artes liberales. Sie, und gleichsam auch die Medizin, 1  1. Mose II,8-154. Meier: Mensch und Bürger. S. 24-25. 2  Zu Kain siehe 1. Mose IV,16-17. Über Bau von Stadt und Turm zu Babel 1. Mose XI,1-9. Die Bewertung von Sodom und Gomorrha ist nachzulesen etwa in 1. Mose XVIII,20. 3  Siehe Jes IV,3 und LIV,10-14 sowie Offb XXI,1-XXII,5. Meier: Mensch und Bürger. S. 24-25. Sternberger: Die Stadt als Urbild. S. 14. 4  Paradigmatisch hierzu Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,1, S. 212-214 und XV,5, S. 218-220.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765135_003

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Erster Teil

war nicht würdig, die Disziplinen von Trivium und Quadrivium um weitere Künste zu ergänzen.5 Für die nachfolgenden Jahrhunderte erwies sich Augustins Urteil ebenso wie Martianus’ Verdikt zunächst als kaum zu überwindende Hürde. Die Autorität ihrer Worte blieb nahezu ungebrochen, ehe durch Hugo von St. Viktor die Architektur einer Neubewertung unterzogen wurde. 1.1.1 Architektur und Stadt in der Bibel Mit dem Christentum habe sich das Politikverständnis der alten Welt von Grund auf verändert. Die Stadt als Zentrum des Lebens spiele für den Christen keine Rolle mehr.6 Eine Entsprechung für das auf die Stadt bezogene zōon politikon des Aristoteles könne man in der Bibel demnach nicht finden. Nicht das Leben in der Polis ist für den Menschen das seiner Natur gemäße Leben. Im Anfang war das Paradies, der Garten. Hier lebte der Mensch und er lebte dort ohne die Formung des Raums durch die Architektur.7 Die Depotenzierung der Baukunst macht bereits ihre erste Erwähnung in der Heiligen Schrift deutlich. Der erste Architekt der Menschheit ist der Mörder Kain. Nachdem er seinen Bruder erschlagen hatte, wandte er sich vom Angesicht des Herrn ab und zog gen Osten, weg von Eden, in das Land Nod. Dort lernte er seine Frau kennen, wurde Vater und erbaute eine Stadt, die er nach seinem Sohn Henoch nannte.8 Ist das Urteil über die Architektur damit bereits ergangen? Folgt man Augustins Auslegung der Genesis in De civitate Dei wird man die Frage schwer verneinen können. Bei Augustinus lernt man Kain als den Begründer der civitas terrena kennen. Und man lernt, dass sich sein Vergehen bei der Gründung Roms wiederholte. Wie einstmals Abel wird auch Remus von seinem Bruder erschlagen. Der Gewaltakt wird somit zu einem prägenden Ereignis für die Anfänge der mit der Architektur verwobenen irdischen Staatlichkeit.9 Sieht man von der bei Aurelius Augustinus vertretenen Position ab, so gestaltet sich die Antwort auf die Frage nach dem Urteil über die Architektur in den ersten Kapiteln der Genesis nicht derart eindeutig. Zweifel am Gegensatz des Paradiesgartens und der Architektur weckt beispielsweise die Etymologie der Begrifflichkeiten Paradies und Garten. Eigen ist der Bezeichnung des Gartens die mittels einer Mauer vollzogene Abgrenzung von der Außenwelt. 5  Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologiae mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). IX,891, S. 298. 6  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/1. S. VI-VII. Siehe auch Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelaltes. S. 240. 7  1. Mose II,8-15. Meier: Mensch und Bürger. S. 24-25. 8  1. Mose IV,16-17. 9  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,1, S. 212-214 und XV,5, S. 218-220.

Die Bibel und erste Stellungnahmen zur Architektur

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Sowohl im Lateinischen hortus wie auch im Griechischen chórtos ist, dem indogermanischen Wortstamm ghordo gleich, eine Umschreibung der Mauer zu erkennen. Der Herkunft für die Bezeichnung des Gartens entspricht die Herkunft des Wortes Paradies: „[…] das altpersische ‚pairi-dae’za‛ – unser Paradies – bedeutet seinem Ursprung nach nichts anderes als ‚Umzäunung, Umwallung‛. Im Spätjüdischen wurde daraus der Namen für den Garten Eden […].“10 Mittelalterliche Darstellungen des Gartens Eden erinnern wiederholt an diese Bedeutung von Paradies und Garten. Weisen sie Mauern und Tor doch als etablierten Bestandteil des ikonographischen Programms aus. Sei es in der Ebstorfer Weltkarte, dem als Paradiesgärtlein benannten Bild eines oberrheinischen Meisters oder dem Stundenbuch des Herzogs von Berry. Stets erscheint das Paradies als von Mauern umfasst oder mit einem Tor versehen (Abb. 04 und 05).11 Demzufolge ist Eden kein architekturferner Ort, da auch der Garten über das architektonische Element der Mauern bestimmt wird. Hinterfragt werden kann daneben die aufgrund ihres Herkommens vollzogene Abwertung der Architektur. Die entsprechende Passage der Schrift behandelt nicht den Mord Kains an seinem Bruder, sondern nimmt einen neuen Faden auf. Die Erzählung von Kain und Abel schließt der Auszug Kains gen Osten ab.12 Es ist somit nicht die Intention des sich hieran anschließenden Absatzes und der in ihm erfolgenden Gründung Henochs, die Erinnerung an den Brudermord wachzuhalten. Die Vorstellung des Geschlechts der Kainiten zielt nicht auf die Abwertung der Architektur, der auf Jabal zurückgehenden Nomandenkultur, der Musik, deren Erfinder Jabals Bruder Jubal sei, und der von Tubal-Kain, dem Halbruder von Jabal und Jubal, ersonnenen Erz- und Eisenschmiedekunst.13 Beabsichtigt ist eher die Entwicklung menschlicher Kultur mit dem Stammbaum der Kainiten nachzuzeichnen: die Entstehung von Städtern und Nomaden, die Herausbildung von Handwerk und Kunst.14 Isoliert betrachtet kommt der Geschichte der ersten Stadt demnach eine zu vernachlässigende Bedeutung in der Frage nach der Bewertung von Architektur 10   Mayer-Tasch/Mayerhofer: Hinter Mauern ein Paradies. S. 11. Ferner Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen AristotelesRezeption. S. 55. Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. IV/1. Sp. 1390-1392. Grimm/ Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. VII. Sp. 1453. Hoiman: Garten. S. 388-389. 11  Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 55-56. Einmalig in der bildlichen Darstellung des Paradieses ist die durch Jan van Eyck im Genter Altar geschaffene Fassung. Hier wird die Metapher des Gartens mit der Metapher der Stadt vereint (Belting: Spiegel der Welt. S. 214-216). 12  1. Mose IV,1-16. 13  1. Mose IV,17-22. Siehe auch Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,17, S. 250-251. 14  Rad: Das erste Buch Mose. S. 80-82. Westermann: Genesis. Bd. I/1. S. 439.

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in der Bibel zu. Allzu nüchtern erfolgt ihre Nennung. Doch im Zusammenhang mit ihren weiteren Erwähnungen in der Genesis ergibt sich ein Bild, das die Baukunst und das Urbane als fragwürdig ausweist.15 Zum zweiten Mal innerhalb der Genesis begegnen dem Leser der Schrift Architektur und Stadt in einer kurzen Erwähnung der Völkertafel. Nimrod, heißt es dort, „der Erste, der Macht gewann auf Erden“, habe Ninive, RehobotIr, Kelach und Resen erbaut.16 Mehrfach findet die erstgenannte Stadt im Alten Testament fortan Erwähnung.17 Erwähnung bei Gelegenheiten, die mehr über die Stadt besagen als ihre bloße Nennung in der Genesis.18 In den Büchern der Propheten Jona, Nahum, und Zefanja wird Ninive als vom Glauben abgekommen, als Ort von Bosheit, Lüge und Räuberei, dem sein drohender Untergang verheißen wird, aufgeführt.19 Die im Buch Nahum vollzogene Strafe Gottes an Ninive richtet sich dabei nicht allein gegen die Bewohner der Stadt, sondern auch gegen deren Bauten.20 Stadt meint hier somit mehr als die Gemeinschaft der Bürger oder Bewohner eines Ortes. Die architektonische 15  Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. S. 241. 16  1. Mose X,8-11. Als Städtegründer habe sich Nimrod seine Herrschaftsgebiete selber erschaffen, so Zimmerli: 1. Mose 1-11. S. 383. 17  Im Neuen Testament hingegen wird Ninive allein im Matthäus-Evangelium genannt (Mt XII,41). 18  Eine Möglichkeit wäre allenfalls, über ihren Erbauer eine urteilende Aussage zu Ninive ermitteln zu wollen. Als Bauherr von Stadt und Turm zu Babel ist Nimrods Drang zur Architektur ein wiederkehrendes Motiv der Genesis und spätestens im Bau des babylonischen Turms Ausdruck menschlicher Hybris. Siehe hierzu die folgenden Absätze (zu Nimrod und seiner Deutung als Gewaltherrscher Zimmerli: 1. Mose 1-11. S. 383-387). 19  Jona I,2, Nah I,11-III,19, Zef II,13. Zur Erniedrigung Ninives in den Büchern Nahum und Zefanja Dietrich: Theopolitik. S. 242-247. Der Prophet Jona jedoch berichtet in Jona III,110, dass Gott von seinem Plan Ninive zu vernichten wieder abgelassen habe. 20  Der Prophet erwähnt beispielsweise, wie die Wasser eines aufgestauten Flusses den Palast von Ninive zerstören (Nah II,7. Fabry: Nahum. S. 167-174). Nicht nur Ninive, in der Schrift wird auch Babylon sein Ende im Meer finden (Offb XVIII,21). Ein Motiv, das später etwa durch Otto, den Bischof von Freising, aufgegriffen wurde (Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. VIII,20). Die Strafphantasie, mittels gestauter Wassermassen eine Stadt dem Erdboden gleichzumachen, begegnet überdies auch bei Dante Alighieri. Im neunten Höllenkreis gibt der Dichter preis, dass Pisa dereinst vom Arno verschlungen werde, wenn dessen Mündung durch die Inseln Capraia und Gorgona versperrt worden sei (Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. XXXIII,79-84, S. 128). Das Bild strafenden Wassers ist am vertrautesten freilich in der Sintflut-Erzählung gebraucht. Zur Sintflut 1. Mose VI,5-VIII,14. Vorläufer und Nachfolger findet die biblische Fassung der Sintflut etwa im babylonischen Gilgamesch-Epos (Maul (Hrsg.): Das Gilgamesch-Epos. XI,109-131, S. 144) und bei Platon: Kritias. 109d-112a, S. 311315. Platon: Timaios. 21d-25d, S. 197-204. Ovid: Metamorphosen. I,253-415, S. 23-37. Schließlich auch noch bei Niccolò Machiavelli (Machiavelli: Von Fortuna. S. 118. Machiavelli: Il Principe. S. 191-193. Machiavelli: Discorsi. II,5, S. 189-190).

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Formung dieses Ortes ist nicht minder von Bedeutung und ihre Vernichtung für die Zerstörung der Stadt daher ebenfalls erforderlich. In der Genesis nur rasch genannt, ist Ninive durch seine weiteren Erwähnungen im Alten Testament doch Beispiel für ein negativ besetztes Verständnis der Architektur im Alten Testament. Zum dritten Mal innerhalb der Genesis begegnen Architektur und Stadt in der Geschichte des Turmbaus zu Babel.21 Oftmals übersehen wird dabei, dass der Bau des Turms mit dem Bau der Stadt einhergeht: „Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.“22 In beiden Bauvorhaben, in der Stadt wie im Turm, erkannte der Herr Zeichen der Auflehnung gegen sich. Übermut trieb die Menschen zur Architektur. Wehrhaftigkeit und Selbstsicherheit ließ sie die Stadt erbauen, Ruhmsucht den Turm. Gott aber will die Menschen nicht hinter den Mauern der Stadt wissen. Sie sollen getrennt bleiben, damit er sie besser strafen und ihnen seinen Willen aufzwingen kann.23 Der Aspekt der Auflehnung gegen den Herrn und das sich daran anschließende Strafgericht ist auch in der Nennung der auf Babylon folgenden Städte präsent. Das Städtepaar Sodom und Gomorrha ist zum Inbegriff der Sündhaftigkeit geworden. Ihre Bewohner seien böse und würden sich an den Geboten des Herrn vergehen.24 Gleichwohl gilt es auch hier zu fragen, ob es sich um eine generelle Verurteilung der Stadt oder nur dieser beiden Städte handelt? Der Herr wird diese Stätte und diese Stadt verderben, wie es in der Schrift geschrieben steht.25 Die Verderbnis richtet sich somit nicht gegen das Konstrukt der Stadt als solcher. Nicht zuletzt wird dies daran ersichtlich, dass Lot Zuflucht nicht, wie ihm geraten, im Gebirge sucht,26 sondern sich wieder einer Stadt zuwendet: „Siehe, da ist eine Stadt nahe, in die ich fliehen kann, und sie ist klein; dahin will ich mich retten – ist sie doch klein –, damit ich am Leben bleibe.“27 Die Stadt ist in der Genesis also nicht grundsätzlich als Ort von Verfehlung und Sünde ausgewiesen. Bereits hier und nicht, wie in der

21  1. Mose XI,1-9. 22  1. Mose XI,4. 23  Rad: Das erste Buch Mose. S. 113-115. Hermann: Sumer, Babylonien, Assyrien. S. 139-140. Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. S. 241. 24  1. Mose XIII,13 und XVIII,20. 25  1. Mose XIX,13-14. 26  1. Mose XIX,17-19. 27  1. Mose XIX,20.

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Forschungsliteratur gelegentlich zu lesen ist, erst im vierten Buch Mose beziehungsweise im Buch Josua wird die Stadt als ein Ort der Zuflucht angesehen.28 Zwei Einschränkungen sind bezüglich der Stadt als Zuflucht Lots allerdings zu nennen. Erstens ist auf die zweifache Betonung der bescheidenen Größe der Fluchtstätte hinzuweisen. Möglicherweise wird hiermit auf einen Unterschied in der Qualifizierung urbaner Räume verwiesen, so dass in der Geschichte von Sodom und Gomorrha eine frühe Ausformung von Großstadtkritik gesehen werden kann.29 Zweitens wird die Wahrnehmung der Stadt als schützender Ort nicht konsequent durchgehalten. Zuletzt verlässt Lot seine Zuflucht in der Stadt Zoar doch und zieht ins Gebirge. Noch kann die Stadt somit kein umfassendes Gefühl der Sicherheit vermitteln, „denn er [Lot] fürchtete sich, in Zoar zu bleiben; […].“30 Uneingeschränkt zur Zuflucht wird die Stadt damit tatsächlich erst in den Numeri und im Buch Josua. Hier und in den folgenden Büchern des Alten Testaments beginnt sich das Bild von Architektur und Stadt grundlegend zu verändern. Ersichtlich wird diese Veränderung besonders anhand der Nennung der beiden nächsten großen Bauvorhaben im Alten Testament: dem Tempel Salomos und der Errichtung der königlichen Paläste.31 Gerade der Tempel, die Beschreibung seiner Maße und der verwendeten Materialien, wird in das allegorische Reservoir des Mittelalters überführt.32 Immer wieder wird auf ihn Bezug genommen. Von Aurelius Augustinus etwa in seiner Predigten zu

28  In der Forschung nahm zum Beispiel Jacques Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. S. 242 diese Position ein und verwies hierzu auf 4. Mose XXXV,9-34 sowie Jos XIIIXIX und XX-XXII. 29  Hierzu passt auch, dass die Bible moralisée die Zerstörung der Städte allegorisch auffasst, sie als Sinnbild für die Zerstörung der Laster Unzucht, Begierde, Stolz, Trägheit und Geiz ausweist (fol. 4*v. Stork: Übersetzung der französischen Bibeltexte. S. 54). Kommentare zur Genesis machen zudem auf die etymologische Verbindung des Namens der Stadt Zoar zu Begriffen wie Kleinigkeit, klein, gering sein aufmerksam (Rad: Das erste Buch Mose. S. 173. Westermann: Genesis. Bd. I/2. S. 372. Loader: A Tale of Two Cities. S. 40). Vielleicht ist die Betonung der geringen Größe aber auch derart zu verstehen, dass Zoar dadurch nicht über den Charakter einer Stadt verfügt, weswegen es sich hier nicht allein um Großstadtkritik handelt, sondern tatsächlich um Kritik am Phänomen Stadt. 30  1. Mose XIX,30. Rad: Das erste Buch Mose. S. 176. Loader: A Tale of Two Cities. S. 45. Aufgegriffen wird hiermit auch das in der Geschichte vom Turmbau zu Babel angerissene Motiv der Wehrhaftigkeit der Menschen, die sich auf der Suche nach Schutz in die Stadt begeben (Hermann: Sumer, Babylonien, Assyrien. S. 139-140). 31  Zum Tempel Salomos 1. Kön V,15-VI,38 sowie Hes XL,1-XLI,26. Zu den königlichen Palästen 1. Kön VII,1-VIII,13. 32  Eco: Die Geschichte der legendären Länder und Städte. S. 48-51.

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Psalm 126.33 Von Richard von St. Viktor in seinem Werk In visionem Ezechielis, in dem er sich ausführlich um die Erfassung der im Buch Hesekiel gegebenen Beschreibung des Tempels müht.34 Und in der Buchmalerei etwa von Jean Fouquet, der die Errichtung des Tempels in einer Illustration zu Flavius Josephus’ Antiquités Judaïques als gotischen Kathedralbau präsentiert (Abb. 06).35 Ausgehend von der Schilderung des Tempels und Palasts lässt sich somit ein Wandel konstatieren, der eine spürbar positivere Bewertung der Architektur nach sich zog. Vom Ideal der Wüste und der Heimatlosigkeit des auserwählten Volkes beginnt sich die Schrift zu distanzieren. Die Stiftshütte, das mobile Zeltheiligtum des Exodus, wird durch den stationären Tempel ersetzt. Seit der Einnahme der Städte war Israel kein heimatloses, sondern ein urbanes Volk und die Stadt wurde zum Ort der weltlichen und religiösen Gewalt.36 Die Angliederung weltlicher und religiöser Gewalt an den städtischen Raum wird über die Praxis der Versammlung im Tor in zahlreichen Passagen des Alten Testaments deutlich gemacht. In den Büchern des Alten Testaments begegnet sie etwa zum Zwecke der Beschreibung von Gerichtsverhandlungen, Reden, Beratungen oder der Kommentierung und Auslegung der göttlichen Gesetze.37 Mit der Trias von Tempel, Palast und Versammlung im Tor hat sich die Charakterisierung der Stadt von ihrer Bewertung im ersten Buch Mose weit entfernt. Trotz der genannten Einschränkungen vermittelte die Genesis den 33  Augustinus: In psalmum CXXVI. PL 37, 1668. Bandmann: Die vorgotische Kirche als Himmelsstadt. S. 70. 34  Richard von St. Viktor: In visionem Ezechielis. PL 196, 527-600. Zu Richards Text und den ihm beigegebenen Illustrationen Cahn: Architectural Draftsmanship in Twelfth-Century Paris: The Illustrations of Richard of Saint-Victor’s Commentary on Ezekiel’s Temple Vision. S. 248-253. 35  Zu den Vorbildern Fouquets Schaefer: Jean Fouquet: An der Schwelle zur Renaissance. S. 214. Auffällig ist ein Detail in Fouquets Illustration. Auf dem Dach des sich neben dem Tempelbau befindlichen Gebäudes, in dessen Erker der König mit Krone und Hermelinmantel auf den Tempel weist, weht das Lilienbanner der französischen Monarchen. Der als Baumeister wirkende Salomon wird somit zum Vorbild für die Könige Frankreichs erklärt, wird darüber hinaus mit ihnen sogar gleichgesetzt. 36  Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. S. 81-82 und 241-242. Siehe unter anderem 5. Mose XX,10-20 und 2. Sam V,6-12. Der Verlust seiner Architektur, durch die Zerstörung des Tempels, Palasts sowie der Häuser und Mauern Jerusalems, wird für Juda daher gleichbedeutend mit dem Eintritt in die babylonische Gefangenschaft. 2. Kön XXV,1-21. Zur Stiftshütte, der Mischkahn, 2. Mose XXV,1-XXVII,21 und XXXVI,1-XL,38. 37  Zur Versammlung im Tor unter anderem: 5. Mose XVI,18-20, 2. Sam XV,2-6, Jes XXIX,2021, Am V,15, Jer XVII,19-27, Hiob XXIX,7-25, Neh VIII,1-8. Niehr: Die Rechtsprechung im Tor. S. 128-129. Herzog: Das Stadttor in Israel und den Nachbarländern. S. 163-164. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 55.

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Eindruck, dass der urbane Raum dem Rechtgläubigen keine Heimstatt sein kann. Die Stadt blieb das Fremde, das Ungeordnete. Nun aber befindet sich das Fremde außerhalb der Mauern der Stadt. Innerhalb öffnet sich der Raum der Ordnung, des Rechts und des Rechtglaubens.38 Damit war der Punkt erreicht, an dem der Stadt auch eschatologische Bedeutung beigemessen werden konnte. Erstmals begegnet die Vision einer jenseitigen Stadt im Buch des Propheten Jesaja. Von Gott errichtet, werden ihre Bauten aus Edelsteinen sein. Sie selbst wird auf Gerechtigkeit fußen, fern jedweder Bedrückung. Die Anfänge des Menschen im Garten Eden werden dadurch um das künftige Heil in der Stadt erweitert.39 Die Verheißung einer kommenden Zeit des Heils wird so zugleich zur Verheißung einer urbanen Zeit, in der das Volk Gottes verwüstete Städte neu bewohnen werde.40 Bei Jesaja begegnet aber nicht allein das durch die Architektur vermittelte Heilsversprechen, erstmals begegnet auch die Dichotomie zweier Städte, wie sie prominenter in den Kapiteln der Offenbarung dargelegt wird.41 Dem Ideal der ewigen Stadt im Jenseits wird schon bei Jesaja die Erzählung der verdorbenen Stadt entgegengestellt, die ihr Fanal im Untergang Babels findet.42 Die sich in dieser Konstruktion des Gegensatzes zwischen Jerusalem und Babylon abzeichnende Ambivalenz in der Bewertung von Architektur und Stadt zieht sich fortan durch die Schrift. Dies gilt sowohl für die Bücher des Alten wie des Neuen Testaments. Die zwiespältige Sicht auf die Architektur wie auch auf die Stadt bleibt dem Neuen Testament demnach erhalten. Die Charakterisierung Jerusalems in den Evangelien vereinige, so Jacques Le Goff, „die positiven, attraktiven und die abstoßenden, verfluchten Seiten der Stadt […].“43 Sein Urteil stützt Le Goff unter anderem auf Jesu Klage über die Städte Galiläas, seinen Einzug in Jerusalem wie auch sein Verzweifeln an Jerusalem im Matthäus-Evangelium.44 Hinzu kommen ferner die Aussagen der Evangelisten Markus, Lukas und Johannes zu eben diesen Episoden aus Jesu Leben.45 Die Fokussierung auf die Person Christi im Neuen Testament birgt in sich jedoch ein Hindernis für die Anerkennung der Architektur. Die christliche Religionsgemeinschaft begreift sich anfänglich nicht über einen 38  Niehr: Die Rechtsprechung im Tor. S. 129. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 55. 39  Jes IV,3 und LIV,10-14. Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. S. 243-244. 40  Jes LIV,3. 41  Offb XVII,1-XVIII,24 und XXI,1-XXII,5. 42  Jes XIII,1-22. 43  Jacques Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. S. 243. 44  Mt XI,20-24, XXI,1-17, XXIII,37. 45  Mk XI,1-11, Lk XIX,28-38, XIX,41-44, Joh II,13, XII,12-13.

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territorialen Bezugspunkt, sondern vornehmlich als Personenverband, als die Gefolgschaft Jesu. Einzig über den Menschensohn werde man in den Himmel auffahren. Das Konstrukt der Himmelsleiter Jakobs hat sich damit von der alttestamentarischen Vorstellung der Heiligkeit eines Ortes losgelöst.46 „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“47 Wahre Anbetung wird, wie Arnold Angenendt hervorhebt, als ortlose begriffen.48 Der Architektur bleibt damit nur noch eine metaphorische Verwendungsweise, wie sie zum Beispiel im ersten Brief des Apostels Petrus zu erkennen ist. Dort begegnet die Metapher von Christus als verworfenem Eckstein und dem Aufruf an das Gottesvolk, sich sein Haus aus lebendigen Steinen zu erbauen.49 Wiederrum erfährt die Gemeinschaft der Christen ihr bestimmendes Merkmal somit durch den Zusammenschluss der an das Wort glaubenden Personen.50 Erst allmählich wandelte sich die frühchristliche Ortlosigkeit in eine Orthaftigkeit des Glaubens. Begünstigt insbesondere durch die einsetzende Verehrung der Grabstätte des Heiligen.51 Begünstigt aber auch durch die dem Buch Jesaja und vor allem der Offenbarung entnommenen Vorstellung einer himmlischen Stadt, die am Ende der Geschichte den Platz des anfänglichen Paradiesgartens einnimmt.52 Als Konsequenz beider Prozesse erhielt das Christentum eine ihm bislang fremd gebliebene territoriale Dimension, durch 46  Vgl. Joh I,51 mit 1. Mose XXVIII,10-22. Angenendt: Christliche Ortlosigkeit. S. 349-350. Mayer-Tasch/Mayerhofer: Die Himmelsleiter. S. 44-45. 47  Mt XVIII,20. 48  Angenendt: Christliche Ortlosigkeit. S. 351. 49  1. Petr II,4-8. 50  Vgl. hierzu auch: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überschreiten.“ (Mt XVI,18) Auch in dieser vielzitierten Passage des Matthäusevangeliums wird die Auffassung deutlich, die Kirche als Personenverband zu begreifen. So ist ferner 1. Kor III,10-13 zu verstehen. Selbst wenn sich Paulus hierin als „weiser Baumeister“ tituliert und von verschiedenen Materialien spricht, mittels derer der Tempel Gottes erbaut werde, bleibt das Fundament der Kirche die Person Jesu. Denn „einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1. Kor III,11) Gemäß Matthias Winner nimmt auf das im 1. Korintherbrief benutzte Motiv der verschiedenen Baumaterialien und auf das im 1. Petrusbrief gebrauchte Gleichnis von Christus als Eckstein Raffael in seinen Fresken für die Stanza della Segnatura Bezug (Winner: Der Architekt in Raffaels Schule von Athen. S. 182-185). 51  Angenendt: Christliche Ortlosigkeit. S. 354-357. Noch im Matthäusevangelium geißelt Christi die Schriftgelehrten und Pharisäer für die Errichtung von Propheten-Grabmälern (Mt XXIII,29). Der christliche Märtyrerkult hingegen ist lokal auf das Grab fixiert (Hausberger: Heilige/Heiligenverehrung. S. 648). 52  Jes IV,3 und LIV,10-14. Offb XXI,1-XXII,5. Meier: Mensch und Bürger. S. 24-25. Sternberger: Die Stadt als Urbild. S. 14.

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die sich im Verlauf des Mittelaltes die Wahrnehmung der Kriterien anhand derer zum Beispiel bestimmt wurde, was die Kirche ausmache und was nicht, verschoben. Aufgefasst wird die Kirche im 11. und 12. Jahrhundert bereits nicht mehr nur über die Gemeinschaft der Gläubigen, sondern auch als materieller, von Mauern umgebener Ort.53 Ein eindeutiges Bild über die Rolle der Architektur in der Bibel lässt sich, dies sollte durch die bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, nicht zeichnen. Zu ambivalent ist deren Darstellung im Buch der Bücher. Kann im Alten Testament, besonders anhand der Lektüre der Genesis, zunächst von einem zumindest skeptischen Blick auf die Baukunst gesprochen werden, so verändert sich die Wahrnehmung der Architektur sukzessive und findet in der Prophezeiung einer kommenden Himmelsstadt ihren vorläufigen Höhepunkt. Ihrerseits behalten auch die Bücher des Neuen Testaments diese ambivalente Wahrnehmung bei und changieren zwischen Kritik und Lob an architektonisch geformten Umgebungen. Ein Wechselspiel, das in der Gegenüberstellung der Hure Babylons und des Himmlischen Jerusalems den Schlusspunkt des Neuen Testaments bildet. Mit dem Dualismus der beiden Städte wie auch mit den vorangegangenen Abschnitten zum Urbanen und zur Baukunst wird offenbar, dass Architektur auch über die Texte des Alten Testaments hinaus nicht vollkommen depotenziert, aber auch nicht gänzlich unbefangen wahrgenommen wird. 1.1.2 Schriftsinne und Architektur im politischen Denken Augustins Fehlende Eindeutigkeit und der generelle Interpretationsbedarf der Schrift, der durch die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn noch einmal gesteigert wurde, führten dazu, dass sich für die mittelalterliche Wahrnehmung der Architektur die Exegese der entsprechenden Bibelpassagen als wirkmächtiger erwiesen als das Wort selbst. Eine Schlüsselstellung in der Auslegung biblischer Architekturpassagen nehmen dabei die Ausführungen des Aurelius Augustinus ein. Zugleich geht auf ihn, wie auch auf seinen nur unwesentlich jüngeren Zeitgenossen Johannes Cassianus, die Ausarbeitung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn zurück. Augustinus gemäß werde aus zwei Gründen nicht verstanden, „was geschrieben worden ist: entweder ist es durch unbekannte oder doppeldeutige Zeichen verhüllt.“54 Um die Heilige Schrift zu verstehen, so Augustin in De doctrina christiana weiter, solle man sich daher nicht auf die reine Existenz von Zeichen konzentrieren, sondern dem nachgehen, „worauf sie hindeuten. 53  Lauwers: Naissance du cimetière. S. 72. Heck: Die eigene Seele retten. S. 1155. 54  Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). II,10, S. 56.

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Ein Zeichen ist nämlich ein Ding, das bewirkt, dass außer seiner äußeren Erscheinung, die es den Sinnen einprägt, irgend etwas anderes aus ihm selbst im Nachdenken ausgelöst wird.“55 Von dieser Definition des Zeichens ausgehend genügt es, sich mitunter mit dem buchstäblichen Sinn des Zeichens zu begnügen, manchmal jedoch erweist sich diese Vorgehensweise als nicht ausreichend, um zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen, so dass es erforderlich wird, eine allegorische Auslegung von Zeichen vorzunehmen.56 In De utilitate credendi sowie De Genesi ad litteram imperfectus liber führt er diese Differenzierung in der Analyse der Zeichen durch die Unterscheidung eines historischen von einem tropologischen, allegorischen und anagogischen Schriftsinn weiter aus, mittels derer man die Schrift zu lesen habe.57 Am Beispiel Jerusalems erläuterte Johannes Cassianus die Anwendung dieser vier Bedeutungsebenen. Werde in der Bibel Jerusalem genannt, sei dem historischen Schriftsinn gemäß die Stadt selbst darunter zu verstehen, wie Cassian in seinen Mönchsgesprächen ausführt. Allegorisch aufgefasst werde mit Jerusalem hingegen die Kirche Christi bezeichnet, während der anagogischen Lesart entsprechend Jerusalem für die Himmelsstadt stehe. Nach dem tropologischen Sinne sei Jerusalem schließlich als Sinnbild für die Seele des Menschen zu begreifen.58 Doch nicht allein dem Verständnis der Bibel, auch dem Erfassen der Welt wird, vom vierfachen Schriftsinn ausgehend, eine allumfassende Allegorik zugrunde gelegt. Johannes Scotus Eriugena sieht in der Welt nichts Körperliches, das nicht auf eine körperlose beziehungsweise intelligible Bedeutung hinweise.59 Jedweder Kreatur sei daher, wie Alanus ab Insulis betont, eine derartige Bedeutungsvielfalt zuzuschreiben.60 Aber auch vieles andere mehr wird 55  Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). II,1, S. 46. 56  Pollmann: Nachwort. S. 285. 57  Augustinus: De utilitate credendi ad Honoratum. PL 42, 68. Augustinus: De Genesi ad litteram imperfectus liber. PL 34, 222. Vgl. zum geschichtlichen Herkommen der Lehre vom vierfachen Schriftsinn Dobschütz: Vom vierfachen Schriftsinn. S. 3-10. Zur biblischen Allegorik Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 92-97. 58  Cassianus: Collationum XXIV. PL 49, 963-964. Am Beispiel Jerusalems erörtert den vierfachen Schriftsinn auch Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245. 59  Johannes Scotus Eriugena: De divisionae naturae. PL 122, 865-866. 60  Alanus ab Insulis: Elucidatio in Cantica canticorum. PL 210, 53. Grundlegend für die Allegorik bei Alanus ab Insulis ist zudem der Rhythmus alter (Alanus ab Insulis: Rhythmus alter. PL 210, 579-580). Für die allegorische Auslegung von Tieren und Pflanzen sind die Ausführungen im Physiologus zentral. So schreibt der Physiologus etwa über den Igel: „Er klettert auf den Weinstock, gelangt zur Traube und wirft ihre Beeren zur Erde; dann wälzt er sich darin und wirft sich auf den Rücken, sodass sich die Beeren an seine Stacheln heften. Darauf bringt er sie seinen Jungen und lässt die Rebe ohne Trauben

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im Mittelalter als Bedeutungsträger aufgefasst. Dinge, Personen und Zahlen ebenso wie Orte, Zeiten und Taten könne eine über das Sichtbare hinaus gehende Bedeutung beigemessen werden.61 Anhand der metaphorischen Aufladung aller sichtbaren Dinge könne daher das Unsichtbare verstanden werden.62 Derart präsentiert sich auch die Auseinandersetzung mit der Architektur im Werk Augustins. Verwendung findet sie bei Augustinus vornehmlich als metaphorische Größe.63 Einen zentralen Text, in dem sich der Kirchenvater allein der Baukunst widmet, bietet sein Schrifttum nicht. Die Aussagen zur Architektur sind verstreut über seine Werke. Herausgehoben werden muss hierfür aber seine wirkmächtigste Arbeit, De civitate Dei. Doch bereitet hier bereits der Titel des Werks Probleme. Die verbreitetste deutschsprachige Übersetzung von Wilhelm Thimme überträgt ihn mit Vom Gottesstaat.64 Heinrich Scholz, Kurt Flasch und Johannes van Oort betonen dagegen, dass der von Augustinus verwendete Begriff der civitas sich mehr schlecht als recht mit Staat übersetzen lasse. Spreche Augustinus von civitas, so beziehe er sich auf

zurück.“ (Schönberger (Hrsg.): Physiologus. S. 27) Diese eigenwillige Schilderung des Verhaltens des Igels, deutet der Physiologus wie folgt: „Du nun, Christenmensch, halte dich fest am geistlichen und wahren Weinstock, um zur geistlichen Kelter gebracht und aufbewahrt zur werden für die königlichen Höfe und zum heiligen Thron Christi zu gelangen. Wie nämlich könntest du den Igel, den bösen Geist, zu deinem Herzen hinaufsteigen lassen, sodass er dich traubenleer zurücklässt und du gar keinen guten Zweig mehr an dir hast.“ (Schönberger (Hrsg.): Physiologus. S. 27-29) In den auf den Physiologus zurückgehenden naturkundlichen Schriften des Mittelalters, erscheint der Igel daher als böser Geist, als Plünderer des Weinstocks, kurz: als Sinnbild des Teufels (u.a. Isidor von Sevilla: Etymologiarum libri XX. PL 82, 441. Hrabanus Maurus: De universo libri viginti duo. PL 111, 227. Hugo von St. Viktor: De bestiis et aliis rebus libri quatour. PL 177, 58. Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 97-98). Ob sich Ronald Dworkin dieser Bedeutung des Igels wohl bewusst war, als er Justice for Hedgehogs verfasste? 61  Hugo von St. Viktor: Excerptionum allegoricarum. PL 177, 205. 62  Hugo von St. Viktor: Commentariorum in Hierarchiam coelestem S. Dionysii Areopagitae. PL 175, 954. Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 91-92. 63  In diesem Zusammenhang spricht Augustinus von der gleichnishaften Gegenüberstellung zweier civitates und der prophetischen Abbildung des himmlischen Jerusalems im irdischen (Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,1, S. 212 und XV,2, S. 214). Vgl. hierzu Scholz: Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. S. 70. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 27. 64  Carl Joachim Classen pflichtet Thimmes Übersetzung bei und hebt hervor, dass die civitas Dei nicht als himmlische Stadt, sondern als Gottesstaat zu verstehen sei. An die Stelle des römischen Reiches müsse ein anderes Reich treten, „das nicht als Stadt vorgestellt werden kann, selbst wenn es als himmlisches Jerusalem bezeichnet wird.“ (Classen: Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium. S. 31)

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die griechische Polis.65 Aber was ist nun wiederum die Polis? Für Aristoteles ist die Sache einfach: die Polis ist die Gemeinschaft der Bürger.66 In seltener Übereinstimmung folgt Augustinus dem Stagiriten hierin, wenn er, stellvertretend für alle civitates, die civitas Kains als „nichts anderes“ ausgibt, „als eine durch ein Gemeinschaftsband zusammengehaltene Menschenmenge.“67 So sei auch Rom allein durch seine Bürger, nicht aber seine Bauwerke gekennzeichnet, weswegen die Brandschatzung Roms durch die Westgoten nichts an ihrem Status als civitas ändere.68 Somit ist der civitas-Begriff noch ganz überwiegend architekturfern. Gerade im Beharren auf dieser Distanz zur irdischen Architektur zeigt sich die geringe Wertigkeit realer Baukunst im politischen Denken des Aurelius Augustinus. Erst in ihrer metaphorischen Verwendung wird sie zu einem wesentlichen Bestandteil seines Denkens. Auf die Dekonstruktion diesseitiger Architektur folgt die Konstruktion jenseitiger Architektur. Auf Kains Gründung von Henoch, auf die Gründung Roms durch Romulus folgt die Stadt des Herrn. Der im Buch des Propheten Jesaja und abermals in der Offenbarung ausformulierte Dualismus zweier Städte findet sich damit auch in Augustins Auffassung von Architektur wieder. Nachdem Kain den Anfang machte und in Henoch ein erstes Abbild der Hure Babylon schuf, wiederholte sich die verhängnisvolle Geschichte des biblischen Brüderpaares mitsamt seiner Verbindung zur Architektur „bei Gründung der Stadt, die das Haupt des irdischen Staates, […], werden und über so viele Völker herrschen sollte, […]. Denn auch hier ereignete sich dieselbe Schandtat, wie sie einer ihrer [der Römer] Dichter gekennzeichnet hat: ‚Kaum errichtet, troffen die Mauern vom Blute des Bruders.‘ Denn Rom ward begründet, als nach dem Zeugnis der römischen Geschichte Remus von seinem Bruder Romulus umgebracht wurde, […].“69 Wie Henoch wird auch Rom damit zu 65  Scholz: Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. S. 84-86. Flasch: Augustin. S. 385. Oort: Civitas dei – terrena civitas: The Concept of the Two Antithetical Cities and its Sources. S. 160-161. 66  Aristoteles: Politik. I,1, 1252a, S. 75 und III,3, 1276b, S. 159. 67  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,8, S. 229. Scholz: Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. S. 84-85. 68  Augustinus: Sermones de scripturis. PL 38, 505. Brückle: Civitas terrena. S. 95-96. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 64-65. 69  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,5, S. 218. Dass Romulus’ Tat Unheil für künftige Generationen verheißt, ist keine allein von Augustinus vertretene Deutung. Die Römer selbst neigen ihr zu. Zu erkennen ist sie schon in den Epoden Horaz’: „[…] Ein bitteres Schicksal treibt die Römer um / Und das Verbrechen eines Brudermords, / Seit auf die Erde des schuldlosen Remus / Den Enkeln unheilvolles Blut floss.“ (Horaz: Oden und Epoden. Epode VII, 17-20, S. 289) In der Literatur wird auf diesen Umstand auch immer

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einem Abbild Babels, der Stadt des Teufels, deren Bürgerschaft beherrscht ist nicht von Gottesliebe (amor Dei), sondern sich ganz der Selbstliebe (amor sui) hingibt.70 Äußert sich die Gottesliebe in einer bis zur Verachtung des eigenen Selbst reichenden Abkehr von Materiellem, führt die Selbstliebe zum Ringen um die Verteilung und den Genuss naturgemäß limitierter Güter.71 Bemerkenswert sei hieran, wie Kurt Flasch betont, die völlige Trennung von Politik und Ethik. Nicht nur in dem Sinne, dass es eine Verbindung zwischen beiden nicht gebe, nein, sie werde auch nicht mehr beansprucht und sei es auch nur als ein noch so fernes Ideal.72 Konsequenterweise sei daher auch nicht mehr zu erwarten, dass der Staat moralisch handelt. Der Mensch, durch die Erbsünde beschmutzt, habe den Staat, den er verdient.73 Denn: Vernünftig und nach seinem [Gottes] Ebenbild erschaffen, sollte der Mensch nur über die vernunftlosen Geschöpfe herrschen, also nicht Mensch über Mensch, sondern Mensch über Tier. Daher wurden die ersten Gerechten mehr zu Hirten über Vieh als zu Königen über Menschen eingesetzt, und auch dadurch gab Gott zu verstehen, was die Naturordnung der Schöpfung fordert und was verdiente Folge der Sünde ist. Denn das Los der Knechtschaft ist, wie man einsehen muss, mit Recht dem Sünder auferlegt.74

Gegen die Abbilder Babylons erhebt sich die civitas Dei. Erbaut nicht aus irdischem Material und damit auch entzogen der Vergänglichkeit, da „der Lohn der Heiligen […], die hier um der Wahrheit Gottes willen, die den Liebhabern dieser Welt verhasst ist, Schmach erdulden, ist ein ganz anderer. Es ist der ewige Staat. Da gibt es kein Entstehen, weil kein Vergehen; […].“75 Die Bedeutungslosigkeit irdischen Materials resultiert aber nicht allein aus seiner Vergänglichkeit. Zu ihr trägt fernerhin Augustins Anliegen bei, dem wieder verwiesen. Vgl. beispielsweise: Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/1. S. 170-171. ebd. Bd. 2/2. S. 24. Eine Entsprechung findet die folgenschwere Tat aber auch in der griechischen Mythologie. Nämlich im thebanischen Sagenkreis. Wie für Henoch und Rom beginnt die Gründung Thebens mit dem Mord unter den Brüdern der Spartoi. In den Phönikerinnen geht hierauf etwa Euripides ein (Euripides: Die Phönikerinnen. 638-689, S. 387-391. Hose: Euripides. S. 174-175). 70  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XIV,28, S. 210, XVI,17, S. 313 und XVII,16, S. 401 sowie XVIII,2, S. 421 und XVIII,41, S. 486. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 27. 71  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,4, S. 217. 72  Flasch: Augustin. S. 389-391. 73  Flasch: Augustin. S. 394. 74  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XIX,15, S. 557. 75  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). V,16 S. 255. Geerlings: Augustinus. S. 71.

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von Alarichs Goten bewirkten realen Fall Roms, den geistigen Fall der Stadt folgen zu lassen. „‚Rom als Idee‘ musste fallen, um Platz für eine neue Welt- und Heilsordnung zu machen.“76 Gleich in den ersten Kapiteln von De civitate Dei kommt Augustinus daher auf den Gründungsmythos Roms zu sprechen, wie ihn Vergils Aeneis schildert. Dem Vorwurf der Heiden, das Christentum habe Rom schwach gemacht und so erst seinen Untergang hervorgerufen, entgegnet Augustin im dritten Kapitel des ersten Buches, dass der Untergang Roms nicht dem Christentum anzulasten sei, sondern durch die Wahl der trojanischen Götter zum Schutze der Stadt bereits vorherbestimmt gewesen sei. „Wenn also Vergil diese Götter geschlagen nennt und außerdem von ihnen sagt, sie seien, um ihrer Niederlage noch zu entkommen, einem Menschen anbefohlen worden, was ist es dann für eine Torheit, sich einzubilden, es sei weise gewesen, solchen Beschützern Rom anzuvertrauen, […].“77 In der von Augustinus angedachten neuen Ordnung kann irdische Architektur nicht von Belang sein. Wieder und wieder ist sie mit dem Versagen der Menschen verbunden. Es gelte daher, dem Irdischen zu entsagen, seine Güter zwar zu gebrauchen, sie aber nicht zu genießen.78 Nicht der sesshafte Ackermann Kain, sondern der ungebundene Schäfer Abel muss das Vorbild für die Bürgerschaft der civitas Dei sein. Für die Dauer ihrer Zeit auf Erden befinde sie sich wie Abel auf einer permanenten Pilgerreise und werde erst „in der ewigen Behausung [ihre] sichere Ruhestatt finden […].“79 Auf Grundlage der 76  Fenske/Mertens/Reinhard/Rosen: Geschichte der politischen Ideen. S. 139. Vgl. auch Fuhrmann: Die Romidee der Spätantike. S. 121-122. 77  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). I,3, S. 7-8. Siehe zu den Vorwürfen an das Christentum ebd. I,1, S. 4-5. 78  Zur Unterscheidung von uti und frui Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). I,3-4, S. 16-17. ders.: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). VIII,8, S. 385-386 und XI,25, S. 41-42. In einer langen Kapitelsequenz des ersten Buches von De civitate Dei will Augustinus nachweisen, dass der Verlust irdischer Güter für den Frommen nicht von Belang ist, dass auch körperliche Unversehrtheit von nur minderer Bedeutung ist und man die diesseitigen Prüfungen hoffnungsfroh erdulden solle. „Denn nur das macht den Tod schlimm, was dem Tode folgt. Also nicht darum sollen die Menschen sich viel kümmern, welcher Umstand ihnen, die ohnehin sterben müssen, den Tod bringen mag, sondern darum, wohin sie gehen müssen, wenn sie sterben.“ (Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). I,11, S. 23) Zur Einführung in die Distinktion von uti und frui Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 20. Flasch: Augustin. S. 133, 135-135 und 175. 79  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). I,Vorwort, S. 3. Vgl. hierzu auch ebd. XV,1, S. 214, XV,6, S. 220-221 oder XVIII,51, S. 505. Vgl. zum Motiv der Pilgerschaft ferner auch dessen Aufkommen in anderen Schriften Augustins, wie zum Beispiel in De doctrina christiana (Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). I,4, S. 17 und II,7, S. 53). Zu Kain und Abel siehe 1. Mose IV,1-2, S. 6. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 32.

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Auslegung biblischer wie römischer Texte kommt die Architektur in Augustins politischem Denken damit nicht über eine metaphorische Verwendung hinaus. 1.1.3 Martianus Capella und der Kanon der artes liberales Verborgen unter dem Deckmantel einer Nacherzählung der Hochzeitsfeierlichkeiten zwischen der Philologie als personifizierter Gelehrsamkeit und dem Götterboten und Redner Merkur unternimmt Martianus Capella den Versuch einer enzyklopädischen Abfassung über die freien Künste. De nuptiis Philologiae et Mercurii, das im 4. oder 5. Jahrhundert entstandene Ergebnis dieses Bemühens, entwickelte sich rasch zur Grundlage frühmittelalterlicher Bildungsprogramme und erklärt darüber hinaus, warum die Baukunst – und nebenbei auch die Medizin – nicht in den Kanon der artes liberales aufgenommen wurde.80 Als Hochzeitsgabe wird der Braut eine Auswahl von mehreren Dienerinnen übergeben, die freien Künste, deren Anzahl aber im Moment noch verschwiegen wird.81 Eine nach der anderen treten sie nun vor das Brautpaar, um sich der Festgemeinschaft vorzustellen. Die Künste des Triviums, Grammatik, Dialektik, Rhetorik haben sich auf diese Weise bereits mitgeteilt und auch die Künste des Quadriviums sind nahezu komplett, nachdem Geometrie, Arithmetik und Astronomie debütierten. Die Bücher III bis VIII hat Martianus so bereits gefüllt, als Venus zu Beginn von Buch IX enerviert aufstöhnt: Was soll mir das? Zu welchem Ende sollen wohl die allzu feinen Schulweisheiten daran hindern, das Stück der Hochzeitskammer nun zu spielen? Die allgefällige, an Freundlichkeit gewöhnte Lust ist ganz erstarrt, […]. Ja ich geb’s zu, ich bin der schroffen Mädchen müde, ich fühle mich durch diese ungewohnte Weile gar traurig und gekränkt.82

Auch die übrigen Götter, als Gäste auf der Hochzeit zugegen, stimmen in die Klage der Venus mit ein und wollen nun ein Ende der gelehrten Vorträge.83 Der Göttervater Jupiter jedoch schwankt, ob er dem Drängen seiner Schwester nachgeben soll, denn ein Abbruch der „Musterung von so viel Klugheit“ 80  Fried: Das Mittelalter. S. 16. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 30-31. Backers: Martianus Capella. Sp. 338. Krapinger: Martianus Capella. Sp. 961. Zekl: Einleitung. S. 9. 81  Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). II,217-218, S. 87-88. 82  Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). IX,888, S. 297. 83  Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). IX,889, S. 298.

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erscheint ihm unangemessen.84 Da schaltet sich Luna, die Mondgöttin, in die Überlegungen über das weitere Vorgehen ein: […] sie fühlte aufgerufen sich, da das zweite Halbstück ausgemessen war des Tages: Die Frau, die sogleich eintreten wird, kann ich mit euch zusammen noch anhören; im übrigen da sich der Rand der Nacht schon nähert, so kann ich für die folgenden nicht Zeit erübrigen: Zum Wagen muss ich und zum Stier und muss den Weg der Weltumrundung auf mich nehmen. […] Ich halt’ es also für vernünftiger, ein derart umfangreiches Vortragsunternehmen auf einen Zeitpunkt zu verschieben, da kräftige Ohren wieder heißen Wissensdurst empfinden.85

Und so wurde der Entschluss gefasst sich zuletzt noch dem Vortrag der bereitstehenden Harmonie zu widmen. Die ebenfalls wartenden Künste der Medizin und Architektur jedoch fielen der Ungeduld Venus’ und den Amtspflichten Lunas zum Opfer. Allerdings belässt es Martianus nicht bei dieser, nur schwerlich ernst zu nehmenden, Begründung für die Entwertung der Architektur. Ihre Nichtaufnahme in den Kanon der nun sieben freien Künste erklärt er ferner damit, dass die Kunst des Architekten anderen Zielen folge, „da die Sorge dieser um sterbliche Geschäfte geht, da ihre Sorgfalt ird’schen Dingen gilt und sie mit Äther und dem Himmlischen gar nichts gemeinsam haben“, sei es keineswegs unangemessen, wenn man sie nicht den freien Künsten zurechne.86 Mit der Disqualifizierung von Architektur und Medizin, aufgrund ihrer Ausrichtung an den irdischen mithin physischen Bedürfnissen des Menschen, reihen sich Martianus’ Ausführungen in De nuptiis Philologiae et Mercurii in die 84  Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologiae mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). IX,890, S. 298. Der überlieferte Stammbaum der Venus ist nicht so leicht zu entschlüsseln, wie es von Martianus hier suggeriert wird. Ob Venus die Schwester des Jupiter, dessen Tante oder Tochter ist, darüber finden sich widersprüchliche Angaben. Als die Schaumgeborene ist sie bei Hesiod eine Nachkommin des Uranos und damit Jupiters Tante (Hesiod: Theogonie. 176-200, S. 57-59). Dagegen stellt Homer Venus/Aphrodite als die Tochter von Zeus und Dione vor (Homer: Ilias. V,348-371, S. 163). Der dritten Variante hat Sandro Botticelli mit Die Geburt der Venus zu Weltruhm verholfen, wonach Venus/ Aphrodite aus einer Muschel geboren sei. Vgl. zur Abstammung der Venus auch Kerényi: Die Mythologie der Griechen. S. 56-58. 85  Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). IX,897, S. 300. 86  Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologiae mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). IX,891, S. 298. Anders, wenn auch nicht minder streng, war Augustinus vorgegangen. In seinem Entwurf eines christlichen Bildungsprogramms in De doctrina christiana seien, so Kurt Flasch, Wissenschaften von Belang nur insoweit als sie die Bibelauslegung förderten (Flasch: Augustin. S. 175). Zur Einschätzung der mechanischen Künste in De doctrina christiana Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). II,30, S. 86-87.

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im Mittelalter häufig anzutreffende Skepsis gegenüber allem Körperlichen ein. Augustinus hatte in De civitate Dei die Bedürfnisse des Körpers als Folge des Sündenfalls bewertet.87 Auch an anderer Stelle äußerte er sich im Hinblick auf den irdischen Leib ähnlich. In seinen Schriften über die wahre Religion und den freien Willen charakterisiert er ein am Irdischem, am Fleisch orientiertes Leben als verfehlt. Wer ein solches führe, sei unfähig dazu, in das Reich Gottes einzuziehen.88 Folglich wird auch physische Anmut als eine niederen Ranges definiert. Tag für Tag schwinde der äußere Mensch dahin. Wahrhafte Schönheit sei einzig in der immerwährenden Welt der Zahlen zu finden, entstamme diese doch direkt Gottes Weisheit.89 In ähnlicher Manier hatte sich der Kirchenvater über den irdischen Leib schon in seiner kleinen Schrift über die Lüge geäußert. Auch hier steht das Seelenheil über allem und an ihm muss sich alles, auch der Körper orientieren. Aus fehlgeleiteter Liebe neigen aber manche dazu, dem Irdischen mehr Gewicht beizumessen als dem Jenseitigen. Für solche Menschen seien daher Verbrechen gegen irdische Güter, seien Diebstahl und Raub, Folter und Mord, mehr zu verurteilende Verbrechen als Laster wie Trunk- und Genusssucht, die sich gegen Gott und das jenseitige Heil richten.90 Die Argumentation aus De civitate Dei, die Unterscheidung zwischen Selbstliebe (amor sui) und Gottesliebe (amor Dei) wie auch sein Ratschlag an die Christen des von den Goten eroberten Roms, dass sie Raub, Folter und Mord erdulden sollen, denn auf sie warte das Himmelreich, wird von Augustinus damit bereits in De mendacio vorgetragen.91 Auf mit Augustinus vergleichbare Art und Weise trug Boethius seine Haltung zur Körperlichkeit des Menschen vor. In der Philosophiae Consolatio mahnt er: „Die vollends, die sich der Vorzüge des Körpers brüsten, auf einen wie geringen, wie gebrechlichen Besitz stützen sie sich! […] Der Schönheit Glanz gar – wie reißend schnell, wie kurz dauernd ist er! Flüchtiger als der Frühlingsblüten Welken!“92 Die von Boethius vertretene Position ist dabei nicht mit der Klage über einen generellen Verfall der Welt zu verwechseln. Boethius stimmt keine Elegie über den Zerfall äußerer Schönheit an, da von einem Bedauern bezüglich der Vergänglichkeit des eigenen Körpers bei ihm nichts zu spüren ist. Es ist eine Abwertung, hart an der Grenze zur Verachtung alles Körperlichen, die 87  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,1, S. 212-214. 88  Augustinus: De vera religione. XII,23, S. 39. 89  Augustinus: De vera religione. XL,74-75, S. 125-127. Augustinus: Der Freie Wille. II,42, S. 96-97. 90  Augustinus: De Mendacio liber unus. PL 40, 513. 91  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). I,10, S. 18-22 und XIV,28, S. 210-211. 92  Boethius: Trost der Philosophie. III,8, S. 96.

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Boethius vertritt, wenn er die zuvor zitierte Passage mit der Frage einleitet: „Aber wer verschmähte und verachtete nicht einen Sklaven des wertlosesten und gebrechlichsten Dinges, des Körpers?“93 Noch in den Gesta Romanorum, im späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert vermutlich in England verfasst, ist die Rede von der notwendigen Überwindung der Fesseln des Fleisches. Die Reductio der Geschichte von der Tötung des kranken Sohnes etwa prangert die Eitelkeit und Nichtigkeit dieser Welt an und empfiehlt, „sein Fleisch durch Fasten, Wachen und durch strenge Zucht abzutöten.“94 Vielfältige Belege für diese Darstellungen mittelalterlichen Körperempfindens finden sich schon in den Ausführungen des Neuen Testaments. Gesehen wird der Mensch dort nicht, solange er gesund, sondern erst wenn er krank ist. Die Antike zeigte noch den athletischen nackten Körper, frei von physischen Defiziten. Doch den Christen schien dies suspekt zu sein. Alten Gebräuchen, wie vor allem der Gymnastik (vom Griechischen gymnós, nackt), setzten sie ein Ende.95 An die Stelle des jungen und gesunden Körper tritt die verfallende kränkliche Physis des sündigen Menschen als ein zentrales Motiv, dem der Gottessohn, dem Christus als Heiler und Heilsbringer entgegengestellt wurde.96 93  Boethius: Trost der Philosophie. III,8, S. 96. 94  Nickel (Hrsg.): Gesta Romanorum. CCXVII, S. 221-223. Zur Datierungsfrage der Gesta Romanorum Nickel: Nachwort. S. 257, Ruh: Literatur des deutschen Spätmittelalters. S. 183 und Brunhölz: Die lateinische Literatur. S. 537, der den Grundstock der Gesta Romanorum bereits auf das Ende des 13. Jahrhunderts datiert. 95  Le Goff/Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter. S. 155-156. Le Goff: Die Liebe zur Stadt. S. 8. 96  Beispielsweise Mt IV,23-25; Mk VII,31-36; Lk XIII,10-13; Joh V,1-18. Roloff: Einführung in das Neue Testament. S. 38-40. Zum Christus-Medicus-Motiv vgl. ferner Honecker: Christus medicus. S. 27-43. Zu den Wurzeln dieses Motivs in der antiken Mythologie und der Heilsbringer-Lehre hellenistischer Herrscher vgl. ebd. Sowie Zimmermann: Soter. Sp. 752 und Dornseiff: Σωτήρ. Sp. 1212-1220. Das Motiv wird in der Christus-Ikonographie ab dem 13. Jahrhunderts noch durch die aus dem byzantinischen Raum übernommene Darstellung Christi als Schmerzensmann verstärkt (Dinzelbacher: Christus als Schmerzensmann. S. 201-203). Bekanntlich war es Friedrich Nietzsche, der die christliche Fokussierung auf den Kranken am Schärfsten kritisierte: „Das Christenthum hat die Krankheit nöthig, ungefähr wie das Griechenthum einen Überschuss von Gesundheit nöthig hat, […].“ Und weiter: „Es steht Niemandem frei, Christ zu werden: man wird nicht zum Christen „bekehrt“, – man muss krank genug dazu sein … Wir Anderen, die wir den Muth zur Gesundheit und auch zur Verachtung haben, wie dürfen wir eine Religion verachten, die den Leib missverstehen lehrte!“ (Nietzsche: Der Antichrist. S. 228-229) Eine nicht zu unterschätzende Abweichung hiervon stellt dagegen die Bewertung der Körperlichkeit des ritterlichen Helden dar. „Der Held, dem alle nacheifern, der Held, den die junge, auf den Kriegerversammlungen vorgetragene umgangssprachliche Literatur feiert, ist ein für den Kampf zu Pferd gebauter Athlet. Breitschultrig, muskelstark und schwer, werden an erster

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Vom Körper abhängig wurde die Architektur und mit ihr die Gesamtheit der artes mechanicae damit als den sieben freien Künsten unterlegen angesehen.97 Umberto Eco sieht in dieser Haltung den Ausdruck einer feudalgesellschaftlichen, aristokratischen Ideologie, die Handarbeit für minderwertig erachtet.98 Eco stimmt hierin mit einem Ansatz überein, den auch Walter Paatz verfolgt, wenn er davon ausgeht, dass im Mittelalter unter die artes mechanicae jene Disziplinen gerechnet wurden, mit denen die Menschen der durch den Sündenfall entstandenen Entbehrungen zu meistern versuchten.99 Indes wurde dieses Verständnis der Architektur und der artes mechanicae schon bald ersten Korrekturen unterzogen. Mit als ursächlich für diese erweist sich dabei speziell ein Umschwung in der Bewertung körperlicher Arbeit infolge des Bedeutungszuwachses urbaner Kultur im Verlauf des Mittelalters, ebenso wie auch eine neuakzentuierte Wahrnehmung der mechanischen Künste, wie sie exemplarisch im Didascalicon des Hugo von St. Viktor nachvollzogen werden kann. 1.1.4 Atto von Vercelli: Architektur als Machtmittel des Tyrannen Nur kurze und dennoch bezeichnende Bemerkungen finden sich ferner in einem Text des Bischofs Atto von Vercelli. Sein im 10. Jahrhundert entstandenes Polipticum quod appellatur perpendiculum fällt aus dem Rahmen politischen Schrifttums des frühen Mittelalters heraus.100 Die Lektüre der dem Werk vorangestellten Epistula und Argumentum jedoch lassen einen konventionellen Text erwarten. In der Epistula kündigt Atto an, seine Gedanken darüber darzulegen, wie der Höllenschlund zu meiden sei.101 Und im Argumentum liest man seine Ankündigung, dass er das Verkehrte, dem die Welt anhänge, zu rügen beabsichtige.102

Stelle seine physischen Eigenschaften gepriesen. Allein der Körper zählt, und dazu das Herz – nicht etwa der Geist.“ (Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 76) 97  Die Bezeichnung artes mechanicae findet sich im Text von Martianus Capella gleichwohl noch nicht. Peter Sternagel vermutet in seiner Untersuchung der Begriffs- und Bedeutungsgeschichte des Terminus, dass die Bezeichnung artes mechanicae im Mittelalter erstmalig in der Mitte des 9. Jahrhunderts im Martianus-Kommentar des Johannes Scotus Eriugena Verwendung fand (Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 30-31). 98  Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 157. 99  Paatz: Die Kunst der Renaissance. S. 18. 100  Zu Fragen der Datierung, Autorenschaft, Textgestalt und Überlieferung des Texts siehe Goetz: Attonis qui fertur polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 3-13. Schramm: Kaiser, Könige und Päpste. S. 17-20. Miethke: Politische Theorien im Mittelalter. S. 57. 101  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 55. 102  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 55.

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Die ersten Zeilen der Schrift klingen damit wie ein den Fürstenspiegeln der Zeit nahestehendes Dokument. Entsprechend urteilte über das Polipticum Georg Goetz daher auch, dass dessen Inhalt „eine scharfe Kritik der zur Zeit des Verfassers, […], in Oberitalien herrschenden Stände und Personen, sowie ihrer politischen Betätigung“ bilde.103 Eingewandt wurde dagegen allerdings, dass Atto mit seinem Polipticum eine generelle Analyse der Machttechniken tyrannischer Herrschaft anstelle, weswegen das kurze Werk eher ein „Tyrannenspiegel“ genannt werden könne.104 Den Lesern seines Polipticum macht es Atto jedoch nicht leicht, es auf diese Weise, es überhaupt zu verstehen. Nicht genug damit, dass der Bischof kein für seine Zeit gebräuchliches Vokabular nutzt, er bedient sich darüber hinaus des Stilmittels der scinderatio, einer Bearbeitung des Textes, bei der die einzelnen Satzglieder künstlich verstellt werden und grammatikalisch Zusammengehörendes getrennt wird.105 Gelingt es aber, diese Hürden zu überwinden, lesen sich die Ausführungen Attos tatsächlich wie ein aus der Erfahrung der in Oberitalien tobenden Machtkämpfe der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts gespeistes Handbuch der Machttechnik.106 Insbesondere die den ersten Teil des Buches umfassenden Kapitel eins bis elf listen eine Vielzahl von Mitteln und Wegen auf, mit denen Herrschaft erworben und erhalten werden könne. Nüchtern reiht der Bischof von Vercelli zu Beginn des zweiten Kapitels verschiedene Möglichkeiten aneinander, sich die Herrschaft anzueignen: Gottes Wille, die Zustimmung der Vielen oder die Erbfolge können dabei eine solche Möglichkeit ebenso sein wie Gewalt und Verschwörung.107 Auch im weiteren Verlauf des Textes schreckt Atto nicht davor zurück, unverblümt über den Gebrauch von Macht zu sprechen. Unlösbare Verträge sollen nicht geschlossen werden und nach Belieben gelte es den eigenen Vorteil zu suchen.108 Verrat und Täuschung haben Einzug in das Handlungsrepertoire des Politikers zu halten.109 Uneinigkeit, gar 103  Goetz: Attonis qui fertur polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 7. 104   Fenske/Mertens/Reinhard/Rosen: Geschichte der politischen Ideen. S. 194. Miethke: Politische Theorien im Mittelalter. S. 57. 105  Goetz: Attonis qui fertur polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 8-11. Miethke: Politische Theorien im Mittelalter. S. 56-57. Zur Praxis der scinderatio siehe Buch X der Epitomae des Grammatikers Virgilius Maro (Virgilius Maro: Opera omnia. S. 213-225). Mit diesem Verschleierungsvorhaben ähnelt Atto von Vercelli im Ansatz Niccolò Machiavelli; geht hierin aber noch erheblich weiter als der Florentiner (vgl. Kapitel 1.5.). 106  Zum historischen Erfahrungshintergrund Attos Miethke: Politische Theorien im Mittelalter. S. 58. Die Deutung, dass das Polipticum direkt auf die politischen Geschehnisse in Oberitalien Bezug nimmt sieht skeptischer Schramm: Kaiser, Könige und Päpste. S. 19. 107  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 55-56. 108  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 56. 109  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 57-58.

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Unfrieden zwischen den Untertanen zu säen wird als ein probates Mittel ausgewiesen, um die eigene Herrschaft zu sichern, und auch die Korruption unter der Richterschaft soll vorangetrieben werden.110 In diesem Zusammenhang, bereits zu Beginn des Polipticum in dessen drittem Kapitel, thematisiert Atto den Gebrauch der Architektur als ein Mittel tyrannischer Herrschaft. Dabei verzichtet er ebenso darauf, sich an der Debatte über das biblische Herkommen der Baukunst zu beteiligen, wie er sich auch mit der Beschäftigung über den Ort der Architektur im System der Wissenschaften nicht aufhalten möchte. All dies, all die dadurch womöglich entstehenden Fragen tangieren ihn in seiner Darstellung nicht. Leidenschaftslos schildert er die Nutzung von Architektur im politischen Prozess. So berichtet er, wie gebirgige Stellen und Furten befestigt werden, damit niemand sie unbemerkt passieren könne.111 Keine personellen Bindungen an den Herrscher sind es demnach, die Atto hervorhebt, sondern durch Architektur bewirkte Überwachung und Kontrolle eines Territoriums.112 Diese erklärt Vercellis Bischof damit zu einem Charakteristikum tyrannischer Herrschaft. Bedeutsam für den Tyrannen ist bei Atto allerdings nicht allein die Kontrolle des Raums mittels eigener Architektur, sondern gleichsam auch die Kontrolle über die Architektur der Untertanen. Sofern ein Untertan eine Burg sein eigen nennen könne, biete sich diesem die Möglichkeit, sich der Herrschaft des Tyrannen zu entziehen. Auch Atto gründet politische Herrschaft damit auf die Werke der Architektur. Durch sie gelingt es dem Tyrannen, seine Herrschaft zu sichern, durch sie kann es aber auch gelingen, sich der Herrschaft des Tyrannen zu entziehen. Die durch ihr Mauerwerk geschützte Burg fungiert als ein sicherer Rückzugsort, fern dem Zugriff des Tyrannen.113

110  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 58. 111  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 56. 112  Über die Mauer als herrschaftssicherndes Bauwerk auch Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 61. Zur diesbezüglichen Bedeutung der Burg ferner Warnke: Politische Landschaft. S. 47-48. 113  Jeder Besitz, wie Atto im weiteren Verlauf schreibt, der weggenommen werden könne, sei wertlos (Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 58). Zur Burg als Schutzort aber auch als Fundament eigener politischer Ordnung Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 61-65. Vgl. auch die Jahrhunderte später entstandene Freske Iniustitia von Giotto di Bondone in der Arena-Kapelle in Padua. Die namensgebende Ungerechtigkeit ist auch dort außerhalb der Mauern platziert (Braunfels: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana. S. 47. Deimling: Das mittelalterliche Kirchenportal in seiner rechtsgeschichtlichen Bedeutung. S. 327. Euler: Die Architekturdarstellung in der ArenaKapelle. S. 66. Jacobus: Giotto and the Arena Chapel. S. 202. Wartenberg: Bilder der Rechtsprechung. S. 76-77).

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Für diesen Fall bietet Atto sodann zwei Handlungsoptionen unterschiedlichen Intensitätsgrades an, um den sich der Herrschaft Entziehenden zu begegnen: Eine Möglichkeit, den schützenden Mauerring der Burg aufzubrechen bestehe in einer erzwungenen personellen Bindung an den Herrscher, indem der Burgherr dazu genötigt werde, Geiseln zu stellen. Die zweite Möglichkeit sieht nicht vor, den Burgherrn gefügig zu machen, sondern rät zu dessen Enteignung.114 Dieser Ratschlag macht abermals deutlich, dass in Attos Analyse die mittels Architektur erlangte Kontrolle des Raums eine entscheidende Grundlage politischer Macht ist. Nicht personelle Treueverhältnisse gelte es anzugehen, um dem Aufsässigen zu begegnen, sondern sein Grund und Boden seien ihm zu nehmen. Noch ein weiteres Mal erfährt Architektur Erwähnung im Polipticum. Als Instrument ihrer Herrschaft sei auch der Bau von Versammlungsburgen charakteristisch für Tyrannen. Mit diesen Bauten kontrollieren sie die fest an einen Ort gebundenen Zusammenkünfte, spielen einzelne Parteiungen gegeneinander aus und verhindern, dass Überraschendes ihrer Herrschaft gefährlich werden könne.115 Mit seinem Polipticum legt Atto von Vercelli somit eine bislang noch nicht genannte Argumentationsfigur bezüglich der Abwertung der Architektur vor: Der Tyrann als Bauherr und Baukunst als Mittel von Machtpolitik, in der Architektur der territorialen Kontrolle einerseits und der Überwachung der Unterworfenen andererseits dient, ist als Motiv für der Architektur entgegengebrachte Skepsis noch nicht begegnet. Verstanden in einem solchen Sinne ist die als Schutzraum aufgefasste Burg durch den Tyrannen dekonstruiert und Befestigungswerk kein architektonischer Ausdruck politscher Gemeinschaft, sondern dient partikularen politischen Interessen. Damit ist eine Argumentationsfigur geschaffen, die am Ende des Mittelalters, im bei Bartolus von Sassoferrato, Leon Battista Alberti oder Niccolò Machiavelli geführten Fortifikationsdiskurs, abermals begegnet. 1.1.5 Arbeit und Körperlichkeit im urbanen Raum Lange Zeit galt dem Mittelalter körperliche Arbeit als Resultat des Sündenfalls, denn im praelapsarischen Zustand waren dem Menschen ihre Mühen noch fremd. Erst die Vertreibung aus dem Paradies nötigte den Menschen dazu, sich im Schweiße seines Angesichts den Lebensunterhalt erwerben zu müssen.116 114  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 56. 115  Atto von Vercelli: Polipticum quod appellatur perpendiculum. S. 57. 116  1. Mose III,17-19. Zur biblischen Wertung menschlicher Arbeit als Strafe aber auch als Privileg siehe Lang: Der arbeitende Mensch in der Bibel. S. 36-40. Le Goff: Für ein anderes

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Gerade in der Landbevölkerung sah man die durch den Sündenfall zur Arbeit Verdammten. Jacques Le Goff wähnt die Erklärung für diesen schon in der Antike anzutreffenden Argwohn dem Bauern gegenüber in der Gleichsetzung des Heiden mit dem Bauern. Die Christianisierung breitete sich, so Le Goff, zunächst in den Städten aus, ehe sie auf das Land übergriff. Es sei daher nicht verwunderlich, dass im Französischen die Wörter für den Heiden (païen) wie den Bauern (paysan) ihre etymologische Wurzel im Lateinischen paganus (Bauer aber eben auch Heide) habe.117 Die Ausbreitung der Klöster und monastischer Mentalität, vor allem solcher, die sich als in der Tradition der Regula Benedicti stehend verstand und sich damit dem Motto ora et labora verpflichtet fühlte, führte zu einer ersten gewichtigen Aufwertung in der Wahrnehmung körperlichen Arbeitens. Nun sah sich Arbeit nicht mehr durchgehend mit den argwöhnischen Blicken der Zeitgenossen konfrontiert, da sie als Form der Buße und des Gebets zur Läuterung des Menschen beitrug. Endgültig jedoch veränderte sich die Einstellung zur Arbeit erst im urbanen Raum. Dort wird sie aus dem Kontext der Sündhaftigkeit gelöst, so dass hier nicht die Arbeit, sondern ganz im Gegenteil der Müßiggang auf zunehmende Ablehnung stieß.118 Visuell erfassen lässt sich diese kulturhistorische Veränderung beispielsweise in dem für Sienas Palazzo Publico gefertigten Freskenzyklus des Ambrogio Mittelalter. S. 62-63. Zur Bewertung der Arbeit, ihrer antiken Tradition, ihrer christlichen Konnotation und dem Verhältnis des Mittelalters zur ihr Conze: Arbeit. S. 155-163. 117  Le Goff: Die Liebe zur Stadt. S. 47. An anderer Stelle weist Le Goff auf die Notiz in einer Florentiner Handschrift aus dem 13. Jahrhundert hin, wonach der Teufel seine neun Töchter derart verheiratet habe, dass neben der Wucherei, die den Bürger zum Gemahl genommen habe, und der Raublust, die sich mit den Rittern vermählte, die Bauern mit der Lästerung den Ehebund eingegangen seien (Le Goff: Einführung. S. 36-37). Als Inbegriff begrenzten Erkenntnisvermögens begegnet der Bauer etwa in Wilhelm von Conches: Philosophia mundi. I,22, S. 46. In diesem Zusammenhang auch die etymologischen Überlegungen von Thoreau: Vom Wandern. S. 20-21. Bezüglich der gegen die Bauern gerichteten Einstellung auch Cherubini: Der Bauer. S. 151-152. Zur Entfremdung zwischen Bauern und dem adeligen Kriegerstand äußerte sich auch Max Weber, der ihre Ursache aber nicht in religiösen Erwägungen, sondern in einer militärischen begründeten Differenzierung sieht: „Je unentbehrlicher die ständige persönliche Mitarbeit des Mannes in der Wirtschaft geworden war, desto weniger war er für Kriegs- und Beutezüge abkömmlich, desto seltener für ihn also die Gelegenheit für derartigen Erwerb, desto mehr saugte er sich gewissermaßen am Boden fest, wurde im wirtschaftlichen Sinne ‚schollenfest‘ und – natürlich nur relativ gesprochen – unkriegerisch.“ (Weber: Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts. S. 538) 118  Le Goff: Die Liebe zur Stadt. S. 47. Zur Wahrnehmung der Arbeit auch Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 22-23.

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Lorenzetti.119 In den Wirkungen des guten Regiments auf Stadt und Land nimmt man eine Vielzahl an Motiven des alltäglichen Lebens und Arbeitens wahr. Bauern, Handwerker und Händler sind hier gleichermaßen abgebildet, ohne dass ihre Tätigkeiten einer negativen Bewertung unterzogen werden (Abb. 07 und 08). Ebenso erweist sich auch das Stundenbuch des Herzogs von Berry aus dem frühen 15. Jahrhundert als Exempel für den umschriebenen Wandel. Den Monatsblättern beigegeben ist eine detailverliebte Abbildung einer für diese Zeit des Jahres typischen Arbeit der Landbevölkerung. Das Pflügen des Ackers im März, die Schur der Schafe im Juli, die Aussaat im Oktober (Abb. 09, 10 und 11). Durchbrochen wird die Darstellung des Bauernlebens immer wieder durch Episoden adliger Fest- oder Jagdgesellschaften. Letztere, im Monat August von Les très riches heures du Duc de Berry abgebildet, demonstriert damit aber auch, dass die Abgrenzung einer Handarbeiten ablehnenden aristokratischen Ideologie hier zumindest insofern als nichtig erachtet wird, als dass die Verbindung von adliger und bäuerlicher Lebenswelt von Seiten des Adels nicht als anrüchig empfunden wurde. Hoch zu Ross, von Jagdhunden und einem Falkner begleitet, reitet die Gesellschaft zur Beizjagd aus und zieht dabei vor einer Gruppe im Hintergrund Arbeitender und Badender vorbei (Abb. 12).120 Die skizzierte Änderung in der Wahrnehmung körperlicher Arbeit fand ihren Niederschlag auch in den Schriften politischer Denker. Durch das im Policraticus des Johannes von Salisbury gebrauchte Bild vom Staatskörper erfährt nicht allein die menschliche Physis eine Aufwertung, auch wird das arbeitende Volk als unverzichtbarer Bestandteil des politischen Körpers präsentiert.121 Ohne das Wirken der Füße, in der Metaphorik des Policraticus 119  Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 114-115. Meoni: Utopia and Reality in Ambrogio Lorenzetti’s good government. S. 28. 120  Überdies hat sich die gewählte Form der Darstellung des einfachen Volkes von den bei Jacques Le Goff als charakteristisch ausgewiesenen Vorgaben bei der Darstellung und Beschreibung der Bauern getrennt. Nun gilt nicht mehr der Satz, dass der Bauer hässlich, der Adlige, der biaux sire beziehungsweise die bele dame jedoch schön sei (Le Goff: Phantasie und Realität. S. 144. Siehe auch Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 29). Zur Gleichsetzung von Schönem und Gutem siehe Dionysius Areopagita: De divinis nominibus. IV,§ 7, Sp. 704. Abweichend hiervon Boethius: Trost der Philosophie. III,8, S. 96. Oder auch Bonaventura, der auch das Bild des Teufels schön nennt, sofern es die Hässlichkeit des Teufels gut wiedergebe (Bonaventura: Opera theologica selecta. I Sent, 31,2,1,3, S. 433. Hierzu etwa auch Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 162). Zu Boethius beispielsweise Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 24. 121  Der Einwand, dass die Organismus-Metapher nicht auf das Motiv des Staatskörpers beschränkt ist, sondern sich bereits im Bild der Kirchengemeinde als Leib Christi wiederfindet, entkräftet die für das Motiv des Staatskörpers unterstellte Aufwertung menschlicher Physis nicht (vgl. die Ausführungen des Apostel Paulus in 1. Kor XII, 12-27,

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mit den Bauern und Handwerkern gleichzusetzen, müsse der politische Körper zwangsläufig zu Grunde gehen, da es die Füße sind, die die Last des Gemeinwesens zu tragen haben.122 Ferner lässt sich diese Veränderung in den Werken des Thomas von Aquin beobachten, wenngleich Ressentiments gegenüber der Landbevölkerung bei ihm offenkundig noch vorhanden sind. Besonders zwei Werke des Aquinaten sind in diesem Zusammenhang vorzustellen: der Kommentar zur aristotelischen Politik, die Sententia libri Politicorum, sowie der unvollendet gebliebene Fürstenspiegel De regno ad regem Cypri. Im Politik-Kommentar ist es die Auseinandersetzung mit den aristotelischen Vorgaben, wer als Bürger anzusehen sei und wer nicht, anhand derer sich der Umschwung im Verständnis von Arbeit erahnen lässt. Zunächst jedoch bewegt sich Thomas auf halbwegs vertrauten Pfaden, wenn er festhält, dass Bürger nur sei, wer zugleich auch habitator civitatis sei. Wer gezwungen sei, sein Leben als Bauer oder Hirte zu verbringen, tue dies etwa infolge der Verderbtheit seiner Natur (ex corruptione naturae humanae) und sei folglich kein animal S. 199). Der Leib Christi wird immer auch von seinem Ende her gedacht, vom Tod am Kreuz. Die dem Tod unterworfene niedere Körperlichkeit wird von Christus überwunden. Die Gemeinde als Leib Christi beruht auf diesem Opfer des Gottessohnes und dessen nun metaphysischem, imaginiertem Körper (Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. S. 89. Koschorke/Lüdemann/Frank/Matala de Mazza: Der fiktive Staat. S. 73. Käsemann: Leib und Leib Christi. S. 142). Vom Körper der Gemeinde unterscheidet sich der im Policraticus präsentierte Körper des Staates daher vor allem durch die fehlende Nähe zu Krankheit und Vergänglichkeit. Diese werden vielmehr als Ausdruck eines Defekts im Staatskörper verstanden. Symptomatisch stehen sie dafür, dass einzelne Glieder die ihnen zugedachten Aufgaben nicht mehr erfüllen. Deutlich macht Johannes von Salisbury dies insbesondere am Beispiel der Geldleute (Johannes von Salisbury: Policraticus. V,2, S. 167). Grundlegend unterscheidet sich hiervon die von Christus gesuchte Nähe zu den Kranken und Leidenden (etwa Mt IV,23-25; Mk VII,31-36; Lk XIII,10-13; Joh V,1-18). Mit der Übertragung des Begriffs corpus mysticum, ursprünglich allein für die Hostie vorgesehen, auf die Kirche verändert sich die Auffassung der Kirche als Organismus. Ernst Kantorowicz arbeitete heraus, dass mit dieser begrifflichen Bedeutungsverschiebung die Kirche auch als politischer Körper aufgefasst und dem Staatskörper entgegen gestellt werden sollte. Die Anwendung anthropomorpher Allegorik musste die Assoziation mit körperlicher Unzulänglichkeit allerdings aus dem Weg räumen und durch das Bild körperlicher Unversehrtheit ersetzen. Paradigmatisch ist dies in der Bulla unam sanctam Papst Bonifatius’ VIII. zu erkennen (Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. S. 206-209. Bonifatius VIII: Bulla unam sanctam. S. 349). 122  Johannes von Salisbury: Policraticus. V,2, S. 167 und VI,20, S. 285-287. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 81-82. Struve: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter. S. 123-148. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 109-111. Böckenförde: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper. S. 544-545. Koschorke, Lüdemann, Frank, Matala de Mazza: Der fiktive Staat. S. 78-79.

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civile.123 Diese an die aus dem Sündenfall gemahnende Verurteilung der Landbevölkerung ist vertraut. Die daraus gezogene Schlussfolgerung hingegen erweist sich als ungewöhnlich. Auf originelle Weise fügt Thomas die aus 1. Mose vertraute Attitüde mit der politischen Philosophie des Aristoteles zusammen und variiert dabei die aristotelische Bestimmung des Bürgers, indem er den Bürgerstatus an die Einwohnerschaft in der Stadt bindet.124 Von Aristoteles weicht Thomas aber noch ein weiteres Mal ab. Das Bürgerrecht hatte Aristoteles nicht für die gesamte Bevölkerung der Polis vorgesehen, sondern es konsequent begrenzt. Nicht, oder besser noch nicht, der Bürgerschaft zuzurechnen sind die Kinder. Ebenso gelten die Alten nicht, oder besser nicht mehr, als Bürger. Die einen, weil sie „unfertig“, die anderen, weil sie „verblüht“ seien und damit beide als unvollkommene Bürger angesehen werden.125 Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Bürger bleiben ferner Sklaven. Wer nicht frei ist, der kann für Aristoteles nicht als Bürger gelten. Und auch Metöken dürfen nicht den Bürgern zugerechnet werden.126 Schließlich wird von Aristoteles noch eine weitere Gruppe aus der Bürgerschaft ausgegrenzt: Lohnarbeiter und Handwerker. Jene also, die sich gezwungen sehen, das Lebensnotwendige erarbeiten zu müssen.127 Das Bürgerrecht bleibt somit ökonomisch Unabhängigen vorbehalten.128 Die Exklusion der Arbeitenden aus der Politik spiegelt sich bei Aristoteles überdies in der Architektur der besten Polis und in den Gesetzen über die Erziehung wider. Durch die Scheidung von Agora und Marktplatz werden Arbeiter und Freie voneinander getrennt. Der Warenhandel soll an einem anderen Ort abgewickelt werden als die politischen Belange und „kein niederer Arbeiter, kein Bauer und niemand sonst dergleichen darf sich [der Agora] nähern, […].“129 Arbeiter und Freie werden darüber hinaus auch in Aristoteles’ pädagogischen Erwägungen voneinander getrennt. Für einen Freien als ein unangemessener 123  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78. Meier: Mensch und Bürger S. 71. 124  Aristoteles misst diesem Kriterium für die Definition des Bürgers keine Bedeutung bei. Bürger ist, wer regieren und wer richten darf (Aristoteles: Politik. III,1, 1275a, S. 155). Die räumliche Bindung des Bürgers an die Stadt ist dabei nicht von Belang (Aristoteles: Politik. III,1, 1275a, S. 154 und III,3, 1276a, S. 158-159). Die Polis wird allein über die Gemeinschaft der Bürger beziehungsweise ihre Verfassung verstanden (Aristoteles: Politik. III,1, 1275a, S. 155 und III,3, 1276b, S. 159). 125  Aristoteles: Politik. III,1, 1275a, S. 155 und III,5, 1278a, S. 164. 126  Aristoteles: Politik. III,5, 1277b-1278b, S. 164-166. 127  Aristoteles: Politik. III,5, 1278a, S. 165. Schmid: Kommentare: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 58-59. 128  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/2. S. 190. Riedel: Bürger, Staatsbürger, Bürgertum. S. 676. 129  Aristoteles: Politik. VII,12, 1331a-b, S. 349. Tönnesmann: Pienza. S. 74-75.

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Wissensbestand sei, so Aristoteles, nämlich all das niedrige Wissen zu werten, dass mit der Arbeitstätigkeit um Lohn einhergehe. Solches Denken mache den Geist „mußelos und niedrig.“130 Von dieser vielgestaltigen Geringschätzung Arbeitender bei Aristoteles löst sich Thomas von Aquin. In Kontinuität zur Vorlage des Politik-Kommentars steht jedoch zunächst die Einschränkung des Bürgerstatus’ von Greisen, Kindern und ortsansässigen Fremden.131 Die Zustimmung zu den Ausführungen des Aristoteles schwindet dagegen in der Beurteilung der Handwerker. Diese werden vom Aquinaten wieder in die Bürgerschaft reintegriert. Zwar nicht als vollwertige Bürger (civis simpliciter), die Anteil an der beratenden und richterlichen Gewalt haben, aber als Bürger mit gewissen Einschränkungen (civis secundum quid) werden auch sie in den Kreis der Bürgerschaft einbezogen.132 Der Aufwertung von Vertretern der artes mechanicae folgt im Fürstenspiegel-Fragment eine erheblich zugeneigtere Bewertung der im PolitikKommentar noch skeptisch beäugten Landbevölkerung. In einem dem republikanischen Lob des Landlebens nahestehenden Befund äußert sich Thomas von Aquin dahingehend, dass es einer wohlgeordneten Stadt gut zu Gesicht stehe, wenn den Bürgern wenig Gelegenheit gegeben werde sich zu versammeln und sie sich möglichst außerhalb der Stadtmauern aufhalten sollen.133 Das im Politik-Kommentar vordergründig so klar formulierte Kriterium der Einwohnerschaft in der Stadt als Voraussetzung des Bürgerstatus’ wird von Thomas mit dieser Passage von De regno ad regem Cypri wieder außer Kraft gesetzt.134 An die Seite tritt ihr zudem eine deutlich zu vernehmende Kritik des Müßiggangs. Kaufleuten, obgleich für den Bestand eines Gemeinwesens wichtig, da sie es mit den ihm mangelnden Gütern versorgen können, ist aufgrund dreier Erwägungen dennoch mit Zurückhaltung zu begegnen. Der durch sie betriebene Austausch mit anderen Kulturen berge die Gefahr der Sittenverderbnis der eigenen Bürgerschaft in sich, da sich diese fortwährend mit den Gesetzen und Gebräuchen Fremder konfrontiert sehen.135 Einer Gefahr, die sich zudem aus dem kaufmännischen Habitus selbst speise: 130  Aristoteles: Politik. VIII,2, 1337b, S. 370-371. 131  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 186-187. 132  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 186-187 und A 198. Riedel: Bürger, Staatsbürger, Bürgertum. S. 676. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 59. 133  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68-69. Zum republikanischen Lob der Frugalität Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/2. S. 48. 134  Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 64-65. 135  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 67-68. Ein Befund, der sich auf vergleichbare Weise schon bei Platon und Cicero findet (Platon: Die Gesetze.

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Da das Streben der Kaufleute sich vor allem auf den Gewinn richtet, wird durch den Betrieb des geschäftlichen Verkehrs die Begehrlichkeit in den Seelen der Bürger erweckt. Die nächste Folge daraus ist, daß im Staate alles käuflich wird, sich alles Vertrauen verliert und für jeden Betrug Platz ist, daß jeder in Verachtung des Gemeinwohls nur seinem persönlichen Vorteil folgt und jedes Bemühen um die Tugend schwindet, da die Ehre, sonst ihr allein als Lohn vorbehalten, nun allen dargeboten wird. In einer solchen Stadt muß das öffentliche Leben notwendig zugrunde gehen.136

Verwerflich sei zuletzt auch der Lebenswandel der Kaufleute. Beständig würden sie im Schatten ihrer Häuser verweilen, befreit von körperlicher Betätigung, dem Müßiggang frönend. Ihr Geist werde schlaff und ihr Körper schwach. Durch das fortwährende Nichtstun seien sie zur Verteidigung des Gemeinwesens somit nicht mehr zu gebrauchen.137 Textzeugnisse, die eine geänderte Wahrnehmung körperlicher Werktätigkeit bezeugen, finden sich auch bei Dante Alighieri und Marsilius von Padua. So machte Michael Schwarz darauf aufmerksam, dass im Werk Dantes der Allmächtige als Vertreter der artes mechanicae begegnet. Wenn Dante im zehnten Gesang des Purgatorio Gott benenne, geschehe dies mit Hilfe der Vokabel fabbro, Schmied.138 Die Wertigkeit der mit den artes mechanicae verbundenen physischen Arbeit erfährt hierdurch einen ungeahnten Bedeutungsgewinn fernab einer Verbindung mit dem Sündenfall. Die Vokabel fabbro wird von Dante auch bei anderer Gelegenheit in der Commedia gebraucht. Zu Beginn des Paradiso werden die Engel, die seligen

704c-705b, S. 134-135. Cicero: De re publica. II,4 (7-8), S. 179-181). Ähnlich wurde er auch von Aristoteles vorgetragen (Aristoteles: Politik. VII,6, S. 334-335). Hierzu auch Saracino: Die Republik und das Meer. S. 151-152. Dagegen hat Hugo von St. Viktor sowohl am Handel als auch an dessen maritimer Ausrichtung nichts Grundlegendes auszusetzen. Er rechnet den Handel dem Kanon der mechanica zu und bezeichnet ihn überdies mit einem aus der Schifffahrt entlehnten Begriff: navigatio (Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 761). 136  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68. 137  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68. 138  Schwarz: Giotto. S. 101. Dante reiht sich so in die Vorstellung des deus artifex ein, der Vorstellung Gottes als Baumeisters der Welt. Ein Bild, das in der mittelalterlichen Buchmalerei des Öfteren begegnet. Etwa in einer Illustration der Bible moralisée, die Gott mit Zirkel in der Hand als Architekten ausweist (Popplow: Technik im Mittelalter. S. 112). Eine Symbiose des Motivs des Weltenherrschers mit jenem des Weltenbaumeisters kann in S. Caterina d’Allesandria in Galatina betrachtet werden. Im dortigen Genesis-Zyklus ist Gott mit Szepter in der einen und Zirkel in der anderen Hand dargestellt, wenn er am dritten Tag der Schöpfung Land und Meer trennt (Richter: Das Meer. S. 15).

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Beweger, in ihrem Wirken als dem Schmied gleich angeführt.139 Während die Verwendung des Begriffs fabbro in dieser Passage der zuvor genannten noch weitgehend entspricht, unterscheidet sie sich von der Schilderung des Troubadour Arnaut Daniel gegen Ende des Purgatorio. Auch dort greift Dante auf den Terminus des fabbro zurück und spricht von Arnaut als „miglior fabbro del parlar materno“, als „de[n] beste[n] Schmied der Muttersprache.“140 Der Dichter als Schmied und die Dichtkunst als Schmiedekunst weisen auf eine bemerkenswerte Symbiose von artes liberales und artes mechanicae hin. Eine weitere Verwendungsweise des Begriffs könnte, auf den Gebrauch des Konjunktivs hinzuweisen ist hier wichtig, in der Nennung des Fabbro oder Fabio Lambertazzi gesehen werden. Ihn erwähnt Dante im vierzehnten Gesang des Purgatorio: „Wann blüht ein Fabbro in Bologna wieder, […]?“ (Quando in Bologna un Fabbro si ralligna?)141 Mit dem angesprochenen Fabbro werde, laut Philalethes, Rudolf Baehr oder Augusto Vasina, auf Fabbro beziehungsweise Fabio Lambertazzi verwiesen – über seinen Vornamen herrscht in der Literatur keine Einigkeit –, der in mehreren Städten das Amt des Podestà ausübte.142 Wenn Fabbro der Vorname des Lambertazzi sein sollte, erweist sich die Nutzung der Vokabel hier insofern als relevant, als man es dann mit einem sprechenden Namen zu tun hätte. Überdies würde damit auch auf die Familiengeschichte der Lambertazzi hingewiesen, die ihren Stammbaum auf einen Schmied ( fabbro) zurückführen.143 Ist dies nicht der Fall, bezieht sich Fabbro nicht auf den Vornamen des Lambertazzi, reduziert dies die Aussagekraft von Dantes Vers aber keineswegs. Ganz im Gegenteil, da in diesem Fall der angesprochene Lambertazzi mit der Berufsbezeichnung des Schmiedes versehen wird. Der Schmied selbst wird somit zum Synonym des Podestà und die artes mechanicae mit dem Feld der Politik verknüpft. Doch steht und fällt all dies mit der Interpretation des Terminus Fabbro im vierzehnten Gesang des Purgatorio, so dass die Verbindung von Fabbro und Podestà bei nüchterner Betrachtung ungewisser erscheint als jene in den zuvor aufgeführten Textstellen. Ausführlicher als in diesen kurzen Passagen aus Dantes Commedia geschehen, wägt Marsilius von Padua im Defensor Pacis die Frage nach der 139  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. II,127-129, S. 276. Baehr: Anmerkungen. S. 482. 140  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. XXVI,117, S. 236. Dante Alighieri: La Commedia. Pur. XXVI,117, S. 522. Dante habe Dichtung, so Karlheinz Stierle: Dante Alighieri. S. 23, als Teil der artes liberales verstanden. 141  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. XIV,100, S. 190. 142  Dante Alighieri Göttliche Comödie. (Philalethes) Pur. XIV,100, Anm. 28, S. 144. Baehr: Anmerkungen. S. 451. Vasina: Lambertazzi. Sp. 1626. 143  Dante Alighieri: Göttliche Comödie. (Philalethes) Pur. XIV,100, Anm. 28, S. 144.

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Beurteilung körperlichen Arbeitens ab. Im Rückgriff auf Aristoteles führt Marsilius sechs Berufsstände innerhalb des Staates (civitas) auf: Priester, Krieger und Richter, die „im engeren Sinne Bestandteile des Staates“ seien, sowie Geldleute, Handwerker und Bauern, die, obwohl sie nur im weiteren Sinne als Teil des Staates anerkannt werden, dennoch unentbehrliche Aufgaben für ihn erfüllen.144 Als nicht minder wichtige Bestandteile des Staates erweisen sich die Vertreter arbeitender Stände deshalb, weil es zu beachten gelte, „was notwendig ist, wenn der Mensch leben und gut leben soll, […].“145 Die Betonung des schieren Überlebens, noch mehr aber des guten Lebens entnimmt Marsilius dem politischen Werk des Aristoteles. Sich auf ihn stützend fasst Marsilius von Padua den Staat (civitas) als „eine vollkommene Gemeinschaft [auf], die volles Selbstgenügen ohne jede Einschränkung besitzt und, wie man daraus schließen muß, also entstanden ist um des Lebens willen, aber um des Gutlebens willen da ist, […].“146 Beides, sowohl Überleben, als auch gutes Leben ist für den Menschen von Natur aus jedoch nicht ohne die durch die Vernunft entwickelten Fertigkeiten des Arbeitens und Erzeugens zu erreichen.147 Auf sich allein gestellt ist der Mensch für Marsilius somit nicht überlebensfähig: […] da er nackt geboren wird und waffenlos, gegenüber dem übermächtigen Einfluß der umgebenden Luft und anderer Elemente empfindlich und verletzlich, wie in der Wissenschaft von den natürlichen Wesen gesagt ist, so bedurfte er verschiedener Gattungen und Arten von Künsten ‚Fertigkeiten‘, um die vorhin genannten Schädigungen zu vermeiden. Da diese Fertigkeiten nur von einer 144  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 1, S. 43-45. Als Bestandteil des Staatskörpers werden die Geldleute, der Magen beziehungsweise die Eingeweide des politischen Körpers, auch schon bei Johannes von Salisbury benannt. Eine allzu positive Einstellung bringt er ihnen allerdings nicht entgegen. Aufgeführt werden lediglich die Krankheiten, die dem Körper drohen, sollten Magen und Eingeweide ihre Aufgabe nicht in dem für sie vorgesehenen Ausmaß erfüllen. Positive Effekte ihres Tuns führt er hingegen nicht auf (Johannes von Salisbury: Policraticus. V,2, S. 167). Marsilius kommt diesem Stand und seinem Wirken dagegen sichtlich mehr entgegen und grenzt sich in dieser Haltung auch von Thomas von Aquin ab. Die Fluktuation landwirtschaftlicher Erträge, Konflikte mit benachbarten Staaten oder Investitionen in die Infrastruktur erfordern Summen, die durch den Stand der Geldleute bereitgestellt werden können (Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 9, S. 53). Von dem bei Thomas von Aquin befürchteten Verfall der Sitten ist dagegen ebenso wenig zu hören, wie vom Verlust an militärischer Autonomie (Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 67-68). 145  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 3, S. 47. 146   Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,4,§ 1, S. 37. Aristoteles: Politik. I,2, 1252b, S. 77. 147  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 3, S. 47.

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Erster Teil großen Zahl von Menschen ausgeübt und nur durch ihr Zusammenwirken gehandhabt werden können, so mußten die Menschen sich zusammenschließen, um Vorteil aus ihnen zu gewinnen und Nachteil zu vermeiden.148

Zu den überlebensnotwendigen Fertigkeiten rechnet Marsilius zunächst all die Tätigkeiten, die der Gewinnung von Nahrung dienen: Denn um die Vorgänge des vegetativen Lebensbereiches zu regeln und gesund zu erhalten, bei deren Aufhören das Lebewesen völlig zugrunde ginge als Individuum und Art, richtete man den Anbau der Felder und die Sorge für das Vieh ein, worauf alle Arten der Jagd auf Landtiere, Wassertiere und Geflügel sich leicht zurückführen lassen, und alle anderen Techniken, die Nahrung mit Hilfe irgendeiner Umwandlung gewinnen oder zum Essen zubereiten, um dadurch schließlich zu ersetzen, was von der Substanz unseres Körpers verlorengeht, […].149

Die für den Erhalt der physischen Existenz unverzichtbaren Techniken der Nahrungsbeschaffung von Seiten der Bauern, Hirten und Jäger werden im Folgenden ergänzt durch Fertigkeiten, die sich mittelbar oder unmittelbar den anderen Berufen im Staate als dienlich erweisen. Neben der Wollbereitung, Gerberei und dem Geschäft der Schuhmacher nennt Marsilius die Gesamtheit der dem Hausbau zuzurechnenden Fähigkeiten.150 „Um die Tätigkeiten und Widerfahrnisse unseres Körpers auch gegenüber den Elementen im Gleichgewicht zu halten, die uns von außen umgeben, und deren Einwirkungen, erfand man die Gattungen der technischen Hilfsmittel [genus mechanicarum], die Aristoteles […] Techniken (Handwerke) [artes] nennt.“151 Nachdem der 148  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,4,§ 3, S. 39-41. Das Argument von den biologischen Mängeln des Menschen findet sich auch schon bei Thomas von Aquin, der in De regno ad regem Cypri schreibt: „Anderen Geschöpfen hat die Natur die Nahrung bereitgestellt, die Bedeckung der Haare, Mittel zur Verteidigung, wie die Zähne, Hörner, Krallen, oder doch die Möglichkeit geschenkt, sich dem Gegner durch schnelle Flucht zu entziehen. Der Mensch aber ist mit keinem dieser Geschenke der Natur gerüstet, statt ihrer aller ist ihm die Vernunft gegeben, […].“ (Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,1, S. 6) Struve: Die Bedeutung der aristotelischen „Politik“ für die natürliche Begründung staatlicher Gemeinschaft. S. 155-156. Miethke: Politiktheorie im Mittelalter. S. 213-214. 149  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 5, S. 49. 150  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 6, S. 49. 151  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 6, S. 49 (Hervorhebung im Original). Ähnlich hatte Johannes von Salisbury seine Zuschreibung der artes mechanicae vorgetragen. Als dienende Tätigkeiten, denen kein Anteil an Befehlsgewalt zukomme, die aber für das Gemeinwesen förderliche Auswirkungen zeigen, ordnet sie Johannes den Bauern und Handwerkern zu (Johannes von Salisbury: Policraticus. VI,20, S. 287).

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Mensch dergestalt mit dem zum Leben Nötigsten, mit Nahrung, Kleidung und einem Dach über dem Kopf versorgt ist, werden abschließend noch die dem Vergnügen und damit einem guten Leben dienenden Fertigkeiten angeführt. Die Malerei gleichwie die Gesamtheit der bildenden Künste, aber auch die praktische Heilkunst.152 Es wird bei Marsilius somit eine Haltung erkennbar, die sich von der vormaligen feudal-aristokratischen Geringschätzung der Handarbeiten gelöst hat und körperlicher Arbeit nun mit großer Achtung begegnet. Für die Erfüllung der Natur des Menschen werden die artes mechanicae als unverzichtbar angegeben. Indes werden sie zwar wertgeschätzt, aber dennoch als dienende Tätigkeiten begriffen. Auf der Grundlage der Ausführungen des Marsilius von Padua kann folglich nicht davon gesprochen werden sie als gleichberechtigt neben die artes liberales zu stellen.153 1.2

Über die Aufwertung der Architektur

Den Ausführungen bei Thomas von Aquin, Dante Alighieri und Marsilius von Padua gingen die Erörterungen der Schule von Chartres und des Hugo von St. Viktor voraus. Während die Arbeiten der Chartrenser einen eher indirekten Einfluss auf die Bewertung der Architektur ausübten, kann man die Bedeutung des Viktoriners für die Stellung der mechanica nur schwer überschätzen. Selbst dann, wenn man den Neuigkeitswert seiner Überlegungen als eher gering einstuft, da sich Hugo von St. Viktor für die Abfassung seines Werkes etwa auf die Überlieferung der spätantiken Hermeneumata und die Kommentare zu Martianus Capella berief.154 Von diesem Einwand abgesehen öffnet Hugo von St. Viktor mit seinen Erläuterungen im Didascalicon eine Tür, die fortan nicht mehr geschlossen werden sollte. Zwar wird nicht jeder seiner Zeitgenossen und Nachkommen bereit und willig sein, diese Tür auch zu durchschreiten, doch selbst konservative Denker wie Otto von Freising vermochten es nicht mehr, sie zu schließen. Von nun an bestimmten progressivere Geister wie Hugo von Augustodunensis oder Joachim von Fiore den Diskurs, der sodann eine Wendung nehmen sollte, die eine andere Sicht auf das Verhältnis von Politik und Architektur ermöglichte. 152  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 6, S. 49. 153  Dagegen haben Cennino Cennini und Filippo Villani die Werkkünste aus der Subordination unter die artes liberales befreit und sie gleichberechtigt den freien Künsten zur Seite gestellt (Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 96-97). 154  Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 67 und 75-77.

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Zwar blieb der geführte Diskurs zunächst noch der Form eines metaphorisch vieldeutigen Symbolismus’ verhaftet,155 erfuhr alsbald jedoch auch hierin eine Veränderung, die im 13. Jahrhundert zur „Auflösung des allegorischen Universums“ führte.156 1.2.1 Die Schule von Chartres In Ansätzen wird die Aufwertung der Architektur durch die im 12. Jahrhundert in den Werken der Schule von Chartres vertretene Weltsicht begünstigt. Maßgeblich beeinflusst wurden die Chartrenser dabei durch die Auseinandersetzung mit Platons Timaios.157 Zwei Erwägungen aus dem Timaios werden im Folgenden skizziert und als prägend für das Denken in der Schule von Chartres präsentiert: Die Vorstellung eines göttlichen Demiurg als eines Baumeisters, der den Kosmos gestaltete, und der Aufbau des Kosmos selbst.158 Letzterer bedarf einer Zusammenfassung des platonischen Texts: Feuer und Erde stehen am Beginn der Ausführungen über die Schöpfung im Timaios. Ohne das Feuer könne das Gewordene nicht gesehen und ohne die Erde nicht berührt werden. Jedoch sei, um beide zusammenführen zu können, etwas Mittleres notwendig. Diese Funktion nehmen Wasser und Luft wahr.159 Aus diesen vier Elementen setzt der Demiurg den Kosmos zusammen. Über den kugelförmig geschaffenen Kosmos heißt es bei Platon weiter, dass zwischen dem unteilbaren, mit sich selbst identischen Sein der Ideen und dem teilbaren Sein der Körper der Demiurg eine dritte Form des Seins einfügt, die aus den beiden anderen Seinsformen besteht. Diese drei Formen vermischt er zu einer einzigen.160 Das Entstandene teilt der Demiurg wiederum so, dass die 155  McGinn: The Calabrian Abbot. S. 101-117. Patschovsky: Prophetie und Symbolismus bei Joachim von Fiore. S. 29. 156  Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 109. Thomas von Aquin sei es gewesen, so Umberto Eco, der „das Ende des Universums der Bestiarien und der Enzyklopädien, der märchenhaften Weltsicht der universellen Allegorik“ herbeiführte (Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 114). 157  Zu den Einflüssen auf die Schule von Chartres siehe Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 256. Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 55. Simson: Die gotische Kathedrale. S. 39. Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. S. 38. 158  Zur Wortbedeutung und einer ersten Annäherung an Platons Konzeption des Demiurg siehe Mesch: Demiurg (dêmiurgos). S. 74-75. Den Demiurg bezeichnet Platon als Baumeister in: Platon: Timaios. 29a, S. 208. Den Demiurg hingegen nicht als Architekt, sondern als Handwerker bezeichnet Erler: Platon. S. 195. Vom „Weltenzimmermann“ (tektainomenos) und Weltbaumeister spricht schließlich Ebert: Von der Weltursache zum Weltbaumeister. S. 49-51. Zum hier behandelten Aufbau des Weltkörpers Platon: Timaios. 35a-36d, S. 214-216. 159  Platon: Timaios. 32b-c, S. 211-212. 160  Platon: Timaios. 35a, S. 214-215.

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Teile proportioniert sind nach dem Muster 1 : 2 : 3 : 4 : 8 : 9 : 27.161 Nun füllt er die doppelten und dreifachen Zwischenräume, so dass in jedem zwei Mittelglieder vorhanden sind. Die dadurch entstandenen Zwischenräume von Dreihalben, Vierdritteln und Neunachteln wiederum füllt er so, dass der Zwischenraum von Neunachteln alle Zwischenräume von Vierdritteln auffüllt. Zuletzt bleibt dabei ein Zwischenraum von 256 : 243 übrig.162 Schließlich spaltet der Demiurg das Entstandene in zwei Teile, ordnet diese dem griechischen Buchstaben Chi (X) gemäß an und biegt jeden Teil zu einem in Bewegung versetzten Kreis.163 Das Ergebnis dieser Konstruktion ist der Kosmos, der die sieben Himmelskörper, den Weltkörper und die Weltseele in sich enthält.164 Bezug nimmt Platon hiermit nicht zuletzt auf die Lehren des Pythagoras.165 Nicht allein wegen des von Aristoteles in der Metaphysik überlieferten Diktums, wonach die Pythagoreer das ganze Universum aus Zahlen konstruierten,166 sondern auch durch die Übernahme der Vorstellung der Musik als Klang gewordene Mathematik. Irdische Musik sei, Pythagoras zufolge, eine Abbildung der auf Zahlen beruhenden himmlischen Musik.167 Die himmlische Musik wiederum ergebe sich aus der Bewegung der Planeten. Jeder Planet erzeuge, während er auf seiner Himmelsbahn fortfahre, einen Ton. Die Summe dieser Töne bilde die Harmonie der Sphären, die himmlische Musik.168 Mit Hilfe 161  Platon Timaios. 35b-c, S. 215. Ein Schema der Teilungsschritte findet sich in Perger: Die Allseele in Platons Timaios. S. 108. Siehe auch Brisson: Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben: Timaios. S. 233-236 und 247. 162  Platon: Timaios. 36a-b, S. 215-216. 163  Platon: Timaios. 36b-c, S. 216. 164  Platon: Timaios. 36c-37c, S. 216-217. 165  Bereits dem namensgebenden Timaios wird nachgesagt ein Pythagoreer gewesen zu sein. Allerdings ist es nicht klar, ob Timaios nicht eine Erfindung Platons war (Huffmann: S. 264-266. Paulsen/Rehn: Nachwort. S. 241. Ebert: Von der Weltursache zum Weltbaumeister. S. 54). 166  Aristoteles: Metaphysik. (Schwarz) I,5, 985b-986a, S. 30. 167  Waerden: Die Pythagoreer. S. 110. Siehe auch Platon: Der Staat (Politeia). VII,12, 530d-531d S. 349-350. Für die Vermittlung des pythagoreischen Musikverständnisses im Mittelalter ist ferner auf die Arbeiten von Augustin und Boethius hinzuweisen. In ihren jeweils De musica betitelten Werken deuten beide Musik auf der Grundlage der Mathematik. Hierzu beispielsweise Augustinus: Musik. I,3, S. 10. Boethius: De musica. PL 63, 1176-117. Ein Überblick über entsprechenden Textpassagen bei Augustinus und Boethius bietet Hiscock: The Wise Maser Builder. S. 64-73 und 77-90. Siehe ferner Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 51-55. Simson: Die gotische Kathedrale. S. 36-37. Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. S. 38. 168  Waerden: Die Pythagoreer. S. 100. Die Idee der Harmonie der Sphären hat sich als äußerst langlebig erwiesen und findet sich noch bei Johann Wolfgang von Goethe im Prolog zu Faust I (Goethe: Faust I. Prolog. S. 14).

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von Zahlenverhältnissen ließen sich die Proportionen ausdrücken, die jener Musik zu Grunde liegen, zugleich aber auch weit über sie hinaus Gültigkeit beanspruchen können, da sie generell harmonische Verhältnisse wiedergeben. Oktave (2 : 1), Quinte (3 : 2) und Quarte (4 : 3), die pythagoreische Tetraktys (1 : 2 : 3 : 4), nehmen dabei eine Sonderstellung ein, da sich mit ihrer Hilfe alle harmonischen Verhältnisse zum Ausdruck bringen lassen.169 Auf der Grundlage der Länge einer Saite betrachtet, entsprechen die sieben im Timaios genannten Anfangszahlen (1 – 2 – 3 – 4 – 8 – 9 – 27) den musikalischen Intervallen von Grundton (1), Oktave (2 : 1), Quinte (3 : 2), Quarte (4 : 3), Oktave (8 : 4 = 2 : 1), Ganzton (9 : 8) und Duodezime (27 : 9 = 3 : 1). Auch die Füllung der Zwischenräume in den nachfolgenden Teilungsschritten entspricht dem Frequenzverhältnis von Quinte, Quarte und Ganzton. Der zuletzt genannte Zwischenraum von 256 : 243 schließlich gleicht einem Halbton, dem pythagoreischen leimma.170 Eine Entsprechung im Timaios findet auch das Konzept der Harmonie der Sphären. Die Verteilung der sieben Himmelskörper gleicht abermals musikalischen Prinzipien. Die Entfernungen zwischen den Bahnen der Himmelskörper stimmt überein mit Oktave (Sonne : Mond = 2 : 1), Quinte (Venus : Sonne = 3 : 2), Quarte (Merkur : Venus = 4 : 3), Oktave (Mars : Merkur = 8 : 4 = 2 : 1), Sekunde (Jupiter : Mars = 9 : 8) und Duodezime (Saturn : Jupiter = 27 : 9).171 Für den Leser des Mittelalters hebt der Timaios mit der Bezeichnung des Demiurg als Baumeister verbunden mit der Feststellung, dass dessen Werk als von den Disziplinen des Quadrivium durchzogen verstanden werden kann, die ihm vertraute Trennung der artes mechanicae von den artes liberales auf. Die Architektur, eine ars mechanicae, wird bei Platon in Beziehung zu den vier mathematischen Disziplinen des Quadrivium der artes liberales, zu Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie gestellt. Damit bietet sich die Möglichkeit die Stellung der Architektur im System der Wissenschaften zu überdenken. In Ansätzen machte die Schule von Chartres mit ihrer Rezeption des Timaios von dieser Möglichkeit Gebrauch. So führt beispielsweise Bernhard von Chartres in seiner Glosae super Platonem Platons Überlegungen zum Übergang zwischen den Elementen aus 169   Zhmud: Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus. S. 184. Waerden: Die Pythagoreer. S. 105-106. Eco: Geschichte der Schönheit. S. 64. Hiscock: The Wise Master Builder. S. 44. Augustinus: Musik. I,12 S. 41. 170  Perger: Die Allseele in Platons Timaios. S. 109-110. Der Klang der Musik, Harmonie, Anmut und Rhythmus werden angesprochen in Platon: Timaios. 47c-e, S. 234. Hiscock: The Wise Master Builder. S. 47. 171  Perger: Die Allseele in Platons Timaios. S. 113.

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dem Timaios anhand von Zahlenverhältnissen näher aus, wie Andreas Speer in seinen Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer „scientia naturalis“ im 12. Jahrhundert demonstriert.172 Gemäß Bernhards Ausführungen könne die Verbindung zwischen der 8 und der 27 nur mit Hilfe zweier Mittelglieder gelingen, die den Kontakt miteinander anstreben. Um deren Kontaktpunkt im dreidimensionalen Raum zu umschreiben, bedient sich Bernhard der Kubikzahlen von 8 (2 × 2 × 2) und 27 (3 × 3 × 3) sowie 12 (2 × 2 × 3) und 18 (3 × 3 × 2). Anhand der sich ergebenden Zahlenverhältnisse und der identischen Quotienten von 8 : 12, 12 : 18 und 18 : 27 ließen sich die erfragten Mittelglieder nun identifizieren.173 Der Übergang zwischen den von Platon umschriebenen Elementen und der Befund, dass der Demiurg zwischen dem Feuer und der Erde die Luft und das Wasser gesetzt habe, werden in Bernhards Text hierdurch näher erläutert.174 Ein weiterer naheliegender Ansatz, mit dem eine Aufwertung der Baukunst begünstigt werden konnte, ist in Platons Umschreibung des Demiurg als eines Baumeisters zu sehen.175 So deutet Bernhard von Chartres in der Glosae super Platonem Gottes Schöpfung dahingehend, dass Gott den Samen der Körper (seminarium corpore) in die Materie (hyle) gelegt und ihr damit Form gegeben habe.176 Bernhard spricht Gott dabei als creator, fabricator und opifex an, als Schöpfer, Hersteller und Arbeiter, der das noch nicht Dagewesene geschaffen habe.177 Anders als Platons Demiurg arbeitet der Gott Bernhards folglich nicht mit bereits existierender Materie, sondern erschafft sie und gibt ihr Form.178 Insbesondere durch die Verwendung der Termini fabricator und opifex bringt er Gott und Gottes Arbeit in die Nähe von Berufsgruppen, die mehr den artes mechanicae als den artes liberales zuzuordnen sind. 172  Platon: Timaios. 35a-36c, S. 215-216. Speer: Die entdeckte Natur. S. 100-102. 173  Bernhard von Chartres: Glosae super Platonem. I,4, S. 167-168. Speer: Die entdeckte Natur. S. 101. 174  Platon Timaios. 32b, S. 212. Bernhard von Chartres: Glosae super Platonem. I,4, S. 168. Speer: Die entdeckte Natur. S. 101-102. 175  Platon: Timaios. 29a, S. 208. 176  Bernhard von Chartres: Glosae super Platonem. I,4, S. 164. Ricklin: Wilhelm von Conches: Glosae super Platonem. S. 157. 177  Zu den genannten Bezeichnungen Bernhard von Chartres: Glosae super Platonem. I,1, S. 140; I,4, S. 157; I,4, S. 161. Dutton: Introduction. S. 72. Andreas Speer verweist diesbezüglich allerdings auf die nur sporadische Verwendung der Begrifflichkeiten creare und creatio in Bernhards Glosae super Platonem (Speer: Die entdeckte Natur. S. 97). 178  Platon: Timaios. 30a, S. 209. Dutton: Introduction. S. 72. Die Schöpfung aus dem Nichts betont etwa Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XII,2, S. 61. Die Schöpfungslehre Augustins aber auch Bernhards wurde zusammengefasst bereits von Johannes von Salisbury: Metalogicus. PL 199, 937-939.

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Als Form, vor allem aber wird der Moment der Schöpfung ebenfalls in der Glosae super Platonem des Wilhelm von Conches präsentiert. Ein Detail des chaotischen Moments vor der Ordnung verdient dabei Beachtung. Als Charakteristikum des Chaos nennt Wilhelm neben der fehlenden Verbindung zwischen den Elementen auch den Umstand, dass die Erde nicht durch Bauwerke gegliedert gewesen sei (edificiis distincta).179 Das Fehlen der Baukunst wird zu einem Sinnbild des Chaos, die Existenz der Baukunst dagegen implizit zu einem Sinnbild der Ordnung und der Arbeit des Schöpfergotts erklärt. Potentiell verliert damit sogar Kain als Begründer der Baukunst an Bedeutung. In Gänze ausgeschlossen wird er nicht, aber durch die Assoziation der Baukunst mit Gott ist die Verbindung zu Kain schwächer geworden. Expliziter wird eine mögliche Bezugnahme auf die Baukunst schließlich bei Alanus ab Insulis. Im Liber de planctu naturae umschreibt er Gott mit den Begriffen Arbeiter (opifex), Handwerker ( faber) und Künstler (artifex), belegt ihn aber auch mit dem Terminus Architekt (architectus). In der entsprechenden Passage des Werks spricht Alanus von Gott als dem Architekten der Welt, dem „mundi elegans architectus“.180 In diesen beiden umrissenen Argumentationsfiguren − einerseits die als an mathematischen Prinzipien ausgerichtet verstandene Schöpfung und andererseits Gott verstanden als Baumeister − kann ein Schritt in Richtung der Verwissenschaftlichung der Architektur gesehen werden. Die Schule von Chartres half demnach dabei sich eine Verbindung der artes liberales und der artes mechanicae vorzustellen. Ihr Einfluss auf das politische Denken der nachfolgenden Jahrhunderte jedoch scheint nur indirekt gewesen zu sein. Nicht etwa der Demiurg Platons wird in den Abwägungen zur Architektur bei Brunetto Latini, Thomas von Aquin oder Ambrogio Lorenzetti herangezogen, sondern vorrangig Vitruv und Aristoteles.181 Das Augenmerk der Debatte um Architektur richtet sich im 13. Jahrhundert verstärkt auf die Sorge um das physische Wohlergehen der

179  Wilhelm von Conches: Glosae super Platonem. § LI, S. 119. 180  Alanus ab Insulis: Liber de planctu naturae. PL 210, 453. Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. S. 38. 181  So wurde wiederholt darauf verwiesen, dass im 13. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit Aristoteles den Platonismus der Schule von Chartres verdrängt habe. Exemplarisch hierfür die Bemerkungen bei Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 252. Dutton: Introduction. S. 70. Zum Interesse an Platon im Mittelalter siehe auch Speer: Die entdeckte Natur. S. 85-86.

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Menschen. Die Bezugnahme auf Vitruv und Aristoteles erwies sich hierfür als naheliegender als eine platonisch-pythagoreische Zahlenlehre.182 1.2.2 Hugo von St. Viktor und die Kanonisierung der mechanica Wenn Marsilius von Padua die Entstehung der artes mechanicae mit dem Bestreben erklärt, die aus den biologischen Limitationen des Menschengeschlechts resultierende Not zu lindern, so folgt er hierin den Darlegungen Hugo von St. Viktors. Auch für den Viktoriner sind die mechanica eine der Notwendigkeit geschuldete Erfindung. „[…] propter necessitatem inventa est mechanica”, wie er im sechsten Buch des Didascalicon schreibt.183 Für notwendig erachtet sie Hugo, weil der Mensch nackt und waffenlos geboren werde. Erst mit Hilfe der Erfindungen auf dem Feld der Mechanik vermag er seiner Schutzlosigkeit beizukommen.184 Ganz tradierten Argumenten und Motiven verpflichtet zeigt sich Hugo an anderer Stelle. Den Kommentaren zu De nuptiis Philologiae et Mercurii entnimmt er etwa die Metapher von den sieben Dienerinnen, die Merkur der Philologie als Mitgift übergeben habe.185 Nicht nur in der Übernahme dieses Motivs folgt der Viktoriner Martianus, sondern auch, wenn er die mechanica als den artes liberales untergeordnet ausweist, da sie zur himmlischen Glückseligkeit nichts beizusteuern wissen, schließt er sich der Argumentation aus De nuptiis Philologiae et Mercurii an.186 Und so macht das Didascalicon 182  Verwiesen sei hier unter anderem auf Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. I,4, S. 45; VI,1, S. 263-271; VI,4, S. 265. Aristoteles: Politik. VII,11, 1330a-b, S. 345-346. 183  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 809. 184  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 747. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 73. Daneben lassen sich auch in Bezug auf die soziale Zuschreibung der Disziplinen Parallelen zwischen Hugo von St. Viktor und den auf ihn folgenden Autoren erkennen. So weist Hugo die artes liberales den Freien (liberi), den Adligen (nobiles) zu, während die mechanica dem einfachen Volk (ignobilium filii) beigeordnet sind (Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 760). Dem schließt sich Johannes von Salisbury an, wenn er die artes mechanicae den Füßen des Gemeinwesens, also den Bauern und Handwerkern, zuordnet (Johannes von Salisbury: Policraticus. VI,20, S. 287). Und auch Marsilius von Padua hatte dementsprechend die Mechanik als Fertigkeit jener Stände angegeben, die nicht eigentlich der Bürgerschaft angehören, aber für den Staat unentbehrliche Tätigkeiten ausüben (Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 1, S. 43-45 und I,5,§ 6, S. 49). 185  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 760. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 75 vermutet, dass Hugo hierfür auf den Kommentar des Johannes Scottus oder den des Remigius von Auxerre zurückgegriffen habe. 186  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 745. Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologiae mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). IX,891, S. 298. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 267.

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vordergründig nicht den Eindruck Neues zur Diskussion um die mechanica beizutragen. Sieht man jedoch von diesen konventionellen Argumentationsstrukturen ab, weist die Bewertung der mechanica bei Hugo von St. Viktor eine Reihe bemerkenswerter Neuerungen auf. Obwohl die Mechanik in der Rangordnung der Wissensgebiete von ihm an letzter Stelle geführt wird, zeugt die notwendige Ausbildung für eine Beschäftigung mit der Mechanik doch von einer Aufwertung. Erst wenn die übergeordneten Disziplinen erfasst worden sind, könne man sich der Mechanik widmen.187 Hinter diesem Curriculum können die Ausführungen Vitruvs vermutet werden. Der antike römische Architekturtheoretiker, den Hugo von St. Viktor als alleinige Autorität in Fragen der Baukunst nennt, hatte eine vergleichbare Ausbildung des Architekten in De architectura libri decem gefordert.188 Bereits diese eigenwillige Reihung der Wissensgebiete im Didascalicon, das Gebot, erst die höherrangingen Disziplinen zu erlernen, ehe man sich der niederen Mechanik zuwendet, zeugt von der Bereitschaft, in den mechanica nun Fächer zu sehen, die einer theoretischen Behandlung würdig sind.189 Die Praxis nimmt bei Hugo von St. Viktor keine übergeordnete Stellung mehr ein. Ganz im Gegenteil geht es bei ihm eben nicht um die praktische Beherrschung, gar die Meisterschaft in den mechanischen Fertigkeiten. Wichtig für ihn ist die theoretische Durchdringung der jeweiligen Disziplin. Auch in der gewählten Terminologie kommt der Vorrang der Theorie vor der Praxis zum Ausdruck. Bezeichnet werden die mechanica im Didascalicon nicht als Künste, sondern

187  Der Viktoriner unterscheidet im Wesentlichen zwischen vier Lehrbereichen. An erster Stelle steht für ihn die logica. Es folgen ethica und theorica. Den vierten und letzten Platz nehmen die mechanica ein (Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 810. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 72-73). Die logica teilt er auf in die Kenntnis der Grammatik und die Fähigkeit eine Rede zu halten. Die ethica wiederum untergliedert er in solitaria, privata und publica. Also die ethischen Maßgaben für das Leben eines einzelnen, des Familienverbandes und der Gemeinschaft. Die theorica schließlich zerfallen in theologia, physica und zuletzt mathematica (Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 809-810). 188  Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. I,1, S. 22-37. Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 766. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 61. 189  Ähnlich die Argumentation bei Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245. Anders als von Hugo hier für die Mechanik gefordert, wurden die artes liberales in aufsteigender Reihenfolge gelehrt. Mit der Grammatik als Grundlage der artes beginnend (Leff: Die artes liberales. S. 283). Vgl. hierzu etwa die Darstellung der artes liberales im Typus Grammaticae in Gregor Reischs Margarita Philosophica (Büttner: Die Illustrationen der Margarita Philosophica des Gregor Reisch. S. 275-276. Siegel: Architektur des Wissens. S. 355-357).

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als Wissenschaften. Nicht von artes mechanicae spricht Hugo, sondern von scientiae mechanicae.190 An der Behandlung der Landwirtschaft (agricultura), der vierten bei Hugo aufgeführten mechanischen Disziplin, kann die Distanzierung von der Praxis und die Stärkung einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Mechanik exemplarisch nachvollzogen werden.191 Als Autorität in Fragen der agricultura benennt Hugo von St. Viktor neben anderen auch Vergil und dessen Georgica.192 Die Georgica aber ist ein Werk, kaum dazu geeignet, als Abriss über landwirtschaftliche Praktiken erachtet zu werden. Sie ist keine Handreichung für den Landmann, in der ihm erklärt wird, wie er seine Felder zu bestellen, Honig zu gewinnen oder Reben zu beschneiden habe. Vielmehr geht es Vergil um die zwischen den Zeilen versteckte Botschaft, den Bauern dem Kaiser als Vorbild zu präsentieren. Wie der Landwirt im Kleinen seine Welt kultiviert, soll der Imperator die durch die Bürgerkriege aus den Fugen geratene Welt neu ordnen.193 Wenn der Viktoriner daher Vergil als Quelle der agricultura benennt, zielt dies nicht auf die praktische Ausübung der Landwirtschaft. Neben die agricultura als vierter Disziplin der mechanica listet Hugo noch sechs weitere Teilgebiete der Mechanik auf: lanificium, armatura, navigatio, venatio, medicina und theatrica.194 Sieben Wissenschaften umfasst die Mechanik für den Viktoriner demgemäß. Die Hervorhebung der Siebenzahl, und die mit ihr auch formal vollzogene Annäherung an die artes liberales, lässt die Aufwertung der Mechanik abermals offenbar werden. Den aus Trivium und Quadrivium zusammengesetzten septem artes liberales stellt Hugo eine eigene Siebenzahl entgegen, die ebenfalls in ein Trivium und Quadrivium unterteilt werden: lanificium, armatura und navigatio auf Seiten des mechanischen Trivium sowie agricultura, venatio, medicina und theatrica als Pendant zum Quadrivium der liberales.195 Innerhalb dieser neuen Siebenzahl erhalten nun auch die bei Martianus Capella aus dem Kreis der artes liberales ausgeschlossenen Disziplinen der Medizin und Architektur ihren Platz. Venus’ Desinteresse an gelehrten 190  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 760. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 68-70. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 61. 191  Zu den Bestandteilen der agricultura Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 761. 192  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 766. 193  Holzberg: Vergil. S. 51-56 und 92-93. Giebel: Vergil. S. 64-68. 194  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 760-763. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 68. 195  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 760. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 73-74.

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Vorträgen und Lunas Bestreben, rechtzeitig ihre Arbeit aufzunehmen, schließen Medizin und Architektur nicht mehr aus. Als sechste der genannten Sieben erhält die Heilkunst dabei einen noch größeren Stellenwert als die Architektur, die unter die zur armatura gehörenden Fächer subsumiert wird. Ein Potpourri verschiedenster Disziplinen, zu dem die Herstellung von Waffen für den Krieg zur See und zu Land gehört, das neben diesen martialischen Tätigkeiten aber auch Bildhauerei, Malerei und eben Architektur beinhaltet.196 Als wahrhaft eigenständig wird die Architektur demnach noch nicht anerkannt. Zwar werden die mechanica aufgewertet, die armatura und mit ihr auch die Architektur als theoriewürdige Disziplinen verstanden, aber noch sind die letzten Schritte nicht getan. Die Architektur bleibt eingebunden in den Fächerkanon der armatura und die Tätigkeit des Architekten verharrt im Status des Handwerkers. Noch wird er als Praktiker verstanden, nicht als derjenige, der das Bauvorhaben theoretisch durchdringt und es in leitender Funktion begleitet.197 Sein Herkommen jedoch wird von der tradierten Last befreit. Und so ist die Benennung des ersten Architekten für eine Überraschung gut. Nicht Kain wird hier genannt. Stattdessen weicht der Viktoriner vom bisherigen Usus ab und verweist nicht auf den Brudermörder, sondern führt den Baumeister des Labyrinths, den Vater des Ikarus, kurzum Dädalus an, dem die Baukunst als erstem von Minerva gezeigt worden sei.198 Der Verweis auf ihre mythologische Herkunft entbindet die Architektur von der Bluttat Kains und trägt ihren Teil dazu bei, die Sichtweise auf die Architektur zu verändern.

196  Zur medicina Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 762. Zur armatura ebd. PL 176, 760-761. 197  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 751. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 290. 198  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 766. Der Verweis auf Dädalus reiht sich ein in den übergeordneten Versuch die den Werkkünsten entgegengebrachte Achtung nicht allein durch die Nennung von Autoritäten der jeweiligen Disziplinen, Vitruv beispielsweise für die Architektur, sondern auch durch mythologische Bezugnahmen, etwa auf Vulkan, Prometheus, Osiris, Ceres oder eben Dädalus, zu erhöhen (Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 765-767. Chenu: Civilisation urbaine et théologie. S. 1256). In der architektonischen Praxis findet sich die Bezugnahme auf Dädalus etwa in den in die Pflasterung der Kathedralen von Amiens und Reims eingearbeiteten Labyrinthe, in deren Zentren die Namen der Baumeister verewigt sind. Das Labyrinth, die maison Dédalus, wurde als Verbeugung vor dem antiken Ahnherrn der Architektur verstanden und legt so Zeugnis vom gesteigerten Selbstbewusstsein und Ansehen der Architekten ab (Brachmann: Der Architekt des 13. Jahrhunderts. S. 76-77. Markschies: Der Kathedralbaumeister als „neuer“ Dädalus. S. 84-85).

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1.2.3 Stellung der Architektur im Umfeld Hugos von St. Viktor Von den Ausführungen des Viktoriners unbeeindruckt schritt dessen Zeitgenosse Otto von Freising weiter auf tradierten Pfaden.199 Der Freisinger Bischof hielt an dem, Augustinus’ entlehnten, Dualismus zweier Städte (civitates) und über ihm auch an der metaphorischen Verwendung der Architektur als Grundlage seines Denkens fest. Die Neuerungen, die im Didascalicon Einzug gehalten hatten, finden sich bei Otto nicht wieder. Dädalus wird erwähnt, aber nicht mehr. Für Otto ist er wieder nur der meisterhafte Konstrukteur von aus Fabelbüchern bekannten Erfindungen.200 Auch eine Aufwertung der mechanischen Künste, und sei sie auch nur in Ansätzen vergleichbar mit jener des Hugo von St. Viktor, findet sich bei ihm nicht. Er ist ein Mann der artes liberales. Und so richtet er auch seine Schrift, die Chronica sive historia de duabus civitatibus, an den methodischen Vorgaben der Grammatik, Logik und Mathematik aus, wie er im Brief an Rainald von Dassel hervorhebt.201 Schweigsam bleibt Otto auch in Bezug auf die Frage, ob der Herrscher mit den mechanischen Künsten vertraut sein sollte. Kenntnisse der Geschichte solle er sein Eigen nennen, doch von den Werkkünsten ist im der Chronik vorangestellten Widmungsbrief an Kaiser Friedrich I. nichts zu lesen.202 Stattdessen rekapituliert Otto vornehmlich das über das Verhältnis von Architektur und Politik gefällte Urteil aus der Heiligen Schrift und Augustins De civitate Dei.203 Seine Lektüre, vor allem aber seine Auslegung dieser bereits kanonischen Texte zog jedoch eine in den Details zu erkennende Verschiebung der Akzente nach sich. Den Anfang macht der sinnbildliche Gebrauch der Architektur im Vorwort zum ersten Buch der Historia de duabus civitatibus. Die metaphorischen Bezüge zur Architektur eröffnen die geschichtsphilosophischen Erwägungen Ottos. „Nicht wie ein kreisendes Rad“ solle sich der Weise drehen, „sondern 199  Dass Otto mit den Ansichten des Hugo von St. Viktor vertraut gewesen ist, kann zumindest vermutet werden, da Otto als Schüler des Viktoriners gehandelt wird (Schnith: O. v. Freising. Sp. 1581). Walther Lammers gibt die Schülerschaft Ottos bei Hugo von St. Viktor sogar als gesichert an (Lammers: Einleitung. S. XXVI-XXVII). 200  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I,21, S. 89. 201  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. Brief an Rainald von Dassel. S. 7-9. 202  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. Schreiben an Kaiser Friedrich. S. 5. 203  Auf die Autorität des Kirchenvaters für sein Werk macht Otto im Vorwort zum ersten Buch selbst aufmerksam. Zusammen mit Orosius, dem er die Lehre von den vier Weltreichen entnimmt, leiste er ihm besonders Folge (Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I, Vorwort, S. 15. Lammers: Einleitung. S. XXXV. Ehlers: Otto von Freising. S. 172-175).

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wie ein aus Quadern gefügter Körper feststehen in der Beständigkeit der Tugenden.“204 Dem beständigen Wandel der Zeiten habe sich der so gestaltete Weise zu entziehen und dem Ewigen zuzuwenden.205 Das Ewige, an dem es sich zu orientieren gilt, ist für Otto wiederum „der Gottesstaat des himmlischen Jerusalem [civitas Dei Ierusalem caelestis]; nach ihm schmachten auf der Pilgerfahrt die Kinder Gottes, die unter der Wirrnis der Zeitlichkeit wie unter einer babylonischen Gefangenschaft schwer leiden.“206 Die von Otto gebrauchte Rede von der babylonischen Gefangenschaft überträgt die erlittene Architekturlosigkeit Juda, den Verlust von Tempel, Palast und Stadt, auf die wahre Christenheit, die als Bürgerschaft der civitas Dei keine Heimstatt im Diesseits ihr Eigen nennen könne, sondern sich für die Dauer ihrer zeitlichen Existenz auf Wanderschaft befinde. Auf eigentümliche Art und Weise interpretiert Otto dabei die Vorgabe der Schrift. Schließlich besaß Juda Architektur und war zu einem urbanen Volk geworden, ehe es in die babylonische Gefangenschaft geriet, deren Beginn einherging mit dem Verlust seiner Architektur. Für die civitas Dei hingegen ist der Verlust irdischer Architektur ohne Belang, da auch ihrem Besitz keine Bedeutung beigemessen werde. Dem in der Bibel vollzogenen Wandel hin zu höherer Bedeutung der Architektur schließt sich Otto hier somit nicht an. Stattdessen wird schon in diesem Exzerpt die Nähe Ottos zu Augustinus deutlich.207 Unverkennbar wird sie dann im Fortgang dieser Passage. „Denn es gibt ja zwei Staaten, einen zeitlichen und einen ewigen, einen irdischen und einen himmlischen, einen des Teufels und einen Christi, und nach der Überlieferung der katholischen Schriftsteller ist jener Babylon, dieser Jerusalem.“208 Als Inbegriff der civitas mundialis wird Babel gleichwohl nicht von Anfang an verdammt. Otto spricht vom „großen Babylon, das nicht nur wegen seiner Weisheit gepriesen war, […].“209 Ein Lobpreis jedoch, der aufgrund irriger Annahmen ausgesprochen werde. Hort der Weisheit sei die Stadt nur insofern, als sie das verfehlte irdische Wissen beherberge. Auch das irdische Wissen wird von Otto, eine nicht näher identifizierte Quelle zitierend, mit der Architektur 204  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I, Vorwort, S. 11. 205  Der aus Quadern konstruierte Körper findet ein fernes Echo im Bild des durch den herabstürzenden Stein zerschmetterten Koloss, dessen Dekonstruktion das Ende aller Zeiten einläutet (Dan II,31-45, S. 848. Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. II,13, S. 129 und VI,36, S. 491-493). 206  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I, Vorwort, S. 11. 207  Siehe hierzu etwa die Ausführungen Augustins zur Einnahme und Plünderung Roms durch die Goten zu Beginn von De civitate Dei, in denen die Bedeutungslosigkeit des Materiellen für den Christen klar ersichtlich wird. 208  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I, Vorwort, S. 11. 209  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I, Vorwort, S. 13.

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verbunden: „Und doch ist das große Babylon, das nicht nur wegen seiner Weisheit gepriesen war, […] ‚ein Tempel der Sirenen, ein Haus der Drachen und Strauße‘, ein Schlupfwinkel der Schlangen geworden.“210 Nicht allein der Weise, dem Babel entgegengestellt wird, auch das irdische Wissen wird mit einer baulichen Metapher verbunden. Der in der Schilderung des Weisen begonnene Bogen wird von Otto mit der figurativen Darstellung auch der irdischen Kenntnisse somit geschlossen. Auf die Metaphorik des Vorworts folgt im ersten Buch die Behandlung der biblischen Architekturepisoden zwischen der Geschichte von Adam hin zu den assyrischen Königen Belus bis Sardanapal: Die Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, der Turmbau zu Babel und die Zerstörung Sodoms führt Otto von Freising aus. Der ungehorsame Mensch, aus dem Paradies verstoßen, war „zur Pilgerschaft hier auf Erden verdammt und begann die Erde der Verfluchung zu bebauen, […].“211 Das lateinische Vokabular macht deutlich, dass es sich hierbei noch nicht um eine architektonische Gestaltung der eigenen Umwelt handelt, sondern die agrarische Erschließung des Bodens gemeint ist. Das Land wird bebaut, urbar gemacht (excolere). Noch ist nicht davon die Rede, die Bauwerke einer Stadt zu errichten. Doch ist es dazu nicht mehr weit. Das Sesshaftwerden der Menschen, unabdingbare Voraussetzung für den Ackerbau, stellt die Vorstufe für die Architektur dar, die Kain, erstem Erbauer einer Stadt, als Ausgangspunkt dient.212 Auch hier macht die gewählte Formulierung, civitatem construxit, den Sinngehalt der Passage verständlicher. Nun handelt es sich nicht mehr um eine civitas im Sinne einer Gemeinschaft der Bürger. Für das Verständnis der Stadt sind die Baulichkeiten maßgeblich geworden. Die civitas mundialis soll also, im Gegensatz zur civitas caelestis, über ihre Architektur verstanden werden.213 Nach Ottos Lesart erweist sich das irdische Gemeinwesen auch in der Geschichte des Turmbaus zu Babel als an die Baukunst gebunden. Auf Nimrods Initiative hin hätten die Menschen beschlossen, in der Ebene von Sinear einen Turm oder eine Stadt zu errichten. „Dies ist das Babylon, das Urbild des Staates, dessen Bürger alle sind, die sich hoffärtig dem Befehl Gottes zu widersetzen versuchen und deshalb vom ewigen Richter ‚der Verwirrung 210  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I, Vorwort, S. 13-15. 211  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I,2, S. 61. 212  Erwartet man als Gegengewicht hier die Orientierung am Hirten Abel, wird man insofern von Otto enttäuscht, als dass die Wertung des Hirten nicht frei von Widersprüchen ist. Im sechsten Kapitel des zweiten Buchs werden im Zuge der Darstellung der Gründung Roms die Hirten in eine Reihe gestellt mit Räubern und Strolchen (predonum ac latronum) (Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. II,6, S. 117). 213  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I,2, S. 61.

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würdig‘ befunden werden.“214 Doch stellt Otto von Freising, sich auf Eusebius und Cicero berufend, im sechsten Kapitel des ersten Buches auch fest, dass Städte (urbes) generell als zentrales Charakteristikum des Menschseins zu werten seien. Fehlen sie, ähnelten die Menschen mehr wilden Tieren, als das sie ihr humanes Wesen verwirklichen könnten.215 Die Bezugnahme auf gerade dieses Argument ist erstaunlich. Wirkt es doch eher wie ein Fremdkörper in dem bisher geschilderten Denken Ottos von Freising. Den Lehren Augustins verpflichtet ist die Annahme, städtisches Leben als differentia specifica zwischen Mensch und Tier erklären zu können, nicht zu erwarten gewesen.216 Insbesondere, da Otto hier von urbs, nicht von civitas spricht, somit weniger den Aspekt der Bürgergemeinschaft hervorhebt, als auch die bauliche Dimension der Stadt berücksichtigt. Konsequent durchgehalten wird das Urteil über die Architektur daher nicht. Viel eher scheint Otto die Aussagen von Autoritäten kompiliert, zum Teil auch modifiziert und je nach Bedarf in seine Argumentation eingefügt zu haben. Ersichtlich wird eine solche Modifikation in einem zunächst unscheinbar wirkenden Detail der Geschichte von Lots Errettung. Als Bürger Jerusalems – nicht das irdische, sondern das himmlische Jerusalem ist von Otto hier gemeint – siedelte Lot „in Sodom, der Stadt der Sünder“.217 Als Gott sich zur Strafe der Stadt entschloss, sandte er einen Engel, Lot zu warnen. Soweit handelt es sich um die aus der Schrift vertraute, wenn auch gekürzte, Erzählung von der Zerstörung Sodoms. Von Otto verschwiegen wird jedoch, dass Lot Zuflucht zunächst in einer Stadt, in Zoar, suchte, mithin nicht von einer generellen Aburteilung des Städtewesens gesprochen werden kann.218 Diesen Eindruck allerdings erweckt Otto, wenn er die Flucht nach Zoar ausspart und den Engel Lot unumwunden „auf einen Berg hinausführen ließ.“219 Die eben noch geneigtere Beurteilung des Städtischen wird hier nun wieder reduziert und in eine Metaphorik übertragen, die das Motiv des Berges der weltgebundenen

214  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I,4, S. 67. 215  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I,6, S. 69-71. Ein Argument, das an Aristoteles’ Aussagen über das zōon politikon erinnert, mit denen Otto freilich noch nicht vertraut sein konnte, war ihm die Politik schließlich noch nicht zugänglich. Aber auch bei Aristoteles liest man, dass nur jener der Polis nicht bedarf, der entweder ein Gott oder ein wildes Tier sei (Aristoteles: Politik: I,2, 1253a, S. 79). 216  Vgl. Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XIX,15, S. 557. 217  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I,9, S. 75. 218  Vgl. Kapitel 1.1.1. 219  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. I,9, S. 77.

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Bürgerschaft Babylons entgegenstellt. Seine erhöhte Position entzieht Lot der sich unter ihm erstreckenden sündigen Welt.220 Der zwiespältige Eindruck, den die bisherige Behandlung der Architektur in der Chronik hinterlässt, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Zwiespalt hervorrufenden Episoden um Einzelfälle handelt. Der von Otto intendierte Gesamteindruck spricht dagegen eine klare Sprache: die diesseitige Architektur ist bestenfalls belanglos, schlimmstenfalls Ausdruck der Verkommenheit des Menschen. Dieser Befund bestätigt sich auch in den folgenden Büchern. Die Gründung Roms wird, wiederum Augustinus entlehnt, von Beginn an als blutbefleckt geschildert. Romulus tötete nicht allein seinen Bruder, sondern, hierin geht Otto über die in De civitate Dei geschilderte Gründung Roms hinaus, auch seinen Großvater. Und noch mit einer dritten Tat vergrößert Romulus seine Schuld und die Schuld der von ihm gegründeten Herrschaft. Auch beim Raub der Sabinerinnen floss das Blut ihrer Gatten und Väter.221 Die Gründung des Romulus wird damit, gestützt auch auf die Satiren Juvenals, zum Asyl zwielichtiger Gestalten erklärt. Räuber und Strolche beheimate sie. Überraschenderweise zählt Otto hier aber auch den Berufsstand Abels mit auf. Auch „Scharen von Hirten“ fanden in dieser Stadt Unterschlupf.222 Eine eigensinnige und vom Autor nicht näher erläuterte Diskrepanz zwischen christlicher Überlieferung und römischer Dichtung. Auch weitere Erwähnungen der Architektur in der Chronik zeugen allenfalls vom Desinteresse, das ein Bürger der civitas caelestis der Baukunst entgegenbringen sollte. Beispielsweise relativiert die von Otto gegebene Lebensbeschreibung des Heiligen Korbinian stets die in ihr aufgeführten architektonischen Bezüge. So habe sich Korbinian nicht „von den Lockungen der Welt […] fesseln“ lassen, „und wohnte in einer selbstgebauten Zelle“, obwohl ihm die Mittel seiner Eltern anderes ermöglicht hätten.223 Zwar spielt die Architektur in dieser Episode aus der Vita des Heiligen eine gewisse Rolle, 220  Das Motiv des Berges als Symbol der Tugend wider die sündige Welt beziehungsweise als Ort der Erkenntnis begegnet beispielsweise bei Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 134. Neben Alberts biblischem Bezugspunkt Mt V,14, ist aus den Texten der Heiligen Schrift etwa auch auf den Berg als Ort der Prüfung in der Geschichte des Isaak-Opfers hinzuweisen (1. Mose XXII,1-19). Dante Alighieri wiederum nutzt den Berg als Ort der Läuterung von Sünden, auf dessen Gipfel das irdische Paradies die Menschheit erwartet (Hardt: Nachwort. S. 549-551. Köhler: Die Anlage von Dantes Purgatorio. S. 677-678. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 249). Satirische Bearbeitung erfährt das Motiv des Tugendberges bei Lukian: Wahre Geschichten. S. 389. 221  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. II,3, S. 113. 222  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. II,6, S. 117. 223  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. V,24, S. 413.

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doch durch die Bezugnahme auf ein weltentsagendes Leben des Bischofs dient die Betonung, dass Korbinian sich seine Zelle selbst erbaut habe, vornehmlich dem Zweck, sie von diesseitiger Bautätigkeit zu distanzieren. Letztlich führte Korbinian ein architekturfernes Leben, in dem die Mönchszelle als Ausdruck der Trennung von der Außenwelt zu verstehen ist. Die Architekturlosigkeit, besser ist es hier von der Ortlosigkeit zu sprechen, wird schließlich zum Charakteristikum nicht allein für Korbinian, sondern generell für das ganze Mönchtum erklärt. Für die Mönche ist ihr Aufenthaltsort ohne Belang. Ob es ein Kloster, eine Höhle, eine Einöde ist, ob „sie sich mehr als Zeltgenossen des himmlischen Hofes denn als Menschen“ erweisen oder der Architektur des Klosters, der Burg oder der Stadt bedürfen, bleibt gleichgültig.224 Denn „sie alle bleiben unberührt von den […] jammervollen Wechselfällen des Weltlaufs und genießen nach sechs Tagen der Mühsal im Frieden des wahren Sabbats einen Vorgeschmack der ewigen Ruhe; […].“225 Wenn das Mönchsleben demnach Verheißung der ewigen Ruhe sei, bedeutet dies, dass die Ewigkeit als architekturlos zu verstehen ist? Im achten, die Chronik abschließenden Buch, kommt Otto auch auf diesen Punkt zu sprechen. Otto gibt hierin die biblische Beschreibung des neuen, des himmlischen Jerusalems wieder, wie er sie vornehmlich der Offenbarung entnehmen konnte. Aus dem Himmel werde die heilige Stadt (civitas) herabkommen. Auch in Bezug auf das himmlische Jerusalem meint der Begriff civitas dabei keine Stadt gebaut im materiellen Sinne, aus Steinen, Holz und Nägeln, sondern eine Stadt, errichtet aus lebendigem Gestein, der Gemeinschaft der civitas caelestis.226 Otto pflichtet somit jenen Auslegungen der Offenbarung bei, die in den kostbaren Baumaterialien, dem Gold der Straßen, den Fundamenten aus Edelstein und den Toren aus Perlen, keinen architektonisch durchdachten Bauplan, sondern die symbolische Schilderung eines Ideals erkennen möchten, dessen Herrlichkeit durch den Gebrauch kostbare Stoffe hervorgehoben werden soll.227 Ebenso verhält es sich schließlich auch beim Verweis auf die vielen Wohnungen im Hause des Herrn im neunundzwanzigsten Kapitel des letzten Buchs der Chronik.228 Gleichnishaft wird mit ihm die Rangordnung im Himmel symbolisiert. Ein konkretes architektonisches Bild ist hingegen nicht intendiert. 224  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. VII,35, S. 561-567. 225  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. VII,35, S. 567. 226  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. VIII,26, S. 645647. In diesem Zusammenhang auch Augustinus: Sermones de scripturis. PL 38, 505. 227  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. VIII,26, S. 651. 228  Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte zweier Staaten. VIII,29, S. 657.

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Die Architektur in der Historia de duabus civitatibus wird vornehmlich in einer metaphorischen Art und Weise gebraucht. Gelegentliche Varianten in ihrer Bewertung fallen auf, genügen aber nicht, um bei Otto von Freising ein von den Vorgaben der Schrift und Augustins emanzipiertes Verständnis der Baukunst anzunehmen. Die Möglichkeiten, die sich ihm etwa durch das Didascalicon des Hugo von St. Viktor, aber auch durch seine Lektüre klassischer Autoren, vor allem der oben erwähnten Passagen aus den Werken Ciceros und Eusebius’, eröffneten, durchdenkt Otto nicht systematisch, sondern verharrt vornehmlich in der Paraphrase dieser Texte. Die Bewertung des Verhältnisses von politischem Denken und Architektur bleibt somit auf einer Position stehen, die ihr durch die Tradition vorgegeben war. Die civitas terrena bleibt an die Architektur gebunden, wohingegen die civitas Dei architekturlos erscheint. Zeitlich wie inhaltlich dem Denken des Viktoriners deutlich näherstehend als Otto von Freising ist Honorius von Augustodunensis. In der kurzen aber in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Schrift De animae exsilio et patria weicht der Benediktinermönch vom gängigen Bild der sieben freien Künste, wie es von Martianus Capella gezeichnet worden war, ab und stellt stattdessen eine Verbindung her zwischen den Disziplinen von Trivium und Quadrivium, Physiologie, Mechanik und Ökonomie sowie der Politik. Obwohl der Text skizzenhaft bleibt, wie Paul Michel betont,229 erweist er sich in seiner Originalität als dem Didascalicon des Hugo von St. Viktor zumindest ebenbürtig. Den an Metaphern reichen Text eröffnet Honorius mit dem Gleichnis der Ortsunkundigen, die, vom rechten Weg abgekommen, der Leitung eines Wissenden bedürfen, um die fremden Lande hinter sich zu lassen. Diese Rolle schreibt sich Honorius selbst aber auch seinen Lesern oder dem Widmungsträger Thomas, benannt nach dem aus dem Johannesevangeliums bekannten ungläubigen Apostel,230 zu. Gemeinsam sollen sie die Unwissenden aus dem Exil des Nichtwissens in das Vaterland des Wissens führen.231 Der hierfür eingeschlagene Weg führt die Reisenden durch zehn Städte (civitates),232 von denen eine jede für eine der artes liberales steht. Den klassischen Kanon von Grammatik, Rhetorik, Dialektik und Arithmetik, 229  Michel: „Ignorantia exsilium hominis“. S. 142. 230  Joh XX,24-29, S. 134. 231  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1241-1243. 232  Wie die Formulierung „in hujus urbis schola“ in Kapitel fünf von De animae exsilio et patria erkennbar macht, ist die Verwendung des Begriffs civitas bei Honorius jedoch nicht uneingeschränkt mit einer Trennung vom Terminus urbs verbunden. Honorius scheint von beiden gleichermaßen Gebrauch zu machen, ohne sie dezidiert an die Bürgerschaft beziehungsweise die Baulichkeiten zu binden (Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1243).

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Geometrie, Musik und Astronomie ändert Honorius allerdings auf zweifache Weise ab. Entspricht die Reihenfolge der zum Trivium gehörenden Disziplinen noch den ersten drei in De animae exsilio et patria genannten Städten, verändert Honorius die Reihenfolge der Disziplinen im Quadrivium dahingehend, dass er auf die Arithmetik nicht die Geometrie, sondern sogleich die Musik folgen lässt. Geometrie und wie üblich Astronomie der Musik in seinem Curriculum also nachgeordnet ist.233 Vor allem aber erweitert er die freien Künste um die von Martianus Capella ausgeschlossenen Disziplinen der physica und mechanica sowie der in De nuptiis Philologiae et Mercurii nicht erwähnten oeconomica.234 Zugleich erweisen sich die Ausführungen des Honorius hierin als grundverschieden von denen seines Zeitgenossen Hugo von St. Viktor. Im Didascalicon hatte Hugo die artes liberales nicht ergänzt, sondern ihnen eine zweite Siebenzahl aus den Reihen der artes mechanicae an die Seite gestellt. Honorius hingegen fügt den bis dato sieben freien Künste die drei genannten hinzu, lässt dabei jedoch andere von Hugo von St. Viktor noch besprochene Disziplinen unberücksichtigt.235 Verglichen wiederum mit Martianus Capella erweist sich als auffallend weiterhin, dass Honorius insbesondere die mechanica weiter fasst. Ihnen rechnet er eine Vielzahl an Disziplinen zu. Malerei und Bildhauerei sind ihr ebenso zugeschrieben wie alle mit Handarbeit verbundenen Künste, zu denen nicht zuletzt auch die Architektur gehöre. Sie, die Baukunst, habe den Turm zu Babel gleichwie den Tempel Salomons, die Arche Noah und die Stadtmauern auf der ganzen Welt errichtet.236 Allein diese kurze Behandlung der Mechanik öffnet das Feld für eine Reihe weiterer Anmerkungen. Auffällig und ungewöhnlich ist zunächst, dass Honorius den Turm zu Babel in einem Atemzug mit dem Tempel Salomons nennt, zweier Konstruktionen, über die in der Bibel ein grundverschiedenes

233  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1243-1245. 234  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245. Die physica entspricht der Medizin bei Martianus Capella. Honorius verortet sie in der achten Stadt, in der Hippokrates die Reisenden darüber unterrichte, wie das Heil des Körpers zum Heil der Seele führe (Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245). 235  Keine explizite Erwähnung bei Honorius finden insbesondere die bei Hugo von St. Viktor besprochenen Disziplinen lanificium, navigatio, agricultura, venatio und theatrica (Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 760-763. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 68). 236  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245.

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Urteil ergeht.237 Bautätigkeit als solche wird vom Benediktiner dagegen keiner Bewertung unterzogen. Sie ist wertfrei und mitnichten negativ konnotiert – etwa durch ihr Herkommen von Kain, über das Honorius kein Wort verliert –, sondern eine Notwendigkeit auf dem Weg zum Wissen. Ferner wird die Architektur, den Ausführungen eines Hugo von St. Viktor vergleichbar, dargestellt als eines theoretischen Fundaments bedürftig, insofern, als dass sich erst mit ihr beschäftigt werden kann, nachdem die acht Städte von Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie und zuletzt Physiologie durchschritten worden sind.238 Schließlich präsentiert Honorius diese Städte tatsächlich als zu durchschreitende, da die civitates primär nicht über ihre Bürgerschaft, sondern über ihre Baulichkeiten beschrieben werden. Honorius verweist hierzu wiederholt auf die architektonischen Charakteristika der Städte: Das Stadttor und den Weg hindurch, die Mauern, die Häuser und so weiter.239 Neben dieser raschen Folge von Anmerkungen zur Architektur und der architektonischen Metaphorik ist in De animae exsilio et patria auf die Verbindung zwischen Baukunst, artes liberales und Politik aufmerksam zu machen. Honorius bedient sich nämlich nicht nur einer architektonischen Metaphorik zur Beschreibung der civitates. Vermittelt werden die Elemente der Grammatik auch über den Abriss des Regiments einer Stadt. Und so unterscheidet Honorius Konsuln und Prokonsuln, Präfekten und unterworfene Plebejer, um so die Differenz zwischen Nomen und Verben, Genera und Tempora darzustellen.240 Kaum verdeckte politische Implikationen beinhalten auch die Erläuterungen zur zweiten Stadt, der Stadt der Rhetorik. Verwoben mit dem bildhaften Gebrauch der Architektur, stellt Honorius das Stadttor als Ausdruck der Sorge um die öffentlichen Angelegenheiten (civilis cura) dar.241 In den einzelnen Stadtteilen geben Bischöfe, Herrscher und Richter die Dekrete der geistlichen wie die Edikte der weltlichen Gewalt bekannt, während Cicero die nach Wissen Strebenden in der Kunst der Rhetorik unterrichte und sie zugleich so mit den Kardinaltugenden vertraut mache.242 In Kontakt treten 237  Über den Turm zu Babel 1. Mose XI,1-9. Zum Tempel Salomos 1. Kön V,15-VI,38 und Hes XL,1-XLI,26. 238  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 809-810. Sternagel: Die artes mechanicae im Mittelalter. S. 72-73. 239  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1243-1245. 240  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1243. 241  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1243. 242  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1243-1244. Zur Bedeutung der Rhetorik für die Politik siehe beispielsweise auch die Ausführungen

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Architektur und Politik auch in der zehnten Stadt, diese repräsentiert die Ökonomie, mit der Regierungen und Ämter, Berufe und Stände geordnet werden.243 Mit der Ausweitung der oeconomica auf die Belange des Gemeinwesens dehnt Honorius die Aufgaben dieser Disziplin weit darüber hinaus aus, was sie in ihren Anfängen in der Politik des Aristoteles beinhaltete.244 Die bei Aristoteles mittels der Lehre vom oikos vollzogene Trennung vom öffentlichen Raum der Politik und dem privaten Raum des Hauses bleibt Honorius verschlossen. Seine Auslegung der Ökonomie bezieht sich nicht auf das Private und weiß somit nichts über eine Scheidung beider Sphären zu berichten. Nachdem sich die Reisenden den Weg durch die Städte der zehn freien Künste gebahnt haben, erreichen sie die wahre Heimat, die Weisheit, die sich in der heiligen Schrift manifestiere.245 Ihrerseits wird auch die Weisheit über eine bauliche Metapher vorgestellt. Die Weisheit baue (aedificare) sich ein Haus aus der Schrift. Die vier Schriftsinne fungieren dabei als die Wände dieses Hauses, die Gaben des heiligen Geistes, sieben an der Zahl, als stützende Säulen.246 Innerhalb des ohnehin schon bildlich verstandenen Hauses bedient sich Honorius noch einer weiteren Metapher, wenn die Weisheit den zu ihr Gekommenen ein Gastmahl bereitet, ehe sie von dort aus in das himmlische Jerusalem geleitet werden.247 Das Motiv des Gastmahls ist ein in der Ideengeschichte wohl vertrautes. In antiker Philosophie und Dichtung begegnet es bei Platon ebenso wie bei Xenophon oder Petron, Plutarch und Lukian.248 Dem Mittelalter ist es beispielsweise durch Ambrosius von Mailand und Honorius nachfolgend Aegidius Romanus und nicht zuletzt durch Dantes von Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. III,1,7-8, S. 318. Hierin führt Brunetto aus, dass das Gemeinwesen die Schöpfung eines Rhetors sei. Hierzu auch Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 79. 243  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245. 244  Zur Unterscheidung von polis und oikos siehe etwa Aristoteles: Politik. I,1-2, 1252a-b, S. 7577 und II,5, 1263b, S. 117. 245  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245. 246  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245. Zu den Gaben des heiligen Geistes unter anderem Jes XI,1-2; 1 Kor XII,1-11. Das Bild des mit sieben Säulen versehenen Hauses der Weisheit Spr IX,1. 247  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1245. 248  Platon: Symposion. 172a-175e., S. 105-110. Zur Szenerie in Xenophons Symposion siehe dessen Beginn in Xenophon: Symposion. S. 195-198. Zur satirischen Bearbeitung des gelehrten Gesprächs beim Gastmahl durch Petron exemplarisch die Troja-HannibalEpisode in Petronius Arbiter: Cena Trimalchionis. 50(5), S. 57. Einführend in die Cena Trimalchionis Weeber: Nachwort. S. 176-177. Ausführlich zur Verzerrung trojanischer Motive siehe Grossardt: Die „Cena Trimalchionis“ gelesen als Parodie auf die „Ilias“. Für den Gebrauch des Gastmahl-Motivs bei Plutarch und Lukian: Plutarch: Das Gastmahl der sieben Weisen. S. 113. Lukian: Wahre Geschichten. S. 383-389.

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Convivio vertraut.249 Am Ende des Mittelalters schließlich bedient sich auch Niccolò Machiavelli des Motivs.250 Die unterschiedlichsten Adressaten werden mit dem Bild des Gastmahls verbunden. Bei Machiavelli ist es ein exklusives Mahl in den „Säulenhallen der großen Alten“, in denen sich der Florentiner mit den Denkern der Antike austauscht.251 Aegidius Romanus hingegen weitete den Kreis der Adressaten aus auf den künftigen König und die Angehörigen der Hoftafel, denen das Werk des Augustinereremiten verlesen werden solle, damit sie um ihren Platz im Reiche wissen.252 Dagegen suggeriert Dante Alighieri mit seiner Verwendung der Gastmahlmetaphorik die Speisung einer möglichst großen Zahl. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die von Dante herangezogene sakrale Komponente der Metapher. Sein Bezug auf die in den Evangelien berichtete Speisung der Fünftausend erweckt den Anschein einer Demokratisierung des Denkens.253 Dante richtet sein Convivio für ein größeres Publikum aus. Vermeintlich richtet er sich sogar an alle Menschen, da allen Menschen von Natur aus der Wunsch nach Wissen eigen sei, wie der Philosoph zu Beginn der Metaphysik feststellte.254 Doch ist bei dieser Deutung Dantes vermutlich der Wunsch Vater des Gedankens. Dante denkt nicht daran, allen Menschen philosophisches Wissen zukommen zu lassen. Der Dichter wendet sich nicht an die breite Masse, sondern an Prinzen, Grafen und Ritter, die er an seiner Tafel bewirten möchte.255 Eine sakrale Komponente ist auch bei Honorius’ Gastmahl der Weisheit vorhanden. Aber sie bezieht sich nicht auf die wundersame Gerstenbrotvermehrung, nicht auf die Speisung der Fünftausend. Der biblische Bezugspunkt der in De anmiae exsilio et patriae gebrauchten Metaphorik ist viel eher in den 249  Ambrosius: De officiis ministrorum. PL 16, 71. Aegidius Romanus: De regimine principum libri III. II,3,20, S. 236r. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 223. Dante Alighieri: Das Gastmahl. I,i,6-15, S. 5-7. Cheneval: Einleitung. S. LVI. 250  Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407. 251  Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407. 252  Aegidius Romanus: De regimine principum libri III. II,3,20, S. 236r. 253  Mt XIV,13-21; Mk VI,30-44; Lk IX,10-17; Joh VI,1-13. Dante: Das Gastmahl. I,xiii,12, S. 69. Cheneval: Einleitung. S. LVI. Zur These der Demokratisierung des Denkens bei Dante siehe Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 234 und 255. 254  Dante Alighieri Das Gastmahl. I,1,1, S. 3. Aristoteles: Metaphysik. (Schwarz) I,1, 980a, S. 17. Cheneval: Einleitung. S. LI-LVI. Cheneval: Dante Alighieri: Convivio. S. 354-355. Von den nach Wissen Strebenden ausgenommen sind jedoch Juristen, Ärzte und nahezu alle Ordensleute, da sie allein um des Geldes oder des Ansehens willen studieren würden (Dante Alighieri: Das Gastmahl. III,11,10, S. 79). 255  Dante Alighieri: Das Gastmahl. I,11,5, S. 45. Über die Befähigung der Volksmenge zum philosophischen Denken weiß Dante nichts Positives zu berichten (Dante Alighieri: Das Gastmahl. I,11,6, S. 55. Cheneval: Einleitung. S. XXXVIII-XL).

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Sprüchen Salomos zu sehen.256 Honorius ändert die dort genutzte Metapher aber dahingehend ab, dass die Belehrung auch des Toren nicht vorgesehen ist. Nicht für jeden stehen die Tore des himmlischen Jerusalem offen. Wer sich an Vergänglichem vergnüge, der müsse im Exil verharren, wie auch den Neidern, Missgünstigen und Lauen der Weg aus dem Exil nicht gewiesen werden soll.257 Auch bei Honorius ist das Gastmahl somit nicht für jedermann zugänglich. Mit seinem kurzen Traktat De animae exsilio et patria erweist sich Honorius von Augustodunensis als Vertreter einer weit progressiveren Haltung als der zuvor behandelte Bischof von Freising. Von der tradierten Sicht, wonach Architektur nicht Bestandteil der artes liberales sein könne, weicht der Benediktiner ab und geht hierin sogar erheblich weiter als Hugo von St. Viktor. Während der Viktoriner den sieben freien Künsten einen eigenen Kanon der mechanica an die Seite stellt, erweitert der Benediktiner die Zahl der freien Künste kurzerhand um drei den mechanica zuzurechnenden Disziplinen auf nunmehr zehn freie Künste. Obschon dieser Erweiterung kein größerer Nachhall vergönnt war, steht sie dennoch exemplarisch für die sich verändernde Wahrnehmung der Baukunst, da das Curriculum des Honorius von Augustodunensis die wissenschaftliche Fundierung der Architektur weiter vorantreibt, indem die traditionellen Disziplinen von Trivium und Quadrivium der Beschäftigung mit der Architektur vorangehen müssen. Erst gelte es die klassischen artes liberales zu erlernen, ehe man sich mit der Architektur befassen kann. Einher geht hiermit schließlich auch ein Bedeutungsgewinn der Werke der Architektur für das Leben in Gemeinschaft. Für die himmlische Glückseligkeit werden Kenntnisse der Architektur bei Honorius als unverzichtbar ausgewiesen. Im zeitlichen Umfeld des Hugo von St. Viktor stellt Honorius von Augustodunensis einen Einzelfall weder hinsichtlich seines metaphorischen Denkansatzes, noch bezüglich einer mehr als profanen Bedeutung der Architektur dar. Es handelt sich um Prämissen, die Honorius gemein hat mit einem der „spekulativ reichsten und zugleich provokativsten Geister des Mittelalters“,258 mit dem Abt aus Kalabrien, mit Joachim von Fiore. Zeugnis für den von seinen Zeitgenossen als provokativ empfundenen Gehalt seines Denkens legt insbesondere die vom vierten Laterankonzil ausgesprochene Verurteilung der als gegen die Trinitätslehre des Petrus Lombardus gewerteten Überlegungen Joachims ab.259 Der Verurteilung zum Trotz wurde Joachim 256  Spr IX,1-6, S. 637. 257  Honorius Augustodunensis: De animae exsilio et patria, alias, De artibus. PL 172, 1242 und 1246. 258  Patschovsky: Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore. S. 27. 259  Wohlmuth: Dekrete der ökumenischen Konzilien. S. 231-233. Patschovsky: Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore. S. 27-28. Grundmann: Neue Forschungen über Joachim von Fiore. S. 9.

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von Fiore keine damnatio memoriae zuteil. Stets war ihm auch mit großem Respekt begegnet worden. Dante Alighieri zum Beispiel nennt ihn im zwölften Gesang des Paradiso in einer Reihe mit den Gründern des Dominikaner- und Franziskanerordens, in einer Reihe auch mit Hugo von St. Viktor.260 Es wird nicht seine Intention gewesen sein, doch bewies Dante damit ein feines Gespür, Joachim zwischen die Ordensgründer und den Denker der mechanicae zu positionieren. Es ist etwa Joachims Dispositio novi ordinis pertinens ad tercium statum ad instar superne Jerusalem, sein Entwurf für die Verfassung eines Klosters, eines Ordens oder gar einer ganzen Gesellschaft,261 in der sich seine Überlegungen zu den Belangen der Baukunst finden (Abb. 13). Rasch droht man sich allerdings der Gefahr fehlerbehafteter Deutungen auszusetzen, will man in den Ausführungen des Mönchs nach mehr Ausschau halten, als nach einer deutlich über den metaphorischen Gebrauch der Baukunst hinausgehenden Verwendungsweise. Dem Symbolismus eines Honorius von Augustodunensis hierin ähnlich, der sachlichen Argumentation der aufziehenden Scholastik noch fern- womöglich gar entgegenstehend, scheinen die Überlegungen Joachims vornehmlich Gedankengebäude zu bleiben.262 Gedankengebäude jedoch, die ein Beispiel für die Bedeutung der Architektur im politischen Denken des Mittelalters geben. Es gilt abzuwägen, wie stark der metaphorische Gehalt dieses Denkens ist. Architektur ist bei Joachim verbunden mit einem ausgeprägten Symbolismus auf der einen und einem ebenso vertretenen organologischen Gemeinschaftsverständnis auf der anderen Seite. Die einzelnen Elemente des in Kreuzesform angeordneten Planes der Dispositio novi ordinis stehen für Bauwerke, Lebewesen wie Körperglieder gleichermaßen. Die sieben Oratorien repräsentieren Taube, Adler, Mensch, Löwe, Kalb, Hund und Schaf. Die sieben 260  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. XII,130-141, S. 314; Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 118. Herbert Grundmann etwa meint, dass Joachim „im Gedächtnis der Nachwelt in merkwürdig schwankendem Zwielicht“ gestanden habe (Grundmann: Neue Forschungen über Joachim von Fiore. S. 9). 261  Siehe zur Frage nach dem Bezugspunkt von Joachims Entwurf Riedl: Joachim von Fiore. S. 314-315. Ein Faksimile des Originals ist zu finden bei Tondelli/Reeves/Hirsch-Reich: Il libro delle figure dell’Abate Gioachino da Fiore. Tafel XII. Der lateinische Text bei Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 116-121. Eine deutsche Übersetzung bei Riedl: Joachim von Fiore. S. 309-314. 262  Patschovsky: Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore. S. 29. Ferdinand Seibt hingegen akzentuiert die in Joachims Klosterplan gemachten Längenangaben stärker und sieht hierin ein Indiz dafür, dass Joachim eine realistisch zu verstehende Gesamtanlage entworfen habe (Seibt: Utopica. S. 31). Auch Matthias Riedl sieht die Möglichkeit, dass Joachim für seinen Entwurf mehr als nur allegorische Bedeutung veranschlagte (Riedl: Joachim von Fiore. S. 314). Kurt Flasch nennt Joachims Vorgehensweise, verglichen mit dem sich im 13. Jahrhundert durchsetzenden Wissenschaftsbegriff, „eher methodenlos, visionär und ‚mystisch‘.“ (Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 293)

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Oratorien repräsentieren aber auch Nase, Auge, Ohr, Hand, Mund, Fuß und Leib.263 Beschrieben wird die gesamte Anlage zudem auch als bestehend aus Dörfern (vici), die den Sockel des Kreuzes bilden, aus Vororten (suburbia), die mit der Predalla identisch sind, und Städten (civitates), die das eigentliche Kreuz symbolisieren.264 Den Plan für die Dispositio novi ordinis hat Joachim schließlich damit überschrieben, dass sie dem himmlischen Jerusalem nachempfunden sei.265 Den Verweis auf Adler und Mensch, Löwe und Kalb, Sinnbilder der Evangelisten Johannes und Matthäus, Markus und Lukas, entnimmt Joachim der Offenbarung. Sie paraphrasiert er zu Beginn der Dispositio266 und sie bilden die vier Arme des Kreuzes. Hund und Schaf wiederum, der Fuß des Kreuzes, sind die altbekannten Repräsentanten der Herde der Gläubigen und ihrer Wachhunde.267 Über sie, die Evangelistensymbole und ihre Verortung im Plan für den novus ordo bringt Joachim die soziale Hierarchie zwischen den im Kreuz lebenden Mönchen und den in Sockel und Predalla wohnhaften Klerikern und Laien zum Ausdruck. Das monastische Lebensmodell ist als überlegen dargestellt auch durch die räumliche Distanz zu den Oratorien der 263  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 116-121. Riedl: Joachim von Fiore. S. 309-314. 264  Seibt: Utopica. S. 31. Krau: Utopie und Ideal – In Stadtutopie und Idealstadt. S. 77-78. 265  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 116. Riedl: Joachim von Fiore. S. 309. 266  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 116. Riedl: Joachim von Fiore. S. 309. Offb IV,6-7. 267  Patschovsky: Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore. S. 33. Joachim von Fiore bedient sich hier einer Spielart des im Christentum geläufigen Motivs vom guten Hirten, das in der Bibel beispielsweise in Psalm XXIII oder Joh X,1-30 gefunden werden kann. Die Wurzeln des Motivs gehen indes weit über das Christentum hinaus. Exemplarisch hierfür kann bereits bei Xenophon gelesen werden: „Es wird ein Wort von ihm überliefert, welches besagt, dass die Pflichten eines guten Hirten und eines guten Königs gleich seien. Der Hirte müsse die Tiere seiner Herde glücklich machen, um sie nutzen zu können, soweit man bei Schafen von Glück sprechen dürfe, und ebenso müsse der König seinen Städten und Menschen ein glückliches Leben bieten, um daraus Nutzen ziehen zu können.“ (Xenophon: Kyropädie. 8, II(14) S. 573-575) Doch schon zu Zeiten Xenophons war das Bild des guten Hirten altbekannt. Nachweisen lässt es sich bereits im Gilgamesch-Epos. Dort heißt es: „Er ist doch Hirte von Uruk, der Hürden(umhegten), / Gilgamesch, der König der zahllosen Menschen! / Er ist ihr Hirte und (er) ist ihr Hüter.“ (Maul (Hrsg.): Das GilgameschEpos. I,87-89, S. 49. Zur Metapher des Hirten im alten Orient beziehungsweise bei den Griechen und Römern siehe auch Suchan: Mahnen und Regieren. S. 26-33) Für die Übertragung der Rolle des Hirten auf das Gesetz siehe Stolleis: Das Auge des Gesetzes. S. 59. Ausführlich zu Geschichte und Spielarten der Metapher von Hirte und Herde Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. S. 29-165.

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Kleriker und Laien. Explizit gibt Joachim hier an, dass zwischen den Mönchen und den Klerikern „ein Abstand von drei Meilen sein [müsse]“ und zwischen Klerikern und Laien „ein Abstand von etwa drei Stadien sein [solle].“268 Die Taube schließlich, verbunden mit dem ersten, dem in der Kreuzesmitte gelegenen Oratorium, dem Thron Gottes aus der Offenbarung, ist als Symbol des Heiligen Geistes ebenfalls leicht identifizierbar.269 Ihre zentrale Position weist zudem hin auf die geschichtstheologische Einordnung des Plans. Joachim denkt ihn für das Dritte Reich, das auf das Zeitalter des Vaters und des Sohnes folgende Zeitalter des Heiligen Geistes.270 Also ein auf die Zukunft hin ausgerichteter Entwurf, kein für die Umsetzung in der Gegenwart gedachter.271 Grundelement für Joachims Geschichtstheologie ist die Prämisse, dass die drei göttlichen Personen der Trinität eine Entsprechung zu finden haben in einer Dreiteilung der Geschichte. Das Reich des Vaters, das erste Reich, ist das Reich des Alten Testaments. Das Reich des Sohnes, das zweite Reich, ist das Reich des Neuen Testaments. Das dritte Reich aber, das des Heiligen Geistes, stellt das tradierte christliche Geschichtsbild vor Probleme, da das Neue Testament mit der Apokalypse endet. Platz für ein weiteres Zeitalter ist somit nicht vorhanden. Joachims Geschichtstheologie allerdings ergänzt nun die Zeit, für die der Mensch auf Erden weilt um eine weitere Epoche.272 Das Zeitalter Christi sei demnach, wie Kurt Flach hervorhebt, „eine Epoche des Übergangs. […] [Es] bildet nicht die endgültige Form des christlichen Lebens vor dem Jüngsten Tag“, da sein Ende nicht mit dem Ende der Welt einhergeht, sondern eine neue Zeit einläute.273 In dieser würden die Menschen, dem monastischen Ideal nachempfunden, in Liebe verbunden frei von Gewalt und Egoismen leben.274 Ist das geschichtstheologische Fundament des Klosterplans als ein Hinweis darauf zu verstehen, dass man es mit einem als Utopie gedachten Plan zu tun 268  Zitiert nach: Riedl: Joachim von Fiore. S. 312-313. Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 119-120. Patschovsky: Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore. S. 33. Riedl: Joachim von Fiore. S. 317-318. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 122. 269  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 117. Riedl: Joachim von Fiore. S. 309. Patschovsky. S. 32. Offb IV,1-11. 270  Einführende Überblicke in Joachims Geschichtstheologie beispielsweise bei Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 118-122. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. S. 162-164. 271  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 121-122. Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 115 dagegen sieht den Plan an nicht als „zeitlos gültig oder endgültig gemeint […], sondern historisch-prophetisch.“ 272  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 119-120. 273  Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 294. 274  Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 294.

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hat? Die Antwort auf diese Frage ist zurückzustellen, bis auch die Symbolik von Kreuz und Körper behandelt wurde. Augenfällig der naheliegendste Ausdruck von Joachims Symbolismus innerhalb der Gestaltung der Dispositio ist die Kreuzesform. Als ein dominierendes Motiv christlicher Architektur ist sie vertraut.275 Jedoch ist Joachims Intention erst einmal nicht allein über die Vertrautheit der Form zu erklären. Vorrangig ist für ihn, mit dem Kreuz die Erinnerung an das Opfer Christi wachzuhalten und, verbunden mit dem Wort des Apostels, dass der Christ mit der Taufe mitgekreuzigt werde,276 eine hierarchische Ordnung innerhalb seines neuen Ordens zu etablieren. Die Wohnstatt jener, die sich Christus mehr hingegeben haben, sich in diesem Sinne selbst kreuzigten, steht dem eigentlichen Kreuze im Plan des Ordens näher, als die Wohnstätten in Sockel und Predella.277 Und noch eine weitere Bedeutung ist dem Kreuz eigen. Innerhalb der Anlage fehlt ein Kirchenbau. Doch ist dies lediglich ein vermeintliches Fehlen, da das Kreuz, für Joachim Bild des himmlischen Jerusalems, selbst der Kirchenbau ist. Ganz so, wie es in der Offenbarung steht.278 Die Gemeinschaft der im novus ordo Lebenden bildet, dem Aufruf im Brief des Apostel Petrus vergleichbar, aus sich selbst heraus ihr Gotteshaus.279 Wird das Christentum damit wieder zu einer ort- und architekturlosen Religion? Die Körpermetaphorik, die Bezugnahme auf Nase, Auge, Ohr, Hand, Mund, Fuß und Leib deutet auf ein Verständnis des novus ordo hin, das diesen vorrangig als organische Gemeinschaft begreift. Mithin eine Gemeinschaft, die sich eben nicht über ihren Wohnort oder ihre Baulichkeiten begreifen lässt. Joachim würde sich demnach den Vertretern eines organologischen Gemeinschaftsverständnisses zugesellen, das etwa vertreten wurde durch seinen Zeitgenossen Johannes von Salisbury.280 Eine solche Auslegung aber ist zu kurz gedacht. Joachim entwertet Architektur und Ortung des neuen Ordens nicht. Wie also sind die Bezüge auf sie zu verstehen? 275  Riedl: Joachim von Fiore. S. 315. Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. S. 196-200. Zu den Bauformen mittelalterlicher Sakralbauten etwa Reudenbach: Die Kunst des Mittelalters. S. 99-103. Niehr: Die Kunst des Mittelalters. S. 22-25. 276  Röm VI,3-4. Zur Gemeinde als Leib Christi siehe auch die Ausführungen bei Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. S. 89. Koschorke/Lüdemann/Frank/Matala de Mazza: Der fiktive Staat. S. 73. Käsemann: Leib und Leib Christi. S. 142. 277  Riedl: Joachim von Fiore. S. 316. 278  Offb XXI,22. Riedl: Joachim von Fiore. S. 316. Patschovsky: Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore. S. 32. Patschovsky spricht sogar von einer „Kirchenrevolution“, da nicht nur der Kirchenbau fehle, sondern auch die Amtskirche verschwunden sei (Patschovsky: Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore. S. 33-34). 279  1. Petr II,4-8. 280  Johannes von Salisbury: Policraticus. V,2-11, S. 163-167.

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Ortlos ist Joachims Entwurf nicht. Über „das Oratorium des heiligen Täufers Johannes und aller heiligen Propheten“, das den Sockel des Kreuzes darstellt, schreibt Joachim etwa, dass „sich außerhalb der Hofmauern ein Gästehaus befinden“ solle, dass es ferner „eigene Einkünfte aus Viehzucht und Ackerbau haben [werde], je nach Lage und Beschaffenheit der Heimat.“281 Seinen Entwurf will Joachim den lokalen Gegebenheiten also angepasst wissen. Dem Wortsinne nach utopisch ist er demnach nicht. Auch das von wenigen Ausnahmen abgesehene Fehlen konkreter Maßangaben ist noch kein Beleg dafür, dass Joachims Plan vorrangig bildhaft zu verstehen sei. Es war nicht seine Absicht, einen konkreten Bauplan vorzulegen. Ohnehin waren solche zu Joachims Zeit noch nicht verbreitet.282 Zugleich bleibt durch das Fehlen allzu konkreter Vorgaben die Option erhalten, den Entwurf auf die Gegebenheiten unterschiedlicher Örtlichkeiten anzupassen. Der Plan ist eben kein Plan nur für ein Kloster.283 Ebenso wenig wie der Entwurf ortlos ist, ist er architekturlos. Der organologische Gemeinschaftsgedanke ist nicht derart dominant, dass durch ihn die Architektur als konstitutives Element der Gemeinschaft ausgeschlossen würde. Dabei ist Joachims Rekurs auf das himmlische Jerusalem noch nicht, allenfalls bedingt, als Bezugnahme auf Architektur zu verstehen. Bereits in der Überschrift der Dispositio wie auch in der des Oratoriums der heiligen Gottesmutter ist die Himmelsstadt erwähnt.284 Auch seien, so Matthias Riedl, die in der Offenbarung genannten zwölf Tore Jerusalems im Klosterplan wiederzufinden. Hier wie dort seien je drei Tore gen Norden, Osten, Süden und Westen zu erkennen.285 Gewichtiger als diese sind hingegen gewiss die Nennungen konkreter Baulichkeiten im Plan für den novus ordo. Zuvorderst die sieben Oratorien selbst. Deutlicher noch wird Architektur betont 281  Zitiert nach Riedl: Joachim von Fiore. S. 313. 282  Hierzu zum Beispiel Popplow: Technik im Mittelalter. S. 39-40. Siebert: Einführung. S. 73. Erst ab dem 13. Jahrhundert nimmt die Verbreitung von Architekturzeichenungen zu (Schock-Werner: Zur Organisation von Bauhütten im Mittelalter und zum technischen Wandel im Baubetrieb um 1200. S. 120). Exakte Modellierungen sind der frühgotischen Zeichenkunst allerdings noch unbekannt (Hagendorf: Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt. S. 6-7). Das erste Baumodell neuzeitlicher Architekturgeschichte schuf Filippo Brunelleschi für die Kuppel des Florentiner Doms (Markschies: Brunelleschi. S. 57. McLean: Architektur der Frührenaissance in Florenz und Mittelitalien. S. 99-100). 283  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 87 und 95. Riedl: Joachim von Fiore. S. 314-315. 284  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 116-117. Riedl: Joachim von Fiore. S. 309. 285  Offb XXI,12-13. Die zwölf Tore seien laut Matthias Riedl: Joachim von Fiore. S. 317 allerdings nicht als „architektonische Anweisung zu werten.“

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etwa in der Schilderung des Oratorium sancti Johannis evangeliste et omnium sanctorum virginum. Hier ist die Rede von den nahe dem Kloster gelegenen Zellen der Mönche.286 Architektonische Elemente werden ferner auch in der Beschreibung des Oratorium sancti Johannis Baptiste et omnium prophetarum genannt. Dort ist, wie erwähnt, die Rede von einer Hofmauer, außerhalb derer sich ein Gästehaus befinde.287 Architektonische Elemente sind in der Disposito somit zwar vorhanden, doch weder sind es allzu viele, noch allzu aussagekräftige Erwähnungen.288 Steht die Architektur der organologischen Gemeinschaftsbegründung damit nach? Explizit bezieht Joachim zu dieser Frage nicht Position. Jedoch scheint eine Gewichtung von organologischer und architektonischer Begründung des novus ordo durch die anfängliche Nennung des Apostelworts, dem Gleichnis der vielen Glieder, die doch nur einen Leib bilden,289 wie auch das zuvor genannte Fehlen eines Kirchenbaus zu Ungunsten der Architektur möglich. Diese Deutung kann auch Joachims weiteres Schrifttum stützen. Dementsprechend argumentiert Joachim von Fiore etwa im Psalterium decem cordarum. Auch in ihm kommt der Abt auf das himmlische Jerusalem und seine Bewohner zu sprechen, führt Gassen, Vorstädte und Dörfer der Himmelsstadt an.290 Aber nicht sie sind es, die für die Bestimmung des himmlischen Jerusalems als Stadt maßgebend sind. Zum wiederholten Male begegnet die Unterscheidung von civitas und urbs in den Ausführungen mittelalterlicher Denker. Die Stadt (civitas) werde nicht durch ihre Verortung oder Baulichkeiten (urbs) bestimmt, sondern durch ihre Bürgerschaft (civitas).291 In diesem Sinne führt Joachim auch im Liber Concordiae Novi ac Veteris Testamenti aus, dass für die Zeit des dritten Reiches die Menschen nur noch corpus Christi seien und in dieser Gemeinschaft aufgingen.292

286  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 119. Riedl: Joachim von Fiore. S. 310. 287  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 120. Riedl: Joachim von Fiore. S. 313. 288  Die lediglich beiläufige erfolgende Erwähnung von Architektur ist möglicherweise damit zu erklären, dass es für Joachim eine nicht weiter der Begründung bedürfende Selbstverständlichkeit ist, dass ein Kloster ein auch baulich zu erfassender Ort ist. 289  1 Kor XII,12. Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 116. Riedl: Joachim von Fiore. S. 309. 290  Joachim von Fiore: Psalterium decem cordarum. II,8, S. 162. 291  Joachim von Fiore: Psalterium decem cordarum. II,8, S. 162. Hierzu auch Selge: Einleitung. S. CLXXXIV-CLXXXV. 292  Joachim von Fiore: Liber Concordiae Novi ac Veteris Testamenti. IV,31, S. 56. Riedl: Joachim von Fiore. S. 278.

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Die Vorrangstellung des organologischen Gemeinschaftsgedankens gegenüber der Architektur erfolgt dabei allerdings nicht aus einer Begründung heraus, die Architektur aufgrund ihres biblischen Herkommens missbilligt. Als erster Architekt spielt Kain keine Rolle. Zugleich spielt Kain nicht nur als Bauherr keine Rolle, auch als erster Begründer einer Gemeinschaft wird er nicht beachtet.293 Joachim entledigt sich auf diese Weise zweier Probleme: (I) Würde er Architektur als Grundlage der Gemeinschaft ausweisen, müsste er sich zu Kain positionieren. So meidet er diese Schwierigkeit und kann einen unverstellten Blick auf die Baukunst werfen. (II) Ein Rekurs auf Kain hätte ferner dazu genötigt, sich mit dem Brudermörder als erstem Begründer einer Gemeinschaft auseinanderzusetzen. Auch diesem Problem geht Joachim aus dem Weg. Dies aber nicht allein durch das Missachten Kains, sondern auch, weil weltliche Herrschaft überhaupt im Zeitalter des Heiligen Geistes nichtig werde.294 Damit ergibt sich für Joachim die Möglichkeit, Architektur, obwohl sie nicht mit dem Anfang eines Lebens in Gemeinschaft verbunden ist, mit dem Leben im dritten Reich zu verknüpfen. Architektur wird damit zu einem der die Freiheit fördernden Elemente. Freiheit von weltlicher Herrschaft und Freiheit ebenso von geistlicher Herrschaft, da nun die Gemeinschaft selbst Kirche ist, es keiner vermittelnden Instanz mehr bedarf.295 Architektur mag hierin ein nachgeordnetes Element sein, dennoch braucht es sie in der von Joachim gedachten Anordnung, um die Menschen in das dritte Zeitalter zu führen, sie möglicherweise noch im dritten Zeitalter anzuleiten.296 Eine einheitliche Linie zur Architektur und deren Stellung zur Politik ist in den Arbeiten der auf Hugo von St. Viktor folgenden Denker nicht erkennbar. Otto von Freising, Honorius von Augustodunensis und Joachim von Fiore stehen je exemplarisch für eine Art des Umgangs mit der Baukunst. Die Chronica sive historia de duabus civitatibus des Bischofs von Freising kann als Versuch der Nichtbeachtung, gar der Ablehnung der durch den Viktoriner angestoßenen neuen Wertung der Architektur und dem Festhalten an tradierten Positionen gelesen werden. Weiterhin ist Kain der erste Städtegründer, weiterhin ist vor allem das Urteil Augustins maßgebend und weiterhin wird 293  Geprägt ist Geschichte durch spirituelle Führer. Joachim ist Prophet einer monastischen Zeit (Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 121. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 293-294). 294  Riedl: Joachim von Fiore. S. 278. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 295. 295  Riedl: Joachim von Fiore. S. 316. Patschovsky: Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore. S. 31-32. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 294. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 120-122. 296  Grundmann: Neuere Forschungen über Joachim von Fiore. S. 115. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 121-122.

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Architektur deswegen vornehmlich als Ausdrucksform der civitas terrena angesehen. Honorius von Augustodunensis hingegen weist Architektur in seiner knappen Schrift De animae exsilio et patria eine deutlich andere Rolle zu. Unabdingbar gehört sie zu der die Erzählung des Textes stützenden Metaphorik. Unabdingbar ist sie gleichsam zu einem Bestandteil der freien Künste geworden und hierin auch politisch bedeutsam. Die Schilderung der einzelnen artes ist verbunden nicht allein mit einer architektonischen Metaphorik. Ihrerseits ist diese wiederum mit dem Feld der Politik entnommenen Metaphern verwoben. Über Kenntnis der Architektur zu verfügen ist nach Honorius zuletzt auch für den Weg in die civitas caelestis unabdingbar. Eine, wenn auch nicht vermittelnde Position, so doch eine Position, die sich der Mitte zwischen Otto von Freising und Honorius von Augustodunensis nähert, nahm schließlich Joachim von Fiore ein. Seine an Symbolen reichen Werke, allen voran die Dispositio novi ordinis pertinens ad tercium statum ad instar superne Jerusalem, zeichnet ein unvoreingenommener, die Architektur nicht wegen ihres in der Bibel erzählten Herkommens verurteilenden, Blick aus. Obzwar Architektur bei ihm der organologischen Begründung der Gemeinschaft nachgeordnet ist, ist sie in diesem zweiten Rang aber ein Element, Gemeinschaft zu ordnen. 1.3

Architektur im politischen Denken des 13. Jahrhunderts

Die durch das Didascalicon des Viktoriners einerseits und die ihm nachfolgenden Werke andererseits angestoßenen Veränderungen in der Wahrnehmung der Architektur und ihres Verhältnisses zur Politik fielen im 13. Jahrhundert auf fruchtbaren Boden. In den Arbeiten von Vinzenz von Beauvais, Brunetto Latini, Albertus Magnus und Thomas von Aquin wird man von Kain als dem Ahnherren der Architektur beispielsweise nur noch wenig hören. Und wenn, so wird sein Name leidenschaftslos genannt, ohne dass man mit seiner Person eine weitergehende Wertung verband. Man verabschiedet sich ferner von der Auffassung, den Architekten lediglich als Handwerker zu verstehen und wird die Verbindung von Politik und Architektur auf ein neues Fundament stellen. Zwei auffallende Parallelen zwischen den im Folgenden vorzustellenden Denkern sind überdies zu nennen. Drei der vier traten dem Ordo Praedicatorum, dem zu Beginn des Jahrhunderts durch Dominikus gegründeten Orden bei: Vinzenz von Beauvais, Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Die Genannten gehören damit zu einem Orden, der eine besondere Nähe zum

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urbanen Raum pflegte.297 Eine Nähe, die Jean-Claude Schmitt zu der These veranlasste, dass erst dann von einer Stadt gesprochen werden könne, wenn in ihr ein Konvent der Dominikaner oder genauer eines der Mendikantenordens vorhanden sei.298 Gleichwohl ist Schmitts These nicht mit einem Ausbleiben kritischer Stimmen auch aus den Reihen der Mendikantenorden gleichzusetzen. Zu vernehmen ist eine solche etwa aus dem Munde des Franziskaners Roger Bacon. Bei ihm begegnet die Architektur, wie die mechanicae in Gänze, als Synonym minderer Disziplinen. So schreibt er in seinem Compendium studii philosophiae, „dass die Juristen des weltlichen Zivilrechts, […] im Vergleich mit den Philosophen bloße Mechaniker sind, gegenüber diesen wie Tiere und unbeseelte Gegenstände sind, weil sie die Gründe und Ursachen für die Gesetze nicht kennen, die sie anwenden.“299 Es ist die traditionelle Haltung wonach die mechanicae den artes liberales untergeordnete, weil dem Erkennen nicht hilfreiche Disziplinen sind, die sich hier noch einmal Bahn bricht und in Bacons expliziter Erwähnung der Architektur Widerhall findet. Denn „[d]ie Baukunst zum Beispiel ist der mechanische Teil der Geometrie und kein Teil der Philosophie; […].“300 Fernab dieser Argumentation eint Vinzenz, Brunetto, Albert und Thomas ihre zumindest zeitweilige Verortung in Paris. Nicht nur gilt dies für die drei Dominikaner, sondern auch für Brunetto Latini. Die Stadt an der Seine ist im 13. Jahrhundert ein intellektuelles Zentrum Europas. Über sie schrieb etwa ein unbekannt gebliebener Autor, dass in ihr „schon seit Alters her die Liebe zur Weisheit (filosofia) ihren Königsthron aufgerichtet“ habe und man am Petit Pont den „Stammplatz der Dialektiker“ finde.301 Als Ort des Denkens ist Paris damit zugleich Ort, der das Denken über die Stadt, über Architektur und den Architekten zu beeinflussen, zu formen und zu verändern imstande ist. 1.3.1 Das Speculum Maius des Vinzenz von Beauvais Paris in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Soeben hat der Dominikaner Vinzenz von Beauvais sein monumentales Hauptwerk, das Speculum Maius vollendet, das rasch in den Rang einer der bedeutendsten Enzyklopädien des Mittelalters aufstieg. Die Schrift, die sich aus den drei specula Naturale, Doctrinale und 297  Noch stärker als für die Franziskaner gelte diese Nähe für die Dominikaner (Elm: Vorwort. S. 5). 298  „[…] toute localité possédant au moins un convent mendiant est considérée comme une ville.” (Schmitt: Où en est l’enquête „Ordres mendiants et urbanisation dans la France médiévale?” S. 13) 299  Bacon: Kompendium für das Studium der Philosophie. IV,61, S. 48. 300  Bacon: Kompendium für das Studium der Philosophie. IV,61, S. 47. 301  Zitiert nach Pauli: Einleitung. S. XXX-XXXI.

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Historale zusammensetzt – das Speculum Morale wertet die Forschung bereits seit dem 18. Jahrhundert als nicht von Vinzenz verfasst – umfasst neben ausführlichen historiographischen und naturkundlichen Ausführungen auch eine Reihe von auf die Architektur bezogenen Aussagen.302 Von der Baukunst handelt vornehmlich eine längere Kapitelsequenz des elften Buches im Speculum Doctrinale. In ihr befasst sich Vinzenz mit den Ursprüngen der Architektur, dem Architekten und den ihm nachgeordneten Handwerkern, der Planung von Gebäuden, ihren Bestandteilen wie auch ihrer Ausstattung, sowie unterschiedlichen Gebäudeformen: Wohnungs- und Festungsbauten sowie Städten.303 In Anbetracht der Entstehungsgeschichte des Speculum Maius drängt sich allerdings die Frage auf, welche Geltung den architektonischen Aussagen des Vinzenz von Beauvais zukommt. Ursprünglich als lediglich zweiteilige Arbeit geplant, bestehend aus Speculum Historale und Speculum Naturale, wurde das Speculum Doctrinale erst nachträglich von Vinzenz in das Speculum Maius eingearbeitet.304 Ist auch die Architektur in Vinzenz’ Denken somit nur als nachträgliche Ergänzung zu verstehen und von zu vernachlässigender Bedeutung? Das Gegenteil ist der Fall. Trotz der späteren Einarbeitung in den Korpus des Speculum Maius kommt der Architektur gerade für das politische Denken bei Vinzenz von Beauvais eine eminente Bedeutung zu. Den von Hugo von St. Viktor fallengelassenen Faden greift Vinzenz auf und führt die Erzählung dort fort, wo sie der Viktoriner beendet hatte. Nicht Kain, nicht die durch den Brudermord mit einem Makel versehene Architektur ist das Thema seiner Geschichte. Wie Hugo leitet auch Vinzenz die Herkunft der Architektur auf die mythologische Gestalt des Dädalus ab, dem seine Kenntnisse von Minerva vermittelt worden seien.305 Doch trennt Vinzenz den Faden damit wieder ab 302  Maßgebend für die Feststellung, dass es sich beim Speculum Morale nicht um einen Text des Vinzenz von Beauvais handeln kann, sind nach wie vor die Forschungsergebnisse von Jacques Erhard. Siehe zu seiner Untersuchung Sancti Thomae Summa suo auctori vindicata, sive de V. F. Vincentii Bellovacensis scriptis dissertatio Weigand: Vinzenz von Beauvais. S. 8-10 und 20. Gabriel: Vinzenz von Beauvais. S. 20. Für seine Schilderungen der Architektur stützt sich Vinzenz besonders auf den antiken Architekturtraktat des Römers Vitruv sowie die frühmittelalterlichen Etymologien des Isidor von Sevilla. Zum Einfluss von Isidor und Vitruv auf Vinzenz beziehungsweise dessen Abweichungen von den beiden genannten vgl. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 189-219 für Vitruv, S. 272-281 für Isidor. 303  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. Doc. XI,13-32, Sp. 1001-1013. 304  Weigand: Vinzenz von Beauvais. S. 20-21. 305  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,16, Sp. 1003. Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 766. Im Speculum historale

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oder spinnt er ihn weiter? Und falls er ihn fortführt, in welche Richtung entwickelt sich die Erzählung? Der Dominikaner entscheidet sich für die zweite Möglichkeit. Überraschenderweise lässt Vinzenz dabei auch die Person des Kain in seiner Geschichte nicht unerwähnt. Er führt sie in Kapitel 25 des elften Buches nicht als Nebenfigur, sondern als zentrale Gestalt ein. Ihr Erscheinen dient ihm als Ansatzpunkt für eine nähere Auseinandersetzung mit dem Phänomen Stadt im weiteren Verlauf des Speculum Maius. Begrifflich wird die Stadt unterteilt in ihre bauliche Ausformung (urbs) und ihre Einwohnerschaft (civitas). Während urbs die Mauern bezeichne, benenne civitas nicht die Steine, sondern die Einwohnerschaft der Stadt.306 Wenn in Buch 11 Kapitel 25 daher Kain und nicht Dädalus als erster Städtegründer benannt wird, so bezieht sich Vinzenz bei der Gründung Henochs durch Kain auf die civitas, nicht aber auf die urbs.307 Nicht der architektonische Teil von Henoch, sondern ihre politische Komponente soll mit Kain assoziiert werden. Die bis auf Augustinus zurückgehende, lange währende Einheit von Politik und Architektur kündigt Vinzenz mit dieser Unterscheidung auf und trennt die blutige Ursprungsgeschichte der Politik von den Anfängen der Architektur ab. Nur die Politik hat sich mit dem Stigma ihrer Vergangenheit zu befassen. Hingegen wird die Baukunst unvoreingenommen betrachtet. Der solchermaßen freigeräumte Blick auf die Architektur ermöglicht es Vinzenz nun, die Vertreter dieser Disziplin beträchtlich aufzuwerten und den Berufstand der Architekten vom Handwerker abzusondern. Schon die Gliederung des Doctrinale zeigt die gegenüber den Architekten nachgeordnete Stellung der Handwerker. Werden die erstgenannten mitsamt ihrem Instrumentarium dem Leser bereits im sechzehnten Kapitel des elften Buches von Vinzenz präsentiert, folgen die Handwerker und ihre Werkzeuge erst zehn Kapitel später, gegen Ende der Abhandlung der Architektur im Speculum Maius.308 übernimmt Vinzenz ferner Hugos Bestimmung der Mechanica. Auch der Dominikaner nennt die im Didascalicon aufgeführten sieben Disziplinen als Bestandteile der Mechanik: Lanificium, Armatura, der er die Architektur zurechnet, Agricultura, Venatio, Medicina, Theatrica und Navigatio (Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. Hist. I,44, Sp. 21-22. Vgl. auch Weigand: Vinzenz von Beauvais. S. 35-36. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 268). 306  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,25, Sp. 1009. 307  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,25, Sp. 1009. 308  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,16, Sp. 1003 und XI,26, Sp. 1009-1010. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 289.

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Um eine willkürliche Reihung des Dominikaners handelt es sich hierbei nicht, sondern um eine Differenzierung, die begründet wird durch den unterschiedlichen Bildungsgrad der Vertreter der jeweiligen Profession.309 Vinzenz führt diesen Aspekt am Beginn seiner Ausführungen zur Architektur an, gleich nach der disziplinären Einordnung der Baukunst innerhalb der Mechanica. Dabei übernimmt er die aus dem Didascalicon vertraute Terminologie des Hugo von St. Viktor und ordnet die Architektur der armatura zu. Doch wo sich diese beim Viktoriner noch aus einer Vielzahl von Subdisziplinen zusammensetzt310, reduziert Vinzenz die armatura auf nur noch zwei Bereiche: Schmiedekunst ( fabrilis) und Architektur (architectoria).311 Mit der Ausrichtung auf lediglich noch zwei Disziplinen innerhalb der armatura wird der Architektur eine wiederum größere Bedeutung eingeräumt, als bei Hugo von St. Viktor. Hierauf folgt nun eine erste nähere Wesensbestimmung der Baukunst, die, wie Vinzenz dem Didascalicon aber auch dem ersten Buch von Vitruvs De architectura libri decem, auf das er explizit verweist, entnehmen konnte, ihrerseits eine aus zahlreichen Disziplinen bestehende Wissenschaft sei. Zu ihrer Beherrschung gehören Kenntnisse der Geometrie, Arithmetik, Musik, Astrologie und Philosophie.312 Ein nicht allzu fernes Spiegelbild der artes liberales ist im geforderten Kenntnisstand des Baumeisters zu erkennen. Die Disziplinen des Quadriviums werden von Vinzenz aufgezählt, das Trivium, wenn auch verklausuliert, über die Philosophie abgebildet. Als leicht distanziert erweist sich das Bild der artes liberales indes insofern, als umfassende Kenntnisse der Philosophie vom Architekten nicht gefordert werden, die Philosophie auf die Kenntnis hygienisch-medizinischer Zusammenhänge beschränkt wird, die besonders in den weiteren Übernahmen aus dem Werk Vitruvs mit den durch die Humorallehre beeinflussten Überlegungen zum Städtebau zusammenhängen.313 Ganz im Sinne Vitruvs wird der Architekt zu einem gebildeten Mann, der die Aufsicht über das Bauvorhaben führt und den Bauplan entwirft. Durch Denkvermögen (cogitatio) und Erfindungsgabe (inventio) wird er hierzu 309  Siehe hierzu Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 290-291. 310  Zur armatura Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 760-761. 311  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,13, Sp. 1001. 312  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Sepc. doc. XI,13, Sp. 1001. Vgl. die Ausführungen Vitruvs zur Ausbildung des Architekten in Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. I,1, S. 22-37. 313  Anders als Vitruv fordert Vinzenz vom Architekten demnach keine umfassende Bildung in der Philosophie. Ferner fehlen etwa auch Kenntnisse aus den Bereichen der Jurisprudenz oder der Geschichtswissenschaft im Bildungskanon bei Vinzenz von Beauvais. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 220. Diese fordert der Römer ein in Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. I,1,5-6, S. 25-27 und I,1,10, S. 31.

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in die Lage versetzt und damit abermals vom gemeinen, lediglich ausführende Tätigkeiten wahrnehmenden Handwerker geschieden.314 Neben ihren originär auf bauliche Belange ausgerichteten Aufgaben315 werden zu den Angelegenheiten der Architekten von Vinzenz implizit auch zwei weitere Aspekte gezählt: Sorge dafür zu tragen, den aus dem Sündenfall resultierenden Übeln zu begegnen, und an der Herstellung der Harmonie von Leib und Seele mitzuwirken. Die Architektur dient demnach der Abhilfe menschlicher Missstände, die das Menschengeschlecht seit seiner Vertreibung aus dem Paradies plagen. Ignorantia, concupiscentia und die infirmitas corporis werden von Vinzenz in diesem Zusammenhang aufgeführt.316 Obwohl die Architektur der Unwissenheit und der Begierde, den beiden erstgenannten mala, in Vinzenz’ Verständnis nichts entgegenzustellen weiß, ist dies nicht gleichbedeutend mit einer generellen Bedeutungslosigkeit menschlicher Bautätigkeit. Nicht zu unterschätzen ist ihre Wirkung auf das dritte genannte Übel, die Schwäche des Körpers. Ihr wie auch den anderen Übeln werden drei Heilmittel entgegengestellt: Sapientia, Virtus und Necessitas. Weisheit, Tugend und jene Belange, ohne die das Leben nicht möglich wäre (Necessitas est sine qua vivere non possumus).317 Bei ihr, bei der Necessitas, wird nun auch die Architektur beziehungsweise der übergeordnete Kanon der Mechanica von Vinzenz benannt. Hierzu greift er auf das im Didascalicon des Hugo von St. Viktor aufgeführte Argument zurück, dass die Mechanica eine der Notwendigkeit geschuldete Erfindung sei.318 Architektur wird folglich für den Bezug der für die physische Existenz erforderlichen Necessitates als unverzichtbar ausgewiesen.319 Die Qualität eines urbanen Lebens – das hier im Sinne der zuvor gezeigten Unterscheidung von urbs und civitas bei Vinzenz als Bestandteil der Ersteren zu verstehen ist – kann der durch Kain befleckten civitas-Natur menschlicher Gemeinschaften entgegenwirken und den sich im postlapsarischen Zustand befindlichen Menschen einen Weg zum Seelenheil eröffnen. Die Stadt, in der Bipolarität von civitas und urbs zunächst in zwei Phänomene getrennt, führt Vinzenz letztlich wieder 314  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,14, Sp. 1002. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 223. 315   Planung, Errichtung und Ausschmückung von Gebäuden werden hierfür genannt. Vinzenz von Beauvais: Speculum maius quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,17-19, Sp. 1003-1005. 316  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. I,9, Sp. 9. 317  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. I,9, Sp. 10. 318  Vgl. Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. I,9, Sp. 10 mit Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 809. 319  Weigand: Vinzenz von Beauvais. S. 35-36.

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zu einer Einheit zusammen. Obgleich von ihrem geschichtlichen Herkommen nicht entbunden, ist der politische Pol der Stadt, vermittelt durch das Medium der Architektur, damit auch bei Vinzenz von Beauvais nicht unwiderruflich durch das Kainsmal beschmutzt. Beteiligt ist Architektur bei Vinzenz an der Herstellung der notwendigen Harmonie von Leib und Seele. Sich auf die Ausführungen Ibn Sīnās beziehend, werden beide als einander bedingend benannt.320 Die gegenseitige Abhängigkeit von körperlicher und seelischer Gesundheit bedeutet im Umkehrschluss damit auch, dass der Körper, über ihn die Mechanik und folglich auch die Architektur, für das Seelenheil als relevant anzusehen sind. Ferner wird durch die Einheit von körperlicher und seelischer Gesundheit die veränderte Wahrnehmung von Körperlichkeit ersichtlich. Sie steht der Seele nicht mehr entgegen und sie gilt es nicht mehr zu überwinden. Sie ist unabdingbarer Bestandteil der Necessitas menschlichen Seins geworden. In diesen Zusammenhang fügen sich in Vinzenz’ Argumentation auch die städtebaulichen Erwägungen Vitruvs ein. Durch die Wahl des geeigneten und den Ausschluss des ungeeigneten Bauplatzes ermöglicht es der Architekt, dem Gemeinwesen den biologischen Beschränkungen seiner Angehörigen zu begegnen. Trifft er die falschen Entscheidungen, bürdet er der Gemeinschaft von Beginn an einen schweren Stand auf. Intensiven Gebrauch für seine Ausführungen macht der Dominikaner von den Büchern I und VI von De architectura libri decem. Ihnen konnte er den Zusammenhang zwischen menschlicher Physis, klimatischen Bedingungen und Städtebau entnehmen, so dass auch Vinzenz dem vitruvianischen Dreischritt von der anfänglichen Wahl des geeigneten Bauplatzes, der Befestigung des Areals hin zur Anlage der Straßenzüge folgt.321 Unter anderem umfasst der Katalog zu beachtende Kriterien bei der Wahl des Bauplatzes das Meiden von nebligen wie auch von heißen und kalten Gebieten. Ebenso sei auch die Nachbarschaft von Sumpfgebieten der Gesundheit nicht förderlich. Aufgesucht werden sollten hingegen

320  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XII,31, Sp. 1092. Gabriel: Vinzenz von Beauvais. S. 41. 321  Die drei bei der Gründung einer Stadt zu bedenkenden Aspekte (Wahl des Bauplatzes, Befestigung des Areals und Errichtung des Straßennetzes unter Berücksichtigung der Winde) werden bei Vinzenz von Beauvais allerdings nicht gebündelt in einem Kapitel behandelt. Die beiden erstgenannten Aspekte thematisiert der Dominikaner in Spec. doc. XI,21, Sp. 1007, während die mit dem städtischen Wegenetz verbundenen hygienischen Überlegungen bereits in Spec. doc. XI,13, Sp. 1001 angerissen werden.

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klimatisch gemäßigte Zonen, fruchtbare Gegenden mit Zugang zu sauberem Wasser.322 Obwohl sich Vinzenz von Beauvais wie sein Ordensbruder Thomas von Aquin auf die Ausführungen Vitruvs stützt, unterscheidet er sich in einem Punkt frappierend von der Auslegung des Aquinaten. Hängt Thomas, wie noch darzustellen ist, einem von Frugalität und Homogenität dominierten Denken an, das Handel und Kommerz mit großem Misstrauen begegnet, steht ihnen Vinzenz nicht nur neutral gegenüber, sondern begrüßt die Möglichkeit des Warenverkehrs sogar. Für den Transport von Gütern günstige Wegverhältnisse, seien diese auf dem Land, auf Flüssen oder über das Meer, werden von Vinzenz als zu erwägende Kriterien bei der Auswahl des Baugrundes benannt. Aufgrund der Berücksichtigung der aristotelischen Lehren, hatte Thomas hingegen dem bei Vinzenz fehlenden Gedanken der Autarkie ein ungleich größeres Gewicht beigemessen und den Handel darüber hinaus als der Tugend der Bürger abträglich disqualifiziert.323 Von solchen Überlegungen unbeeindruckt, folgt bei Vinzenz die Sicherung des Geländes unmittelbar auf die Wahl des Bauplatzes. Als zweite Kernaufgabe des Architekten bei der Gründung eines Gemeinwesens speist sich die Sorge um die Sicherheit nicht allein aus der Rezeption Vitruvs, sondern auch aus der Feststellung, dass die ersten Menschen nackt und waffenlos waren, ihnen Schutz vor den Einflüssen der Natur, nicht minder aber auch vor den Angriffen ihrer Mitmenschen fehlte.324 Die Errichtung der Befestigungsanlagen als erste Bauaufgabe muss in Vinzenz’ Systematik daher den Necessitates zugerechnet werden, mit deren Hilfe die postlapsarischen mala niedergehalten werden. Es gelte daher die Tiefe der zu errichtenden Mauern, die Abstände zwischen den Türmen und die Ausrichtung der Tore zu berücksichtigen, um die Stadt effektiv verteidigen zu können. Aber auch der Überwachung des umliegenden Territoriums, die mittels einer geschwungenen, gegenüber eine geraden Stadtmauer besser gelingt, da der Feind so von mehreren Stellen erblickt werden könne, wird im Doctrinale benannt.325 Obwohl die der Architektur gewidmeten Passagen im Speculum Maius, berücksichtigt man den gesamten Werkumfang, von nahezu verschwindend 322  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,21, Sp. 1007. 323  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,21, Sp. 1007. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 67-69. 324  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,25, Sp. 1009. 325  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,21, Sp. 1007.

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geringen Ausmaßen sind und überdies erst nachträglich dem Werk beigefügt wurden, ist ihre Aussagekraft für das Verständnis von Vinzenz’ politischem Denken doch nicht zu unterschätzen. Durch den Bezug auf die Ausführungen des antiken Architekturtheoretikers Vitruv auf der einen Seite und die Vorarbeiten des Hugo von St. Viktor auf der anderen, führt Vinzenz die Diskussion um die Bewertung der Architektur konsequent fort und ergänzt die Debatte dabei um neu entwickelte Argumente. Die Architektur wird, befreit von ihrem biblischen Herkommen, als Mittel geschildert, mit dessen Hilfe dem Menschen die ihm seit dem Sündenfall aufgebürdeten Lasten wenn nicht genommen, dann doch so weit erleichtert werden, dass ihm der Weg zum Seelenheil offen steht. Als Gründer des Gemeinwesens, geradezu als Schöpfer einer neuen Welt, rückt der Architekt damit in eine hervorgehobene Stellung. Er steht über dem Politiker gleichwie über den gemeinen Vertretern der artes mechanicae, von denen er sich durch seine Bildung unterscheidet, die ihn von der Mechanik trennt, hingegen an die artes liberales annähert. 1.3.2 Baukunst bei Brunetto Latini Zwei Jahre nach dem Tode des Vinzenz von Beauvais vollendet ein zweiter Enzyklopädiker des Mittelalters seine Arbeit. Im Pariser Exil verfasste der gebürtige Florentiner Brunetto Latini 1266 sein Werk Li Livres dou Trésor.326 Ihn ebenso wie sein Werk verewigte ein anderer Florentiner Exilant, sein Schüler Dante Alighieri. Im fünfzehnten Gesang des Inferno begegnen sich Dante und Brunetto inmitten der Sodomiten. Hier im dritten Ring des siebten Höllenkreises entspinnt sich ein längerer Austausch der beiden, ehe Brunetto zum Abschied die Worte an seinen einstigen Schüler richtet: „Es sei dir mein Tesoro noch empfohlen, / In dem ich weiterlebe; dies genügt mir.“327 Beigegeben ist dem so empfohlenen Trésor ein Anfang, dessen Metaphorik der Architektur kaum ferner sein könnte. Anwendung finden im ersten Kapitel des ersten von drei Büchern etwa die Bilder der Quelle und des Baumes der Weisheit.328 Mit Quelle und Baum werden beim Leser Naturbilder erzeugt, die eine Würdigung der Architektur im Trésor intuitiv unwahrscheinlich erscheinen lassen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Bedeutung, die Brunetto der anfänglichen 326  Zur Frage, ob man im Mittelalter berechtigterweise die Existenz von Enzyklopädien unterstellen darf vgl. ablehnend etwa Dierse: Enzyklopädie. S. 2-4. Zustimmend dagegen Meier: Cosmos politicos. S. 315-321. Neumeister: Eine Enzyklopädie zwischen Wissen und Weisheit: Brunetto Latinis Tresor (1260). S. 184. 327  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. XV,119-120, S. 61. Zu Dantes Lehrern siehe etwa Azzaro: Politik und Religion bei Dante. S. 33-35. 328  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,1,1-7, S. 17-18. Meier: Cosmos politicus. S. 331. Luff: Wissensvermittlung im europäischen Mittelalter. S. 272-273.

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Metaphorik seines Textes beimisst. Er selbst weist darauf hin, dass dem Beginn eines Werks besondere Bedeutung zukomme und wiederholt diesen eingangs gegebenen Hinweis abermals im dritten Teil des Trésor, wenn er den Prolog als Herren und Prinzen tituliert.329 Der Trésor, verstanden als Wissensschatz und metaphorisch zunächst auch dementsprechend präsentiert, macht demnach nicht Materielles und auch nicht die Architektur zur Grundlage des Gemeinwesens.330 Seinen Anfang nimmt es als Schöpfung eines Rhetors, durch dessen Wissen der Gründungsakt vollzogen werden könne.331 Ihm, dem Gründer und Bewahrer der Gemeinschaft, ist der Trésor als Kompilation des Wissens zugedacht.332 Der Architektur bleibt damit nur der zweite, nachgeordnete Rang übrig, wenn Brunetto die „Politik mit dem Wort“ von der „Politik mit der Tat“ unterscheidet.333 Dies sollte jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass Brunetto die Architektur geringgeschätzt habe. Das Gegenteil ist der Fall. Als Bestandteil der „Politik mit der Tat“ gehört die Baukunst der edelsten Kunst (la plus haute science) an, und muss sich allein der Rhetorik beugen.334 Daneben wird auch der architekturferne Beginn im Verlauf des Werks um eine architektonische Metaphorik erweitert. Das zweite Buch des Trésor setzt mit Brunettos Bekunden ein, sein Gebäude nun auf dem Buch des Aristoteles zu errichten.335 In der Struktur des Werkes ist damit der Übergang von der theoretischen Philosophie des ersten Buches hin zur praktischen Philosophie, der Ethik, Ökonomik und Politik des zweiten und dritten Buches bezeichnet.336 Inhalt und einleitende Metaphorik des Trésor liegen gleichwohl über Kreuz. In Anbetracht der gebrauchten Motive zu Beginn des ersten und zweiten Buches wäre eine Behandlung der Baukunst im Segment der praktischen Philosophie 329  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,1,6, S. 18 und III,17,1, S. 335. Meier: Cosmos politicus. S. 323-324. 330  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,1,1, S. 17. Zur Metapher des Schatzes vgl. Meier: Cosmos politicus. S. 325-326. Luff: Wissensvermittlung im europäischen Mittelalter. S. 274-277. Neumeister: Eine Enzyklopädie zwischen Wissen und Weisheit: Brunetto Latinis Tresor (1260). S. 185-188. 331   Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. III,1,7-8, S. 318. Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 79. 332  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,1,1, S. 17. Meier: Cosmos politicus. S. 325-326. 333  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,4,5, S. 21. Meier: Cosmos politicus. S. 345. 334  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,1,4, S. 17 und I,4,5, S. 21. Meier: Cosmos politicus. S. 330 und 345. 335  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. II,1,4, S. 175. Mit dem Buch des Aristoteles gemeint ist die Nikomachische Ethik (Meier: Cosmos politicus. S. 350. Vorsichtig hierzu auch Meier: Mensch und Bürger. S. 13). 336  Meier: Cosmos politicus. S. 348-350.

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zu erwarten gewesen. Doch Einzug in den Trésor hält die Architektur bereits in dem metaphorisch architekturfernen ersten Buch. Die Baukunst wird damit in das Umfeld der dort ebenfalls behandelten Disziplinen, der Theologie, Geschichte, Geographie und Zoologie gerückt.337 Als vollständig von der praktischen Philosophie getrennt sollte die Architektur dennoch nicht angesehen werden. Die von Brunetto unter Überschriften wie etwa comment on doit maisonner et en quel lieu in Kapitel 126 oder comment on doit faire cisternes in Kapitel 128 des ersten Buches behandelten architektonischen Aspekte werden, wie Stefan Schuler herausstellt, durch die regelmäßige Verwendung der Formel on doit faire in einen normativen Kontext eingebunden.338 Der immaterielle Wert rechten Handelns wird somit der materiellen Welt, konkret der Architektur, angefügt. Hierarchisch aber bleibe die Architektur dem ethischen Überbau immer untergeordnet.339 Die ethische Bedeutung der Architektur greift Brunetto wiederum im Kapitel über die Frage, wie man sein Haus ausschmücken soll, auf. Hier geht es ihm nicht allein um die ansprechende Gestaltung des Hauses und dessen Umfelds, beispielsweise durch die Pflanzung von Bäumen oder ähnlichem, sondern vorrangig darum, die Analogie von Haus- und Staatswesen zu demonstrieren.340 Das Staatswesen wird von Brunetto als Haus im Großen präsentiert.341 Wie die Architektur dem Hausherrn stets sowohl den Überblick über sein Heim als auch ein ehrenhaftes Leben ermöglichen solle, so gelte gleiches auch für den Herrn eines Gemeinwesens.342 Die in diesem Gleichnis anklingende Geltung des aktiven Blicks des Herrschers ist jedoch noch nicht als Fürsprache für den kontrollierenden Blick späterer Jahrhunderte zu verstehen. Er ist hierin angelegt, aber noch nicht verwirklicht. Das Sehen wie das Bewusstsein gesehen zu werden ist bei Brunetto Latini noch nicht unter die Vorgabe panoptischer Kontrolle gestellt, wie dies im Architekturtraktat des Leon Battista Alberti, im Principe Niccolò Machiavellis oder in Giorgio Vasaris Verbindungskorridor zwischen dem Palazzo Vecchio, den Uffizien und dem Palazzo Pitti der Fall 337  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 300-301. 338  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,126, S. 123 und I,128, S. 125. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 302. 339  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 304-305. 340  Zur Ausschmückung des Anwesens Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,129,6, S. 126. 341  Dass Brunetto mit der Politik des Aristoteles noch nicht vertraut war, zeigt sich auch in dieser Passage seines Werks, beziehungsweise der dort fehlenden Stellungnahme zu Aristoteles’ Aussage, dass die Polis zusammengesetzt sei aus mehreren Dörfern, die ihrerseits aus einer Vielzahl von Häusern bestehen, weswegen der Polis eine andere Qualität als dem Haus zukommen müsse (Aristoteles: Politik. I,2, 1252b, S. 77 siehe hierzu auch Aristoteles’ Platon-Kritik in ebd. II,2, 1261a, S. 108). 342  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,129,5, S. 126. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 306.

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sein wird.343 Vielmehr dient der Akt des Sehens Brunetto der Wahrnehmung von Missständen und, damit verbunden, moralischer Läuterung, durch einen introspektiven Blick, der vom nach außen gerichteten überwachenden Auge zu unterscheiden ist.344 Die Architektur hat sich demnach einerseits an den Vorgaben der Ethik auszurichten, ordnet sich andererseits aber auch den Anforderungen der Politik, vertreten durch das Oberhaupt des Gemeinwesens, unter. Dass hierin kein Widerspruch formuliert wird, dass Politik und Ethik nicht als Gegensätze 343  Vgl. zum kontrollierenden Blick bei Leon Battista Alberti die Ausführungen in seinem Architekturtraktat. Aus den Werken Senecas übernimmt Alberti die folgende Ansicht: „Den Palast [eines Fürsten] wird ein Turm überragen, wodurch die Bewegung jedes einzelnen sofort umso sicherer bemerkt wird.“ (Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,3, S. 227) Nicht nur für den Fürsten, auch für den Tyrannen gilt die Notwendigkeit, über das Geschehen um und in seinem Haus informiert zu sein. Daher formuliert Alberti: „Eins will ich hier nicht übergehen. Es sind nämlich für den Tyrannen geheime und innerhalb der Mauerdicke verborgene Lauschröhren sehr vorteilhaft, durch welche sie verstohlen erfahren, was die Gäste oder die Vertrauten untereinander reden.“ (Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,3, S. 228) Wenn auch im zweiten Beispiel nicht von visueller, sondern auditiver Wahrnehmung die Rede ist, so ist die zugrundeliegende Intention doch von vergleichbarer Art. Bei Niccolò Machiavelli begegnet das Konzept des überwachenden Blicks des Herrschers im Bild des Berges im Widmungskapitel des Principe. Der erhöhte Aussichtspunkt dient dem Fürsten der Kontrolle seines Territoriums und seiner Untertanen. Furcht vor dem allsehenden Fürsten und dessen Strafgewalt soll mit diesem Bild erzeugt werden (Machiavelli: Il Principe. Widmung, S. 7. Die Beherrschung des Raums als Bestandteil des politischen Denkens von Niccolò Machiavelli thematisierte: Saracino: Die Republik und das Meer. S. 157-159). Giorgio Vasari setzt die theoretischen beziehungsweise metaphorischen Überlegungen Albertis respektive Machiavellis im Vasarianischen Korridor in die Tat um. Hoch oben, über den Straßen der Stadt, signalisiert er durch seine Fenster den Florentinern, dass sie jederzeit den Blicken ihrer Herrscher ausgesetzt waren (Markschies: Brunelleschi. S. 77). Zur Übertragung des kontrollierenden Blicks des Herrschers auf das Auge des Gesetzes siehe Stolleis: Das Auge des Gesetzes. S. 7-37. Zum Ansatz, durch die Furcht vor den Blicken Anderer die Menschen gefügig zu machen, Sofsky: Verteidigung des Privaten. S. 27. Grundlegend hierzu die Überlegungen Michel Foucaults zu Jeremy Benthams Panopticon in Foucault: Überwachen und Strafen. S. 256-263. 344  Hierin ähnelt Brunetto Latinis Verständnis des Sehens dem seines Zeitgenossen Gilbert von Tournai, der in der Eruditio regum et principum schreibt: „Und damit wir mehr Mitleid aufbringen für das zugrunde gehende Laienvolk und lernen, dem Herrn als Befreier dankbarer zu sein, schärfte ein jeder nach Können das geistliche Auge seines Intellekts, und, nach Transzendieren der Sinne und des sinnlich Fassbaren über sich hinaus gleichsam in reinere Luft und auf erhöhtem Gipfel erhoben, wird er das unter ihm liegende Universum erkennen als durch Irrtümer verwildert und von schlechten Sitten verdunkelt.“ (Gilbert von Tournai: Belehrung der Könige und Fürsten. S. 355-357) Hiermit vergleichbar ist auch Petrarcas Erleben auf dem Gipfel des Mont Ventoux. Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux. S. 23-25.

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angesehen werden, erklärt sich aus der Herrschaftslehre Brunettos und der Adressierung der Schrift. Der Trésor ist gerichtet an den künftigen Podestà, den Herrn einer Kommune.345 Architektur ist bei Brunetto somit Instrument eines Herrschers, dessen Herrschaftsform als die beste unter allen ausgewiesen wird.346 Vor Augen hat Brunetto, schreibt er über die Kommune als beste Herrschaftsform, dabei die italienischen Kommunen seiner Zeit.347 Die Orientierung an realen Formen städtischer Herrschaft auf der Apennin-Halbinsel führt bei Brunetto aber nicht zu einer größeren Gewichtung architektonischer Elemente in der Bestimmung, was eine Stadt (cité), was eine Kommune ausmacht. Der Begründung des Gemeinwesens auf dem Fundament der Rhetorik bleibt Brunetto auch in der Konsequenz treu, dass das Phänomen der Stadt vor allem als Interaktionsraum der Menschen zu erfassen sei und nicht über seine Baulichkeiten. Das Miteinander-Reden, noch mehr aber das Miteinander selbst ist für Brunetto das ausschlaggebende Charakteristikum der Stadt. Er spricht von der Liebe als essentiellem Bestandteil guter Herrschaft und der Gemeinschaft der Menschen, die unter einem Gesetz lebend, die Stadt definieren.348 Die Eintracht unter den Menschen zu bewahren und die Gefahr von Bürgerkriegen zu bannen, hat daher das oberste Ansinnen des Podestà zu sein.349 Zwar ist diese Aufgabe eine primär durch die Rhetorik zu lösende, dennoch übt die Architektur auf sie indirekt einen unterstützenden Einfluss aus.350 Der Möglichkeit von Unruhen im Inneren begegnet der Mensch auch mit den 345  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 308. Meier: Cosmos politicus. S. 337. Meier: Mensch und Bürger. S. 13. 346  Neben der kommunalen Herrschaft nennt Brunetto die Herrschaft der Könige und der Guten als alternative Formen (Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. II,44,1, S. 211). 347  Auf sie kommt er zu sprechen im Verlauf von: Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. III,73,5-6, S. 392. 348  Hingegen seien unter einem Tyrannen Gerechtigkeit wie auch Liebe verloren (Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. II,44,7, S. 212). Zur Bedeutung der Liebe im Herrschaftsdenken Brunettos generell Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. II,44, S. 211-215. Zur Definition der Stadt Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. III,73,3, S. 391. Bemerkenswerterweise beruft sich Brunetto hierbei nicht auf Aristoteles, sondern auf Cicero. Zum französischen Begriff cité und dessen Herkommen aus dem Lateinischen Terminus civitas Le Goff: Die Liebe zur Stadt. S. 10. 349   Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. III,82,9, S. 404. Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 79. 350  Anders als bei dem im Folgenden noch ausführlicher zu behandelnden Thomas von Aquin. Implizit ist die Rolle der Architektur bei der Verhinderung von Unruhen in seinem Fürstenspiegel zu erkennen. Vgl. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68. Hierzu auch Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 64.

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Mitteln der Architektur. So seien, wie Brunetto ausführt, die Städte gegründet worden zum Schutz vor den Missgünstigen, die den Nachbarn ihre Güter neideten. Daher schlossen die Städter ihre Gemeinschaft durch Mauern von den Außenstehenden ab.351 Gräben, Türme, Brücken und Tore vervollständigen die notwendigen Schutzbauten.352 Allerdings kommt die Sorge um das physische Wohl der Menschen nicht allein in diesen Bauwerken zum Ausdruck. Bereits zuvor gilt es, durch die Wahl eines geeigneten Bauplatzes den Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. So gehört zu den architektonischen Belangen des Podestà, Sorge um das physische Wohl der Menschen auch dahingehend zu tragen, dass er ungeeigneten Baugrund zu erkennen imstande ist, dass er um die Anlage von Brunnen und die Beurteilung der Wasserqualität weiß.353 Wissensbestände, die ihm Brunetto durch den Trésor vermitteln möchte. Brunetto Latini macht es dem Leser nicht leicht, seine Darstellung der Architektur in einem abschließenden Urteil zusammenzufassen. Die verwendete Metaphorik im Trésor erweist sich als ambivalent, gar widersprüchlich, urteilt man streng, oder als Ergebnis einer gleichermaßen durchdachten wie hintersinnigen Komposition, so man es gut mit Brunetto meint. Inhaltlich sind die Aussagen zur Baukunst zwar in der Kapitelsequenz 126-129 des ersten Buches konzentriert, doch bleiben relevante Passagen zugleich über das ganze Werk verstreut. Trotz dieser hinderlichen Faktoren sind die Erwägungen Brunettos in Bezug auf die Architektur zu würdigen. Architektur und Politik löst er von den Fesseln, die beiden durch ihr biblisches Herkommen angelegt wurden. Kain als Urvater des ersten politischen Gemeinwesens und Begründers von Henoch spielt im Trésor keine nennenswerte Rolle. Vom Kainsmal befreit ist, wie bei Vinzenz von Beauvais, die Architektur. Anders als bei Vinzenz wird bei Brunetto aber auch die Politik nicht mehr von Kains Tat tangiert. Kain und die Gründung der cité Henoch erwähnt Brunetto zwar, betrachtet die Kainsproblematik aber isoliert auf die Darstellung der Anfänge der Menschheitsgeschichte, ohne ihr eine weitreichendere Bedeutung beizumessen.354 Politik, verstanden als edelste der Künste, ist weder durch den Sündenfall noch durch den Brudermord des Kain unwiderruflich diskreditiert. Als Bestandteil der so geadelten Politik erfährt die Architektur eine erhebliche Aufwertung. Hinzu kommt eine zweite gewichtige Veränderung, die in der Betrachtung der beiden 351   Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. III,73,2-3, S. 391. Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 79. 352  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,129,2, S. 126. 353  Die Wahl des Bauplatzes wird thematisiert in: Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,126,1, S. 123-124. Zum Bau von Brunnen und der Überprüfung der Wasserqualität Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,127,1 und 5, S. 124-125. 354  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,20,3, S. 33.

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Teilbereiche der Politik offenbar wird. Rhetorik, als Grundlage der „Politik mit dem Wort“, und Architektur, als Bestandteil der „Politik mit der Tat“, führen zwei Wissensbereiche zusammen, die das Mittelalter lange sowohl getrennt als auch voneinander zu trennend auffasste. Von dieser starren Unterscheidung zwischen den artes liberales und den artes mechanicae verabschiedete sich Brunetto und ersetzte sie durch eine flexiblere Sicht auf die jeweiligen artes, die, frei von den vorherigen Berührungsängsten, ein Zusammenwirken der jeweiligen Disziplinen ermöglicht. In manchen Belangen geht Brunetto somit weit über das hinaus, was durch die Tradition und die Autorität der Heiligen Schrift, des Aurelius Augustinus oder des Martianus Capella überliefert ist. Allerdings geht er auch nicht so weit wie der zuvor präsentierte Vinzenz von Beauvais und dessen Brüder aus dem Orden der Dominikaner, Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Besonders deren größere Vertrautheit mit dem antiken vitruvianischen Architekturtraktat und den Schriften des Aristoteles ermöglichten es ihnen weiter zu denken, als es Brunetto Latini konnte.355 1.3.3 Architektur bei Albertus Magnus Dominikaner wie Vinzenz von Beauvais, wie Vinzenz zeitweise ebenfalls in Paris tätig, befasste sich auch Albertus Magnus wie sein Ordensbruder in seinen Arbeiten mit Belangen der Baukunst. Gleichermaßen berufen sich beide Mitglieder des Ordo Praedicatorum in ihrer Charakterisierung des Architekten schließlich auch auf die Ausführungen Vitruvs. Anders als der im Rahmen des Speculum Maius vorgenommenen enzyklopädischen Auseinandersetzung mit der Architektur, insbesondere dem Verhältnis von Politik und Architektur, fehlt Alberts umfassendem Schrifttum jedoch eine systematische Erörterung über die Baukunst. Metaphorisch macht er von ihr in seinem Augsburger Predigtzyklus und im Kommentar zur aristotelischen Politik Gebrauch. Mit dem Berufsstand des Architekten befasst er sich in Super Ethicam Commentum et Quaestiones. Aber eine etwa über die Metaphorik hinausgehende Beschäftigung mit der Materie, ein Vorgehen gewissermaßen ab urbe condita, wie es im Doctrinale bei Vinzenz von Beauvais vorzufinden ist, sucht man bei Albert vergeblich. Nur in Ansätzen ist eine über die Metaphorik hinausgehende Beschäftigung mit Belangen der Architektur in den Augsburger Predigten erkennbar. 355  Vitruv ist Brunetto Latini nur indirekt, über die Vermittlung durch das Opus agriculturae des Palladius, zugänglich. Gleichwohl lässt sich sein Einfluss auf den Trésor auch in dieser indirekten Rezeption noch erkennen. Hierzu Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 35-37 und 306-307.

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Eine mögliche Erklärung für diese Leerstelle in Alberts Werk bietet die einsetzende Rezeption der Politik des Aristoteles. Nachdem ihre Übersetzung aus dem Griechischen durch Wilhelm von Moerbeke – wiederum einem in Paris wirkenden Dominikaner – dem lateinischen Sprachraum im Übergang von den 60er zu den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts vorlag, könnte sich die nicht tiefergehende Beschäftigung mit menschlicher Bautätigkeit als Resultat auf die nun drängend gewordene Auseinandersetzung mit der aristotelischen Beurteilung erweisen, dass sich die civitas356 nicht auf architektonischen Elementen gründe, sondern auf der Gemeinschaft der Bürger. So führt es der Philosoph gleich zu Beginn der Politik aus und wiederholt diesen Befund auch im weiteren Verlauf der Schrift, wenn er die Bedeutung architektonischer Elemente für die Polis als von nachgeordnetem Rang ausweist.357 Auf den ersten Blick stieß die Kenntnis des aristotelischen Denkens bei Albert daher weniger ein Bemühen um die Formulierung neuer Lösungsansätze auf der Grundlage einer Synthese etwa des vitruvianischen mit dem aristotelischen Denken an, als dass es, zumindest in diesem Punkt, hemmend auf die Entwicklung einer sich von Aristoteles emanzipierenden Argumentation wirkte. Die Deutungen bezüglich des Verhältnisses von Politik und Architektur gehen bei Albertus Magnus nicht über die als notwendig empfundene Reaktion auf die Aussagen des Philosophen hinaus. Zu der Frage etwa, ob sich der Staat, die Polis, auch über seine Baulichkeiten definieren lasse, schreibt Aristoteles im dritten Buch der Politik: „[…] aber wenn Menschen denselben Ort bewohnen, wann muß man meinen, daß es sich um einen Staat handelt? Denn nicht wohl zufolge der Mauern. Es wäre ja auch möglich, die Peloponnes mit einer Mauer zu umgeben.“358 In seinen Commentarii in octos libros politicorum Aristotelis greift Albert dieses Argument auf, entwickelt es aber nicht weiter, sondern begnügt sich damit, es zu paraphrasieren und das von Aristoteles verwendete Beispiel in seiner Kommentierung zu übernehmen.359 Dergestalt ist die civitas ein fernab der 356  Für das Griechische Polis setzt Wilhelm von Moerbeke den lateinischen Terminus civitas (Sternberger: Die Stadt als Urbild. S. 86). 357  Aristoteles: Politik. I,1, 1252a, S. 75 und III,3, 1276b, S. 159. Für Aristoteles haben die Mauern eine Bedeutung allein für die Sicherheit der Polis. Darüber hinaus können Sie indes nicht als die Grundlage der Polis erachtet werden (ebd. VII,11, 1330b-1331a, S. 346-347 und III,3, 1276a, S. 159). 358  Aristoteles: Politik. III,3, 1276a, S. 159 (Hervorhebung im Original). 359  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 212-213. Ebenso argumentieren auch andere Kommentatoren der Politik: zum Beispiel Alberts Schüler Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 190 oder Petrus von Alvernia: Super librum politicorum. S. 90. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 57.

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Architektur zu verstehendes Phänomen, das weiterhin an der aristotelischen Festsetzung orientiert ist, wonach die Polis als Gemeinschaft der Bürger aufzufassen sei. Dem Vorbild Aristoteles’ folgt Albert indes nicht bedingungslos. Die aristotelische Bestimmung in Buch I der Politik, wonach nur jener der Polis nicht bedürfe, der entweder mehr oder weniger als ein Mensch sei, also mehr einem Gott oder mehr einem Tier entspreche,360 gibt Albert in seinem Kommentar zur Politik eine neue Wendung. Aristoteles denkt die Apotheose des Menschen mit der Sentenz vom Menschen, der, wenn er die Gemeinschaft nicht bedürfe, einem Gott gleiche, nicht zu Ende. Angedacht wird vielmehr der Rückfall des Menschen ins Animalische. Der als zōon politikon bestimmte Mensch werde durch die Abkehr von seiner Natur zu einem Wesen, noch schlimmer sogar als das Tier, da ihm, im Gegensatz zum Tier, auch sein Verstand für das Begehen von Unrecht zur Verfügung stehe.361 Alternative Lebensformen, die sich außerhalb der Polis formieren, möchte Aristoteles somit nicht gelten lassen. Sie alle fallen unter sein Urteil, wonach „der Mensch in seiner Vollendung das beste der Lebewesen ist, […] er getrennt von Recht und Gesetz das schlechteste von allen [ist]. Die schwerste Ungerechtigkeit ist nämlich die, die über Waffen verfügt. Der Mensch aber wächst heran und verfügt mit Einsicht und Tugend über Waffen, die er besonders im entgegengesetzten Sinn gebrauchen kann.“362 Albert hingegen ist dazu bereit, Formierungen auch jenseits der civitas zu akzeptieren und in sein politisches Denken zu integrieren. Während die Animalisierung von jenem, der weniger als ein Mensch sei und aufgrund dieser defizitären Natur nicht in der civitas lebe, von Albert gleichermaßen wie von Aristoteles zur Sprache gebracht wird, weicht der Dominikaner von den Vorgaben des Philosophen bei der Gestalt dessen ab, der von Aristoteles als Gott gleich ausgewiesen wird.363 Nennt Aristoteles hierfür kein Beispiel, so verweist Albert zur Veranschaulichung in seinem Kommentar zu der genannten PolitikPassage auf Didimus, den König der Brahmanen. Nachgesagt wird auch ihm ein politikfernes Leben in dem Sinne, dass er ein Leben fern der Polis, fern der civitas führe.364 Und doch fällt er nicht unter die Rubrik einer defizitären 360  Aristoteles: Politik. I,2,1253a, S. 79. 361  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/2. S. 177. 362  Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 79. 363  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 15. 364  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 15. Albert bedient sich eines Beispiels, das seinen Kommentar zudem klar von dem des Thomas von Aquin unterscheidet. Thomas hatte den entsprechenden Abschnitt der Politik nicht mittels der Person des Didimus belegt, sondern mit den beiden Heiligen Johannes dem Täufer und dem Eremiten Antonius (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78), zweier Gestalten, die dem Christen

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menschlichen Natur, sondern wird von Albert als Beleg für die Möglichkeit eines positiv konnotierten Lebens vorgestellt. Doch auch in dieser alternativen von Albert präsentierten und diskutierten Lebensform findet Architektur keine Erwähnung. Selbst dort also, wo sich Albert von Aristoteles löst, über die von ihm getätigten Aussagen hinausgeht und sich folglich von ihm emanzipieren könnte, wird die Baukunst nicht als zu berücksichtigende Größe verstanden. In diesem Sinne argumentiert Albert schließlich auch in einer an Platons politische Philosophie gemahnenden Passage in Kapitel 3, Buch II seines Kommentars zur aristotelischen Politik. Hierin führt Albert aus, dass sich die civitas aus drei Gruppen zusammensetze: Bauern, Soldaten und den Lenkern des Staates.365 Einer Zusammensetzung demnach, die auf Personenverbänden beruht, nicht aber in Beziehung zur Architektur gestellt wird. Ein zweiter Aspekt an diesem Argumentationsstrang verdient jedoch Beachtung. Er könnte Alberts Denken über das Verhältnis von Politik und Architektur in ein anderes Licht rücken. Die bisher vorgestellte Nichtigkeit der Baukunst für die Bestimmung der civitas im Denken des Dominikaners könnte zumindest teilweise widerlegt beziehungsweise um eine architektonische Komponente ergänzt werden. Verbunden werden die Ausführungen zur civitas nämlich mit einer dem antiken Architekturtraktat des Vitruv entnommenen Figur, wonach erst die Symmetrie all seiner Bestandteile ein Gebäude vollkommen mache.366 Das mittels der Analogie des menschlichen Körpers und der Konstruktion eines Gebäudes vorgetragene Argument des Römers überträgt Albert sodann in seinen Aristoteles-Kommentar, trennt es aber von der Vorstellung einer anthropomorphen Architektur ab und fügt es stattdessen in die Metaphorik eines idealen Gemeinwesens ein.367 Der geäußerte Verdacht, wonach die offenkundig näher stehen als der brahmanische König. Und zugleich der Vorgabe des Aristoteles, dass, wer der civitas nicht bedürfe, einem Gott gleiche, durch ihren Status als Heilige eher zu entsprechen vermögen, denn die historische Gestalt des Didimus. 365  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 122. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 69. Platons Politeia war dem Mittelalter nicht bekannt, doch werden ihre zentralen Paradigmata auch zu Beginn des Timaios angeführt (Platon: Timaios. 17c-18e, S. 192-193). Dieser Dialog war dem Mittelalter vertraut. Zur Verbreitung und Kenntnis von Platons Schrifttum im Mittelalter siehe die einführenden Überblicke etwa bei Föllinger: Platon. Sp. 672. RadkeUhlmann: C. Politeia. Sp. 685-686. Meinhardt: D. Frühmittelalter. Sp. 11-12. Ferner auch Keßler: Die Philosophie der Renaissance. S. 94-96. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 222-223. Speer: Die entdeckte Natur. S. 85-86. 366  Vom Beispiel des Tempelbaus ausgehend macht Vitruv dies anhand der bekannten vitruvianischen Proportionenfigur deutlich (Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. III,1, S. 137-143). 367  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 122-123. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 69.

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Übernahme der genannten Passage aus dem Werk Vitruvs als Beleg für eine höhere Wertigkeit der Architektur bei Albert herangezogen werden könnte, bestätigt sich bei genauerer Betrachtung somit nicht. Abermals fehlt es an einer architektonischen Bezugnahme, die durch mehr gekennzeichnet ist als der Übernahme von Argumentationsfiguren. Der auffällige Nicht-Befund architektonischer Bezüge im Politik-Kommentar Alberts durchzieht allerdings nicht das gesamte Werk des doctor universalis. Noch in seinem Augsburger Predigtzyklus hatte er der Architektur eine von den bisherigen Schilderungen abweichende Bedeutung zugesprochen, sie zumindest metaphorisch mit seinem politischen Denken verwoben, wenn er Politik und Architektur als Einheit zu denken bereit ist und die civitas ihre Bestimmung auch über bauliche Elemente erfährt. In den wohl zwischen den Jahren 1257 und 1263 in Augsburg gehaltenen sieben Predigten erörtert Albert eine Passage aus dem Matthäus-Evangelium: „Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.“368 Die Stadt auf dem Berg, die civitas supra montem, wird von Albert dabei als Allegorie für die Lehrer der Kirche verstanden. Diese können, den Aussagen des doctor universalis gemäß, auf vierfache Weise als Stadt begriffen werden: wegen der Schutzwehr (propter munitionem), wegen der Gemeinschaft (propter urbanitatem), wegen der Einheit (propter unitatem) und schließlich wegen der Freiheit (propter libertatem).369 Verstanden als Schutzwehr ist man versucht, die der Mauer zugeschriebene Bedeutung noch nicht nennenswert von jener bei Aristoteles zu unter­ scheiden.370 Doch bezieht sich das Kriterium propter munitionem auch auf einen fernab der aristotelischen Gedankenwelt liegenden Aspekt.371 Der Stagirit argumentierte nüchtern auf der Grundlage realer Gegebenheiten und sah die Mauern daher als nötigen Schutz einer Gemeinschaft vor ihren äußeren Feinden. Dagegen fasst Albert das die Gemeinschaft umhegende Mauerwerk der Kirchenlehrer auch als eine moralische Schutzwehr auf. 368  Mt 5,14. Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 105. Schneyer: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 101-102. 369  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 105. Schneyer: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 102. 370  Aristoteles: Politik. VII,11, 1330b-1331a, S. 346-347 und III,3, 1276a, S. 159. 371  Zum Zeitpunkt der Abfassung des Augsburger Predigtzyklus war Albert die Politik des Aristoteles zumindest in Grundzügen bekannt, wie die den Predigten beigegebenen editorischen Anmerkungen nahelegen. Siehe Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. Anm. 72, S. 112; Anm. 164, S. 122; Anm. 9, S. 126; Anm. 138, S. 129; Anm. 21, S. 134.

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Durch ihre Worte und durch ihre Taten wirken die Kirchenlehrer als Beispiel für die Einwohnerschaft der civitas supra montem, als Beispiel aber auch für die außerhalb der Mauern Stehenden, die der civitas supra montem schon von weitem gewahr werden und sich so an ihr ein Beispiel nehmen können.372 Erst in einem zweiten Gedankenschritt wird dieses Argument um die Erörterung der Sicherheit der civitas ergänzt. An der historischen Entwicklung der Städte demonstriert Albert, dass die aus lebendigem Gestein zusammengesetzte Mauer nicht ausschließlich auf die Kirchenlehrer zurückgeführt werden könne. Stattdessen seien es die physisch Überlegenen gewesen, die in den Anfängen der Städte die schwächeren Mitglieder der Gemeinschaft in ihre Mitte genommen hätten, um sie vor den Gefahren der Außenwelt zu beschützen.373 Nicht die Sorge um das Seelenheil treibt die Argumentation voran. Im Vordergrund steht nun die physische Unversehrtheit der von der Mauer Umfassten. Sie dient als Begründung für die Notwendigkeit der Schutzwehr und bereitet damit den Weg, die Idee der Mauer aus lebendigem Gestein in eine aus totem Stein zu überführen. Im Verlauf der ersten Predigt wird das Erfordernis der Mauer um ein rein auf die Physis bezogenes Argument ergänzt. Erforderlich sei die Mauer aus totem Stein laut Albert, da die Bürgerschaft – die Starken wie die Schwachen – bei Nacht ruhe, aber auch in diesem Moment der Schwäche des Schutzes bedürfe. Um sich vor Feinden zu schützen, habe man daher eine Mauer aus totem Stein um die Stadt gezogen.374 Anders als es die Überlieferung der Erzählung von Kain und Abel oder Romulus und Remus nahegelegt hätten, geht die Begründung politischer Gemeinschaft mit architektonischer Tätigkeit bei Albert allerdings nicht Hand in Hand. Den Mauerbau erhebt der Dominikaner in seinen Augsburger Predigten nicht in den Rang des Gründungsaktes des Gemeinwesens. Allenfalls als ein Element der Gründung ist er anzusehen. Architektur ist ein zweiter, ein nachgeordneter Bestandteil der civitas. Sie selbst gibt es schon zuvor; die Mauer sichert lediglich ihren Bestand. Vorrangig scheint also auch bei Albert die Gemeinschaft der Bürger zu sein. Doch steht dieser Lesart die Aussage Alberts am Ende der ersten Predigt entgegen, wonach das Bürgerrecht in Abhängigkeit

372  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 134. 373  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 111. Meier: Mensch und Bürger. S. 37-38. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 65. 374  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 106-107.

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der Mauern zu denken sei. Bürger ist, wer von den Mauern umfasst wird.375 Getrennt von den außerhalb der Stadt lebenden Bauern wird die Mauer zur maßgeblichen Trennlinie zwischen den Bürgern innerhalb und den Bauern außerhalb von ihr erklärt.376 Die Trennung von Bauern und Bürgern vollzieht Albert am Übergang der ersten zur zweiten Predigt. Gleich zu Beginn der zweiten Predigt rekurriert er auf die unterschiedliche Ausformung von Freiheit zwischen den Bürgern auf der einen, den Bauern und denen, die keinen Anteil am Bürgerrecht besitzen, auf der anderen Seite.377 Diese Differenz erklärt er am Ende der ersten Predigt anhand von Prediger X,15: „Die Arbeit ermüdet den Toren, der nicht einmal weiß, in die Stadt zu gehen.“378 Bürgerschaft und Mauerwerk werden hier als einander bedingend gedacht.379 Die Mauern werden damit zu der Gemarkung, die die höhere Form von Freiheit des Bürgers gegenüber den Bauern zum Ausdruck bringt. Werden die Mauern und über sie die Architektur nun also doch ein die Gemeinschaft begründendes Element? Nein, denn dieser Gedanke setzt die Formierung von Gemeinschaften bereits voraus. Die Mauern können hier einerseits nur die Funktion der Visualisierung einer bereits vollzogenen Vergemeinschaftung übernehmen und bringen andererseits das Sicherheitsbedürfnis einer bestehenden Gemeinschaft zum Ausdruck. Diese Gemeinschaft ist es, die den Bau der steinernen Mauer initiiert. Somit bleibt auch die zuvor genannte Bestimmung gültig. Reale, Stein gewordene Architektur ist in Alberts Augsburger Predigten nicht Erstursache, sondern kann nur ein Zweites sein. Allein in ihrer metaphorischen Ausprägung ist Architektur begründender Bestandteil der civitas. Im Fortgang der Predigten verschwinden architektonische Motive zunehmend auch aus dem metaphorischen Repertoire Alberts. Lediglich das Bild der Kirchenlehrer als lebendige Steine begegnet noch vereinzelt – angelehnt vor allem an die in der Offenbarung gebrauchte Verwendung kostbarer Edelsteine als Baustoffe des himmlischen Jerusalems.380 Zu bedenken ist jedoch

375  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 110. 376  Hierzu Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 53-56. 377  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 111. 378  Pred X,15. 379  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 110. 380  Offb. XXI,11-21.

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das von Albert bei der Behandlung der zweiten von ihm benannten Kategorie genutzten Vokabular. Auf die Überlegungen zum Aspekt propter munitionem folgen die Ausführungen propter urbanitatem, wegen der Gemeinschaft. Auch ihretwegen können die Lehrer der Kirche mit einer Stadt verglichen werden. Ulrich Meier sieht in urbanitas ein Synonym für die von Albert skizzierte Verfassung gemischt aus monarchischen, aristokratischen und timokratischen Elementen.381 Wird das Augenmerk ganz auf die politische Verfasstheit der Bürgerschaft gelegt, bleibt den Baulichkeiten tatsächlich eine nur nachrangige Bedeutung, da der monarchische ebenso wie der aristokratische und der timokratische Bestandteil der Verfassung allein über die charakterlichen Eigenschaften des beziehungsweise der Angehörigen der entsprechenden sozialen Gruppe bestimmt werden. Ausführlich wird das an den Monarchen gestellte Anforderungsprofil von Albert präsentiert.382 Nicht minder hoch sind die an die Aristokraten gestellten Ansprüche.383 Lediglich über die Timokraten äußert sich Albert nur in rudimentärer Form. Durch ihre ökonomische Potenz sollen sie vor allem in Notzeiten den Lebensunterhalt des Volkes sicherstellen.384 Neben dem Verweis auf die von Albert skizzierte politische Struktur des Gemeinwesens lässt sich die verwendete Vokabel urbanitas aber auch in einem anderen Sinne lesen, der die Gemeinschaft in die Abhängigkeit des Mauerwerks rückt, da zum Kriterium propter urbanitatem auch die folgende Überlegung gehört: Zu verstehen als Umschreibung städtischer Lebensart steht urbanitas im Gegensatz zur Lebensart der Landbevölkerung. Subtil verweist

381  Meier: Mensch und Bürger. S. 38-39. Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 111. Der Einwand, dass der Verwendung des Begriffs urbanitas keine tiefere Bedeutung beigemessen werden kann, da Albert die den Aspekt propter urbanitatem näher ausführende zweite Predigt des Augsburger Zyklus in deutscher Volkssprache gehalten hat und die Predigt erst nachträglich auf Latein abgefasst worden ist, überzeugt nicht vollauf (vgl. zur Überlieferung der Predigten Schneyer: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 101). Eine nachträgliche Abfassung eröffnet die Möglichkeit Korrekturen an einem Text vorzunehmen und Formulierungen zu präzisieren. Auch gilt dies für die Übersetzung in eine andere Sprache. 382  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 112-116. 383  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 116-118. 384  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 118. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 65.

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Albert damit ein weiteres Mal auf die Differenz zwischen Städter und Bauer.385 Letzteren bestimmt Albert durch sein Unvermögen, die bürgerliche Wesensart zu erlernen,386 aber auch durch seine räumliche Verortung jenseits des die Städter umfangenden Mauerwerks. Sein Los ist ein Leben auf Feld und Wald.387 Vor diesem Hintergrund reiht sich Albertus Magnus mit seiner Verwendung des Begriffs urbanitas in die Tradition der zuvor behandelten Ausführungen bei Otto von Freising und Vinzenz von Beauvais ein. Die aus Ottos Chronica oder Vinzenz’ Speculum maius bekannte Unterscheidung zwischen civitas und urbs schwingt auch hier an, wenn Albert die civitas supra montem mittels eines aus dem etymologischen Umfeld von urbs entlehnten Begriffs umschreibt.388 Den Gebrauch alternativ möglicher Begrifflichkeiten, wie civilitas oder das den Aspekt der Gemeinschaft stärker betonende communitas, scheint Albert hingegen bewusst vermieden zu haben, da durch die Vokabel urbanitas implizit eine Stärkung architektonischer Elemente zum Ausdruck gebracht werden kann. Mit den Mauern nicht mehr verbunden werden die beiden weiteren von Albert benannten Charakteristika seiner Gleichsetzung der Kirchenlehrer mit der Stadt auf dem Berge, propter unitatem und propter libertatem. Die Argumentation Alberts folgt in den die Einheit und Freiheit thematisierenden Predigten drei und vier einer anderen Linie. Die dritte Predigt setzt sich mit der Frage der Einheit auf der Grundlage der Gerechtigkeit auseinander, während sich die vierte Predigt mit verschiedenen Formen der Freiheit befasst.389 Schließlich lässt Albert von der Architektur sogar gänzlich ab und spricht stattdessen von Quellen und blühenden Pflanzen, mit denen die Kirchenlehrer als Symbol der Stadt auf dem Berge verglichen werden könnten.390 In Anbetracht von Alberts Ausführungen im Politik-Kommentar und dem Augsburger Predigtzyklus bleibt es fraglich, ob sein Denken eine einheitliche Linie zu den Belangen der Baukunst aufweist. Vieles macht den Eindruck, nicht 385  Zu der bei Albert wieder erfolgenden Bezugnahme des Begriffs urbanitas auf die Stadt Leidl: Urbanitas. Sp. 1353. 386  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 134. Meier: Mensch und Bürger. S. 44. Zur Missachtung der Landbevölkerung auch Le Goff: Die Liebe zur Stadt. S. 47-48. 387  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 110. Meier: Mensch und Bürger. S. 37. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 65. 388  Zur Etymologie des Begriffs urbanitas Leidl: Urbanitas. Sp. 1344. 389  Hierzu die Skizzierung des Inhalts der Predigten bei Schneyer: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 103. 390  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 130.

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mehr zu sein als ein rhetorisches Stilmittel, mit dem der Dominikaner seine Texte mit griffigen Metaphern ausschmückt. Und doch meint Stefan Schuler in seiner umfassenden Studie zur Vitruv-Rezeption im Mittelalter konstatieren zu können, dass für Albert Architektur nicht nur mehr als ein Handwerk sei, sondern ihr Status gar höher anzusehen sei als der von Medizin, Rhetorik und Politik.391 Schuler verweist hierfür aber nicht auf die bisher erörterten Texte. Sein Urteil basiert auf der Auseinandersetzung mit Alberts Super ethica commentum et quaestiones. Der Kommentar zur Nikomachischen Ethik greife Aristoteles’ Gedanken bezüglich der Überlegenheit der ars architectonia über die übrigen artes mechanicae auf, die Aristoteles insbesondere in der Metaphysik formuliert habe.392 Daher schätzen wir auch die leitenden Künstler in jeder Hinsicht höher ein und glauben, daß sie mehr wissen und weiser sind als die Handwerker, weil sie die Ursachen dessen, was hervorgebracht wird, kennen. (Die Handwerker dagegen gleichen manchen unbelebten Dingen, die zwar etwas hervorbringen – wie etwas das Feuer brennt –; wie nun die unbelebten Dinge zufolge ihrer bestimmten Natur das Einzelne hervorbringen, so die Handwerker zufolge der Gewohnheit.)393

Inwiefern hier von einer dezidierten Auseinandersetzung mit der Architektur und dem Architekten die Rede sein kann, darüber sind sich die Interpreten dieser Stelle im Werk des Stagiriten uneins. Wie schon die zitierte Ausgabe von Schwarz erkennen lässt, wird diese Sentenz nicht als zwingend mit Architektur verbunden angesehen, weshalb in der Übersetzung auch von den „leitenden Künstler[n]“ gesprochen wird. Ebenso übersetzen Hermann Bonitz und Friedrich Bassenge die entsprechende Passage im griechischen Text nicht mit Architekt, sondern mit „leitende[m] Künstler“.394 Und auch Nicola Senger ist skeptisch, ob Aristoteles hier „eine bestimmte Disziplin, etwa die Architektur“ im Sinn hatte. „[…] allein die Positionen in der aufgestellten Wissenshierarchie und die ihnen zugeordneten Kenntnisse in jedem Gebiet, also Handwerker: Tatsachenwissen, d.h. Erfahrungswissen, artifex: Ursachenwissen“ seien hier mit dem Begriff des Architekten zu assoziieren, der lediglich „eine Relation zwischen diesen beiden Positionen, nämlich der Überordnung

391  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 70-71. 392  Außer in der Metaphysik greift Aristoteles diesen Gedanken auch auf in Aristoteles: Physik. II,2, 194a-b, S. 61. 393  Aristoteles: Metaphysik. (Schwarz) I,1, 981a-b, S. 18-19. 394  Aristoteles: Metaphysik. (Bonitz) I,1, 981a, S. 7. Aristoteles: Metaphysik. (Bassenge) A,1, 981a, S. 9.

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des artifex gegenüber dem einfachen Handwerker“ vornehme.395 Wie immer man diese Einwände beurteilen mag, sie beziehen sich allein auf den Sinngehalt des aristotelischen Textes. Für die Kommentierung durch Albertus Magnus haben sie keine bindende Wirkung. Selbst wenn Aristoteles hier also nicht an den Architekten gedacht hat, ist dies noch kein Grund, auch Albertus Magnus einen solchen Gedanken zu versagen. So sieht Schuler in Alberts Kommentierung denn auch einen Beleg für die Wendung der Architektur zur Wissenschaft, wenn er in Alberts Text die Unterscheidung zwischen der intellektuellen Kompetenz des Architekten von der Tätigkeit des Handwerkers erkennt.396 Zugleich wird dem Architekten als jenem, dessen Blick sich nicht in Einzelheiten verliert, sondern der den Plan des Gesamtbaus kennt, ein erheblicher Einfluss auch in der Gründungsphase des Gemeinwesens zugesprochen.397 Durch diese Stellung wird Architektur, entgegen den Aussagen im Politik-Kommentar und den Augsburger Predigten, zum begründenden Element des Gemeinwesens erklärt. Als auffällig erachtet werden müsse ferner, dass der Architekt Erwähnung noch vor dem Arzt, Rhetor und dem Politiker erfahre.398 Wo Brunetto Latini, wie im vorangegangenen Kapitel geschildert, Rhetorik und Architektur noch in ein entgegengesetztes Verhältnis stellte, verschiebt Albert die Reihenfolge der beiden Disziplinen.399 Überdies ordnet er nun die Architektur der Politik über. Bei Brunetto war Rhetorik die Grundlage der „Politik mit dem Wort“ und Architektur die Grundlage der „Politik mit der Tat“. Beides aber war Bestandteil von Politik. Bei Albert hingegen wird Politik im Kommentar zur Nikomachischen Ethik eine auf Architektur folgende Disziplin. Der Politik-Kommentar kannte Architektur vornehmlich als Gegenstück zu der von Aristoteles vertretenen Auffassung vom Wesen der Politik. Die Gemeinschaft der Bürger als konstituierendes Element der Polis benötigte keine Bauten. Die Augsburger Predigten erwiesen sich ihrerseits als zwiespältig im Hinblick auf die Wertung der Architektur. Das Bild der Mauern spielt in der gebrauchten Metaphorik zunächst eine markante Rolle, ehe es im Fortgang der Predigten durch einen auf die Natur bezogenen Metaphernfundus verdrängt wird. Reale Bautätigkeit begegnet in den Predigten dagegen nur am Rande. 395  Senger: Der Begriff „architector“ bei Thomas von Aquin. S. 210. 396  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 70. Albertus Magnus: Super Ethica commentum et quaestiones. I,2, S. 9 und VI,6, S. 430. 397  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 71. Albertus Magnus: Super Ethica commentum et quaestiones. IX,12, S. 700. 398  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 71. 399  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,1,4, S. 17 und I,4,5, S. 21. Meier: Cosmos politicus. S. 330 und 345.

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Der Kommentar zur Nikomachischen Ethik schließlich betont die Relevanz von Architektur indirekt, indem er auf die herausgehobene Stellung des Architekten für das Gemeinwesen verweist. Eine klare Antwort auf die Frage, welchen Stellenwert Architektur innerhalb von Alberts politischem Denken einnimmt zu formulieren, ist aufgrund der Heterogenität von Alberts Aussage damit nahezu ausgeschlossen. 1.3.4 Zur Bedeutung der Architektur im Werk des Thomas von Aquin In Anlehnung an 1. Korinther IV,7 stellt Aurelius Augustinus gegen Ende der Confessiones die rhetorische Frage: „Was aber haben wir, das wir nicht von dir empfangen haben?“400 Das menschliche Dasein verdankt sich bei Augustin den Gaben Gottes. Das Menschengeschlecht rückt damit in den Status eines Schuldners gegenüber seinem allmächtigen Gläubiger. Sich von Gott zu emanzipieren und selbst gestaltend tätig zu werden, dazu wird der Mensch als nicht fähig gedacht.401 In Augustins Wahrnehmung bleibt der Mensch nicht mehr als ein Gefäß für die Gaben Gottes. Dagegen zeichnete sich bei den in den vorangegangenen Kapiteln behandelten Denkern die Vorstellung ab, im Menschen mehr zu erkennen, als nur ein Objekt von Gottes Allmacht. Besonders die im 13. Jahrhundert wirkenden Vinzenz von Beauvais, Brunetto Latini und auch Albertus Magnus hatten in mehr oder weniger ausgearbeiteter Form dem Menschen die Befähigung zugesprochen, den ihm anvertrauten Teil der Welt zu gestalten. Eine Gestaltung, die nicht zuletzt mittels der Architektur vollzogen wurde. Auf den von diesen Denkern errichteten Fundamenten baut auch Thomas von Aquin seine Erläuterungen zur Architektur auf. Innerhalb seines umfangreichen Schrifttums nimmt der Aquinate in unterschiedlichsten Texten Stellung zu Belangen der Architektur, ihrer Position innerhalb der Wissenschaften und der Rolle des Architekten. Sei dies in seinen beiden Summen, der Summa contra Gentiles und der Summa Theologiae, sei es in seinem Fragment gebliebenen Fürstenspiegel De regno ad regem Cypri oder in den Kommentaren zu Aristoteles.

400  Augustinus: Bekenntnisse. XIII,15, S. 377. Die genannte Bibelstelle lautet: „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ (1. Kor IV,7) 401  Die zitierte Frage der Confessiones bedeute Nathalie Sarthou-Lajus gemäß daher „anzuerkennen, dass der Mensch nicht Schöpfer seiner selbst ist.“ (Sarthou-Lajus: Lob der Schulden. S. 12) Zu Augustins Prädestinationslehre beispielsweise Flasch: Augustin. S. 192-226.

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1.3.4.1 Architektur im Politik-Kommentar Dem Verhältnis von Politik und Architektur wendet sich Thomas von Aquin bereits zu Beginn seines unvollendet gebliebenen Politik-Kommentars zu.402 Im der ersten lectio vorangestellte Proemium zeigt Thomas die wissenschaftstheoretische Positionierung der Baukunst und deren Verhältnis zur Politik auf. Den Beginn seiner Vorrede eröffnet er dafür mit dem Hinweis, dass so, wie der Philosoph im zweiten Buch der Physik lehre, Kunst die Natur nachahme.403 Damit wird der Einstieg in eine Argumentation vollzogen, an deren Ende ein Ergebnis präsentiert werden kann, das sich von der soeben zitierten Passage aus den Confessiones abhebt, Architektur in den Kreis der von der Philosophie behandelten Disziplinen erhebt, dabei aber auf einer unterschiedlichen Rangordnung von Politik und Architektur beharrt. Mit dem gewählten Einstieg führt Thomas, hierauf hat jüngst Anselm Spindler aufmerksam gemacht, den Gedankengang seines Kommentars zur Nikomachischen Ethik fort. Die Unterscheidung von Kunst und Natur entspreche der dort vollzogenen Trennung von praktischer und theoretischer Philosophie;404 weiterführend zudem auch der aristotelischen Abgrenzung von Praxis und Poiesis, die Thomas nicht zuletzt in seiner Auseinandersetzung mit Politik und Architektur verarbeitet.405 Vom genannten Diktum ausgehend, wonach Kunst die Natur nachahme, erläutert Thomas das Hervorgehen der Kunst aus dem menschlichen Verstand, der partiell dem göttlichen Verstand ähnelt. Seinerseits sei der göttliche Verstand Ursache der Natur, weswegen Kunst die Natur nachahme.406 Da der Mensch mit der ihm gegebenen Vernunft die Natur folglich nur erkennen, nicht aber hervorbringen könne, resultiere laut Thomas hierin der Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Wissenschaft. Während erstere die Dinge der Natur behandele, behandele letztere die von den Menschen hervorgebrachten Werke. Erstere sei

402  Thomas’ Politik-Kommentar endet mit Kapitel 6 des dritten Buches. Hierzu und den formalen Aspekten des Kommentars Spindler: Einleitung. S. 7-15. Dondaine/Bataillon: Préface. A 5-6. 403  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 69. Die Unterscheidung von Kunst und Natur erörtert Aristoteles bereits im ersten Kapitel des zweiten Buches der Physik; (Aristoteles: Physik. II,1, 192b-193b, S. 51-57) Erläutert wird diese Unterscheidung im Folgenden auch anhand von auf die Architektur bezogenen Beispielen (Aristoteles: Physik. II,3, 195b, S. 67-69). Zur Aufgabe der Prologe in den Aristoteles-Kommentaren des Aquinaten Cheneval/Imbach: Einleitung. S. LXIV-LXVIII. 404  Thomas von Aquin: Sententia libri Ethicorum. S. 8-9. Spindler: Einleitung. S. 18-19. 405   Aristoteles: Nikomachische Ethik. VI,5, 1140a-b, S. 158-160. Hierzu auch Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/2. S. 122-123. 406  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 69.

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auf die Kenntnis der Wahrheit ausgerichtet, letztere auf das Werk.407 Weil zu den von den Menschen hervorgebrachten Werken nun auch die civitas gehöre, sei die Wissenschaft von der civitas als Bestandteil der praktischen Philosophie zu werten.408 Als Bestandteil der praktischen Philosophie stellt Thomas der doctrina politicae auch die artes mechanicae und mit ihr die ars architectoria an die Seite. Weil die mechanischen Künste aber den herstellenden Wissenschaften zugehören, die das Ergebnis ihres Tätig-Seins in den Vordergrund stellen, bleiben die mechanicae der Politik untergeordnet. Bei dieser, der handelnden und damit der moralischen Wissenschaft (scientiae morales) zugehörig, bezieht sich der Aspekt der Praxis nicht auf ein Äußeres, Hergestelltes, sondern verbleibt im Handelnden.409 Und dennoch kann Thomas’ wissenschaftstheoretische Systematik von der Wertschätzung gegenüber der Architektur zeugen. Gemeinsam mit den übrigen Disziplinen der artes mechanicae hat sie Aufnahme in den Kreis philosophischer Disziplinen gefunden. Hierin weicht der Dominikaner deutlich ab von den bei Martianus Capella oder Hugo von St. Viktor aufgestellten Grundsätzen der Einteilung der Wissenschaften. Weder wird der Ausschluss der artes mechanicae aus dem Kreis der artes liberales wie bei Martianus Capella vollzogen, noch erfolgt die aus dem Werk des Viktoriners bekannte Gegenüberstellung zweier Siebenschaften wissenschaftlicher Disziplinen. Die Auseinandersetzung mit der Nikomachischen Ethik und der Politik des Aristoteles eröffnet Thomas neue Wege, die ihm eine Neubewertung der artes mechanicae ermöglichen. Schließlich ist der Berücksichtigung der artes mechanicae, innerhalb der praktischen Philosophie auch die Akzentuierung der Befähigung des Menschen selbst in dem ihm anvertrauten Teil der Welt herstellend tätig zu werden, eigen. Kraft seines Intellekts kann er schöpferisch wirken und ist damit mehr als nur der Empfänger von Gottes Gaben. Zwar wird der Mensch noch nicht als vollauf autonom gedacht, er bleibt ein Imitator des sich in der Natur verwirklichenden göttlichen Intellekts, doch hat sich Thomas von der starren Vorgabe Augustins zu entfernen verstanden und weist dem Menschen einen Raum zu, in dem ihm die Möglichkeit zu handeln gegeben ist,410 ein Gedanke, der im Fortgang des Kommentars abermals aufgegriffen und auch im restlichen Werk des Dominikaners wieder und wieder thematisiert wird.411

407  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 69. 408  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 69-70. 409  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 69-70. 410  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 69. Vgl. Spindler: Einleitung. S. 18-19. 411  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 73.

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Vom metaphorischen Gebrauch abgesehen412 werden die Architektur betreffende Fragen auch im weiteren Verlauf des Kommentars vereinzelt aufgegriffen. Drei Abschnitte in Thomas’ Kommentars sind hier gesondert hervorzuheben: Erstens ist auf die Frage einzugehen, wie sich Thomas zu Aristoteles’ Stellungnahme bezüglich der Bedeutung der Baulichkeiten für die Bestimmung der civitas verhält. Zweitens wird die Einschränkung des animal civile auf den Kreis der habitatores civitatum zu erörtern sein, und drittens sind Thomas’ Darlegungen zum Kreis derer zu diskutieren, die ein Leben in der civitas nicht benötigen. Wie schon Albert der Große vor ihm sah sich auch der Aquinate mit dem Problem konfrontiert, dass Aristoteles die Bedeutung der Baulichkeiten für die Polis weitgehend als nichtig erachtete. Und so übernimmt Thomas von Aquin Aristoteles’ Diktum, dass eine Stadt nicht mittels ihrer Mauern bestimmt werde,413 sondern durch ihre Bürger.414 Für diese Schlussfolgerung macht sich Thomas das von Aristoteles gebrauchte Beispiel zu Eigen, wonach man ohne Zweifel nicht bereits dann von einer civitas sprechen könne, wenn man einen von Menschen bewohnten Ort mit einer Mauer umgebe. Auch für den Dominikaner ist das von Aristoteles gegebene Beispiel einleuchtend, dass die Peloponnes, würde man sie mit einer Mauer umschließen, noch keine civitas sei.415 Einem der aristotelischen Argumentation gegenüber verpflichteten Denken bleibt Thomas damit vorerst verhaftet, wenn er zu demonstrieren gedenkt, dass es nicht die Baulichkeiten seien, durch die sich die civitas definiere. Bezüglich der Stellung des Thomas von Aquin zu Aristoteles’ Wertung des Verhältnisses von Politik und Architektur auffällig ist dann die Frage, wen der Dominikaner als animal civile zu bezeichnen bereit ist. Aristoteles sprach vom physei politkon zōon, davon, dass der Mensch von Natur aus ein auf die Polis bezogenes Wesen sei.416 Thomas ergänzt diese Bestimmung allerdings um eine gewichtige Einschränkung. Nicht jedermann könne bedingungslos als animal 412  Mittels der baulichen Elemente des Hauses beschreibt Thomas beispielsweise die civitas (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 72). An anderer Stelle werden die Architekten von ihm als leitende Künstler angesprochen (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 83). 413  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 190. 414  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 186. Von Aristoteles abweichend gehören zur Bürgerschaft bei Thomas auch die der Gerichtsbarkeit des Gemeinwesens Unterstehenden, Verbannte, Personen mit schlechtem Ruf und Handwerker (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 198. Aristoteles: Politik. III,5, 1278a, S. 165. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 58-59). 415  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 190. 416  Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 79.

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civile angesehen werden, „da nicht alle Menschen Bewohner von Städten seien (habitatores civitatum), das Schicksal sie daher nicht zu Bürgern im Sinne des animal civile gemacht habe.“417 Wider diese Lesart wandte Bernhard Stengel ein, dass Thomas, wenn er in seinem Kommentar den Begriff civitas gebrauche, nicht die Stadt seiner Zeit im Sinn gehabt habe, sondern die aristotelische Polis, weswegen civitas vor allem anderen als Gemeinschaft der Bürger zu verstehen sei.418 Einen territorialen Bezugspunkt im civitas-Verständnis des Aquinaten zu vermuten, wäre demnach als verfehlt anzusehen. Zwei Gesichtspunkte allerdings gewichtet dieser Einwand zu gering. Zum einen wird das geschichtliche Herkommen der civitas in Thomas’ Kommentierung der Politik auch mittels eines auf den Raum bezogenen Gedankenganges belegt. Einstmals lebten die Menschen verstreut in verschiedenen Dörfern, nicht aber vereint in einer civitas.419 Erst wenn die Dorfbewohner an einem Ort zusammenkommen, kann folglich von einer civitas gesprochen werden.420 Zum anderen ist die von Thomas gewählte Formulierung habitatores civitatum zu berücksichtigen. Der Terminus habitator impliziert ein auf die Dimension des Raumes bezogenes Verständnis. Schließlich ist man nicht der Bewohner einer Gemeinschaft, sondern eines bestimmten Raumes. Dem Begriff civitas kommt bei Thomas somit auch ein räumliches Verständnis zu. Das Kriterium der Einwohnerschaft stärkt den territorialen Fokus in der Bestimmung des Bürgers und wirft überdies die Frage auf, wie das städtische Territorium von seiner Umgebung zu unterscheiden ist. Durch seine Baulichkeiten, Häuser, Mauern und Türme? Oder grenzt sich die Stadt doch durch den Gemeinschaftsverbund der Bürgerschaft von ihrer Umgebung ab? Die seit kurzem vorliegende Übersetzung des ersten Buches von Thomas’ PolitikKommentar ins Deutsche akzentuiert den Passus vom habitator civitatis durch die Übertragung zu „Bewohner[n] einer Bürgerschaft“ in Richtung der Bürgergemeinschaft.421 Indirekt kann die Wendung habitatores civitatis jedoch den Bezug zur Stadt herstellen, verstanden als ein auch baulich geformter Raum. 417  Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 59. Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78. Meier: Mensch und Bürger. S. 71. Linhardt: Die Sozialprinzipien des heiligen Thomas von Aquin. S. 20. 418  Stengel: Der Kommentar des Thomas von Aquin zur „Politik“ des Aristoteles. S. 111-114. 419  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 76. 420  Eben der Moment der Zusammenkunft der Einwohnerschaft eines Ortes wird von Thomas in De regno ad regem Cypri jedoch einer anderen Bewertung unterzogen (Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68. Siehe Kapitel 1.3.4.3.). 421  Thomas von Aquin: Kommentar zur Politik des Aristoteles, Buch I. S. 89.

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Gemeint ist demnach mehr als allein die Bürgerschaft. Thomas weist in die Richtung, dass er hier nicht allein an einen Verbund von Bürgern denkt, sondern Bürgerschaft und den architektonisch geformten Raum der Stadt als eins erachtet. Erst die Einwohnerschaft innerhalb einer derart geformten Umgebung mache den Menschen somit zum Bürger. Allerdings spricht Thomas auch davon, dass die Notwendigkeit der beschriebenen Tätigkeiten aus Armut resultiere.422 Ist der zur Differenzierung ausschlaggebende Punkt also nicht die Unterscheidung von bebaut und unbebaut, sondern von arm und reich? Das Kriterium des Besitzes ist für den Bettelmönch lediglich vordergründig entscheidend. Im Kern basiert die Unterscheidung auf den verschiedenen Wirkungsräumen des Bürgers und des Bauern. Dem Landleben auf der einen Seite ist als Gegenstück auf der anderen Seite das namentlich nicht explizit genannte Leben in der Stadt entgegenzustellen. Ein Stadtleben, das sich, um vom Land separiert werden zu können, durch seine Baulichkeiten vom Land unterscheiden müsste. Doch ist diese Lesart des Textes nicht restlos überzeugend. Als Unterscheidungskriterium müssen die Baulichkeiten im Politik-Kommentar noch immer hinter die Bürgergemeinschaft zurücktreten. In Verbindung gesetzt wird die Bestimmung des Menschen als zōon politkon bei Aristoteles beziehungsweise als animal civile bei Thomas von Aquin mit der Aussage, dass der Mensch auch als zōon logon echon, als der Sprache befähigtes Wesen zu verstehen ist.423 Getrennt werden Bürger und Bauer daher vor allem durch die Befähigung, eine kommunikative Verständigung über gerecht und ungerecht herzustellen. Aus der Verständigung hierüber gehen Hausgemeinschaft und Bürgergemeinschaft hervor.424 Gelegt werden die Fundamente für die civitas gleichwie für das animal civile damit weniger durch die Baulichkeiten, als vielmehr durch die Sorge um die Gerechtigkeit. Mutmaßlich kann eine Verbindung zu den Baulichkeiten aber auch hier konstruiert werden, zieht man den im Mittelalter weitverbreiteten Ort der Sorge um die Gerechtigkeit mit in Betracht. Die aus dem Alten Testament vertraute Praxis der Rechtsprechung im Tor führte man im Mittelalter in den Portalen der Kirchen fort.425 Die Rechtsprechung im Tor ist in den Büchern des Alten Testaments dabei nur eine von zahlreichen genannten Tätigkeiten in 422  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78. 423  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78-79. Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 78. 424  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 79. Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 78. 425  Deimling: Das mittelalterliche Kirchenportal in seiner rechtsgeschichtlichen Bedeutung. S. 324-327. Bandmann: Die vorgotische Kirche als Himmelsstadt. S. 81-82. Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. S. 85-86. Ohler: Die Kathedrale. S. 103.

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den Toren der Stadt. Das Tor als Ort des Übertritts von einem offenen in einen durch Mauern geschlossenen Raum steht für die Trennung eines inneren von einem äußeren Bereich, von Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein, von Ordnung und Nicht-Ordnung.426 Solch vielfältiger Bedeutung entsprechend dient das Tor nicht allein für die Versammlungen der Gerichtsbarkeit.427 Reden, Beratungen, ebenso wie auch die Auslegung und Kommentierung der Gesetze fanden hier gleichsam statt.428 Als Ort der Rechtsprechung tritt das Kirchenportal solchermaßen die Rechtsnachfolge des Stadttores an.429 Um diese Bedeutung des Tores weiß auch Thomas von Aquin. In seiner Expositio super Isaiam ad litteram, dem Kommentar zu Jesaja etwa thematisiert er sie. Zwar ist fraglich, ob der Kommentar zu Jesaja im selben Zeitraum entstand wie der Politik-Kommentar, Kenntnisse aristotelischer Werke können Thomas indes unterstellt werden. Sowohl die Metaphysik als auch die Nikomachischen Ethik wurden von ihm im Kommentar zum biblischen Buch Jesaja verarbeitet.430 Wenn Thomas daher in der Expositio super Isaiam ad litteram nicht bereit ist, die Bibelstelle Jes. 29,10-21 und dem darin begegnenden Verweis auf das Tor als Ort der Gerichtsbarkeit mehr Bedeutung beizumessen, als er es durch seine Aussage, dass die Tore der Ort seien, an dem sich die Richter niederzulassen pflegten, zu erkennen gibt, weist auch dies auf die geringe Bereitschaft des Aquinaten hin, der Baukunst eine Bedeutung über ihre profanen Zwecke hinaus beizumessen.431 Die gemutmaßte Möglichkeit, eine Verbindung zu den Baulichkeiten konstruieren zu können, hat daher genau das zu bleiben: eine Mutmaßung. Im Anschluss an die Wendung vom habitator civitatis kommt Thomas auf jene Passage in der Politik des Stagiriten zu sprechen, die bei Albert dem Großen eine deutliche Abweichung von Aristoteles aufwies. Die Frage, wie 426  Herzog: Das Stadttor in Israel und in den Nachbarländern. S. 164. Niehr: Die Rechtsprechung im Tor. S. 129. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 55. 427  Hierzu etwa Dtn XVI,18-20, 2. Sam XV,2-6, Jes XXIX,20-21 und Am V,15. 428  Jer XVII,19-27, Hiob XXIX,7-25 und Neh VIII,1-8. 429  Bei der Einweihung des sakralen Bauwerks wurden dessen Türen denn auch als Stadttore bezeichnet. Deimling: Das mittelalterliche Kirchenportal in seiner rechtsgeschichtlichen Bedeutung. S. 327. Siehe auch Bandmann: Die vorgotische Kirche als Himmelsstadt. S. 82. 430  Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 56-57. Zur Datierung der Expositio super Isaiam ad litteram speziell Dondaine/Reid: Préface. S. 19*-20*. Grabmann: Die Werke des hl. Thomas von Aquin. S. 259-260. Weisheipl: Thomas von Aquin. S. 115-117. Zur Datierung des PolitikKommentars: Spindler: Einleitung. S. 7-8. Weisheipl: Thomas von Aquin. S. 336-337. 431  Thomas von Aquin: Expositio super Isaiam ad litteram. S. 93. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 56.

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jene Menschen zu beurteilen seien, die ein Leben in der Polis nicht bedürfen, hatte Thomas’ Lehrer mit dem Verweis auf den Brahmanen-König Didmius um eine originelle Antwort zu bereichern gewusst. Thomas dagegen kehrt in seiner Kommentierung zurück auf eine konventionellere Argumentationsebene, die eine Verbindung der aristotelischen Gedankenwelt mit christlicher Lehre anstrebt. Die von Aristoteles entwickelte Dichotomie übernimmt Thomas dafür nicht bedingungslos. Zwar trennt auch er jene, die ein Leben in Gemeinschaft aufgrund eines Mangels nicht bedürfen, von jenen, die ein solches Leben wegen ihren überlegenen Veranlagungen nicht benötigen, doch begründet er diese Trennung anders als der Philosoph. Im einen Fall spricht Thomas von jenen, die aufgrund einer corruptio naturae humanae fern der civitas lebten.432 Eine Verderbtheit menschlicher Natur verhindere das Leben in der civitas. Eine dem christlichen Sprachgebrauch näherstehende Ausdrucksweise, die eher auf die Sündhaftigkeit des Menschen verweist, als dass mit ihr eine Animalisierung der betreffenden Personen vollzogen würde.433 Die Gleichsetzung mit dem Tier wird bei Thomas zwar nicht fallengelassen, doch erfüllt sie nur eine sinnbildliche Funktion. Am Ende dieses Absatzes seiner Kommentierung vergleicht Thomas die durch die corruptio naturae humanae mit einem Mangel Versehenen mit Raubvögeln, da ein Vogel, wenn er nicht in Gemeinschaft lebe, räuberisch sei.434 Innerhalb seiner Argumentation steht die Betonung des tierhaften Wesens dieser Menschen daher hinter der christlich gefärbten Ausdrucksweise zurück. Auch im anderen Fall weicht Thomas von Aristoteles ab und spricht nicht von einem Gott, der „zufolge seiner Selbstgenügsamkeit [der Polis] nicht mehr bedarf […].“435 Ebenso nimmt er auch die Ausführungen Alberts des Großen nicht auf. Auf Didimus und die Möglichkeit, mit ihm eine positiv zu bewertende Form menschlichen Lebens außerhalb der civitas zu bestimmen, geht Thomas nicht ein. Wer außerhalb der civitas lebe und nicht am Mangel einer korrumpierten Natur leidet, der müsse ein Wesen sein eigen nennen, das ihn über den gewöhnlichen Menschen erhebe, ohne dabei jedoch Gott gleich zu sein. Der Gedanke an die Apotheose des Unpolitischen ist für den Christen Thomas aus naheliegenden Gründen keine Option. Thomas benötigt eine andere Erklärung für die Überlegung des Aristoteles. Im christlichen Personal findet der Dominikaner sie in den Heiligen. Johannes der Täufer und 432  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78. 433  Thomas nutzt die Wendung von der corruptio naturae humanae noch ein zweites Mal in seinen Werken. In De malo in Artikel 2 der quaestio 16 spricht er von der „corruptione humane nature“ (Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae: De malo. 16,2 ad 14, S. 291). 434  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78. 435  Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 79.

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der Eremit Antonius werden von Thomas als Beispiele angeführt.436 Sie helfen Thomas dabei, die Unregelmäßigkeit eines gleichermaßen weder der Sünde nahestehenden noch eines göttlichen Lebens außerhalb der civitas erklärbar zu machen. Außerhalb der civitas ist ein seiner Natur gemäßes Leben für das Gros der Menschen nicht möglich. Möglich ist ein solches allein den Heiligen.437 Die politische Lebensweise fokussiert Thomas damit auf den Bereich der civitas. In nuce ist in seinem Kommentar damit ein Gedankenkonstrukt entworfen, das Thomas in De regno ad regem Cypri wieder aufgreifen wird. Für ein gutes, tugendhaftes und gottgefälliges Leben benötigt der Mensch die Werke der Architektur. Lediglich jene, die gewöhnliche Menschen überragen oder die mit einem Mangel versehenen Menschen können auf die Wirkung ihrer Werke verzichten. Wegen eines Mangels in ihrem Wesen aber wissen die Letztgenannten nicht um die förderliche Wirkung der Architektur und verharren in einem Leben fern von ihr. Über ihre Architektur wird Thomas die civitas erst in den nach dem Politik-Kommentar entstandenen Werken definieren. Im Politik-Kommentar verbergen sich Verdachtsmomente, die auf ein enges Verhältnis von Politik und Architektur hinweisen. Verdachtsmomente, die als Ausdruck von Thomas’ Wohlwollen der Architektur gegenüber gelesen werden können. Doch ein echter Nachweis lässt sich im Text nicht finden. Aber nur, weil dem Politik-Kommentar eine derartige Betonung fehlt, bedeutet dies nicht, dass dem Denken des Dominikaners die Bindung an die Architektur generell fremd war. Im Folgenden werden daher weitere Texte des Aquinaten, die Summa contra gentilies und die Summa theologiae, insbesondere aber De regno ad regem Cypri auf das Verhältnis zwischen Thomas’ politischem Denken auf der einen und der Baukunst auf der anderen Seite zu untersuchen sein. 1.3.4.2 Summa contra Gentiles und Summa theologiae Über den Architekten meint man Thomas bereits in der um 1260 geschriebenen Summa contra gentiles sprechen zu hören438 – gleichwohl die thematische 436  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78. 437  Hierauf verweist auch Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,8, S. 233. Johannes der Täufer bedarf eines Lebens in Gemeinschaft nicht, weil er durch göttliches Geschenk Vollkommenheit erreicht habe (ebd. S. 233-234). 438  Zur Datierung der Summa Wörner: Nachwort. S. 567. Chenu: Das Werk des hl. Thomas von Aquin. S. 329-330. Demnach noch vor dem Politik-Kommentar abgefasst, stand die Schrift wider die Heiden noch nicht unter dem Eindruck umfassender Kenntnis des aristotelischen Werkes. Nur Teile der Schriften des Stagiriten waren Thomas zum Zeitpunkt der Niederschrift der Summa contra gentiles bekannt. Gleich zu Beginn der Summa etwa verweist der Aquinate auf Topik und Metaphysik. Allerdings sind die Bezugnahmen auf Aristoteles in Thomas’ Frühwerken noch überwiegend spärlich gesät. Erst im Zuge der Übersetzungstätigkeit des Wilhelm von Moerbeke nehmen die Verweise

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Ausrichtung der Summa einen Bezug zur Architektur unwahrscheinlich macht. Das Werk eröffnet Thomas mit den Obliegenheiten des Weisen. Sich auf Aristoteles berufend stellt der Aquinate hierbei fest, dass die richtige Ordnung und Lenkung der Dinge charakteristisch für den Weisen sei.439 Im Zusammenhang mit der ordnenden und lenkenden Kunst des Weisen wird dann die Architektur und ihr Repräsentant der Architekt, eingeführt: „Die Künste nun, die über andere herrschen, werden architektonische im Sinne von herrscherliche genannt. Deswegen nehmen auch die, die in ihnen Künstler sind und als Architekten bezeichnet werden, den Namen Weise für sich in Anspruch.“440 Der in diesem Zitat vermittelte Eindruck, dass Architektur und Architekt nicht nur eine Leitungsfunktion übernehmen, sondern auch Inbegriff gleichsam Synonym für den Weisen seien, schränkt Thomas aber sogleich wieder ein, weil die Baumeister nicht dazu in der Lage seien, „zu dem universalen Ziel aller Dinge vor[zu]dringen, […].“441 Der Architekt sei ein Weiser daher nur in dem Sinne, wie er in der Heiligen Schrift begegnet. Dort, Thomas beruft sich auf den ersten Brief des Apostel Paulus’ an die Korinther, könne gelesen werden: „Ich nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe den Grund gelegt, als ein weiser Baumeister; ein anderer baut darauf.“442 Nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Fundament auf dem Weg zur Erkenntnis könne der Architekt damit legen, so dass wahrhaft Weiser allein jener sei, der seine Betrachtung auf das Ziel des Universums richte.443 Im Hinblick auf die Ausrichtung des Werkes als einer Schrift wider die Irrtümer der Ungläubigen wird als Ziel des Weisen sodann ausgegeben, die göttliche Wahrheit zu bedenken, sie anderen darzulegen und „das ihr entgegenstehende Falsche zu bekämpfen.“444 auf Aristoteles bei Thomas zu (Flüeler: Die Rezeption der „Politica“ des Aristoteles an der Pariser Artistenfakultät im 13. und 14. Jahrhundert. S. 128-129. Flüeler: Rezeption und Interpretation der Aristotelischen „Politica“ im Späten Mittelalter. S. 28). 439  Thomas bezieht sich auf Aristoteles: Metaphysik. (Schwarz) I,2, 982a, S. 20. Den selben Einstieg wählt der doctor angelicus auch in Thomas von Aquin: Sententia libri Ethicorum. S. 3. 440  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. I,1, S.3. (Hervorhebung im Original) Vgl. auch Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. II,24, S. 71. Thomas von Aquin: Sententia libri Ethicorum. S. 8. In diesem Sinne verweist Thomas auch im PolitikKommentar auf die Architekten (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 83). 441  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. I,1, S. 3. 442  1 Kor III,10. 443  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. I,1, S. 3. 444  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. I,1, S. 5. Bildlich umgesetzt wurde dieser Anspruch des Aquinaten im unteren rechten Segment von Andrea da Firenzes Fresko Der Weg zum Seelenheil auf der Ostwand der spanischen Kapelle in Santa Maria Novella in Florenz. Hierzu etwa Perrig: Malerei und Skulptur des Spätmittelalters. S. 83.

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Architektonisches Wissen ist somit nicht als Wissen über Architektur zu verstehen, sondern als übergeordnetes, leitendes Wissen. Von der leitenden Funktion des Baumeisters gegenüber den untergeordneten Handwerkern spricht Thomas ferner im dritten Buch der Summa. Im dortigen 66. Kapitel nimmt er nun auch ausdrücklich auf die Architektur Bezug, wenn er kundtut, dass die Form eines Hauses „die dem Baumeister eigene Wirkung darstellt“ und diese von der Tätigkeit der die Steine, Hölzer und den Mörtel Vorbereitenden trennt.445 Abweichend vom sprachlichen Usus im ersten Kapitel, gebraucht er allerdings nicht den Terminus architector, sondern nutzt die Vokabel aedificator für den hier gemeinten Architekten eines Bauwerks. Die Abgrenzung des Architekten vom leitenden Künstler durch die sprachliche Unterscheidung zwischen architector und aedificator begegnet im Text auch im anschließenden Kapitel.446 Hier nutzt Thomas wieder den Begriff des architector, wenn er den Baumeister bezeichnet. Allerdings thematisiert dieses Kapitel wiederum nicht die Architektur als solche, sondern, wie es in der Kapitelüberschrift heißt, Gott als die Ursache des Tätigseins für alles Tätige.447 Als Baumeister (architector) bezeichnet Thomas in letzter Instanz daher Gott, der die erste aller Wirkursachen sei.448 Der Begriff architector ist somit auch in diesem Kapitel nicht auf den Architekten bezogen, sondern benennt einen Leitenden, unabhängig von dessen Beziehung zur Baukunst.449 Das Bemühen, die Summa contra gentiles hinsichtlich möglicher Aussagen des Aquinaten zur Architektur zu lesen, ist daher nur wenig ergiebig. Über die Baukunst äußerst sich Thomas in der Summa einerseits an zu wenig Stellen, 445  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. III,66, S. 277. 446  Ebenso wird mit der Vokabel aedificator auch in Kapitel 44 des zweiten Buches der Summa contra gentiles auf den Baumeister verwiesen, der durch seine Tätigkeit ein Haus nicht baufällig werden lasse (Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. II,44, S. 177). 447  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. III,67, S. 279. 448  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. III,67, S. 281. Hierauf rekurrierte Thomas auch schon im umfangreichen dreizehnten Kapitel des ersten Buches der Summa contra gentiles, in dem er das Sein Gottes zu beweisen sucht und hierfür etwa auf das aristotelische Argument vom unbewegten Beweger eingeht (Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. I,13, S. 43). 449  Ob mit der sprachlichen Trennung von aedificator und architector aber immer auch eine inhaltliche Trennung zwischen Baumeister und leitendem Künstler einhergeht, kann in Anbetracht des von Thomas gebrauchten Vokabulars im 73. Kapitel des zweiten Buches wieder in Frage gestellt werden. Da jeder Beweger über eigenes Werkzeug verfügen müsse, verweist Thomas auf das unterschiedliche Instrumentarium des Flötenspielers auf der einen und des Baumeister (architector) auf der anderen Seite (Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. II,73, S. 307). Da es sich beim Flötenspieler nicht um einen leitenden Künstler handelt, bezieht sich Thomas hier konkret auf den Berufsstand des Architekten, den er nun mit dem Terminus architector benennt.

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als dass man Substantielles zur Architektur erfahren könnte und andererseits auf eine Art und Weise, die inhaltlich zu wenig Aussagekraft besitzt. So macht er in den genannten Passagen der Summa auf zwei Arten von der Architektur Gebrauch. Die konkrete, auf das Bauen bezogene Architektur dient ihm lediglich als Beispiel zur Verdeutlichung der im jeweiligen Kapitel besprochenen Thematik. Als solches Beispiel ist die Architektur letztlich aber austauschbar, kann etwa durch ein anderes Handwerk, wie das Kochen in Kapitel 67 des dritten Buches, ersetzt werden.450 Um ihrer selbst willen wird die Architektur von Thomas daher nicht behandelt. Auch dort, wo Thomas vom architector im Sinne eines leitenden Künstlers spricht, bezieht er sich nicht auf den Architekten in unserem Sprachsinne. Trotzdem hat sich gerade anhand dieser Passagen der Summa eine rege geführte Forschungskontroverse entwickelt, in der mit Verweis auf die Summa contra gentiles sowie die ihr zugrundeliegende Kommentierung der Metaphysik des Aristoteles durch Thomas451 der Architektur eine dem Handwerk übergeordnete Funktion zugesprochen und der Baumeister zum Sinnbild für durch Weisheit erfolgte Planung und Leitung wird.452 Entgegengehalten wird dieser Lesart, dass ihr eine irrige Deutung der entsprechenden Textstellen bei Thomas zugrunde liege. Über seine Disziplin hinaus komme daher weder dem Architekten noch der Architektur ein Primat zu.453 Ist schon die Auslegung von Thomas’ weniger beachteten Summe strittig, gilt dies noch mehr für die Summa theologiae. Bereits über ihre Struktur lässt sich streiten. Wieder und wieder wurde die Architektonik der Summa mit der realen Architektur gotischer Kathedralen verglichen. Auf Erwin Panofskys wegweisende Studie Gotische Architektur und Scholastik zurückgehend454 wird der Vergleich von verschiedensten Autoren in den unterschiedlichsten Disziplinen

450  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. III,67, S. 279. 451  Im Kommentar zur Metaphysik schreibt Thomas: „[…] architector dicitur quasi principalis artifex: […].“ (Thomas von Aquin: In duodecim libros metaphysicorum Aristotelis expositio. I,1,26, S. 10) Eine Wendung von der Thomas auch in seinem Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus Gebrauch macht. Vgl. Thomas von Aquin: Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi episcopi parisiensis. II,10,1,3 ad 1, S. 262. 452  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 294-295. Reudenbach: Säule und Apostel. S. 316. Gaus: Weltbaumeister und Architekt. S. 41. 453  Speer: Thomas von Aquin und die Kunst. S. 337-339. Grundlegend hierzu: Senger: Der Begriff „architector“ bei Thomas von Aquin. 454  Panofsky: Gotische Architektur und Scholastik. S. 18. Zu Panofskys Arbeit etwa Burke: Was ist Kulturgeschichte. S. 23-24.

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bemüht.455 Die Überzeugungskraft des gerne und häufig gezogenen Vergleichs leidet jedoch erheblich darunter, dass er nicht allein auf die Scholastik im Allgemeinen oder Thomas von Aquin im Speziellen, sondern auch in Bezug auf andere Denker bemüht wird. Mit der Gotik verglichen wird auch die Commedia Dante Alighieris, die laut Erich Auerbach einer „phantastischen Traumgotik“ gleiche, in der Ruedi Imbach eine geistige Kathedrale und Georges Duby die letzte Kathedrale erkennen möchte.456 Die Architektonik von Commedia und Summa jedoch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, sie derart beide als geistiges Äquivalent zur gotischen Sakralarchitektur heranzuziehen, gleicht einem wenig hoffnungsvollen Unterfangen. Zu verschieden sind nicht zuletzt Sprache und Struktur der beiden Werke. Vom Vergleich mit Dantes Commedia abgesehen ist die Gleichsetzung der Summa theologiae des Thomas von Aquin mit der gotischen Sakralarchitektur aber noch aus anderen Gründen nicht vollends überzeugend. Folgt man MarieDominique Chenu, so liegt der Summa theologiae eine Struktur von exitus und reditus zu Grunde. Gott sei Ausgang und Ursprung des Werkes in der Ia Pars. Der Rückkehr zu Gott in der IIa Pars folge die Untersuchung der Rolle Christi in der IIIa Pars.457 Mit dem streng linearen Aufbau gotischer Kathedralen, die sich horizontal in die Länge und vertikal in die Höhe erstrecken,458 wäre die Summe des Aquinaten damit nicht vergleichbar.459 Nicht die Linie wäre demnach als die der Summa theologiae entsprechende geometrische Form anzunehmen. 455  Beispielsweise von Metz: Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. S. 19, 28, 65, 71 und 145. Eco: The Aesthetics of Thomas Aquinas. S. 213. Simson: Die Kunst des Hohen Mittelalters. S. 11. Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 154, 254 und 261-262. Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. S. 38. Seidel: Scholastik, Mystik und Renaissancephilosophie. S. 130. Jostmann: Das Weltende. S. 145. Behling: Die Pflanzenwelt mittelalterlicher Kathedralen. S. 120-123. Ambivalent hingegen Speer: Die Summa theologiae lesen – eine Einführung. S. 1 und 4. 456  Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt. S. 138. Imbach: Vorwort. S. 5. Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 321. 457  Chenu: Das Werk des hl. Thomas von Aquin. S. 343-344. Zur Einordnung und Diskussion von Chenus Deutung der Summa siehe etwa Speer: Die Summa theologiae lesen – Eine Einführung. S. 13-14. Cheneval/Imbach: Einleitung. S. LII. Metz: Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. S. 171-192. Pesch: Um den Plan der Summa Theologiae des hl. Thomas von Aquin. S. 420-422. Heinzmann: Die Theologie auf dem Weg zur Wissenschaft. S. 461-465. Torrell: Magister Thomas. S. 168-170. 458  Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 527-528. 459  Im Übrigen wäre damit auch zu fragen, ob der Vergleich mit Dantes Commedia hinfällig wird. Dantes Denken sei, Ernst Kantorowicz gemäß, alles nur nicht linear gewesen. Jeder Punkt in Dantes Werk weise Querverbindungen zu anderen Punkten und anderen Linien auf (Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. S. 446).

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Vielmehr fände sie Übereinstimmung in einer zu einem Kreis gebogenen Geraden;460 wobei der sich nun berührende Anfangs- und Endpunkt dieser Geraden nicht zum Übergang in einen fortwährenden Kreislauf missverstanden werden dürfte. Eher handelt es sich hierbei um die graphische Entsprechung zum Bibelvers der Offenbarung, wonach in Gott das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende zu sehen sei.461 Georges Duby sieht diesen Gedanken bei Thomas präsent auch in dessen Auseinandersetzung mit den Überlegungen des Dionysius Areopagita. Hier könne man erkennen, dass im Ausströmen von Gottes Liebe und Weisheit in die Geschöpfe eine kreisförmige Bewegung angelegt sei, da ein jedes Wesen zu jenem zurückkehre, was sein ursprüngliches Prinzip sei.462 Allerdings schlussfolgert Duby hieraus nicht, dass sich zwischen dem Denken des Aquinaten einerseits und den gotischen Sakralbauten zu Grunde liegenden Prinzipien andererseits ein Widerspruch ergibt. Viel eher meint er beide Welten, das kreisförmig angelegte Denken des Thomas von Aquin und die gotische Kunst, miteinander vereinen zu können.463 Mit der geometrischen Form des Kreises gibt er der gotischen Architektur jedoch ein Element bei, das den fundamentalen Grundsätzen gotischen Bauens zu wider läuft, da es mit der geschilderten axialen Ausrichtung auf der Horizontalen wie der Vertikalen unvereinbar bleibt. Die sich gemäß dem Muster von exitus und reditus entfaltende Struktur der Summa theologiae widerspräche noch aus einem anderen Grund dem Aufbau gotischer Kathedralen. In seiner Untersuchung Um den Plan der Summa theologiae des hl. Thomas von Aquin weist Otto Hermann Pesch auf die „soteriologische Dimension“ der IIIa Pars hin. Diese Dimension sei „das Eigengut der IIIa Pars“ und würde „daher die Zäsur zwischen Ia und IIa Pars […] markieren.“464 Die Erlösergestalt Christi, obgleich bereits in der IIa Pars vorhanden, sei dort als ein „unvermeidlicher Hinweis“ quasi „eine Störung des Ganzen“ anzusehen, wie Pesch betont.465 Als unvereinbar mit dem Aufbau gotischer Kathedralen erweist sich die Verortung der Erlösergestalt Christi im abschließenden Teil 460  Metz: Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. S. 41 sieht die Summa indes sowohl durch eine horizontale wie durch eine vertikale Linie geprägt. In der vertikalen Linie stelle sich die Gotteslehre der Prima Pars ebenso wie die Tugendlehre dar, während die horizontale Linie die triadische Makrostruktur der Summa widerspiegelt. 461  Offb XXII,13. 462  Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 265-266. 463  Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 266-267. 464  Pesch: Um den Plan der Summa Theologiae des hl. Thomas von Aquin. S. 418. Thomas von Aquin: Summa theologica. III, Prologus, S. 1. Zum Soter-Motiv vgl. Kapitel 1.1.3., Fußnote 96. 465  Pesch: Um den Plan der Summa Theologiae des hl. Thomas von Aquin. S. 418.

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der Summa deswegen, weil die Gestalt Jesu als Heilsbringer der zu Erlösenden nicht erst am Ende der Kathedralen begegnet. Oftmals findet sie sich bereits beim Betreten des Bauwerks im Tympanon des Hauptportals. Beispielsweise zeigen die Kathedralen von Chartres, Amiens und Notre Dame de Paris dort eine Darstellung des Jüngsten Gerichts beziehungsweise Christus als Weltenrichter, der die Menschheit scheidet in die Gruppe jener, die gen Himmel auffahren, und jener, die in die Hölle hinabgestoßen werden (Abb. 14).466 Blickt man ferner auf den kleinsten Bauteil innerhalb der Architektonik der Summa theologiae, so kann auch in ihm eine Struktur erkannt werden, die sich nur schwerlich mit den Baugliedern gotischer Kathedralen gleichsetzen lässt. Auf die partes, Traktate und quaestiones folgend seien die articuli der Summa um das sed-contra-Argument herum aufgebaut, so Wilhelm Metz.467 Von der vertrauten Form eines scholastischen Artikels abweichend reduziert Thomas in der Summa theologiae den Aufbau des Artikels dahingehend, dass auf das videtur quod ein deutlich verkürzter sed-contra-Teil folgt. Reduziert ist er auf nur ein Argument und führt damit nicht eine möglichst allumfassende Zahl an Gründen auf, wie dies Thomas beispielsweise in den Quaestiones disputatae praktiziert hatte. Hinter diesen rigoros gekürzten Gegenargumenten verberge sich in der Regel die von Thomas selbst vertretene Meinung.468 Das sed contra werde damit zum Dreh- und Angelpunkt der artiuli, deren Architektonik dadurch eine Mittelpunktorientierung aufweist, die nicht so sehr Bauelementen der axial ausgerichteten Kathedralen, als der Beschaffenheit des Zentralbaus gleicht.469 466  Das Motiv des Weltgerichts oder Jesu als Weltenrichter im Tympanon des Hauptportals ist natürlich nicht auf die Gotik beschränkt. Es findet sich beispielsweise ebenso bei romanischen Kirchen (Reudenbach: Die Kunst des Mittelalters. S. 114-118. Deimling: Das mittelalterliche Kirchenportal in seiner rechtsgeschichtlichen Bedeutung. S. 324). 467  Metz: Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. S. 109-110. Bedingungslos kann dieser Deutung nicht zugestimmt werden, da sie eine erhebliche Verkürzung der Argumentation des Aquinaten darstellt. 468  Von einigen Sonderfällen abgesehen, in denen der Aquinate eine vermittelnde Position zwischen den im videtur quod vertretenen und den im sed contra genannten Irrtümern einnehme, könne diese Regel Gültigkeit beanspruchen, so Wilhelm Metz: Die Architektonik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. S. 109 und 112. 469  Ein der Gotik zwar nicht fremder, in ihr aber unüblicher Bautyp (Niehr: Die Kunst des Mittelalters. S. 23-24. Paatz: die Kunst der Renaissance in Italien. S. 55). Schon im Frühen Mittelalter kristallisierte sich die bevorzugte Verwendung des Langhauses anstelle des Zentralbaus heraus (Reudenbach: Die Kunst des Mittelalters. S. 99-102. Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. S. 200-207). Reudenbachs These, wonach das Langhaus besser als der Zentralbau die Möglichkeit bot soziale Ordnung durch räumliche Ausdifferenzierung abzubilden, kann durch die Funktion der Lettner in den Sakralbauten, die Kleriker und Laien voneinander trennten, gestützt werden (Schmelzer: Der

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In diesem Zusammenhang lässt sich auch auf die der Gotik attestierte Mannigfaltigkeit ihrer Formensprache hinweisen.470 All die Fialen, all die Varianten in der Gestaltung von Fensterrosen, Wasserspeiern und Maßwerk wie auch die generelle Verschmelzung von Architektur und Skulptur in der Gotik verweisen auf die ihr eigene Formenfülle.471 Diese Vielzahl an Einzelformen mit der um Klarheit bemühten Struktur der Summa theologiae erfolgreich gleichzusetzen, ist kein leichtes Unterfangen. Schon im Prolog der Summa erklärt Thomas den Verzicht auf alles Überflüssige in seinem Text. Die Summa, gedacht als Lehrbuch für Studienanfänger der Theologie, soll ihre Leser nicht mit überflüssigen Fragen behelligen und ihren Stoff kurz und klar präsentieren.472 Die von Thomas avisierte Reduktion auf das Wesentliche spiegelt sich nicht zuletzt im sprachlichen Duktus der Summa wider. Von Formenvielfalt kann hier kaum gesprochen werden. Der nüchterne, bis ins Letzte durchstrukturierte, bar jedweden Zierrats verwendete Ausdruck des Aquinaten zielt nicht auf rhetorische Raffinesse, sondern auf größtmögliche Exaktheit. Eine Alliteration, einen Homoioteleuton oder einen Hendiadyoin wird man in ihr vergebens suchen. Alles wird der Klarheit des Gedankens untergeordnet.473 Der Vergleich gotischer Kathedralbaukunst mit der Architektonik der Summa theologiae erweist sich somit nicht als stichhaltig. Über Thomas’ Bewertung der Architektur selbst beziehungsweise über den Stellenwert der Baukunst innerhalb der Summa ist damit allerdings noch nichts gesagt. Über sie und ihr Verhältnis zur Politik lässt sich allerdings auch nur wenig sagen, da die Summa theologiae weder eine ausgearbeitete Theorie der Politik474 noch eine elaborierte Behandlung der Baukunst enthält. Was sich in der Summa mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum. S. 142-144. Köpf: Die Lettner aus dem Werkkreis des Naumburger Meisters. S. 608-609. Le Pogam: Die Lettner der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Frankreich. S. 1212-1213. Bömer: Der Westlettner des Naumburger Doms und die Erschließung seiner Bildwerke. S. 1127-1128. Jung: Das Programm des Westlettners. S. 1144-1145). 470  Paatz: Die Kunst der Renaissance in Italien. S. 44. 471  Zur Verschmelzung von Skulptur und Architektur etwa Niehr: Die Kunst des Mittelalters. S. 9-12. Schmitt: Land und Meer. S. 69. Zur Konstruktion von Fialen die Anleitungen bei Roriczer: Das Büchlein von der fialen Gerechtigkeit. S. 13-24 (zu Roriczer etwa Hiscock: The Wise Master Builder. S. 175 und 184-186). Simson: Die gotische Kathedrale. S. 26-30. 472  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 1. Prologus, S. 1-2. 473  Joseph Bernhart etwa spricht in seiner Einleitung zur Summa theologiae von der sobria ebrietas, der nüchternen Trockenheit, die ein Wesenszug nicht nur des Aquinaten, sondern auch seines Werkes gewesen sei (Bernhart: Einleitung des Herausgebers. S. XXXIII). Vgl. auch Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein! S. 163-164. 474  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 203.

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theologiae zur Architektur finden lässt, ist fragmentarisch. So ist etwa zu Beginn der Summa theologiae dem Anfang der Summa contra Gentiles ähnlich, der Architekt (architector) als beispielhaft für die Kenntnis des Weisen angeführt. Unter Rückgriff auf den schon eingangs der Summa contra Gentiles genutzten Bibelvers 1 Kor. III,10475 führt der Aquinate an, dass weise in jedem Bereich genannt werde, „der sein Urteil je aus der Betrachtung der höchsten und letzten Ursache jenes Bereiches schöpft. So nennt man in der Baukunst den Künstler, der den Plan zum Haus entwirft, weise und Baumeister, gegenüber den untergeordneten Bauleuten, die die Steine behauen und den Mörtel bereiten.“476 Die Bezugnahme auf den Berufsstand der Baumeister erfolgt indes nicht aus dem Bestreben, eine Auseinandersetzung mit der Architektur anzustoßen, sondern dient der Beantwortung der Frage, ob man die heilige Lehre Weisheit nennen könne.477 Insofern ist die Nennung des Architekten lediglich ein Hilfsmittel zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage. Ferner bleibt der Architekt hier allein auf seine Disziplin bezogen. Weise und übergeordnet ist er einzig in der Architektur.478 Keine Ausdehnung auf die Belange der Gemeinschaft oder die notwendigen Kenntnisse des Politikers. Auch wird kein Zusammenhang zwischen Baukunst und irdischem, gar himmlischem Heil von Thomas konstruiert. Auf vergleichbare Art und Weise bedient sich Thomas des Baumeisters auch im weiteren Verlauf der Summa. Zwar findet er wiederholt Erwähnung, doch im Kern bleibt er austauschbar, könnte durch den leitenden Vertreter anderer Disziplinen ersetzt werden.479 Einen anders gewichteten Gebrauch der Architektur vermutet man vorübergehend innerhalb des Lex-Traktats der Prima Secundae, erkennen zu können. 475  „Ich nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe den Grund gelegt, als ein weise Baumeister; ein anderer baut darauf.“ (1 Kor III,10) Siehe Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. I,1, S. 3. Thomas gibt diese Passage des ersten Briefes des Apostel Paulus an die Korinther indes nur gekürzt wieder wenn er schreibt: „Wie ein weiser Baumeister habe ich das Fundament gelegt.“ (Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 1. I,1,6, S. 17) 476  Thomas von Aquin: Summa theologica. I,1,6, S. 17. 477  Thomas von Aquin: Summa theologica. I,1,6, S. 16. 478  Senger: Der Begriff „architector“ bei Thomas von Aquin. S. 216-217. 479  So spricht der Aquinate etwa in Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 2. I,23,5 ad 3, S. 252 über den Architekten, der hier allerdings nicht namentlich aufgeführt wird, sondern unter dem Begriff artifex fungiert. Auch in Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 2. I,23,7, S. 258-259 macht er dergestalt Gebrauch von Baukunst und Baumeister, für den er hier jedoch den Begriff aedificator nutzt. Gleichnishaft ist der aedificator erwähnt auch in Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 8. I,103,2 ad 1, S. 8-9 und I,104,1, S. 32. Ebenso in Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 21. II-II,137,1 ad 2, S. 208-209. Dagegen meint Stefan Schuler auch in einigen der erwähnten Abschnitte in der Summa Grundsätzliches über die Bewertung des Architekten erfahren zu können (Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 294-296).

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Mit Blick auf die Frage, ob sich ein jedes Gesetz vom göttlichen Gesetz ableite, führt Thomas aus, dass die Bewegung eines Zweiten stets von jener des Ersten herrühre. Deshalb leite sich das zeitliche Gesetz vom ewigen Gesetz ab, so wie der Architekt den Plan an die ihm untergeordneten Handwerker weitergebe und ebenso, wie der König den Amtsträgern befehle.480 Sinnbildlich zieht Thomas damit eine Linie, die in Gott ihren Anfang nimmt und über den König hin zum Architekten führt, die Architektur damit in eine Reihe stellt mit der Sorge des Königs um die Gemeinschaft und der Sorge Gottes um die Welt. Vornehmlich zwei Einwände sind zu dieser Lesart vorzutragen: Zum einen findet eine über diese Analogie hinausgehende Gleichsetzung des Baumeisters mit dem ersten Beweger nicht statt. Ausdruck findet hier nur eine Überord­ nung des planenden Architekten gegenüber dem ausführenden Handwerker.481 Allein in dieser übergeordneten Stellung gegenüber den untergeordneten Ausführenden gleichen sich Architekt und König, König und Gott. In seinem Wirken bleibt der Architekt damit auf seine Disziplin bezogen. Von sich aus ist er nicht, kann er auch nicht auf das Gemeinwesen, gar die Welt ausgerichtet sein, „denn der zweite Beweger bewegt nur, insofern er vom ersten bewegt wird.“482 Zum anderen ist der Architekt hier nicht als leitender Künstler eines Bauvorhabens gemeint. Im Sinn hatte Thomas eher die eingangs erläuterten architektonischen Künste als leitende Künste, wie er sie schon zu Beginn der Summa contra Gentiles eingeführt hatte.483 Wohl deswegen spricht Thomas nicht von der Architektur, sondern vom Bereich der Künste (in artificialibus), in dem der Architekt eine leitende Rolle einnehme.484 Trotz ihrer Einbettung in den Lex-Traktat ist dieser Analogie keine originäre Wirkung auf die Politik, auf das Wesen des Gesetzes zuzusprechen. Auch hier ist Architektur lediglich ein Beispiel für die architekturferne Aussage des Artikels.485 Auf Architektur, aber auch auf den Architekten kommt Thomas abermals im ersten Artikel der quaestio 45 der Secunda Secundae, zu sprechen. Architektur und Medizin, also just jene Disziplinen, die Martianus Capella dereinst aus dem Kanon der freien Künste ausgeschlossen hatte, weil sie sich allein 480  Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 13. I-II,93,3, S. 54-55. 481  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 295. 482  Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 13. I-II,93,3, S. 54. 483  Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. I,1, S.3. 484  Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 13. I-II,93,3, S. 54. 485  Otto Hermann Pesch spricht in seiner Kommentierung des Artikels davon, dass man mit der quaestio 93 der Prima Secundae „wenn schon nicht eigentlich theologischen Boden, so doch das theologische Vorfeld [betrete]“ (Pesch: Kommentar. S. 561), auf dem die aufgeführten Beispiele – etwa das des Architekten – „[…] keine Argumente, sondern Vergleiche aus analogen, das heißt: in sich anderen, aber ähnlichen Sachstrukturen [darstellen].“ (Pesch: Kommentar. S. 566)

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auf Irdisches beziehen und keinen Beitrag zur Erkenntnis des Himmlischen leisteten,486 greift Thomas dort auf, um sich mit den Gaben der Weisheit, konkret der Frage, ob die Weisheit eine Gabe des Heiligen Geistes sei, auseinanderzusetzen. Unverkennbar handelt es sich bei seinen Ausführungen hinsichtlich der Architektur in diesem Teil der Summa um eine Bezugnahme auf seine Erläuterungen vom Beginn der Summa theologiae wie auch vom Beginn der Summa contra Gentiles. Wieder beginnt Thomas mit der Feststellung des Aristoteles, wonach es „Sache des Weisen [sei], die höchste Ursache zu betrachten, von der aus alles andere mit höchster Gewißheit beurteilt wird und nach welcher alles andere geordnet werden muß.“487 Die höchste Ursache, auf die Thomas hier rekurriert, sei auf zweifache Weise zu verstehen. Einmal könne sie für einen bestimmten Bereich, ein anderes Mal aber auch schlechthin höchste Ursache, also Gott, sein.488 Zur Erkenntnis Gottes gelangt der Mensch, wie Thomas notiert, durch den Heiligen Geist. Weisheit wird damit zu einem dem Menschen gewährten Gnadenakt erklärt, da der Einzelne zu ihr nicht kraft eigenen Denkens gelangen kann. Als wahrhaft Weisem könne vom Menschen aber erst in Anbetracht dieser Erkenntnis gesprochen werden, wie der Aquinate mit Verweis auf 1 Kor II,10 festhält.489 Jene Erkenntnis aber, die sich nicht auf die Erkenntnis schlechthin bezieht, sondern Erkenntnis in einem bestimmten Bereich ist, verbindet Thomas mit dem Beispiel des Arztes und des Baumeisters und illustriert diese Feststellung mit dem nun zum wiederholten Male bemühten Verweis auf 1 Kor III,10.490 Im Zusammenspiel mit dem letztgenannten Bibelvers lässt das corpus articuli den Schluss zu, den Architekten als dem Handwerker Übergeordneten aufzufassen, da die Einsicht des Baumeisters der causa finalis in diesem Bereich nähersteht.491 Ob damit jedoch die Architektur sogar dem Werk Gottes nahestehe,492 man folglich von einer Abkehr des Aquinaten vom Vorwurf des Martianus Capella an die Adresse der Architektur – und der Medizin – sprechen 486  Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologiae mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). IX,891, S. 298. 487  Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 17B. II-II,45,1, S. 166. Aristoteles: Metaphysik. (Schwarz) I,2, 982a, S. 20. 488  Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 17B. II,45,1, S. 166. 489  Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 17B. II,45,1, S. 166. 1 Kor II,10: „Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit.“ Endres: Kommentar. S. 476. Zu Weisheit als Gnadenakt vgl. auch Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 3. I,27,1 ad 3, S. 7-8. 490  Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 17B. II,45,1, S. 166. 1 Kor III,10. 491  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 296. 492  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 296.

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kann, erscheint auf Grundlage allein dieses Artikels fraglich. Eine Verbindung der Architektur zu den über das Irdische hinausgehenden Erkenntnisbereichen ist nicht zu erkennen. Für sich genommen ist hier genauso wenig eine nennenswerte Auseinandersetzung mit der Architektur überhaupt zu erkennen. Wieder einmal ist sie ein Sinnbild, ein Exemplum, viel mehr allerdings nicht. Über Umwege kann eine Stellungnahme des Aquinaten zur Relevanz – oder besser der nicht vorhandenen Relevanz – der Baukunst für die Politik schließlich in Artikel zwei, quaestio 169 der Secunda secundae hergestellt werden. Thomas behandelt in ihm die Frage, ob die Mode der Frauen eine Todsünde sei. Offensichtlich eine Fragestellung zunächst fern architektonischer Bezüge.493 Doch erweitert er in seinen Ausführungen zum sed contra des Artikels den Blickwinkel, indem er die Werke jedweder Kunst berücksichtigt wissen will. In dieser Passage der Summa theologiae liege der Stadt, so Umberto Eco, ein organisches Zusammenwirken von Zielen und Zwecken zugrunde.494 Im Rekurs auf Platons Dichterkritik,495 die dem doctor angelicus durch die Lektüre von Augustins De civitate Dei vertraut war,496 führt Thomas zuerst aus, dass ausschlaggebend für die Beurteilung der durch eine Kunstform geschaffenen Werke die Intention des Künstlers, nicht jedoch die Ausführung des Werks selbst sei.497 Allerdings müsse der Herrscher die Vertreter einer Kunst sodann aus der Stadt verbannen, wenn „mit den Erzeugnissen [ihrer] Kunst öfters Mißbrauch [getrieben werde] […].“498 Verstanden wird die Stadt (civitas) demnach als eine vorrangig über ihre Wertvorstellungen vereinte Gemeinschaft, in der Immaterielles dem Materiellen vorangeht. Für die Bestimmung 493  Der Artikel ist Teil von Thomas’ Auseinandersetzung mit den Kardinaltugenden. Hier konkret der Maßhaltung (temperantia), die Thomas, dem Kirchenvater Ambrosius entlehnt, gemeinsam mit Gerechtigkeit (iustitia), Klugheit (prudentia) und Tapferkeit ( fortitudo) als die vier kardinalen Tugenden benennt (Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 11. I-II,61,2, S. 225-226. Ambrosius: Expositio Evangelii secundum Lucam. PL 15, Sp. 1653). Erklärt wird der Begriff Kardinaltugend bei Thomas indes mittels einer architektonischen Metapher. Im Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus leitet Thomas den Begriff implizit vom lateinischen cardo, Türangel, ab. Die virtutes cardinales seien jene Tugenden, die wie eine Tür in das Innere eines Hauses führen (Thomas von Aquin: Scriptum super sententiis magistri Petri Lombardi. Bd. 3. III,33,2,1, sol. II, S. 1046). Hierzu Steel: Thomas’ Lehre von den Kardinaltugenden (S.th. II-II, qq. 47170). S. 322-323. 494  Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 137. 495  Platon: Der Staat (Politeia). III,12, 401b-c, S. 182-183. Platon bezieht bereits hier Bildhauer und Baumeister in seine Kritik mit ein. 496  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). II,14, S. 78-80. 497  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 22. II-II,169,2 ad 4, S. 361. 498  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 22. II-II,169,2 ad 4, S. 361-362.

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der Stadt sind die Bauten und ist die Baukunst hier nicht von Belang und spielt ebenso für die Frage des Wertekanons einer Gemeinschaft keine Rolle. Über Architektonik, Architektur und den Architekten in den Summen des Aquinaten lassen sich somit mannigfache Episoden erzählen. Erzählungen aber, die eines sie verbindenden Grundmotivs entbehren. Sie stehen isoliert nebeneinander, isoliert auch neben anderen Erzählungen innerhalb der Summen. Den sonst so schmucklosen Ton des Aquinaten aber bereichern sie um ein illustrierendes Element. 1.3.4.3 Zu Fragen der Architektur in De regno ad regem Cypri Die bislang besprochenen Werke des Thomas von Aquin behandeln die Baukunst zwar, doch ist sie nur eines von vielen Themen. Oftmals kommt ihr dabei auch nicht mehr als der Stellenwert einer randständigen Thematik zu. Weder in seiner Kommentierung der aristotelischen Politik, noch in der Summa contra gentiles oder der Summa theologiae ist Architektur von zentraler Bedeutung für die Argumentation des Aquinaten. In seinem Fragment gebliebenen Fürstenspiegel De regno ad regem Cypri schickt sich Thomas indes an, grundlegend über Architektur zu sprechen. Just der für die Beschäftigung mit dem Verständnis von Architektur bei Thomas von Aquin einschlägige Abschnitt des Fürstenspiegels blieb indes unvollendet. Der von Thomas stammende Text bricht im vierten Kapitel des zweiten Buches ab.499 Eine einheitliche Haltung zu der Frage, wie sich dieser Abbruch des Textes erklären lässt, findet sich in der Literatur zu De regno ad regem Cypri nicht. Von exotischeren Positionen abgesehen haben sich zwei Erklärungsansätze als die Forschung dominierend herausgebildet: Der eine begründet den Abbruch des Textes mit dem Tod des Adressaten, Hugo II., der andere mit dem Tod des Aquinaten selbst. Als überzeugender erweist sich heute die zweite Deutung.500 499  Hierzu beispielsweise Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 317. Chenu: Das Werk des heiligen Thomas von Aquin. S. 380. Matz: Nachwort. S. 7980. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 206. Miethke: Politiktheorie im Mittelalter. S. 28. Dagegen hegte die ältere Forschung Zweifel an dieser Sichtweise. In diesem Zusammenhang zu nennen sind etwa Walther Mohr und Martin Grabmann, die hervorheben, dass es kein Selbstzeugnis des Ptolomäus gebe, das eine Autorenschaft begründen könne, und dass die Zuweisung der Fortführung von De regno ad regem Cypri an Ptolomäus von Lucca anhand von Handschriften aus dem 15. Jahrhundert erfolgte (Mohr: Bemerkungen zur Verfasserschaft von De regimine principum. S. 132. Grabmann: Die Werke des heiligen Thomas von Aquin. S. 297-298). 500  Als Adressaten in Betracht gezogen wurden neben dem zypriotischen Herrscher Hugo II. auch weitere Könige Zyperns. Namentlich Heinrich I. und Hugo III. Auch der Sohn Kaiser Friedrichs II., Konrad, wie auch der Enkel des Kaisers, Konradin, wurden als mögliche Adressaten benannt (Mohr: Bemerkungen zur Verfasserschaft von De regimine

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Jenseits solch formaler Fragen erweist sich bereits die Eröffnung der die Baukunst behandelnden Kapitel des Fürstenspiegels als ungewöhnlich, reiht sich aber ein in die im 13. Jahrhundert erfolgende Neuausrichtung der Wahrnehmung von Architektur. Als ungewöhnlich erweist sich die Eröffnung vor allem für den an die tradierte Lesart der Anfänge der Architektur gewohnten Leser. Geradezu beiläufig weist Thomas auf die Gestalt des Romulus hin, die in den vorangegangenen Jahrhunderten noch so viel Stoff zur Diskussion geliefert hatte. Doch Diskussionswürdiges erkennt der Dominikaner an ihr nicht. Kein Wort verliert er über den Tod des Remus, kein Wort über die Nähe zur Tat des Kain. Beide werden geflissentlich übersehen. Beide will Thomas womöglich sogar übersehen. Für das Verständnis von Architektur in De regno ad regem Cypri würden sie wohl eine zu große Hypothek bedeuten. Stattdessen schreibt Thomas vom Ruhm, den ein König durch die Gründung einer Stadt erwerben könne. Unter Berufung auf Vegetius und das apokryphe alttestamentliche

principum. S. 141). Eine Widmung an Heinrich I. scheint dabei zunächst möglich. In der Biblioteca Apostolica Vaticana findet sich eine Handschrift von De regno ad regem Cypri, betitelt als Incipit fratris Thomaxis ad Henricum regem Cypri (Grabmann: Die Werke des hl. Thomas von Aquin. S. 297. Dondaine: De regno. S. 430). Indessen ist eine Widmung an Heinrich I. ebenso unwahrscheinlich wie auch Konrad, Konradin, ja selbst Hugo II, auch wenn sich der Abbruch der Arbeit mit dem Tod Hugos II. passend erklären könnte (Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 317). Hugo III. ausgenommen, würde all die eben genannten Herrscher eine Abfassung des Textes noch vor Ende der Übersetzungstätigkeit des Wilhelm von Moerbeke voraussetzen, dessen Arbeit aber die Grundlage für Thomas’ Werk darstellt (Flüeler: Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politica im Späten Mittelalter. S. 28. Grabmann: Die Werke des hl. Thomas von Aquin. S. 297). Hinfällig sind damit auch die Datierungsvorschläge von Flori und Mohr (Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 318. Mohr: Bemerkungen zur Verfasserschaft von De regimine principum. S. 141) Auch die von der Mehrheit der Forschung präferierte Datierung auf die Jahre 1265-1267 ist daher zurückzuweisen (derart datierten etwa: Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 317. Chenu: Das Werk des heiligen Thomas von Aquin. S. 379. Matz: Nachwort. S. 79. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 205. Cheneval/Imbach: Einleitung. S. XLIX. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 74). Überzeugend konnte hingegen Christoph Flüeler aufzeigen, dass Thomas die vollständige Übersetzung der Politik des Aristoteles für die Abfassung von de regno ad regem Cypri nutzte, weswegen das Werk auf die Jahre 1271-1273 zu datieren sei und folglich Hugo III. gewidmet sein müsse (Flüeler: Die Rezeption der „Politica“ des Aristoteles an der Pariser Artistenfakultät im 13. und 14. Jahrhundert. S. 128. Flüeler: Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politica im Späten Mittelalter. S. 28. Miethke: Politiktheorie im Mittelalter. S. 29).

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Buch Sirach501 hält er fest: „Niemand würde heute den Namen des Romulus kennen, hätte er nicht Rom gegründet!“502 Ehe im Folgenden der Verweis auf Vegetius (II), das gewählte Vokabular (III) und die inhärente Bezugnahme auf eine thymotisch begründete Motivation des Herrschers (IV) näher erläutert werden, ist vorab auf die schon im ersten Buch von De regno ad regem Cypri erfolgte Bezugnahme auf die Figur des Romulus und die Bedeutung der Architektur (I) einzugehen. (I) Noch bevor sich Thomas im zweiten Buch seines Fürstenspiegels eingehender mit Fragen der Architektur befasst, wird die Bedeutung des Städtebaus im dreizehnten Kapitel des ersten Buches von ihm angesprochen. Bereits hier nimmt der Aquinate auf Romulus Bezug. Und hier, wie auch später im zweiten Buch, wird Romulus allein als Gründer Roms benannt. Vom Los des Remus erfährt der Leser von De regno ad regem Cypri nichts.503 In einem Atemzug wird der Begründer der Stadt am Tiber zudem mit dem antiken Herrscher Ninus erwähnt, der die Stadt Ninive erbaut habe.504 Beide, Ninus wie Romulus, stehen stellvertretend für solche Könige, die es verstanden „die Gründung eines Reiches oder einer Stadt in das Amt eines Königs einzubeziehen, […].“505 Diesen Königen weist Thomas höhere Bedeutung zu als jenen Monarchen, die lediglich die Herrschaft über ein bestehendes Reich, eine bestehende Stadt angetreten haben. Das Amt eines Königs gleiche hierin, wie Thomas notiert, der Wirkung Gottes in der Welt. Vor allem zwei Wirkweisen des Allmächtigen möchte Thomas in diesem Zusammenhang genannt wissen. Erstens: die Erschaffung der Ordnung der Welt; zweitens: die Regierung der so geordneten Welt.506 Aus der Unterscheidung dieser beiden Wirkweisen Gottes leitet der Aquinate nachfolgend die benannte Hierarchie der Könige ab, nach der als von höherem Rang gelten könne, wer erschaffe.507 501  „Kinder zeugen und Städte gründen machen einen bleibenden Namen; […].“ (Sir XL,19) Thomas gibt die entsprechende Passage indes nur verkürzt wider und erwähnt allein die Gründung von Städten (Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61). Ebenso verschweigt er den nachfolgenden Satz: „aber eine untadelige Frau wird mehr geschätzt als beides.“ (Sir XL,19) Die Rolle der Architektur wird dadurch über Gebühr betont und der eigentliche Sinngehalt dieser Stelle aus dem Buch Sirach von Thomas verdeckt. 502  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61. 503  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,13, S. 49-50 und II,1, S. 61. 504  Über Ninus berichten etwa Diodoros: Griechische Weltgeschichte. II,2,4-II,3,3, S. 137-138 und Strabon: Strabons Geographika. XVI,2, S. 277. Im Detail von der bei den eben Genannten erzählten Gründungsgeschichte von Ninive abweichend wird im Alten Testament als Gründer von Ninive Nimrod statt Ninus aufgeführt (1. Mose X,8-11, S. 11). 505  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,13, S. 49-50. 506  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,13, S. 49. 507  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,13, S. 49-50.

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Obschon die Begründung eines Reichs oder einer Stadt dem Sechstagewerk Gottes ähnele, ist sie ihm doch nicht gleich. Wie für „[den] Schmied das Eisen und [den] Baumeister das Holz und Steine“ der für seine Zwecke zu gebrauchende Stoff sei, so habe der König die Vorgaben der Natur zu bedenken.508 Es bleibt somit ein qualitativer Unterschied in der zwischen dem städtegründenden König und Gott aufgestellten Gleichung bestehen. Im Unterschied etwa zu Nikolaus von Kues und Giorgio Vasari denkt Thomas von Aquin vom Menschen noch nicht als zweitem Gott.509 Des Menschen Schöpfungswerk ist von anderer Art und die Reihung Gott, König, Baumeister und Schmied weist noch eine deutliche Differenz zwischen Gott und König auf. Am Ende dieser Reihung hingegen ist gerade das Fehlen einer solchen Differenz bemerkenswert. Baumeister und Schmied werden als adäquate Bezugspunkte für den König ausgewiesen. Kenntnisse der artes mechanicae, präziser der bei Thomas’ Ordensbruder Vinzenz von Beauvais benannten Teildisziplinen der armatura, nämlich Schmiedekunst ( fabrilis) und Architektur (architectoria),510 werden als Bestandteil des Wissens um die gute Regierung angegeben. Sie muss ein König verstehen, will er sein Amt gewissenhaft ausüben und ein Reich begründen, das vollkommen und von Dauer ist.511 Zu diesem Wissen gehöre es, einen Platz zu wählen, der die Bewohner des zu gründenden Reichs durch die Anmut der Landschaft erfreue, der ihre Gesundheit erhalte, ihnen das zum Leben Notwendige biete und sie vor Feinden zu schützen vermöge. Sodann seien die Orte für die Gründung von Städten, Dörfern, befestigten Plätzen, Schulen, Übungsplätzen des Militärs und für die Märkte der Kaufleute zu bestimmen. Beim Bau einer Stadt schließlich gelte es, den Baugrund für Kirchen, Gerichtsgebäude und Zünfte festzusetzen und „jene Menschen zu 508  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,13, S. 50. Steckner: Der städtegründende König. S. 234. 509  Nikolaus von Kues: De beryllo. S. 9. Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. S. 98. Hieran ändert auch die von Thomas im vorangegangenen zwölften Kapitel des Fürstenspiegels getätigte Aussage nichts, dass sich der König bewusst zu sein habe, „daß er das Amt auf sich genommen hat, seinem Königreich das zu sein, was die Seele für den Leib und Gott für die Welt bedeutet.“ (Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,12, S. 48) Die Schöpfungskraft des Menschen ist von Thomas als Resultat göttlicher Eingebung gedacht und nicht das Produkt eigener Kreativität (Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 4. I,44,3, S. 12). Dagegen legen die Ausführungen in Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 2. I,14,16, S. 61-62 und I,15,2, S. 70-71 sowie I,15,2 ad 2, S. 72 nahe, dass Thomas dem Architekten die Fähigkeit zuspricht die Idee des Bauwerkes kraft eigenen Denkens zu erschaffen, er nicht auf eine äußere Eingebung angewiesen ist. 510  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,13, Sp. 1001. 511  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,13, S. 51.

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versammeln, die nach ihren Berufen entsprechende Örtlichkeiten zugewiesen erhalten müssen.“512 Deutlich machen diese Kriterien nicht zuletzt, dass Thomas die Stadt (civitas) nicht im Sinne einer Gemeinschaft ihrer Bewohner oder Bürger denkt, sondern sie architektonisch über ihre Baulichkeiten aufgefasst wissen will. Die Versammlung der Einwohnerschaft ist der ersten Tat des als Baumeister wirkenden Königs, der Festsetzung des zu bebauenden Areals, nachgeordnet. Bereits diese kurze Behandlung der Architektur im ersten Buch von De regno ad regem Cypri lässt eine Verbindung von Politik und Architektur erkennen, die grundsätzlicherer Natur ist, als die in den zuvor besprochenen Schriften des Aquinaten und zugleich das Feld für die weiteren Ausführungen im zweiten Buch bereitet. (II) Erklärungsbedürftig an Thomas’ Ausführungen zur Architektur im zweiten Buch ist zunächst die Berufung auf Vegetius. Hat sich der antike römische Militärtheoretiker auch mit Belangen des Städtebaus befasst? Oder warum nahm Thomas auf den Autor der Epitoma rei militaris Bezug? Die Schrift des Römers war im Mittelalter weit verbreitet, wurde etwa von Johannes von Salisbury und Aegidius Romanus konsultiert.513 Auch Thomas von Aquin war offenbar mit ihr vertraut – zumindest in Teilen. Das von Thomas bemühte Bild, dass es keinen größeren Ruhm für Völker und Fürsten geben könne, als die Gründung neuer oder die Erweiterung bestehender Städte, konnte der Aquinate der Vorrede zum vierten Buch des Vegetius entnehmen.514 Daneben bietet die vier Bücher umfassende Abhandlung über das Kriegswesen ihrem Leser Informationen zur Aushebung und Ausbildung von Soldaten, den verschiedenen Waffengattungen und deren Verwendung auf dem Schlachtfeld oder der Versorgung der Truppen. Architektur bespricht Vegetius dagegen in weit geringerem Umfang. Im 18. Kapitel des zweiten Buches vergleicht Vegetius „eine gut organisierte Legion [mit] einer befestigten Stadt“, weil diese wie jene all ihre Bedürfnisse versorgen könne, somit autark sei, und „weil sie sich auf offenem Feld mit Wall und Graben schützen konnte“.515 Dass Vegetius den Gedanken der Autarkie hervorhebt und darüber hinaus neuerlich auf die Befestigungsanlagen als bestimmendes Kriterium der Stadt hinweist, ist noch 512  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,13, S. 51. 513   Günther: Vegetius (Publius Flavius Vegetius Renatus). Sp. 1066-1067. Johannes von Salisbury: Policraticus. VI,2, S. 281. Aegidius Romanus: De regimine principum libri III. III,3,8, S. 339r. Küntzel: Zwischen Vegetius und Konrad Kyeser: Römische Theorie und zeitgenössische Praxis beim Bau von Schanzen im hohen und späten Mittelalter. S. 108. 514  Vegetius: Epitoma Rei Militaris. IV, Vorrede, S. 273. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61. 515  Vegetius: Epitoma Rei Militaris. II,18, S. 117.

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kein Bekunden einer tiefergehenden Beschäftigung mit Fragen des Städtebaus oder der Architektur generell. Überhaupt sind die Ausführungen des Römers zur Baukunst über weite Strecken allenfalls als rudimentär zu bezeichnen. Reflektiert wird über den Standort, Aufbau und die Befestigung des Feldlagers.516 Reflexionen, deren Prämissen gewisse Parallelen zur Gründung einer Stadt aufweisen. Lediglich die einführenden Kapitel des vierten Buches thematisieren die für die Sicherung einer Stadt notwendige Architektur.517 Seine eigentliche Bedeutung im vorliegenden Kontext erhält das Werk des Vegetius daher nicht durch die aufgeführten Überlegungen seines Autors, sondern erst durch die über Vegetius hergestellte Verbindung von Thomas von Aquin zu Vitruvs De architectura libri decem. Auf den ersten Blick ist eine Bezugnahme von Vegetius auf Vitruv und über diesem Wege vor allem von Thomas von Aquin auf Vitruv jedoch nicht ersicht­ lich. Ohne die Urheberschaft Vitruvs kenntlich zu machen, stützt sich aber auch Vegetius auf dessen Arbeit. Jene auch von Thomas herangezogene Passage, wonach die Menschen des Südens weniger tapfer seien als die des Nordens, da Blut, wie andere Flüssigkeiten auch die Eigenschaft besitze, bei Erwärmung zu verdampfen, weswegen die Menschen des wärmeren Südens über weniger Blut verfügten als jene des Nordens und deshalb sparsamer mit ihm umzugehen hätten, konnte der Militärtheoretiker dem Werk des Architekturtheoretikers entnehmen.518 Verschleiert schon Vegetius den Verweis auf Vitruv, so wird auch bei Thomas von Aquin seine Rolle verdeckt. Sowohl in der von Friedrich Schreyvogl besorgten Übersetzung der deutschen Ausgabe von De regno ad regem Cypri als auch in der lateinischen Marietti-Ausgabe des Textes findet sich kein einziger Vitruv zugewiesener Abschnitt.519 Liest man aber das zweite Buch des mittelalterlichen Fürstenspiegels beziehungsweise die noch aus Thomas’ Feder stammenden Kapitel parallel zu Vitruvs Architekturtraktat, insbesondere dessen erstem und sechstem Buch, so wird die Bezugnahme des Aquinaten auf

516  Vegetius: Epitoma Rei Militaris. I,21-24, S. 65-67 und III,8, S. 177-185. 517  Vegetius: Epitoma Rei Militaris. IV,1-5, S. 275-277. 518  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 62. Vegetius: De Re Militaris. I,2, S. 25-29. Zwar könnten diese Überlegungen auch auf andere Autoren zurückgeführt werden, wie zum Beispiel Aulus Cornelius Celsus, doch werden diese in der Literatur als unwahrscheinliche Quellen für Vegetius angesehen (Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 3941). Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. VI,1,3-4, S. 263-265. 519  Die in der Editio Leoni hinterlegte Fassung von De regno ad regem Cypri weist hingegen zwei Passagen im Werk des Aquinaten explizit Vitruv und nicht Vegetius zu (Thomas von Aquin: De regno ad regem Cypri. II,2, S. 469 und II,3, S. 470).

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Vitruv offensichtlich.520 Offensichtlich wird sie vor allem im zweiten Kapitel des zweiten Buches. In diesem beschäftigt sich der Dominikaner mit den drei bei der Wahl des Bauplatzes zu bedenkenden Faktoren: die vorherrschenden klimatischen Bedingungen, die Reinheit wie auch die Reinhaltung von Wasser und Luft sowie die Ausrichtung der zu gründenden Stadt. Wie Vitruv nimmt auch Thomas vorab eine Beeinflussung der Gesundheit durch das Klima an,521 „[…], da jedes Lebewesen von Wärme und Feuchtigkeit lebt, bei starker Hitze die natürliche Feuchtigkeit rasch ausgetrocknet, und das Leben schwindet, wie eine Lampe rasch erlischt, wenn die nährende Flüssigkeit, die eingegossen wurde, durch das Übermaß der Flamme verzehrt wird.“522 Deshalb ist es einerseits geboten, Regionen mit zu starker Hitze zu meiden, da diese die Feuchtigkeit vertrocknen lassen, andererseits habe man sich aber auch vor zu kalten Gegenden zu hüten, weil in diesen „die natürliche Wärme verlöscht.“523 Erdstrichen mit gemäßigtem Klima sei daher der Vorzug einzuräumen, „da Gesundheit in einer gewissen Mäßigkeit der Säfte besteht“524, die sich auch im Wesen der Menschen niederschlägt.525 Nach diesen auf der antiken Humorallehre fußenden Erwägungen beginnt Thomas, die Wahl des Baugrundes vor dem Hintergrund der Qualität von Wasser und Luft zu erörtern. Zu beachten habe der Städtegründer hierbei, dass nur an einem solchen Ort gebaut werde, der für die Gesundheit seiner Einwohnerschaft förderlich sei. Die Empfehlung des Dominikaners lautet daher, höher gelegenen Plätzen den Vorzug zu geben, da an diesen die Zirkulation der Luft besser sei, der Gesundheit schädliche Ausdünstungen schneller fortgeweht würden, als dies in einem Talkessel der Fall wäre. Denn „ein hochgelegener Ort steht den durchstreichenden Winden offen, durch die die Luft rein wird.“526 Wie die Luft für das physische Wohl der Menschen unabdingbar sei, so gelte es sich nicht minder um die Güte des Wassers zu sorgen, „da wir unter allem, was als Nahrung eingenommen wird, das Wasser in Speise und Trank am allerhäufigsten verwenden, [weswegen] außer der Reinheit der 520  Hierzu Steckner: Der städtegründende König. Insbesondere S. 234-235 und 241. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 75. Einen Vergleich von Vitruv und Thomas bietet auf knappem Raum Eden: St. Thomas Aquinas and Vitruvius. S. 183-185. 521  Vgl. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61-63 mit Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. I,4, S. 45; VI,1, S. 263-271; VI,4, S. 265. Zu Vitruv auch Söllner: Die hygienischen Anschauungen des römischen Architekten Vitruvius. S. 17-19. 522  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 62. 523  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 62. 524  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61. 525  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 62-63. 526  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,2, S. 63.

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Luft nichts für die Gesundheit einer Gegend so maßgebend [ist] wie gesundes Wasser.“527 Die mit der Frage nach der Beschaffenheit von Wasser und Luft zusammenhängende Sorge um einen gesunden Körper schlägt sich nicht zuletzt in einem für den Städtebau grundlegenden Prinzip nieder. Dem Traktat des Vitruv, mit Abstrichen auch der Politik des Aristoteles folgend spricht sich Thomas von Aquin für die Ausrichtung der Stadt den Windrichtungen entsprechend aus. Dem vitruvianischen Text konnte der Aquinate die hierbei zu befolgenden Prinzipien entnehmen, die eine beständige Luftzirkulation ebenso gewährleisten sollen wie die gleichmäßige Einstrahlung der Sonne, und dadurch Krankheiten erregende schlechte Luft von der Stadt fernhalten.528 Argumentationsfiguren aus Vitruvs De architectura libri decem übernimmt Thomas von Aquin noch weitere Male im Verlauf seines Fürstenspiegels. Trotz der Warnung in Sumpfgebieten nicht zu bauen, da Sümpfe wegen der in ihnen entstehenden Ausdünstungen als Brutstätten der Pest angesehen werden müssten, ist Thomas bereit, Ausnahmen von dieser Regel zuzulassen. In manchen Fällen wisse die Architektur darum, die schlimmsten Wirkungen dieser Gebiete einzudämmen, indem sie die Zirkulation von Wasser und Luft wieder einsetzen lasse.529 Für den König, der eine civitas gründen will, bedeute dies, dass er mit diesem fachspezifischen Wissen vertraut sein müsse. Das Wissen um architektonische Sachfragen wird damit zu Herrschaftswissen in dem Sinne, dass es in den Rang eines unverzichtbaren Bestandteils des königlichen Curriculums erhoben wird. Ohne dieses Wissen laufe der König Gefahr, einen Weg zu bestimmen, der die Gemeinschaft von ihrem Ziel ableitet.530 Es bedeutet ferner aber auch, dass eine wichtige Eigenschaft des städtegründenden Königs sein muss, sich den Umständen anzupassen, sich

527  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,2, S. 66. Vor dem Hintergrund der großen Pestepidemie Mailands von 1484-1485 zog Leonardo da Vinci ganz ähnlichen Schlussfolgerungen und machte sich an den Entwurf seiner berühmten doppelstöckigen Stadt, deren Kanalisation die Reinhaltung von Wasser und Luft und damit die Gesundheit des Gemeinwesens gewähren sollte (Arasse: Leonardo da Vinci. S. 163). 528  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,2, S. 63-65. Aristoteles: Politik. VII,11,1330b S. 345-346. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. I,6, S. 59-69. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 75. Knell: Vitruvs Architekturtheorie. S. 41. 529  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,2, S. 64. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. I,4,11, S. 51-53. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 75-76. 530  Vgl. die Sinnbestimmung des Wortes König in Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,1, S. 5.

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nicht sklavisch an einmal aufgestellte Regeln zu halten, sondern Flexibilität im Umgang mit ihnen zu demonstrieren.531 Ein weiteres Mal auf Vitruv Bezug nehmen, konnte Thomas schließlich in der zu Beginn des 3. Kapitels von Buch zwei vorgetragenen Erzählung über Alexander den Großen und seinen Architekten Xenokrates respektive Deinokrates. Mit der Namensgebung des Baumeisters sowie der angeführten Quelle – Thomas nennt Aristoteles – sorgt der Dominikaner bei seinen Lesern allerdings für unnötige Verwirrung. Der Aquinate spricht in De regno ad regem Cypri von Xenokrates,532 der dem König den Vorschlag unterbreitet haben soll, eine Stadt auf einem beliebigen Berg errichten zu können. Alexander habe diesen Vorschlag jedoch mit der Frage, wie man eine solche Stadt versorgen sollte, zurückgewiesen.533 Die Erzählung findet sich in der Geschichte des politischen Denkens immer wieder. Niccolò Machiavelli wird sie ebenso erzählen wie sie vor ihm auch schon Strabon und Vitruv erzählt haben;534 Aristoteles jedoch erzählt sie nicht. Als Quelle wird Thomas daher wohl nicht der Philosoph gedient haben, sondern der Theoretiker der Architektur, der im Vorwort zum zweiten Buch seines Traktates die Geschichte von Alexander dem Großen und Deinokrates, nicht Xenokrates, erzählte (Abb. 15).535 531  Ein Gedanke, den Thomas unter dem Diktum „princeps legibus solutus est“ auch in der Summa Theologiae diskutiert hatte (Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 13. I-II,96,5 arg. 3, S. 122). Hierin darf freilich nicht, wie in der Forschung zum Teil geschehen, eine Trennung der Politik von jeglichen sittlichen Vorgaben im Sinne frühneuzeitlichen Staatsraison-Denkens gesehen werden. Siehe etwa Münkler: Im Namen des Staates. S. 17. Post: Ratio publicae utilitatis, ratio status und „Staatsräson“ (1100-1300). S. 16 und die Ausführungen des Aquinaten in Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 13. I-II,96,5 ad 3, S. 123 oder I-II,96,6, S. 128-129. Exemplarisch zur Rezeption des Thomas von Aquin im Diskurs um die Staatsraison Stolleis: Staat und Staatsräson in der Frühen Neuzeit. S. 32 und S. 102. 532  Allenfalls mit geringer Nähe zur Architektur ist unter dem Namen Xenokrates im Hellenismus lediglich ein Bildhauer aus Athen bekannt (Neudecker: Xenokrates [4]. Sp. 623). 533  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 66-67. 534  Machiavelli: Discorsi. I,1, S. 9. Strabon: Strabons Geographika. XIV,1,23, S. 25. Strabon, vor allem aber Vitruv, erzählen die Geschichte indes ausführlicher. So ist es bei ihnen nicht die Spitze eines beliebigen Berges, sondern der Gipfel des Athos, auf dem Deinokrates die Stadt errichten will. Auch ist es nicht allein die Errichtung einer Stadt, die Deinokrates im Sinn hat. Er plant den ganzen Berg in ein Bildnis Alexanders umzuwandeln, in dessen linker Hand die Mauern einer Stadt Platz finden sollen und in dessen Rechten eine gewaltige Schale das Wasser aller Flüsse des Berges sammelt, um sie dann ins Meer zu leiten (Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. II,Vorwort,1-4, S.75-77). 535  Vitruv: II,Vorwort,1-4, S. 75-77. Cornelius Steckner meint, dass Thomas nicht auf Xenokrates, sondern in der Tat auf Deinokrates hinweisen wollte (Steckner: Der städtegründende König. S. 234). Zu den Nachwirkungen der Alexander-Deinokrates-Episode siehe Warnke: Politische Landschaft. S. 110-113. Exemplarisch auch für die visuelle

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Erzählt wird die Geschichte bei Thomas wie auch vor ihm bei Vitruv in der Absicht, sie als Parabel über die Notwendigkeit der Versorgung einer Stadt mit dem Lebensnotwendigen zu verstehen. „Denn“, fügt Thomas sogleich hinzu, „wie ein neugeborenes Kind ohne die Milch der Amme nicht leben und zum Wachsen gebracht werden kann, so kann eine Stadt ohne einen gewissen Überfluß an Lebensmitteln keine große Bevölkerung haben.“536 Zwei Gründe nennt Thomas, um zu belegen, dass unwirtliche Regionen bei der Gründung einer Stadt zu meiden seien: Zum einen, weil dadurch die Autarkie der civitas nicht mehr gewährleistet werden könne. „Denn ein Ding ist um so mehr wert, je mehr es als autark befunden wird; was eines anderen bedarf, beweist eben darin einen Mangel.“537 Diesem könne die civitas zwar über den Import der für den Lebensunterhalt nötigen Güter begegnen, doch spreche die Unsicherheit von Handelswegen und die Gefahr, dass sie im Krieg nur zu leicht unterbrochen werden könnten, gegen diese Option.538 Zum anderen führt Thomas an, dass dem notwendig gewordenen Handel zu misstrauen sei. Handelsbeziehungen beinhalteten den Kontakt mit den Bürgern anderer Gemeinwesen, die anderen Gesetzen und anderen Sitten folgten als man selbst. Thomas sieht hierin nicht das Potential einer Bereicherung, sondern fürchtet, dass „das staatliche Leben in arge Verwirrung“ gerate und den Charakter der eigenen Bürgerschaft verderbe.539 Zu dieser Verderbnis trage jedoch nicht allein der Kontakt mit Fremden bei. Auch die Kaufleute des eigenen Gemeinwesens seien hierfür zur Verantwortung zu ziehen. Für sie sei das Streben nach Gewinn oberste Maxime ihres Handelns. Sich an ihrem Beispiel orientierend würde auch in der übrigen Bürgerschaft das Verlangen nach Materiellem geweckt; Tugend gehe daraufhin verloren, alles erhalte einen Preis, werde käuflich. Zuletzt stehe der persönliche Vorteil über allem und lasse dadurch das öffentliche Leben zugrunde gehen.540 Zu tadeln sei der Berufsstand der Kaufleute schließlich, weil er sich durch seinen

Umsetzung des Plans: Johann Bernhard Fischer von Erlach: Entwurff Einer Historischen Architectur. Tab. XVIII. 536  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 67. 537  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 67. Zu diesem, an Aristoteles angelehnten Argument, siehe unter anderem Aristoteles: Politik. I,2, 1252b-1253a, S. 77-78 oder II,2, 1261b, S. 109-110. 538  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 67. 539  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 67-68. 540  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68.

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Lebenswandel, fern körperlicher Arbeit im Schatten seiner Häuser weilend, zur Verteidigung des Gemeinwesens selbst disqualifiziere.541 Eingebettet sind diese Erwägungen des Aquinaten, sein Insistieren auf die Beachtung grundlegender Prinzipien bei der Gründung einer Stadt und seine Bezüge auf die Architekturtheorie des Vitruv in die von ihm aufgestellte Hierarchie menschlicher Ziele, an deren Spitze die himmlische Seligkeit verortet ist.542 Zur Erreichung der himmlischen Seligkeit wiederum kann auf die Werke der Architektur nach Thomas mittelbar wie unmittelbar nicht verzichtet werden. Unmittelbar garantieren sie durch die Wahl des geeigneten Bauplatzes die Bereitstellung materieller Güter. Durch die passende Ausrichtung der Stadt wirken sie auf die physische Gesundheit der Bürgerschaft ein und gewährleisten schließlich die Sicherheit der civitas. Mittelbar kommt ihnen überdies auch eine gewichtige Funktion bei der für die himmlische Seligkeit erforderlichen Erziehung der Bürger zur Tugend zu.543 Auch hierfür erweist sich das gewählte Areal der Stadt als entscheidend. Wie gesehen werden konnte beeinflusst bereits das vorherrschende Klima das Wesen der Menschen. Ferner gilt, dass unfruchtbare Regionen, wegen des höheren Bedarfs Handel treiben zu müssen, die sittliche Verwilderung des Gemeinwesens befördern, während die umsichtige Wahl des Bauplatzes, also die Wahl einer fruchtbaren Region, sich positiv auf die Tugend der Bürger auswirkt. Zuletzt führt Thomas noch einen dritten Aspekt auf, weshalb der Wahl des Bauplatzes Bedeutung auch für die Tugend der Bürger zukommt. Im letzten noch von ihm verfassten Kapitel von De regno ad regem Cypri kommt er auf die Anmut der die Stadt umgebenden Landschaft zu sprechen. Über sie, die amoenitas, spricht er nicht mehr auf der Grundlage Vitruvs, sondern zieht vor allem die aristotelische Tugendlehre zu Rate und macht gerade dadurch die Verbindung von Architektur und Tugend augenscheinlich.544 Die das Kapitel eröffnende Fürsprache zugunsten eines Ortes, dessen „Schönheit der Landschaft den Bewohnern Freude macht“, wird im Folgenden um die Warnung vor einem Übermaß an landschaftlicher Anmut ergänzt.545 Eine über die Maßen hohe Annehmlichkeit der Landschaft verführe zu einem Übermaß an Vergnügung. Der permanente Genuss lasse

541  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68. 542  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,15, S. 57. 543  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,15, S. 58. 544  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 76. Wiederrum ist auch hier das von Thomas gebrauchte Vokabular von Interesse. Die Schönheit der Natur wird mittels ihrer Abgrenzung von Architektur charakterisiert (amoenitas). Sie ist nicht pulchritudo, sie ist jenseits der Mauern. 545  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,4, S. 69-70.

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die Gier im Menschen nach Weltlichem anwachsen, deren Befriedigung die Menschen von einem tugendhaften Leben fernhalte.546 An diesem Punkt vollzieht die Argumentation des Kapitels eine Wendung weg von der Betrachtung der Baukunst und der Natur hin zu einer rein tugendethischen Erörterung. Als Orientierungspunkt dienen ihr die Vorgaben der aristotelischen Mesotes-Lehre, deren Rezeption sich bei Thomas in der folgenden Sentenz zusammenfassen lässt, dass „durch die Vermeidung des Übermaßes […] man so leicht zur richtigen Mitte [gelangt], die das Wesen der Tugend ausmacht.“547 Mit der Warnung vor den Folgen, die der Verlust des rechten Maßes mit sich brächte, bricht der von Thomas stammende Text ab. Die weiteren auf uns gekommenen Teile des Werkes wurden aller Wahrscheinlichkeit nach von Thomas’ Schüler Ptolomäus von Lucca rund ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Aquinaten verfasst.548 Symptomatisch stehen die Annehmlichkeiten des Baugrundes damit für die Tugendlehre, wie sie Thomas bei Aristoteles vorfinden konnte. An ihr, wie auch an den im Vorangegangenen besprochenen Punkten kann der Stellenwert erkannt werden, den Thomas der Architektur in seinem Fürstenspiegel zugesprochen hat. Ein wohl durchdachter Bauplan der zu gründenden civitas wird zur Grundvoraussetzung für die Erlangung irdischer Güter und mithin des guten Lebens erklärt, das seinerseits als Voraussetzung für die himmlische Seligkeit anzusehen ist.549 Vor diesem Hintergrund erhält der Architekt beziehungsweise der als Architekt wirkende städtegründende König eine kaum zu überschätzende Bedeutung innerhalb der Argumentation von De regno ad regem Cypri. Während die Forschung in Thomas’ Schriften gerne den Architekten als den Begründer des Gemeinwesens, als Synonym des Weisen und leitender Gestalt der Wissenschaften identifizieren möchte, scheint dieses Urteil für den Kommentar zur Politik des Aristoteles, für die Summa contra gentiles und die Summa Theologiae danach zumindest fragwürdig. Für De regno ad regem Cypri jedoch weicht das Fragwürdige einem hohen Maße an Gewissheit. Tatsächlich wird Architektur in diesem Text zur Grundlage des Gemeinwesens. (III) Vom Aristoteliker Thomas von Aquin wäre zu erwarten, dass er eine Stadt (civitas) über die Gemeinschaft der Bürger erfasst. Die deutsche Übersetzung schließt diese Option auch mit ein, wenn sie von der Gründung einer 546  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,4, S. 70-71. Warnke: Politische Landschaft. S. 91. 547   Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,4, S. 70. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. II,5, 1106b, S. 44. 548  Siehe hierzu Kapitel 1.3.4.3., Fußnote 499. 549  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,15, S. 57-58.

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Stadt spricht und nicht näher ausführt, was hierunter konkret zu verstehen sei. Gegründet werden könnte ein Personenverband ebenso wie eine über ihre Bauwerke zu begreifende Gemeinschaft. Allerdings kaschiert das Vokabular der deutschen Übersetzung den von Thomas intendierten Sinngehalt dieser Passage. Thomas verweist hier ausdrücklich auf einen architektonisch aufzufassenden Akt, wenn er das Verb erbauen ( fundare) gebraucht, nicht aber die unspezifische deutsche Formulierung Gründung.550 Roms Anfang, ebenso wie die für einen König so ruhmreiche Gründung einer Stadt, wird damit an die Werke der Baukunst gebunden. Der mit dem verwendeten Vokabular vermittelte Eindruck muss sich allerdings an den anschließenden Ausführungen des Aquinaten messen lassen. Wird die Stadt auch dort vorrangig über ihre Baulichkeiten verstanden? Indirekt bezieht sich Thomas gegen Ende des dritten Kapitels von Buch II ein weiteres Mal auf diese Frage. Im Zuge seiner Ausführungen über den Stand der Kaufleute schreibt er: Schließlich pflegt auch die Stadt, deren Bevölkerung sich seltener versammelt und sich weniger innerhalb der Stadtmauern aufhält, weit friedliebender zu sein. Denn wenn Menschen häufig zusammenkommen, erwächst daraus Anstoß zu Streitigkeiten, und es bietet sich Grund für einen Aufruhr. Deshalb ist es nach der Meinung des Aristoteles nützlicher, wenn die Bevölkerung außerhalb der Städte beschäftigt wird, als wenn sie sich ständig innerhalb der Stadtmauern aufhält.551

Thomas’ Argumentation ist vielschichtig. Sie basiert zunächst auf einer Haltung, die dem republikanischen Misstrauen gegenüber Handel und Kommerz beziehungsweise dem Lob von Frugalität und Homogenität entspringt.552 Hierauf aufbauend wird die Bevölkerung der Stadt im Sinne des Friedens dazu aufgerufen, dem urbanen Raum fern zu bleiben. Von Aristoteles abweichend wird der städtische Raum dabei durch die von den Mauern gezogene Grenze definiert. Sie bestimmt damit, was als civitas aufzufassen ist und was nicht. Und sie ist es auch, die die begriffliche Trennung von Stadt (civitas) und Bevölkerung (populus) augenfällig macht. Die Unterscheidung 550  Vgl. die lateinische Textfassung von Thomas von Aquin: De regno ad regem Cypri. II,1, S. 468 mit der deutschen Übersetzung in Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61. 551  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68. Thomas bezieht sich auf Aristoteles: Politik. VI,4, 1318b, S. 304. 552   Zu dieser republikanischen Traditionslinie Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/2. S. 48. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 64.

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von civitas und urbs hingegen, wie sie etwa der Ordensbruder des Aquinaten Vinzenz von Beauvais in seinem Speculum maius gebraucht hatte,553 wird bei Thomas hinfällig. Civitas und urbs werden zu praktisch gleichbedeutenden Begriffen, wie die lateinische Fassung von „innerhalb der Stadtmauern“ aufzeigt, für die Thomas zuerst intra urbis moenia dann aber auch intra civitatis moenia gebraucht.554 Civitas ist damit nicht mehr automatisch mit Bürgerschaft zu identifizieren, sondern meint etwas anderes, etwas Zusätzliches zu der von ihr begrifflich getrennten Bevölkerung. Die Architektur wird nun als mit der civitas verflochten gedacht. Fraglich bleibt damit allerdings, welche Bedeutung der Bevölkerung einer Stadt zukommt, wenn die Stadt bereits als solche gelten kann, ohne dass sich ihre Bevölkerung in ihr aufhält. Zum eigentlichen Charakteristikum der civitas werden dann die Mauern, Gebäude, Plätze und Straßenzüge, kurz: die Baulichkeiten.555 Implizit sind es jedoch auch diese Baulichkeiten, denen Thomas die Möglichkeit einer bedenklichen Steigerung der dem Menschen zugeschriebenen Neigung zu Streit und Aufruhr attestiert. Erst durch die baulich eröffnete Möglichkeit, sich in der Stadt zu versammeln, sich innerhalb der Mauern aufzuhalten, entstehen der „Anstoß zu Streitigkeiten“ und der „Grund für einen Aufruhr“.556 Weder ist Thomas’ Blick auf Architektur damit wertfrei, noch uneingeschränkt positiv. Entgegen seinem Schweigen über den Tod des Remus und die Tat des Kain zeigt sich, dass Überbleibsel dieser Ereignisse womöglich auch in seinem Denken noch präsent sind. Die Zwistigkeiten zwischen dem Brüderpaar Kain und Abel beziehungsweise Romulus und Remus finden sich bei Thomas wohl in den Neigungen der städtischen Einwohnerschaft wieder. Die über ihre Architektur verstandene Stadt als potentieller Ort von Zwietracht lässt überdies erkennen, dass Thomas nicht allein von Aristoteles abweicht, er distanziert sich auch von seinem Lehrer Albertus Magnus. In den Augsburger Predigten hatte dieser noch die Stadt als den Ort von Sicherheit und Ruhe ausgewiesen und von dem sie umgebenden Land getrennt, das er als 553  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,25, Sp. 1009. 554  Vgl. Thomas von Aquin: De regno ad regem Cypri. II,3, S. 471 mit Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68. 555  Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 64. 556  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,3, S. 68. Angedeutet hatte sich diese Bewertung des städtischen Umfelds bereits im ersten Buch von De regno ad regem Cypri. Im vierten Kapitel ergeht auch dort die Warnung vor Zwietracht und Streit (Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,4, S. 18-19. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 64).

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das Gegenstück zur civitas supra montem verstand.557 Dagegen setzt Thomas den Frieden jenseits der Stadtmauern. Der locus amoenus erhielte in De regno ad regem Cypri folglich jene Bedeutung, die Albert dem Raum innerhalb der Mauern zuwies.558 Unter keinen Umständen darf dies jedoch dahingehend missverstanden werden, dass Thomas für eine Bewegung zurück zur Natur plädiert. Das der Natur gemäße Leben ist für Thomas kein isoliertes fern der Gemeinschaft. Trotz der in den zuvor behandelten Passagen erkennbaren Skepsis, die Thomas dem städtischen Raum gegenüber hegt, bleiben die durch die Lektüre des Aristoteles geformten Grundzüge seines politischen Denkens auf diesen Raum bezogen. Die civitas bleibt als die vollendete Form gemeinschaftlichen Lebens ausgewiesen. Wie Aristoteles geht auch Thomas davon aus, dass es nicht der natürlichen Bestimmung des Menschen entspricht, vereinzelt zu leben, sondern dass der Mensch „das für [ein] gemeinschaftliches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf [sei].“559 Dem Tier ungleich fehle es dem Menschen an einem schützenden Fell, an Hörnern, Krallen oder der Möglichkeit, sich einem Angreifer durch schnelle Flucht zu entziehen. Wegen dieser Mängel sei es dem Menschen daher eine Naturnotwendigkeit gesellig zu leben.560 Für dieses Leben sei die civitas unabdingbar, da erst sie, nicht schon die ihr vorangehenden Gemeinschaftsformen der Familie, des Hauses und der Gemeinschaft mehrerer Häuser, alles den Bedürfnissen des Lebens entsprechende bereitstelle.561 Nun aber geht Thomas noch einen Schritt weiter, ergänzt die aristotelische Argumentation um eine auf die Sicherheit der Gemeinschaft abzielende Erwägung und gibt noch mehr als die civitas die provincia, also ein aus mehreren Städten bestehendes Territorium, als die vollkommene Gemeinschaft aus, da sie „der Notwendigkeit gemeinschaftlichen Kampfes und wechselseitiger Hilfe gegen die Feinde“ besser noch entsprechen könne als eine einzelne Stadt.562 Auf der Suche nach einem selbstgenügsamen 557  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 110. Meier: Mensch und Bürger. S. 37. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 65. 558  Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 64. 559  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,1, S. 5-6. 560  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,1, S. 6. 561  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,1, S. 9-10. 562  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,1, S. 10. Im Prolog seines PolitikKommentars dagegen hatte Thomas noch von keinen über die civitas hinausgehenden Gemeinschaftsformen gesprochen (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 69). Miethke: Politiktheorie im Mittelalter. S. 36. Ähnlich argumentierend wie Thomas von Aquin auch Aegidius Romanus, der in De regimine principum die vollkommene

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politischen Leben hat der architektonisch geformte Raum der civitas daher auf der Stufe eines Vorletzten zurückzubleiben. (IV) Im Lob der Gründungstat des Romulus verbirgt Thomas eine Reminiszenz an den thymotischen Wesenszug von Politik.563 Obgleich die Anfänge seiner theoretischen Durchdringung in den Schriften Platons Thomas nicht bekannt waren,564 obgleich die mittelalterliche Tradition, wie sie etwa durch Augustinus oder Boethius begründet wurde, andere Vorgaben machte, spricht Thomas zu Beginn des ersten Kapitels von Buch zwei in De regno ad regem Cypri unverhohlen vom fortwährenden Ruhm, den ein König als Lohn für die Gründung oder Erweiterung von Städten erhalte. Schon lange wäre ein Name wie der des Romulus in Vergessenheit geraten, wenn ihn nicht die Gründung Roms unsterblich hätte werden lassen.565 Ganz anders dagegen lautete die Wertung bei Augustinus und Boethius. Ehrgeiz, Ruhm- und Herrschsucht sowie dem Gegensatz von irdischem und himmlischen Lohn widmet sich Augustinus im fünften Buch von De civitate Dei. Angetrieben von der Begierde nach Lob und Ruhm habe Rom, dessen Geschichte Augustin hier erzählt, begonnen, sich die Welt untertan zu machen und darüber nicht verstanden, dass Gott wahren Lohn nicht auf Erden, sondern erst in der ewigen civitas, in der civitas Dei austeile.566 Daher könne Romulus auch kein Lob für seine Gründung der Stadt ausgesprochen werden.567 Ebenso vertritt auch Boethius im Trost der Philosophie die Ansicht, dass es sich bei Ehre, Macht und Ruhm um leere Versprechungen flüchtigen Glücks handele.568 Fortuna stoße die auf ihrem Rad einmal Erhobenen ebenso schnell wieder hinab, wie sie sie emporgehoben habe (Abb. 16).569 Gemeinschaft nicht bereits in der Stadt, sondern erst im Königreich sah (Aegidius Romanus: De regimine principum. III,1,1, S. 238v. Homann: Totum posse, quod est in ecclesia, reservatur in summo pontifice. S. 48-51. Zu Aegidius und Thomas Miethke: Spätmittelalter: Thomas von Aquin, Aegidius Romanus, Marsilius von Padua. S. 88-89 und 95-96). Noch über Stadt (civitas) und Reich (regnum) hinaus wird Dante Alighieri die monarchia sive imperium, den Herrschaftsbereich des Kaisers, anführen, der dem regnum particulare übergeordnet sei (Dante Alighieri: Monarchia. I,5,1-10, S. 73-77). 563  Grundlegend zur politischen Thymotik Saracino: Politische Thymotik und das Streben nach Ruhm. S. 170-184 sowie Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. S. 407-434. 564  Zur Kenntnis der platonischen Texte im Mittelalter siehe Kapitel 1.3.1., Fußnote 365. 565  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61. 566  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). V,12-20, S. 244-268. 567  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,5, S. 218-220. 568  Boethius: Trost der Philosophie. III,8, S. 95-96. 569  Über das Rad Fortunas dichtet Boethius zu Beginn des zweiten Buches der Philosophiae Consolatio: „Wenn es mit stolzer Rechten seinen Lauf wendet, / so stürzt es rückwärtsschäumend wie der Euripus: / zertritt es wild den König, der noch jüngst furchtbar, / und

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Das von diesen an der Schwelle der Antike zum Mittelalter stehenden Autoren begründete Herkommen wird bestimmend für die Sichtweise der folgenden Jahrhunderte. Noch bei Dante schützt irdischer Ruhm vor der Strafe im Jenseits nicht. Das Inferno ist voll von ruhmreichen Herrschern, Kriegern, Dichtern und Denkern.570 Sie alle, Augustinus, Boethius, Dante und ihre Brüder im Geiste, eint die Überzeugung, dass der Mensch, gleich ob König oder gemeiner Mann, seinen Lohn im Jenseits erhalte; entweder werde ihm die Gnade der Erlösung zuteil oder er erfahre seine gerechte Strafe in der Hölle. Die Nichtachtung von Ruhm und Ehre wurde vor diesem Hintergrund als prägend für die christliche Philosophie des Mittelalters und geprägt auch durch das in De regno ad regem Cypri entwickelte Denken eines Thomas von Aquin ausgegeben. Den in der Antike etablierten thymotischen Gehalt von Politik habe Thomas demnach nicht wieder rehabilitiert, ihn vielmehr aus christlicher Perspektive heraus verdammt. Erst in der Renaissance und vor allem erst bei Niccolò Machiavelli komme es daher zu einer Wiederbelebung und Politisierung der Thymotik.571 Nachvollziehbar ist der für Thomas erstellte Befund insbesondere, zieht man die Ausführungen des Aquinaten im siebten und achten Kapitel des ersten Buches seines Fürstenspiegels heran. Auf die Frage, ob Ehre und Ruhm der angemessene Lohn für das Wirken eines Königs sei, entwickelt Thomas im siebten Kapitel eine Antwort wider die Vorstellungen einer politisch gefassten Ruhmesethik. Argument an Argument reiht der Dominikaner, um die Auffassung, dass Ruhm und Ehre einem König Lohn sein könnten, zu demontieren. Ruhm und Ehre wären dem Herrscher demnach etwa eine gänzlich unbeständige Entlohnung, ferner mache sich, wer nach der Bestätigung seiner Mitmenschen heische, zu ihrem Sklaven. Auch würden, in Anbetracht eines solchen Entgelts, tüchtige Männer vom Herrscheramt ferngehalten oder, wenn sie es denn doch annähmen, ohne jede Vergütung das Amt verrichten müssen, da ihnen weder Ruhm noch Ehre bedeutsam seien.572 Anhand des Gleichnisses vom Diener, der Lohn allein von seinem Herrn erwarte, erhebt den Besiegten niedren Blick trügend. / Es hört nicht Unglück, Schluchzen rührt es nicht, sondern / des Stöhnens, das es fühllos selbst bewirkt, lacht’s noch! / So spielt es, so beweist es seiner Macht Stärke / und legt ein großes Zeichen finster vor, sieht man / zur selben Stunde am Boden jemand und glücklich.“ (Boethius: Trost der Philosophie. II,1, S. 62) 570  Auf die Bedeutung zeitlosen Ruhms für die verlorenen Seelen in Dantes Werk, auf ihr Streben nach der Verewigung des eigenen Namens weist vor dem Hintergrund christlichen Zeitempfindens Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. S. 283-284 hin. 571  Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. S. 422-423. 572  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,7, S. 27-29.

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führt Thomas im achten Kapitel an, dass auch der König als Diener des Allmächtigen allein von Gott entlohnt werde. Unter Berufung auf das Buch des Propheten Jesaja wird der Herr als Ruhmeskrone des Königs benannt,573 der keinen irdischen, sondern einen ewigen Lohn versprechen könne.574 Diktion und Argumentation weisen darauf hin, dass sich Thomas Schritt für Schritt von der antiken politischen Philosophie entfernt und seine Erklärung einer christlich gefärbten Begründung verschrieben ist. Die Dichte an direkten und indirekten Bezugnahmen auf die Heilige Schrift in Relation zur Bezugnahme auf antike Autoritäten ist in diesem Kapitel denn auch so hoch wie in kaum einem anderen von De regno ad regem Cypri.575 Insofern sprechen diese Kapitel eine vermeintlich eindeutige Sprache zu Gunsten des genannten Befundes demzufolge Thomas dem thymotischen Gehalt von Politik fern steht und ihn auf der Grundlage christlichen Denkens verwirft. Umso überraschender ist es daher, Thomas’ Äußerung zu Beginn des zweiten Buches von De regno ad regem Cypri zu lesen: Denn es vermochten, wie Vegetius sagt, die mächtigsten Völker und Fürsten keinen größeren Ruhm zu erwerben, als wenn sie neue Städte gründeten oder Gründungen anderer, durch eine Erweiterung mit ihrem Namen verknüpften. Mit diesem Zeugnis stimmt auch die Heilige Schrift überein. Der Weise Sirach (40,19) sagt: ‚Die Gründung einer Stadt verleiht dem Namen Dauer.‘ Niemand würde heute den Namen des Romulus kennen, hätte er nicht Rom gegründet!576

Unverkennbar steht dieser Abschnitt im Widerspruch zu Thomas’ vorangegangenen Erörterungen. Als Lohn erstrebenwert ist irdischer Ruhm nun also doch, da er die Erinnerung an den eigenen Namen auf ein dauerhaftes Fundament stellt. Der zuvor erhobene Einwand, dass alles Irdische vergänglich sei und gegenüber Gottes Lohn keinen Bestand habe, findet schlichtweg keine Beachtung. Selbst in der Bibel wird Thomas fündig und zieht die Heilige Schrift mittels des Buches Sirach für die Neuausrichtung seiner Argumentation heran.

573  Siehe Jes XXVIII,5. 574  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,8, S. 31-32. 575  Thomas nutzt diverse Passagen des Römerbriefs und des ersten Briefs des Apostels Petrus, die Bücher der Propheten Hesekiel und Jesaja sowie die Psalmen. Als Beispiel führt er ferner Salomo an und beruft sich auf Augustinus De civitate Dei V,24. Auf Seiten der antiken Philosophie werden Aristoteles, Cicero und Sallust namentlich genannt. Wobei hierin keine direkte Gegenüberstellung der antiken Denker mit der Bibel zu sehen ist, da Thomas zum Teil auch die genannten antiken Autoritäten zur Bestätigung seiner Argumentation heranzieht. 576  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61.

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Die Einschätzung von Ruhm und Ehre durch Thomas von Aquin hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Auf ihre Verdammung im ersten Buch folgt ihr Lob im zweiten. Aber Verdammung und Lob folgen dabei unterschiedlichen Argumentationsmustern. Das im zweiten Buch angestimmte Lob des Ruhms nimmt auf die im ersten Buch aufgeführten Gründe keinen Bezug, sondern stellt seine Rechtfertigung des Ruhmes als Antriebsmotivation für politisches Handeln der vorangegangenen Ablehnung entgegen. Gerade durch diese starre Form der Gegenüberstellung werden die Schwächen der Argumentation im zweiten Buch augenfällig. Zuerst führt Thomas die Beweise zweier Autoritäten an: den antiken Autor Vegetius und einen, verkürzt wiedergegebenen, Abschnitt des Buches Sirach. Dem stehen auch im ersten Buch die Ausführungen von Autoritäten der Antike und aus der Heiligen Schrift gegenüber, die dort allerdings in weit größerer Zahl von Thomas zu Rate gezogen werden. Die sich ergebende Schwierigkeit speist sich aber nicht aus der Quantität der von Thomas aufgeführten Quellen. Sie resultiert vielmehr aus der Konfrontation mit dem Problem von sich gegenseitig widersprechenden Autoritäten.577 Der Glaube an die Überzeugungskraft von Autoritätsbeweisen treibt die Beweisführung des Dominikaners im zweiten Buch an. Ergänzt wird diese Form des Beweises durch den Verweis auf die historisch-mythologische Gestalt des Romulus, dessen bis in Thomas’ Gegenwart reichender Nachruhm das Argument des Aquinaten untermauern soll. Wiederum findet sich die Nennung historischer Beispiele aber auch in den Kapiteln sieben und acht des ersten Buches, so dass auch hier keine neue Kategorie von Beweisen eingeführt wird.578 Auffällig hingegen ist das Fehlen vernunftlogischer Schlüsse, mit denen Thomas seine Aussprache zu Gunsten des Ruhmes im zweiten Buch zu untermauern versäumt. Während Thomas von ihnen im ersten Buch noch Gebrauch macht, spielen sie im zweiten keine Rolle mehr. Eine prinzipielle Wiederinstandsetzung thymotischer Begründungsschemata für politisches Handeln ist in Anbetracht dieser Schwächen in der Argumentation des Aquinaten daher vorläufig nicht anzunehmen. Nach wie vor unbeantwortet ist die Frage, warum Thomas trotz der bisher skizzierten Probleme das Lob irdischen Ruhms anstimmt. Ist eine Erwiderung 577  Zur Methodik der Scholastik und zum Umgang mit Autoritätsbeweisen siehe Honnefelder: Woher kommen wir? S. 42-43. Elders: Scholastische Methode. Sp. 1527. Schmidinger: Scholastik. Sp. 1334-1335. Zu den Anfängen der Sic-et-non‑Methode siehe Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode. S. 113-114. Einführend ferner auch Köhler: Autorität und philosophische Urteilsbildung. S. 101-103. 578  Der römische Feldherr Torquatus und Kaiser Nero oder die Gestalt von König Salomo werden von Thomas in diesen Kapiteln etwa benannt (Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,7, S. 29-30 und I,8, S. 35).

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auf diese Frage überhaupt möglich oder muss man sich damit begnügen, nicht mehr tun zu können als einen Widerspruch im Werk des Thomas von Aquin aufzuzeigen? Bei genauer Betrachtung der aufgeführten Passagen im Fürstenspiegel des Aquinaten fällt indes auf, dass der vermeintliche Widerspruch womöglich gar keiner ist. Im letzten Absatz des achten Kapitels von Buch I zeigt Thomas, dass bei all den im Vorangegangenen geäußerten Kritikpunkten die Bedeutung des irdischen Ruhms als handlungsleitendes Motiv des Menschen doch nicht in Gänze negiert werden konnte. Wer den Ruhm Gottes suche, finde ihn auch, stellt Thomas zunächst fest. Darüber hinaus jedoch würde der Suchende auch den von seinen Mitmenschen vergebenen Ruhm erlangen, wie das Beispiel Salomos lehre.579 Ebenso wird in den nachfolgenden Kapiteln wiederholt darauf verwiesen, dass der öffentliche Ruf der Könige stets höher sei als jener der Tyrannen, dass Könige ferner mit Macht und Reichtum, aber auch mit Ruhm belohnt würden, Tyrannen jedoch solch ein Lohn versagt bliebe.580 Durch den hiermit ausgesprochenen Belohnungsanreiz betritt der bereits abgetretene Ruhm die Bühne wieder und bereitet sogleich seinen Auftritt im zweiten Buch vor. Obwohl ihn Thomas umfassend kritisierte, kommt der Aquinate nicht umhin einzugestehen, dass das Streben nach Ruhm Anlass für gutes politisches Handeln sein kann. Thomas zeigt damit einen Weg auf, wie ein thymotisch geprägter Politikbegriff mit den Prämissen eines christlichen politischen Denkens vereint werden kann. 1.3.5 Das 13. Jahrhundert: ein rascher Blick zurück In der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung um Politik und Architektur nimmt das 13. Jahrhundert eine Schlüsselrolle ein. Brunetto Latini, Vinzenz von Beauvais, Albertus Magnus und Thomas von Aquin greifen auf die durch Hugo von St. Viktor und seine Zeitgenossen vorgenommenen Veränderungen zu und entwickeln sie in ihrem Sinne weiter. Nicht durchweg allerdings kommt der Baukunst in ihren Werken zentrale Bedeutung zu, dafür sind die Ausführungen zur Architektur etwa in den Summen des Thomas von Aquin zu sporadisch. Das Speculum Maius des Vinzenz von Beauvais, Li Livres dou Trésor des Brunetto Latini, der in Augsburg gehaltene Predigtenzyklus Alberts des Großen ebenso wie sein Kommentar zur Nikomachischen Ethik, nicht zuletzt auch der Fürstenspiegel des Thomas von Aquin, sie alle weisen der Architektur, dem Architekten und ihrer Bedeutung für die Politik in einer Konsequenz einen Stellenwert zu, wie es zuvor nicht beobachtet werden konnte. Augustins rhetorischer Frage vom Ende der Confessiones, „was aber haben wir, das wir 579  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,8, S. 35. 580  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,10, S. 45; I,11, S. 45 und S. 47.

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nicht von dir empfangen haben“,581 stellen Vinzenz und Brunetto, Albert und Thomas einen Menschen entgegen, der mit den Mitteln der Architektur seine Lebenswelt zu formen befähigt ist. Die Neuausrichtung in Bewertung und Bedeutung der Baukunst nimmt ihren Anfang bereits bei der Benennung des ersten Baumeisters. Die biblische Erzählung des Brudermordes als Ausgangspunkt der Architektur wird nahezu belanglos. Kain findet zwar noch Erwähnung, doch seine Tat und die mit ihr verbundene Abwertung der Architektur wird der Erwähnung nun nicht mehr für wert befunden. Erwähnung, nicht mehr, findet Kain bei Brunetto Latini;582 nicht einmal mehr genannt wird Kain bei Thomas von Aquin. An seiner statt führt Thomas Romulus an, dessen Geschichte Augustin noch mit jener Kains verglichen hatte, der dagegen dem Aquinaten als zu lobendes Beispiel dafür gilt, wie durch Architektur Ruhm gewonnen werden könne.583 Ersetzt in seiner Rolle als erster Architekt wird Kain bei Vinzenz von Beauvais. Seinen Platz hat Dädalus eingenommen.584 Entlastet von der Schuld Kains können die Überlegungen zu Architektur und Architekt auf ein neues Fundament gestellt werden. Hierzu gehört, dass der Architekt mehr ist, als ein lediglich ausführender Handwerker. Er ist ein Gebildeter und der Plan des Bauwerks entspringt seinem Geist.585 Aber nicht nur das einzelne Bauwerk, auch das Gemeinwesen wird als Schöpfung des Architekten gedacht. Derart gedacht zwar noch nicht bei Brunetto Latini, der das Gemeinwesen als Gründung eines Rhetors begreift, doch gehört Architektur den Kenntnissen an, die Brunetto der „Politik mit der Tat“ zurechnet und denen er den zweiten Platz nach der Rhetorik einräumt.586 Noch vor dem Rhetor, sogar dem Politiker ist es hingegen der Architekt, der im Kommentar zur Nikomachischen Ethik von Albertus Magnus als Begründer des

581  Augustinus: Bekenntnisse. XIII,15, S. 377. 582  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,20,3, S. 33. 583  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61. Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,5, S. 218-220. 584  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,16, Sp. 1003. 585  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,14, Sp. 1002. Siehe auch Albertus Magnus: Super Ethica commentum et quaestiones. I,2, S. 9 und VI,6, S. 430. Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 69-70. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 70-71 und 223. 586  Siehe Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,1,4, S. 17, I,4,5, S. 21 und III,1,7-8, S. 318. Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 79. Meier: Cosmos politicus. S. 330 und 345.

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Gemeinwesens ausgewiesen ist.587 Ebenso ist bei Thomas von Aquin Architektur Grundlage des Gemeinwesens. Es ist der Architekt beziehungsweise der als Baumeister wirkende König, der mit seinen Entscheidungen das Gemeinwesen erst errichtet.588 Das Wissen um Architektur wird durch Vinzenz von Beauvais und Brunetto Latini, Albertus Magnus und Thomas von Aquin zu den für einen Herrscher erforderlichen Kenntnissen erklärt. Mit diesen Kenntnissen sei den Missständen zu begegnen, denen sich der Mensch seit dem Sündenfall ausgesetzt sieht. Durchgehend betont werden die Belange der Baukunst hinsichtlich physischer Fürsorge für das Gemeinwesen. Physische Fürsorge mit Bedacht auf die Sicherheit des Gemeinwesens. Physische Fürsorge mit Bedacht aber auch auf die Gesundheit der Mitglieder des Gemeinwesens. Erstere wird bei Thomas von Aquin, wie zuvor bereits bei Vinzenz von Beauvais begründet durch die biologischen Mängel des Menschen, der ohne ein Fell, Hörner oder Krallen nicht dazu in der Lage sei, sich gegen die Widrigkeiten der Natur, wilde Tiere oder seine Feinde zu schützen.589 Auf die Notwendigkeit, sich vor den Gefahren der Außenwelt zu schützen, verweist ebenfalls Albert der Große,590 während Brunetto Latini zwar dieselbe Schlussfolgerung zieht, sie aber anders zu begründen weiß: Nicht die körperlichen Unzulänglichkeiten, auch nicht das Drangsal der Natur führt Brunetto an. Für ihn steht das missgünstige Wesen des Menschen im Vordergrund. Schutz vor Außenstehenden und Nachbarn fordert die Wehr durch Mauern und Gräben, Türme und Tore.591 Vor allem unter Berücksichtigung Vitruvs, wird auch die Wahl des richtigen Bauplatzes hervorgehoben. Sorge um das Klima, die Qualität von Wasser und Luft, der Fruchtbarkeit des Bodens, wie generell der Frage, ob der ins Auge gefasste Grund dazu beschaffen ist, das Gemeinwesen versorgen zu können, werden in diesem Zusammenhang erörtert.592 587  Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 71. Albertus Magnus: Super Ethica commentum et quaestiones. IX,12, S. 700. 588  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,13, S. 51. 589  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,1, S. 6. Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,25, Sp. 1009. 590  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustin. S. 106-107 und 111. Meier: Mensch und Bürger. S. 37-38. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 65. 591  Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,129,2, S. 126 und III,73,2-3, S. 391. Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 79. 592  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,13, Sp. 1001 und Spec. doc. XI,21, Sp. 1007. Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,126,1, S. 123124 sowie I,127,1 und 5, S. 124-125. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1-3, S. 61-69.

Architektur im politischen Denken des 13. Jahrhunderts

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Die mittels der Architektur zu wirkende Fürsorge wird zuletzt nicht nur mit der Physis, sondern auch mit der Psyche in Verbindung gesetzt und das irdische auf das himmlische Wohl bezogen. In diesem Sinne hatte Albert der Große das Wort in seinen Augsburger Predigten geführt, die Mauern der civitas supra montem als eine auch moralische Schutzwehr gedeutet und die civitas selbst als Fixpunkt, an dem sich Außenstehende orientieren können.593 Und derart führte auch Thomas von Aquin in De regno ad regem Cypri aus, dass die Werke der Architektur grundlegend für die Erlangung irdischer Güter seien; irdische Güter wiederum ein gutes Leben ermöglichten; ein gutes Leben schließlich Voraussetzung für die himmlische Seligkeit sei.594 In den Werken politischer Denker des 13. Jahrhunderts bricht sich die Vorstellung Bahn, dass Architektur unverzichtbarer Bestandteil von Politik ist. Wie aber lässt sich dieser Bruch erklären und warum findet er ausgerechnet im 13. Jahrhundert statt? Als ursächlich ausgeschlossen werden können die Universität und die Rezeption des vitruvianischen Architekturtraktates. Ausgeschlossen werden kann die Universität zum einen, weil die behandelten Denker dem universitären Kosmos nicht durchweg angehörten. Zum anderen, weil die Universitäten nicht erst im 13. Jahrhundert entstehen. Auf vergleichbare Weise kann auch die Rezeption Vitruvs ausgeschlossen werden. Die Auseinandersetzung mit De architectura libri decem setzt lange vor dem 13. Jahrhundert ein.595 Zwei weitere Faktoren, in ihrer Wirkung bedingt zu erwägen, können in der einsetzenden Rezeption der aristotelischen Politik und Ethik sowie der scholastischen Methodik gesehen werden. Aristoteles selbst vertrat eine weitgehend architekturferne Position. Seine Kommentatoren hingegen entwickelten Argumente, die in eine andere Richtung wiesen, wie anhand der Ausführungen von Albertus Magnus in Super ethica commentum et quaestiones und Thomas von Aquin in den Sententia libri Politicorum gesehen werden konnte. Das Abweichen von den Vorgaben des Philosophen zu erklären, ist wohl nur mittels Mutmaßungen möglich. Eine solche ist in der Verarbeitung der für die Aristoteles-Kommentatoren befremdlichen Erfahrung zu sehen, 593  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 134. 594  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,15, S. 57-58. 595  Umfassend hierzu Schuler: Vitruv im Mittelalter. Exemplarisch ist hier nur auf Schulers Auflistung der Chronologie der Bibliothekseinträge von Vitruvs De architectura vom 9. bis ins 18. Jahrhundert verwiesen (Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 132). Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. S. 31-43. Küntzel: Zwischen Vegetius und Konrad Kyeser: Römische Theorie und zeitgenössische Praxis beim Bau von Schanzen im hohen und späten Mittelalter. S. 107-108.

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dass die Worte des Stagiriten mit der eigenen Lebenswelt und den Texten der Heiligen Schrift über Kreuz lagen, eine bloße Paraphrase Aristoteles’ damit kein zufriedenstellendes Ergebnis liefern konnte.596 Stattdessen ging man nun wiederholt dazu über, das aristotelische animal politicum im Sinne auch eines animal architecturae zu deuten. Ein Indiz für die sich im 13. Jahrhundert vollziehende Veränderung der Wahrnehmung von Architektur im politischen Denken kann ferner in der inzwischen etablierten Methodik der Scholastik gemutmaßt werden. An die Stelle monastischen Zuhörens und Vertrauens auf Autoritäten trat das Abwägen von Argumenten.597 Die scholastische quaestio ersetzte die Angst vor der Frage, wie sie in der Regula Benedicti anklingt. Einer Angst, die in jeder Frage das Aufziehen von Kontroverse und Unfrieden unter den Brüdern befürchtete.598 Vor allem die Ausführungen eines Augustins oder Martianus Capella zur Architektur wurden daher nicht mehr als unbezweifelbare Festlegungen verstanden, ließen damit Raum für neue Fragen und neue Antworten. Ein gewichtigerer Anstoß für die Denker des 13. Jahrhunderts als die bislang genannten, ist in der Vorarbeit durch Hugo von St. Viktor zu sehen. Seine Aufwertung der artes mechanicae erlaubte es, neu über Architektur und das Verhältnis von Architektur und Politik zu denken. Dass der Viktoriner und sein Didascalicon den Denkern des nachfolgenden Jahrhunderts vertraut waren, belegen die Nennung von Werk und Autor beispielsweise bei Thomas von Aquin. Auf das Didascalicon weist Thomas explizit in De Trinitate hin und Hugo von St. Viktor führt er namentlich an mehreren Dutzend Stellen seines Gesamtwerks an.599 Als Erfahrungshorizont, vor dem sich das Denken über Architektur und Politik entwickelt, ist ferner auf die zunehmende Bedeutung der Stadt in Europa zu verweisen. Im 13. Jahrhundert ist der Prozess der Urbanisierung und der Gründung neuer Städte noch nicht zu einem Ende gekommen.600 Noch 596  Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 52-62. 597  Benedikt von Nursia: Die Regula Benedicti. Prolog,1, S. 63. Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 207. Honnefelder: Woher kommen wir? S. 42-43. 598  Greenblatt: Die Wende. S. 37-38. 599  Thomas von Aquin: Super Boetium de trinitate. 5,1 ad 3, S. 139. Auf Hugo von St. Viktor verweist er etwa in Thomas von Aquin: Scriptum super sententiis magistri Petri Lombardi. Bd. 3. III,1,1,4 ad 3, S. 27. Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 1. I,1,10 ad 2, S. 33-34. Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate. XIV,2, S. 442. Zur Rezeption der Schriften Hugos ferner die summarische Aufzählung bei Ehlers: H. v. St-Victor. Sp. 178. 600  Vorläufig gestoppt wird der Prozess durch die ausbrechenden Pestepidemien im 14. Jahrhundert (Benevolo: Die Stadt in der europäischen Geschichte. S. 93 und 96. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 216-219).

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immer nimmt die städtische Bevölkerung zu und noch immer werden neue Städte gegründet.601 Dieser Hintergrund lässt Bautätigkeit, Bauarbeiter und Baumeister zu einer alltäglichen Erfahrung werden. Eng an die im 13. Jahrhundert stattfindende Urbanisierung gebunden, ist schließlich auf die Bedeutung des architektonisch geformten städtischen Raums als Denkort hinzuweisen. Die Nähe zahlreicher Denker zur Architektur erklärt sich daher womöglich auch durch ihre Verortung im urbanen Raum.602 1.4

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Verortet im urbanen Raum ist auch Dante Alighieri. Mit seinem schriftstellerischen Schaffen am Anfang des 14. Jahrhunderts stehend präsentiert er sich, werden er und sein Werk gleichsam nicht als an einem Ort ruhend präsentiert. Der Wanderer und sein Werk werden vielmehr als ortlos wahrgenommen.603 Das von Domenico de Michelino geschaffene Fresko in Santa Maria del Fiore (Abb. 17) zeigt den Dichter außerhalb aller Orte. Außerhalb der Mauern Florenz’, außerhalb freilich auch der Jenseitsreiche. Dante steht auf freiem Feld, sein Denken ist ein Denken aus dieser Ortlosigkeit, aus dem Exil heraus.604 Und dennoch kreist sein Denken beständig um eine raumhafte, architektonische Komponente. Eine jede Seele verortet er genau an dem ihr zustehenden Platz im Jenseits. Städte und Stätten im Diesseits wie im Jenseits bestimmt er über ihre Architektur – dies gilt zumindest für Inferno und Purgatorio. Am Anfang des 14. Jahrhunderts stehen auch Marsilius von Padua und sein Hauptwerk, der Defensor Pacis. Mit Dante teilt Marsilius zugleich die Erfahrung der Flucht und des Exils. Mit Dante teilt Marsilius zudem das an sein Werk gerichtete Streben, es dergestalt als ein ortloses zu begreifen, dass es aus seiner Verortung am Beginn des 14. Jahrhunderts gelöst werden und als zeitloses verstanden werden könnte.605 Von Dante geschieden werden muss 601  Benevolo: Die Stadt in der europäischen Geschichte. S. 88-95. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 139. Pitz: Stadt. Sp. 2176-2177. 602  Insbesondere die aus dem Umfeld der Bettelorden stammenden Denker sind hier zu nennen. Zur Nähe etwa der Dominikaner zur Stadt Elm: Vorwort. S. 5. Siehe auch Meier: Mensch und Bürger. Anm. 7, S. 67. Freilich gilt dies nicht ausnahmslos, wie am Beispiel des Roger Bacon gezeigt werden kann (Bacon: Kompendium für das Studium der Philosophie. IV,61, S. 47-48). Zur Positionierung Dantes in Michelinos Fresko: Klinkert: Der Zusammenhang von Urbanität und Literatur bei Dante. S. 30-31. 603  Helmrath: Dante. S. 211. 604  Lüddecke: Dantes Denken politischer Ordnungsformen. S. 45. 605  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 261-262.

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Marsilius, fragt man nach dem Gehalt seiner Ausführungen zur Architektur und deren Verhältnis zur Politik. Hier repräsentiert Marsilius von Padua die Fortführung einer die Architektur mehr als metaphorisches Element innerhalb des politischen Denkens begreifende Denkrichtung. Ambrogio Lorenzetti wiederum hat mit seinem Freskenzyklus in Sienas Palazzo Pubblico eine Arbeit hinterlassen, die gespickt ist mit impliziten wie expliziten Verweisen auf das Verhältnis von Politik und Architektur. Hervor hebt er etwa architektonische Konstruktion und Dekonstruktion als Folgeerscheinung eines guten beziehungsweise eines schlechten Regiments oder die Bedeutung der Architektur für territoriale Herrschaft. Dies alles visualisiert im Medium der Freskomalerei und nicht als niedergeschriebener Traktat. Aber nicht allein das Medium, auch die Form der Darstellung ist auffallend. Dargestellt ist die Stadt, ihre Architektur und das sie umgebende Umland nicht als Phantasiegebilde, wie es laut Jacques Le Goff so oft in der Malerei geschah,606 sondern als Versuch einer realistischen Abbildung der Sieneser Gegebenheiten. Bei Bartolus von Sassoferrato schließlich findet sich nicht die Vielzahl der bei Dante Alighieri oder Ambrogio Lorenzetti anzutreffenden Bezüge zur Architektur. Allein zwei knappe Sätze aus seinem Tractatus de Tyrannia thematisieren am Beispiel des Festungsbaus die Architektur. Mit ihnen ist aufzuzeigen, wie Bartolus auf in der italienischen Renaissance geführte Diskussionen vorausweist. Lassen sich diese vier beispielhaft vorzutragenden Geschichten in einer einheitlichen Erzählung zusammenfassen? Die Unterschiede zwischen ihnen und ihren Autoren sind groß. Bereits die genutzten Medien trennen die vier Denker. Dichtung, politische Traktate und Freske stellen Leser wie Betrachter vor je eigene Herausforderungen. Auch inhaltlich nimmt ein jeder Denker seine eigene Deutung von Architektur und Politik vor. Dieser Unterschiede zum Trotz stellt eine Verbindung zwischen den Vieren ihre grundlegende Haltung zur Architektur dar. Obgleich sie der Baukunst mannigfaltige Bedeutung beimessen, eint sie doch ihre grundsätzliche Anerkennung der Architektur. Ein Rückfall auf Positionen, die in der Architektur eine nichtige Größe ansehen, findet nicht mehr statt. Die im Folgenden vorzutragende Erzählung ist mithin eine, die anhand von vier Klassikern des politischen Denkens von der Etablierung der Architektur als Bestandteil dieses Denkens im 14. Jahrhundert berichtet.

606  Le Goff: Die Liebe zur Stadt. S. 119-122.

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1.4.1 Dante und die Architektur Nicht nur gelegentlich äußert sich der Dichter der Commedia zur Architektur. Den aristotelischen Vorgaben gegenüber nicht mehr vollständig verpflichtet werde, wie Karlheinz Stierle betont, im Convivio die Stadt (cittade) und nicht wie bei Aristoteles die Familie als erster Ort der Vergemeinschaftung genannt.607 Jedoch nennt Dante im vierten Buch des Convivio die Familie als erste Form der Vergemeinschaftung, die dem gemeinschaftlichen Lebewesen Mensch sein Auskommen gewährt. Es folgen Haus und Stadt und schließlich, die über Aristoteles hinausgehenden Formen der Gemeinschaft, Königreich und universelles Kaisertum.608 Ist das Convivio somit noch unspezifisch, heißt es im Paradiso, dass der Mensch erst als Bürger das Leid seines irdischen Daseins soweit lindern könne, dass es ihm erträglich wird.609 Deutlich wird bereits in dieser Positionierung Dantes, wie weit man sich inzwischen von den frühen Ressentiments entfernt hat, die man der Architektur entgegenbrachte. Die Personalie Kain als Begründer des städtischen Raums spielt, anders als etwa für Augustinus, keine Rolle mehr. Und so ist hier zum wiederholten Male zu fragen, was das Charakteristische der Stadt ist. Ist es ein architektonisch erschlossener Raum oder denkt Dante mehr an einen Personenverband? Sind also die Bürger oder die Baulichkeiten für die Stadt ausschlaggebend? Ein erster Hinweis findet sich im XXVIII. Kapitel von Dantes Frühwerk, der Vita nova. Hier fasst der Dichter, so man die Andeutung dieser Passage dergestalt auslegt, die Stadt (civitas) vorrangig über ihre Bauten auf. Dante zitiert die Eröffnung der Lamentationes, der Klagelieder Jeremias, und 607  Stierle: Dante Alighieri. S. 26. Aristoteles: Politik. I,3, 1253b, S. 80. Dante ginge damit auch über die bei Marsilius von Padua getroffene Entscheidung hinaus, der in Dorf und Siedlung die erste Gemeinschaft sehen möchte (Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis). I,3,§ 3, S. 33. Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 65). 608  Dante Alighieri: Das Gastmahl. IV,4,1-4, S. 29. 609  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. VIII,115-117, S. 298. Für Rudolf Baehr ist hier allerdings kein Bezug auf den Raum der Stadt genommen, sondern allein ein Verweis auf das animal sociale, das auf ein Leben in Gemeinschaft angewiesene Wesen des Menschen, zu sehen (Baehr: Anmerkungen. S. 492). Ähnlich Köhler, für den der Mensch naturgemäß zwar Teil einer civitas sein müsse, der hier aber nicht näher ausführt, was eine civitas charakterisiere (Dante Alighieri: La Commedia. Anm. zu Par. VIII,116, S. 184185). Noch weiter in seiner Argumentation ging Remigio de’ Girolami, Dantes Lehrer. Er meinte, dass der Mensch nur dann Mensch sein könne, wenn er ein Bürger sei (Remigio de’ Girolami: De bono communi. S. 18. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. S. 470471. Meier: Mensch und Bürger. S. 75. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 52).

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schreibt: „Quomodo sedet sola civitas plena populo! “610 „Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war!“611 Die nach dem Tode Beatrices für Dante wie menschenleer wirkende Stadt,612 behält ihren Status als civitas auch ohne ihre Bevölkerung bei. Eine Argumentationsfigur, die in der Commedia wieder begegnet. In der Schilderung der civitas diaboli Dis ist es allein die turmbewehrte Mauer, die Dante als das bestimmende Merkmal der Stadt angibt.613 Als städtisch wird dieser Teil der Hölle somit nicht durch einen Bürgerverbund ausgewiesen, sondern einzig durch die architektonische Hegung des Raums. Die Bestimmung der Stadt über ihre Baulichkeiten, ihre Mauern, Tore und Türme, wird im Inferno zudem durch die den Strafen zugrundeliegende entpolitisierende Konstruktion der Martern unterstrichen. Das Inferno ist ein Reich ohne Sprache. Es ist ein Reich, das dem aristotelischen Gebot der Begründung der Politik auf der Sprache, dem Miteinander-Reden der Menschen, nicht ferner sein könnte.614 „Jede der verdammten Seelen ist in ewiger Vereinzelung einzig sich selbst und der eigenen Vergangenheit zugewandt.“615 Entzieht man dem verlorenen Volke aber die Befähigung zur Kommunikation, entzieht man ihm zugleich die Grundlage, auf der Aristoteles die Polis verstand. Die Polis über ihre Verfassung oder ihre Bürgerschaft zu definieren, setzt den Austausch über die Frage, wie man leben, wie man gut leben kann und will, voraus.616 Derart entmachtet bleibt der infernalischen civitas allein die Bestimmung über ihre Baulichkeiten. Aus aristotelischer Perspektive heraus betrachtet wäre in der civitas diaboli Dis demnach eine Pervertierung des Stadtgedankens zu sehen. Als Resultat dantesker Strafarchitektur scheint die Betonung der Bauwerke

610  Dante Alighieri: Das Neue Leben. S. 78. 611  Klgl I,1. Hierzu Berges: Klagelieder. S. 95-98. Frevel: Die Klagelieder. S. 86-91. Zur Rolle der Stadt als zentraler Bezugspunkt der Klagelieder ebd. S. 66-72. 612  Dante Alighieri: Das Neue Leben. S. 82. 613  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. VIII,67-IX,133, S. 34-39. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 54. Klinkert: Der Zusammenhang von Urbanität und Literatur bei Dante. S. 30-32. 614  Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 78. 615  Stierle: Dante Alighieri. S. 56. Siehe auch Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt. S. 164. 616  Zu Aristoteles’ Definition der Polis über ihre Bürgerschaft beziehungsweise Verfassung Aristoteles: Politik. III,1, 1275a, S. 155 und III,3, 1276b, S. 159. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/2. S. 173 und 189-193. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 58.

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von Dis, konform zum contrapasso-Gedanken Dantes, das Wesen der Stadt karikieren zu wollen.617 Dante nimmt dem Menschen des Inferno die Sprache. Er ist kein zōon logon echon im Sinne des Aristoteles mehr, da ihm die Befähigung zur Kommunikation mit anderen genommen ist. Ist er dann aber überhaupt noch Mensch? Was unterscheidet ihn jetzt noch von den sprachlosen Tieren? Tatsächlich fallen die Bürger der civitas diaboli hinter die Bienen und Herdentiere zurück. Zwar fehlt diesen ebenfalls die Sprache, doch sie leben in Gemeinschaft. Die Verdammten des Inferno hingegen sind isoliert, auf sich allein gestellt. Ihr Leid können sie kommunizieren, doch mehr nicht.618 Derart degradiert können sie nicht mehr den Anspruch erheben. als politische Wesen erachtet zu werden.619 Die starke Akzentuierung der Baulichkeiten für die Bestimmung der civitas diaboli erklärt sich daher womöglich aus dieser Entmachtung der Verdammten heraus. Bei genauerer Betrachtung jedoch fällt auf, dass Dante weiter geht. Er bezieht die Betonung der Baulichkeiten nicht allein auf die civitas der Verdammten, sondern auch auf das diesseitige Florenz. Auch seine Heimatstadt wird über ihre Mauern bestimmt.620 Die Betonung der Baulichkeiten bei Dante ist folglich nicht allein auf die jenseitige civitas beschränkt. Sie richtet sich ebenso auf die diesseitige. Die diesseitige Stadt wird somit ebenfalls nicht in einem traditionell aristotelischen Sinne aufgefasst, sondern erfährt ihr bestimmendes Element durch die Architektur. So verstanden ist Dantes Diktum, wonach der Status als Bürger das Leid des menschlichen Lebens in erträgliche Bahnen lenken kann, nicht auf eine als Personenverband aufzufassende civitas bezogen, sondern auf den durch Mauern und Tor definierten urbanen Raum anzuwenden. 617  Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt. S. 163-164. 618  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. X,115-123, S. 39. Sie verfügen damit lediglich über die Stimme und somit über ein Minimum an kommunikativer Befähigung. Sie verfügen aber nicht über Sprache, die dazu da ist, „um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und das Ungerechte. Das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, dass nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe verfügen.“ (Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 78) 619  Aristoteles schreibt hierzu: „Wenn aber jemand nicht in der Lage ist, an der Gemeinschaft teilzuhaben, oder zufolge ihrer Selbstgenügsamkeit ihrer nicht bedarf, der ist kein Teil des Staates, somit also entweder ein wildes Tier oder ein Gott.“ (Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 79) 620   Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. XXV,4-6, S. 360. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 54 und 66.

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Elemente der Architektur dienen Dante ferner dazu die Struktur der Commedia, die Abgrenzung des Inferno vom Diesseits, des Purgatorio vom Inferno und des irdischen Paradieses vom Läuterungsberg zu illustrieren. Wiederholt ist ein Tor zu durchschreiten, durch das dem imaginären Raum der Commedia eine weitere Gliederungsebene, zusätzlich zu der Unterscheidung verschiedener Martern, Läuterungs- beziehungsweise Erlösungsstufen, beigegeben wird. Das Höllentor öffnet den Weg zur Stadt der Schmerzen (città dolente).621 Aber auch das Tor der civitas diaboli Dis und die sieben Tore des nobile castello, der Festung im Vorfeld der Philosophenversammlung im Limbus, seien hier genannt.622 Das Tor zum Purgatorio, von gleich zwei Wächtern geschützt, dem sittenstrengen Cato und dem mit bloßem Schwert gewappnetem Engel,623 ermöglicht es dem Jenseitswanderer, den Läuterungsberg zu erklimmen, der seinerseits in Verbindung zur Architektur steht. Durch den Sturz Luzifers entstanden ist der Läuterungsberg der Antipode zu Jerusalem.624 Auf die geographische Entsprechung zu Jerusalem wird auf der Spitze des Berges nochmals Bezug genommen. Der vom Triumphzug der Kirche im irdischen Paradies angestimmte Lobgesang „Benedictus qui venis“, mit dem Jesus einstmals beim Einzug in Jerusalem empfangen wurde, lässt an die Stadt denken.625 Doch während Jesus in die Stadt einzog, befindet sich Dante inmitten der Natur. Die Querverweise auf Jerusalem können nicht kaschieren, dass es sich beim irdischen Paradies um einen Hain, einen „dichten, grünen Gotteswald“ handelt.626 Am Ende des Läuterungsberges steht das irdische Paradies daher nicht nur in Verbindung zu seinem Antipoden, sondern auch im Gegensatz 621  Dante Alighieri: La Commedia. Inf. III,1, S. 42. 622  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Bezüglich dem Tor von Dis ebd.: Inf. VIII,67-IX,106, S. 34-38. Bezüglich dem nobile castello ebd.: Inf. IV,106-111, S. 21. Zu diesem auch Kap. 2.4.3. 623  Zu Tor und Engel Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. IX,48-145, S. 169171. Zu Cato ebd.: Pur. I,31-109, S. 138-140. 624  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. XXXIV,121-126, S. 133-134 und Pur. II,1-9, S. 141. Hardt: Nachwort. S. 549. Köhler: Die Anlage von Dantes Purgatorio. S. 677. Hausmann: Dantes Kosmographie – Jerusalem als Nabel der Welt. S. 29-30. Zu den Antipoden beispielsweise: Aristoteles: Metaphysik. (Schwarz) I,5, 986a, S. 30-31. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. VIII,26, S. 122. Lukrez: De rerum natura. I,1052-1067, S. 79-81. Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XVI,9, S. 296297. Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii). VI,604-607, S. 211-212. Isidor von Sevilla: Etymologiarum libri XX. PL 82, 341 und 512. Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. I,112,1-4, S. 97-98. Eco: Die Geschichte der legendären Länder und Städte. S. 22-26. 625  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. XXX,19, S. 250. Zu Jesu Empfang beim Einzug in Jerusalem Mt XXI,9. Leonhard: Dante Alighieri. S. 129. 626  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. XXVIII,2, S. 241.

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zum „dunklen Wald“ zu Beginn der Commedia.627 Anders als im ersten Gesang der Commedia ist der Wanderer nun nicht mehr an Leib und Leben bedroht. An der Schwelle zum Übertritt ins Paradiso befindet sich Dante umgeben von Blumen, Wiesen und Bächen. Die Verwendung architektonischer Motive bricht hier abrupt ab. Wird die Architektur damit nun bedeutungslos? Was in Anbetracht des irdischen Paradieses als denkbar erscheint, bestätigen Dantes Verse jedoch nicht. Und so deutet Erich Auerbach wie Ernst Kantorowicz das Paradiso als Ausdruck der civitas Dei, der Stadt Gottes.628 In der Architektonik der Commedia befinde sich der Läuterungsberg, so führt Auerbach aus, zwischen zwei Städten: der civitas diaboli und der civitas Dei.629 Die Architekturferne des irdischen Paradieses ist damit nicht zu verwechseln mit einer generellen Verabschiedung der Architektur. Der Dualismus zweier Städte, schon für Augustinus bestimmend und im Buch Jesaja beziehungsweise der Offenbarung hinterlegt, ist auch für Dante maßgebend. Der vom Triumphzug der Kirche angestimmte Lobgesang „Benedictus qui venis“ ist daher nicht als Gleichsetzung des irdischen Paradieses mit der Stadt zu verwechseln. Vielmehr handelt es sich bei ihm um die Verheißung des Einzugs in eine Stadt. Die verheißene wahre Stadt wird im Gegensatz zum irdischen Paradies wieder über ihre Architektur charakterisiert. Als Dante im sechzehnten Gesang des Purgatorio kurz auf sie zu sprechen kommt, wird sie umschrieben allein durch ihre Türme.630 Allerdings weicht Dante die Bindung der wahren Stadt an die Architektur wieder auf, ergänzt sie zumindest um das klassische Motiv der Bürgergemeinschaft als Fundament der Stadt. Im vorletzten Gesang des Purgatorio wird dem Wanderer offenbart: „Hier wirst du kurze Zeit nur Fremdling bleiben, / […].“631 Die Übersetzung von Hermann Gmelin verdeckt hierbei leider einen gewichtigen Aspekt. Der Vers „Qui sarai tu poco tempo silvano“ spricht nicht vom Fremdsein an diesem Ort, sondern vom Verlassen des Waldes. Bei Kantorowicz heißt es daher: „Kurz wird’s nur sein, dass du im Walde bist; […].“632 Der architekturferne Wald des irdischen Paradieses wird wieder verlassen. Und es folgt 627  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. I,2, S. 7. Dante Alighieri: La Commedia. Anm. zu Pur. XXVIII,2, S. 546-547. 628  Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt. S. 163-165. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. S. 483. 629  Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt. S. 165. 630  Pur. XVI,95-96, S. 197. Siehe hierzu etwa Baehr: Anmerkungen. S. 453. Dante Alighieri: La Commedia. Anm. zu Pur. XVI,96, S. 319. 631  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. XXXII,100, S. 260. 632  Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. S. 483. In diesem Sinne übersetzt auch Hartmut Köhler den Vers mit „Hier sollst du nur für eine Weile Waldbewohner sein; / […].“ (Dante Alighieri: La Commedia. Pur. XXXII,100, S. 641)

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die Rückkehr in den städtischen Raum: „Dann wirst du mit mir ohne Ende Bürger / In jenem Rom, wo Christus selbst ein Römer.“633 Bemerkenswerterweise wird die Vorstellung vom Himmlischen Jerusalem bei Dante mit der Idee eines transzendenten Roms verbunden, wie Ernst Kantorowicz hervorhebt.634 Dante weicht damit deutlich von der scharfen Verurteilung Roms durch Augustinus ab. Rom nimmt im Dualismus von Jerusalem und Babylon nicht wie bei Augustin den Platz Babels ein, sondern steht nun gleichberechtigt neben Jerusalem.635 Trotz allem ist an diesem Rom fraglich, inwieweit es über seine Baulichkeiten zu erfassen ist. Zwei Einwände lassen an einer architektonischen Prägung der wahren Stadt zweifeln. (I) Erkenntnistheoretisch ist es nicht gänzlich überzeugend, ob der Wanderer bereits vom Läuterungsberg aus die Struktur des Paradiso überhaupt erfassen kann. (II) Inhaltlich entspricht die metaphorische Stadt des Paradiso eher einer Bürgergemeinschaft. Architektonische Charakteristika fehlen ihr, sofern man von dem zuvor zitierten Textzeugnis des Purgatorio absieht. Das Rom, in dem Christus Römer war, wird allein über die Zugehörigkeit zur römischen Bürgerschaft aufgefasst. Das Paradiso ist ein Verbund der Seelen, der sich als frei von architektonischen Elementen erweist. Die Wanderung Dantes durch die drei Reiche des Jenseits geht einher mit der allmählichen Lösung vom Materiellen. Sukzessive nimmt daher auch die Verwendung architektonischer Motive in der Commedia ab. Während im Inferno eine Mehrzahl architektonischer Formationen begegnet, und die Struktur des Purgatorio durch die Architektur zumindest gerahmt wird, ist das Paradiso immateriell. Die Verheißung der wahren Stadt im Purgatorio, von der wenigstens die Türme zu erkennen seien, ist eine Verheißung aus unzureichender Einsicht heraus. Im Paradies löst sich die welt- und unterweltsgebundene Architektur auf. Hier gilt wieder das reine Ideal der aristotelischen Bürgergemeinschaft. Für das unvollkommene Diesseits jedoch – ebenso wie für das zuvor durchschrittene Jenseits – bleibt Architektur unverzichtbarer Bestandteil menschlicher Existenz.

633  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. XXXII,101-102, S. 260. 634  Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. S. 483. 635  Ob man hierin überdies ein Echo von Dantes Ausspruch der zwei Sonnen erkennen darf? Siehe zu den zwei Sonnen bei Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. XVI,106-108, S. 197.

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1.4.2 Architektur in Marsilius von Paduas Defensor Pacis Sporadisch, nicht oft genug, um von einem systematischen Gebrauch zu sprechen, doch oft genug, um hier behandelt zu werden, begegnet die Architektur auch im politischen Hauptwerk des Marsilius von Padua, dem Defensor Pacis. Metaphorische Verwendung wird ihr bei der Schilderung der Werkkünste zuteil. Konkret bei der Beschreibung der praktischen Heilkunst (medicinalis practica), „die in gewissem Sinne die Baumeisterin ist für mehrere der vorhin genannten Künste.“636 Ein unscheinbarer Nebensatz, der jedoch auf das gestiegene Ansehen dieses Berufs hinweisen kann. Bei Marsilius, wie schon bei den zuvor behandelten Denkern, bei Thomas von Aquin oder Vinzenz von Beauvais, ist es diesem Berufsstand gelungen, sich von der Verbindung zu Kain als dem ersten Architekten zu lösen. Diese mutmaßlich als Ballast empfundene Abstammung verschweigt Marsilius und führt das Wort stattdessen lieber zugunsten der Architektur und des sie beherrschenden Berufsstandes. Hinzu tritt hier eine weitere Lesart dieser Passage des Defensor Pacis. Vasileios Syros notiert, dass sie auch als eine Reminiszenz des Aristotelikers Marsilius an die bei Aristoteles vorgenommene Einschätzung der praktischen Heilkunst verstanden werden könne. Als den lediglich mit der Durchführung betrauten Fertigkeiten übergeordnet, wird die Medizin, aufgrund ihrer architektonischen Kompetenz, eine beaufsichtigende Rolle zugesprochen. Dem Berufsstand des Architekten entsprechend kommt ihr eine gleichsam leitende wie planende Funktion zu. Ebenso wie auch dem Architekten bei der Errichtung eines Bauwerks.637 Wie im Vorangegangenen ausgeführt worden ist, räumt Marsilius nicht allein der Medizin, sondern den Werkkünsten generell einen gewichtigen Stellenwert innerhalb seines politischen Denkens ein.638 Ohne ihr Wirken ist dem Menschen ein gelingendes Leben, ein bene vivere, unmöglich.639 Auch die Baukunst, als Teil dieser Fertigkeiten, ist für die Erfüllung der Ziele des menschlichen Lebens von unverzichtbarer Bedeutung. Ohne sie bliebe der Mensch etwa dem Wirken der Elemente schutzlos ausgeliefert.640 Die Behandlung der Baukunst bleibt damit nicht bei der geschilderten metaphorischen Anwendung stehen, sondern erhält für das politische Denken des Marsilius von 636  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 6, S. 49. 637  Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 119. Aristoteles: Politik. III,11, 1282a 1-10, S. 178. 638  Siehe Kapitel 1.1.5. 639  Zum bene vivere bei Marsilius von Padua in Abgrenzung von der eudaimonia bei Aristoteles Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 83-84. 640  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,5,§ 6, S. 49.

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Padua grundsätzliche Bedeutung. Im Gegensatz zu Aristoteles erkennt er die Verbindung von Mann und Frau noch nicht als erste Gemeinschaft an. Erst die architektonisch geformte Umgebung des sich aus mehreren Bauwerken zusammengesetzten Dorfes bildet für Marsilius die erste Gemeinschaft.641 Damit nimmt die sich formierende politische Gemeinschaft im Denken des Marsilius von Padua auch mit der Architektur ihren Anfang. Doch für die vollkommene Gemeinschaft, die sich im Staat (civitas) bildende perfecta communitas, sind die Häuser des Dorfes keine ausreichende Grundlage, auf der das bene vivere möglich wäre. Hierzu bedarf es unter anderem einer größeren Kunstfertigkeit in der Architektur, weswegen der Berufsstand der Baumeister im Staat (civitas) eingeführt wurde. Im sechsten Kapitel von Buch eins des Defensor Pacis führt Marsilius diesen Schluss kurz an. Erörtert wird in diesem Kapitel zwar vorrangig die causa finalis der Priesterschaft, doch kommt er im letzten Paragraphen auch auf die Baumeister und deren Wirken für den Staat zu sprechen.642 Zu klären bleibt in diesem Zusammenhang, welchen Bezugspunkt der civitas-Begriff bei Marsilius von Padua besitzt. Dass es sich bei der civitas des Marsilius terminologisch um die von dem Übersetzer der aristotelischen Politik, dem Dominikaner Wilhelm von Moerbeke, vorgenommene Latinisierung der aristotelischen Polis handelt, darauf hat nicht zuletzt Dolf Sternberger verwiesen.643 Zugleich machte Sternberger aber auch darauf aufmerksam, dass die civitas bei Marsilius von dem räumlichen Rahmen gelöst werde, der ihr durch die aristotelische Polis gegeben war.644 Marsilius verknüpfe die civitas mit dem Reich (regnum). Begrifflich mache er dies unter anderem durch die Rede von civitas et regnum, civitas vel regnum oder regnum aut civitas deutlich.645 641   Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,3,§ 3, S. 33. Aristoteles: Politik. I,2, 1252a, S. 76. Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. S. 65. Anders als Syros sieht Ottmann in der Ableitung der politischen Gemeinschaft bei Marsilius von Padua keine Abweichung zu den Vorgaben des Aristoteles in den ersten Kapiteln der Politik (Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 263). 642  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,6,§ 10, S. 67-69. Ulrich Meier und Pier Paolo Portinaro stärken dagegen eine klassische Lesart des civitasVerständnisses bei Marsilius. Ihnen zufolge fasst Marsilius die civitas über die Gemeinschaft der Bürger auf. Von einer möglichen Bedeutung der Architektur sprechen sie nicht (Meier: Mensch und Bürger. S. 120-124. Portinaro: Am mittelalterlichen Anfang von Säkularisierung und Demokratisierung: Marsilius von Padua. S. 73). 643  Sternberger: Die Stadt als Urbild. S. 86. 644   Wobei anzumerken ist, dass der territorialen Dimension der Polis bei Aristoteles nur geringe Bedeutung zukommt. Aristoteles: Politik. III,3, 1276a, S. 158-159. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlicher Aristoteles-Rezeption. S. 53. 645  Sternberger: Die Stadt als Urbild. S. 90 und 118-119.

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Stadt und Reich verschmelzen damit zu einer Einheit, und das regnum wird zu einer Stadt im Großen.646 „[…]; damit aber nicht wegen der Vieldeutigkeit der Bezeichnungen bei unserem Unternehmen eine Unklarheit entsteht, so dürfen wir nicht übersehen, dass regnum in einer Bedeutung eine Vielzahl von Städten oder Provinzen in sich schließt, die unter einer Regierung zusammengehalten sind; bei dieser Auffassung ist regnum nicht verschieden von Stadt hinsichtlich der Staatsform, sondern vielmehr nach dem Umfang.“647 Lediglich die räumliche Ausdehnung unterscheidet die Stadt vom Reich, wodurch die zuvor über ihre Baulichkeiten verstandene Stadt nun auf das Reich erweitert wird. Jedoch wird der Stellenwert der Architektur von Marsilius hier nicht mehr explizit erläutert. Festgehalten werden kann damit, dass die architektonische Prägung des Raums für Marsilius mehr ist als lediglich eine Metapher und mehr auch ist als der Erfahrungshorizont, vor dem das regnum im marsilianischen Denken behandelt wird.648 1.4.3 Ambrogio Lorenzettis Fresken in Sienas Palazzo Publico Allemal mehr als nur Erfahrungshorizont, vor dem die eigene Gedankenwelt formuliert wird, ist die Architektur im Sieneser Freskenzyklus des Ambrogio Lorenzetti. In Sienas Palazzo Pubblico entstanden diese großformatigen Allegorien der guten wie der schlechten Regierung sowie deren Auswirkungen auf die Stadt und das sie umgebende Land in den Jahren 1338 bis 1340.649 646  Sternberger: Drei Wurzeln der Politik. S. 269. Sternberger: Die Stadt als Urbild. S. 89. Vgl. hierzu auch Pier Paolo Portinaro, der die perfecta communitas des Marsilius an der Kreuzung zwischen Stadt, Reich und Staat verortet (Portinaro: Am mittelalterlichen Anfang von Säkularisierung und Demokratisierung: Marsilius von Padua. S. 72). 647  Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,2,§ 2, S. 27-29 (Hervorhebung im Original). Neben dieser führt Marsilius noch drei weitere Bedeutungsmöglichkeiten für den Begriff regnum auf: „In einer anderen Auffassung bedeutet regnum eine bestimmte Art von gemäßigter Regierung oder gemäßigter Staatsform, die Aristoteles gemäßigte Monarchie nennt; in dieser Gebrauchsweise kann ein regnum in einer einzigen Stadt wie in mehreren vorhanden sein, wie es bei der Entstehung der staatlichen Gemeinschaften der Fall war; es gab nämlich fast immer einen König in einer einzigen Stadt. Die dritte Bedeutung und die bekannteste setzt sich aus der ersten und zweiten zusammen. In der vierten Auffassung ist regnum ein ganz allgemeiner Ausdruck für jede gemäßigte Staatsform, sei es in einer einzigen Stadt, sei es in mehreren Städten; […].“ (Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis). I,2,§ 2, S. 29 (Hervorhebung im Original)) 648  Hierzu Sternberger: Die Stadt als Urbild. S. 88-91. Sternberger gemäß finde man auf reale Städte im Text des Defensor Pacis nur eine Anspielung, in der Marsilius die Klage über die Herrschaft der Tyrannen in den Städten Italiens anstimme (Sternberger: Die Stadt als Urbild. S. 88). 649   Feldges-Henning: The Pictorial Programme of the Sala della Pace: A New Interpretation. S. 145. Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 5. Hofmann: Bilder des Friedens

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Die vielfach interpretierbaren und interpretierten Fresken lassen Schlussfolgerungen auch in Bezug auf das Verhältnis von politischem Denken und Architektur zu. Auf diese möglichen Schlüsse soll der Fokus im Folgenden gerichtet werden. Nicht intendiert ist eine neuerliche Auslegung der Fresken im Ganzen. Bereits die Entscheidung für das Medium der Freskomalerei kann in diesem Zusammenhang als Aussage gedeutet werden. Für die Darstellung der in den Fresken wiederholt auftretenden artes mechanicae sollte sich Ambrogio Lorenzetti schließlich einer der Mechanik selbst zugerechneten Kunst bedienen. Er schreibt nicht über sie, ist nicht der Autor einer Summa, Enzyklopädie oder eines Kommentars. Trügerisch ist daher Alois Riklins Bezeichnung des von Lorenzetti Geschaffenen als politische Summe.650 Lorenzettis Werk gehört den artes mechanicae an und aus dieser Perspektive heraus wertet es über sie. Aber nicht nur über sie. Auch die sieben freien Künste werden mittels der Malerei präsentiert.651 Und so kann auch die Verwendung der Malerei von einer höheren Geltung der mechanischen Künste zeugen. Für die vorliegende Untersuchung ist nun aber die Rolle der Architektur in den Fresken Lorenzettis von größerer Bedeutung. Der erste Kontakt mit der Baukunst in Lorenzettis Freskenzyklus wird dem Betrachter vermutlich den Eindruck einer lediglich profanen Nutzung der Architektur vermitteln, ohne dass er ihr tiefere Bedeutung beimessen wird. Lässt er seinen Blick über das an der Ostwand Dargestellte schweifen, werden ihm die markanten architektonischen Elemente der Fresken vor allem zur Identifikation der abgebildeten Stadt dienen.652 Unverwechselbar wird dem Zeitgenossen der ganz den Sieneser Gepflogenheiten entsprechende Stil der Gebäude auffallen. oder die vergessene Gerechtigkeit. S. 13. Hiervon abweichend datiert Quentin Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 93 die Entstehung der Fresken auf die Zeit zwischen 1337 und 1339. In The Artist as Political Philosopher. S. 85 datiert Skinner hingegen auf 1337-1340. Bram Kempers: Gesetz und Kunst. S. 75 nennt schließlich die Zeit um 1338. 650  Siehe den Titel des von Riklin verfassten Buches über Lorenzettis Fresken: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. 651  Dargestellt werden die sieben freien Künste, um die Philosophie ergänzt, in den Friesen unterhalb der Allegorie der guten Regierung und deren Wirkung auf Stadt und Land (Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 33). Durch den Blick in den Unterrichtsraum eines Magisters der Medizin oder Jurisprudenz werden die artes liberales zudem auch indirekt im Fresko über die Wirkungen der guten Regierung in der Stadt erwähnt (hierzu Kapitel 2.4.3). 652  Während Alois Riklin in den Wirkungen der guten Regierung auf die Stadt eine verhältnismäßig realitätsnahe Abbildung Sienas, „aus der Perspektive eines Nordfensters des Palazzo Pubblico“ zu erkennen meint, hält Maria Luisa Meoni dagegen: „we cannot claim that it is a view of the city from any specific point of view.“ (Riklin: Ambrogio

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Ebenso ist die Zwillinge säugende Wölfin oberhalb des Stadttores nicht allein mit dem Gründungsmythos Roms, sondern auch mit jenem Sienas verbunden (Abb. 18). Jenseits der Mauern zeichnen sich in der Ferne die Befestigungsanlangen von Talamone ab, zahlreiche weitere, namentlich jedoch nicht kenntlich gemachte Kastelle und Burgen wachen über den Contado der Stadt. Vor allem aber der mit schwarzem und weißem Marmor ummantelte Dom mitsamt dem zugehörigen Campanile, der sich über den Dächern der Stadt erhebt, macht deutlich, dass im Fresko Siena selbst abgebildet ist (Abb. 19).653 Doch täuscht dieser erste Eindruck. Er täuscht dahingehend, als dass der Architektur eine größere Bedeutung beizumessen ist. Sie dient zu mehr als lediglich der Identifikation Sienas. Bei genauerer Betrachtung der Fresken wird die Mehrdimensionalität in der Verwendung der Baukunst augenfällig. So verortet die angesprochene Wehranlage von Talamone die Landschaft klar als das Umland Sienas. Aber sie ist darüber hinaus auch als Ausdruck der Sicherungsfunktion der Architektur zu verstehen. Sie visualisiert die bei Aristoteles wie auch Giotto – beide in der Forschung als wichtige Einflüsse auf Lorenzetti erörtert654 – zu erkennende Bedeutung fortifikatorischer Bauten. Während es sich bei den Mauern Talamones, ebenso wie bei jenen der über die Landschaft verstreuten Festungswerken, noch um einen leicht zu übersehenden Hinweis auf die Sicherungsfunktion der Architektur handelt, ist er durch die großzügig dimensionierte Figur der am Übergang vom Stadttor zur offenen Landschaft schwebenden Securitas deutlich sichtbar. Das Mauerwerk ist hier Ausdruck von Sicherheit, die durch eine gute, an der Iustitia orientierte Regierung gewährt wird. Securitas wird somit zur Begleiterin der Iustitia. Beide bedingen Lorenzettis politische Summe. S. 17. Meoni: Utopia and Reality in Ambrogio Lorenzetti’s good government. S. 31. Ähnlich Kempers: Gesetz und Kunst. S. 78) 653  Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 9-10 und 17-18. Feldges-Henning: The Pictorial Programme of the Sala della Pace: A New Interpretation. S. 147. Meoni: Utopia and Reality in Ambrogio Lorenzetti’s good government. S. 31 und 46-48. Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 98. Die Lupa Senese über dem Stadttor, die sich auch zu Füßen des mit C.S.C.C.V. überschriebenen Regenten, der Abkürzung für Commune Senarum Civitatis, Civitatis Virginis, wiederfindet, spielt auf die legendäre Gründung Sienas durch Aschius und Senius, die Zwillingssöhne des Remus, an, die Siena nach dem gewaltsamen Tod ihres Vaters gegründet haben sollen (Riklin: Die politische Summe des Ambrogio Lorenzetti. S. 9-10. Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 102). Nicht architektonisch, aber ebenso markant für Siena ist das Cinta Senese, das gerade in Richtung Stadttor getriebene, in den Stadtfarben gehaltene Schwein, das sogar zum Protagonisten eines Kinderbuchs geworden ist (Howard: Die Toskana steht Kopf). 654  Zum Einfluss Aristoteles’ und Giottos auf Lorenzetti Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 42-48. Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 103. Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 26.

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einander. Wo eine der beiden fehlt, scheitert das Regiment der Kommune, wird das boun governo zum mal governo, mitsamt den Folgen, die Lorenzetti auf der Westwand darstellt. In diesem stark beschädigten Teil des Freskenzyklus, der die Allegorie der schlechten Regierung sowie deren Auswirkungen auf die Stadt und deren Umland präsentiert, sind die Festungen zerstört. Zerfallene Ruinen und brennende Gehöfte prägen die Landschaft, die von Gruppen umherziehender Waffenträger unsicher gemacht wird. Unverkennbar demonstriert Lorenzetti, dass die ehemals Schutz und Sicherheit versprechenden Wehranlagen die ihnen zugedachte Aufgabe schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu erfüllen vermögen. Timor statt Securitas schwebt nun über dem Geschehen und Iustitia liegt gefesselt zu Füßen des Tyrannen.655 Die Architektur wird für Lorenzetti damit zu einer Grundlage sowohl für Securitas wie auch für Iustitia. In vergleichbarer Form hatte dies wenige Jahrzehnte zuvor Giotto in seinen Fresken für die Capella delli Scrovegni in Padua dargestellt. Auch hier übernimmt die Architektur von Mauer und Tor eine sichernde Funktion, wird das sich außerhalb von ihr befindliche Sein als Ausdruck von Unsicherheit ausgewiesen.656 Und auch bei Aristoteles konnte Lorenzetti von der Bedeutung der Mauern für die Sicherheit der Polis lesen.657 Zumindest diese Funktion gestand der Stagirit ihnen zu. Über ihre schützende Aufgabe hinaus jedoch sei das Mauerwerk einer Polis ohne Belang. Schließlich sei bestimmend für die Polis nicht ein durch Mauern umschlossener Raum, sondern die Gemeinschaft der Bürger.658 Auf die Gemeinschaft der Bürger verweist in Lorenzettis Werk vor allem die Figur der Concordia. Doch findet sich für sie ebenso eine architektonische Entsprechung. Es ist die Piazza in den Auswirkungen des guten Regiments auf die Stadt. Sie ist, wie John White und Quentin Skinner herausarbeiteten, die eigentliche Lichtquelle in diesem Teil des Freskos.659 Von ihr aus werden die umliegenden Häuser beleuchtet. Als architektonisches Element erweist sich die Piazza, obwohl ihr diese Qualität zunächst abzugehen scheint. Als eine leere Fläche ist sie frei von markanten baulichen Elementen. Doch erst durch 655  Zum Austausch zwischen Timor und Securitas siehe Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 99-100. Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 29-30. 656  Braunfels: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana. S. 47. Deimling: Das mittelalterliche Kirchenportal in seiner rechtsgeschichtlichen Bedeutung. S. 327. Euler: Die Architekturdarstellung in der Arena-Kapelle. S. 66. Jacobus: Giotto and the Arena Chapel. S. 202. 657  Aristoteles: Politik. VII,11, 1330b-1331a, S. 347-348. 658  Aristoteles: Politik. I,1, 1252a, S. 75. III,3, 1267a, S. 158-159. 659  White: The Birth and Rebirth of Pictorial Space. S. 96. Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 109-110.

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ihre Einfassung mittels der Architektur wird diese Fläche zur Piazza. Wäre sie nicht von den Fronten der sie umgebenden Häuser umschlossen, sie wäre nicht mehr als ein formloser Platz. Ein städtischer Platz, eine Piazza hingegen setzt die über ihre Bauwerke verstandene Stadt voraus. Als politisches Element erweist sich der Platz ferner, weil er den Bürgern einen Ort zur Zusammenkunft zwischen den engen Gassen, Häuserschluchten und Stadtmauern offeriert. Der Stadtplatz wird somit zu einem essentiellen Bestandteil einer republikanischen Architektur des urbanen Raums, der das Nebeneinander der Stadtbevölkerung in ein Miteinander umwandle.660 Die Auflösung des Stadtplatzes, seine Verkleinerung, aber auch die bildliche Inbesitznahme dieses Raums, wurden daher stets als antirepublikanische Handlungen verstanden, die der Herausbildung einer der Republik zuwiderlaufenden Herrschaftsform Vorschub leiste.661 Von diesen Erscheinungen ist die Piazza bei Ambrogio Lorenzetti frei. Durch ihr Wirken als Lichtquelle der Stadt wird ihre politische Bedeutung als ein zentraler Ort des republikanischen Gemeinwesens von Siena visuell akzentuiert. Ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung der Architektur lässt sich oberhalb der Piazza auf Höhe der Dächer der Stadt erkennen (Abb. 20). Hier nimmt man eine Gruppe von Arbeitern wahr, befasst mit der Fertigstellung eines neuen Stadthauses. Architektur gehört somit zu den Folgen guter Regierung. Ein Eindruck, der besonders verstärkt wird, wenn man sich auch die entsprechenden Episoden in der Darstellung des mal governo ins Gedächtnis ruft. Der Tyrann thront hier, nicht wie in der Literatur gelegentlich zu lesen, auf einem Podest vor der Stadtmauer, sondern befindet sich innerhalb des Mauerrings.662 Die Tyrannei ist eine innerstädtische Gefahr. Als solche verstanden ist in ihr eine deutliche Differenz zu Giottos Darstellung der Iniustitia zu sehen, die im Gegensatz zu Lorenzettis Tyrannen ihren Sitz eben nicht in der Stadt, sondern vor den verbarrikadierten Stadttoren eingenommen hat.663 Mehr noch als die Differenz zu Giotto ist jedoch eine zweite Differenz hervorzuheben. Nicht mehr architektonische Konstruktion, sondern architektonische 660  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 171. 661  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 172. Exemplarisch die Geschichte der Piazza della Signoria in Florenz. Siehe Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Niccolò Machiavelli. S. 138-156. Thumfart/Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 254. Rickert: Platz. S. 235-236. Jöchner/Nova: Platz und Territorium. S. 11. 662  Außerhalb der Stadt verortet den Tyrannen Hasso Hofman: Bilder des Friedens oder die vergessene Gerechtigkeit. S. 14. Feldges-Hening: The Pictorial Programme of the Sala della Pace: A New Interpretation. S. 148 betont hingegen, dass sich die Personifikation der Tyrannis innerhalb der Stadt befinde. 663  Deimling: Das mittelalterliche Kirchenportal in seiner rechtsgeschichtlichen Bedeutung. S. 327. Wartenberg: Bilder der Rechtsprechung. S. 76-77.

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Dekonstruktion soll mit dem mal governo assoziiert werden. Zur Linken des Tyrannen ist die Verkörperung des Furor platziert. Einer Chimäre, die in ihren menschlichen Händen Dolch und Stein trägt, Symbole des städtischen Aufruhrs, wie Hasso Hofmann unterstrich.664 Zugleich taugt die Verwendungsweise des Steins als Wurfgeschoss aber auch als Ausdruck der Dekonstruktion. Gebraucht wird er nicht, um zu erschaffen, Neues zu erbauen oder Altes zu erhalten, sondern das Bestehende zu zerstören. Die von solchen Wurfgeschossen beschädigten Fronten der städtischen Häuser belegen diese destruktive Anwendung. Auch sonst zeigen sich allerorten in der Stadt Spuren der Verwüstung. Bis hin zu den Vandalen, die, einem verzerrten Spiegelbild zu den Bauarbeitern unter dem buon governo gleich, dabei sind, das Obergeschoss eines Hauses zu zerstören. Durch die Schläge ihrer schweren Hämmer klaffen große Löcher in den Außenwänden. Aus der Fassade gerissene Steine drohen auf die Piazza herabzustürzen, die mit bereits herabgestürzten Ziegeln bedeckt ist. Die Tyrannis steht daher nicht allein für die Fesselung der Iustitia. Sie ist nicht allein mit Avaritia, Superbia oder Vanagloria, mit Geiz, Hochmut und Eitelkeit als eins zu denken. Stets geht mit ihr auch die Zerstörung der Heimstätte und der architektonischen Wahrzeichen der Bürgerschaft einher. Im architektonischen Zustand der Stadt spiegelt sich demnach das Befinden des Gemeinwesens wider. Während das buon governo für den Erhalt der bestehenden Architektur sowie den Ausbau des Bestandes steht, ist das mal governo mit dem Zerfall, noch mehr aber mit der bewussten Zerstörung von Architektur zu verbinden. Eingeschränkt werden muss diese Bewertung der Baukunst bei Ambrogio Lorenzetti allerdings dahingehend, dass Architektur hier nur die Rolle einer Folgeerscheinung einnimmt. Sie ist ein Indikator guter wie schlechter Regierung. An ihr können die Konsequenzen guten wie schlechten Regierens abgelesen werden. Als Vorbedingung von Politik kann sie indes nicht aufgefasst werden. Zumindest nicht in den zuletzt besprochen Teilen der Fresken. In der Allegorie der guten Regierung an der Nordwand des Sala della Pace könnte Architektur hingegen sehr wohl als Grundlage von Politik zu verstehen sein. Neben der Vielzahl an Bewaffneten unterhalb der Magnanimitas – abgebildet sind Angehörige der Sieneser Miliz, deren Wappen, ein weißer Löwe auf rotem Grund, auf dem Schild des vordersten Kämpfers noch erahnt werden kann665 – ist auch das Bild eines festungsgleichen Bauwerks zu erkennen. Ein mehrgeschossiger Turm, eine von Zinnen bekränzte Mauer, emporgehoben 664  Hofmann: Bilder des Friedens oder die vergessene Gerechtigkeit. S. 14-15. Vgl. auch Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 25-28. 665  Zum Wappen der Miliz Sienas siehe Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 13.

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von einem der beiden schwarz gerüsteten Männern im Bildvordergrund (Abb. 21). Die Erwähnung der Architektur beschränkt sich also nicht allein auf die Effekte der guten und schlechten Regierung, sondern wird schon in deren Vorfeld behandelt. Zumindest trifft dies auf ihre sicherheitsrelevanten Aspekte zu. Das Motiv der mittels Architektur erzeugten Sicherheit begegnet im Freskenzyklus damit schon zum zweiten Mal. Zuvor war es in Verbindung mit der Gestalt der Securitas über dem Stadttor Sienas von Lorenzetti eingeführt worden. Durch diese Doppelung wird die Bedeutung dieses Aspektes zugleich verstärkt hervorgehoben. Wichtiger noch als die Betonung der Sicherheit jedoch ist ein anderer Aspekt. Die dargestellte Burg wird dem Regenten von einem der beiden zu ihm aufblickenden Gewappneten übergeben. Die Forschung wertet diese Gebärde als Zeichen seiner Unterwerfung unter die Herrschaft Sienas.666 Dies aber bedeutet, dass seine Herrschaft in der Symbolik des Freskos über die Architektur der Burg erfasst wird. Politik und Architektur fallen in dieser Episode in eins. Durch das Bauwerk Burg würde die Architektur also doch zur Grundlage von Politik werden. Doch wäre diese Koppelung, sollte sie die Ansichten Lorenzettis und seiner Auftraggeber zutreffend umschreiben, eine, die nicht auf die Situation Sienas übertragen werden könnte. Die Figur des Regenten, der die Commune Senarum Civitatis repräsentiert, ist wortwörtlich verflochten mit dem Band, das von der Concordia geknüpft, von der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit herkommend, die Hände der Bürgerschaft passiert.667 Nicht Architektur ist es somit, die sich als bestimmend für das ideale Gemeinwesen erweist, sondern die Gemeinschaft der Bürger. Das vermutete Fundament der Politik in der Architektur führt Lorenzetti also doch wieder auf den wirkmächtigeren Gedanken der aristotelischen Bürgergemeinschaft zurück, wodurch die Baukunst folglich in ihrer nachgeordneten Stellung verbleibt. 1.4.4 Bartolus von Sassoferrato und der Diskurs um Festungsbauten Die Beziehung von Bürgergemeinschaft und Baukunst stellen bedeutsame Größen auch für den Fortifikationsdiskurs bei Bartolus von Sassoferrato und seinen Nachfolgern dar. Schnell nahm Bartolus, bekannt nicht zuletzt durch den Tractatus de regimine civitatis und seinen Tractatus de Tyrannia, den Rang 666   Feldges-Henning: The Pictorial Programme of the Sala della Pace: A New Interpretation. S. 146. Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 12-13. 667   Feldges-Henning: The Pictorial Programme of the Sala della Pace: A New Interpretation. S. 145. Kempers: Gesetz und Kunst. S. 77. Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 96-97 und 103-104. Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 13-14. Hofmann: Bilder des Friedens oder die vergessene Gerechtigkeit. S. 18-20.

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eines der bedeutendsten Rechtsgelehrten des ausklingenden Mittelalters ein. Seine Stellung bezeugt Zeitgenossen und Nachwelt etwa das studiolo im Herzogspalast von Urbino. Darin ziert auch das Portrait des Bartolus von Sassoferrato die Wände. Er gesellt sich damit zu Geistesgrößen wie Aristoteles und Augustin, Dante Alighieri und Thomas von Aquin.668 Eine Erörterung von § 29 des achten Kapitels aus dem Tractatus de Tyrannia soll im Folgenden Bartolus’ Sicht auf die Baukunst beleuchten, die Betrachtung des 14. Jahrhunderts abschließen und auf die anschließenden Jahrhunderte vorausweisen. Bekanntheit erlangte der Traktat vor allem durch die in ihm vorgenommene Scheidung zweier spezifischer Formen des Tyrannen. Dem tyrannus ex parte exercitii und dem tyrannus ex defectu tituli. Der erste sei als Tyrann zu bezeichnen, weil er wider das Wohl der Gemeinschaft regiere. Der zweite sei Tyrann, weil er die Regierung unrechtmäßig erlangte, Herrschaft usurpiert habe.669 Der Baukunst gewahr wird der Leser des Traktats in einer kurzen Erwähnung im Rahmen der Behandlung des tyrannus ex parte exercitii. Dort im achten Kapitel des Traktats führt Bartolus zehn für den so betitelten Tyrannen charakteristische Handlungsweisen an, die er, seinen Angaben nach, Plutarchs De regimine principum entnommen habe.670 Er zählt die Verbannung der Weisen wie die Beseitigung von Unterricht und Studium auf,671 führt ferner die Praxis des tyrannus ex parte exercitii an, seine Untertanen in Armut zu halten, Kriege heraufzubeschwören und eine Leibwache nicht aus Bürgern, sondern Fremden zu unterhalten, weil ihn Furcht vor seinen Landsleuten umtreibe.672 Auf die Zusammenfassung der Plutarch zugeschriebenen Ausführungen lässt Bartolus alsdann seine Erläuterungen folgen. In einer Notiz zum neunten Punkt, einer Leibwache nicht aus Bürgern, sondern Fremden, führt Bartolus auch Architektur an. Die bereits Jahrhunderte zuvor durch Atto von Vercelli gebrauchte Argumentationsfigur begegnet nun im Traktat des Bartolus von Sassoferrato wieder.673 Die Errichtung von Festungen, von Festungen in den Städten (civitates), sei eine unter einem gerechten Herrscher gelegentlich 668  Cheles: The Studiolo of Urbino. S. 17. Tönnesmann: Die Nase Italiens. S. 166. 669  Bartolus of Sassoferrato: Tractatus de Tyrannia. V,§ 12, S. 132. 670  Bartolus of Sassoferrato: Tractatus de Tyrannia. VIII, § 28, S. 141-142. Die bei Quaglioni abgedruckte lateinische Fassung des Traktats weist De regimine principum hingegen nicht Plutarch zu, sondern verweist auf den gleichlautenden Fürstenspiegel des Aegidius Romanus (Bartolus von Sassoferrato: Tractatus de tyranno. S. 197). 671  Implizit hatte auf diesen Sachverhalt auch Ambrogio Lorenzetti in seinem Freskenzyklus aufmerksam gemacht. Der Unterricht des Magisters, dargestellt in den Auswirkungen der guten Regierung auf das städtische Leben (Abb. 29), ist unter der Herrschaft des Tyrannen nicht mehr dargestellt. 672  Bartolus of Sassoferrato: Tractatus de Tyrannia. VIII, § 28, S. 141-142 673  Vgl. Kapitel 1.1.4.

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zu beobachtende, unter einem tyrannus ex parte exercitii aber übliche Erscheinung.674 Diese Praxis, die er bei Plutarch noch nicht erwähnt findet, hebt Bartolus hingegen hervor und sei es auch nur mit diesen wenigen spärlichen Worten. Im Italien des Bartolus von Sassoferrato ist eine solche Festung nicht verstanden als Ort des Schutzes vor äußeren Gefahren.675 Sie ist ein Instrument tyrannischer Herrschaft und als solches gegen die Kommune gerichtet. Dergestalt wird die Feste zum Symbol einer Herrschaft wider die Bürger und zu einer Form symbolischer Kommunikation an das Volk. Sie schüchtert die Bürgerschaft ein und übernimmt damit psychopolitische Funktion. Mit ihr soll der Wille zum Widerstand gebrochen werden. Von der Furcht des Tyrannen vor seinen Landsleuten soll er befreit werden, indem diese Furcht auf seine Landsleute übertragen wird. Zugleich ist die Festung eine ganz reale Gefährdung für die Bürger. Sie dient dem Tyrannen als Schutzwehr gegen die Bürgerschaft. Von diesem sicheren Rückzugsort aus kann er die Stadt beherrschen, kann, wie das Beispiel des Castello Sforzesco in Mailand belegt, durch seine in die Stadt gerichteten Türme und Zinnen, durch seine in die Stadt ragenden Aufmarschplätze unmittelbar gegen die städtische Bevölkerung vorgehen.676 Die Festung ist nicht das architektonische Symbol kommunaler Selbstregierung. Dieses ist im Stadtplatz zu finden. Darum hatte Ambrogio Lorenzetti, wie im vorangegangenen Kapitel ausgewiesen, die Piazza in der Darstellung der Auswirkungen des guten Regiments auf die Stadt besonders hervorzuheben gewusst.677 Darum hat sich in Florenz in der Mitte des 14. Jahrhunderts Widerstand gegen die Pläne erhoben, die Piazza della Signoria durch die Errichtung einer Loggia dem Volk zu nehmen.678 Darum wussten 674  Bartolus of Sassoferrato: Tractatus de Tyrannia. VIII, § 29, S. 143. Die Verwendung dieser Bezeichnung für die Stadt zeigt, dass Bartolus civitas nicht allein als Bürgerschaft begreift. Die civitas ist auch mit einer architektonischen Komponente versehen. 675  Zum historischen Herkommen der Festung als Schutzort am Beginn des Mittelalters Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 61-63. Schon Duby weist jedoch darauf hin, dass das Oberhaupt einer Festung in die Lage versetzt war, eine eigene unabhängige Form politischer Ordnung auf dem Fundament seiner Feste zu bauen. „Der Turm, einst Symbol der freien Stadt, dann das der königlichen Majestät in kriegerischer Mission, erscheint nun als der Kern persönlicher Macht. Er ist die Grundlage des Ansehens und der Autorität einer Lignage.“ (Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 63-65) 676  Zum Castello Sforzesco und seinem Vorgängerbau Saracino: Symbolische Kommunikation über Festungen. S. 5-6. Generell auch Warnke: Politische Landschaft. S. 48. 677  White: The Birth and Rebirth of Pictorial Space. S. 96. Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 109-110. 678  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 171-172. Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Niccolò Machiavelli. S. 139. Meier: Die Sicht- und Hörbarkeit der Macht. S. 264-265. Zur

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die Medici, dass ihre Herrschaft über Florenz einer Einhegung der Piazza della Signoria durch Bandinellis Herkulus sowie Vasaris Uffizien und die Loggia dei Lanzi bedurfte.679 Auf dem Stadtplatz kommt das Volk zusammen. Eine Festung unterbindet diese Möglichkeit der Zusammenkunft. Zugang zu ihr, Zugang zum Machthaber, soll reguliert, reglementiert, limitiert werden. Die Gräben, Tore und Fallgatter der Festung sind nur von jenen zu überwinden, denen der Herr der Feste Einlass gewähren will. Derartige Beschränkungen liegen der Architektonik des Platzes fern. Der Platz schränkt den Zugang zum Machthaber nicht ein. Durch die Versammlung der Bürger auf dem Platz hilft er, das sich selbst regierende Volk überhaupt erst zu konstituieren.680 Vor diesem Hintergrund sind die zwei Sätze im achten Kapitel des Traktates zu lesen und interpretieren. Bartolus’ knappe Bemerkung über Festungen im Tractaus de Tyrannia steht nicht am Anfang des Fortifikationsdiskurses. In Bartolus’ mittelbarem zeitlichen Umfeld befassten sich etwa Vinzenz von Beauvais und Aegidius Romanus mit dem Bau von Festungen, Befestigungsanlagen und deren Belagerung. Der Dominikaner Vinzenz ordnet sie in seinem Speculum doctrinale den Notwendigkeiten zu, die dem Menschen helfen, den Übeln im postlapsarischen Zustand entgegenzutreten. Aufgeladen werden sie damit um eine sittliche Komponente. Sie sollen dem Menschen dabei behilflich sein, sein Kreuz auf Erden tragen zu können. Offensichtlich werden die fortifikatorischen Baulichkeiten damit anders aufgefasst als bei Bartolus von Sassoferrato. Als Mittel tyrannischer Herrschaft werden sie bei Vinzenz nicht genannt. Festung und Befestigungsanlagen der Stadt dienen dem Schutz der Stadt vor der Außenwelt.681 Seinerseits äußerte sich der Augustinereremit Aegidius Romanus in seinem Fürstenspiegel De regimine principum, dem am weitesten verbreiteten politischen Text des Mittelalters,682 über Festungen und Gerätschaften zu deren Belagerung.683 Anders als Vinzenz von Beauvais ordnet Aegidius seine Piazza della Signoria ferner Rickert: Platz. S. 235-236. Jöchner/Nova: Platz und Territorium. S. 11. 679   Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Niccolò Machiavelli. S. 138-156. Thumfart/ Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 254. 680  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 264-268. 681  Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. doc. XI,21, Sp. 1007. 682  Miethke: Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert. S. 8. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 211. Eine Auflistung volkssprachlicher Übersetzungen von De regimine principum ist ebenfalls bei Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 321-328 zu finden. 683  Aegidius Romanus: De regimine principum. III,3,18, S. 356r-358v.

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Ausführungen aber in eine dem Königtum gewidmete Arbeit ein.684 Sie stehen somit auch nicht im Kontext der Reflexion über kommunale politische Ordnungsformen wie jene von Ambrogio Lorenzetti oder Bartolus von Sassoferrato. Bezugspunkt des politischen Denkens von Aegidius, dem doctor fundatissimus, ist nicht die civitas, sondern das regnum. Die bei Aristoteles vorgenommene quantitative Reihung der Gemeinschaftsformen – Haus, Dorf und Stadt – erweitert Aegidius um das Königtum und somit zur Reihung domus, vicus, civitas und regnum.685 Darüber hinaus fehlt den Ausführungen des Aegidius Romanus ein Fundament in der politischen Ethik. Gleichwohl im Rahmen seines Fürstenspiegels vorgetragen, handelt es sich bei ihnen mehr um praktische Anweisungen zur Kriegführung. Festungen sind als Nutzbauten präsentiert. Wie sie ihrem Nutzen am besten gerecht werden, darum geht es Aegidius in De regimine principum.686 Architektur gewordene Formen symbolischer Kommunikation, wie bei Bartolus von Sassoferrato, sind sie im Werk des doctor fundatissimus demnach nicht. Nicht erst mit der Erwähnung im Tractaus de Tyrannia nimmt der Fortifikationsdiskurs im Mittelalter seinen Anfang. Mit dem Beitrag des Bartolus von Sassoferrato wie auch mit jenem des Ambrogio Lorenzetti wird ihm aber eine neue Ausrichtung gegeben. Bartolus und Ambrogio eint, dass unter einer guten Regierung der städtische Raum nicht im Inneren befestigt sein solle. Lorenzettis gemaltes Gedankengebäude zeigt Fortifikation vielmehr als eine nach außen gerichtete. Die durch die Personifikation der concordia geeinte Bürgerschaft benötigt keine Befestigungsanlagen zum Schutz voreinander. Nicht in Kontinuität zu seinem Zeitgenossen Lorenzetti steht Bartolus indes insofern, als für ihn Architektur im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit den Charakteristika des tyrannus ex parte exercitii steht, als Charakteristikum guter Herrschaft aber Architektur lediglich marginale Bedeutung besitzt.687 Anders als für Ambrogio Lorenzetti, der architektonische Konstruktion als Kennzeichen guter Regierung ausweist, ist Architektur für 684  Aegidius schreibt für den Kronprinzen und späteren König von Frankreich Philipp IV. Ihm widmet er seinen Fürstenspiegel und an dessen Tafel soll das Werk verlesen werden (Aegidius Romanus: De regimine principum. I,1,1, S. 1v und II,3,20, S. 236r. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 223). 685  Aristoteles: Politik. I,2, 1252b, S. 77. Aegidius Romanus: De regimine principum. III,1,6, S. 244v-245r. Miethke: Spätmittelalter: Thomas von Aquin, Aegidius Romanus, Marsilius von Padua. S. 95. Homann: Totum posse, quod est in ecclesia, reservatur in summo pontifice. S. 48-51. 686  Küntzel: Zwischen Vegetius und Konrad Kyeser: Römische Theorie und zeitgenössische Praxis beim Bau von Schanzen im hohen und späten Mittelalter. S. 108. 687  Bartolus of Sassoferrato: Tractatus de Tyrannia. VIII, § 29, S. 143.

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das gute Regiment bei Bartolus nachrangig, da er die civitas vor allem als eine Gemeinschaft besonderer Rechte auffasst.688 Nachrangig ist Architektur aber nur für das gute Regiment; im weiten Feld der Politik kommt ihr nach wie vor Bedeutung zu, wie die Erwähnung tyrannischer Bautätigkeit demonstriert. Bartolus’ knappe Bemerkung über Festungen im Tractaus de Tyrannia steht nicht am Anfang des Fortifikationsdiskurses. Sie steht aber auch nicht an dessen Ende. Sie weist auf den Fortifikationsdiskurs der italienischen Renaissance voraus, weist voraus auf Leon Battista Alberti, Niccolò Machiavelli und Donato Giannotti. Im Fortifikationsdiskurs der italienischen Renaissance, ungleich mehr freilich im Diskurs über Architektur selbst, kommt eine zentrale Rolle Leon Battista Alberti zu. Im Architekturtraktat De re aedificatoria dieses uomo universale spiegelt Architektur die politische Verfasstheit eines Gemeinwesens wider, weswegen der Architekt die Rolle des Gründers menschlicher Gemeinschaft einnehme.689 Aber geht es Alberti dabei um die Besserung des Menschen? Um die Verbesserung seiner Lebensverhältnisse, gar seine sittliche Besserung? Oder ist Albertis Argumentation ein Argumentieren für alle Fälle? Spricht er für oder an den Monarchen ebenso wie den Tyrannen oder die Republik? Verbitterung über sein Geschlecht, Zynismus gegenüber seinen Mitmenschen war Alberti nicht fremd. In Momus seu de principe beispielsweise legt Alberti Jupiter die Worte in den Mund: „Der Mensch ist dem Mensch die Pest.“690 Die weitere Lektüre von De re aedificatoria weckt Zweifel daran, dass es Anlass zu dieser pessimistischen Betrachtung des Werks gibt. Der Architekt ist dazu aufgerufen, in seinem Tun menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden und dieses Bemühen mit den realen Gegebenheiten in Einklang zu bringen.691 Soweit kann dies als eine Übertragung des Spannungsverhältnisses von Möglichem und Idealem auf den Wirkungsbereich des Architekten verstanden werden. Ein Spannungsverhältnis, das Niccolò Machiavelli im XV. Kapitel des Principe damit umschrieb, dass man sich allein dem Möglichen zuwenden solle, vom Idealen aber ablassen müsse. Es erscheine ihm angemessener „[…] 688  Vergleiche hierzu die Ausführungen von Ulrich Meier über die Kennzeichen von Fürstenherrschaft und civitas bei Bartolus (Meier: Mensch und Bürger. S. 150-152). 689  Keßler: Die Philosophie der Renaissance. S. 49. 690  Alberti: Momus oder vom Fürsten. S. 211. Von Zynismus und Verbitterung im Werk Albertis berichten etwa Keßler: Die Philosophie der Renaissance. S. 43-44. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 610-612. 691  Hierzu vor allem die Kapitelfolge Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. I,2-6, S. 2039. Ferner auch ebd.: IV,2, S. 180-189. Keßler: Die Philosophie der Renaissance. S. 49. Die Berücksichtigung menschlicher Bedürfnisse hat jedoch ihre Grenzen. In seinem Architekturtraktat behandelt Alberti vorrangig Bauten der Wohlhabenden (Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,18, S. 284. Tönnesmann: Pienza. S. 76).

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der Wirklichkeit der Dinge nachzugehen als den bloßen Vorstellungen über sie. Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat; denn es liegt eine große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, […]“.692 Uneins erweisen sich die Exegeten Albertis in der Frage, wo Politik und Architektur einzuordnen sind. Politik, politische Ordnung und Ordnungshandeln gehorchen, so die eine Seite, den Erfordernissen des Seins, während sich architektonische Konstruktion als Gegenbild dazu am Sollen orientiere.693 Die andere Seite dagegen attestiert Alberti, dass seine architekturtheoretischen Ausführungen zum Städtebau austauschbar seien. Städte könnten überall errichtet werden. Von einer Passage abgesehen, fänden sich keine normativen Aussagen zum Städtebau in Albertis De re aedificatoria. Der Florentiner folge diesbezüglich keinem Ideal.694 Die Anlage der Stadt spiegele zwar die Gesin­ nung des Fürsten wider, doch spiegele sie jedwede Gesinnung des Fürsten.695 So kann Albertis Feststellung nicht verwundern, dass in einer Monarchie auf andere Art gebaut werde als in einer Tyrannis. „Denn ein Königspalast soll mitten in der Stadt liegen, leicht zugänglich und schön geschmückt sein, und mehr gewählte als stolze Pracht zeigen. Für den Tyrannen ist nicht so sehr ein Palast als eine Burg zu errichten, so dass sie weder in der Stadt noch außerhalb der Stadt liegt.“696 Zu den Eigenheiten eines tyrannischen Baustils gehört laut Leon Battista Alberti nicht nur die Verortung der Tyrannen-Burg an der Stadtgrenze. Nicht minder bedeutsam ist ihre Innenarchitektur. Durch entsprechende Vorrichtung solle diese etwa bewirken, dass der Tyrann allzeit dazu in der Lage sei zu hören, „was die Gäste oder die Vertrauten untereinander reden.“697 Neuerlich zeigt sich, dass für die Architektur unter einem Tyrannen das Motiv der Kontrolle beherrschend ist. Die Festung steht für die Kontrolle der Stadt und die Kontrolle all derer, die sich in ihr befinden. Zugleich ist sie ein Bauwerk der Furcht. Sie erzeugt Furcht vor dem allsehenden, allhörenden 692  Machiavelli: Il Principe. S. 119. 693  Thumfart/Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 212. 694  Tönnesmann: Pienza. S. 93-95. Bei der genannten Passage handelt es sich um Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. I,2, S. 180: „Das Ideal einer Stadt und ihre Aufgabe nach der Meinung der Philosophen können wir darin erblicken, daß hier die Einwohner ein friedliches, möglichst sorgenloses und von Beunruhigung freies Leben führen.“ 695  Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,1, S. 220 und V,3, S. 228. Tönnesmann: Pienza. S. 98. 696  Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,3, S. 228. Die Verbindung der Festung mit dem Tyrannen wird erwähnt ferner in Alberti: Momus oder vom Fürsten. S. 151. Den Zusammenhang von Architektur und politischer Struktur der Stadt führt auf auch Aristoteles: Politik. VII,11, 1330b S. 346-347. 697  Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,3, S. 228.

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Fürsten. Sie ist aber auch Ausdruck der Furcht des Fürsten vor seinen Untertanen. Er muss sie kontrollieren, muss sie einschüchtern, um seine Herrschaft behaupten zu können. Er muss aus der Stadt nötigenfalls auch schnell fliehen können, weswegen die Burg des Tyrannen, anders als der Palast des Königs, nicht inmitten der Stadt, sondern am Stadtrand zu errichten sei. Niccolò Machiavellis Beitrag zur Debatte um das Festungswesen ist erst jüngst betrachtet worden.698 Über Festungen äußert sich der Florentiner etwa in der Vita di Castruccio Castracani. In ihr erkennt man die Festung als Grundlage von Macht.699 Im Principe und den Discorsi hingegen lautet der Befund anders. Die Liebe des Volkes biete besseren Schutz als es Festungen könnten, weshalb diese Bauten zu vernachlässigen seien.700 Für die Verteidigung des Gemeinwesens sind nicht Festungen, sondern ist die Bürgermiliz das Mittel der Wahl. Lobend hebt Machiavelli hierbei Römer und Spartaner hervor. Erstere bauten keine Festungen, letztere gingen so weit, sogar auf eine Stadtmauer zu verzichten. Tapferkeit und kriegerisches Können seiner Männer sei Sparta Schutzwehr genug.701 Diesem Gedanken jedoch steht die Festung entgegen. Ihrer monolithischen Natur nach sind Festungen statische, defensiv ausgerichtete Bollwerke. Den in der Republik geforderten Aktivbürger drohen sie in einen Passivbürger zu verwandeln, indem sie dazu verleiten, militärische Konfrontationen auszusitzen. Machiavelli aber ist nicht nur im Politischen, sondern auch im Militärischen Anhänger dezisionistischen Agierens. Nur so könne man das Heft des Handelns in Händen behalten und sich von der launischen Macht Fortunas befreien.702 Es gelte daher auch für die Miliz, die Entscheidung in der Schlacht rasch herbeizuführen.703 Donato Giannotti schließlich, jüngster der drei Genannten und zugleich letzter bedeutender Staatsdenker der Republik Florenz,704 äußert sich in seiner Republica fiorentina zum Wesen einer Festung ähnlich beiläufig wie Bartolus 698  Saracino: Symbolische Kommunikation über Festungen. S. 1-36. 699  Machiavelli: Das Leben Castruccio Castracanis aus Lucca. S. 21. 700  Machiavelli: Il Principe. S. 171. Machiavelli: Discorsi. II,24, S. 256-258. 701  Machiavelli: Discorsi. II,24, S. 259. Dem spartanischen Heroismus widersprach bereits Aristoteles: Politik. VII,11, 1330b, S. 347. 702  Zu Fortuna Machiavelli: Il Principe. S. 193. Machiavelli: Von Fortuna. S. 114-119. 703  Machiavelli: Discorsi. II,16, S. 191. Machiavelli: Die Kunst des Krieges. S. 719-721. Zu den militärischen Notwendigkeiten einer Miliz Keegan: Die Kultur des Krieges. S. 356. Münkler: Machiavelli. S. 384. Hierzu auch Schmid: Kunst im Sinne Machiavellis. S. 264267. Über den Aktivbürger im Republikanismus, der in seinem Gemeinwesen nicht nur politisch partizipiert, sondern es auch verteidigt, Barber: Starke Demokratie. S. 282. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/2. S. 48. 704  Riklin: Donato Giannotti – ein verkannter Staatsdenker der Florentiner Renaissance. S. 17.

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von Sassoferrato. Im ersten Kapitel des ersten Buches schreibt Giannotti über die politische Situation in seiner Heimatstadt Florenz: „Nun entgehen ja keinem die Absichten des Regenten der gegenwärtigen Tyrannis, wenn er sieht, wie dieser die Behörden beseitigt, Festungen erbaut, allen gebieterisch befiehlt und die Statur eines Alleinherrschers annimmt.“705 Wieder einmal eine nur spärliche Erwähnung des Festungsbaus, doch wieder einmal wird auch hier der Bau von Festungen erkennbar zu einem Charakteristikum tyrannischer Herrschaft deklariert. Er steht in einer Reihe mit der Abschaffung kommunaler Behörden, der Missachtung der Bürger, kurz, der Übernahme eines Habitus, der einer Alleinherrschaft, nicht aber einer Republik angemessen ist. Dem republikanischen Wesen widerspricht die Festung, weil schon die Bestimmung dessen, was Stadt (città) sei, eine andere Art Architektur verlangt, als jene der Festung. Giannottis Verständnis der città steht in der Tradition der antiken Polis. Derart ist die Stadt mehr als eine physische Manifestation in ihren Bauten,706 „[…] denn unter einer Stadt versteht man eine bürgerliche Gemeinschaft freier Männer.“707 Oder, wie Giannotti im weiteren Verlauf von Republica fiorentina ausführt: „[…] ist doch eine Stadt eine Gemeinschaft freier Männer, die zum guten Gemeinschaftsleben der Einwohner gegründet wurde.“708 Man nimmt eine an Aristoteles und die antike Polis gemahnende Sprache wahr, wenn Giannotti von der Gemeinschaft der Bürger spricht, der Gemeinschaft freier Männer, die um des guten Lebens willen entstand.709 Die besondere Betonung des Gemeinschaftsgedankens schlägt sich nicht nur im politischen Bereich des Fortifiaktionsdiskurses nieder, sondern auch in dessen militärischem Bereich. Wie Niccolò Machiavelli tritt auch Donato Giannotti entschieden für die Aufstellung einer Bürgemiliz ein.710 Sie, nicht der Festungsbau, ist die konsequente Fortführung des Gemeinschaftsgedankens. Und wie bei Machiavelli gelten auch für Giannotti die zuvor vorgetragenen Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit von Aktivbürgern und Festung in einer Republik.

705  Giannotti: Die Republik Florenz (1534). I,1, S. 132. 706  Höchli: Zur politischen Sprache Giannottis. S. 77-78. 707  Giannotti: Die Republik Florenz (1534). I,4, S. 143. 708  Giannotti: Die Republik Florenz (1534). III,3, S. 233. 709  Siehe etwa Aristoteles: Politik. I,2, 1252b, S. 77 oder III,1, 1274b, S. 154. Zur Terminologie Giannottis siehe Höchli: Zur politischen Sprache Giannottis. S. 78. 710  Die Miliz behandelt Giannotti zu Beginn von Buch III und in einer längeren Kapitelsequenz von Buch IV (Giannotti: Die Republik Florenz (1534). III,1, S. 224-226 und IV,15, S. 302-327). Auf Machiavelli und dessen Söldnerkritik verweist explizit Giannotti: Die Republik Florenz (1534). IV,1, S. 302.

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Argumentationsfiguren, die im Tractatus de Tyrannia enthalten waren, begegnen somit nicht allein im Fortifikationsdiskurs des Spätmittelalters, sondern sind Bestandteil der Diskussion um die Bewertung von Festungsbauten auch noch Jahrhunderte nach Bartolus von Sassoferrato. Ein klarer Bruch zwischen Mittelalter und Renaissance ist zumindest mit Blick auf die diesbezüglichen Aussagen bei Bartolus von Sassoferrato, Leon Battista Alberti, Niccolò Machiavelli und Donato Giannotti nicht zu erkennen. Unterschiede offenbarte allerdings die Betrachtung der Auseinandersetzung mit Festungsbauten wenige Jahrzehnte vor der Entstehung des Tractatus de Tyrannia. Für Vinzenz von Beauvais und Aegidius Romanus waren Festungen mehr zweckdienliche Bauten, als dass in ihnen weiter reichende Kommunikationsbestrebungen gesehen wurden. In der Folge jedoch wurde die Festung wahrgenommen als Bauwerk tyrannischer Herrscher. In den Hintergrund trat dabei die Wahrnehmung der Festung als Bauwerk primär militärischen Nutzens. Wahrgenommen wird die Festung als Ausdrucksform symbolischer Kommunikation zwischen ihrem Erbauer und Besitzer und der mit ihr konfrontierten Bevölkerung. 1.5

Machiavelli und Hobbes: Nichts Neues am Beginn der Neuzeit?

Die Geschichte mittelalterlichen politischen Denkens findet ihr Ende einmal in der Gedankenwelt Niccolò Machiavellis, ein anderes Mal mit dem Werk des Thomas Hobbes. Je nachdem, ob man dem Bruch mit dem Vorangegangenen oder dem Einzug methodischer Neuerungen ein größeres Gewicht beimisst, ist man geneigt, dem Italiener oder dem Engländer den Vorzug einzuräumen.711 In Bezug auf das hier erörterte Verhältnis von politischem Denken und Architektur erweisen sich jedoch die Erwägungen beider als überwiegend konventionell. Über das bereits im Mittelalter Gedachte geht weder Machiavelli noch Hobbes hinaus. Beide verbleiben sie auf Positionen, die schon Jahrhunderte zuvor eingenommen und auf die unterschiedlichsten Arten begründet worden waren. Einen befriedigenden Abschluss der hier erzählten

711  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 11. Fenske/Mertens/Reinhard/ Rosen: Geschichte der politischen Ideen. S. 241-242. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 629-631. Berns: Thomas Hobbes. S. 370-372. Ottmann: Was ist neu im Denken Machiavellis? S. 145-146 und 153-154. Azzaro: Politik und Religion bei Dante. S. 143-144. Manuel Knoll hingegen sieht bereits in Machiavelli den Schöpfer einer auch methodisch neu ausgerichteten Form politischen Denkens. „Machiavelli begründet“, so Knoll, „die empirische Politikwissenschaft zu Beginn der Neuzeit im Anschluss an Aristoteles neu.“ (Knoll: Wissenschaft und Methode bei Machiavelli. S. 115)

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Geschichte vermag man somit weder mit Machiavelli noch mit Hobbes zu erzählen. Nicht zuletzt, da man Belangen der Baukunst bei ihnen nur sporadisch, wenn überhaupt, begegnet. Zu architektonischen Fragen äußert sich Niccolò Machiavelli im Zusammenhang seiner militärtechnisch-politischen Erwägungen von Festungsbauten im Principe und den Discorsi, der Arte della Guerra und in einem kurzen Abschnitt der Vita di Castruccio Castracani.712 Obwohl er für sich und sein Werk in Anspruch nimmt, einem Entdecker gleich in unbekannte Meere und Länder vorzustoßen,713 künden seine Ausführungen im Principe, den Discorsi und der Arte della Guerra weniger vom Heraufziehen eines Zeitenwechsels, als dass man in ihnen Kontinuitäten zum Denken vorheriger Jahrhunderte feststellen kann, so dass Machiavelli in den vertrauten Gefilden und Gewässern der Vorzeit zu verharren scheint. Der Bau von Festungen, so fasst Machiavelli im XX. Kapitel des Principe zusammen, sei nur einem Fürsten angeraten, „der mehr Furcht vor seinem Volk als vor Fremden hat, […]; wer aber vor Fremden mehr Furcht als vor seinem Volk hat, sollte es unterlassen. […] Die beste Festung, die es gibt, ist, vom Volk nicht gehasst zu werden; […].“714 In den Discorsi wiederum führt er das Beispiel des Niccolo da Castello an, der, „aus der Verbannung in seine Vaterstadt zurück[gekehrt], […] sogleich zwei Festungen schleifen [ließ], die der Papst Sixtus IV. erbaut hatte; denn er war der Ansicht, daß nicht Festungen, sondern die Liebe des Volkes ihm die Herrschaft erhalten müsse.“715 So zieht der Florentiner denn auch hier „den Schluß, daß eine Festung zur Sicherung der eigenen Stadt schädlich ist und daß Festungen zur Behauptung eroberter Städte zwecklos sind.“716 Das Vertrauen des Herrschers in sein Volk und die Liebe des Volkes zu seinem Herrscher verbleiben in einer der Architektur übergeordneten Stellung. Betrachtet man die zitierten Passagen aus dem Werk des Florentiners, so ist das Gemeinwesen für Machiavelli nicht über seine Baulichkeiten zu erfassen, sondern über die Gemeinschaft der Bürger.717 Eine klassische Haltung, die über die Jahrtausende hinweg Machiavelli und Aristoteles zu verbinden scheint. Zugleich erweckt diese Haltung den Anschein, im Widerspruch zu 712  Gelegentliche Erwähnungen architektonischer Motive, wie der Palast der Fortuna, sind zu flüchtig, als dass sie eine eingehende Analyse ermöglichen (Machiavelli: Von Fortuna. S. 115). 713  Machiavelli: Discorsi. I, Vorwort, S. 3. 714  Machiavelli: Il Principe. S. 171. 715  Machiavelli: Discorsi. II,24, S. 256. 716  Machiavelli: Discorsi. II,24, S. 257-258. 717  Zum Begriff des Staates bei Machiavelli Maissen: Der Staatsbegriff in Machiavellis Theorie des Wandels. S. 60-68.

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einer Schlüsselpassage des Principe zu stehen. Auf die Frage, ob es für einen Herrscher besser sei, geliebt oder gehasst zu werden, fasst Machiavelli zusammen, dass die Klugheit es gebiete, sich nicht auf die Liebe der Untertanen zu verlassen. Liebe werde gewährt und entzogen ganz nach dem Gutdünken der Menschen. Auch den Hass gelte es indes zu meiden, stelle doch auch dieser eine Gefahr für die eigene Herrschaft dar. Furcht jedoch obliege eigener Handlungsmacht und bewirke Gehorsam, weshalb es anzustreben sei, gefürchtet zu werden.718 Nähere Betrachtung offenbart allerdings, dass der Widerspruch womöglich keiner ist. Die Intention beider Passagen weist in dieselbe Richtung, erweist sich als lange nicht mehr vernommene Reminiszenz an die politische Klugheitslehre.719 Die Liebe auf der einen, die Furcht auf der anderen Seite ist für Machiavelli kein Selbstzweck, sondern entspringt einer kalkulierenden Herangehensweise an die Problematik der Herrschaftssicherung. In diesem Sinne weist Stefano Saracino darauf hin, dass Machiavelli Festungen weniger als militärischen Nutzbau, denn als Symbol und Zeichen auffasse.720 Eine dem Festungsbau gegenüber aufgeschlossenere und hierin von den bisher besprochenen Werken Machiavellis auffallend abweichende Haltung bringt der Florentiner in La vita di Castruccio Castracani zum Ausdruck. In einer kurzen Bemerkung im Umfeld des zwischen den Florentinern und Castruccio schwelenden Konflikts erwähnt Machiavelli die von der Titelfigur unternommenen architektonischen Maßnahmen in Lucca. Nachdem er die Stadt für sich gewonnen und all jene, die sich ihm widersetzten, aus dem Weg geräumt habe, ließ er „zu seiner größeren Sicherheit […] in Lucca eine Festung [bauen] und nahm dazu das Material von den Geschlechtertürmen derer, die er verjagt und umgebracht hatte.“721 Hier nun wird Architektur, werden bauliche Konstruktion beziehungsweise Dekonstruktion zu für die Sicherheit und die Festigung von Macht relevanten Erscheinungen erklärt. Castruccio Castracani nimmt seinen politischen Widersachern ihre fortifikatorischen Bauten, entblößt sie ihrer geschützten Rückzugsräume und eignet sich damit eine Grundlage ihrer Macht an. In diesem Werk ist der Aufbau einer Festung für Machiavelli demnach sehr wohl mit dem Erhalt eigener Macht verknüpft. In dieser kurzen Erwähnung wird Architektur zugleich auch zu einem Mittel symbolischer Kommunikation. Sie ist Ausdruck sich verändernder Machtverhältnisse. Das neue Herrschaftsgefüge erfährt in der Verwendung 718  Machiavelli: Il Principe. S. 129-135. 719  Ottmann: Was ist neu im Denken Machiavellis? S. 146-153. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 11 und 15-16. 720  Saracino: Symbolische Kommunikation über Festungen. S. 2-3. 721  Machiavelli: Das Leben Castruccio Castracanis aus Lucca. S. 21.

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der den Geschlechtertürmen der Besiegten entnommenen Steine seine Entsprechung. Das von Machiavelli zuvor so stark betonte Argument, wonach nicht Festungen und Mauerwerk Grundlage von Herrschaft seien, sondern die Liebe der Untertanen, findet hier keine Entsprechung mehr. Psychopolitische Erwägungen treten in den Hintergrund, verschwinden gar ganz und werden ersetzt durch das zu Stein gewordene Argument der Macht. Das von Machiavelli in so vielem als vorbildhaft präsentierte Verhalten Castruccio Castracanis nötigt zu der Frage, ob sich in der zeitlichen Abfolge der Werke des Florentiners eine Veränderung seiner Position bezüglich der Architektur abzeichnet.722 Nun ist Castruccio ein Gescheiterter. Seine Macht auf Dauer zu festigen, vermochte er nicht. Taugt er somit als Vorbild? Eine Antwort kann nur geben, wer die Gründe für sein Scheitern nennt. Hat er sich in dem, was in seiner Macht stand, etwas zu Schulden kommen lassen? War es Torheit, die seiner Herrschaft ein Ende bereitete? Nein. Fortuna hat ihn gestürzt, wie sie jeden eines Tages unter ihrem Rad zermalmen wird.723 Eben deshalb, ließe sich mit Machiavelli einwenden, ist es ein Gebot politischer Klugheit, sich auf Festungen und nicht auf die Liebe des Volkes zu verlassen. Der Mensch ist wankelmütig.724 Furcht, nicht Liebe ist eine verlässliche Grundlage von Herrschaft.725 Festungen würden demgemäß zu einem Mittel, sich dem flatterhaften Volk zu entziehen und sich gegenüber den Launen Fortunas behaupten zu können. Bereits in der Beschreibung ihres Wirkens wird „diese unstete 722   Il Principe ist auf das Jahr 1513 zu datieren, die Discorsi auf die Jahre von 1513-1517 vielleicht auch noch 1519. Dell’Arte della Guerra entstand zwischen 1519 und 1520. La vita di Castruccio Castracani schließlich verfasste Machiavelli 1520 (Buck: Machiavelli. S. 3 und 82-85. Eine summarische Werkchronologie bei Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. S. 379-380. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 14, 31 und 58). Zur Datierung des Principe siehe auch Machiavellis Schreiben an Francesco Vettori aus dem Dezember 1513 (Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407-409). 723  Machiavelli: Das Leben Castruccio Castracanis aus Lucca. S. 31-32 und 38-39. Machiavelli: Von Fortuna. S. 115. Hoeges: Zur Ästhetik der Macht. S. 52. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 29. Volker Reinhardt sieht im Wirken Fortunas „in Wirklichkeit ein[en] Freispruch [für Castruccio], denn Fortuna handelt unvorhersehbar.“ (Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. S. 321-322) August Buck deutet die Biographie Castruccio Castracanis zwar als durchzogen von Zügen eines Idealportraits, doch setze sich an ihrem Ende ein tief pessimistischer Tonfall durch. Die Möglichkeit des Menschen, sich gegen Fortuna durchzusetzen, habe Machiavelli nirgends derart gering eingeschätzt (Buck: Machiavelli. S. 117-119). 724  Machiavelli: Il Principe. S. 129. Machiavelli: Vom Undank. S. 161-162. 725  Machiavelli: Il Principe. S. 127-131. Hierbei betont Machiavelli allerdings den Unterschied zwischen Furcht und Hass nicht aus den Augen zu verlieren. Gefürchtet zu werden sei politisch klug. Gehasst zu werde gefährdet die eigene Herrschaft jedoch (Machiavelli: Il Principe. S. 131).

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Göttin und launische Frau“726 im XXV. Kapitel des Principe durch Werke der Baukunst gemäßigt. Fortuna ist ein reißender Strom.727 Durch Deiche, Dämme und Kanäle aber kann man sich ihrer Kraft widersetzen.728 Die Ausführungen Machiavellis in La vita di Castruccio Castracani aber stellen aus wenigstens zwei Gründen heraus keine Abkehr von seinen bisher vertretenen Positionen dar. Sie stellen keine Abkehr insofern dar, als die Vita Castruccios vorbildhaft vielleicht aus einem ganz anderen Grund ist. Volker Reinhardt offeriert eine Deutung, in der er die Vita des Herrn von Lucca als ein Spiegelbild von Machiavellis Selbst versteht. Über die Frage, was der eigenen Tatkraft und was dem Willen Fortunas obliegt, wolle sich Machiavelli mit dem eigenen Schicksal auseinandersetzen. Die Beschreibung des Castruccio Castracani diene somit der Selbsterforschung, biete Machiavelli die Möglichkeit, sein eigenes Scheitern zu entschuldigen.729 Eine entsprechende Auslegung der Schrift würde die Episode über den Festungsbau in Lucca nicht bedeutungslos machen, sie aber doch als nur nachrangig ausweisen, so dass man sie nicht über Gebühr strapazieren sollte. Die Ausführungen Machiavellis in La vita di Castruccio Castracani stellen ferner keine Abkehr von seinen bisher vertretenen Positionen dar, da sie als deren konsequente Fortführung beurteilt werden können. Gelesen als politiktheoretisches Werk werden Festungen im Werk über Castruccio Castracani, genau wie im Principe und den Discorsi, als Ausdrucksform symbolgelandener Kommunikation genutzt. Festungen sind im Principe und den Discorsi Bauwerke der Furcht. Furcht vor dem eigenen Volk. Furcht, die dem Volk vor dem Machthaber vermittelt werden soll. Nicht zuletzt ist der Verzicht auf Festungen das Ausbleiben einer derartigen Ansprache. Den leeren Platz der Festung nimmt die Liebe der Untertanen ein. In der Lebensbeschreibung des Herrn von Lucca aber begegnet noch eine direkte Form symbolhaften Kommunizierens über das Medium der Festung. Auf eine andere Art stellt sich dagegen die Argumentation über Befes­ tigungsbauten in der Arte della Guerra dar. Dort, in Buch VII des Dialogs zwischen dem Condottiere Fabrizio Colonna dem Hausherrn Cosimo Rucellai und seinen Gästen in den Orti Oricellari, dem Garten des Palazzo Rucellai,

726  Machiavelli: Von Fortuna. S. 115. 727  Machiavelli: Il Principe. S. 193. Machiavelli: Von Fortuna. S. 118. 728  Machiavelli: Il Principe. S. 193. Zur Bedeutung des Kanals in dieser Passage des Principe vgl. die Hinweise bei Saracino: Die Republik und das Meer. S. 158 (v.a. Fußnote 28). Die wider die Wassermassen gerichteten Bauten eröffnen zudem die Möglichkeit der Assoziation mit dem Mauerwerk von Städten und Festungen. 729  Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. S. 316-317.

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behandelt Machiavelli, wie Kastelle und Städte zu befestigen sind, die nicht bereits ihre natürliche Lage schütze.730 Das sich im Folgenden entwickelnde Gespräch präsentiert Befestigungsanlagen auf eine Weise, die von den Ausführungen im Principe, den Discorsi und La vita di Castruccio Castracani abweicht. Fortifikationsbauten werden in Buch VII von Machiavellis Kriegskunst verstanden als Zweckbauten. Sie haben eine Funktion zu erfüllen. Für Symbolik bleibt damit kaum mehr Platz. Die Argumentation in der Arte della Guerra verliert an Deutungsebenen, indem der politiktheoretische ebenso wie der symbolische Gehalt der Festungsarchitektur an den Rand des Blickfelds gerückt wird.731 So unterscheiden sich die Arte della Guerra, Il Principe, die Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio wie auch La vita di Castruccio Castracani dahingehend, dass es Machiavelli in der Kunst des Krieges nicht um Festungen im eigentlichen Sinne geht. Durch den Mund des Fabrizio Colonna äußert sich Machiavelli über die bei der Befestigung von Städten zu berücksichtigenden Belange. Der vorherigen Assoziation der Festung mit tyrannischer Herrschaft, die durch eine auf die Liebe des Volkes gestützte Herrschaftsform ersetzt werden sollte, fehlt es damit an einer Grundlage. Der am militärischen Nutzen orientierten Argumentation zum Trotz bleibt eine Parallele zum Principe und den Discorsi bestehen, da die Errichtung von Festungen in der Stadt oder in der Nähe der Stadt von Machiavelli abgelehnt werde.732 Vor allem aber ist der politiktheoretische Gehalt der Festungsarchitektur, wenn auch an den Rand gerückt, noch immer Teil von Machiavellis Betrachtung; die am militärischen Nutzen orientierte Beweisführung in der Arte della Guerra solle demonstrieren, dass Festungen ein falsches Gefühl von Sicherheit suggerierten, das dazu verleite, sich auf die Bauwerke statt auf die Bevölkerung zu verlassen.733

730  Machiavelli: Die Kunst des Krieges. S. 836. Zur eigenwilligen Wahl Machiavellis einen Vertreter just jener Profession zum zentralen Protagonisten und seinem Alter Ego in diesem Dialog zu machen, bietet eine Erklärung Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. S. 325. Zur ablehnenden Beurteilung der Condottieri siehe beispielsweise Machiavelli: Il Principe. S. 93-103. Machiavelli: Discorsi: II,20, S. 239-241. Machiavelli: Die Kunst des Krieges. S. 718-719. 731  Siehe Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. S. 328. Dass dem Fortifikationswesen nur nachrangige Bedeutung zukomme, konstatiert August Buck, wenn er urteilt, dass die Bücher IV-VII der Arte della Guerra mit Fragen sekundärer Bedeutung für die Kriegführung befassen (Buck: Machiavelli. S. 103). Zurückhaltender hierzu Münkler: Machiavelli. S. 385 und zuletzt Saracino: Symbolische Kommunikation über Festungen. S. 31. 732  Saracino: Symbolische Kommunikation über Festungen. S. 19 und 29. 733  Saracino: Symbolische Kommunikation über Festungen. S. 31.

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In noch geringerem Ausmaß als im Werk des Niccolò Machiavelli ist Architektur für Thomas Hobbes ein für sein politisches Denken elementarer Gegenstand. Und doch begegnet sie dem Hobbes-Rezipienten an prominenter Stelle. Im gleichermaßen wirkmächtigen wie wohl vertrauten Frontispiz des Leviathan (Abb. 22) erkennt der Betrachter eine dreifache Verwendung beziehungsweise Verwendungs-Vermeidung von Baulichkeiten. Hinter den Hügeln erhebt sich der Leib des Leviathan aus dem sich am Horizont abzeichnenden Meer. Die Krone auf dem Haupt, das Schwert in der Rechten, den Bischofsstab in der Linken wirkt sein Körper, seinem biblischen Namensgeber gleichend, wie ein Fisch geschuppt,734 lückenlos bedeckt mit den Körpern seiner Untertanen,735 die zusammen jenen sterblichen Gott erschaffen, „dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken“.736 Im Körper des Leviathans visualisiert das Frontispiz zu Hobbes’ Werk das Gemeinwesen. Doch ist dies eine Visualisierung, die noch tradierten Bahnen verhaftet zu sein scheint. Es ist die Gemeinschaft oder besser der Zusammenschluss der Bürger, dem die entscheidende Bedeutung zugesprochen wird – gleichgültig ist es hierbei, ob dieser Zusammenschluss nun über den Weg des Vertrages (government by institution) oder der Unterwerfung (government by acquisition) erzielt wurde.737 Die Bestimmung des Staates über den Gemeinschaftsgedanken, umgesetzt im Bild des Staatskörpers, schließt die Berücksichtigung der Architektur also vorerst aus. Der Gemeinschaftsgedanke ist dabei jedoch weniger wirkmächtig als auf den ersten Blick vermutet. Der Leviathan basiert auf dem Zwang zum Miteinander. Das Schwert in seiner Rechten ist immer auch als Instrument der Drohung zu verstehen. Nicht umsonst schreibt Hobbes, dass Verträge ohne das Schwert bloße Worte seien. Das Zwangspotential der Gewalt bleibt notwendig, um die Leidenschaften des Menschen im Zaum zu halten.738 734  Hiob 40-41, S. 535-536. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 279. 735  Bredekamp: Thomas Hobbes der Leviathan. S. 15 hat über dreihundert Menschen im Leib des Leviathan gezählt. Streiten liese sich freilich über die Frage, ob der Leviathan mit den Körpern seiner Untertanen bedeckt oder aus ihnen zusammengesetzt ist. Brandt: Das Titelbild des Leviathan. S. 15. Kersting: Thomas Hobbes zur Einführung. S. 39. Englmann: Titelkupfer: Frontispize aus Werken zum politischen Denken der frühen Neuzeit und ihr Bezug zur Emblematik. S. 105 und 131. 736  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. II,17, S. 134. 737  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. II,17, S. 135. 738  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. II,17, S. 131. Zur Rolle der Gewalt im Frontispiz des Leviathan Brandt: Das Titelblatt des Leviathan. S. 19. Dagegen deutet Ottmann den Gestus des Leviathans als ein

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Neben diese Verwendungs-Vermeidung tritt im oberen Teil des Frontispiz’ eine zweite Form der Auseinandersetzung mit Architektur. Unterhalb der riesenhaften Gestalt des Leviathans, noch vor den Anhöhen gelegen, sind die Ausläufer einer Stadt erkennbar. Im Schutz einer turm- und zinnenbewehrten Mauer gelegen, erhebt sich eine Kirche über die Häuserreihen, die auf der linken Seite von einer Zitadelle, auf der rechten von einer Bastion eingefasst werden.739 Doch wirkt diese Stadt seltsam steril. Schenkt man ihr nur einen flüchtigen Blick, ist sie ihrer Einwohnerschaft nahezu vollständig entkleidet und bestimmt allein über die genannten Baulichkeiten. Ihre Bewohner hingegen sind der architektonischen Sphäre enthoben und in den Leib des Leviathans eingegangen.740 Isoliert betrachtet wird die Stadt damit bereits durch ihre zivilen, religiösen und fortifikatorischen Bauwerke zur Stadt. Von den vielfältigen Formen städtischen Lebens, wie sie rund drei Jahrhunderte zuvor Ambrogio Lorenzetti in seinen Fresken in Sienas Palazzo Publico entworfen hatte, ist das für Hobbes’ Werk geschaffene Frontispiz weit entfernt. In dieser Stadt findet praktisch kein Leben statt.741 Dieser erste Eindruck täuscht indes insofern, als der Stadt nicht alle Menschen abhandengekommen sind. Zwei Personengruppen lassen sich auf den Freiflächen am unteren Bildrand als miniaturhafte Gestalten noch identifizieren: es handelt sich um eine lose beisammenstehende Gruppe von Bewaffneten nahe der Zitadelle – ein weiterer Bewaffneter findet sich am rechten Bildrand unterhalb der den Fluss überblickenden Festung – und zwei schützendes Ausbreiten der Arme über Stadt und Land. Diesem „gemütlichen Spielkartenkönig“ sei die Fähigkeit zum Gehorsam zu zwingen nicht eigen (Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 279-280). 739  Zur Bedeutung von Mauern, Toren und Wächtern auch das Vorwort an den Leser in Hobbes: Vom Bürger. S. 68. 740  Agamben: Stasis. S. 51. Bredekamp: Thomas Hobbes der Leviathan. S. 108. 741  Vergleichbar ist sie eher mit den in der italienischen Renaissance gefertigten Bildwerken idealer Stadtansichten. Etwa mit Francesco di Giorgio Martinis großformatigem Entwurf, der heute in Berlin zu besichtigen ist. Oder dem verschiedenen Künstlern, mal Piero della Francesco, mal auch Leon Battista Alberti, und so weiter und so fort zugeschriebenen Bildnis in Urbinos Galleria Nazionale delle Marche (Grafton: Leon Battista Alberti. S. 263-264. Nützmann: Francesco di Giorgio Martini, zugeschrieben. S. 336-337). Schließlich auch dem Fra Carnevale zugewiesenen Bild einer Idealstadt. Noch stärker als beim Frontispiz für Hobbes’ Leviathan, legen sie den Fokus auf die Architektur. In ihnen begegnet der Mensch nicht mehr, oder – wenn überhaupt – nur noch schemenhaft als winzige Gestalt. So verbergen sich in Fra Carnevales Werk eine nicht unerhebliche Zahl an Menschen. Doch sind diese der Architektur eindeutig unterzuordnen. Schon durch die Proportionen der Gebäude und Personen wird dies deutlich. Die Bauten dominieren das Bild, sind viel zu groß, als dass sie von den dargestellten Menschen bewohnt werden könnten (Belting: Florenz und Bagdad. S. 217).

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von der Forschung als Seuchenärzte benannte Gestalten am Fuße der Kirche.742 Durch die Bewaffneten wird der Gedanke, Zwang als Instrument der Ordnung zu begreifen, vom Großen ins Kleine übertragen. Leicht sind sie somit als die Verlängerung des Schwertes des Leviathans zu denken, die als Garanten von Sicherheit und Frieden fungieren.743 Auch die beiden Seuchenärzte können auf diese Art verstanden werden. Obgleich unscheinbarer als die abgebildeten Bewaffneten sind sie dennoch vielschichtiger deutbar. Als Fortsetzung der Armierten erweitern sie zunächst die mit diesen verbundene Argumentation insofern, als auch sie als Gewährsmänner für den Erhalt von Frieden und Sicherheit jenseits des Naturzustandes ausgelegt werden können. Bekräftigt wird diese Auslegung in der Einleitung des Leviathan. Dort liest man: „Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und Bürgerkrieg Tod.“744 Und auch im zweiten Teil des Leviathan wird die medizinische Metaphorik von Hobbes aufgegriffen. Vereinigungen und Volksversammlungen vergleicht er hierin mit Teilen des menschlichen Körpers: „die gesetzlichen mit den Muskeln und die ungesetzlichen mit Geschwülsten, Beulen und Geschwüren, die durch den unnatürlichen Zusammenfluß übler Säfte erzeugt werden.“745 Das medizinische Personal rückt damit in eine Position, in der es nicht nur für einzelne Bürger Sorge trägt, sondern den ganzen Körper des sterblichen Gottes beschützt. Demnach werden die beiden Ärzte auch nicht als „Nutznießer befriedeter Verhältnisse“ gewertet, „sondern als Zeugen der Bedrohung“,746 der sich das Friedensreich des Leviathans nach wie vor ausgesetzt sieht. 742  Bredekamp: Thomas Hobbes der Leviathan. S. 108-109. Falk: Hobbes’ Leviathan und die aus dem Blick gefallenen Schnabelmasken. S. 223-224. Agamben: Stasis. S. 62-63. Reinhard Brandt hat die in der Stadt Dargestellten hingegen als Bürger ausgewiesen. Das Frontispiz zeige die Menschen somit einmal als Bourgeois, ein anderes Mal als Citoyen. Einmal werden sie „in ihrer privat-gesellschaftlichen Tätigkeit“ gezeigt, ein anderes Mal als politische Person (Brandt: Philosophie in Bildern. S. 318. Siehe auch Brandt: Das Titelbild des Leviathan. S. 17-18). 743  Vgl. hierzu auch Hobbes’ Ausführungen in der Einleitung des Leviathan. Dort schreibt Hobbes, dass „die Beamten und Bediensteten der Jurisdiktion und Exekutive künstliche Gelenke […]“ des Leviathans seien (Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Einleitung, S. 5 [Hervorhebungen im Original]). Hierin ähnelt er Johannes von Salisburys Bestimmung der Beamten und Soldaten als Händen des politischen Körpers (Johannes von Salisbury: Policraticus. V,2, S. 165). 744  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Einleitung, S. 5 [Hervorhebungen im Original]. 745  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. II,22, S. 184. Falk: Hobbes’ Leviathan und die aus dem Blick gefallenen Schnabelmasken. S. 230. Agamben: Stasis. S. 64-65. 746  Bredekamp: Thomas Hobbes der Leviathan. S. 108.

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Die Gleichsetzung widerrechtlicher menschlicher Zusammenkünfte mit körperlichen Fehlbildungen ebenso wie die Assoziation von Krankheit und Bürgerkrieg in der Einleitung des Leviathan macht den Menschen zum potentiellen Träger und Überträger körperlicher Gebrechen. Gerade in Bezug auf die Entstehung von Infektionskrankheiten weicht die von Hobbes verwendete Vorstellung vom im Mittelalter vorherrschenden Denkmuster ab, wonach schlechte, nicht zirkulierende Luft insbesondere in Sumpfgebieten ursächlich für Krankheiten wie die Pest sei.747 Als den Bewaffneten Nahestehende übernehmen die Seuchenärzte eine mit ihnen vergleichbare Funktion. Sie sind Torwächter des Gemeinwesens, stehen für Exklusion und Separation von den Staatskörper bedrohenden Personen.748 Somit gleicht die Präsenz des Seuchenarztes im Frontispiz jener des Bewaffneten, stellen doch beide eine Verheißung von Schutz und physischer Unversehrtheit dar. Über diese Gleichung hinaus akzentuiert die Abbildung der beiden Ärzte aber nicht allein die in Hobbes’ Werk so prominent vertretene Herstellung von Sicherheit jenseits des Naturzustandes und den damit verbundenen Ausgang aus einem Leben, das Hobbes in der oft zitierten Passage des dreizehnten Kapitels im Leviathan als „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ umschreibt.749 Die Person des Seuchenarztes ist nicht nur als Repräsentant einer Macht zu begreifen, die mittels Einschüchterung den Menschen ihren Willen aufzwingt.750 Sie ließe sich als eine wohlfahrtsstaatliche Komponente 747  Hier nun kann Hobbes tatsächlich als Vertreter neuer, vom Mittelalter abweichender Denkmuster gewertet werden, die trotz des Bezugs auf die Humorallehre Galens Krankheiten als primär durch den Menschen übertragen ansieht. Dagegen bleibt Hobbes in seiner Übersetzung der Geschichte des Peloponnesischen Krieges noch der Textvorlage gegenüber treu und nennt keine Übertragungswege der in Athen ausgebrochenen Seuche. Vgl. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. II,47-54, S. 251-261 und Hobbes: The History of the Grecian War written by Thucydides. II,47-54, S. 201-210. Für die Vorstellung schlechter Luft als Ursache für Krankheiten beispielsweise Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,2, S. 64. Francesca Falk jedoch argumentiert, dass die Schnabelmasken der Ärzte im Frontispiz des Leviathan auf die Überzeugung verweise, dass Krankheiten wie die Pest durch die Luft übertragen würden (Falk: Hobbes’ Leviathan und die aus dem Blick gefallenen Schnabelmasken. S. 224). 748  Auch an die Abwehr äußerer Eindringlinge ist hier zu denken. Jedoch wird diese in der Darstellung von Stadt und Landschaft unterhalb des Leviathans nicht thematisiert, da die Interaktion mit anderen Gemeinwesen nicht visualisiert wird. Zur Schließung des Raums als Folge eines Ausbruchs der Pest siehe beispielsweise Foucault: Überwachen und Strafen. S. 251-255 und Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. S. 24-25. 749  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. I,13, S. 96. 750  Zum Phänomen der Einschüchterung vgl. Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. I,13, S. 95.

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des Leviathans begreifen. Gesundheit, nicht nur Sicherheit wird als für dieses Gemeinwesen von Belang ausgewiesen. Physische Unversehrtheit wäre somit mehr als lediglich der Schutz des Überlebens. Die über das Frontispiz transportierten politischen Erwägungen Thomas Hobbes’ würden nun abermals an solche aus dem Mittelalter anschließen, insbesondere an jene von Aristotelikern wie Thomas von Aquin.751 Der Rückbezug auf Aristoteles oder den politischen Aristotelismus des Mittelalters ist hierin jedoch nicht intendiert. Anders als für Aristoteles steht nicht das Erreichen eines Zustandes der eudaimonia im Vordergrund;752 anders als für Thomas von Aquin ist die Sorge um die Gesundheit nicht auf dem Weg zur himmlischen Glückseligkeit verortet,753 sondern dient abermals der Sicherheit. Sicherheit verstanden als Erhalt und Verlängerung des Lebens. Dagegen ist die Sorge um das gute Leben hier allenfalls nachrangig.754 Die dritte Verwendungsweise der Architektur im Frontispiz des Leviathan erkennt der Betrachter schließlich in den je fünf Schautafeln unterhalb von Schwert und Bischofsstab. Zuunterst, in der der weltlichen Gewalt zugeordneten Säule, eine Schlachtendarstellung. Ihr gegenüber, im Feld der geistlichen Gewalt, ein Konzil. Darüber Feldzeichen, Musketen und Trommeln auf der einen und die drei- und zweizackigen Gabeln von Distinktion, Dilemmata und Syllogismen auf der anderen Seite. Oberhalb davon Kanone und Bannstrahlen, Krone und Mitra. Zuoberst eine Burg und eine Kirche.755 Burg und Kirche werden damit zu einer symbolischen Grundform der weltlichen respektive der geistlichen Gewalt. Noch vor den die Menschen heraushebenden Symbolen von Krone und Mitra steht hier die Architektur für die Bestimmung der weltlichen und der geistlichen Gewalt. Was also ist neu am politischen Denken Niccolò Machiavellis, am politischen Denken Thomas Hobbes’ wenn ihre Ausführungen zur Architektur als Ausgangslage der Betrachtung dienen? Die bei Machiavelli diskutierte Frage, ob Verlass mehr auf die Liebe des Volkes oder auf Festungen sei, ist ebenso wenig neu in der Geschichte des politischen Denkens wie es die Bestimmung der 751  Vgl. die von Thomas in De regno ad regem Cypri genannten Kriterien des Städtebaus, die Gesundheit und ein langes Leben der Bürger fördern sollen (beispielsweise Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61). Vgl. ebenfalls die aristotelische Bestimmung der Polis, die „nun zwar des Lebens wegen entstanden ist, aber doch um des guten Lebens wegen besteht.“ (Aristoteles: Politik. I,2, 1252b, S. 77) 752  Aristoteles: Politik. I,2, 1252b, S. 77. Aristoteles: Nikomachische Ethik. I,1-2, 1094a-1095a, S. 5-8 und X,7, 1177a, S. 287-288. 753  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,15, S. 57. 754  Falk: Hobbes’ Leviathan und die aus dem Blick gefallenen Schnabelmasken. S. 234-235. 755  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 280. Kersting: Thomas Hobbes zur Einführung. S. 38. Agamben: Stasis. S. 48.

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Architektur als Form symbolischer Kommunikation ist. Ferner ist die im Mittelalter ausgiebig geführte Erörterung um Kain als Gründungsgestalt sowohl der Architektur als auch der Politik beiden Denkern keine Erwähnung mehr wert. Die Bluttat Kains nehmen sie stillschweigend hin. Keine Erwähnung findet der Brudermörder in den Textstellen, in denen sich Machiavelli zur Etablierung des Gemeinwesens äußert. Thomas Hobbes spricht seinerseits im Leviathan von Kain im dritten Teil des Werks. Darin wird der Erstgeborene Adams namentlich genannt, nicht jedoch in der Absicht, ihn mit Politik oder Architektur in Verbindung zu setzen. Er begegnet dort in der Debatte um die Frage, wie Gott seine Gegenwart bekundete.756 Dass insbesondere Machiavelli Kain keine große Aufmerksamkeit zollt, wundert in Anbetracht der Ausrichtung seines politischen Denkens nicht. Kains Fehlen wird Machiavelli als solches nicht empfunden haben, weil er nur jene kritisiert, die Gewalt gebrauchen um zu zerstören, nicht aber jene, die mit ihr aufbauen wollen.757 Hobbes wiederum wird keine zwingende Notwendigkeit verspürt haben, sich mit der Personalie des Adamssohnes explizit zu befassen, weil das Verlassen des Naturzustandes und die Erschaffung des Leviathan eben auch durch den Gebrauch des Schwertes, durch das Mittel der Unterwerfung erfolgen kann. Dem Verbleib im Naturzustand und des in ihm herrschenden Krieges eines jeden gegen jeden sei dieser Weg allemal vorzuziehen.758 Implizit lebt Kain bei Hobbes damit weiter. Schweigt Machiavelli zu Kain, äußert er sich zu Romulus. Den zweiten Brudermörder, den Aurelius Augustinus noch als zentrale Figur für sein Urteil über Politik und Architektur in De civitate Dei eingeführt hatte, der bei Thomas von Aquin in einem anderen Licht erscheint und dem sich nun auch der Florentiner annimmt. Während Augustin den unheilbringenden Tod des Remus durch die Hand seines Bruders in den Vordergrund stellt,759 während Thomas über den Tod des Remus verstummt und an seiner statt die architektonische Gründungstat des Romulus betont,760 erzählt Machiavelli die Geschichte des Brüderpaares auf eine andere Art und Weise. Der Brudermord wird nicht verdammt, auch nicht verschwiegen, sondern entschuldigt.761 756  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. III,36, S. 326. 757  Machiavelli: Discorsi. I,9, S. 37. 758  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. II,20, S. 155-162. Kersting: Vertrag, Souveränität, Repräsentation. S. 225-226. 759  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,5, S. 218-220. 760  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61. 761  Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XV,5, S. 218-220. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1, S. 61. Machiavelli: Discorsi. I,9, S. 37. Über Romulus

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Dabei rückt die Gründung der Stadt durch Romulus in den Hintergrund. Für Machiavelli scheint sie gar gänzlich an Bedeutung verloren zu haben. Er trägt nichts vor über Architektur, sondern sieht vornehmlich die konstituierende Leistung des Romulus. Getrieben durch die Sorge um das Gemeinwohl, nicht aufgrund von Herrschsucht, habe er dem Staat eine dauerhafte Verfassung geben können.762 Hierfür jedoch musste er alleine sein, da eine Mehrzahl wegen der in ihr herrschenden Vielfalt an Meinungen hierzu nicht in der Lage sei. Der Tod des Bruders war für die Gründung einer stabilen politischen Ordnung deswegen unumgänglich.763 Zwei Anmerkungen sind diesen Ausführungen Machiavellis indes beizugeben: Weder ist die Argumentation des Florentiners neu, noch ist sie vollkommen architekturfern. Neu ist sie nicht, weil bereits Bartolus von Sassoferrato Romulus in Schutz nimmt und ihn vom Mord an seinem Bruder freispricht.764 Der Gedankengang besitzt mithin ein mittelalterliches Herkommen. Vollkommen architekturfern sind Machiavellis Ausführungen nicht, weil das von ihm gebrauchte Vokabular in jenen Passagen, in denen er von Romulus spricht, ein auch architektonisch eingefärbtes ist – wenngleich dieser Aspekt nicht zu stark gewichtet werden sollte. In den Discorsi schreibt Machiavelli, dass zu tadeln nur sei, „wer Gewalt braucht um zu zerstören und nicht, wer sie braucht um aufzubauen, […].“765 Die Unterscheidung von Dekonstruktion und Konstruktion ist nicht allein auf die deutsche Übersetzung zurückzuführen, sondern findet sich auch im italienischen Original. Das Prädikat racconciare, das Machiavelli dort verwendet, wo im Deutschen von aufbauen die Rede ist, ist ein auch im Italienischen mit der Architektur verbundener Begriff.766 Machiavellis Deutung des Romulus knüpft demnach an mittelalterliche Auffassungen über den Erbauer Roms in wesentlichen Punkten an. Abweichend stellt sich dagegen die Charakteristik des Romulus bei Thomas Hobbes dar, dessen Erläuterungen jedoch schnell behandelt sind. Romulus spielt im berichtet Machiavelli auch im Principe und reiht ihn dort ein in die Gruppe jener, die sich durch eigene Waffen und Tüchtigkeit eine Fürstenherrschaft erworben haben. Vorrangig seien dies Cyrus, Theseus, Moses und eben Romulus (Machiavelli: Il Principe. VI, S. 43). 762  Machiavelli: Discorsi. I,9, S. 36-37. 763  Machiavelli: Discorsi. I,9, S. 37. Buck: Machiavelli. S. 90. 764  Bartolus of Sassoferrato: Tractatus de Tyrannia. VIII, § 29, S. 142. Auf die Parallele in der Argumentation bei Machiavelli und Bartolus machte aufmerksam etwa Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. S. 358-360. 765  Machiavelli: Discorsi. I,9, S. 37. Eine der Architektur entlehnte Metapher bedient sich Machiavelli auch am Ende jenes Kapitels im Principe, in dem er auf Romulus zu sprechen kommt, bezieht diese jedoch nicht direkt auf den Römer, sondern auf Hieron von Syrakus (Machiavelli: Principe. VI, S. 47). 766  Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio. I,9, S. 64.

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Leviathan praktisch keine Rolle. Sofern Hobbes hierin kein absichtsvolles Schweigen unterstellt wird, kann ihm kein wahrhaftig neues Bild von Remus’ Bruder attestiert werden. Hobbes erwähnt ihn lediglich an einer Stelle im fünfundvierzigsten Kapitel des Leviathan. Der Behandlung des Kain ähnlich wird auch Romulus weder mit dem Tod seines Bruders, noch mit der Gründung der Stadt in Verbindung gesetzt, sondern in Zusammenhang mit der Kanonisation von Heiligen in den Text eingebracht.767 Von einer Ausnahme abgesehen zeugen auch die im Frontispiz des Leviathan genutzten Verwendungsweisen von Architektur bei Thomas Hobbes nicht von einem Neuen etablierenden Blick auf das politische Denken. Die zunächst vermiedene Verwendung von Architektur im Leib des Leviathan ist nicht neu, sondern bereits von zahlreichen Denkern der Antike und des Mittelalters, die das Gemeinwesen über die Gemeinschaft der Bürger und nicht über seine Bauten begriffen, bereits gedacht worden.768 Lediglich der Aspekt des Zwangs zum Miteinander wird von Hobbes in einem Maße akzentuiert, wie dies bei den bislang behandelten Denkern nicht der Fall war. Auch das durch die Stadtmauern und Festungswerke in das Frontispiz eingezogene Motiv, sich mittels der Architektur von der Außenwelt abzugrenzen, dadurch auch das eigene Gemeinwesen zu definieren und nicht zuletzt einen Schutzraum zu erschaffen, ist dem Mittelalter nicht fremd. Ferner ist die Verbildlichung weltlicher und geistlicher Gewalt etwa mittels Burg und Sakralbau in den Schautafeln der unteren Hälfte des Frontispizes ein aus dem Mittelalter vertrautes Motiv. Es bleibt schließlich die Auffassung übrig, Architektur als Hilfsmittel für Maßnahmen zu verstehen, mit denen die physische Unversehrtheit der Menschen sichergestellt werden soll. Sie allein bürgt für ein neu angesetztes politisches Denken bei Thomas Hobbes. Zwar ist auch das Mittelalter durch den Architekturtraktat des Vitruv mit einer die Gesundheit der Bevölkerung regulierenden und steuernden Funktion von Seiten der Politik vertraut,769 verbindet diese jedoch mit einer von Hobbes abweichenden Intention. Vorrangig ist nicht die Sorge um die Sicherheit des Gemeinwesens, vorrangig ist die Sorge um das Seelenheil. Deswegen gelte es, sich um die Physis der Bevölkerung zu kümmern.770 Unter Umgehung des Mittelalters findet sich hierin ein – gleichwohl nicht bewusst vollzogener – Rückbezug auf antike Denkmuster, wie sie schon bei Vitruv hinterlegt waren. 767  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. IV,45, S. 503-504. 768  Siehe zum Beispiel die in der Einleitung genannten Denker. 769  Behandelt wird sie beispielsweise im Fürstenspiegel des Thomas von Aquin (Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,1-2, S. 61-66). 770  Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,15, S. 57.

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Erster Teil

Nicht neu, aber im bisherigen Verlauf des Untersuchten noch nicht behandelt ist ein gewichtiger Rückbezug auf antike, aber auch mittelalterliche Denkmuster. Deutlich wird er allerdings weniger bei Thomas Hobbes als bei Niccolò Machiavelli.771 Auf den 10. Dezember des Jahres 1513 datiert der Florentiner seinen Brief an Francesco Vettori, in dem er dem Freund Kunde auch über die architektonische Verortung seines Denkens übermittelt. Seiner Ämter enthoben und auf seinen Landsitz verbannt berichtet Machiavelli von der Entstehung seines politischen Denkens und dessen Niederschrift im Principe: Wenn der Abend kommt, kehre ich nach Hause zurück und gehe in mein Schreibzimmer. An der Schwelle werfe ich die Bauerntracht ab, voll Schmutz und Kot, ich lege prächtige Hofgewänder an und, angemessen gekleidet, begebe ich mich in die Säulenhallen der großen Alten. Freundlich von ihnen aufgenommen, nähre ich mich da mit der Speise, die allein die meinige ist, für die ich geboren ward. Da hält mich die Scham nicht zurück, mit ihnen zu sprechen, sie um den Grund ihrer Handlungen zu fragen, und herablassend antworten sie mir. Vier Stunden lang fühle ich keinen Kummer, vergesse alle Leiden, fürchte nicht die Armut, es schreckt mich nicht der Tod; ganz versetze ich mich in sie. Weil Dante sagt, es gebe keine Wissenschaft, ohne das Gehörte zu behalten, habe ich aufgeschrieben, was ich durch ihre Unterhaltung gelernt und ein Werkchen de principatibus geschrieben, worin ich die Fragen über diesen Gegenstand ergründe, so tief ich kann, betrachtend, was ein Fürstentum ist, wie viele Gattungen es gibt, wie man sie erwirbt, wie man sie erhält, wie man sie verliert.772

Das von Machiavelli Geschriebene ist weit mehr als eine prosaische Schilderung seiner Tage in der Verbannung. Machiavelli spielt mit den Erwartungen des Lesers, täuscht ihn, führt ihn in die Irre. Nicht zuletzt die Nennung des Principe unter dem Titel de principatibus ist ein solches Täuschungsmanöver, suggeriert Machiavelli damit doch eine Kontinuität des Principe zu Fürstenspiegeln traditionellen Zuschnitts.773 Kontinuitäten zu konstruieren beabsichtigt 771  Bei Hobbes lässt er sich nur mühsam konstruieren. Im Frontispiz des Leviathan wäre dieser Punkt denkbar in der Darstellung des Konzils, in der untersten der vier Schautafeln auf Seiten der geistlichen Gewalt. Die Verortung des Konzils in einen mit hochaufragenden Fenstern versehenen Raum könnte als Indiz für die im Folgenden zu besprechende Verbindung von Ort und Denken gewertet werden. Die bloße Darstellung der am Konzil Beteiligten wäre demnach als nicht genügend empfunden worden und war um einen architektonisch geformten Raum zu ergänzen. 772  Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407. 773  Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. S. 251. Suggeriert wird mit diesem Titel die Kontinuität zu traditionellen Fürstenspiegeln wie etwa dem am weitesten verbreiteten mittelalterlichen Fürstenspiegel, Aegidius Romanus’ De regimine principum. Siehe zur Verbreitung von De regimine principum beispielsweise Miethke: Das Publikum politischer

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Machiavelli auch anhand eines weiteren Punkts. In Kombination mit dem Motiv des Schreibzimmers stellt die imaginierte Säulenhalle den Bezug zur Diskussion um die Verbindung zwischen Architektur und der Möglichkeit zu denken her.774 Bewusst oder unbewusst fügt Machiavelli insbesondere zum Bild der Säulenhalle das Seine hinzu. Zurückgehend zumindest auf Platon, die Säulenhalle der Peripatetiker sowie die Stoa und ihre Verortung in der Peisianakteischen Halle Athens775 erweist sich die Auseinandersetzung mit dem Motiv der Säulenhalle als eine wiederkehrende innerhalb der Geschichte des politischen Denkens. Sie findet sich beispielsweise bei so unterschiedli­ chen Persönlichkeiten wie Tertullian und Johannes von Salisbury, Ibn Khaldūn oder Machiavellis Zeitgenossen Raffaelo Sanzio und Vittore Carpaccio.776 Theorie im 14. Jahrhundert. S. 8. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. S. 211. Eine Kontinuität des Principe zu De regimine principum ist jedoch nicht vorhanden. Was Machiavelli schrieb, sei jahrhundertelang den politisch Tätigen nicht mehr empfohlen worden (Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 14-15. Im Polipticum quod appellatur perpendiculum des Atto von Vercelli allerdings kann eine Ausnahme von dieser Regel gesehen werden.). Im fünfzehnten Kapitel des Principe formuliert Machiavelli diesen Anspruch selbst, wenn er schreibt: „Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat; denn es liegt eine so große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, daß derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet läßt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt; […].“ (Machiavelli: Il Principe. S. 119) 774  Zur Inszenierung des Schreibaktes bei Machiavelli siehe Hoeges: Machiavellis Principe – Rhetorik – Struktur – Ästhetik. S. 76-78. 775  Zu Platon, dessen Akademie und dem Unterricht in einer Exedra oder einem Peripatos Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. III,20, S. 158 und IV,19, S. 212. Cicero: Über die Ziele menschlichen Handelns. V,1-2, S. 313. Szlezák: Akademeia. Sp. 381-382. Vretska: Einleitung. S. 15. Zur Säulenhalle der Peripatetiker siehe Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. V,51, S. 271. Gottschalk: Peripatos. Sp. 584. In der Darstellung des Aristoteles erwähnt Diogenes Laertius jedoch noch keine Säulenhalle. Hier ist lediglich das Lykeion als Stätte seiner Lehrtätigkeit genannt, in der Aristoteles mit seinem Schülern umhergewandelt sei (Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. V,1, S. 241-242). Zur Peisianakteischen Halle der Stoa Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. VII,5, S. 9. Auf die Säulenhalle der Stoiker nimmt im 14. Jahrhundert Bezug auch Richard de Bury: Philobiblon. S. 45. 776  Tertullian greift auf sie in seiner Gegenüberstellung von Athen und Jerusalem zurück (Tertullian: De praescriptione haereticorum. VII,10, S. 245). Implizit kommt Johannes von Salisbury auf die Peisianakteische Halle in einer kurzen Passage zu Peter Abaelard zu sprechen: siehe Johannes von Salisbury: Metalogicus. PL 199, 890-891. Ibn Khaldūn: Die Muqaddima. VI,18, S. 449-450 verweist auf die Säulenhalle der Stoiker, sieht deren Architektur aber nicht als eine das Denken ermöglichende an, sondern beschreibt sie zweckrational als Schutz vor Sonne und Kälte. Bildlich umgesetzt ist das Motiv der Säulenhalle etwa in Raffaels Schule von Athen. Zur Rolle der Architektur in Raffaels Fresken für die

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Erster Teil

Eine Verbindung von Schreibzimmer und Säulenhalle ist nicht zuletzt auch im Herzogspalast von Urbino zu finden. Die Wände im Studiolo des Palazzo Ducale sind versehen mit Abbildungen von Schränken, Büchern, Instrumenten und einer Säulenhalle, die den Raum aufbricht, den Studiolo zur Fortsetzung dieser Halle macht und den sich in ihm Befindlichen in die Begleitung der auf den Wänden gleichsam abgebildeten achtundzwanzig Denkern der Antike und des Mittelalters versetzt.777 Auch vor diesem Hintergrund ist Machiavellis Erzählung über die Entstehung des Principe zu sehen. Der Florentiner rekurriert mit ihr auf Denkorte der Vergangenheit und Gegenwart und gibt zugleich eine Antwort auf die Frage, ob der architektonisch geformte Raum womöglich sogar eine Notwendigkeit für das politische Denken darstellt. Diesen wie auch anderen Antworten auf die Frage nach einem Raum des Denkens nachzugehen, wird im nachfolgenden zweiten Teil dieser Arbeit erfolgen.

Stanza della Segnatura siehe Winner: Der Architekt in Raffaels Schule von Athen. S. 181185. Skeptisch, ob auf Architektur über die Schule von Athen hinaus auch in der Disputa verwiesen wird, äußert sich Liebermann: The Architectural Background. S. 78. Visualisiert wird die Säulenhalle als Ort des Denkens ferner auch in Vittore Carpaccios Streitgespräch des Hl. Stephanus (Sgarbi: Carpaccio. S. 178). 777  Roeck/Tönnesmann: Die Nase Italiens. S. 165-167.

Zweiter Teil

Die Architektur des Denkens 2.1

Eine Frage aus dem Elfenbeinturm

An einen geregelten Lehrbetrieb war noch nicht zu denken, als Erwin Panofsky im Jahre 1920 an der noch jungen Universität Hamburg seine Tätigkeit als Dozent der Kunstgeschichte aufnahm. Nicht zuletzt fehlte es dem kunsthistorischen Seminar an eigenen Räumlichkeiten. Aus der Not eine Tugend machend hielt Panofsky seine Lehrveranstaltungen daher bis auf Weiteres in der Hamburger Kunsthalle ab.1 Grund sich darüber zu grämen verspürte er indes nicht. Vielmehr vertrat er die Meinung, dass „die historische Entwicklung […] es mit sich gebracht [hat], dass vor Gründung der Universität die Museen gleichsam die Zentren auch des Unterrichts gewesen sind und diese Bedeutung bis zu einem gewissen Grade beibehalten haben; das ist im Falle der allgemeinen Kunstgeschichte eben durch die Vereinigung des Seminars mit der Kunsthalle zum Ausdruck gekommen, […].“2 Wenn dem kunsthistorischen Denken der Raum des Museums entspricht, über welche räumlich-architektonische Entsprechung könnte dann das politische Denken verfügen? Gibt es eine solche überhaupt? Angenommen, eine dem kunsthistorischen Denken vergleichbare Entsprechung ließe sich auch für das politische Denken annehmen, wäre diese dann mit dem städ­ tischen Raum, mit der Agora, dem Forum oder der Piazza als dessen hervorstechendem Merkmal zu bezeichnen?3 Oder sind es die Fürstenhöfe, jene Orte, an denen die Herrscher die Dichter und Denker ihrer Zeit um sich versammelten, die zu bevorzugende Wahl?4 Oder ist gar eine gänzlich andere Örtlichkeit für das politische Denken prädestiniert? Womöglich jedoch ist es sinnvoller, von der Ortlosigkeit politischen Denkens zu sprechen, weil das Nachdenken über Politik von jedermann, zu jeder Zeit und an jedem Ort praktiziert werden kann, so dass sich das politische Denken nicht auf eine bestimmte Örtlichkeit reduzieren lässt.5 Die Aussage des französischen 1  Picht: Erzwungener Ausweg. S. 29-30. 2  Panofsky: Das Kunsthistorische Seminar. S. 1094. 3  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 171-172 und S. 264-268. 4  Bedenken bezüglich des Fürstenhofs als geeigneten Ort des Denkens hegte etwa Johannes von Salisbury: Policraticus. V,10, S. 251-253. 5  Ottmann: In eigener Sache: Politisches Denken. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. 2-5. Ottmann: Wie man heutzutage in Deutschland (und anderswo)

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765135_004

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Zweiter Teil

Mediävisten Alain de Libera, wonach „die Archäologie des philosophischen Wissens […] keine Grabungsstätte [habe]“, ließe sich demnach als Antwort auch auf die soeben formulierten Fragen verstehen.6 In der Tat erscheinen diese Fragen zunächst wenig sinnvoll und bestenfalls aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaften stammend zu sein.7 Nachdenken lässt sich an jedem Ort. Der Kyniker Diogenes von Sinope erwählte, so die Darstellung in den spätmittelalterlichen Gesta Romanorum, ein Fass zu seinem Raum des Denkens und war bereits damit zufrieden, wenn ihm von Niemandem die Sonne genommen wurde.8 Boethius wiederum verfasste die Philosophiae Consolatio inhaftiert in seiner Zelle,9 während Walther von der Vogelweide auf einem Stein sitzend die Klage über das Reich, die Welt und die Kirche anstimmte.10 Keine Spur ist hier also von der Notwendigkeit eines architektonisch besonders geformten Raums ausfindig zu machen. Und würden sich nicht doch Aussagen aus der Zeit des Mittelalters zu just jener Thematik identifizieren lassen, Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu formulieren wäre nicht erforderlich. Selbst wenn ein Dichter wie Walther von der Vogelweide seine Überlegungen unabhängig von einer architektonisch geformten Umgebung formuliert, so kann dies als eine bewusst gewählte Inszenierung des eigenen Sinnierens gedeutet werden. Wie sich selbiges guten Gewissens auch über die Darstellung des Diogenes in den Gesta Romanorum und über die Schilderung des Schreibund Denkprozesses bei Boethius sagen lässt. Die zuvor unterstellte Ortlosigkeit des politischen Denkens erscheint somit nicht mehr über jeden Zweifel erhaben. Für eine weitere Annäherung an die Thematik ist auf die Verortung des Denkens in den Noticia seculi des Alexander von Roes hinzuweisen. Korres­ pondierend zur Einteilung Europas in politische Großräume – genannt werden vier europäische Hauptreiche: das griechische und das spanische sowie das die Geschichte der Ideen und Begriffe schreibt. S. 73. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 4/2. S. V-VII. Lüddecke/Englmann: Einleitung. S. 1-2. 6  Libera: Denken im Mittelalter. S. 44. 7  Mit dem Elfenbeinturm der Wissenschaft wäre jedoch ein Hinweis dafür gefunden, dass zumindest das wissenschaftliche Denken einer spezifischen Architektur entstammt. Zum Ursprung des Motivs vom Elfenbeinturm Hld VII,5, S. 669. Zur Metapher vom Elfenbeinturm Bahlmann/Dreyer: Wissensarchitekturen oder der Aufstieg zur Weisheit. S. 3. 8   Nickel (Hrsg.): Gesta Romanorum. CLXXXIII, S. 215. Hierzu auch Plutarch: Große Griechen und Römer. Bd. 5. Alexander XIV, S. 21-22. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. VI,23, S. 306 und VI,38, S. 313. 9  Zur Illustrationen dieser Szene vgl. Klinger: Erklärung zum Titelbild. S. 183-184. 10  Walther von der Vogelweide: Werke. Vers 1-7, S. 74-75.

Eine Frage aus dem Elfenbeinturm

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Römer- und Frankenreich11 –, entwarf Alexander auch eine geographische Fixierung der christlichen Glaubensgemeinschaft, die sich aus sacerdotium, regnum und studium zusammensetze. Während das sacerdotium den Glauben in Italien bewahre und das regnum ihn in Deutschland zu erhalten gebiete, sei das studium, für die Erhaltung des Glaubens mittels der Lehre zuständig, in Frankreich zu verorten.12 Handelt es sich hierbei noch um eine sehr weitgefasste Bindung des Denkens an einen bestimmten Raum, der überdies frei von architektonischen Merkmalen präsentiert wird, ist in Gerhard von Seeons Lobgedicht auf Bamberg eine andere Akzentuierung auszumachen. Die Stadt ist es hier, in der, so der Dichter, die Philosophie in all ihren Teilen gelehrt werde. Bamberg sei somit wahrhaftig ein Zentrum der Wissenschaft, mit dem alten Athen vergleichbar und würdig den Ehrennamen einer „Bücherstadt“ (Sepher Cariath) zu tragen.13 Zu Hause ist das Denken somit nun nicht mehr in einem geographischen Großraum, sondern in der architektonisch geformten Umgebung des urbanen Raums. Einer Erwähnung wert ist an diesem Gedicht ferner der Vergleich Bambergs mit Athen, vor allen Dingen aufgrund der damit verbundenen positiven Wende der Bewertung Athens. Tertullian hatte dereinst noch Athen gegen Jerusalem in Stellung gebracht. „Was haben also Athen und Jerusalem gemeinsam, was die Akademie und die Kirche, was Häretiker und Christen?“14 So die rhetorische Frage Tertullians in De praescriptione haereticorum. Das Wissen des Christen entstamme nicht der Säulenhalle der Philosophie, teilt der Kirchenvater dem Leser sodann auch gleich mit, sondern einzig und allein der „Halle Salomons“.15 Das Verhältnis von Denken und Architektur erfährt damit eine weitere Verfeinerung. Anders als bei Alexander von Roes wird es somit nicht mehr an einen Großraum gebunden, auch ist es nicht wie bei Gerhard von Seeon dem gesamten Raum der Stadt zugeschrieben, nein, das Denken wird nun mit einem konkret benannten Bauwerk verknüpft. In diesem Zusammenhang sei zuletzt auch noch auf die Bedeutung des Begriffs Studium hingewiesen, mittels dessen die Bindung des Denkens an eine 11  Alexander von Roes: Noticia seculi. S. 155-156. 12  Alexander von Roes: Noticia seculi. S. 159. 13  Gerhard von Seeon: Gerhard von Seeon an Heinrich II. Vers 33, S. 398. Classen: Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. S. 46-47. Kugler: Die Vorstellung der Stadt in der Vorstellung des deutschen Mittelalters. S. 157-160. Schneidmüller: Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. S. 47. Der Terminus Sepher Cariath geht zurück auf Jos XV,15, S. 234. 14  Tertullian: De praescriptione haereticorum. VII,9, S. 245. 15  Tertullian: De praescriptione haereticorum. VII,10, S. 245. Zur Halle Salomons Apg. III,1126; V,12 und Joh. X,23.

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Zweiter Teil

bestimmte Raumform ein weiteres Mal Betonung fand. Während der heutige Sprachgebrauch Studium vornehmlich als eine Tätigkeit versteht, man betreibt das Studium einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin, war der Begriff im späten Mittelalter noch mit einer anderen, damals vorrangigen Bedeutung versehen. Unter Studium wurde konkret die Örtlichkeit, an der man studierte, verstanden: die Universität aber auch das eigene Studierzimmer.16 Die genannten Beispiele aus den Werken des Alexander von Roes, Gerhard von Seeon und Tertullian, aber auch die Etymologie des Begriffs Studium und die Inszenierung des Denkprozesses bei Walther von der Vogelweide, Boethius und Diogenes lassen die eingangs noch zweifelhaft erscheinende Berechtigung der Frage nach dem Verhältnis von politischem Denken und Architektur im Mittelalter in einem anderen Licht erscheinen. In mehreren Schritten wird im Folgenden eingehender zu klären sein, welche Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und politischem Denken gegeben wurden. Es wird die bereits angerissene Inszenierung des Denkprozesses von Seiten mittelalterlicher Autoren, deren Wurzeln in der Antike aber auch die Bearbeitung dieser Inszenierung in den folgenden Jahrhunderten in den Blick zu nehmen sein, um so eine Antwort auf die Frage zu entwickeln, wie über das mittelalterliche Denken gedacht und wie dieses Denken sowohl dargestellt als auch verstanden wurde. Schließlich gilt es, die Gestaltung von Lehrgebäuden sowie deren Einfluss auf das Denken näher zu beleuchten. 2.2

Die Ursprünge der Dichotomie von Stadt und Land

„Ich saz ûf einem steine, / dô dahte ich bein mit beine, / dar ûf sazte ich mîn ellenbogen, / ich hete in mîne hant gesmogen / daz kinne und ein mîn wange, / dô dâhte ich mir vil ange, / wie man zer welte sollte leben, / […].“17 „Ich saß auf einem Stein, / dabei deckte ich Bein mit Bein, / darauf setzte ich meinen Ellenbogen, / ich hatte in meine Hand geschmiegt / das Kinn und eine meiner Wangen, / dabei dachte ich sehr eindringlich darüber nach, / wie man auf der Welt leben solle, / […].“18 Die bekannten Anfangsversen des Reichstons dienen Walther von der Vogelweide unter anderem auch dazu, den Ursprung seines politischen Denkens mitten in die Natur zu positionieren, fernab der von den Menschen bewohnten wie geformten Stätten. Hervorgehoben wird seine Haltung auch durch die nicht minder bekannte Illustration dieser Verse 16  Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. X/4. Sp. 286-287. Verger: Studium. Sp. 257. 17  Walther von der Vogelweide: Werke. Vers 1-7, S. 74. 18  Walther von der Vogelweide: Werke. Vers 1-7, S. 75.

Die Ursprünge der Dichotomie von Stadt und Land

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in der Heidelberger Liederhandschrift, dem Codex Manesse (Abb. 23). Man sieht den Dichter in der von ihm geschilderten Körperhaltung auf einem mit Blumen bewachsenen Hügel sitzen, während eine noch unbeschriebene Schriftrolle inmitten der idyllischen Natur darauf harrt, von ihm mit Worten gefüllt zu werden. Betont wird die Idylle, der Frieden dieses Ortes zudem durch das Schwert, das Walther nicht umgegürtet trägt, sondern unbeachtet am Rande des Hügels liegen gelassen hat. Es besteht kein Bedarf, seine Waffe griffbereit zu haben.19 Neu ist diese Form der Präsentation des Denkprozesses freilich schon zu Lebzeiten Walthers von der Vogelweide nicht mehr. Sowohl bei der Haltung von Walthers alter ego als auch bei dessen Platzierung in der Natur handelt es sich um vertraute Motive. Angebracht ist es daher, zumindest einen Blick auf die historischen Vorläufer dieser Genrebilder zu werfen, liefert doch schon die Antike hierfür reiches Quellenmaterial. Der für das Denken als notwendig erachtete Rückzug auf das Land und die damit einhergehende Abkehr von der Stadt ist von Herfried Münkler auf Werk und Wirken des Horaz zurückgeführt worden. Für Münkler sei Horaz der Schöpfer des Gegensatzes von Stadt und Land und auf ihn gehe die mit diesem Gegensatz verbundene Opposition von vita activa und vita contemplativa zurück, da Horaz die Abkehr von der Stadt mit einer grundsätzlichen Zivilisationskritik verbunden habe.20 Zweierlei an dieser Aussage bedarf jedoch ergänzender Ausführungen. Zum einen die Beurteilung von Stadt und Land bei Horaz, zum anderen die Frage nach den Ursprüngen des genannten Gegensatzes. Bestätigung erfährt Münklers Urteil zunächst durch einen Blick in die auch dem Mittelalter wohlbekannten Satiren des Römers.21 Dort, vornehmlich in Satire II.6, findet man die von Misstrauen der Stadt gegenüber geprägten Aussagen der persona des Dichters, die sich nach einem vom Treiben der Städte abgelegenen Landgut sehnt.22 So war’s ersehnt von den Göttern: ein Stückchen Boden bescheiden, / wo sich ein Garten, dem Hause benachbart die ständige Quelle / und überdies etwas Wald 19  Die Weingartner Liederhandschrift präsentiert Walther in derselben Umgebung und derselben Haltung. Auch hier ist das Schwert achtlos bei Seite gelegt. Es fehlt jedoch die Schriftrolle, die im Codex Manesse zu erkennen ist (Abb. 24). 20  Münkler: Mitte und Maß. S. 153. 21  Baldo: Horaz. Sp. 376-378. Brunhölzl: Horaz im Mittelalter. Sp. 124. Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. S. 136-142, S. 175-177, S. 309-315 und S. 321-323. Licht: Horazüberlieferung im Frühmittelalter. S. 109-134. Rüdiger: Die Wiederentdeckung der antiken Literatur im Zeitalter der Renaissance. S. 516. 22  Vgl. auch die Stadtkritik in Horaz: Sämtliche Gedichte. Ode III,24,9-32, S. 185.

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Zweiter Teil sich befänden. Sie haben es reicher, / haben es besser gemacht. Es ist recht. Ich erbitte nichts weiter, / Sohn der Maia, als dass dies Geschenk du mir zu eigen machest. / Wenn ich vergrößert nicht hab das Vermögen mit unrechten Mitteln / und nicht verkleinern es will durch eigene Schuld oder Laster, / wenn ich nicht dumm dir mit solchem Gebet komm: ‚Wenn doch die nächste / Ecke hinzukäm, die jetzt dem Gütchen ungrade Form gibt!‘ / ‚Wenn mir das Glück einen Topf doch mit Silber zeigte, wie jenen, / der einen Schatz als Arbeiter fand, den Acker kaufte und eben / diesen bepflügt hat, reich geworden durch Hercules’ Freundschaft‘, / wenn, was zur Hand, willkommen erquickt, so bete ich also: / fett mach den Herrn das Vieh und alles das übrige außer / seinem Verstand, und wie sonst steh bei mir als sicherster Hüter.23

Zu intellektueller Betätigung, zu einem der vita contemplativa gerechten Leben, sei Horaz einzig auf seinem Landsitz, dem nach seinem Standort in den Sabinerbergen benannten Sabinum, in der Lage. So zerinnt mir Armen der Tag, nicht ohne dass fleh ich: / mein Gütchen, wann werd ich erblicken dich, wann wird’s erlaubt sein, / bald mit den Büchern der Altern, mit Schlaf bald und müßigen Stunden / wohlig Vergessen zu schlürfen von Unrast und Ängsten des Lebens? / Wann endlich kommt auf den Tisch die Bohne, Pythagoras’ Schwester, / und im Verein das mit fettem Speck getränkte Gemüse? / O ihr Nächte, ihr Göttermähler, die selbst mit den Meinen / ich vor dem Laren verzehr und womit ich das lose Gesinde / füttre, nachdem vorm Speisen geopfert! Wie jeder die Lust hat, / leert er die ungleichen Becher, ein Mitzecher, frei von verrückter / Satzung, ob kräftig er greift nach scharfen Pokalen, ob heitrer / sich mit geringen begießt er. Folglich erhebt ein Gespräch sich / also, nicht über Villenbesitz und die Häuser der anderen, / nicht ob gut oder schlecht tanzt Lepos; was näher uns angeht, / nicht zu verstehen ein Unglück, verhandeln wir dann: ob durch Reichtum / glücklicher werden die Menschen, ob glücklich eher durch Gutsein, / was zu der Freundschaft uns zieht, der Nutzen oder das Rechte, / was das Wesen des Guten sei und von diesem das Höchste.24

Mit der Fabel von der Stadt- und Landmaus25 schließlich lässt der Dichter Satire II.6 enden und bestätige mit ihr ein weiteres Mal, dass das Leben in der Stadt einem Irrtum gleiche.26 Ob damit jedoch die tatsächliche Position des Horaz freigelegt wurde, kann als fraglich gelten. Nicht minder plausibel wirkt es, von einer erheblich vielschichtigeren Struktur im Werk des Dichters 23  Horaz: Sämtliche Gedichte. Sat. II,6,1-15, S. 479-481. 24  Horaz: Sämtliche Gedichte. Sat. II,6,59-76, S. 485-487. 25  Horaz: Sämtliche Gedichte. Sat. II,6,78-117. S. 487-491. 26  So die Auslegung bei Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/1. S. 174. Vgl. hierzu auch die Einreihung Horaz´ unter die Verfechter der beata solitudo bei: Panofsky: Die Renaissancen der europäischen Kunst. S. 83. Enenkel: Kommentar. S. 200. Hoff: Meditation in Solitude. S. 293. Gauger: Zeitschilderung und Topik bei Juvenal. S. 24.

Die Ursprünge der Dichotomie von Stadt und Land

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auszugehen. Einer Struktur, die im Verborgenen bleibt, sofern Satire II.6 nicht in den Kontext von Satire I.6 und Satire II.7 gesetzt wird. Niklas Holzberg wies aus diesem Grund darauf hin, dass genau jene Tätigkeiten, die Horaz in Satire II.6 allein auf seinem Landgut wähnte verrichten zu können, für ihn in Satire I.6 auch in der Stadt möglich waren.27 Einen Lösungsvorschlag für diese zwiespältige Wertung des Stadt- beziehungsweise Landlebens unterbreitet Horaz seinen Lesern sodann in Satire II.7. Dem Sklaven Davus legt der Dichter die Worte in den Mund: „Lange schon wart ich gespannt, dir als Sklav’ ein paar Worte zu sagen, / […] / dass bald als Bukler in Rom, in Athen bald als Weiser / leben er wollt’, […] / Bist du in Rom, ersehnst du das Land, zu den Sternen erhebst du, / unstet, die ferne Stadt auf dem Lande.“28 Vor diesem Hintergrund deutet Holzberg die beiden Mäuse in Satire II.6 als Ausdruck des schwankenden Wesens Horaz’, der sich zurück nach Rom wünsche, wenn er auf dem Lande weile, und, kaum in der Metropole eingetroffen, seine Rückkehr auf das Land herbeisehne.29 Schließlich zeugt auch Epistel II.2 davon, dass von einer generellen Ablehnung des Lebens in der Stadt bei Horaz keine Rede sein kann. Auch wenn ihn das emsige Treiben in den Straßen Roms irritiere,30 so hat er es doch nicht zum Anlass genommen, das Schreiben aufzugeben. Vielmehr war es für ihn wohl ein immerwährender Quell der Inspiration.31 Die Stadtkritik wirkt somit auch hier eher vorgeschoben denn ernst gemeint. Wenn die Stadt von Horaz somit auch nicht als alleiniger Raum seines Denkens und Schaffens betrachtet wird, so ist sie ein dem Land zumindest ebenbürtiger Denkraum. Dass es sich bei Horaz folglich um den Urheber des Gegensatzes von Stadt und Land handele, dass auf ihn die Wanderanekdote zurückgehe, nach der Denken die Abgeschiedenheit des Landes erfordere, kann daher nicht überzeugen. Es ist deswegen nach einem passenderen Ursprung dieser Gegenüberstellung zu suchen. Wäre ein solcher mit dem Verweis auf die Tradition antiker Hirtendichtung, ihrem ersten Höhepunkt im Werk des Theokrit und deren Darstellung der Natur als Rückzugsort vor der beständigen Unruhe der städtischen vita activa gefunden?32 Der Bedeutung eines Theokrits für die 27  Holzberg: Horaz. S. 73 und 91. Vgl. hierzu Horaz: Sämtliche Gedichte. Sat. II,6,60-79, S. 485-487 mit Sat. I,6,111b-128a, S. 377-379. Wider diese Deutung argumentierte hingegen Borst: Babel und Jerusalem. S. 37-40. 28  Horaz: Sämtliche Gedichte. Sat. II,7,1-29, S. 493. 29  Holzberg: Horaz. S. 91-92. 30  Horaz: Sämtliche Gedichte. Epistel II,2,65-80, S. 619. 31  Holzberg: Horaz. S. 212. 32  Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. S. 191-209. Erlebach: Die spirituelle Funktion der Naturschilderungen in der europäischen Geistesgeschichte und der englischen Literaturgeschichte bis zur Renaissance. S. 137-138. In Ansätzen sind die

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Zweiter Teil

bukolische Dichtung zum Trotz, wie auch der Bedeutung der bukolischen Dichtung selbst, greift jedoch auch diese Deutung, wonach das Ideal der vita solitaria auf die alexandrinische Tradition zurückreiche, zu kurz.33 Die Dichotomie von Stadt und Land lässt sich daher besser als eine geradezu zeitlose charakterisieren und ist damit in ihren Ursprüngen ebenso wenig auf Horaz und die Phase der augusteischen Klassik zu reduzieren, wie auf Theokrit und die Anfänge bukolischen Dichtens. Schon in der Odyssee wird Athenes Heimstatt als in einem „Hain von Pappeln“ befindlich angegeben. Einem Hain, der sich zwar in Stadtnähe befindet, denn „nur einen Ruf ist es zur Stadt hin“, aber eben nur in der Nähe der Stadt, nicht in ihr.34 Auch weist bereits das babylonische Gilgamesch-Epos in der Gegenüberstellung der beiden Hauptfiguren Gilgamesch und Enkidu die beschriebene Dichotomie von Stadt und Land auf und verbindet sie darüber hinaus mit der von Münkler angesprochenen Zivilisationskritik.35 2.3

Denkräume der Antike

Jenseits der Frage nach den Wurzeln des Stadt-Land-Gegensatzes finden sich dessen Spuren in zahllosen antiken Quellen wieder. Zu unterscheiden sind dabei zunächst jene Zeugnisse, in denen der Prozess des Denkens mit der Abkehr von der Stadt verbunden wird, von denen, die das Denken explizit in den urbanen Raum einbetten. Von derartigen Stellungnahmen abgesehen sind ergänzend auch jene Aussagen zu berücksichtigen, anhand derer das Denken von der Bindung an jedwede konkrete Örtlichkeit losgelöst aufgefasst werden muss. Im Folgenden werden anhand von je drei Beispielen die in der Antike formulierten Antworten auf die Frage nach dem Raum des Denkens vorgestellt. Die Reduktion auf nur je drei Beispiele bringt es allerdings mit sich, dass etliche Autoren nicht in dem ihnen gebührenden Maße berücksichtigt werden können. Dies betrifft beispielsweise die der letztgenannten Position in später von der hellenistischen Bukolik intensiv bearbeiteten Elemente ländlicher Idylle auch schon bei Aristophanes erkennbar (Holzberg: Aristophanes. S. 101). 33  Hoff, Ursula: Meditation in Solitude. S. 292-294. 34  Homer: Odyssee. VI,291-294, S. 171. 35  Der von der Muttergöttin Aruru, der Schöpferin des Menschengeschlechts, erschaffene Enkidu lebt in Einklang mit der Natur und soll Gilgamesch, den tyrannischen Herrscher von Uruk, töten. Die Dirne Schamchat jedoch korrumpiert ihn, lässt ihn sich von der Natur abwenden und in die Stadt nach Uruk kommen, wo er sich schließlich mit Gilgamesch anfreundet und seine göttliche Mission verrät (Maul (Hrsg.): Das Gilgamesch-Epos. I,99II,192, S. 49-61).

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der antiken Auseinandersetzung um Existenz oder Nicht-Existenz eines Denkortes zuzurechnenden Pyrrhon und Marc Aurel. In der räumlichen Beliebigkeit der Feldlager entstanden, plädiert Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen für eine den Grundsätzen stoischer Philosophie gegenüber verpflichteten Geisteshaltung. Man sucht Zurückgezogenheit auf dem Lande, am Meeresufer, auf dem Gebirge; und auch du hast die Gewohnheit, nach einem Aufenthaltsorte dieser Art dich lebhaft zu sehnen. Aber dieses alles verrät im Grunde eine sehr beschränkte Ansicht. Steht es dir ja frei, zu jeder dir beliebigen Stunde dich auf dich selbst zurückzuziehen. Gibt es ja doch für den Menschen keine geräuschlosere und ungestörtere Zufluchtsstätte als seine eigene Seele, zumal wenn er in sich Eigenschaften trägt, bei deren Betrachtung für ihn alsobald eine vollkommen glückliche Stimmung eintritt, eine Stimmung, worunter ich nichts anderes verstehe, als sittliche Wohlordnung.36

Noch weiter als der Kaiser Roms waren Pyrrhon und seine Anhängerschaft gegangen. Hatte Marc Aurel, dem Plädoyer zugunsten eines Rückzugs auf sich selbst zum Trotz, noch immer an Sinnhaftigkeit wie Notwendigkeit eines politischen Lebens festgehalten, entziehen sich Pyrrhon und mit ihm seine Gefolgsleute diesem konsequent.37 „Bei Pyrrhon hatte die Philosophie keinen privilegierten Ort mehr – weder die Agora noch die Schule. […] Philosophieren – nämlich als Lebenspraxis – war für ihn schlechterdings überall und unter allen Umständen möglich, denn Urteilsenthaltung, Entscheidungsverzicht und Unerschütterlichkeit als ihre Charakteristika müssen sich überall bewähren.“38 2.3.1 Das Land als präferierter Denkort Der erstgenannten Gruppe gehört etwa Lukrez an, der im Proömium zum zweiten Buch seines Lehrgedichts De rerum natura von den Vorzügen abgeschiedenen Lebens spricht.39 Dem epikureischen Leitgedanken lathe biōsas folgend, könne man sich hier von den Irrungen, Schmerzen, Sorgen und Ängsten des Lebens fern halten. Ganz so, wie es die Lehren der Weisen empfehlen.40 Ihren Ursprungsort haben diese Lehren wiederum im Garten Epikurs, jener Schule, die der Philosoph am Ende des vierten vorchristlichen 36  Marc Aurel: Wege zu sich selbst. IV,3, S. 38-39. Hadot: Die innere Burg. S. 397-400. 37  Marc Aurel: Wege zu sich selbst. IV,29, S. 48. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. IX,64, S. 193. Sommer: Rekonstruktion: Politischer Pyrrhonismus. S. 34-35. 38  Sommer: Rekonstruktion: Politischer Pyrrhonismus. S. 36. 39  Lukrez: De rerum natura. II,7-19, S. 85. 40  Lukrez: De rerum natura. II,7-19, S. 85. Zu Epikurs lathe biōsas: fr.551 in: Usener: Epicurea. S. 326.

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Jahrhunderts auf seinem Anwesen vor den Toren Athens begründete. Architektonisch handelt es sich dabei um eine hervorzuhebende Konstruktion. Anders als für die Römer galt den Griechen der Garten nicht als relevanter Ausdruck höherer Wohnqualität, da Gärten für gewöhnlich nicht als Bestandteil der Wohnarchitektur verstanden, sondern bevorzugt außerhalb der Stadt unterhalten wurden.41 Vor diesem Hintergrund verstärkt sich der durch das Motto lathe biōsas entstandene Eindruck. Der Garten stellt für die Polis ein ihr überwiegend fremdes Element dar, so dass sich der Garten Epikurs Athen nicht nur räumlich entzieht, sondern zugleich auch zu einem durchweg entpolitisierten Ort des Denkens wird insofern, als dass diese Exklave den Bezug zur Polis nicht mehr herzustellen wünscht.42 Stattdessen strebt sie danach, das ihr innewohnende Potential zu verwirklichen und als eine Polis im Kleinen zu fungieren.43 Dadurch erweist sich der Ort zugleich aber als repolitisierbar. Auch deshalb bedarf er nicht mehr der Bezugspunkte zur großen Polis. Doch auch wenn somit eine Ersatz-Polis geschaffen wird, bleibt sie eine, die architektonisch auf den kleinen Raum eines Landgutes reduziert wird. Wodurch sich eine Stadt architektonisch definiert, fehlt der epikureischen Schulgemeinschaft. Nach aristotelischer Lesart ist die Stadt der Zusammenschluss von aus mehreren Häusern bestehenden Dörfern.44 Dagegen findet Epikurs Denken seinen Ort im Rückzug auf das Land und lässt sich nicht auf die Stadt übertragen. Oberflächlich betrachtet trat für eine ähnliche Verortung des Denkprozesses auch der als Herausgeber der Lukrezschen Schrift gehandelte Marcus Tullius Cicero ein.45 Seine Tusculanae disputationes lässt er, bereits der Titel macht es deutlich, in der Zurückgezogenheit seiner Villa stattfinden.46 Begründet wird die Haltung, den Denkprozess dem städtischen Raum zu entziehen, allerdings auf ganz andere Art als noch bei Lukrez. Der beim Verfasser von De rerum natura erkennbare Grundgedanke des politischen Epikureismus kann von Cicero nicht akzeptiert werden, da der mit dem Diktum lathe biōsas verbundene

41   Carroll-Spillecke: Garten. Sp. 788. 42  De Witt: Epicurus and his Philosophy. S. 92. Held: Entpolitisierte Verwirklichung des Glücks. S. 77. Scholz: Der Philosoph und die Politik. S. 306. 43  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/2. S. 290 und S. 292-293. Dorandi: Epikureische Schule. Sp. 1129-1130. Müller: Die epikureische Gesellschafts-Theorie. S. 115. Scholz: Der Philosoph und die Politik. S. 301-311. 44  Aristoteles: Politik. I,2, 1252b, S. 77. 45   Bezüglich der Herausgeberschaft von De rerum natura Büchner: Nachwort. S. 576. Sallmann: L. Carus T., der röm. Dichter Lukrez. Sp. 472. 46  Cicero: Gespräche in Tusculum. I,7, S. 13.

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Rückzug aus den Belangen der res publica nicht geteilt wird.47 Erst nachdem ihn seine Tätigkeiten als Anwalt und vor allem seine Pflichten als Senator nicht mehr fordern, wendet Cicero sich seinen Studien in Tusculum zu.48 Der Vorrang der aktiven politischen Betätigung vor deren theoretischer Reflexion spiegelt sich sodann auch in der Darstellung des Denkprozesses wider. Mitnichten handelt es sich bei Ciceros tusculanischen Gesprächen um die schriftliche Fixierung der Ergebnisse einer Selbstbefragung des Autors, sondern um kunstvoll entworfene Dialoge. Die Dialogform entspringt dabei dem Gedanken, dass die Beschäftigung mit der Philosophie direkt dem Alltag entstamme und daher auch dementsprechend darzustellen sei. Nicht die Abgeschiedenheit des Landgutes ist es, die somit gesucht wird; Anlass zu philosophischer Reflexion können die nichtigsten Ereignisse bieten, so dass der Denkprozess bei Cicero zunächst als ortloser erscheint.49 Allerdings sollte hierbei nicht übersehen werden, dass die Szenerie des Denkprozesses bewusst gewählt wurde. Sie ist mehr als bloß schmückendes Beiwerk, weswegen ihr auch Aussagekraft beizumessen ist. Dies auch, weil die von Cicero in den Tusculanae disputationes gewählte Kulisse von ihm in De finibus bonorum et malorum abermals verwendet wurde. Wieder ist es die Villa des Autors, in der er die Diskussion stattfinden lässt.50 Ciceros Inszenierung des Denkprozesses in De finibus bonourm et malorum ist jedoch 47  Hierzu: „Man muss sich selbst aus dem Gefängnis der üblen Geschäfte und der Politik befreien.“ (GV, 58 in: Epikur: Wege zum Glück. S. 271) Sowie: „Wenn auch die Sicherheit vor den Menschen bis zu einem gewissen Grad auf der Grundlage einer festgefügten Macht und auf der Grundlage guter wirtschaftlicher Verhältnisse gewährleistet ist, so erwächst doch die deutlichste Sicherheit aus der Ruhe und dem Rückzug vor den Leuten.“ (Epikur: Wege zum Glück. XIV, S. 243) Timokrates und Herodot halten Epikur daher auch für keinen echten Bürger, wie Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. X,4, S. 224 anmerkt. Ciceros Ablehnung dieser politischen Haltung bringt seine Definition der res publica auf den Punkt: „Est igitur […] res publica res populi, […].“ (Cicero: De re publica. I,25 (39), S. 130. Vgl. zu dieser Bestimmung des Gemeinwesens etwa Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/1. S. 99-101) Ein Rückzug aus der Verantwortung für die Gemeinschaft kommt für Cicero nicht in Frage. Schon in den Catilinarischen Reden wird dieser Gedanke zum Ausdruck gebracht, wenn Cicero in Angesicht der von Catilina ausgehenden Gefahr vom „concursus bonorum omnium“ spricht (Cicero: Vier Reden gegen Catilina. I,1 (1), S. 4). 48  Cicero: Gespräche in Tusculum. I,1, S. 7. In verklausulierter Form ist diese Passage der Tusculanae disputationes auch als ein Kommentar Ciceros zu seinem durch Caesar verursachten Sturz in die politische Bedeutungslosigkeit zu verstehen (Gigon: Nachwort. S. 413-414). Vgl. hierzu auch Cicero: An seine Freunde. V,16,2-4, S. 273-275. 49  Gigon: Nachwort. S. 412. Zur Betonung des sich in Gemeinschaft vollziehenden Denkens an Stelle eines Denkens in Isolation Cicero: Vom rechten Handeln. I,134, S. 115. Greenblatt: Die Wende. S. 77-80. 50  Cicero: Über die Ziele des menschlichen Handelns. I,13-14, S. 17-19; III,7-8, S. 181-183.

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keine einheitliche, so dass neben seiner Villa, dem Schauplatz der ersten vier Bücher, noch ein weiterer prominenter Denkort benannt wird: das Gelände von Platons Akademie. Mit ihm verschiebt sich der Ort des Denkens nun endgültig weg von der Stadt und offenbart die Verbindung des Denkraums mit dem Land. Die Veränderung der Örtlichkeit folgt dabei zunächst dem Gedanken, dass Ruhe und Abgeschiedenheit als für den Dialog förderliche Elemente identifiziert werden, weswegen die Akademie zu einer Tageszeit aufgesucht wird, an der „dieser Ort […] völlig frei von Leuten ist.“51 Im Folgenden jedoch tritt ein zweiter, gewichtigerer Gedanke hinzu. Die Bedeutung der Akademie liegt nicht allein in der Ruhe des Ortes begründet, sondern vornehmlich darin, dass sie als Erinnerungsort fungiert.52 Die Anwesenheit an diesem Ort regt die Erinnerung an Platon, an Speusipp und Xenokrates, wie auch an Polemon und viele andere mehr an, so dass der Örtlichkeit des Dialogs eine wichtige mnemotechnische Funktion zukommt: „So groß ist die Kraft der Vergegenwärtigung an solchen Orten, dass man nicht ohne Grund von ihnen die Mnemotechnik abgeleitet hat.“53 Das Nebeneinander von zwei zu unterscheidenden Denkorten, dem Landgut auf der einen und Platons Akademie auf der anderen Seite, wird von Cicero schließlich in De oratore und den Briefen an seinen Freund Titus Pomponius Atticus aufgelöst. Das mnemotechnische Potential, das Cicero der platonischen Akademie zuspricht, überträgt er in diesen Werken auf das Landgut, das nun selbst die Funktion eines Erinnerungsortes übernehmen kann. Das in Tusculum gelegene Anwesen des Lucius Licinius Crassus dient Cicero zu Beginn von De oratore als Kulisse zunächst für „ein ausführliches Gespräch über die Zeitumstände und die gesamte politische Situation […].“54 Mit der Eröffnung des eigentlichen Gesprächsthemas, dem Studium der Redekunst, geht allerdings eine Metamorphose der Örtlichkeit einher. Eine Platane auf dem Anwesen des Crassus weckt bei Quintus Mucius Scaevola, einem der Gesprächsteilnehmer, die Assoziation zu der von Platon im Phaidros 51  Cicero: Über die Ziele des menschlichen Handelns. V,1, S. 313. 52   Zum Konzept des Erinnerungsortes: Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. François/Schulze: Einleitung. S. 15-18. Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp: Einleitung: ‚Erinnerungsorte‘ – Begriff und Programm. S. 12-14. Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp: Einleitung: ‚Erinnerungsorte‘ à la grecque – nochmals zu Begriff und Programm. S. 13-15. Fried/Rader: Vorwort. S. 9-10. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung eines gemeinsamen Imaginären bei Anderson: Die Erfindung der Nation. S. 15-17 und Lohl: Die Nation als imaginäre Gemeinschaft. S. 190-193. 53  Cicero: Über die Ziele des menschlichen Handelns. V,2, S. 313. Zu der zu Beginn von Buch V entworfenen Szenerie Gigon/Straume-Zimmermann: Kommentar. S. 537-539. 54  Cicero: De oratore. I,24-26, S. 55-57.

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geschilderten Szenerie: „Crassus, warum halten wir es nicht wie Sokrates in Platons Phaidros? Daran hat mich nämlich deine Platane hier erinnert; sie breitet ihre Zweige ja so schattenspendend über diesen Ort wie jene, deren Schatten Sokrates aufsuchte und die wohl weniger durch das Rinnsal, das dort beschrieben wird, als durch Platons Darstellung groß geworden ist.“55 Die Villa des Crassus dient Cicero damit zu mehr als einer bloßen Schilderung des Szenenbildes. Sie leistet mehr als dem Text ein höheres Maß an Lebendigkeit zu verleihen, denn sie liefert einen ersten Hinweis dafür, dass auch das Landgut zum Erinnerungsort werden kann, unabhängig von der Anwesenheit am tatsächlichen Ort des Geschehens. Einen zweiten Hinweis hierauf kann man Ciceros Briefen an Atticus entnehmen. Im November des Jahres 68 vor Christus schreibt Cicero seinem Freund: „Was ich Dir für mein Tusculanum aufgetragen habe und was Dir passend erscheint, besorge nur, viel Schwierigkeiten wird es Dir ja nicht machen. Ich finde ja einzig an jenem Orte Ruhe nach allen Mühen und Beschwerden.“56 Worum es Cicero bei der aufgetragenen Besorgung geht, wird in der nun folgenden Sequenz von Briefen deutlich.57 Griechische Standbilder, Bronzeköpfe, Hermen und vielerlei andere Schmuckstücke mehr möchte er zur Ausstattung seines Anwesens in Tusculum erwerben. Sehnsüchtig wartet er darauf, dass Atticus ihm alles „was in meine Akademie zu passen scheint“, zukommen lässt.58 Und so hatte er bereits wenige Wochen nach seinem ersten Brief einen zweiten folgen lassen, in dem er abermals auf die Ausstattung seines Landgutes zu sprechen kam.59 Bis in das Jahr 65 hinein treibt Cicero dieses Anliegen um, ehe er schließlich zufriedengestellt an Atticus schreibt: „Deine Hermathena macht mir sehr viel Freude, steht außerdem so hübsch, daß das ganze Gymnasium gleichsam ihr geweiht zu sein scheint; ich bin Dir sehr dankbar.“60 Ciceros Interesse speist sich dabei nicht allein aus schwärmerischer Hingabe für die griechische Kunst. Sein Bestreben ist es, sein Tusculum zu einem Raum der imaginären Diskussion mit den Autoritäten der Vorzeit werden zu 55  Cicero: De oratore. I,28, S. 57. Die Bezugnahme auf die Werke Platons beschränkt sich aber nicht allein auf die Erinnerung an die Szenerie im Phaidros, sondern findet sich ferner im Schicksal der Gesprächspartner wie auch in weiteren Bestandteilen von De oratore wieder (Merklin: Einleitung. S. 29-30). Darüber hinaus wird die Szenerie des Phaidros von Cicero auch in De legibus verarbeitet (Cicero: De legibus. II,6-7, S. 77). 56  Cicero: Atticus-Briefe. I,1,7, S. 9. 57  Cicero: Atticus-Briefe. I,2,2, S. 11; I,3, S. 11; I,4,2, S. 13; I,5,2, S. 13; I,6,3, S. 15; I,7,3, S. 17; I,8,2, S. 19; I,9,3, S. 21; I,10,5, S. 27. 58  Cicero: Atticus-Briefe. I,5,2, S. 13. 59  Cicero: Atticus-Briefe. I,2,2, S. 11. 60  Cicero: Atticus-Briefe. I,10,5, S. 27.

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lassen.61 Spricht Cicero daher von seiner Akademie,62 so zeugt dies davon, dass sein Anwesen durch die erworbene Ausstattung zu einem Ort der Erinnerung an Platon werden soll. Zu ihm will er sich in Beziehung setzen, auf ihn will er verweisen und sich seiner erinnern. Schließlich gehört zur Gruppe derer, die den Ort des Denkens von der Stadt trennen auch der Begründer der Akademie, gehört Platon selbst. Allerdings lassen die von ihm in seinen Dialogen entworfenen Szenerien eine eindeutige Einreihung in diese Gruppe noch nicht zu. Zu vielfältig sind die von Platon gewählten Kulissen. Im bereits angesprochenen Dialog Phaidros verortet Platon die Unterredung zwischen Sokrates und dem titelgebenden Dialogpartner außerhalb der Stadt auf einer Wiese, im Schatten einer Platane und eines blühenden Keuschbaums. Frische Luft, der Gesang der Zikaden und ein lieblicher Quell, in dem man seine Füße kühlen könne, runden die Szenerie ab. Klassische Elemente eines locus amoenus – der Begriff kann hier nicht nur als Lustort, sondern durchaus wörtlich als Ort jenseits der Mauern, übersetzt werden – sind von Platon in dieser Schilderung verarbeitet worden.63 Auch in den Nomoi entwirft Platon ein ähnlich gestaltetes Szenenbild. Die Gesprächsteilnehmer befinden sich auf einem Spaziergang „von Knossos zu der Grotte des Zeus und zu seinem Heiligtum.“64 Auf dem Weg dorthin erhoffen sie sich Gelegenheit, die im Schatten der Bäume gelegenen Wiesen und Haine zur Erholung und zu ihrem Gespräch nutzen zu können.65 Anders als im Phaidros und den Nomoi findet die Diskussion im Protagoras dagegen nicht an einem locus amoenus statt, sondern ist fest im städtischen Raum verankert.66 Nicht minder wie für den Protagoras gilt dies auch für den Gorgias oder die Politeia. Auch hier verlagert die Rahmenhandlung die Suche nach Antworten nicht vor die Mauern der Stadt, sondern erfolgt mitten in ihr, im Haus des Kallikles beziehungsweise des Polemarchos.67 Erschlossen wird der städtische Raum in den Dialogen Platons aber beileibe nicht nur über die Häuser der Aristokratie. Im Euthyphron bringt ein Rechtsstreit, Meletos’ Klage, dass Sokrates die Jugend verderbe, eine offenere Kulisse mit sich und 61   Egelhaaf-Gaiser: Garten. Sp. 792. 62  Cicero: Atticus-Briefe. I,5,2, S. 13; I,7,3, S. 17; I,9,3, S. 21. 63  Platon: Phaidros. 230b-c, S. 19. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. S. 195. 64  Platon: Die Gesetze. 625a, S. 5-6. 65  Platon: Die Gesetze. 624a-625b, S. 5-6. Gigon: Einleitung. S. IX-XIII. 66  Dies gilt sowohl für die erste inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Hippokrates wie auch für die eigentliche Unterredung mit Protagoras (Platon: Protagoras. 311a-317e, S. 9-27). 67  Platon: Der Staat (Politeia). I,2, 328b, S. 84. Platon: Gorgias. 447b, S. 3.

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verlagert die Handlung mitten in das Zentrum Athens.68 Der sich soeben geöffnete Raum wird sich allerdings in den Dialogen Kriton und Phaidon wieder verengen. Die gegen Sokrates geführte Klage wegen Asebie war erfolgreich und der inhaftierte Philosoph erwartet nun seine Hinrichtung. In dieser Situation reduziert Platon den Ort des Geschehens, streicht die städtische Kulisse und fokussiert die Darstellung auf die Zelle des Sokrates, in der sich das Gespräch zwischen dem Verurteilten und Kriton abspielt.69 Während sich die Kulissen in Platons Dialogen aufgrund ihrer Ubiquität für die Analyse der Räumlichkeiten des Denkens somit als schwer zu deuten erweisen,70 ist ein Blick auf die realen Denkräume Platons aussagekräftiger. Die von ihm gegründete Akademie befand sich außerhalb der Mauern Athens, nordwestlich des Dipylon-Tores. Dort, im Hain des Heros Akademos hatte, nach dem Bericht des Diogenes Laertius, Dion für Platon ein Anwesen gekauft, in dem er den Unterricht in einem Peripatos oder einer Exedra abhalten konnte.71 Ihre Bedeutung erhält die Akademie damit nicht wie für Cicero durch ihre mnemotechnische Funktion, sondern vielmehr durch die mit ihr verbundene politische Implikation. Mit der Akademie wendet sich Platon vom Athen seiner Zeit ab und geht in ein selbstgewähltes Exil.72 Betrachtet man die von Platon auserkorene Örtlichkeit seines Wirkens, so fällt auf, dass er sich jenen Orten, deren Architektur erst die kollektive Interaktion zwischen der Polis-Gemeinschaft möglich machte, konsequent entzog. Der Agora, genau wie den übrigen Plätzen und Straßen Athens, blieb er fern.73 Mit der Abschottung von der Bürgerschaft und ihren Denkräumen sowie dem Rückzug 68  Platon: Euthyphron. 2a-3a, S. 185-186. Gigon: Einleitung. S. 8. 69  Platon: Kriton. 43a-44b, S. 249-251. Platon: Phaidon. 57a, S. 3. 70  Dies sollte jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Szenerie keinerlei Bedeutung beigemessen werden kann. So wies etwa Thomas Szlezák darauf hin, dass man in der Politeia mitnichten eine bloße „Aneinanderreihung von Argumenten“ zu sehen habe, sondern es sich bei ihr vielmehr um ein durchdacht komponiertes Werk handele (Szlezák: Einführung. S. 916). Schon in den Anfangsworten der Politeia sei deshalb mehr als nur ein Verweis auf den Ort der Handlung zu sehen, da sie auch als Fingerzeig auf das Höhlengleichnis gedeutet werden könnten (Szlezák: Erläuterungen. S. 944. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/2. S. 24). 71  Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. III,20, S. 158 und IV,19, S. 212. Cicero: Über die Ziele menschlichen Handelns. V,1-2, S. 313. Szlezák: Akademeia. Sp. 381-382. Vretska: Einleitung. S. 15. 72  Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. S. 304. 73  Vretska: Einleitung. S. 15. Bereits durch ihre Begriffsgeschichte ist der Agora ein Wesenszug eigen, der sie einem System mit breiterer politischer Partizipation zugehörig ausweist. Erstmals begegnet der Begriff der Agora wohl in den Epen Homers. In der Ilias wird mit ihm der Versammlungsort aber auch die Versammlung der Menschen selbst bezeichnet. Homer: Ilias. II,91-96, S. 44-45; XVI,384-389, S. 554-555; XVIII,272-276,

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aus dem öffentlichen Raum der Stadt in den Hain des Akademos kann somit ein Hinweis auf den aristokratischen Zug in Platons politischem Denken gesehen werden. In der räumlichen Ausschließung eines erheblichen Teils der Bürgerschaft spiegelt er sich wider.74 2.3.2 Denken im urbanen Raum Wider den Rückzug aus der Öffentlichkeit argumentierte dagegen Plutarch. Insbesondere in De latenter vivendo spricht er sich entschieden gegen das epikureische lathe biōsas aus. Würde dieser Vorsatz ernst genommen, so wäre die Philosophie zum Schweigen verdammt.75 Isoliertes Denken im von flackerndem Kerzenschein nur spärlich beleuchteten Studierzimmer ist für Plutarch vollkommen sinnbefreit. Stets bleibt der Mensch auf die Gemeinschaft bezogen. Nur dort ist ein gelingendes Leben möglich, nur dort kann er seine Fähigkeiten auch verwirklichen.76 Denken gemäß dem Wahlspruch vom verborgenen Leben vergleicht Plutarch daher mit dem allmählichen Hinübergleiten in den Schlaf. Nur vereinzelt blitzen noch Ideen auf, „das Denkvermögen – träge und beklommen in sich selbst zurückgezogen wie ein glimmendes Feuer – nur noch wenig zuckt unter Fetzen von Traumbildern, gerade genug, um ahnen zu lassen, dass der Mensch noch lebt, […].“77 Doch dann bricht der Tag an und das Licht der aufgehenden Sonne erhellt aufs Neue die Gedankenwelt des Einzelnen. Anders als die Traumbilder der Dämmerung benötigt wahre Erkenntnis das helle Licht. Ein Licht, das aber nur in der

S. 636-637; XVIII,494-497, S. 648-649; XIX,42-50, S. 568-569. Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 264. 74  Platons Lehrer Sokrates hingegen soll den gesamten Raum der Polis für sein politisches Wirken genutzt haben (Vretska: Einleitung. S. 14). Gemäß den Aussagen im Phaidros jedoch, blieb er dabei stets innerhalb der Stadtmauern, weil ihn die Natur nichts lehren könne. Allein unter Menschen könne er lernen (Platon: Phaidros oder vom Schönen. 230c-d, S. 19-20). Die Szenerie des Phaidros relativiert diese Aussagen allerdings wieder. Die böswillige Unterstellung, dass Sokrates nur deshalb den Gang in die Öffentlichkeit antrat, um seiner Frau Xanthippe aus dem Weg zu gehen, weswegen er bei der Wahl der Örtlichkeiten nicht wählerisch gewesen sein dürfte, soll nicht weiter kommentiert werden (vgl. zur Unterstellung des zänkischen Wesens der Xanthippe Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. II,36-37, S. 91-92. Johannes von Salisbury: Policraticus. V,10 S. 247. Eine gänzlich andere Darstellung der Xanthippe begegnet bei Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. II,21 S. 161). 75  Plutarch: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? 1129A, S. 55. 76  Feldmeier: Der Mensch als Wesen der Öffentlichkeit. S. 83-84. Hirsch-Luipold: Gedeihen im Licht – Verderben im Dunkel. S. 101. Plutarch: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? 1129C, S. 55. 77  Plutarch: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? 1129E, S. 57.

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Öffentlichkeit leuchtet.78 Nur in ihr bleibt Erkenntnis für Plutarch möglich. Der Versuch, Erkenntnis unabhängig von Politik und der Interaktion mit der städtischen Bürgergemeinschaft zu erlangen, bleibt zum Scheitern verurteilt.79 Vom Entweder-Oder der bislang präsentierten Zeugnisse abweichend, unternahm der römische Satiriker Juvenal den Versuch, den Ort des Denkens mittels einer Symbiose aus urbanem Raum und Natur zu konstruieren. Erstmals nähert er sich dieser Thematik in seiner dritten Satire. Doch liest sich diese noch recht konventionell. Sie folgt dem Topos vom armen Intellektuellen, dessen Tätigkeit in der Stadt keine materielle Wertschätzung entgegengebracht wird. Selbst die Mäuse, ungebildet wie sie seien, würden vor den wenigen Habseligkeiten des Armen nicht halt machen und sogar seine Bücher zernagen.80 Und so ist der urbane Raum für die Tätigkeiten des Denkers nicht qualifiziert. Wer könne sich schon die römischen Mieten leisten? Mieten, von denen man andernorts ein ganzes Haus kaufen könne. Und habe man einmal eine Wohnung gefunden, müsse man beständig fürchten beim Einsturz der maroden Bauten sein Leben zu verlieren.81 Kurzum, das Leben in der Großstadt taugt nicht für den Denker. Und so bleibt als Ausweg nur, Rom den Rücken zu kehren und aufs Land zu ziehen.82 An die in Satire III geschilderte Szenerie schließt sich auch jene aus Satire VII an. Abermals beklagt Juvenal die mangelnde materielle Unterstützung der Intellektuellen, so dass die von ihm hergestellte Verbindung Roms mit einem Musenhain zunächst nur als bittere Parodie verstanden werden kann.83 In Anbetracht dieser Not stellt Juvenal die bange Frage, welcher Raum dem talentierten Dichter bleibt,84 wenn sich selbst Klio gezwungen sehe, ihr Tal zu verlassen, um sich mit niederer Arbeit ein Auskommen zu sichern.85 Allerdings beinhaltet der Text noch eine zweite Ebene. Unter dem neuen Kaiser besteht begründete Hoffnung, eine Besserung der Lage zu erwarten.86 78  Plutarch: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? 1129B-F, S. 55-57. 79   Hirsch-Luipold: Gedeihen im Licht – Verderben im Dunkel. S. 25. Feldmeier: Der Mensch als Wesen der Öffentlichkeit. S. 88-89. 80  Juvenal: Satiren. III,206-207, S. 53. 81  Juvenal: Satiren. III,194-231, S. 51-55. 82  Juvenal: Satiren. III,31-49, S. 39-41 und III,319-322, S. 61. Gauger: Zeitschilderung und Topik bei Juvenal. S. 20-25. Highet: Juvenal the Satirist. S. 65-75. 83  Juvenal: Satiren. VII,9, S. 147. Gauger: Zeitschilderung und Topik bei Juvenal. S. 50-56. Highet: Juvenal the Satirist. S. 106-112. Braund: Beyond anger. S. 54-68. 84  Juvenal: Satiren. VII,66-67, S. 151. 85  Juvenal: Satiren. VII,7-8, S. 147. Braund: Beyond anger. S. 38. 86  Um welchen Kaiser es sich hierbei handelt bleibt ungewiss. Die Deutungen reichen von Nero über Trajan hin zu Hadrian. Während Nero als höchst unwahrscheinlich aufgefasst wird, bleibt es kaum möglich eine Entscheidung zwischen Trajan und Hadrian zu treffen

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„Denn er allein schenkt den betrübten Musen Aufmerksamkeit in dieser Zeit“, so dass niemand mehr dazu gezwungen sei, schäbige und unwürdige Arbeiten übernehmen zu müssen.87 Unter dieser Prämisse kann Rom daher tatsächlich zu dem angesprochenen Musenhain werden und die Parodie somit über einen durchaus ernstgemeinten Kern verfügen. Ein Kern, in dem Stadt und Natur eins werden. An die Stelle der Bevorzugung entweder der Natur oder der Stadt, beziehungsweise des Sowohl-als-auch eines Horaz’ verwischt Juvenal die starre Grenzziehung zwischen beiden Sphären und ersetzt sie durch die Symbiose von Stadt und Natur. Allerdings handelt es sich hierbei um eine ganz und gar einseitige Verbindung. Rom ist zum Musenhain geworden. Die Stadt kann somit die Vorzüge der Natur für den Denkprozess in sich aufnehmen. Der Umkehrschluss jedoch findet bei Juvenal keine Erwähnung. Die Natur hat in seiner Schilderung nicht das Potential dazu, die Vorzüge Roms mit den eigenen Stärken zu verbinden. Das Maß aller Dinge bleibt die Stadt, bleibt Rom. Neben solch szenischen Darstellungsformen des Denkprozesses sind die von Quintilian getätigten Überlegungen für die vorliegende Fragestellung von Belang. Der römische Rhetor entwirft in der Institutio oratoria keine Hintergrundszenerie, sondern gibt eine programmatische Erklärung über den Raum des Denkens ab, wenn er darauf besteht, dass man nicht in Wäldern, Hainen oder unter freiem Himmel studieren könne.88 Untauglich seien diese Örtlichkeiten, da „die Lieblichkeit der Wälder, die vorbeigleitenden Flüsse, die Lüfte, die in den Zweigen der Bäume säuseln, wie auch der Gesang der Vögel und schon der freie Blick rings in die Weite“ dem Geist mehr Entspannung bieten, als dass sie ihm Anlass geben, seine Kräfte auf den vor ihm liegenden Gegenstand zu bündeln.89 Quintilians vorläufiges Fazit lautet daher: „Demosthenes wusste es besser, der sich an einem Ort verbarg, von wo kein Laut zu hören und nichts zu sehen war, damit seine Augen den Geist nicht zwangen etwas anderes zu betreiben. Und deshalb mag uns beim Arbeiten mit der Studierlampe in der Nacht die nächtliche Stille, das geschlossene Schlafgemach und die einzige Lichtquelle gleichsam am besten geborgen halten.“90 Das Denken, das Studium bedarf für Quintilian also eines Obdachs. Mit einem locus amoenus wird es folglich nicht verbunden. Ein solcher würde den Denkprozess sogar erheblich behindern, ihn womöglich gar verhindern. Doch (Gauger: Zeitschilderung und Topik bei Juvenal. S. 50-51. Highet: Juvenal the Satirist. S. 111112. Schnur: Anmerkungen. S. 189-190). 87  Juvenal: Satiren. VII,3-4, S. 147. Schnur: Anmerkungen. S. 189-190. 88  Quintilianus: Ausbildung des Redners. X,3,22-24, S. 507. 89  Quintilianus: Ausbildung des Redners. X,3,24, S. 507. 90  Quintilianus: Ausbildung des Redners. X,3,25, S. 507.

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führt Quintilian den Gedanken noch weiter.91 Der springende Punkt in seiner Argumentation liegt in dem Aufruf, sich von solcher Sensibilität zu befreien, die für ihn nichts anderes als zu überwindende Schwäche ist. So wünschenswert eine Situation sei, in der sich der eigene Geist mit keiner Störung von außen konfrontiert sehe, bleibt dies doch eine Idealvorstellung, die an der Realität zerbrechen müsse. „[…] und deshalb wird man nicht gleich, wenn irgendein Geräusch ertönt, sein Schreibzeug hinwerfen und den verlorenen Tag beklagen dürfen, sondern es gilt, gegen die Störungen anzukämpfen und es sich zur Gewohnheit zu machen, dass der angespannte Wille alle Hindernisse besiegt; […].“92 Die Verortung des Denkens ist, mit einer Ausnahme, letztlich gleichgültig. Diese Ausnahme ist die Natur. Die von Quintilian zur Unterstützung seiner These genannten Beispiele, das Gedränge der Straßen, das Gastmahl, die entstehende Unruhe während der Gerichtssitzungen, sind dem urbanen Raum entnommen.93 Von den Geräuschquellen und potentiellen Störungen der Stadt soll man sich frei machen. Die Störungen der Natur hingegen bleiben störend. Für den politisch Denkenden darf sie daher nicht relevant sein, da Politik nicht in der Abgeschiedenheit der Natur stattfindet, sondern in den Städten, dort wo Menschen auf ihresgleichen treffen. Die Natur ist für Quintilian kein politischer Raum. Sie wird bei ihm durch Abgeschiedenheit und Isolation charakterisiert und dadurch von der für den Rhetor Quintilian maßgebenden Komponente der Politik entkleidet. Kommunikation, das Miteinander-Reden, entfällt in ihr aufgrund des Mangels an Kommunikationspartnern. Daher gelte es, diesen Schluss zieht Quintilian schon im ersten Buch der Institutio oratoria, bereits die Jugend daran zu gewöhnen „keine Angst vor Menschen zu haben oder in einem Einsiedlerleben wie im Schatten dahinzudämmern. Angefeuert und erhoben muss ja der Geist immer wieder werden, der in […] Abgeschiedenheit entweder erlahmt und wie im Schatten vermodert oder im Gegenteil sich in eitler Überschätzung aufbläht; […].“94 91   Entgegen der nun folgenden Darstellung sieht etwa Florian Neumann Quintilians Haltung in der oben angegebenen Ablehnung der Natur als abschließend erfasst an (Neumann: Francesco Petrarca. S. 74). 92  Quintilianus: Ausbildung des Redners. X,3,28, S. 507-509. 93  Quintilianus: Ausbildung des Redners. X,3,30, S. 509. 94  Quintilianus: Ausbildung des Redners. I,2,18, S. 35-37. Da das Denken im Austausch mit anderen besser gelinge und man daher nicht die Einsamkeit suchen solle, vertritt Quintilian hier die Vorteile, die der Schulunterricht der Jugend biete, und verwirft die Unterweisung des Einzelnen im privaten Rahmen. Die mit dem Schulunterricht verbundenen Nachteile, etwa die Verteilung der Aufmerksamkeit des Lehrenden auf eine Vielzahl an Schülern, werden durch die Vorteile dieser Unterrichtsform wieder

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2.3.3 Von der Ortlosigkeit antiken Denkens Nicht zu vernachlässigen ist schließlich auch eine dritte Quellengattung, die, obschon sie in mühevoller Kleinarbeit dem Leser die sie umgebende Welt schildert, letztlich der Ortlosigkeit des Denkens das Wort redet. Der Prozess geistiger Schöpfung verlange die vollständige Abschottung von der Außenwelt und den Rückzug auf sich selbst, wodurch der physische Aufenthaltsort des Denkenden belanglos werde. Eine solche Argumentation ist etwa in den Briefen Senecas an Lucilius zu erkennen. Nicht ohne ein Schmunzeln zu unterdrücken, vermag man dabei die Schilderung des Philosophen zu lesen, mit welchen Mühen sein Versuch verbunden ist, sich den Studien zu widmen, derart plastisch schildert er sein Leid und wie er ihn in den Wahnsinn zu treiben droht. Doch zum Glück weiß sich Seneca Abhilfe zu schaffen: Ich will zugrunde gehen, wenn so notwendig ist, wie es scheint, Stille für den in seine Studien Vertieften. Sieh, von allen Seiten umdröhnt mich vielfältiger Lärm: unmittelbar über einer Badeanstalt wohne ich. Stell dir nun alle Arten von Geräuschen vor, die Hass auf die eigenen Ohren verursachen können: wenn kräftige Männer trainieren und ihre mit Blei beschwerten Fäuste schwingen, wenn sie sich anstrengen oder so tun, dann höre ich ihr Stöhnen, sooft sie den angehaltenen Atem ausströmen lassen, Zischen und heftiges Aufatmen; wenn ich an irgendeinen Menschen, der träge und mit dieser ordinären Einsalberei zufrieden, geraten bin, höre ich Klatschen, sooft die Hand auf die Schultern schlägt, die, wie sie flach aufschlägt oder gewölbt, so auch die Tonart wechselt. Wenn aber ein Ballspieler dazukommt und zu zählen beginnt die Bälle, ist es aus. Füge nun hinzu einen Streithammel und einen Dieb, einen ertappten und jenen, dem die eigene Stimme im Bade gefällt; füge nun hinzu, die in das Schwimmbecken mit tosendem Wasserschwall springen. Außer diesen Menschen, deren Stimmen – wenn nichts anderes – unverstellt sind, denke dir einen Haarzupfer, wie er seien dünne und schrille Stimme, damit er sich besser bemerkbar mache, immer wieder erhebt und niemals schweigt, außer während er die Achselhöhlen leer zupft und einen anderen statt seiner zu schreien zwingt: […]. Aber, bei Gott, ich kümmere mich um dieses Gelärme nicht mehr als um Wogenschwall und Wasserfall, […]. Die Seele nämlich zwinge ich, auf sich gerichtet zu sein und sich nicht ablenken zu lassen zu Äußerlichkeiten: alles mag draußen von Lärm widerhallen, wenn nur drinnen kein Aufruhr herrscht, wenn nur untereinander nicht streiten Begehrlichkeiten und Furcht, wenn nur Habsucht und Genußsucht nicht uneins sind und nicht eine der anderen zu schaden sucht. […] Dann also, wisse, bist du gefestigt, wenn dich kein Lärm erreicht, wenn dich keine Stimme aus der Fassung bringt, nicht wenn sie schmeichelt, nicht wenn sie droht, nicht wenn sie mit leerem Geräusch Nichtiges tönt.95 wettgemacht. Die Mängel des Einzelunterrichts schließlich lassen die Waage endgültig zu Gunsten der Schule ausschlagen (Quintilianus: Ausbildung des Redners. I,2,1-22, S. 29-37). 95  Seneca: Philosophische Schriften. VI,56, S. 447-459. Zumindest kurz kommt Seneca auch in De clementia auf das Gedränge und den Lärm der Stadt zu sprechen (Seneca: De clementia. I,6(1), S. 21).

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Zwei Mischformen aus dem Plädoyer für die Überlegenheit des locus amoenus auf der einen und der soeben bei Seneca vorgefundenen Haltung auf der anderen Seite können, dies sei zumindest noch erwähnt, bei Plinius d.Ä. und Dion Chrysostomos ausgemacht werden. In seinen Briefen an Gallus schwärmt Plinius in den höchsten Tönen von seinem Landsitz und wie dieser ihm die Möglichkeit eröffnet, sich dem Studium zu widmen. Am oberen Ende der Terrasse und weiterhin der Wandelhalle und des Gartens steht ein Gartenpavillon, meine stille Liebe, ja, wirkliche Liebe! […] Hier merkt man nichts von den Stimmen der Dienerschaft, nichts vom Rauschen des Meeres, nichts vom Toben der Stürme, sieht nicht das Leuchten der Blitze, nicht einmal das Tageslicht, außer wenn man die Fenster öffnet. […] Wenn ich mich in diesem Pavillon zurückgezogen habe, meine ich sogar von meinem Landhaus weit entfernt zu sein, und habe besonders während der Saturnalien rechte Freude an ihm, wenn die übrigen Teile des Hauses von der Ungebundenheit der Tage und dem Festtrubel wiederhallen, denn weder störe ich die Belustigungen meiner Leute noch sie meine Studien.96

Zunächst wirkt dies, als wollte Plinius allein das Loblied auf die Abgeschiedenheit des Landlebens anstimmen und dessen Überlegenheit gegenüber der Stadt hervorheben. Bei genauerer Lektüre jedoch erkennt man, dass die hier vertretene Position komplexer ist. Das Leben auf dem Land ist jenem in der Stadt nicht an sich überlegen. Als störendes Hintergrundgeräusch ist die Natur dem Studium nicht minder abträglich wie das Treiben der Dienerschaft innerhalb des Landhauses. Ja sogar das Tageslicht kann als Widrigkeit empfunden werden. Von der Ruhe und dem Frieden, der Idylle der Natur, wie sie etwa im Phaidros oder der Bukolik beschrieben wird, ist hier nichts zu spüren.97 Der von Seneca geforderte Rückzug in sich selbst wird für Plinius daher erst durch eine spezielle Architektur möglich. Allein deshalb bevorzugt er sein Landhaus, da es ihm diese Räumlichkeit bietet. Schließlich postuliert Dion Chrysostomos in seiner Rede Von der Zurückgezogenheit abermals eine anders nuancierte Auffassung. Mit großer Bewunderung schildert er zunächst, wie es einige Menschen vollbringen, sich „im lautestes Lärm und dichtesten Gedränge von ihrer Beschäftigung nicht abbringen [zu] lassen.“98 So etwa „der Flötenspieler oder -lehrer, der oft unmittelbar an der Straße unterrichtet, […]. Und das Erstaunlichste: Selbst die Lehrer 96  Plinius Caecilius Secundus: Epistularum libri decem. II,17, S. 115. 97  Plinius variiert seine Ansicht allerdings insofern, als er in einem an Fundanus adressierten Brief davon spricht, dass der Strand und das Meer sein „wahrer, heimlicher Musenhof“ sei (Plinius Caecilius Secundus: Epistularum libri decem. I,9, S. 27). Hierzu auch Richter: Das Meer. S. 83. 98  Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden. XX,8, S. 302

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sitzen mit ihren Kindern am Rande der Straße und nichts kann sie hindern, inmitten der großen Menschenmenge zu lehren und zu lernen.“99 Bis hierin ist dies noch ganz im Sinne Senecas vorgetragen, so dass es nicht wundert, wenn Dion Chrysostomos auch davon spricht, dass es „die beste und nützlichste Art der Zurückgezogenheit […] [sei], sich auf sich selbst zurückzuziehen und auf seine eigenen Angelegenheiten zu achten, ob man nun in Babylon oder Athen ist, im Feldlager oder einsam auf einer kleinen Insel.“100 Jedoch, und nun weicht Dion von Seneca ab, für Bildung und Philosophie gelten andere Regeln. Diese „bedürfen, wie es scheint, großer Einsamkeit und Zurückgezogenheit. Wie der Kranke keinen Schlaf finden kann, wenn es ringsum nicht ganz still ist, so ist es auch mit dem Freund der Wissenschaft: Nur wenn alle um ihn schweigen und nichts mehr zu sehen und zu hören ist, ist seine Seele in der Lage, auf ihre eigenen Belange zu achten und sich darauf zu besinnen.“101 Das über das schulische Lernen hinausgehende Denken verlangt somit die vollkommene Abgeschiedenheit, verlangt ein geradezu mittelalterlich anmutendes monastisches Eremitentum. Auch an einen locus amoenus ist damit nicht gedacht. Die mit ihm verbundenen sinnlichen Reize der Natur gilt es ebenso konsequent auszublenden und sich völlig in das eigene Denken zu vertiefen. 2.4

Zwerge auf den Schultern von Riesen: Denkorte im Mittelalter

Die Vermutung liegt nahe, dass dem Mittelalter eine lineare Entwicklung eigen gewesen ist. Ausgehend von der Bevorzugung eines in ländlicher Abgeschiedenheit praktizierten Denkens hin zu einer an Wohlwollen zunehmenden Bewertung des urbanen Raums als Heimstatt reflektierender Betrachtung über das Feld der Politik. Gespeist aus dem Verfall antiker Urbanität und der Rückkehr zu rustikalen Lebensformen,102 gespeist aus monastischer Tradition,103 gespeist aus dem etwa von Augustinus vertretenen Argwohn der 99  Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden. XX,9, S. 302-303. 100  Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden. XX,8, S. 302. 101  Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden. XX,11, S. 303. 102  Benevolo: Die Geschichte der Stadt. S. 327-331. Benevolo: Die Stadt in der europäischen Geschichte. S. 31-38. Ennen: Die europäische Stadt des Mittelalters. S. 24-28. Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 61-65. Warnke: Politische Landschaft. S. 48-50. Meckseper: Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter. S. 32-38. 103  Zu Weltflucht und Weltzuwendung der Mönchsorden: Lutterbach: Das Mönchtum – Zwischen Weltverneinung und Weltgestaltung. S. 446. Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 488-489.

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Stadt gegenüber und gespeist auch aus dem nicht ohne weiteres eindeutigen Befund der Heiligen Schrift bezüglich der Bewertung der Stadt selbst,104 kann diese Vermutung vordergründig leicht belegt werden.105 Das Aufblühen der Städte im weiteren Verlauf des Mittelalters wäre dann ebenso wie das Aufkommen der Universitäten nur noch als eine Bestätigung der Linearität dieser Entwicklung zu werten, kann beides doch als Zeugnis dafür herangezogen werden, von einer positiveren Einstellung der Stadt gegenüber zu sprechen. Einmal mehr zeigt sich jedoch auch hier, dass die Antwort nicht derart simplifiziert werden kann. Aus den Quellen lässt sich die geschilderte Vermutung nicht ableiten, ohne dabei gewichtige Stellungnahmen zu übersehen. Vielmehr ist eine Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Antworten auf die Frage nach dem Raum des Denkens zu konstatieren. 2.4.1 Zur mittelalterlichen Ortlosigkeit des Denkens Das Mittelalter beginnt mit einem Kloster. Die Gründung der Benediktinerabtei auf dem Monte Cassino durch den Ordenspatron Benedikt von Nursia im Jahre 529 nach Christi Geburt – im selben Jahr, in dem in Athen die Pforten der Akademie endgültig geschlossen wurden – gehört zu jenen markanten Ereignissen, die den Übergang von der Antike zum Mittelalter kennzeichnen.106 Paradigmatisch steht das Geschehen in Athen und auf dem Monte Cassino für zwei grundverschiedene Wahrnehmungen des Denkens. Wenngleich dem antiken Denkprozess das Muster der Weltabwendung nicht fremd war, wurde er überwiegend im Austausch mit anderen vollzogen. Über die Lehre und das Lernen in den Philosophenschulen der Antike berichtet Diogenes Laertius etwa folgendes: Hermippos erzählt in den Lebensbeschreibungen, während einer Gesandtschaftsreise des Aristoteles zum König Philoppos zur Wahrung der Interessen Athens sei Xenokrates zum Haupte der Akademie erhoben worden; als nun Aristoteles bei seiner Rückkehr die Schule unter der Leitung eines anderen 104  Vgl. Kapitel 1.1.1 und 1.1.2. 105  In diesen Kontext gehört auch das in der Kapitelüberschrift gebrauchte Bild der Zwerge auf den Schultern von Riesen. Hierzu etwa Johannes von Salisbury: Metalogicus. PL 199, 900. Speer: Die entdeckte Natur. S. 76-85. Zurückführen lässt sich das Motiv auf Ovid: Metamorphosen. XV,143-152, S. 1049. Verwendung fand das Bild noch bei Isaac Newton (Freely: Platon in Bagdad. S. 288-289). 106  Zum Bildungswesen im spätantiken Athen Demandt: Die Spätantike. S. 364-366. Als Ausdruck christlichen Triumphs über die heidnische Religiosität der Antike wurde das Kloster auf dem Grund eines Apollotempels erbaut. Es reiht sich damit ein in eine Vielzahl von Gotteshäusern, die heilige Plätze der Antike für sich in Anspruch nahmen (Demandt: Die Spätantike. S. 428-429. Benzing: Benedictus. S. 50-51).

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Zweiter Teil gesehen hätte, habe er sich einen Garten des Lykeions zur Stätte seiner Lehrtätigkeit erwählt, wo er täglich bis zur Zeit des Salbens auf und abwandelnd sich mit seinen Schülern in philosophischen Unterhaltungen ergangen habe.107

Als leitendes Motiv sowohl bei der Gestaltung des Lehrraums als auch im Erkenntnisprozess selbst wird das Denken in Gemeinschaft präsentiert. In ungezwungener Atmosphäre erfolgt der Austausch zwischen Schülern und Lehrer im Gespräch.108 Abermals betont und zugleich näher ausgeführt wird dieser Ansatz in Ciceros De officiis. Es sei also das Gespräch, in dem die Sokratiker hervorragen, sanft und auf keinen Fall rechthaberisch, in ihm soll Anmut sein. Es soll aber nicht, gleich als ob es in sein eigenes Besitztum gekommen wäre, andere ausschließen, sondern sowohl bei den übrigen Dingen, vor allem aber im gemeinsamen Gespräch soll man die Wechselseitigkeit nicht für unbillig halten.109

Nicht selten enden derartige Gespräche ergebnisoffen, ohne eine magistrale determinatio des Untersuchungsgegenstandes. Hierin sei keine intellektuelle Bescheidenheit zu sehen, an der es nicht wenigen der in den antiken Dialogen auftretenden Persönlichkeiten ohnehin mangelt. Eher müsse man sie als Ausdruck einer kulturellen Offenheit deuten. Nicht in den Schlussfolgerungen liege daher der Sinn des Gesprächs, sondern in der Diskussion selbst sei das Entscheidende zu sehen, weswegen stets auch Raum für abweichende Haltungen gelassen werde.110 Dem Verständnis antiken Philosophierens stellt Benedikt von Nursia nun sein Regelwerk, die Regula Benedicti, entgegen. Oder besser: er stellt sie auch dem Verständnis antiken Philosophierens entgegen. Ausschließlich wider bestimmte Formen der Philosophie ist sie nicht gerichtet. Soll doch weniger der Bezug auf Äußeres hergestellt, als die innere Ordnung eines im Kloster zusammengefassten Mönchsverbundes bestimmt werden. Als von zentraler Bedeutung für die innere Ordnung wird dabei der Gehorsam ausgegeben. Gehorsam gegenüber den Mitbrüdern. Gehorsam gegenüber dem Abt, der in Wort und Tat als Lehrer der Mönche fungieren solle.111 Und nicht zuletzt 107  Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. V,2-3, S. 241-242. 108  Vgl. auch die Darstellung der Lehre bei Menedemos (Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. II,130, S. 139). 109  Cicero: Vom rechten Handeln. I,134, S. 115 110  Greenblatt: Die Wende. S. 79. Vgl. auch die Auslegung der sokratischen Maeutik bei Arendt: Sokrates. S. 48-50. 111  Benedikt von Nursia: Die Regula Benedicti. II,11, S. 77. Als lehrreich sind die Worte des Abts aber nur insofern, als er das Sprachrohr Christi ist. Vgl. Benedikt von Nursia: Die

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Gehorsam gegenüber Christus.112 Die Lehrtätigkeit des Abtes, vielmehr aber der den Mönchen abverlangte Lebenswandel, lässt das Kloster zu einer „Schule für den Dienst des Herrn“ werden.113 Eine Schule aber, in der Erkenntnis jenseits des Gesprächs und fern von Widerspruch und Diskussion bewirkt werden soll. Den lebhaft geführten Austausch ersetzt der belehrende Vortrag. Bereits eine so nebensächlich wirkende Weisung wie die über den wöchentlichen Dienst des Tischlesens macht die vollzogene Veränderung erkennbar. Beim Tisch der Brüder darf die Lesung nicht fehlen. / Doch soll nicht der Nächstbeste nach dem Buch greifen und lesen, / sondern der vorgesehene Leser beginne am Sonntag seinen Dienst für die ganze Woche. / Wer den Dienst antritt, / erbitte nach der Messe und der Kommunion das Gebet aller, / damit Gott den Geist der Überheblichkeit von ihm fernhalte. / Daher beten alle im Oratorium dreimal folgenden Vers, / den der Leser anstimmt: / ‚Herr, öffne meine Lippen, / damit mein Mund dein Lob verkünde.‘ / So erhält er den Segen / und beginnt dann seinen Dienst als Leser. / Es herrsche größte Stille. / Kein Flüstern und kein Laut sei zu hören, / nur die Stimme des Lesers. / Was sie aber beim Essen und Trinken brauchen, / sollen die Brüder einander so reichen, / dass keiner um etwas bitten muss. / Fehlt trotzdem etwas, erbitte man es / eher mit einem vernehmbaren Zeichen als durch ein Wort. / Niemand nehme sich heraus, / bei Tisch Fragen über die Lesung / oder über etwas anderes zu stellen, / damit es keine Gelegenheit zum Unfrieden gibt.114

In vollkommener Stille haben die zu Tisch Sitzenden den Worten des Vorlesers zu folgen. Fragen über das Gehörte werden weder als erwünscht noch als angemessen erachtet. Schließlich berge jede Frage den Keim des Widerspruchs in sich und könne so Unfrieden unter den Brüdern bewirken, den eine kontrovers geführte Diskussion nach sich ziehe.115 Und daher lautet bereits das erste Wort des Regelwerks „höre“ (obsculta). „Höre, mein Sohn, auf die Weisungen des Meisters […].“116 Hören, nicht sprechen, gehorchen, nicht hinterfragen. Abgelöst wird der fragende Philosophenschüler bei Benedikt durch den gotthörigen Mönch, der sich vom Eigenwillen löst und für Christus streitet, indem

Regula Benedicti. V,6, S. 95. Hierzu Fischediek: Das Gehorsamsverständnis der „Regula Benedicti“: Der Gehorsam als Grundlage für ein exemplarisch christliches Gemeinschaftsleben. S. 52-56. 112  Senger: Benedikt von Nursia. S. 720. 113  Benedikt von Nursia: Die Regula Benedicti. Prolog,45, S. 71. 114  Benedikt von Nursia: Die Regula Benedicti. XXXVIII,1-8, S. 165-167. 115  Greenblatt: Die Wende. S. 37-38. Die Auseinandersetzung mit den Schriften der Autoritäten untersagt Benedikt nicht kategorisch. Doch gebe es für sie sowohl eine rechte Zeit wie auch einen rechten Ort (ebd.: S. 37-38). 116  Benedikt von Nursia: Die Regula Benedicti. Prolog,1, S. 63.

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er „den starken und glänzenden Schild des Gehorsams“ ergreift.117 In der Gotthörigkeit des Mönchs offenbart sich schließlich die ortlose Natur des Denkens bei Benedikt von Nursia. Als Denkraum wird sogar das Kloster belanglos, da dem Einzelnen die Auseinandersetzung mit dem Gotteswort nicht durch seinen Gehörsinn, sondern mit dem Ohr seines Herzens angeraten wird, so dass sich das Denken losgelöst auch von den ihn umgebenden Räumlichkeiten vollziehen kann.118 Lange bevor Benedikt von Nursia sein Regelwerk formulierte, hatte Aurelius Augustinus ihm mit seinen Schriften den Weg bereitet. Im elften Buch der Confessiones spricht der Kirchenlehrer über die „Behausung meiner Gedanken“.119 Ein konkretes Bauwerk hat Augustinus dabei nicht vor Augen. Den Ort seines Denkens findet er „innwendig in mir“,120 gelöst von der physischen Welt. Dort wird er das Wort des Herrn hören, vermittelt durch Christus, in dem „alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis“ zu finden seien.121 Die Bedeutungslosigkeit der materiellen Welt war auch Gegenstand der Schilderung von Augustins Bekehrungserlebnisses, das der Rhetoriklehrer wohldurchdacht in Szene zu setzen wusste: In einer tiefen Sinnkrise verlässt Augustinus, aufgewühlt und verstört seine Mailänder Herberge und stürzt in den zu ihr gehörenden Garten. „Denn niemand konnte da in dem erbitterten Kampf mich stören, den ich mit mir selbst ausfocht, […].“122 Verzweifelt wirft er sich unter einem Feigenbaum zu Boden.123 Dort vernimmt er vom Nachbarhaus her eine Kinderstimme immer wieder und wieder sprechen: „Nimm und lies, nimm und lies!“124 Augustinus greift nach der Bibel „[…], und alle Schatten des Zweifels waren verschwunden.“125 Aber wozu wird Augustinus eigentlich bekehrt? Infrage steht bis heute, ob es sich um eine Bekehrung zum Christentum oder zur 117  Benedikt von Nursia: Die Regula Benedicti. Prolog,3, S. 63. Senger: Benedikt von Nursia. S. 719. Zum Verständnis von hören und Gehorsam in der Regula Benedicti vgl. Luislampe: Zur Spiritualität der Regula Benedicti. S. 32-43. Fischediek: Das Gehorsamsverständnis der „Regula Benedicti“: Der Gehorsam als Grundlage für ein exemplarisch christliches Gemeinschaftsleben. S. 46-48. 118  Benedikt von Nursia: Die Regula Benedicti. Prolog,1, S. 63. Das Kloster fördert den Erkenntnisgewinn mittels Selbstbefragung allerdings durch die architektonische Abschottung der Mönche von der Außenwelt und der Isolierung des Einzelnen in seiner Zelle oder Einrichtungen wie dem Schweigegebot. 119  Augustinus: Bekenntnisse. XI,3, S. 303. 120  Augustinus: Bekenntnisse. XI,3, S. 303. 121  Augustinus: Bekenntnisse. XI,3, S. 302-303. Zur Nichtigkeit des Materiellen auch Augustinus: De vera religione. XII,23, S. 39. Augustinus: De beata vita. I,4, S. 11. 122  Augustinus: Bekenntnisse.VIII,8, S. 206. 123  Augustinus: Bekenntnisse. VIII,12, S. 214. 124  Augustinus: Bekenntnisse. VIII,12, S. 214. 125  Augustinus: Bekenntnisse. VIII,12, S. 215.

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Philosophie handelt.126 Isoliert betrachtet liest sich die Szene im Mailänder Herbergsgarten wie eine Abkehr von der Philosophie und die Hinwendung zum Christentum. Der Garten, der im ersten Moment als alleiniger Rückzugsraum des nach Antwort Suchenden präsentiert wird, verliert seine Funktion als Denkort sogleich wieder an die Ortlosigkeit des Herzens. Kann das Geschehen im Garten somit als Gleichnis für die Abkehr von der Philosophie verstanden werden, vertreten durch einen von ihr präferierten Denkort? Entscheidend dürfte ein anderer Aspekt gewesen sein: die Demonstration, „dass der Mensch aus eigener Kraft allein den Glauben nicht findet, sondern dass dieser sich einem Akt der Gnade verdankt.“127 Die Ausführungen in den Confessiones stehen nicht allein. Mit ihnen knüpft Augustinus an die Überlegungen seiner rund ein Jahrzehnt zuvor verfassten Abhandlung De magistro an.128 Den als Dialog zwischen dem Autor und seinem Sohn Adeodatus geschriebenen Traktat über die Möglichkeiten, durch das Medium der Sprache Kenntnisse zu vermitteln, eröffnet Augustinus mit einer Ortsangabe des Denkens: Ich glaube, du weißt nicht, dass uns die Weisung, in verschlossenen Gemächern zu beten, womit das Innere des Geistes bezeichnet wird, aus keinem anderen Grund gegeben worden ist als dem, dass Gott kein Verlangen danach trägt, durch unser Sprechen daran erinnert oder darüber belehrt zu werden, unsere Wünsche zu erfüllen. Wer nämlich spricht, gibt vermittels eines gegliederten Klanges ein Zeichen seines Willens nach außen; Gott aber muss gerade in der Abgeschiedenheit der vernünftigen Seele, womit der innere Mensch gemeint ist, gesucht und angefleht werden; denn es war sein Wille, dass die Abgeschiedenheit sein Tempel sei.129

126  Flasch: Augustin. S. 47-52. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 16-17. In De beata vita spricht sich Augustinus hingegen noch zugunsten einer Bekehrung zur Philosophie aus, die ihm ein sicherer Hafen sei, „durch den man Zugang hat zum Festland des Glücks, […].“ (Augustinus: De beata vita. I,1, S. 5 und I,4, S. 9-11) Auch Szenenbild und verwendete Metaphorik, ein Badehaus, ein Gastmahl und die Zusammenkunft auf einer Wiese, sind philosophischen Traktaten ebenso entlehnt wie es auch die Verwendung des Gesprächs unter Freunden als Mittel der Erkenntnisfindung ist. Dabei wird hierin nicht der Versuch zu sehen sein von der Philosophie besetzte Motive und Methoden zu desavouieren. Einen derart starren Gegensatz zwischen Theologie und Philosophie zu konstruieren ist für De beata vita nicht sinnvoll. Die Schrift ist dem Versuch einer Symbiose beider Sphären verpflichtet (Schwarz-Kirchenbauer/Schwarz: Nachwort. S. 7981 und 87). 127  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 17. 128  Über die Entstehungsphase der Schrift äußert sich Augustin auch im neunten Buch der Confessiones (Augustinus: Bekenntnisse. IX,7, S. 228). 129  Augustinus: De magistro. I,2, S. 9-11.

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Das Matthäuswort von den verschlossenen Gemächern im Inneren des Geistes demonstriert den Ansatz Augustins, das Denken als ortlos zu begreifen.130 Es manifestiert sich eben nicht in klar bestimmten, womöglich sogar architektonisch geformten Räumlichkeiten. Trotz der metaphorischen Verwendung architektonischer Begriffe, dem verschlossenen Gemach und dem Tempel, wird das Denken von einer exakt zu bestimmenden Örtlichkeit der physischen Welt getrennt. De magistro, der letzte von Augustin in der Form des Dialogs geschriebene Text, steht damit auch für die Verdrängung der über den Dialog gewonnenen Erkenntnis durch die göttliche Vermittlung von Einsicht. Dieser Übergang spiegelt sich im Aufbau des Textes selbst wider. Mehr und mehr verliert das Gespräch an Dynamik. Die Person des Adeodatus beginnt in den Hintergrund zu treten und wird für die Vermittlung der Inhalte schließlich bedeutungslos. Der Dialog wandelt sich zum Monolog.131 Woher rührt Augustins Missmut gegenüber dem Gespräch? Woher kommt der Unwille, sich im Wechsel von Frage und Antwort auf die Suche nach Gewissheiten zu machen? Auch für diese Fragen liefert De magistro eine Antwort. Es gehöre nicht zu den Eigenheiten der Wörter, Erkenntnis zu vermitteln, da „alles, was durch […] Wörter bezeichnet worden ist, bereits in unserer Kenntnis gewesen ist.“132 Derart verstanden haben Worte nur noch phonetische Bedeutung. Gelernt wird, durch ihren Gebrauch allein den durch sie erzeugten Klang in unseren Ohren zu deuten. Sie stehen damit nicht für Erkennbares, sondern gehören vollumfänglich der sinnlich wahrnehmbaren Welt an. Dieser defizitäre Charakter der Worte, die ihnen innewohnende Gefahr unbewusst etwas anderes auszusagen, als man mit ihnen bezweckte, aber vor allem die Möglichkeit, seinen Gegenüber bewusst zu täuschen und zu belügen, hat Augustinus zu dem Urteil geführt, dass es nicht im Vermögen der Worte liegt, Wissen zu vermitteln.133 Fremd geblieben ist Augustinus damit auch eine Verwendung der Sprache in eben diesem Sinne. Das von Seiten der Sophisten beworbene Vermögen, allein durch die Kraft der Worte die schwächere Sache zur stärkeren machen zu können,134 empfand der Kirchenvater nicht 130  Mt VI,6: „Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.“ 131  Kahnert: Entmachtung der Zeichen? S. 11-12. 132  Augustinus: De magistro. XI,37, S. 101. 133  Augustinus: De magistro. XII,39, S. 105. Mojsisch: Nachwort. S. 150-152. Flasch: Augustin. S. 124-125. Zu Lüge und Betrug als Vermögen der Sprache Augustinus: De magistro XIII,4142, S. 111-113. 134  Aristoteles: Rhetorik. 1402a, S. 147. Cicero: Brutus. VIII,30 S. 25. Skeptisch zum Ansatz der Sophisten auch Platon: Die Apologie des Sokrates. 18b, S. 212.

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als Faszinosum, sondern ganz im Gegenteil als zutiefst befremdlich. Ihm war Sprache eine direkte Folge des Sündenfalls. Im praelapsarischen Zustand hingegen habe Gott unvermittelt in den menschlichen Intellekt gesprochen.135 Entfällt die Möglichkeit, sichere Erkenntnis über die Sprache zu transportieren, werden die gängigen Methoden der Wissensvermittlung hinfällig. Augustinus ersetzt sie durch den inneren Lehrer, Christus, der allein dazu imstande sei wahrhaft zu lehren.136 Das im Inneren Erkannte ist durch äußere Zeichen nicht vermittelbar. Der Sprache bleibt damit allenfalls die Möglichkeit, den sich um Erkenntnis Mühenden auf den inneren Lehrer hinzuführen.137 Zugleich geht der Wechsel des Lehrers mit einer Veränderung der Lernziele wie auch des Lerninteresses der Schüler einher. Eindeutig äußert sich Augustin in der Soliloquia über sein Erkenntnisstreben: „Gott und die Seele will ich erkennen. Weiter nichts? Gar nichts.“138 Größer könnte der Abstand zum von Neugier und Forscherlust geprägten Menschen etwa bei Aristoteles kaum sein.139 Doch noch ist Aristoteles nicht der „Meister derer, die da wissen“, noch ist er nicht „der Philosoph“.140 Seine Lehren sind ein Irrweg und ihr Autor „zittert in der Hölle“.141 So das harsche Urteil Augustins. Mit ihrem Beharren auf der inneren Belehrung durch die Stimme Gottes legen damit sowohl Aurelius Augustinus als auch Benedikt von Nursia die Fundamente einer mittelalterlichen Ortlosigkeit des Denkens. 2.4.2 Vom Rückzug auf das Land Noch einmal ist hierfür an den Ausgangspunkt der bislang angestellten Überlegungen zurückzukehren: der Präsentation des Denkprozesses im Reichston des Walther von der Vogelweide. Den Dichter traf man an inmitten der 135  Augustinus: De Genesi contra Manichaeos libri duo. PL 34, 198-199. Flasch: Augustin. S. 126. 136  Augustinus: De magistro. XI,38, S. 103. Kahnert: Entmachtung der Zeichen? S. 124. 137  Augustinus: De magistro. XII,40 S. 107. Kahnert: Entmachtung der Zeichen? S. 126. 138  Augustinus: Selbstgespräch über Gott und die Unsterblichkeit der Seele. I,1,2, S. 61. Vgl. auch Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XIV,28, S. 211. 139  Vgl. Aristoteles: Metaphysik. (Schwarz) I,1, 980a, S. 17. 140  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. IV,131, S. 21. Als „der Philosoph“ benannt wird Aristoteles, um nur drei Beispiele anzuführen, etwa bei: Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 7. I,96,4, S. 131. Dante Alighieri: Monarchia. I,3,1, S. 66. Wilhelm von Ockham: Texte zur Theorie und Erkenntnis der Wissenschaft. S. 195. Den Angaben im Corpus Thomisticum gemäß wird die Floskel „philosophus dicit“ allein im Werk des Thomas von Aquin über zweitausendmal verwendet. 141  Augustinus: In psalmum CXL. PL 37,1828. Weniger hart im Ton aber nicht weniger streng in seinem Urteil äußerte sich auch Hieronymus über Aristoteles, dessen Lehren eines Tages endlich nicht mehr von Belang sein werden (Hieronymus: Epistola XIV. PL 22,354).

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Natur, abseits seiner Mitmenschen über Wohl und Wehe der Welt nachsinnend. Wenn auch mit den Eröffnungsversen des Reichtons das politische Denken in die Natur verlagert wird, so war es gewiss nicht Walthers Absicht, damit ein Postulat für die generelle Überlegenheit des Lebens auf dem Lande zu formulieren. Obgleich der ordo der Natur Walther als Vorbild für die Überwindung der Unordnung der menschlichen Gemeinschaft dient, ist der Rückzug aus der Gemeinschaft in die Natur bei Walther lediglich temporär.142 Er dient einzig und allein dem Denken und Schreiben. Nicht umsonst verweist die noch leere Schriftrolle der Walther-Illustration im Codex Manesse (Abb. 23) auf die beabsichtigte Niederschrift der zu gewinnenden Erkenntnisse. Die selbst gewählte Isolation in der Natur ist deshalb als Vorbereitung auf die Rückkehr in die Gemeinschaft zu werten. Vita contemplativa und vita activa stehen sich bei Walther somit nicht diametral gegenüber, sondern sind eng miteinander verwoben.143 Die Präsentation des Denkprozesses ist bei Walther von der Vogelweide damit aber noch nicht abgeschlossen. Sie wird ergänzt um eine zweite Ebene der Inszenierung, in der die konkrete Aufführungssituation von Walther kaschiert und für den heutigen Leser, anders als den zeitgenössischen Hörer, nicht mehr wahrnehmbar wird. Der Hof eines Adligen als Ort des Denkens verschwindet im Reichston. Doch warum wird der Hof nicht als die gegebene Räumlichkeit benannt? Lässt sich hier von einem Misstrauen gegenüber dem Hof als geeignetem Denkort sprechen? Vorbehalte gegenüber dem Hof findet man bei Johannes von Salisbury.144 Doch für den Minnesänger ist der Hof gleichermaßen Brot- und Auftraggeber wie auch nahezu alleiniger Aufführungsort.145 Eine mögliche Erklärung könnte daher lauten, dass sich der Minnesang in der Tradition der gefahrvollen Âventiure des Ritterromans stehend sieht und hierzu auf das Motiv der Heldenreise zurückgreift, weswegen der Auszug aus der gehegten Umgebung des Hofes geboten erscheint.146 142  Vgl. hierzu die Darstellung der Natur mit der Ordnung des Reichs in der Weltklage (Walther von der Vogelweide: Werke. Vers 1-25, S. 77). Schweikle: Kommentar. S. 342. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 192. Wandhoff: swaz fliuzet oder fliuget oder bein zer erde biuget. S. 360-371. 143  Wenzel: Melancholie und Inspiration. S. 146-147. 144  Zumindest eines, das sich auf den Hof eines Toren bezieht. Dort übernimmt der philosophus curialis die Unarten der Höflinge, ihre Eitelkeit und ihre Possen, und verliert darüber die Tugend aus den Augen. Der Philosoph eines solchen Hofes werde so zu einem Verräter an der Philosophie (Johannes von Salisbury: Policraticus. V,10, S. 251-253). 145  Walther von der Vogelweide: Werke. Vers 1-10, S. 129. Bein: Walther von der Vogelweide. S. 65-68. Haubrichs: Deutsche Lyrik. S. 82-89. 146  Zur Heldenreise Campbell: Die Kraft der Mythen. S. 149-189.

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Eine mit den Vorstellungen Walthers zunächst vergleichbare Argumentation findet man bei Ramon Lull vor. Die Rahmenerzählung in seinem Liber gentili et tribus sapientibus wird, dem Muster von exitus und reditus nachempfunden, mit dem Rückzug in die Natur eröffnet und erfährt mit der Rückkehr in die Gemeinschaft ihr Ende.147 Bevor es dazu kommt, steht zu Anfang jedoch der in eine tiefe Sinnkrise gestürzte heidnische Magister der Philosophie,148 der den Entschluss fasst „sich in einen unbewohnten Wald zurückzuziehen“. Dort, in der Einsamkeit des Waldes, erhoffte er sich Erlösung von der ihn „quälenden Schwermut“. Stattdessen jedoch verstärkt der Wald noch seine Pein. Er wird für den Magister der Ort nicht allein des seelischen, sondern auch des räumlichen Verloren-Seins, in dem er „wie ein Narr durch die Einsamkeit von Ort zu Ort“ irrte.149 Die bei Walther vorgefundene förderliche Wirkung der Natur auf den Erkenntnisgewinn ist hier fürs Erste verschwunden. Währenddessen geschah es, dass drei Weise sich vor den Toren einer berühmten und großen Stadt trafen. Einer von diesen war Jude, der andere Christ, der dritte Sarazene. Als sie sich dort draußen erblickten, begrüßten sie einander freudig und gingen gemeinsam des Weges. Ein jeder erkundigte sich nach Gesundheit und Ergehen des anderen und danach, womit er sich zur Zeit beschäftige. Sie beschlossen, einen geeigneten Ort aufzusuchen, an dem sie ihren von Studien ermüdeten Geist erfrischen könnten.150

Den gesuchten Ort finden die drei Weisen aber nicht in der Stadt, vor der sie sich getroffen haben, sondern in jenem Wald, in dem der Heide die Orientierung verlor. Anders als für den Heiden ist es für sie indes ein leichtes, den rechten Weg zu „einem sanften Hain […], wo eine frische Quelle fünf Bäume bewässerte [zu finden]. An der Quelle befand sich eine edel gekleidete Frau von wunderbarer Schönheit und anmutiger Gestalt. […] Sie sei die Intelligenz […]“ teilt sie auf die ihr gestellte Frage den drei Weisen mit.151 An 147  Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 246-249. 148  Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 6 und S. 177. Pindl: Anmerkungen. Anm. 2, S. 251. 149  Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 7. Dies obwohl der Wald von Lull zunächst mit den klassischen Attributen eines locus amoenus geschildert wird (Enders: Das Gespräch zwischen den Religionen bei Raimundus Lullus. S. 198). 150  Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 8-9. 151  Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 9. Pindl: Anmerkungen. Anm. 3, S. 251. Vgl. die Parallele zum Hain der Athene bei: Homer: Odyssee. VI,291-294, S. 171. Vgl. auch die geschilderte Szenerie von Platons Phaidros. Enders weist zudem auf die Nähe der Dame Intelligenz zu Boethius´ Darstellung der Philosophie in seiner Philosophiae Consolatio hin (Enders: Das Gespräch zwischen den Religionen bei Raimundus Lullus. S. 199. Boethius: Trost der Philosophie. I,1. Prosa-3. Prosa, S. 41-45).

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diesem Ort nun wollen die drei Weisen zu einer Disputation über die Frage ansetzen, wie man die ganze Menschheit unter einem Glauben einen könnte, um so „Streit und Hass zwischen den Menschen“ ein Ende zu machen.152 In diesem Moment findet auch der heidnische Philosoph einen Weg aus dem Waldlabyrinth zu den drei Weisen und in den Hain der Dame Intelligenz.153 Erst die Begegnung mit ihnen und die damit einhergehende religiöse Offenbarung macht die Natur damit auch für den Heiden zum Ort der Erkenntnis. Die anfänglich angenommene Parallele zwischen Walther von der Vogelweide und Ramon Lull ist daher nur oberflächlicher Art. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich ihre vermeintlich so nahe beieinanderliegenden Vorstellungen als deutlich voneinander unterschieden. Während für Walther der ordo der Natur Vorbild für die Neuordnung der politischen Verhältnisse des Reichs ist, vertritt Lull ein anderes Naturempfinden. Die Naturdarstellung im Liber gentili et tribus sapientibus ist, entgegen jener in Walthers Reichston, von einer nicht unerheblichen Ambivalenz durchzogen. Die trennende Linie wird vom Autor entlang des Waldes auf der einen und dem Hain der Intelligenz auf der anderen Seite gezogen. Abweichend von der Präsentation des Waldes, für den Heiden ein von Irrwegen durchzogenes Labyrinth, erscheint der Hain gleichsam als Ort der Offenbarung. Zwar befindet sich der Hain mitsamt der Quelle der Weisheit und den Bäumen der Erkenntnis inmitten des Waldes, doch wirkt er aus ihm wie herausgelöst, ein dem Paradies gleicher Ort. Die Assoziation zum Paradiesgarten verstärkt die Annahme, dass Wald und Hain eben nicht als ebenbürtige Bestandteile der Natur zu erachten sind. Zu den regelmäßig anzutreffenden Eigenheiten der Schilderung des Paradiesgartens gehörte dessen Abgrenzung von der ihn umgebenden Umwelt.154 Weder ist bei Lull somit eine generelle Idealisierung der Natur noch eine ausnahmslose Orientierung an ihr festzustellen.155 Die Gegensätze zwischen Walther von der Vogelweide und Ramon Lull beschränken sich aber nicht allein auf die Bedeutung der Natur in ihrem und für ihr politisches Denken. Als weitaus augenfälliger erweist sich bereits die Darstellung des Denkprozesses selbst. Schon die von Walthers lyrischem Ich 152  Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 16-17. 153  Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 17-20. 154   Mayer-Tasch/Mayerhofer: Hinter Mauern ein Paradies. S. 10-11. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen AristotelesRezeption. S. 55-56. 155  Abweichend von der hier vorgenommenen Auslegung sehen Enders: Das Gespräch zwischen den Religionen bei Raimundus Lullus. S. 198 und Pindl: Nachwort. S. 285 den Wald als Ganzes, ohne die hier vollzogene Trennung von Wald und Hain als einen von Lull dem Paradies nachempfundenen Ort an.

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eingenommene Pose kann sich auf ein althergebrachtes Erbe berufen: das Motiv des inspirierten Sängers oder Propheten.156 Vor dem Hintergrund dieser Traditionslinie, die der Hörerschaft des Reichstons wohl als bekannt unterstellt werden darf,157 weicht die Schilderung Walthers von jener bei Ramon Lull insbesondere in zwei eng miteinander verwobenen Aspekten ab: Zum einen misst Walther von der Vogelweide dem Ich eine unvergleichlich höhere Bedeutung bei als Ramon Lull, dessen Person von der Rahmenhandlung im Liber gentili et tribus sapientibus vollkommen überdeckt wird. Im Reichston dagegen beginnen alle Teile, Reichsklage wie auch Welt- und Kirchenklage, mit dem Wort „Ich“. Das Wort bürgt dabei nicht nur für das Selbstbewusstsein des Dichters,158 es steht darüber hinaus im Zusammenhang mit der eingenommenen Pose als Beleg für das Selbstverständnis Walthers als einem Propheten ähnliche Leitfigur, somit als denjenigen, der fehlgeleitete Fürsten und Kirchenmänner ermahnt von ihrem irrigen Tun abzulassen. Zum anderen weicht auch der Vorgang der Inspiration bei Walther von Vogelweide von jenem bei Ramon Lull ab. Aus der Tradition des Propheten-Motivs heraus leitet sich die politische Einsicht bei Walther von der Vogelweide aus einer direkten Offenbarung höherer Wahrheit ab. Walthers lyrisches Ich erhält seine Inspiration unvermittelt aus dem Werk Gottes, dem ordo der Natur. An ihm orientiert sich der in die Isolation zurückgezogene Denker. Ganz anders dagegen gestaltet sich der Denkprozess bei Ramon Lull. An die Stelle des von Gottes Werk Inspiriertem erfolgt der Erkenntnisgewinn des nach Eingebung Suchenden einem anderen Muster. Inspiration erfährt die Figur des Magisters eben nicht unvermittelt, sondern durch die vermittelnde Zwischeninstanz der rational geführten Diskussion. „Denn da wir mit Hilfe von Autoritätsbeweisen zu keiner Übereinstimmung gelangen können, sollten wir durch zwingende Vernunftgründe eine Übereinstimmung suchen.“159 Erst im Austausch mit den drei Weisen kann der Prozess des Denkens daher zu einem befriedigenden Abschluss gebracht werden.160 156  Nix: Untersuchungen zur Funktion der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide. S. 14. Wenzel: Melancholie und Inspiration. S. 142-152. Wandhoff: swaz fliuzet oder fliuget oder bein zer erde biuget. S. 235. 157  Wenzel: Melancholie und Inspiration. S. 149. 158  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 192. 159  Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 17 Euler: Unitas et Pax. S. 98-101. 160  Erkennbar hat sich hierin ein Wandel zu der eingangs erwähnten Haltung Tertullians vollzogen, wonach das Wissen der Christen nicht den Säulenhallen der Philosophen, sondern einzig der „Halle Salomons“ entspringt (Tertullian: De praescritpione haereticorum. VII,10 S. 245. Vgl. zu Tertullian und dem bei ihm vertretenen Verhältnis von Religion und Philosophie Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/1. S. 316-318. Schleyer: Einleitung. S. 65. Steiner: Das Verhältnis Tertullians zur antiken Paideia. S. 179-207). Zwar

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Trotz der gezeigten Unterschiede bleiben Walter von der Vogelweide und Ramon Lull durch die grundlegende Argumentationsstruktur von exitus und reditus miteinander vergleichbar. Anders stellt sich dies bei Bernhard von Clairvaux dar. Vita activa und vita contemplativa separierte der Zisterzienser rigoros und verband damit eine an Schärfe kaum zu überbietende Kritik des in den Städten beheimateten Denkens.161 Als Verfechter einer streng monastischen Lebensweise schwebte Bernhard ein anderes Ideal vor. Entschlossen zog er in den Kampf, gewappnet, die alten Ideale zu verteidigen.162 In der Stadt, besonders Paris hatte Bernhard im Visier, fand er den Feind. Nicht zuletzt aus einer Mischung des kommunalen Milieus mit der bloßen Lust am Wissen (amor scientiae) schickten sich die Vertreter der Scholastik dort an, eine „Kultur des Zweifels“ hervorzubringen.163 Für Bernhard aber stellte diese Mischung eine veritable Gefahr für das Seelenheil der Menschen dar. In einem Schreiben an Papst Innozenz II. machte er seinem Unmut über die an Popularität rasch gewinnende Scholastik Luft. Beinahe in ganz Frankreich, so Bernhard, werde von den Studenten inzwischen über die Lehren des Scholastikers Peter Abaelard diskutiert. Und dies nicht mehr nur in den Schulen, sondern auch inmitten der Städte, mitten auf den Straßen.164 Den bleibt eine grundlegende Konstante bestehen, nämlich dass allein die Philosophie nicht zur Glückseligkeit zu führen vermag, doch hat sich das Verhältnis des Christentums zur Philosophie nun beträchtlich verändert. „Für uns [die Christen] ist Wissbegierde keine Notwendigkeit seit Jesus Christus, Forschung kein Bedürfnis seit dem Evangelium. Indem wir glauben, verlangen wir, nichts darüber hinaus zu glauben. Dies nämlich glauben wir zunächst: dass es nichts gibt, was wir darüber hinaus glauben müssten.“ (Tertullian: De praescriptione haereticorum. VII,12-13, S. 245). Von dieser scharf akzentuierten Position des Kirchenvaters koppelt sich Ramon Lull ab. Philosophie und christlicher Glaube gehen bei ihm nun wieder Hand in Hand. Ergebnisoffen ist die derart von den Weisen und dem Heiden geführte Diskussion jedoch nicht. Auch wenn, um keinen Unfrieden zwischen den Religionen zu stiften, nicht explizit genannt wird, für welche Religion sich der Heide nun entscheidet (Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 245-246). Doch ist Atheismus ebenso wenig eine Option, wie die Entscheidung für das Judentum oder den Islam. Nun auch philosophisch bestätigt, wird das Christentum von Lull als die wahre Religion präsentiert (Euler: Unitas et Pax. S. 128-131. Enders: Das Gespräch zwischen den Religionen bei Raimundus Lullus. S. 210-213). 161  Zur Verortung des Denkens in der Stadt Kapitel 2.4.3. 162  Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. S. 205. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 304-307. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 150-151. Fried: Das Mittelalter. S. 182-183. 163   Schneidmüller: Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. S.  67. Siehe auch: Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. S. 30. Libera: Denken im Mittelalter. S. 11-12. Honnefleder: Woher kommen wir? S. 42-43. 164  Bernhard von Clairvaux: Epistola CCCXXXVII. PL 182, 540. Steger: Einleitung. S. XI. Als Charakteristikum für Abaelards Denken verweist Bernhard auch auf den sündhaften

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Pariser Studenten rief Bernhard daher zu: „Flieht aus der Mitte Babylons, flieht und rettet eure Seelen. Eilt zu den Städten der Zuflucht, […],“165 denn nur dort könnten die Flüchtigen die Gnade und Herrlichkeit Gottes erwarten.166 Aber ist, was wie eine vollkommene Verurteilung der Stadt wirkt, von Bernhard auch so gemeint? Und woran denkt der Zisterzienser, wenn er von den „Städten der Zuflucht“ spricht? Es sei unzweifelhaft, und Zweifel sind an dieser Stelle in der Tat nicht angebracht, dass Bernhard mit den „Städten der Zuflucht“ die Klöster, vornehmlich jene seines eigenen Ordens, gemeint habe.167 Wenn die Studenten damit die Universitäten wie auch die Städte verlassen und sich in die Klöster begeben sollen, so ist damit auch eine neue Antwort auf die Frage, in welchem Raum das Denken zu Hause ist, gegeben. Allein in der Zurückgezogenheit des Klosters ist das Denken zu verorten. Die bei Walther von der Vogelweide und Ramon Lull vorgenommene Verknüpfung von vita activa und vita contemplativa ist für Bernhard nicht erstrebenswert. Trotz des großen Misstrauens Bernhards gegenüber der Stadt und trotz des Aufrufs, „aus der Mitte Babylons“ zu fliehen, kann bei ihm nicht von einer generellen Ablehnung der Stadt gesprochen werden. Der Aufruf an die Pariser Studenten, in einer der letzten Publikationen des französischen Mediävisten Jacques Le Goff wiedergegeben und dort mit „Stätten der Zuflucht“ übersetzt,168 beinhaltet keine generelle Verurteilung der Stadt. Die deutsche Übersetzung in Le Goffs Werk verdeckt die der Formulierung innewohnende Pointe. Sprach Bernhard doch von den „urbes refugii“.169 Das Kloster, der Ort der Zuflucht, ist selbst Stadt. Es ist die bessere Stadt. Ein Abbild des himmlischen Jerusalems, das dem als Abbild Babels gedeuteten Paris entgegengestellt wird.170 Nicht die Wissensstolz (stultilogia) (Iserloh: Die Deutsche Mystik. S. 463. Libera: Denken im Mittelalter. S. 80 und S. 172-173). 165  Bernhard von Clairvaux: Sermo de conversione ad clericos. PL 182, 855. Hierzu auch: Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 150-151. Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. S. 232. 166  Bernhard von Clairvaux: Sermo de conversione ad clericos. PL 182, 855. 167  Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. S. 232. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 151. 168  Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 151. Hierzu auch Schmidt: Societas christiana in civitate. 1993: S. 307. 169  Im französischen Original überträgt Le Goff wörtlich – und passender als dies in der deutschen Übersetzung erfolgte – das Lateinische „urbes refugii“ mit „villes du refuge“ (Le Goff: L’Europe est-elle née au Moyen Âge? S. 147). 170   Zur Deutung des Klosters als Stadt beziehungsweise als Abbild des himmlischen Jerusalems: Bandmann: Die vorgotische Kirche als Himmelsstadt. S. 79-80. Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 129-130. Reudenbach: Die Kunst des Mittelalters. S. 19-21. McLean: Das Kloster als Himmlisches Jerusalem. S. 118. Seibt: Utopica. S. 30-45. Miccoli: Die Mönche. S. 55. Allein stand Bernhard mit seinem Urteil über die irdischen Städte nicht. Zu Beginn

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Stadt an und für sich ist von Bernhard somit verurteilt worden, sondern die durch die Scholastik fehlgeleitete Stadt. Der Mönch hingegen sei für Bernhard ein Bewohner Jerusalems gewesen, „weil das Kloster den Mönchen als eine Vorwegnahme des Himmels, als Himmlisches Jerusalem, galt.“171 Eine Bernhard von Clairvaux chronologisch nahestehende, inhaltlich jedoch weit entfernte Position nahm Marbod der Bischof von Rennes ein. In seinen zu Beginn des 12. Jahrhunderts verfassten Carmina varia schildert Marbod, wie er sich, ausgelaugt von den Mühen und Sorgen des Alltags, auf das Landgut seines Onkels zurückzuziehen pflegt, um dort seinen matten Geist wieder zu beleben. Die Idylle der Natur, die Stille des Waldes (silva silens) und die blühende Pflanzenwelt (herba virens) geben ihn sich selbst zurück, so dass er in sich zur Ruhe kommt (me mihi reddunt, et faciunt in me consistere).172 Für Erwin Panofsky reiht sich Marbod hiermit ein in die Gruppe jener, die die Vorzüge der Einsamkeit preisen, einer Gruppe, der auch Horaz und Francesco Petrarca zuzurechnen seien.173 Während die Behandlung Petrarcas noch für einen Moment zurückgestellt werden muss, trifft dieses Urteil, wie zuvor gesehen werden konnte, für Horaz nicht ohne Weiteres zu. Aber trifft es denn auf Marbod zu? Auch um seiner Haltung habhaft zu werden, erweist sich Panofskys Zuschreibung als nur bedingt geglückt. Schließlich will sich Marbod nicht gänzlich aus der Welt zurückziehen und ein Leben gemäß dem Motto, des 12. Jahrhunderts urteilte der Benediktiner Guibert von Nogent nicht minder heftig über die Stadt und ihr wachsendes politisches Selbstbewusstsein: „Communio autem novum ac pessimum nomen […].“ (Guibert von Nogent: De vita sua. PL 156, 922.) Zu Guibert von Nogent auch Schmidt: Societas christiana in civitate. S. 299-300. Auch in den Annalen des Lampert von Hersfeld stößt man auf das Motiv der verdorbenen Städter: „Und es war nicht schwer, diese Art Menschen wie Blätter, die der Wind vor sich hertreibt, in alles zu verwandeln, was man wollte, […].“ (Lampert von Hersfeld: Annalen. S. 239) Von der moralischen Verderbtheit des universitären Paris will auch Jakob von Vitry überzeugen, wenn er schildert, wie in ein und demselben Haus sowohl die Magister ihren Unterricht geben als auch die Huren ihr Gewerbe betreiben (Schneyer: Die Sittenkritik in den Predigten Philipps des Kanzlers. Anm. 65, S. 59). Hierzu etwa Libera: Denken im Mittelalter. S. 145-147. Grundlegend gewandelt hatte sich die Beurteilung der Stadt und des Begriffs Kommune dann bei Brunetto Latini. In seinen Livres dou Tresor äußert er sich zu Beginn des vierundvierzigsten Kapitels des zweiten Buchs über die verschiedenen Herrschaftsformen. Neben der Herrschaft der Könige und der Guten gebe es noch eine dritte Form der Herrschaft, jene der Kommunen. Und diese sei die Beste („Seignouries sond de .iii. manieres, l’une est des rois, la seconde est des bons, la tierce est des communes, laquele est la trés millour entre ces autre.“ Brunetto Latini: Li Livres dou Tresor. II,44,1, S. 211). 171  Reudenbach: Die Kunst des Mittelalters. S. 21. 172  Marbod von Rennes: Carmina varia. PL 171, 1665-1666. 173  Panofsky: Die Renaissance der europäischen Kunst. S. 83.

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dass selige Einsamkeit die einzige Seligkeit sei, führen (beata solitudo sola beatitudo).174 Als Bischof von Rennes gehört für Marbod, anders als etwa für Bernhard von Clairvaux, der urbane Raum selbstverständlich zu den Stätten seines Wirkens. Der Rückzug auf das Landgut seines Onkels trägt bei Marbod daher eher Züge dessen, was in der jüngeren Vergangenheit als Sommerfrische bezeichnet wurde.175 Von einem generellen Rückzug aus der Welt ist hier nicht die Rede. Der Geist soll erfrischt werden, um sodann in die Welt zurückzukehren. Somit folgt auch Marbod dem Prinzip von exitus und reditus. Ähnelt er hierin noch Walther von der Vogelweide und Ramon Lull, so ist sein Ort des Denkens von jenem Walthers wie auch Lulls indes dadurch zu unterscheiden, dass der Prozess der Selbstfindung und Selbstbefragung nicht gänzlich in die offene Natur, gar eine dem Paradiesgarten nahestehende Lokalität, verlegt wird, sondern an das Landgut seines Onkels geknüpft ist. Es ist die Verbindung der Reize der Natur mit dem von Menschenhand geschaffenen Landgut, durch welche die Bedeutung dieses speziellen Ortes für Marbod erzeugt wird. Damit ist nun der Punkt erreicht, an dem auf einen der am häufigsten genannten Vertreter des Lobes auf das Landleben einzugehen ist: auf Francesco Petrarca. Paradigmatisch lässt sich an ihm die Zurückhaltung gegenüber der Stadt wie auch das Lob des Landlebens aufzeigen. Die Vorzüge, welche die vita solitaria mit sich bringe, meint der Mann aus Arezzo mit Leichtigkeit belegen zu können, so dass er dem Leben in der Stadt mit großen Vorbehalten gegenüberzustehen scheint. In De vita solitaria nutzt er hierfür durchweg ein negatives Vokabular, um die Lebensweise des Städters zu umschreiben, wohingegen deren Antonyme konsequent dann Verwendung finden, wenn es daran geht, das Leben auf dem Land zu schildern. Von Unruhe und verdrießlichen Tätigkeiten sei dieses geprägt. Keine Zeit lasse es für die notwendige Muße, keine Zeit für das Studium. Ruhig und friedlich sei dagegen die vita solitaria. Muße für das Studium halte sie bereit. Kurzum: sie sei erfreulicher und glücklicher.176 Aber nicht nur in De vita solitaria, auch andernorts äußert sich Petrarca zu diesem Thema. Bemerkenswerterweise greift er für die Beurteilung der Stadt im 174  Panofsky: Die Renaissancen der europäischen Kunst. S. 83. 175  Lakonisch führt das Wörterbuch der Gebrüder Grimm unter dem Stichwort der Sommerfrische auf: „erholungsurlaub der städter auf dem lande zur sommerzeit“ (Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. X/1. Sp. 1526). Zum Phänomen der Sommerfrische und dessen architektonische Fixierung in der Villa Haas: Die Sommerfrische – Ort der Bürgerlichkeit. S. 364-377. 176  Petrarca: De vita Solitaria. I,7 S. 63. Enenkel: Kommentar. S. 192-205. Neumann: Francesco Petrarca. S. 74.

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fünften Buch der Familiaria auf den Kontrast zwischen Stadt und Wald zurück, mit dem ursprünglich die Vorzüge der Stadt gegenüber der Natur unterstrichen worden waren. Sowohl Wilhelm von Auvergne als auch Albertus Magnus oder Dante Alighieri diente der Wald dazu, den Gegensatz zur Stadt hervorzuheben. Für Dante war der finstere Wald (selva oscura) Symbol der Gefahr und des Verloren-Seins. Ihm wurde die Stadt als Ort des Rechts wie der Gerechtigkeit entgegengestellt.177 Ebenso ist der Wald jenseits der schützenden Mauern der Stadt bei Albertus Magnus als Raum der Unsicherheit gekennzeichnet.178 Und auch für Wilhelm von Auvergne besaß der Wald eine entsprechende Bedeutung. Verglichen mit der Stadt vollkommener Menschen sei alles andere wie ein Wald (quasi silva est) und die Menschen außerhalb der Stadt wie wildgewachsenes Holz (quasi ligna silvatica).179 Petrarca dagegen diente der Wald in einem an Kardinal Giovanni Colonna adressierten Brief nun dazu, Neapel mit ihm gleichzusetzen. „Denn obwohl die Stadt in mancher Hinsicht durchaus glanzvoll ist, besitzt sie doch einen bestimmten schwarzen Flecken und ein hässliches, eingewurzeltes Laster, dessentwegen ein Gang durch die Nacht hier völlig dem durch dichteste Wälder gleicht, nämlich unsicher und voller Gefahren ist.“180 Die traditionelle Wertung von Stadt und Land oder, um es präziser zu formulieren, von Stadt und der durch den Wald repräsentierten Wildnis, wird von Petrarca in ihr Gegenteil verkehrt. Bei Nacht greift die Rechtlosigkeit der Wildnis auch im urbanen Raum um sich und macht die Stadt dem dichtesten Walde gleich. Die Grenzen zwischen Stadt und Wald verwischt Petrarca. Gerade damit aber lässt der Dichter deutlich werden, dass die Stadt bei ihm nicht Gegenstand grundsätzlicher Verurteilung wird. Sie ist nicht die Hure Babylon, nicht Sodom, nicht Gomorrha, nicht der bereits seit Anbeginn

177  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. I-III,9, S. 7-14. Überdies hatten wir zuvor bereits gesehen, dass auch bei Ramon Lull der Wald, im Unterschied zum Hain, nicht als Ort der Klarheit, sondern des Verloren-Seins verstanden werden muss. Zur Bewertung des Waldes ferner Augustinus: Bekenntnisse. X,35, S. 288. Augustinus: In Joannis Evangelium tractatus CXXIV. PL 35, 1526. 178  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 110. Meier: Mensch und Bürger. S. 37. 179  Wilhelm von Auvergne: De sacramento in generali. S. 408-409. Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. S. 96 und 251-252. Meier: Mensch und Bürger. S. 30-31. 180  Petrarca: Familiaria. V,6,2 S. 259. Wenngleich es sich bei dieser Passage mehr um die Beschreibung eines Einzelfalls handelt, gibt über die Rechtlosigkeit des Waldes ferner Auskunft: Petrarca: Familiaria. II,12,5 S. 111.

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befleckte Lebensraum.181 „In mancher Hinsicht durchaus glanzvoll […].“182 Unbestreitbar, ein Loblied auf die Stadt klingt anders. Aber auch ein Abgesang auf ihre Verderbnis nennt eine andere Klaviatur sein Eigen. Was Petrarca zum Ausdruck bringt und was die Lage in Neapel so verwerflich macht, ist, dass die Stadt dem an sie gestellten Anspruch nicht mehr gerecht wird. Nachts bietet sie ihren Bewohnern keinen Schutz mehr und wird ein der Wildnis gleicher Ort. Für Petrarca gilt somit, was auch schon für viele Denker vor ihm gültig war. Er ist, wie Karlheinz Stierle hervorhebt, kein Zivilisationsflüchtling. Petrarca bleibt stets auch „fasziniert von der Stadt und ihren vielfältigen Gesichtern.“183 Ersichtlich wird die Faszination, die das urbane Leben auch auf Petrarca auszuüben vermag, beispielsweise in der Beschreibung Kölns. Es sei „erstaunlich“, so Petrarca, „wie groß im Barbarenland die bürgerliche Gesittung, wie bedeutend die Schönheit der Stadt, die Würde der Männer und die Reinlichkeit der Frauen ist.“184 Von ungleich größerer Faszination als Köln ist für Petrarca indes Rom. „Rom!“ Hier wird er „durch all das Wunderbare und durch die Wucht des Staunens überwältigt.“185 Die des Staunens werte Wunder jedoch sind vor allem anderen die Ruinen des alten Roms. Es ist die tote Stadt, die Petrarca in ihren Bann zieht und deren Mauern wieder unter das Motto der die Studien ermöglichenden Einsamkeit gestellt werden. Auf den Dächern der Thermen Diocletians pflegte Petrarca zu rasten, denn dort fand er „gesunde Luft, freien Ausblick, Stille und weihevolle Einsamkeit.“186 Mithin handelt es sich hierbei weniger um ein Element des Städtelobs, als eine neuerliche Variation des Lobpreises der vita solitaria. Die Faszination für die Stadt, die lebendige Stadt, reicht nicht weit genug, sie als einen für das Studium geeigneten Ort zu betrachten. Dem Studium hingegen mehr als zuträglich sei, wie Petrarca nicht müde wurde zu betonen, sein Domizil nahe der Quelle der Sorgue, sein geliebtes Vaucluse. In einem Codex der Naturalis historia des Plinius fertigte Petrarca 181  Die Missstände Avignons, vor allem aber jene der Kurie, die Avignon beherbergte, veranlassten Petrarca allerdings dazu in Avignon ein Abbild Babels zu erkennen. An Giovanni Aghinolfi gerichtet schrieb er: „An der Quelle der Sorgue erwarte ich Dich, an dem Ort, der zwar immer ganz wunderbar und reizvoll ist, aber im Sommer fast an elysische Felder heranreicht. Da werden wir ein Weilchen Atem holen, bevor wir eintauchen in jenen Tartaros des benachbarten Babylon.“ (Petrarca: Familiaria. XI,9,2 S. 591) Zum Bild Avignons als Babylon auch Petrarca: Familiaria. XV,8,5 S. 128. 182  Petrarca: Familiaria. V,6,2 S. 259. 183  Stierle: Francesco Petrarca. S. 262. Neumann: Francesco Petrarca. S. 63-67. 184  Petrarca: Familiaria. I,5,1 S. 28. Stierle: Francesco Petrarca. S. 275. 185  Petrarca: Familiaria. II,14,1 S. 115. 186  Petrarca: Familiaria. VI,2,15 S. 305.

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die bekannte Zeichnung vom Ursprung der Sorgue (Abb. 25).187 Im Bildhintergrund erhebt sich eine felsige Anhöhe, auf deren Plateau der Betrachter ein bescheidenes Gotteshaus wahrnehmen kann, zu dem ein gewundener Pfad emporführt. Am Fuße der Anhöhe bricht die Sorgue aus den Felsen hervor, deren jenseitiges Ufer alsbald von sprießendem Röhricht eingerahmt wird, während auf dem diesseitigen Ufer ein Reiher mitsamt eines frisch erbeuteten Fisches zu sehen ist. Der Zeichnung gab der Dichter den Text bei: „Meine überaus ergötzliche transalpine Einsamkeit.“ (Transalpina solitudo mea iocundissima) Wer auch immer dies hören wollte, Petrarca teilt es ihm mit. Etwa seinem Brieffreund Lelio, an den er schrieb, dass Vaucluse der Ort sei, an dem man sich „den edlen und beschaulichen Studien“ widmen könne.188 Aber auch vor Francesco Nelli oder dem Florentiner Grammatiker Zanobi verhehlte er die Begeisterung über sein Heim nicht. In den Sommermonaten des Jahres 1352 berichtete er Francesco Nelli, wie er sich in den Garten zurückzuziehen pflegt, um dort seinen Studien nachzugehen.189 Und im Februar des folgenden Jahres schreibt er an Zanobi über seine Zeit in Vaucluse: Inzwischen aber setze ich im Geiste hier Rom, hier Athen, hier auch mein Vaterland fest, hier überdies alle meine Freunde, die ich besitze oder besaß, nicht allein die in vertrautem Zusammenleben erprobten oder gleichzeitig mit mir Lebenden, sondern auch die vor vielen Jahrhunderten verstorbenen, die mir einzig dank einer Wohltat der Literatur bekannt sind. An ihnen bewundere ich die Taten und den Geist oder die Sitten und das Leben oder die Sprache und Erfindungsgabe, und aus allen Gegenden und aus jedem Jahrhundert ziehe ich diese Verstorbenen alle immer wieder in dieses enge Tal herein und verkehre mit ihnen dann begieriger als mit den anderen, die immer dann zu leben vermeinen, wenn sie auch nur irgend etwas Stinkendes aushauchen und in der kalten Luft eine Spur ihres Atems zu erkennen glauben.190

Vaucluse wird zum die Phantasie beflügelnden Ort. Hier imaginiert sich Petrarca in die Gesellschaft der Größen seiner Zunft. Von hier aus führt er das Gespräch mit Cicero und Quintilian, mit Horaz, Vergil, Homer.191 Und hier stellt 187  Petrarca erwarb den Codex wohl 1350 in Mantua, ließ ihn bei seiner Rückkehr nach Avignon jedoch in Verona zurück. Heute wird er in der Bibliothek des Vatikans aufbewahrt (Petrarca: Familiaria. XII,5,7 S. 637. Stierle: Francesco Petrarca. S. 64-68). Plinius hatte sich in der Naturalis historia selbst über die „berühmte Quelle, Orgae genannt“ geäußert (Plinius Caecilius Secundus: Naturkunde. XVIII,51,190 S. 119). 188  Petrarca: Familiaria. XV,8,4 S. 127-128. 189  Petrarca: Familiaria. XIII,8,14-15 S. 43. 190  Petrarca: Familiaria. XV,3,14 S. 107. 191  Für die genannten Autoren sowie die ungenannt gebliebenen Seneca, Marcus Varro, Titus Livius, Asinius Pollio und Sokrates: Petrarca: Familiaria. XXIV,3-13 S. 659-715. Buck: Humanismus. S. 137-140.

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er sich vor, dass er in Rom, auch in Athen weilen würde. Er verlässt Vaucluse und imaginiert sich in die antiken Zentren von Dichtung und Philosophie. Einen letzten Rest an Relevanz behält die Stadt als Raum des Denkens somit auch bei Petrarca. Selbst wenn es sich nur um imaginierte Städte handelt, keine realen. Für diese gilt: „Ich selber habe am städtischen Lärm kein Vergnügen, sondern an der Stille der Wälder, und bin nicht für die Sorgen um Rechte und Waffen, sondern für die Einsamkeit und Muße geboren.“192 Man könnte meinen, dass sich der Dichter nicht mit den Erfordernissen des politischen Geschäfts zu befassen wünscht, er die vita activa scheut. Gesetze und Kriege, Kernbereiche der Politik seit jeher, stimmen nicht mit seinen Interessen überein. Anders als bei Marbod von Rennes, Walther von der Vogelweide oder auch Ramon Lull wäre das Muster von exitus und reditus auf Petrarcas Darstellung des Denkprozesses somit nicht übertragbar. Auf dem Gipfel des Mont Ventoux nahm Petrarca die Confessiones des Augustinus zur Hand und dort stand geschrieben „an der Stelle, auf die ich zuerst die Augen heftete, […]: Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst. Ich […] schloss das Buch, zornig auf mich selber, dass ich jetzt noch Irdisches bewunderte, ich, der ich schon längst selbst von den Philosophen der Heiden hätte lernen müssen, dass nichts bewundernswert ist außer der Seele: […].“193 Fühlt sich Petrarca dem Ideal eines kontemplativen Lebens demnach mehr verpflichtet, als dass er die in der Einsamkeit gewonnenen Erkenntnisse in die Sphäre der vita activa überträgt? Nein, eine solche Schlussfolgerung zieht Petrarca nicht. Weder verharrt der Dichter mitsamt seiner nun gewonnenen Erkenntnis weltabgewandt auf dem Berg, noch strebt er weiter empor. Dem Berg folgt, anders als bei Dante, nicht der Einzug ins Paradies, sondern der Abstieg und die Rückkehr in die Welt.194 Auch bei Petrarca wird das Denken somit gemäß dem Schema von exitus und reditus charakterisiert. 192  Petrarca: Familiaria. IV,9,2 S. 208. 193  Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux. S. 23-25 (Hervorhebung im Original). Das Augustinus-Zitat entstammt: Bekenntnissen. X,8, S. 256. Auch der Hinweis auf die Soliloquia des Kirchenvaters darf an dieser Stelle nicht fehlen. Augustinus äußert darin: „Gott und die Seele will ich erkennen. Weiter nichts? Gar nichts.“ (Augustinus: Selbstgespräch über Gott und die Unsterblichkeit der Seele. I,1,2 S. 61) Zur Deutung von Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux vgl. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. S. 397-399. Zum Mont Ventoux bei Petrarca Billanovich: Petrarca und der Ventoux. Stierle: Francesco Petrarca. S. 318-343. 194  Thumfart/Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 78-79. Den Abstieg vom Gipfel des Mont Ventoux als einen spirituellen Aufstieg werten dagegen Groh/Groh: Petrarca und der Mont Ventoux. S. 299-300.

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Durch die damit vollzogene Charakterisierung des Denkens drängen sich indes zwei Folgefragen auf: (I) Weicht Petrarca, gleichwohl er den Gebrauch dieses Schemas mit den zuvor behandelten Walther von der Vogelweide, Marbod von Rennes und Ramon Lull gemein hat, von deren Befunden ab oder gleicht er seine Überlegungen an einen der Genannten an? (II) Wie tief verankert ist die Verwendung des Schemas von exitus und reditus in Petrarcas politischem Denken? Bezieht er es allein auf die Form des Denkprozesses oder sind seine Konsequenzen weitreichender? ad (I) Von den drei genannten Vertretern dieser Haltung unterscheidet sich Petrarca vornehmlich durch die Bedeutung der Natur für den zu vollziehenden Denkprozess. Anders als bei Walther von der Vogelweide wird dem ordo der Natur nicht die Bedeutung eines nachzuahmenden Vorbilds zugesprochen. Auch das Empfinden eines Marbod von Rennes findet bei Petrarca keine adäquate Entsprechung. Eine revitalisierende Wirkung auf den erschöpften Geist wird dem Zauber der Natur nicht beigegeben. Stattdessen wirft der Blick von der Spitze des Berges den Denker auf sich selbst zurück und initiiert den Griff zum Werk des Augustinus. Erst mit ihm, erst durch die Autorität des Kirchenvaters, gelingt der eigentliche Erkenntnisgewinn.195 Mit dieser Schilderung des Denkvorgangs weicht Petrarca folglich auch von der bei Ramon Lull eingenommenen Position ab. Die einzig und allein über Vernunftargumente geführte Diskussion mit anderen, die sich jeder Bezugnahme auf die von Autoritäten unterbreiteten Beweise enthalten soll, ist Petrarca fremd geblieben.196 ad (II) Jenseits der mit der Besteigung des Mont Ventoux verbundenen Anwendung des Schemas von exitus und reditus auf die formale Gestalt seines politischen Denkens, überträgt Petrarca das Muster darüber hinaus auch in die inhaltliche Ausformung seiner politischen Erwägungen. In De sui ipsius et multorum ignorantia führt er ein weiteres Mal den Nachteil einer allein auf die vita contemplativa hin ausgerichteten Lebensform aus. Obgleich er im dem Werk beigegebenen Brief an Donato Albanzani beim Leser vorab den Eindruck erwecken möchte, man werde nun in einer Schrift fern der vita activa lesen. Von Donato soll der Text gelesen werden „so, wie du mir zuzuhören pflegst, wenn ich dir in Winternächten, vor dem offenen Feuer etwas im Plauderton erzähle […].“197 Heraufbeschworen wird das Bild eines intimen Zwiegesprächs, das nicht in den Rang erhoben werden könne, abseits einer aus dem Stegreif 195  Thumfart/Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 80. 196  Keßler: Die Philosophie der Renaissance. S. 22. Vgl. zu Petrarcas Beharren auf der Kraft von Autoritätsbeweisen Ebbersmeyer: Warum nicht mehr Aristoteles? S. 133-136. 197  Petrarca: De sui ipsius et multorum ignorantia. S. 3.

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geführten Unterhaltung zweier Freunde Bedeutung zu erhalten. Von Petrarca derart in die Irre geführt, vernimmt der Leser dann jedoch eine gleichsam entschiedene wie elaborierte Fürsprache der vita activa. Erkenntnis um ihrer selbst willen habe sich hinter das Streben nach dem Gutsein einzureihen. Und so sei es besser, „Gutes zu wollen als das Wahre zu erkennen. Ersteres nämlich entbehrt nie des Lohnes, letzteres ist oft mit Schuld verbunden und lässt keine Entschuldigung zu. Darum verfehlen diejenigen den rechten Weg, die sich damit beschäftigen, das Wesen der Tugend zu erkennen, anstatt selbst tugendhaft zu werden.“198 Dem Schema von exitus und reditus kommt bei Petrarca somit auch über rein formale Aspekte der Argumentationsstruktur hinaus Bedeutung auf die inhaltliche Ausformung seines Denkens zu. 2.4.3 Städtische Räume des Denkens Mit Francesco Petrarca ist man dem Ende des Mittelalters bereits sehr nahe gekommen, ohne auf die Verteidiger jener Position aufmerksam gemacht zu haben, die das Denken in der Stadt verorteten wollen. Ihnen zuzurechnen ist ein Zeitgenosse Petrarcas, der Engländer Richard de Bury, Autor des Philobiblon.199 Formal ist das Werk ein Handbuch, gerichtet an Studenten, geschrieben in der Absicht, ihnen Hilfestellung im Umgang mit Büchern zu geben. Sei es bezüglich der Frage, welche die notwendigsten Bücher zum Studium seien, wo sich die Gelegenheit zum Erwerb von Büchern eröffnet oder wie hoch der finanzielle Aufwand bei ihrer Anschaffung sein sollte.200 Blickt man allerdings über diese profane Zweckgebundenheit hinaus, so ist das Philobiblon eine einzige große Liebeserklärung an das Medium des Buches. Im Buch habe die Weisheit ihr Heiligtum errichtet. Das im Buch verborgene Wissen offenbart die Zukunft. Das Buch besiegt sogar den Tod. Solange es besteht, wird sein Autor nicht vergessen.201 Der durch die Lektüre des Buches vollzogene Erwerb von Wissen erweist sich in Richards Augen somit auch als jeder anderen Form der Unterrichtung überlegen. Denn die Wirksamkeit des Wortes vergeht mit dem Hauch, im Geiste bleibt die Wahrheit nur als eine Möglichkeit, als eine verborgene Weisheit und ein unsichtbarer Schatz; die Wahrheit aber, die in den Büchern leuchtet, will sich jedem empfänglichen Sinn offenbaren: Dem Gesichtssinn beim Lesen, dem Gehör 198  Petrarca: De sui ipsius et multorum ignorantia. S. 109. Buck: Einleitung. S. VIII. Thumfart/ Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 69-70. 199  Begegnet sind sich Francesco Petrarca und Richard de Bury überdies im Zuge der Gesandtschaften des Engländers in Avignon (Haines: Richard v. Bury. Sp. 818). 200  Richard de Bury: Philobiblon. S. 13, S. 23-24 und S. 43-50. 201  Richard de Bury: Philobiblon. S. 17-18.

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Zweiter Teil beim Hören, im Weiteren teilt sie sich auch gewissermaßen dem Gefühl mit, beim Abschreiben, Binden, Verbessern und Verwahren.202

Der Aufbewahrungsort des Buches, die Bibliothek, wird damit zum einzig wahren Raum der Erkenntnis erhoben. Vor allem die Pariser Bibliotheken haben es Richard angetan, weshalb ihm die Stadt an der Seine ein „dem Paradies der Welt“ gleicher Ort ist.203 „Da gibt es herzerlabende Bücherschätze, duftend mehr als Salbgefäße, dort ist das blühende Lustgärtlein der Weltbücherei, dort sind die von der Erdbewegung erzitternden Wiesen der Akademiker, zur Freude der Athener, die Wandelgänge der Peripatetiker, die Berghöhen des Parnaß und die Säulenhalle der Stoiker.“204 Für Richard eröffnen die Bücherreihen der Bibliotheken dem Leser neue Welten. Raum und Zeit werden durch sie hinfällig, so dass, vermittelt durch das Medium des Buches, Paris mit den Denkorten der großen Alten verschmilzt, ganz gleich, ob diese nun mit Wiesen und Gärten oder den räumlichen Gegebenheiten im antiken Athen verbunden sind. Aber der Zauber von Paris verflüchtigt sich bereits wieder. Und so wirft Richard einen tief melancholischen Blick auf die einstmals blühende Heimstatt des Wissens. [Nun] sehen wir in unseren traurigen Zeitläuften selbst das Palladium von Paris schon angefressen, wo der Eifer der so edlen Schule erkaltet, ja fast erfriert deren Strahlen einst allen Winkeln des Erdteils das Licht brachten. Schon erstarrt dort jede schreibende Feder, die Erzeugung von Büchern wird nicht weiter betrieben noch nimmt auch nur Jemand den Anflug, der als neuer Autor gelten könnte. Ihre Aussprüche wickeln sie in unwissenschaftliche Worte, verlieren jede logische Eigenschaft, es sei denn, daß sie den Engländern ihre Feinheiten, die sie öffentlich heruntermachen, in heimlichen Nachtstudien ablernen.205

Dabei hängt Richard aber keinem, dem Mittelalter so vertrauten, Motiv des kontinuierlichen Zerfalls und Verlusts an.206 Seine Argumentation präsentiert

202  Richard de Bury: Philobiblon. S. 19. Damit erweist sich das Buch auch jeder anderen Form der Unterrichtung als überlegen. Grundlegend weicht Richard damit von der postulierten Überlegenheit des Dialogs gegenüber dem Text ab, wie sie bereits von Seiten des platonischen Sokrates behauptet worden war (Platon: Phaidros. 275a-275d S. 87-88). Die Flüchtigkeit des Schalls lässt die Unterredung nicht als adäquates, mit dem Buch vergleichbares, didaktisches Mittel erscheinen. 203  Richard de Bury: Philobiblon. S. 45. 204  Richard de Bury: Philobiblon. S. 45. 205  Richard de Bury: Philobiblon. S. 54. 206  Vgl. für die Klage über den Verfall der Bildung etwa Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichte. I. Vorrede, S. 3.

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er stattdessen als eine Variation der mehr auf Kontinuität zielenden Weltreichslehre. Minerva, die Herrliche, scheint die Menschenvölker der Reihe nach zu besuchen und sie von einem Ende bis zum anderen kräftig anzurühren, um sich selbst allen mitzuteilen. Durch die Inder, Babylonier, Aegypter und Griechen, die Araber und Lateiner haben wir sie bereits hindurchschreiten sehen. Athen hat sie bereits verlassen, aus Rom ist sie schon hinweggegangen, schon an Paris vorbeigeschritten und schon hat sie glücklich Britannien – jene hochbedeutsame Insel, ja geradezu der Microcosmus selbst – betreten, damit es sich Griechen und Barbaren als Schuldner erweise. Nachdem sie Ihre Wunder vollbracht, wird sie von den meisten verworfen, wie denn in Frankreich das Weisheitsstreben bereits erlahmt und seine Streiter im Innersten entmannt dahinsiechen.207

Zu Jenen, die das Denken in der Stadt verorten wollen, gehört ferner auch der eingangs bereits erwähnte Gerhard von Seeon mit seinem Lobgedicht auf Bamberg. Das von Gerhard darin gebrauchte Sprachbild, die Stadt als Heim der Philosophie, als „Bücherstadt“ (Sepher Cariath) darzustellen, ist dabei kein Einzelfall.208 Auch andernorts, etwa in der Epistola XX (Studium litterarum commendat) des Abts von Bonne-Espérance dem Prämonstratenser Philippe de Harvengt, kann es wiedergefunden werden. Wie Gerhard von Seeon bedient sich auch Philippe der Bezeichnung „Bücherstadt“ (Cariath Sepher).209 Von solch begrifflichen Reminiszenzen an die Stadt als Raum des Denkens abgesehen, zeugen die Aussagen von Albertus Magnus einerseits von der dem 207  Richard de Bury: Philobiblon. S. 54-55. Von diesem Rückgriff auf althergebrachte Muster Geschichte zu periodisieren, weist das Vertrauen Richards im Buch die Zukunft erkennen zu können (Richard de Bury: Philobiblon. S. 17-18) auf ein über das Mittelalter hinausgehendes Geschichtsverständnis hin und lässt bereits die von Seiten der Humanisten vertretenen Lehren erahnen. 208  Gerhard von Seeon: Gerhard von Seeon an Heinrich II. Vers 33, S. 398. Classen: Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. S. 46-47. Schneidmüller: Bildung im hochmittelalterlichen Bamberg. S. 47. Auch bei Gottfried von Viterbo ist die Philosophie in der Stadt beheimatet. Ihren Ursprung habe sie, wie auch bei Gerhard von Seeon, in Athen. „Über Jupiter, den ersten athenischen König“ schreibt Gottfried: „Jupiter ist uns Beginn der Stammesfolge der Herrscher, / Jupiter gibt den Gesetzen als erster schriftliche Fassung, / Erste Philosophie stammt von Jupiter auch. / König von König entstammend war in Athen er geboren, / Woher auch Quadrivium, Trivium, System allen Wissens, / Gesetz und Künste zugleich hat er als König benannt. / […] / Auch steht Athen als Stadt unter dem Namen Minveras. / Weisheit soll durch sie, so heißt es, die Kraft stets bewahren: / Diese Zierde des Geistes Jupiter fügt selbst noch hinzu. / […].“ (Gottfried von Viterbo: Spiegel der Könige. S. 223) 209  Philippe de Harvengt: Epistola XX. PL 203, 165. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 151.

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urbanen Raum entgegengebrachten Wertschätzung und andererseits von den nun anzutreffenden Vorbehalten gegenüber dem Land. In seinem Augsburger Predigtzyklus legt die aus dem Matthäus-Evangelium stammende Passage aus „es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.“210 Laut Albert sei die Stadt auf dem Berge als Gleichnis für die Kirchenlehrer aufzufasssen.211 So seien die Lehrer der Kirche unter anderem deswegen eine Stadt, weil sie als eine Mauer aus lebendigen Steinen das Volk umfassen und es vor der gefahrvollen Umgebung der Stadt beschützen. So grenzen sie die civitas von der Natur, von Feld und Wald ab und schließen die Feinde des Volkes von der Bürgerschaft der Stadt auf dem Berge aus.212 Die Natur wird hier nicht mehr als Ruheraum begriffen. Nichts mehr ist davon zu spüren, durch den Rückzug auf das Land Kraft zu schöpfen, gar das Leben vollständig aus dem urbanen Raum hierin zu verlagern. Entgegen dem Urteil zuvor behandelter Denker ist nicht die Stadt der Raum der Sünde, sondern die Natur. Nicht auf dem Land ist ein gottgefälliges Leben möglich, sondern in der Stadt. Derart verstanden erhält das biblische Wort von der Stadt auf dem Berge dahingehend noch eine zusätzliche Bedeutung, dass ihre Lage sinnbildlich für ihren Charakter als Vorbild zu erfassen ist. Durch ihre Positionierung über den Ebenen der Welt bleibt sie weithin sichtbar und kann den nach Orientierung Suchenden als Anhaltspunkt dienen.213 Von Albert wird die Stadt aber nicht nur in diesem Sinne über das Land erhoben. Grundsätzlich trennt er den städtischen Raum von seiner Umwelt ab und wertet nur ihn als den Ort, an dem der Mensch seine Potentiale verwirklichen könne.214 Die Verwirklichung dieser im Menschen angelegten Potentiale verknüpft Albert mit der Frage nach der Bildung Unverständiger in der sechsten Predigt des Augsburger Zyklus. Nur in der Stadt finde sich Weisheit und Erziehung. Nur die Stadt könne damit Ort des Denkens sein. Das Land jedoch biete keine vergleichbaren Optionen. Und so trennt Albert dann auch 210  Mt 5,14, S. 7. Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 105. Schneyer: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 101-102. 211  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 105. Schneyer: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 102. 212  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 110. Meier: Mensch und Bürger. S. 37-38. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 65. 213  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 134. 214  Schmidt: Politische Theorie und politische Praxis. S. 347.

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den Bürger (civis) von den unbelehrbaren Bewohnern des Landes außerhalb der Stadt auf dem Berge (rudes), die ausdrücklich durch ihre Unfähigkeit, in den bürgerlichen Lehren unterwiesen zu werden, bestimmt sind (rudes sunt, qui nullis civium disciplinis erudiri possunt).215 Der im Augsburger Predigtzyklus gewonnene Eindruck verdichtet sich, schließt man Alberts Ausführungen im Kommentar zur Aristotelischen Politik mit in die Betrachtung ein. Nachdem das Werk des Aristoteles in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vollständig ins Lateinische übertragen wurde, sieht sich der doctor universalis mit der Frage konfrontiert, ob er die in Augsburg vorgenommen Separation von rudes und civis in Anbetracht der von Seiten des Philosophen vorgenommenen unterschiedslosen Bestimmung des Menschen als animal civile noch aufrechterhalten kann.216 Tatsächlich verschiebt sich die Bestimmung des civis nun weg von der reinen Einwohnerschaft der Stadt. In Augsburg hatte Albert den Status des Bürgers noch von seinem Aufenthaltsort diesseits oder jenseits der Stadtmauern abhängig gemacht.217 Im PolitikKommentar hingegen verfällt die Gültigkeit dieser Bestimmung und die Erhebung in den Rang eines Bürgers wird nun nicht mehr in Abhängigkeit vom Wohnort definiert, sondern anhand der Teilhabe an der „beratenden und richterlichen Gewalt“.218 Die derart getroffene Bestimmung ist aber wohl nicht als eine Öffnung des Bürgerbegriffs in dem Sinne zu verstehen, dass nun auch die vormals Ausgeschlossenen mit in die Bürgerschaft einzubeziehen sind. Zum einen handelt es sich weniger um eine auf Inklusion zielende Argumentation als vielmehr um eine zusätzlich zum Kriterium des Wohnortes zu erfüllende Bedingung, durch die der Bürgerstatus einer weitergehenden Differenzierung unterzogen wird. Folgerichtig trennt Albert die Bürgerschaft dann auch in cives simpliciter und cives secundum quid auf.219 Das angeführte Teilhaberecht wird dabei zum Charakteristikum der erstgenannten Gruppe, wohingegen letztere durch das Fehlen eben jener Teilhaberechte bestimmt sind. Betroffen sind davon einerseits all jene, die noch zu jung oder bereits zu alt sind und damit als nicht mehr fähig, ihre Rechte auszuüben, angesehen werden. Betroffen ist davon andererseits aber auch die Gruppe der von Albert 215  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 134. Meier: Mensch und Bürger. S. 44. Zur Missachtung der Landbevölkerung Le Goff: Die Liebe zur Stadt. S. 47-48. 216  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 6. 217  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 110. 218  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 208 und 225. Aristoteles: Politik. III,1, 1275a, S. 155. 219  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 207.

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als ehrlos titulierten, die als Knechte zwar unter dem Schutzmantel des Gemeinwesens stehen, an ihm aber nicht politisch aktiv partizipieren können.220 Zum anderen ist für die überwältigende Mehrheit der mittelalterlichen Aristoteles-Kommentatoren, und zu ihnen gehört auch Albertus Magnus, die Stadt der Bezugspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Denken des Stagiriten. An sie wurde gedacht, wenn man Begriffe wie civitas und civis las und hörte.221 Das Land und die Landbevölkerung hingegen wurden nicht in vergleichbarer Art und Weise wahrgenommen.222 Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Albert in De natura loci die Philosophie mit dem urbanen Raum verbindet, wenn er Paris als die civitas philosophorum bezeichnet.223 Gegen Ende des Politik-Kommentars jedoch, wenn Albert auf die Frage nach der Bildung zu sprechen kommt, wird diese Verbindung unscharf.224 In Augsburg hatte Albert davon gesprochen, dass die „Mauern [der Stadt auf dem Berge] […] die guten Lehrer [sind], die das Volk umgeben und es vor Feinden beschützen.“ (muri sunt doctores boni, qui cingunt populum et defendunt eum ab hostibus)225 Und er hatte ebenso davon gesprochen, dass die Landbevölkerung nicht dazu in der Lage sei, in den bürgerlichen Lehren unterwiesen zu werden.226 Im Anschluss an den Satz des Aristoteles, dass es notwendig sei Gesetze über die Erziehung zu erlassen,227 notiert der doctor universalis in seinem Kommentar, dass ein jeder unterrichtet werden solle. Hierbei solle jeder der Art und Weise gemäß unterrichtet werden, die der civitas, in der er lebt, entspreche.228 In jedem Fall identisch mit der Stadt ist civitas hier nicht mehr, da Albert der Große seine Überlegung, dass die Heranwachsenden mit der jeweiligen politia civitatis ihres Gemeinwesens vertraut gemacht werden

220  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 208-209. Meier: Mensch und Bürger. S. 77-78. Aristoteles: Politik. III,1, 1275a, S. 155. 221  Meier: Mensch und Bürger. S. 66-67. 222  Schmitt: Où en est l’enquête „Ordres mendiants et urbanisation dans la France médiévale?“ S. 13. Elm Vorwort. S. 5. Siehe auch die Ausführungen von Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,6, S. 213-218 und II-II,188,8, S. 231-236. 223  Albertus Magnus: De natura loci. S. 34. 224  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 755-759. 225  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 105. 226  Albertus Magnus: Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den hl. Augustinus. S. 134. 227  Aristoteles: Politik. VIII,2, 1337a, S. 370. 228  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 751.

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müssen, um die Einheit und Zusammengehörigkeit zu gewähren, für alle politische Ordnungsformen formuliert.229 Eindeutiger als der Lehrer formulierte der Schüler. Thomas von Aquin, über viele Jahre hinweg Hörer, Student und Assistent bei Albertus Magnus, ging in den De magistro betitelten vier articuli der elften quaestio seiner Quaestiones disputatae de veritate den Fragen nach, ob allein Gott oder auch ein Mensch lehren und Lehrer genannt werden kann, ob jemand auch als Lehrer seiner selbst bezeichnet werden könne, ob der Mensch ferner von einem Engel unterwiesen werden kann und schließlich, ob das Lehren eine Tätigkeit des praktischen oder des kontemplativen Lebens sei.230 Umfassend werden im videtur quod der ersten beiden articuli die Argumente aufgeführt, die gegen den Menschen als Lehrer seiner selbst oder seiner Mitmenschen sprechen und diese Kompetenz vor allem anderen Gott allein zugestehen. Thomas jedoch möchte sich der Argumentation, dass das „Wissen […] innerlich im Geist verursacht [wird], nicht äußerlich in der Sinnlichkeit“ und folglich „der Mensch allein von Gott unterwiesen [wird], nicht von einem anderen Menschen“231 ebenso wenig beugen wie dem Einwand, dass „das Lehren […] recht eigentlich Gott und eher ihm als dem Menschen zu[kommt]; […].“232 Und so hält er dagegen, dass Lehren wie Lernen den Austausch mit Anderen voraussetzt. Es könne daher nicht als isolierter, weltabgewandter Vorgang eines Einzelnen begriffen werden, sondern sei als soziales Interagieren zu verstehen.233 Die soziale Komponente des Lernens betont er durch die Bestimmung des Erwerbs von Wissen. Auf zweierlei Arten könne dies geschehen. Auf Grundlage der eigenen Vernunft sei es möglich, zur Erkenntnis des zuvor Unbekannten zu gelangen. Doch diese Art, Wissen zu erwerben, wird von Thomas nicht als Lernen, sondern als Erfindung definiert. Das Lernen hingegen „besteht darin, dass jemand von außen der als Natur wirkenden Vernunft zu Hilfe kommt; […].“234 Erst vermittels dieser Hilfestellung Außenstehender könne dann auch vom Lernen gesprochen werden. Aus dieser Festsetzung heraus leitet Thomas die Antwort auf die Frage ab, ob das Lehren Teil des aktiven oder kontemplativen Lebens sei. Seine Antwort ergibt sich dabei aus der ungleichen Zielsetzung der beiden Lebensformen. 229  Albertus Magnus: Politicorum libri VIII. S. 756. Bernath: Bildung als politische Aufgabe. S. 137-138. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption. S. 61-62. 230  Thomas von Aquin: Über den Lehrer. S. 3. 231  Thomas von Aquin: Über den Lehrer. S. 7. 232  Thomas von Aquin: Über den Lehrer. S. 35. 233  Jüssen: Von der Wahrheit. S. 161. 234  Thomas von Aquin: Über den Lehrer. S. 19.

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Während für das kontemplative Leben die Einsicht in die Wahrheit als Ziel ausgerufen wird, erscheint der aktiven Lebensform zum Ziel „ein Wirken, das auf den Nutzen des Nächsten ausgerichtet ist.“235 Die Verschiedenheit der Ziele wiederum hat die Verschiedenheit der Gegenstände zur Folge. Sind es die intelligiblen Prinzipien der Dinge auf Seiten der vita contemplativa, hat die vita activa „die der Zeit unterworfenen Dinge, auf welche das menschliche Handeln sich hinwendet“, zum Gegenstand.236 Nachdem er derart in die Grundlagen eingeführt hat, stellt Thomas fest, dass das Lehren durch einen doppelten Akkusativ bestimmt ist, der sich einerseits auf den zu vermittelnden Inhalt der Lehre bezieht (was), und andererseits auf die Person des Schülers (wen). Auf seinen Gegenstand bezogen müsse das Lehren daher der vita contemplativa zugerechnet werden, während es bezüglich seines Zieles der vita activa angehöre. Wenngleich sich somit kein eindeutiges Urteil über die Zuordnung der Lehre fällen lasse, so sei aufgrund der stärker zu gewichtenden Zielsetzung doch ein Schwerpunkt zu Gunsten der vita activa festzustellen.237 Auf diesen Gedanken kommt Thomas von Aquin ein weiteres Mal in der quaestio 188, „Über den Unterschied der Orden“ (de differentia religionum),238 der Secunda secundae in der Summa theologiae zu sprechen. Im sechsten Artikel dieser quaestio gibt Thomas eine Antwort auf die Frage, ob „ein Orden, der sich dem beschaulichen Leben widmet, vorzüglicher [ist] als einer, der sich dem tätigen Leben widmet?“ (utrum religio, quae vacat vitae contemplativae sit potior ea, quae vacat operibus active)239 Im corpus des Artikels schreibt der Dominikaner zunächst, dass Lehre und Predigt der Kontemplation entstammen. Doch schon Papst Gregor der Große habe gesagt, dass vollkommene Männer aus der Kontemplation zurückkehren. „Und das ist der einfachen Beschauung vorzuziehen“, wie Thomas betont.240 „Denn, wie es besser ist, zu erleuchten als nur zu leuchten, so ist es auch größer, das in der Beschauung Empfangene an andere weiterzugeben, als bloß der Beschauung zu leben.“241 Nachdem er sich im siebten Artikel dieser quaestio damit befasste, ob „gemeinsamer Besitz die Vollkommenheit eines Ordens [beeinträchtige]“, hebt der Aquinate im achten Artikel hervor, dass Einsamkeit nicht als das Wesen der Vollkommenheit aufgefasst werden könne. Die Einsamkeit sei vielmehr ein 235  Thomas von Aquin: Über den Lehrer. S. 69. 236  Thomas von Aquin: Über den Lehrer. S. 69. Jüssen: Von der Wahrheit. S. 163-164. 237  Thomas von Aquin: Über den Lehrer. S. 69-71. Jüssen: Von der Wahrheit. S. 164. 238  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,1, S. 190. 239  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,6, S. 213. 240  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,6, S. 216. 241  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,6, S. 216. Jüssen: Von der Wahrheit. S. 164-165.

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Mittel zum Zweck.242 Zu bedenken gibt Thomas, dass der Vollkommene ihrer nicht bedarf.243 Auf die Frage, wie der Unvollkommene zur Vollkommenheit gelangen könne, nennt Thomas zwei Möglichkeiten: Zum einen sei es möglich die Vollkommenheit, wie Johannes der Täufer, durch göttliches Geschenk zu erlangen, zum anderen durch die Einübung der Tugend.244 Das Einüben der Tugend aber verlangt nach einem Leben in Gesellschaft anderer, die durch Lehre, Beispiel und Zurechtweisung den Unvollkommenen unterstützen, weshalb „das Gemeinschaftsleben notwendig für die Übung der Vollkommenheit, wohingegen die Einsamkeit dem schon Vollendeten gebührt.“ (et ideo vita socialis necessaria est ad exercitium perfectionis: solitudo autem competit jam perfectis)245 Da der Prozess der Erkenntnisgewinnung als sozialer Vorgang zum Nutzen der Mitmenschen verstanden werden soll, klingt hierbei unweigerlich auch die soziale Wesensnatur des Menschen mit an. Die von Thomas vollzogene Übernahme der aristotelischen Bestimmung des Menschen als physei politikon zōon hat zur Folge, dass der Mensch nur dann seiner Natur gemäß leben könne, wenn er in Gemeinschaft lebt.246 Wie Albertus Magnus vor ihm die Trennlinie zwischen civis und rudes zieht, so trennt auch Thomas von Aquin bei der Besprechung des naturgemäßen Lebens in Gemeinschaft zwischen Stadt und Land. Nicht für alle Menschen gelte in gleichem Maße die aristotelische Bestimmung ihres Wesens, da nicht alle Menschen Bewohner von Städten seien (habitatores civitatum).247 Festhalten lässt sich somit, dass der Aquinate den Vorgang der Erkenntnis zwar auch von Seiten des für sich selbst Denkenden für möglich hält, er aber aufgrund der auf die vita activa hin ausgerichteten 242  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,8, S. 232. 243  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,8, S. 233. 244  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,8, S. 233-234. 245  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 24. II-II,188,8, S. 234. 246  Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 78. Nach Zählung von Edelbert Kurz begegnet die Formulierung rund zwanzigmal im Werk des Aquinaten (Kurz: Individuum und Gesellschaft beim hl. Thomas von Aquin. S. 44). Anzumerken ist hierbei jedoch, dass Thomas zwischen der Formulierung „homo est naturaliter animal politicum“ (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 86) und „homo naturaliter est animal sociale“ (Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. III,131, S. 234. Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 7. I,96,4, S. 131) schwankt. Aber auch die Variante „homo naturaliter est animal politicum, vel sociale“ beziehungsweise „homo est naturaliter animal politicum et sociale“ (Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. III,85, S. 14. Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 12. I-II,72,4, S. 54) findet beim Aquinaten ebenso Gebrauch wie „homo sit animal naturaliter civile“ (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78) und „homo est naturaliter animal domesticum et civile“ (Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 79. Meier, Papenheim Steinmetz: Semantiken des Politischen. S. 31-32). 247  Thomas von Aquin: Sententia libri Politicorum. A 78. Meier: Mensch und Bürger S. 71.

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sozialen Relevanz des Denkens den Austausch zwischen Lehrer und Schüler präferiert und diesen mit der Stadt verbindet, die auch bei ihm zum eigentlichen Raum der Erkenntnis erhoben wurde. Neben den Ausführungen des Albertus Magnus und Thomas von Aquin sind die bei Dante Alighieri vorzufindenden Argumente ebenso ergiebige Quellen für die Deutung der Stadt als Denkraum wie die Schilderungen des im Folgenden wiederzugebenden Briefes. Verzichten wir hier abermals auf die Gepflogenheiten einer chronologischen Abhandlung und beginnen mit dem jüngeren der beiden Textzeugnisse.248 Im zehnten Paradiesgesang der Commedia stößt man auf drei Verse, deren Relevanz für die vorliegende Frage nicht gänzlich von der Hand gewiesen werden kann. Von Beatrice bereits durch Mond-, Merkur- und Venushimmel geführt, trifft Dante, im Sonnenhimmel angekommen, auf Thomas von Aquin, der ihn mit den weiteren Lichtern des Sonnenhimmels vertraut macht. Neben Albertus Magnus und Petrus Lombardus werden unter anderem auch Beda Venerabilis sowie Isidor von Sevilla und Richard von St. Victor von Thomas genannt.249 Dann jedoch wird Dante einem Licht zur Linken des Aquinaten gewahr, das Thomas als jenes des Siger von Brabant ausgibt. Die eigenwillige Entscheidung des Dichters, Thomas von Aquin gemeinsam mit Siger von Brabant in den Sonnenhimmel zu platzieren, ist es nicht, auf die die Aufmerksamkeit hier gerichtet werden soll.250 Von Interesse ist dagegen die in den Versen 136-138 beinahe nebensäch248  Eine exakte Datierung der beiden Quellen und des darin Geschilderten gelingt nur zum Teil. Während durch die Verbindung der Rue du Fouarre mit der Figur des Siger von Brabant bei Dante der Zeitraum des Umschriebenen recht genau bestimmt werden kann – Siger lehrte um 1270 in Paris (Baehr: Anmerkungen. S. 498) – ist schon die Datierung des Paradiso nicht mehr mit letzter Gewissheit möglich. Für die vorliegende Frage kommt ihr aber auch keine übergeordnete Bedeutung zu. Es wird daher vollkommen genügen die Entstehung des Paradiso auf die Zeit zwischen 1316 und 1320 festzulegen (Hardt: Nachwort. S. 545. Stierle: Dante Alighieri. S. 39-40). Weit schwieriger tut sich die Forschung damit die Entstehungszeit des Briefes unbekannter Verfasserschaft zu bestimmen. Für Heinrich Pauli sei er aber sicherlich erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts geschrieben worden (Pauli: Einleitung. S. XXVII-XXVIII). 249  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. X,94-99 (Thomas von Aquin und Albertus Magnus), 106-108 (Petrus Lombardus), 130-133 (Beda Venerabilis, Isidor von Sevilla, Richard von St. Victor), S. 305-306. 250  Während die Positionierung des Albertus Magnus am Ehrenplatz zu Thomas’ Rechten („Der dort, der mir zur Rechten steht am nächsten, […].“ Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. X, 98, S. 305) noch leicht nachvollzogen werden kann, leuchtet der Platz des Siger von Brabant zur Linken des Aquinaten philosophiehistorisch nicht ohne weiteres ein. Hierzu etwa Dante Alighieri: La Commedia. Anm. zu Par. X,133-138, S. 240-241. Weisheipl: Thomas von Aquin. S. 251-258. Flasch: Einladung, Dante zu lesen. S. 406-408. Klünker/Sandkühler: Menschliche Seele und Kosmischer Geist. S. 9-16.

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lich vorgenommene räumliche Verortung des Denkens Sigers. „Es ist die ewige Leuchte des Sigerus, / Der einstens in der Rue de Fouarre / Mit scharfem Geiste bittre Wahrheit lehrte.“251 Drei Verse. Nur drei Verse und nur ein Satz. Beileibe nicht viel. Und doch genug, denn mehr benötigt Dante nicht, um seinen Zeitgenossen das gewünschte Bild vor Augen zu führen. Unmittelbar dürfte ihnen die Vorlesungspraxis an der Universität Paris im 13. Jahrhundert gewahr geworden sein. Einer Praxis, die sich inmitten des städtischen Raums abspielte und eines ihrer Zentren in der erwähnten Rue du Fouarre besaß.252 Über Standorte der akademischen Welt in Paris berichtet auch der genannte Brief des Guido von Bazoches. „Ich bin in Paris, der Stadt der Könige, die nicht nur durch ihre natürlichen Vorzüge ihre Bewohner erfreut, sondern auch die anlockt, die fern von ihr weilen, und die einlädt, die sich nicht in ihr befinden.“253 Auf diese kurze Einleitung folgen einige für das Genre des Städtelobs typische Ausführungen über geographische Lage und Gegebenheiten sowie erste bauliche Eigenheiten von Paris. Sodann schwenkt der Autor zu einer detaillierteren Schilderung des städtischen Treibens am Grand wie auch am Petit Pont über. Während der Grand Pont ganz im Zeichen der Kaufleute stehe und darin seinesgleichen suche, sei „der petit pont aber […] der Stammplatz der Dialektiker (logicis dedicatus est), die entweder schnell vorübergehen (aut praetereuntibus) oder gemessenen Schrittes einherschreiten (aut spatiantibus) oder ihre Streitgespräche führen (aut disputantibus).“254 Man könnte nun einwenden, dass beide Quellen, sowohl der Brief des Guido von Bazoches als auch Dantes Commedia, dem Leser lediglich eine Schilderung der historischen Gegebenheiten im mittelalterlichen Paris vermitteln. Eine Aussage programmatischer Art, dergestalt etwa, dass das Denken in der Stadt und nur in der Stadt anzusiedeln sei, werde dagegen nicht formuliert. Und dieser Einwand wäre durchaus stichhaltig, sofern man die Lektüre der beiden Quellen nun ruhen ließe. Liest man aber weiter, kommt man nicht umhin, von diesem Steenberghen: Maître Siger de Brabant. S. 165-176. Gilson: Dante und die Philosophie. S. 300-329. Zur Bedeutung von rechts und links: Elze: Rechts und Links. S. 75-76. 251  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. X,136-138, S. 306. 252  Passenderweise hat die Verwaltung der französischen Hauptstadt die Rue du Fouarre heute als die Fortführung der Rue Dante auserkoren. Vom Boulevard Saint-Germain kommend mündet die Rue Dante in die Rue du Fouarre, die ihrerseits nach nur kurzer Wegstrecke in die Rue Lagrange übergeht, von der aus man schließlich über den Pont au Double die Kathedrale Notre Dame erreicht. 253  Zitiert nach Pauli: Einleitung. S. XXX. Der lateinische Text des Briefs ist abgedruckt in Denifle/Chatelain: Chartularium Universitates Parisiensis. Nr. 54. S. 55-56. 254  Zitiert nach Pauli: Einleitung: S. XXX. Hierzu auch Rexroth: ‚Wissenschaft‘ und ‚Unmoral‘ in den mittelalterlichen Vorstellungen von der Bildungsmetrople Paris. S. 48-49.

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Einwand wieder abzusehen. Führen wir die unterbrochene Lektüre also fort. Im Brief des Guido von Bazoches heißt es nun: Auf dieser Insel [der Île de la Cité] hat schon seit Alters her die Liebe zur Weisheit (filosofia) ihren Königsthron aufgerichtet. Als einzige mit nur einem Gefolgsmann zufrieden, nämlich dem Streben nach Erkenntnis (sola solo comite contenta studio), und im Besitz einer Burg, die als Wohnstatt des unsterblichen Lichtes die Zeiten überdauert, setzt sie ihren siegreichen Fuß auf den welk gewordenen Blütenflor einer Welt, die sich anschickt zu altern. Sieben Schwestern haben auf dieser Insel eine dauernde Wohnung genommen, die sieben freien Künste nämlich, und, eingeleitet durch rhetorische Fanfarenstöße (intonante eloquentiae thuba), hält man Vorlesungen im kanonischen und römischen Recht. Reich strömt hier die Quelle der Theologie (doctrinae salutaris) und teilt das Verständnis der hl. Schrift (sacrae paginae spiritalem intellectum), indem sie gewissermaßen drei Bäche klarsten Wassers aus sich entspringen lässt, welche den geistigen Wiesen ihr Nass spenden, in den historischen, den allegorischen und den moralischen.255

Der Charakter des Textes vollzieht in diesem Abschnitt einen merklichen Wandel. Die Beschreibung der Gegebenheiten des akademischen Paris wird, wenngleich durch die Verortung der theologischen Vorlesungen auf der Île de la Cité noch immer präsent, spürbar zurückgedrängt. Gefüllt wird der nun freigewordene Platz durch die Inszenierung eines mit der Stadt verbundenen Denkraums. Die Philosophie und in ihrem Gefolge auch die artes liberales werden „schon seit Alters her“ als auf der Île de la Cité wohnend ausgegeben. Durch die bislang besprochenen Quellen sensibilisiert, wird man darüber hinaus nicht umhin kommen, die Differenz zu der bei Homer und später auch bei Ramon Lull anzutreffenden Anschauung zu bemerken. Beide, Homer wie auch Lull, hatten in ihren Ausführungen die Position vertreten, dass der Raum des Denkens, symbolisiert durch die Heimstatt der Athene beziehungsweise der Intelligenz, abseits der Stadt zu finden sei. So hatte es Homer für den Hain der Athene und so hatte es Ramon Lull für den Hain der Intelligenz postuliert.256 Dagegen sei die Philosophie, wie es auch die artes liberales seien, als Äquivalent zu Athene und Intelligenz verstanden, mit der Stadt verbunden. Nichtsdestotrotz bleibt die metaphorische Kraft der Natur nicht gänzlich ungenutzt. Über das verwendete Vokabular fließt die Natur in die Erzählung mit ein. Die Rede vom „welk gewordenen Blütenflor“, mit der die Klage über das Alter der Welt anklingt, lässt die Natur auch hier gegenwärtig sein. Dabei wird die Natur jedoch zum Chiffre für Verfall und Vergänglichkeit umfunktioniert. 255  Zitiert nach Pauli: Einleitung. S. XXXI. 256  Homer: Odyssee. VI,291-294, S. 171. Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 9.

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Ein neues Verständnis der Natur, das uns in diesem Zusammenhang derart noch nicht begegnet ist, wird in diesem zweiten Teil des Briefes zum Ausdruck gebracht. Marbod von Rennes hatte noch von der blühenden Pflanzenwelt gesprochen, die es ihm ermögliche, in sich zur Ruhe zu kommen. Ebenso waren auch die den Dichter umgebenden Blumen ein zwar unscheinbarer, aber nicht belangloser Bestandteil der bildlichen Umsetzung des Denkprozesses bei Walther von der Vogelweide gewesen (Abb. 23). Doch an die Stelle des Frühlings tritt nun der Herbst. Kein Aufbruch, keine Erfrischung des Geistes und keine Vorbildfunktion kann die sich in Auflösung befindliche Natur für sich reklamieren. Dagegen wird der Wechsel der Jahreszeiten mit einer für das mittelalterliche Schrifttum typischen Endzeitmentalität verbunden.257 Die 257  Paradigmatisch für das mittelalterliche Geschichtsverständnis steht die von Aurelius Augustinus ausgearbeitete Periodisierung der Historie. Die Gliederung der Geschichte gemäß den sechs Weltaltern und die Feststellung, dass die Welt bereits in das letzte Zeitalter eingetreten sei, prägten das Mittelalter (Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). XXII,30, S. 834-835. Andresen: Einführung. S. XXII-XXIV). Durch Augustinus beeinflusst äußerte sich derart beispielsweise auch Otto von Freising: „[…] sehen wir doch, dass die Welt, […] im Verfall begriffen ist und sozusagen vor Altersschwäche in den letzten Zügen liegt.“ (Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten. V,Vorwort, S. 375) Eine dem Urteil nach, nicht jedoch des Weges dorthin, alternative Deutung des Geschichtsverlaufs wurde mit der Weltreichslehre ausgearbeitet (Gerwing: Weltende, Weltzeitalter. Sp. 2168. Zum Konzept des Weltenendes generell: Jostmann: Das Weltende. S. 141-153). In diesen Zusammenhang gehört auch die Tradition der weitverbreiteten ubi-sunt-Klage, die sich bis auf das alttestamentarische Buch Baruch zurückführen lässt: „Wo sind die Fürsten der Völker und die, die über die Tiere auf Erden herrschen, die mit den Vögeln unter dem Himmel spielen, die Silber und Gold sammeln, worauf die Menschen ihr Vertrauen setzen und wovon sie nie genug haben können, die das Silber bearbeiten und sich darum mühen und deren Werke nicht zu begreifen sind? Sie sind verschwunden und zu den Toten gefahren, und andere sind an ihre Stelle getreten. Die Nachkommen sahen zwar das Licht und wohnten auf dem Erdboden und fanden doch den Weg der Weisheit nicht und erkannten die Pfade nicht, die zu ihr führen; […].“ (Bar III,16-21) Aufgegriffen hat dieses Motiv etwa Gregor von Tours, der davon spricht, dass „[…] die Pflege der schönen Wissenschaften in den Städten Galliens in Verfall geraten, ja sogar im Untergang begriffen […]“ sei (Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichte. I. Vorrede, S. 3). Hingegen sind die Romgedichte des Hildebert von Lavardin, trotz des berühmten Diktums „Roma fuit“ (Hildebert von Lavardin: Carmina Minora. XXXVI, Vers 21, S. 23), nur bedingt als Exemplum für die Hinfälligkeit alles Irdischen zu werten (Moos: Hildebert von Lavardin. S. 240-258. Seidlmayer: Rom und Romgedanke im Mittelalter. S. 180-184. Zu Hildebert von Lavardin: Rehm: Europäische Romdichtung. S. 4361). Die Klage über den Fall Roms begegnet auch im Werk der Kirchenväter (Hieronymus: Commentariorum in Ezechielem prophetam libri quatourdecim. PL 25, 15-16. Gregor der Große: Homiliarum in Ezechielem prophetam. PL 76, 1009-1010). Schließlich findet sich der Verfallsgedanke auch schon bei Boethius, der hier von besonderem Interesse ist, da auch er sich der bereits mehrfach angesprochenen Blütenmetapher bedient, wenn er schreibt: „Der Schönheit Glanz gar – wie reißend schnell, wie kurz dauernd ist

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atmosphärische Wirkung in diesem Teil des Briefes steht damit in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu dem vor Leben nur so strotzenden Treiben der Stadt. Dies gilt für die geschilderten Aktivitäten sowohl am Grand wie auch am Petit Pont, ebenso wie es auch für die abschließende Beschreibung der Île de la Cité gilt. Denn „reich strömt hier die Quelle der Theologie“ und spendet den „geistigen Wiesen“ lebensbringendes Nass. Die Welt mag im Verfall begriffen sein, doch an diesem Ort ist die Vitalität noch nicht entschwunden. Und so werden die „Liebe zur Weisheit“ und das „Streben nach Erkenntnis“ nicht durch die vergehende Natur repräsentiert, sondern mittels einer beständigen Architektur, der Burg. Seit jeher stehe diese Feste auf der Île de la Cité und stelle sich dem Verfall der Welt und dem Verlust an Wissen entgegen. Das Bild von der Festung der „Liebe zur Weisheit (filosofia)“ und den „geistigen Wiesen“ begegnet auch bei Dante Alighieri. Nehmen wir also Dantes Weg durch die Jenseitsreiche wieder auf und folgen ihm für eine Weile. Von Vergil geführt betritt der Dichter den ersten Kreis der Hölle und trifft im Limbus jene an, die zwar „nicht sündigten, doch die Verdienste / Genügten nicht, da noch die Taufe fehlte, / Die erst das Tor zu deinem [Dantes] Glauben öffnet.“258 Homer, Horaz, Ovid, Lukan sind die ersten, denen der Wanderer mit seinem Führer dort begegnet. In ihre Mitte aufgenommen gehen sie den Weg gemeinsam weiter.259 Dann kamen wir vor eine stolze Festung, / Die siebenmal umfasst mit starken Mauern / Und rings geschützt von einem schönen Bache. / Den kreuzten wir, als wär er fester Boden. / Durch sieben Tore schritt ich mit den Weisen, / Dann kamen wir auf eine grüne Wiese. / […] / Gerade vor uns auf dem grünen Rasen / Hat man die hohen Geister mir gewiesen, / An deren Anblick ich mich selbst berauschte. / […] / Als ich die Brauen hob ein wenig höher, / Sah ich den Meister derer, die da wissen, / In einem Kreis von Philosophen sitzen. / Alle bewundern ihn, es ehrt ihn jeder. / Dort konnt ich Sokrates und Plato sehen, / Die ihm vor allen andern nahe standen. / Demokritus, für den die Welt ein Zufall, / Diogenes, Anaxagoras und Thales, / Empedokles und Heraklit und Zeno. / Ich sah den, der die Eigenschaften kannte, / Ich meine Dioskorides, und Orpheus / Und Tullius, Linus, Seneca, den Weisen, / Euklid, den Geometer, Ptolemäus, / Hippokrates, Galen und Avicenna, Averroes, den großen Kommentator.260

er! Flüchtiger als der Frühlingsblüten Welken!“ (Boethius: Trost der Philosophie. III,8, S. 96) Dagegen lobt unser Briefschreiber die „natürlichen Vorzüge“ der Einwohnerschaft von Paris. Offenbar hat das Welken des weltlichen Blütenflors noch nicht auf Paris übergegriffen. 258  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. IV,34-36, S. 19. 259  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. IV,88-105, S. 20-21. 260  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. IV,106-144, S. 21.

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Offenbar handelt es sich bei der Nutzung dieser Metapher also um mehr als nur einen Einzelfall. Die Ursprünge und Einflüsse auf dieses Bild herauszuarbeiten, soll hier wenigstens in Form einer groben Skizze erfolgen. Eine flüchtige Erwähnung, wenn auch nicht mehr, erfährt die Festung der Philosophie (arx philosophiae) in Augustins De beata vita.261 Als entfernt mit Dante, dem nobile castello und der hierauf aufbauenden Bildtradition verwandt, könnten sich ferner die von Guillaume de Lorris und Jean de Meun im Roman de la rose gebrauchten Bilder erweisen. Erst durch die Unterweisungen der Vernunft gelingt es, in die Burg der Eifersucht einzudringen, die diese am Ende des ersten Teils um die Rose herum errichtet hat. Zweifellos muss in diesem Zusammenhang hingegen Vergil genannt werden. Allesamt sind die bei Dante genutzten Elemente schon bei seinem Führer durch die Hölle vorhanden. Nur erfahren sie bei Vergil eine andere Akzentuierung. Die mehrfach von Mauern umgürtete Burg des Tartaros, der sie umfließende Strom des Phlegethon, die Versammlung der Dichter und Philosophen auf grünen Wiesen. Sie alle hat Vergil im sechsten Buch der Aeneis verewigt.262 Doch wird die bei Vergil nur angerissene Aufzählung der bedeutsamen Philosophen bei Dante explizit und überdies mit dem nobile castello verbunden. Weder atmosphärisch noch inhaltlich ist die Festung des Tartaros dagegen mit dem Bollwerk im Limbus aus Dantes Inferno zu vergleichen. Es ist nicht die Festung der Philosophie. Es ist der Ort an dem die Frevler ihre Strafe erhalten.263 Auf die Philosophen trifft Aeneas erst im Elysium, in den Gefilden der Seligen.264 Hier ist die Schar derer, „die das Leben durch Kunst und Erfindungen bildend bereichert, […].“265 Vergleichbar mit Dante jedoch ist ihre Verortung „in schattigen Hainen; / Rasenpolster an Ufern und quellfrisch grünenden Wiesen“.266 Neben Vergil sollten aber auch Lukian und seine Wahren Geschichten genannt werden, auch wenn ein direkter Einfluss des Satirikers auf die Autoren des Mittelalters äußerst unwahrscheinlich ist.267 Doch die von Vergil genutzten Motive hat sich auch Lukian zu Eigen gemacht und sich einen Spaß damit 261  Augustinus: De beata vita. II,10, S. 21. 262  Vergil: Aeneis. VI,548-678, S. 255-259. 263  Vergil: Aeneis. VI,557-627, S. 255-257. 264  Vergil: Aeneis. VI,637-678, S. 257-259. 265  Vergil: Aeneis. VI,663, S. 259. 266  Vergil: Aeneis. VI,673-675, S. 259. 267  Unwahrscheinlich, da eine lateinische Übersetzung der Wahren Geschichten erst auf das Jahr 1475 datiert. Bei den Byzantinern hingegen stieß Lukian bereits seit dem 9. Jahrhundert auf reges Interesse. Hierzu und zur Rezeption der Wahren Geschichten den Überblick bei Helm: Lukianos. Sp. 1773-1775. Robinson: Lucian and his influence in Europe. S. 68-81, Nesselrath: Lukian. Sp. 466-468.

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erlaubt, sie gründlich zu persiflieren. Mit seinen Reisegefährten auf der Insel der Seligen gelandet, wird das alter ego Lukians von den Insulanern „in die Stadt zum Gelage der Seligen gebracht. „Die Stadt selbst ist ganz aus Gold, die Umfassungsmauern aus Smaragd; Tore gibt es sieben, alle aus einem einzigen Stück Zimtholz, der Boden der Stadt und das Pflaster innerhalb der Mauer sind aus Elfenbein, Tempel aller Götter aus Beryll, in ihnen riesengroße Altäre aus einem einzigen Amethyst, auf denen sie ihre Hekatomben darbringen. Um die Stadt fließt ein Strom voll des schönsten Parfums, […].“268 Für das Gelage jedoch verlässt man die Stadt und begibt sich auf die elysischen Felder. Einer von Wald umgebenen wunderschönen Wiese. Dort spenden die Bäume den Schlemmenden Schatten und Blumenteppiche dienen ihnen als Sitzgelegenheiten. Unverkennbar spielt die Jahreszeit für die atmosphärische Wirkung des Elysiums eine gewichtige Rolle. Die Insulaner leben in immerwährendem Frühling.269 Um wen handelt es sich nun aber bei den Bewohnern der Insel? Wen hat Lukian zur Teilnahme an diesem Gelage auserkoren? Alle Halbgötter seien anwesend ebenso wie die großen Streiter der Griechen. Aber auch einige Barbaren, Perser, Skythen, Thraker hat Lukian nicht aus dem Elysium ausgeschlossen. Ferner seien anwesend auch die Weisen, Homer und Nestor, Sokrates und Diogenes von Sinope.270 Geschlossen sind die Reihen der Weisen indes nicht. Platon habe sich mit den Seinen in die von ihm erdichtete Stadt zurückgezogen. Auch die Stoiker fehlten. Nehme sie doch noch immer der „Anstieg zur steilen Höhe der Tugend“ in Beschlag. Und auch die Akademiker seien gänzlich abwesend. Zwar wollten sie kommen, doch hielten sie „noch an sich und dächten weiter nach; denn sie könnten noch nicht einmal erfassen, ob es eine solche Insel gäbe.“271 An ernsthafter Auseinandersetzung mit den genannten Motiven mangelt es, ob nur vordergründig oder nicht sei dahingestellt, auch bei Aristophanes.272 Für Lukian waren die in Aristophanes’ Fröschen thematisierte Unterweltsreise des Dionysos, wie auch die stereotype Darstellung der Philosophen in den 268  Lukian: Wahre Geschichten. S. 383. Zur Darstellung der Stadt Eaton: Die ideale Stadt. S. 24. Vgl. bzgl. der kostbaren Baumaterialien die Parallele zur Schilderung des himmlischen Jerusalems Helm: Lukianos. Sp. 1763. Betz: Lukian von Samosata und das Neue Testament. S. 95. 269  Lukian: Wahre Geschichte. S. 385. 270  Lukian: Wahre Geschichten. S. 387-389. 271  Lukian: Wahre Geschichten. S. 389. Zum ewigwährenden Symposium der Philosophen bei Lukian Nesselrath: Lukian. S. 51-52. 272  Bezüglich eines ernstgemeinten Hintersinnes in der Figur des Sokrates in Die Wolken siehe Holzberg: Aristophanes. S. 107-109. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. 236. Seel: Nachwort. S. 125-130.

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Wolken wichtige von ihm rezipierte Quellen.273 Um den Stammbaum von Dantes nobile castello nachzuzeichnen, erweisen sich die Werke des attischen Komödiendichters aber nicht allein wegen ihres Einflusses auf Lukian, sondern noch aus weiteren Gründen als nennenswerte Texte. So ist das von Dante genutzte Motiv des nobile castello bereits in Aristophanes’ Formulierung der „schöne[n] Burg ruhmvoller Weisheit“ zu erahnen.274 Ferner findet ebenso das bei Lukian, Vergil und schließlich Dante genutzte Bild der blühenden Wiese als Sammlungsort der Wissenden bei Aristophanes eine Entsprechung. Aus Gram ob der darniederliegenden Tragödie bricht Dionysos von seinem Sklaven Xanthias begleitet in den Fröschen ins Jenseits auf, um dort den unlängst verstorbenen Euripides zu finden. Der Gott des Theaters sehnt sich nach einem „tüchtigen Dichter. Denn […] die, die sind, sind schlecht.“275 Es folgen die in einem Werk des Aristophanes zu erwartenden komödiantischen Irrungen und Wirrungen, ehe die Beiden einen für sie gangbaren Weg in die Unterwelt gefunden haben. Im Hades angelangt, werden die Protagonisten dann auf einer blumigen Wiese der Schar der in die Eleusinischen Mysterien Eingeweihten gewahr,276 hinter deren Auftritt ein doppelter Sinn vermutet werden darf. Eng verbunden sind die Mysterien von Eleusis mit Demeter und ihrer Tochter Persephone. Unweigerlich erinnern sie die Zuschauer der Frösche damit auch an Hades’ Raub der Persephone sowie Demeters Gang in die Unterwelt, um ihre Tochter zu befreien. Der übergeordnete Handlungsstrang der Komödie, die Unterweltsreise des Dionysus mit dem Ziel, Euripides zurück in die Welt der Lebenden zu holen, spiegelt sich somit im Verweis auf die Mythologie wider.277 Darüber hinaus scheint es allerdings auch möglich, dass der Auftritt 273   Holtermann: Aristophanes. Sp. 94. Robinson: Lucian and his influence in Europe. S. 9-10. Ein direkter Einfluss Aristophanes’ auf Dante ist hingegen auszuschließen, da dem lateinischen Mittelalter, anders als dem byzantinischen Raum, die Komödien des Aristophanes nicht zugänglich waren (Holtermann: Aristophanes. Sp. 94-95). 274  Aristophanes: Die Wolken. S. 65. 275  Aristophanes: Die Frösche. S. 10. 276  Aristophanes: Die Frösche. S. 21-23. 277  Holzberg: Aristophanes. S. 179. Aristophanes, Lukian und Vergil konnten für das Motiv der Unterweltreise wiederum auf den Bericht der Hades-Fahrt des Odysseus im elften Buch der Odyssee zurückgreifen, der sich seinerseits auf die nochmals ältere Überlieferung der Unterweltsreise aus dem Gilgamesch-Epos stützen konnte (vgl. das XI. Buch der Odyssee. Maul (Hrsg.): Das Gilgamesch-Epos. IX,171-XI,300 S. 123-151. Zur Bedeutung des Gilgamesch-Epos für die homerischen Epen Ungnad: Gilgamesch-Epos und Odyssee. S. 137. West: The East Face of Helicon. S. 334-437. Schrott: Homers Heimat. S. 138-139 und 175-181. Steymans: Gilgameš im Westen. S. 328-334). Daneben seien aber auch die aus der antiken Mythologie bekannten Jenseitsfahrten erwähnt. Etwa jene im Zusammenhang mit den Heldentaten des Herakles, dem Raub der Persephone oder der Geschichte von Orpheus und Eurydike (Etwa Ovid: Metamorphosen. V,391-406 S. 331; X,1-105 S. 663-671.

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der Eingeweihten noch eine weitere Aussage vermitteln sollte. „Sie [die Eingeweihten] besingen jedenfalls den Iakchos, den Diagoras besang.“278 Niklas Holzberg mutmaßt, dass mit der Nennung des Philosophen Diagoras von Melos als Komponisten „Aristophanes vielleicht bezweckt, dass man seinen Hymnos nicht als Profanisierung der Mysterien, sondern als Diagoras-Parodie begriff.“279 Derart verstanden würde es sich bei den Eingeweihten nicht um jene handeln, die um die Mysterien von Eleusis wissen, sondern um die AnVergil: Georgica. IV,281-566 S. 193-209). Einmal begonnen, lässt sich die Aufzählung mühelos erweitern. Plutarchs Jenseitsmythos in De latenter vivendo, in dem auf die Frommen eine blütenbedeckte Ebene mit schattigen Bäumen und ruhigen Flüssen wartet, während die Frevler in einen düsteren Abgrund gestoßen werden, ist ebenso zu nennen wie Platons Mythos des Er am Ende der Politeia (Plutarch: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? 130C-D, S. 59. Zu Plutarchs Ort der Frommen vgl. Heininger: Der „Ort der Frommen“. insbesondere S. 140-141 und 154-155 bezüglich der Übernahmen Plutarchs von Pindar und den Parallelen Plutarchs zum 1. Clemensbrief. Platon: Der Staat (Politeia). X,13-16, 614b-621d, S. 459-467). Von hier führt der Weg über Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis wieder zurück zu Dante. Wenn auch nicht dergestalt, dass Macrobius all die bei Dante aufgeführten Elemente – die Festung der Philosophie, die grüne Wiese, die Versammlung der Dichter und Denker – auch aufgreift. Aber das Motiv, den Seelen der Verstorbenen einen ihren Verdiensten oder Vergehen angemessenen Aufenthaltsort im Jenseits zuzuweisen, ist bei Macrobius sowohl in seiner Behandlung Ciceros (Macrobius: Commentarii in somnium Scipionis. I,8 S. 2) als auch der vorangehenden Interpretation Platons präsent (ebd.: I,5 S. 2). Schließlich sind noch zwei weitere mögliche Quellenstränge für das Werk Dante Alighieris zu erwähnen. Zum einen die in der Legenda aurea hinterlegte Erzählung von Christus in der Vorhölle, die insbesondere durch die Verortung derer in der Vorhölle, die vor der Geburt Christi starben, Parallelen zu Dantes Konstruktion des Limbus aufweist (Voraigne: Die Legenda aurea. S. 280-284). Zum anderen wurden wiederholt islamische Quellen als möglicher Bezugspunkt für Dante von der Forschung aufgeführt. Diskutiert wurde etwa das anonym verfasste Kitāb al-Miʾrādsch, in dem der Erzengel Gabriel den Propheten Mohammed durch die Welten des Jenseits führt, die sieben Himmel, das Paradies und die Hölle. Das Sendschreiben über die Vergebung von Abū l-ʿAlāʾ al-Maʿarrī hingegen ist, obgleich es inhaltliche Parallelen zu Dantes Commedia aufweist, aufgrund seiner geringen Verbreitung als Quelle dennoch auszuschließen. Ebenso verhält es sich mit dem Futūhāt des Ibn ʿArabī (Schoeler: Einleitung. S. 32-33. Kremers: Islamische Einflüsse auf Dantes ‚Göttliche Komödie‘. S. 206208. Strohmeier: Die angeblichen und die wirklichen orientalischen Quellen der „Divina Commedia“. S. 185. Strohmeier: Von Demokrit bis Dante. S. 473-474). Zu weiteren Vorwegnahmen der Jenseitsreise Dantes schließlich auch Eco: Die Geschichte der legendären Länder und Städte. S. 153-154. 278  Aristophanes: Die Frösche. S. 22. 279  Holzberg: Anmerkungen. Anm. 59, S. 81. Will: Der Untergang von Melos. S. 69. Nicht wenigen galt Diagoras als Repräsentant einer den Göttern gegenüber skeptisch eingestellten, gar atheistischen Philosophie (vgl. Aristophanes: Die Vögel. 1074-1075, S. 55. Lysias: Reden. VI,17, S. 69. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. VI,59, S. 324. Cicero: Vom Wesen der Götter. I,2, S. 9; I,117, S. 133). Noch Cicero meinte über ihn festhalten zu können: „Und hat nicht Diagoras, den man den ‚Atheisten‘

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hängerschaft des Diagoras und seiner Lehren. Das Motiv der Philosophenversammlung auf blühender Wiese wäre demnach in Ansätzen auch bei Aristophanes vorgezeichnet. Aus dem Gemenge dieser Vielzahl potentieller Quellen konnte Dante schöpfen. Kehren wir also zu Dante, dem nobile castello und der Philosophenversammlung im Limbus zurück. Dantes Bollwerk hat, wie sollte es bei einem solchen „notorisch der Kommentierung bedürftigen Großgedicht“ auch anders sein,280 in der Forschung bereits diverse Deutungen erfahren. Das nobile castello müsse man als ein Symbol des Ruhmes ansehen. Nein, nein! Mit seinen sieben Mauern und sieben Toren sei es als Allegorie der Kardinaltugenden zu verstehen. Auch hier ertönt ein Einspruch. Viel sinnvoller erscheine es nämlich in ihnen die sieben Teile der Philosophie zu vermuten. Keineswegs! Dante spiele mit ihm auf die sieben freien Künste an. Oder denkt er es womöglich als ein Symbol der Weisheit?281 Eine Deutung jagt die andere. Und beileibe nicht alle können einen wirklich befriedigenden Lösungsansatz anbieten. Ohne nun all die Interpretationen im Einzelnen kommentieren zu wollen, soll doch nicht verhehlt werden, dass manche der genannten Ansätze Schwächen aufweisen. Was haben zum Beispiel die sieben Kardinaltugenden, insbesondere natürlich die drei christlich gefärbten Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung, in der Hölle verloren?282 Lautet der letzte Vers der Inschrift über dem Höllentor nicht: „Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten“? (Lasciate ogni speranza, voi ch’ entrate)283 Wieso also sollte man der bereits hinter sich gelassenen Tugend abermals begegnen? Wären die Kardinaltugenden somit im Purgatorio oder

genannt hat, und nach ihm ganz offen Theodoros mit der Existenz von Göttern aufgeräumt?“ (Cicero: Vom Wesen der Götter. I,63, S. 73) 280  Schwarz: Giotto. S. 7. 281  Für die diversen Deutungen dieser Passage siehe den Abriss bei Baehr: Anmerkungen. S. 402. Dante Alighieri: La Commedia. Anm. zu Inf. IV,106, S. 65. Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. (Barth) Bd. 2. S. 73-74. Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. (Gmelin) Bd. IV. S. 92-94. Tozer: An English Commentary on Dante’s Commedia. S. 22-23. 282  Mit der Hölle verbunden werden kann bei Dante hingegen die Gerechtigkeit. Siehe die Inschrift auf dem Höllentor: „Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer“ (Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. III,4, S. 14). Hier erhält ein jeder die ihm gebührende Strafe. Dem Aufbau der Jenseitsreiche gleicht Gertrud von le Forts Diktum: „Mein Sohn, Gerechtigkeit ist nur in der Hölle; im Himmel ist Gnade, und auf Erden ist das Kreuz.“ (le Fort: Der Papst aus dem Ghetto. S. 153) 283  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. III,9 S. 14. Dante Alighieri: La Commedia. Inf. III,9, S. 42. Auf die missliche Übertragung des italienischen „voi ch’ entrate“ ins Deutsche hat zuletzt Hartmut Köhler in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung der Commedia aufmerksam gemacht (Dante Alighieri: La Commedia. Anmerkung zu Inf. III,9, S. 43).

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Paradiso nicht besser aufgehoben?284 Auch der Glaube ist in der Hölle offenkundig fehl am Platze. Als Rechtgläubiger ist man frei von Sünde, weshalb es für eine Platzierung in der Hölle keinen Anlass gibt. Jene Deutungen hingegen, die in der Festung einen Ausdruck der Philosophie, der sieben freien Künste, generell der Wissenschaft sehen, wirken schon deshalb überzeugender, weil Dante unmittelbar, nachdem er sie passiert hat, auf die Versammlung der Philosophen trifft. Insbesondere wenn man in der Festung ein Symbol für das Trivium und Quadrivium der artes liberales deutet, sie mithin als zu durchlaufendes Propädeutikum auffasst, bleiben das nobile castello und das anschließende Treffen mit den Philosophen miteinander verbunden. Zunächst einmal gilt es, die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens zu beherrschen, ehe man in den „Kreis von Philosophen“ um den „Meister derer, die da Wissen“ einzutreten vermag. Auch spricht für diese Deutung, dass sich die angeführte Passage der Commedia in eine lange Tradition einreihen lässt. Die Burg war in diesem Sinne schließlich auch zuvor in der Schilderung von Paris als Symbol der Philosophie genutzt worden. Und eine derartige Verwendungsweise lässt sich auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder aufzeigen. Etwa in der Tabula Militiae Scholasticae überschriebenen Darstellung, die dem von Melchior Junius und Michael Bosch verfassten Werk Actus tres Academiae Reipublicae Argentoratensis beigegeben ist (Abb. 26). Fest umschlossen von zwei Mauern ist die Festung der Athene (Arx Palladis). Ein Durchlass ist nicht zu erkennen. Doch in ihrem Inneren wartet die Personifikation des Ruhmes (Gloria), thronend zwischen den drei Türmen der Jurisprudenz, Medizin und Theologie, auf diejenigen, die sowohl die Mauer des Bakkalaureats erklommen haben als auch vor der des Magistrats nicht zurückwichen. Doch Vorsicht ist geboten. Unkenntnis (Ignorantia), Ehrfurcht (Metus), Stumpfsinn (Stupor), Trägheit (Ignavia), Vergnügen (Voluptas), Hochmut (Arrogans) und Furchtsamkeit (Timiditas) haben ihr Feldlager bereits vor den Mauern aufgeschlagen und warten nur darauf, die Lernwilligen zu sich zu locken, wo sich die vom Weg Abgekommenen den übrigen Opfern dieser Laster zugesellen. Den Weg über die Mauern hinweg zu Füßen des thronenden Ruhmes ermöglicht eine Treppe, deren ersten Stufen, man erkennt es kaum, mit den Disziplinen des Trivium beschrieben sind. Grammatik, Dialektik und 284  Glaube, Liebe und Hoffnung findet man auch in einer zweiten großen allegorischen Darstellung: in Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus in Sienas Palazzo Publico. Wie Dante nutzt auch Lorenzetti diese drei Tugenden nicht für die Darstellung seiner Allegorie des mal governo, sondern für die des buon governo (Meoni: Utopia and Reality in Ambrogio Lorenzetti’s good government. S. 18. Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 10-11).

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Rhetorik.285 Steigt man den von ihnen vorgegebenen Weg hinauf, so die Aussage, die das Bild dem Betrachter zu vermitteln wünscht, sind die Hürden des Bakkalaureats wie auch des Magistrats zu meistern. Variationen dieser Bildthematik lassen sich ferner bei Gregor Reisch und, sofern man dieser Interpretation zustimmt, auch bei Albrecht Dürer aufzeigen. In Reischs enzyklopädischem Werk Margarita Philosophica wird unter dem Titel Typus Grammaticae ein Holzschnitt gezeigt, der, wie Dante und wie die Tabula Militiae Scholasticae, die Bedeutung des Studiums der artes liberales für die Philosophie hervorhebt, indem er den Aufbau des universitären Curriculum visualisiert (Abb. 27).286 Einer streng hierarchischen Ordnung folgend zeigt auch diese Darstellung den mit dem Studium der Grammatik beginnenden Aufstieg zu höherer Bildung. In einer nur angedeuteten Stadt, mehrere Häuser und der Zinnenkranz der Stadtmauer, der sich hinter den Häuserdächern abzeichnet, sind zu erkennen, erhebt sich ein massiver mehrgeschossiger Turm in die Höhe. An der Pforte des Turmes wartet eine übergroße Frauengestalt, Nikostrate, die Erfinderin der lateinischen Schrift.287 Eine Tafel mit dem lateinischen Alphabet in der rechten, einen Schlüssel in der linken Hand, bereitet die Figur der Nikostrate einem Eleven, der sich vom Bildrand kommend anschickt, das Triclinium Philosophiae zu betreten, den Weg in den Turm. Dort, ebenerdig und im ersten Stockwerk, kann man einen Blick in die Lehrräume des Aelius Donatus und des Priscianus erhaschen, die den Lernenden die Grundlagen der Grammatik vermitteln. In den beiden darüber liegenden Etagen haben die übrigen sechs artes liberales ihr Quartier bezogen. Die Logik, durch Aristoteles repräsentiert, Rhetorik und Poesie, von Cicero vertreten, die Arithmetik, die in Boethius ihren Mittelsmann gefunden hat, sowie Musik, Geometrie und Astronomie, dargestellt durch Pythagoras, Euklid und Ptolemäus. Abgeschlossen wird der Turm von der Naturphilosophie, die abermals durch Aristoteles, den Philosophen, vertreten wird, und der Moralphilosophie, welche in Seneca ihre Leitfigur fand.288 Auf des Turmes Spitze 285  Als Stufenleiter bezeichnet wurden die artes schon bei Alkuin: Didascalica. PL 101, 853-854. 286  Büttner: Die Illustrationen der Margarita Philosophica des Gregor Reisch. S. 275-276. Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Urheber der Holzschnitte in der Margarita Philosophica konnte die Forschung bislang noch nicht erbringen (Büttner: Die Illustrationen der Margarita Philosophica des Gregor Reisch. S. 271). 287  Siegel: Architektur des Wissens. S. 355. Bahlmann/Moulin: Michael Wolgemut (1434-1519) (?) – Typus Grammaticae. S. 164. Zu Nikostrate als Erfindern der lateinischen Schrift Isidor von Sevilla: Etymologiarum libri XX. PL 82, 77. 288  Auch bei Dante war Seneca Inbegriff der Moralphilosophie. In der Commedia wird er vorgestellt als „Seneca, den Denker der Moral“ (Seneca morale) (Dante Alghieri: La Commedia. Inf. IV,141, S. 69). Gmelin übersetzt die entsprechende Passage unglücklich

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aber erheben sich über allen anderen Disziplinen Theologie und Metaphysik, personifiziert durch die Figur des Petrus Lombardus.289 Nun hat man es in Reischs Werk zwar nicht mit einer Festung wie in der Tabula Militiae Scholasticae oder Dantes Commedia zu tun, doch ist auch dem Turm im Typus Grammaticae der Charakter eines Bollwerks inhärent. Auch wenn er in den urbanen Raum eingebettet ist, handelt es sich bei ihm nicht um ein offenes Bauwerk. Von der Außenwelt bleibt er merklich abgeschottet. Ohne die Schlüsselgewalt der Grammatik ist der Turm nicht zugänglich und bleibt all jenen, denen die Grammatik nicht hold ist, verschlossen.290 Auch in der Tabula Militiae Scholasticae war die Grammatik in diesem Sinne eingeführt worden. Schließlich ist sie dort die erste Stufe auf jener Treppe, die über die Mauern der Arx Palladis hinwegführt. Und auch bei Dante galt es, erst die als Metaphern der artes liberales, mithin auch der Grammatik, zu verstehenden sieben Tore der siebenfach ummauerten Festung zu durchqueren, ehe man sich der Philosophenversammlung im Limbus zugesellen konnte.291 Eine zweite Spielart der genannten Bildthematik meinte man, wie erwähnt, bei Albrecht Dürer vorgefunden zu haben. Tief in Gedanken versunken, den finsteren Blick ziellos in die Ferne gerichtet, sitzt in Dürers Kupferstich Melencolia, I eine geflügelte Frauengestalt auf dem Sockel eines den Bildhintergrund dominierenden Bauwerks (Abb. 28). Verglichen mit der nur schwer zu überblickenden Zahl an Abgebildetem ist der Stich zum Gegenstand einer nicht minder großen Zahl an Deutungen geworden, wobei die grundlegende Thematik, eine Auseinandersetzung mit dem Gemütszustand der Melancholie, unstrittig ist.292 Für den hier behandelten Gedanken vorrangig von Bedeutung mit „Seneca, den Weisen“ (Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. IV,141, S. 21). 289  Siegel: Architektur des Wissens. S. 356-357. 290  Bahlmann/Dreyer: Wissensarchitekturen oder der Aufstieg zur Weisheit. S. 12-13. Moulin: Grammatik im Bild – Bilder der Grammatik. S. 25-28. 291  Überdies weisen der Turm bei Gregor Reisch einerseits und bildliche Umsetzungen von Dantes nobile castello andererseits gewisse stilistische Parallelen auf. Beispielsweise hat Nardo di Cione in seinem Fresko der Höllenkreise nach Dante in der Strozzi-Kapelle in Santa Maria Novella das nobile castello einem sich nach oben hin verjüngenden mehrgeschossigen Turm gleich dargestellt. Obgleich man diese Parallelen natürlich nicht für jedwede bildliche Umsetzung der Commedia konstatieren kann. Nicht einmal für zeitgenössische Darstellungen gilt dies uneingeschränkt. Hiervon abweichend zum Beispiel Sandro Botticellis Darstellung der Festung in seiner Zeichnung des Höllentrichters nach Dante. 292  Eichler: Albrecht Dürer. S. 96. Hoffmann: Dürers „Melancolia“. S. 254. Rebel: Albrecht Dürer. S. 275-276. Wandhoff: swaz fliuzet oder fliuget oder bein zer erde biuget. S. 235. Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers. S. 204-206. Sowie noch immer grundlegend: Klibansky/ Panofsky/Saxl: Saturn und Melancholie. S. 406-448. Darüber hinaus ist der Interpretation

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sind aber die architektonischen Elemente des Werkes, anhand derer sich wenigstens drei Parallelen zum Typus Grammaticae aufzeigen lassen. Erstens ist auf das Bauwerk im Rücken der Hauptfigur aufmerksam zu machen. Ein Turm ohne erkennbaren Eingang, der von Teilen der Forschung als Bastion der Erkenntnis, als symbolischer Ausdruck des Wissens gedeutet wurde.293 Eine ins Positive gewendete Interpretation des Turmmotivs, das so lange Zeit überdeckt worden war durch das biblische Verdikt des mit dem Turmbau zu Babel verbundenen menschlichen Wissensdurstes.294 Dürers Turm erhält damit eine vergleichbare Bedeutung wie der auf dem Fundament der Grammatik erbaute Turm der artes liberales bei Gregor Reisch, der schließlich in den Disziplinen der Theologie und Metaphysik gipfelt, aber auch wie die Türme der Theologie, Jurisprudenz und Medizin in der Tabula Militiae Scholasticae. Zweitens ist die jedoch Tür und Tor geöffnet. Konrad Hoffmann etwa sieht in der Grübelnden auch eine Bezugnahme auf die Architektur. Schließlich sei der Zirkel, den sie in ihrer Rechten halte, Erkennungszeichen des Baumeisters (Hoffmann: Dürers „Melancolia“. S. 262). Und natürlich ließen sich die abgebildeten Nägel, der Hobel, die Säge und der Hammer auch als weitere Hinweise auf diese ars mechanicae verstehen. Für Anja Eichler hingegen sei in der Melencolia I weniger eine Anspielung auf die Architektur zu sehen, als eine Visualisierung der generellen wissenschaftlichen Prinzipien von Maß, Zahl und Gewicht (Eichler: Albrecht Dürer. S. 96). Die Bedeutung des Bauhandwerks für den Stich negiert Eichler dabei keineswegs, verweist aber darauf, dass das Bauhandwerk eingebunden sei in eine Darstellung, die auch typische Gerätschaften der Metall- und Holzbearbeitung abbilde, ohne dass darin gleich ein architektonischer Bezug erkannt werden müsse (ebd. S. 96). In einer früheren Beschäftigung mit der Melencolia I hatte Eichler allerdings noch dafür votiert, in der Vielfalt der dargestellten Gerätschaften vornehmlich eine bildliche Umsetzung der Geometrie zu sehen (Eichler: Melancolia I. S. 30). In diesem Sinne hatten sich zuvor auch schon Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl in ihrer klassischen Studie Saturn und Melancholie geäußert. Für sie ging Dürers Melencolia I aus Darstellungen der artes liberales hervor, insbesondere solcher der Geometrie (Klibansky/ Panofsky/Saxl: Saturn und Melancholie. S. 435-436). Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sei dabei der Typus Geometriae aus der zweiten Ausgabe von Gregor Reischs Margarita Philosophica, in dem die von Dürer verwendeten Elemente des Bauhandwerks ebenfalls abgebildet, jedoch dem Primat der Geometrie unterworfen wurde – handele es sich bei ihnen doch schließlich nur um die praktische Umsetzung der theoretischen Entdeckungen der Geometrie (ebd. S. 442-443). Gegen all diese Deutungen meint Heinrich Wölfflin letztlich einwenden zu können, dass es sich bei der dichtgedrängten Vielzahl abgebildeter Gerätschaften zwar um Werkzeuge der Kultur handele, man in ihnen aber beileibe keine Metapher für die artes oder auch nur eine ars sehen könne gleichgültig, ob es sich dabei um die artes liberales oder die artes mechanicae handele (Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers. S. 208). 293  Hoffmann: Dürers „Melancolia“. S. 264. Rebel: Albrecht Dürer. S. 291-292. 294  Hofmann: Dürers „Melancolia“. S. 64 verweist auf die sich bei Leon Batista Alberti verändernde Bewertung des Babylonischen Turmes, die Dürer bekannt gewesen sei. Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. VIII,5 S. 430-431.

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an der Rückwand des Turmes lehnende Leiter zu nennen, die allein den Zutritt zu ihm ermöglicht. Die Kombination aus der melancholisch gestimmten Nachsinnenden, dem Turm und der Leiter ist dahin verstanden worden, dass mit der Leiter der schrittweise Aufstieg zur Erkenntnis zum Ausdruck gebracht werden solle.295 Somit kann die Leiter als Äquivalent zur hierarchischen Anordnung der Disziplinen in den einzelnen Stockwerken des im Typus Grammaticae dargestellten Turmes gelesen werden. Der allmähliche Aufstieg zu höherer Bildung und Erkenntnis ist dort ebenso präsent. Zugleich ermöglicht diese Deutung der Leiter die Bezugnahme zur Bedeutung der Treppe in der Tabula Militiae Scholasticae. Schließlich ist drittens zu erwähnen, dass ebenso wie im Typus Grammaticae auch der Turm bei Dürer in eine städtische Umgebung eingefügt wird. Durch die sich am Horizont abzeichnende Stadt, deren Gebäude man zwischen den Sprossen der Leiter noch wahrnimmt, wird dies zumindest angedeutet. Allerdings hat gegen diese Lesart jüngst Martin Büchsel überzeugend argumentiert, dass man in dem zu erkennenden Bauwerk mitnichten den Turm der Weisheit zu erblicken habe. Hierbei handele es sich um eine reine Hypothese, nicht mehr. Architektonisch lasse sich das Gebäude nicht näher bestimmen. Ob es sich somit um den Turm der Weisheit handele, ob es sich überhaupt um einen Turm handele, könne nicht mit Gewissheit geklärt werden.296 Auch das Motiv, Gewissheit im Erkenntnisfortschritt zu erlangen, müsse in Frage gestellt werden. Die Figur, gleichwohl sie geflügelt ist und es ihr somit ein leichtes wäre, der sie einengenden Szenerie zu entweichen, verharre an jenem überfüllten Ort. Von ihrer Warte aus, wachse ihr das Bauwerk buchstäblich über den Kopf.297 Nach wie vor gibt Dürers Werk seinem Betrachter also Rätsel auf. Um die Erzählung über die Stadt als den Raum des Denkens in diesem Kapitel zu einem Ende zu bringen, sollen abschließend noch zwei Repräsentanten des ausklingenden Mittelalters vorgestellt werden, für die der Denkprozess ebenfalls mit dem urbanen Raum verbunden ist. Ambrogio Lorenzetti und sein Freskenzyklus in Sienas Palazzo Pubblico einerseits und Nikolaus von Kues mit seiner Schrift Idiota de sapientia andererseits. Trotz der immer wieder aufs Neue faszinierenden Wirkung der Fresken, wird es im Folgenden nicht darum 295  Rebel: Albrecht Dürer. S. 291-292. Ein Motiv, das der Kunstgeschichte nicht fremd ist und derart etwa in der Darstellung der Philosophie in der Fassade der Kathedrale von Laon abermals begegnet (Chenu: Thomas von Aquin. S. 56). Gerade in einem christlich geprägten Umfeld ist natürlich auch auf die Nähe zum Verständnis der Jakobsleiter hinzuweisen (Mayer-Tasch/Mayerhofer: Die Himmelsleiter. S. 34-58). 296  Büchsel: Albrecht Dürers Stich Melencolia, I. S. 75-76. 297  Büchsel: Albrecht Dürers Stich Melencolia, I. S. 59-60.

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gehen, die Vielfalt des von Lorenzetti Dargestellten in Gänze zu präsentieren und mit den Interpretationen der Forschung zu diskutieren. Zu detailreich ist Lorenzettis Werk, zu zahlreich inzwischen die vorliegenden Ergebnisse der Forschung.298 Nur auf ein Detail, auf mehr soll die Aufmerksamkeit nicht gerichtet werden. In jenem Teil der Fresken, der die Wirkungen der guten Regierung auf die Stadt thematisiert, ist unter der Vielzahl der Personen, Tieren und Ereignisse eine Szenerie erkennbar, die für die Analyse der hier behandelten Fragestellung herangezogen werden kann. In einer Halle am linken Bildrand, vielleicht einer Taverne, sind zwei Männer in eine Diskussion vertieft. Ob man sie bereits als politisch Denkende werten kann, gar soll, muss fraglich bleiben. Die beiden sind nicht näher bestimmt. Auch die unmittelbar vor ihnen platzierte Gruppe hilft nicht weiter. Das an einem Tisch sitzende Dreigespann ist versunken in ein Schriftstück, womöglich auch nur in ein Spiel.299 Genaues ist nicht erkennbar, denn just an der Stelle, an der sich die Tischplatte befand, klafft ein Loch, ist ein Teil im Fresko zerstört. So oder so wird es sich bei dieser Szene noch nicht um eine Tätigkeit handeln, die eine politische Aussage jenseits der Schilderung des harmonischen Lebens unter einer guten Regierung intendiert. Folgt man dem städtischen Treiben aber weiter, passiert man die Gruppe der Tanzenden auf der Piazza300 und lässt man die Auslage des Schumachers links liegen, so blickt man in den zur Piazza ausgerichteten Unterrichtsraum eines Magisters (Abb. 29). Als zumindest vorläufig belanglos erweist sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern es sich hierbei um eine realitätsnahe 298  Eine der charmantesten Bearbeitungen zur Folge hatte ein Detail in den auf der Südwand abgebildeten Folgen der guten Regierung für das Land. Dort ist in unmittelbarer Nähe zum Stadttor ein Cinta Senese zu sehen, eine in der Toskana beliebte Schweinerasse. Mit seinem Besitzer erreicht es gerade die Stadt. Just dieses Schwein hat es zum Protagonisten seines eigenen Buches gebracht: Howard: Die Toskana steht Kopf. 299  Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 19. Meoni: Utopia and Reality in Ambrogio Lorenzetti’s good government. S. 36. Quentin Skinner sieht in dieser Episode, sowie generell im linken Teil des Stadtpanoramas, primär eine Visualisierung des Privatlebens (otium), während das politisch-geschäftliche Leben (negotium) vornehmlich im rechten Teil des Fresko thematisiert werde (Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 98-99). 300  Sind es Männer oder Frauen? Schon allein die Frage der Geschlechtszuordnung bereitet einige Probleme – und die eigentliche Bedeutung der Tänzer ist damit noch gar nicht angesprochen. Feldges-Henning: The pictorial programme of the Sala della Pace. S. 147 sieht sie als Frauen. Ebenso Hofmann: Bilder des Friedens oder die vergessene Gerechtigkeit. S. 28. Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 106-109 hingegen spricht von Männern. Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 18 erkennt Mädchen wie Jünglinge. Und Meoni: Utopia and Reality in Ambrogio Lorenzetti’s good government. S. 37 wählt die geschlechtsneutrale Formulierung Tänzer.

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Abbildung der Unterrichtsräume im Siena des 14. Jahrhunderts handelt oder ob der zur Piazza hin geöffnete Raum lediglich der Notwendigkeit geschuldet ist, auch diesen Betrieb innerhalb der Stadtmauern für den Betrachter sichtbar werden zu lassen. Zu erkennen ist ein in rote Gewänder gehüllter, auf einem Katheder sitzender Mann. Vor und neben ihm das Auditorium, bestehend aus wenigstens drei Reihen von Sitzgelegenheiten, zwei in Front des Dozierenden und eine zu seiner Linken. Zu ihm aufblickend lauschen die Schüler gebannt den Ausführungen ihres Magisters.301 Mit der Abbildung dieser kleinen Episode innerhalb des von ihm erschaffenen Werks gelingt es Lorenzetti, den Betrachter auf die Bedeutung der Stadt als Raum des Denkens hinzuweisen. Nur in ihr und nur in einer gut regierten Stadt könne das Denken eine Heimat finden. Das von den Gehöften der Bauern dominierte Land wird mit keinen Attributen oder Institutionen versehen, die eine vergleichbare Wirkung auf das Denken entfalten. Und erst recht kann in der schlecht regierten Stadt kein Lehrbetrieb aufrechterhalten werden, wie er unter dem buon governo noch möglich ist.302 Lorenzettis Werk erweist sich damit als ein in diesem Zusammenhang zumindest zweidimensionales. Auf der einen Seite stellt das Fresko unübersehbar den Bezug zu Siena her. Über den Dächern der Häuser zeichnen sich die Kuppel und der mit schwarz-weißem Marmor verkleidete Campanile des Sieneser Domes ab. Der Übergang der città zum contado erfolgt über die Porta Romana, und die Feste Talamone behütet das Land jenseits der Stadtmauern.303 Insofern ist es eine Darstellung alltäglich erfahrbarer Lebenswelt der Einwohner Sienas. Doch zugleich handelt es sich auch um eine Darstellung, die über die Bezugnahme auf Siena hinausreicht. Schließlich begnügt sich Ambrogio Lorenzetti nicht damit, in seinem Freskenzyklus lediglich eine 301  Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 19-20 und Meoni: Utopia and Reality in Ambrogio Lorenzetti’s good government. S. 36 sehen hier das Unterrichtsgeschehen eines nicht näher kenntlich gemachten Lehrers abgebildet. Dagegen macht sich Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 98 die Meinung von FeldgesHenning: The pictorial programme of the Sala della Pace. S. 153-154 zu eigen, die, aufgrund der roten Tracht des Lehrenden, im Dargestellten einen Professor des Zivilrechts oder auch der Medizin erkennen will. Kempers: Gesetz und Kunst. S. 75 schließlich neigt der Identifikation des Lehrers mit einem Juristen zu. 302  Wie bei allen Überlegungen zur schlechten Regierung und deren Auswirkungen auf Stadt und Land gilt aber auch hier die Einschränkung, dass das entsprechende Fresko über die Jahrhunderte stark in Mitleidenschaft gezogen worden ist, weswegen seine Aussagen nicht in Gänze nachvollzogen werden können. 303  Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 17-18. Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 98. Meoni: Utopia and Reality in Ambrogio Lorenzetti’s good government. S. 11.

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Nacherzählung der Gegebenheiten in Siena abzuliefern, sondern zeige auch die idealisierte Form einer Stadt, die wie Uta Feldges-Henning betont, der Vorstellung vom himmlischen Jerusalem nahestehe und sich von der im mal governo umgesetzten Abbildung des höllischen Babylon distanziere.304 Mit dem Bezug zu Motiven wie dem himmlischen Jerusalem, dem Sündenbabel und generell der Stadt als Raum des Denkens erweisen sich die Fresken Lorenzettis auch als gemaltes Dementi zu der Position, die im vorherigen Kapitel durch Bernhard von Clairvaux vertreten wurde. Die Vorstellung, dass eine irdische Manifestation des himmlischen Jerusalems einzig in den Klöstern, vornehmlich jenen des Zisterzienserordens, gefunden werden könne, vor allem aber die harsche Reaktion Bernhards auf die in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt ausgelebte Diskussionsfreude der Pariser Studenten, lässt sich mit Lorenzettis Werk nicht vereinen. Ganz im Gegenteil wird die Piazza zum eigentlichen Zentrum der politischen Allegorie Lorenzettis. Sie, nicht etwa die Figur der göttlichen Weisheit, ist, wie zuletzt Quentin Skinner herausarbeitete, die Quelle des Lichts innerhalb der Darstellung der Effekte einer guten Regierung auf die Stadt. Ihr Licht übt die erhellende Wirkung auf die Bewohner der Stadt aus.305 Erkenntnis wird damit nicht ursächlich durch göttliche Eingebung bewirkt, sondern fußt auf dem Zusammenkommen und Miteinander-Reden auf der Piazza. Die Öffnung des Unterrichtsraumes erhält somit mehr als nur eine optische Begründung. Sie soll mehr leisten, als das Lehrgeschehen sichtbar zu machen. Nicht allein dem Blick des Betrachters ist der ungehinderte Zugang in den Raum zu gewähren, auch das erkenntnisfördernde Licht der Piazza soll nicht ausgeschlossen bleiben.306 Eine vergleichbar herausgehobene Stellung für das Denken nimmt der öffentliche Raum auch bei Nikolaus von Kues ein. Der 1401 geborene Cusanus ist ein Mann des Übergangs. Henning Ottmann sieht ihn „an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit“ stehend.307 Kurt Flasch schildert seine Kontakte zu den Humanisten Italiens. Zu Paolo dal Pozzo Toscanelli, Ambrogio Traversari und Lorenzo Valla. Und doch sei Cusanus „aus einer anderen Welt“ – ohne sich

304   Feldges-Henning: The pictorial programme of the Sala della Pace. S. 159-161. 305  Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis. S. 109-110. 306  Schließlich ist auch die zuvor dargelegte Rolle der Natur als Ausdrucksmittel, um sowohl die erzeugte Stimmung als auch die vermittelte Botschaft zu verstärken, in Lorenzettis Fresken zu erkennen. Während die heiteren Jahreszeiten, Frühling und Sommer, mit dem buon governo verbunden werden, sind Herbst und Winter als düstere Monate des Jahres an das mal governo geknüpft (Kempers: Gesetz und Kunst. S. 78. Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe. S. 31). 307  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 304-305.

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jedoch auf diese festlegen zu lassen.308 In seinen Überlegungen zum Raum des Denkens drückt sich diese Zerrissenheit zwischen den Welten aus. Noch einmal werden die in den vorangegangenen Jahrhunderten vorgestellten Positionen diskutiert, gewogen und schließlich verworfen. Auf dem Forum Romanum, so setzt Cusanus in Idiota de sapientia ein, traf ein Ungebildeter einen reichen Redner. Doch trotz des stetigen Studiums ungezählter Bücher sei der Redner nicht zu wahrer Erkenntnis gelangt.309 Ein Irrweg sei das Studium der Bücher, „von einer Autorität [werde der Leser] geführt und getäuscht […]. Irgendjemand hat dieses Werk geschrieben, und du glaubst ihm. Ich aber sage dir: die Weisheit ruft draußen auf der Straße, […].“310 Nur durch Anschauung und Auseinandersetzung mit dem Geschehen des tätigen Lebens, dem Treiben auf dem Markplatz oder in den Straßen der Stadt sei wahrhafte Erkenntnis möglich. Die Straße lehrt „viel Ergötzlicheres“ als alle „prächtig ausgeschmückten Bücher.“311 Wovor Bernhard von Clairvaux noch größte Angst hatte, eine nicht mehr zu kontrollierende Diskussionsfreude, ausgelebt auf offener Straße, außerhalb der geschlossenen Räumlichkeiten der Klöster, wird bei Cusanus zum eigentlichen Ursprungsort der Erkenntnis. Aber Cusanus weicht nicht nur von der Ansicht des Bernhard von Clairvaux ab. Auch die Euphorie eines Richard de Bury gegenüber der Bibliothek kann er nicht mehr in Gänze nachvollziehen. Der Nachhall des bei Richard angestimmten Lobliedes auf die Bibliothek und das Buch als Ort und Transportmittel von Wissen, Wahrheit gar, hat sich bei Cusanus verflüchtigt. Er wird ersetzt durch das Postulat, sich vom blinden Glauben an die Lehren der Autoritäten zu lösen und zu einem ursprünglichen Selbst-Denken zurückzukehren.312 Die Figur des reichen Redners, für John Freely als Gleichnis für einen Scholastiker zu sehen, dessen Bücherwissen sich gegen den Befürworter einer am Empirisch-Experimentellen ausgerichteten Schaffung von Wissen nicht behaupten kann, wird so zur Abrechnung mit dem mittelalterlichen System der Wissensvermittlung. Seine Rahmenhandlung reiht Idiota de sapientia damit ein in die nun immer häufiger anzutreffende Kritik am versteinerten scholastischen Bildungswesen.313

308  Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 599. 309  Nikolaus von Kues: Der Laie über die Weisheit. I,1 S. 3. 310  Nikolaus von Kues: Der Laie über die Weisheit. I,3 S. 5. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 603. 311  Nikolaus von Kues: Der Laie über die Weisheit. I,5-7 S. 7-11. 312  Steiger: Einleitung. S. XX. 313  Freely: Platon in Bagdad. S. 230-231. Flasch: Nikolaus von Kues in seiner Zeit. S. 66-67. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 602-603.

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2.4.4 Die utopische Ortlosigkeit weiblichen Denkens Eine Position ganz eigener Art innerhalb der Diskussion um die Verortung des Denkens kommt Christine de Pizan und ihrem bekanntesten Werk Le Livre de la Cité des Dames zu. Das Besondere an Christines Arbeit ist dabei allerdings nicht sogleich zu erkennen, da dem Text ein recht konventionell gestalteter Beginn beigegeben ist, der sich einer allseits bekannten Szenerie bedient, wenn Christine dem Leser einen Blick in die büchergefüllte Klause ihres literarischen Ichs gewährt.314 Ganz ihrer alltäglichen Gewohnheit entsprechend befasste sie sich dort mit den Sentenzen berühmter Autoren. Doch dieses Mal ist sie es müde, sich weiter darum zu mühen, deren Lehrsätze zu durchdringen. Und so lässt sie ab von den bekannten Werken und nimmt ein Buch zu Hand, das den Anstoß für die nun folgenden Überlegungen gibt, die Lamentationes Matheoli des Matthaeus von Boulogne.315 Wie schon so oft sieht sie sich darin mit den misogynen Aussagen eines Mannes konfrontiert. Und so stellt Christine sich und ihrer Leserschaft die Frage, wie es sein kann, dass so viele Männer abfällig über Frauen sprechen.316 Lange bedenkt Christine die Frage, hält Rücksprache mit zahlreichen anderen Frauen und wägt Positionen ab. Am Ende aber kommt sie zu einem für sie befremdlichen, ja verstörenden Ergebnis. Wenn so viele namhafte Autoren sich mit all ihrer Autorität wider die Frauen aussprechen, wie kann Christine dann an ihrem Unbehagen festhalten? Muss nicht sie sich eingestehen zu irren? Und galt es somit, eine Position gegen ihr Geschlecht und gegen ihre Überzeugung einzunehmen? Derart unsicher war sie geworden, dass sie sich schließlich gar dazu genötigt wähnt zu bekunden, der Allmächtige höchstselbst „habe mit der Frau ein niederträchtiges Wesen erschaffen.“317 Doch wie kann es sein, dass Gott etwas so Unvollkommenes erschuf? Ihre Überlegungen über die Aussage der Männer haben Christine damit an einen Punkt geführt, an dem selbst ihr Glaube ins Wanken gerät und sie die Hoffnung auf einen gütigen Gott verlässt. Christine ist gebrochen, fühlt sich verloren und 314  Zu denken wäre beispielsweise an die Darstellungen namhafter Dominikaner, Albertus Magnus, Vinzenz von Beauvais, Robert Kilwardby und vieler anderer mehr, durch Tomaso da Modena 1352 im Kapitelsaal des Dominikanerkonvents von San Niccolò in Treviso. Aber auch Boethius spielt hier eine Rolle (King: Frauen in der Renaissance. S. 261). Bemerkenswert ist jedoch die keineswegs belanglose Feststellung, dass sich mit Christine eine Frau diesen Bildtypus zu Eigen macht. Hierzu und zum Bildmotiv bei Christine Zimmermann: Einleitung. S. 9. Luff: Wissensvermittlung im europäischen Mittelalter. S. 360-367. 315  Zimmermann: Anmerkungen zum Text. S. 291-292. Bourgain: M. v. Boulogne. Sp. 398. 316  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,1 S. 35-36. 317  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,1 S. 36-37.

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verleugnet sich schließlich selbst in ihrem Wunsch, als Mann geboren worden zu sein.318 Der melancholischen Stimmung Christines entspricht ihr räumliches Umfeld. Tief in ihre düsteren Gedanken versunken, befindet sie sich in einer nicht minder dunklen Zelle.319 Hierin ähnele Christine, so das Urteil von Margaret King, Boethius in seiner Zelle. Ein Mensch ohne Hoffnung hier wie da. Und genau wie Boethius Trost durch die Personifikation der Philosophie zuteil wurde, so erfährt auch Christine Trost.320 Von wem? Dazu gleich mehr. Zuvor sollte die Verwendung des von Boethius entworfenen Denkraums durch Christine näher betrachtet werden. Nicht allein auf der Grundlage partieller Ähnlichkeiten lässt sich zwischen Boethius auf der einen und Christine de Pizan auf der anderen Seite eine Verbindung konstruieren. Zu vermuten ist darüber hinaus eine bewusste Übernahme der in der Philosophiae Consolatio gebrauchten Motiven zu Beginn des Livre de la Cité des Dames. Geradezu beispielhaft steht die Gefängniszelle des Boethius als Abbild für die aussichtlose Lage Christines, wie auch für jene der gebildeten Frauen. In einer von Männern dominierten Welt, in der die Räume des Denkens von Männerhand geformt sind, bleiben dem anderen Geschlecht keine eigenen Denkräume, über die es verfügen könnte.321 Wie Boethius in seiner Gefängniszelle ist es somit das Los der Frauen, ihren Raum des Denkens nicht frei wählen zu können. Die Wahl zwischen Stadt und Land, Straße, Studierzimmer oder Hörsaal steht ihnen nicht frei. Allein im Verborgenen, abgetrennt vom Rest der Welt, können sie selbstbestimmt einen Denkort behaupten.322 318  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,1 S. 37-38. King: Frauen in der Renaissance. S. 260-261. 319  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,2 S. 38. 320  King: Frauen in der Renaissance. S.261. 321  In seiner Schrift Rhetorica novissima äußerte sich im 13. Jahrhundert Buoncompagno da Signa über den Standort von Lehrgebäuden etwa derart, dass diese so zu verorten seien, dass Frauen nicht zu jeder Zeit an den Lehrveranstaltungen teilnehmen können (Rückbrod: Universität und Kollegium. S. 67). Wenn auch nicht explizit, so distanziert sich Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,8, S. 241 doch implizit von dieser Haltung. Für Alberti sind Hörsäle und Schulen dort anzulegen, dass sie von allen Einwohnern genutzt werden können. Eine geschlechtsspezifische Scheidung der Einwohnerschaft wird von Alberti nicht vorgenommen. Auch bei Dante Alighieri werden Frauen nicht von der Beschäftigung mit philosophischen Fragen ausgeschlossen. Da alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, nehmen im Convivio auch Frauen an der Diskussion teil (Dante: Das Gastmahl. I,1,1, S. 3 und I,9,5, S. 45. Fried: Das Mittelalter. S. 352-353). 322  Zum Frauenalltag im Spätmittelalter vgl. die gleichnamige Arbeit von Opitz, v.a. S. 315318 zur Stellung der Frau im Bildungswesen. Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen waren zwar stark beschränkt aber vorhanden. Hierzu auch Brunner: Kleine

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In dieser Situation befindet sich Christine, als plötzlich ein Licht ihre Zelle erhellt und sie aus ihren schwermütigen Gedanken reißt: „Und ich, die ich mich an einem dunklen Ort aufhielt, den zu dieser Stunde die Sonne gar nicht erhellen konnte, schreckte auf, gleich einer Person, die aus dem Schlaf hochfährt. Ich hob den Kopf, um die Lichtquelle zu suchen, und erblickte drei gekrönte Frauen von sehr edlem Aussehen, die leibhaftig vor mir standen. Das von ihren hellen Gesichtern ausstrahlende Licht erleuchtete mich und alles um mich herum.“323 Die drei Frauen, Verkörperungen der Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, weisen Christine den Weg aus der Sackgasse, in der sie sich, ihrem Vertrauen in die Fehlerlosigkeit der Aussagen von Autoritäten geschuldet, verloren meint. Nicht sie sei es, die in ihrem Urteil fehl gehe. Stattdessen gibt ihr die Vernunft zu bedenken, dass auch Philosophen irren können, und dass Dichter nicht an die Wahrheit gebunden seien. „[…] bediene dich wieder deines Verstandes […]“ ist der Ratschlag, der Christine von der Vernunft gegeben wird.324 Aber trotz des von der Vernunft gegebenen Rates speist sich der nun vollziehende Erkenntnisprozess bei Christine nicht allein aus der Kraft des eigenen Verstandes. Essentiell für ihn bleibt, dass er durch die Inspiration von Seiten höherer Mächte angestoßen wird. Sie sind gekommen, um Christine aus ihrer Unwissenheit und Verwirrung zu erlösen. Ohne einen solchen externen Anstoß durch die Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit hätte sich Christine nicht aus ihrer Schwermut zu befreien vermocht.325 Und es sind auch die drei Frauengestalten, die Christine offenbaren, dass sie mit ihrer Hilfe eine Stadt erbauen werde, die imstande sei, für alle Frauen ein „Ort der Zuflucht, eine umfriedete Festung gegen die Schar boshafter Belagerer“ zu sein.326 Mit dem Bau der Cité des Dames wird Christine die Möglichkeit eröffnet, sich der sie umfassenden Welt männlicher Dominanz zu entziehen und einen neuen Raum zu erschließen. Einen Raum, in dem sich Christine vom Status der Frau als Hinnehmende, Erduldende distanzieren und Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 37-38. Christine selbst kam in den Genuss einer vorzüglichen Bildung. Tanz: Christine de Pizan – Schriftstellerin und Vorkämpferin für die Rechte der Frau. S. 164-165. King: Frauen in der Renaissance. S. 259. Tuchman: Der ferne Spiegel. S. 204-205. In einer kurzen Passage des Livre de la Cité des Dames äußert sich Christine zudem selbst über ihren Bildungshintergrund: Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. II,36, S. 185. 323  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,2 S. 38. Zu diesem Erlebnis Christines Zühlke: Christine de Pizan in Text und Bild. S. 106-108. 324  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,2 S. 39-40. King: Frauen in der Renaissance. S. 261. 325  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,2 S. 28; I,3 S. 41-42. 326  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,3 S: 42.

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sich stattdessen als Schöpferin, als tätige Gestalterin ihrer eigenen Welt ausweisen kann.327 In dieser Welt wird Bildung auch für Frauen und Mädchen zugänglich, die Cité des Dames somit zum weiblichen Widerpart männlich dominierter Denkorte. Dem Vorurteil, ihre Geschlechtsgenossinnen seien nicht fähig, in den Wissenschaften unterwiesen zu werden, kann Christine nichts abgewinnen. Ganz im Gegenteil lautet ihr Befund, dass „wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluss daran, genau wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene.“328 Und so sei der Grund dafür, dass Frauen weniger als Männer wüssten einzig darin zu sehen, „dass Frauen sich nicht mit so vielen verschiedenen Dingen beschäftigen können, sondern sich in ihren Häusern aufhalten und sich damit begnügen ihre Haushalte zu versehen.“329 Aber die bei Christine de Pizan vorgenommene Bindung des Denkens an die Stadt ist letzten Endes doch nicht als Ausdruck des Vorzugs der Stadt gegenüber dem Land zu werten. Zumindest nicht primär. Vielmehr ist die Cité des Dames Ausdruck der Ortlosigkeit weiblichen Denkens. Die von Christine erdachte Stadt der Frauen ist der Versuch, sich mit dem Mittel der Imagination gegen die vollzogene Raumnahme der Männer zur Wehr zu setzen und deren Dominanz im öffentlichen Raum, die Frauen den Zugang zu den verfügbaren Denkräumen verwehrt, eine Alternative entgegenzustellen.330 Der trostlosen Realität in ihrer Zelle versucht Christine durch die Flucht in hoffnungsvollere Gefilde zu entkommen. Gemäß der Weisung der Vernunft findet Christine den Bauplatz für die Stadt der Frauen auch nicht in realen Ländern, sondern auf literarischem Grund: „Laß uns, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, hinaus aufs Feld der Literatur gehen: dort soll die Frauenstadt auf einem fetten und fruchtbarem Boden errichtet werden, dort, wo alle Früchte wachsen, sanfte 327  King: Frauen in der Renaissance. S. 260. Heißler/Blastenbrei: Frauen der italienischen Renaissance. S. 53. Thumfart/Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 280. Klapisch-Zuber: Einleitung. S. 11. 328  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,27 S. 94. Vgl. auch II,36 S. 183185. Zimmermann: Einleitung. S. 27. Tanz: Christine de Pizan – Schriftstellerin und Vorkämpferin für die Rechte der Frau. S. 171. Daher sei Le Livre de la Cité des Dames auch als „Trostbuch“ zu verstehen, mit dem Ziel „das Selbstbewusstsein von Frauen zu stärken.“ (Waschkuhn: Politische Utopien. S. 40) 329  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,27 S. 95. 330  Roß: Politische Utopien von Frauen. S. 124. Waschkuhn: Politische Utopien. S. 43. Nun sind zwar beispielsweise auch die Denkorte bei Dante Alighieri imaginiert. Aber sie beziehen sich auf reale Örtlichkeiten des universitären Paris. Eine derartige Entsprechung in der Realität hat Christines Cité des Dames nicht.

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Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen jeglicher Art.“331 Der Baugrund gleicht einer Idylle. Kein Leid und kein Mangel herrschen dort.332 Auch in ihrem Bestand wird die Cité des Dames der Zeit und dem Verfall entzogen bleiben.333 Die Stadt der Frauen wird somit zu einem Gebilde, das im Abstrakten, Unsinnlichen verbleibt und sich als Wunschraum einer femininen Raumutopie erweist.334 Die Ortlosigkeit von Christines Denkraum in der Stadt der Frauen ist daher wörtlich zu nehmen. Sie ist ein Nicht-Ort, ein ou topos, und somit ein Vorläufer für die Utopien der Frühen Neuzeit. Wie in den klassischen Utopien frühneuzeitlicher Autoren, sei es Thomas Morus’ Utopia, Tommaso Campanellas Civitas solis, Johann Valentin Andreaes Christianopolis oder Francis Bacons Nova Atlantis, thematisiert die gebürtige Venezianerin den Aufbau einer virtuellen Stadt im Gespräch.335 Dabei wurde erst in der jüngeren Vergangeheit Christine als eine Wegbereiterin der Gattung der Utopien gewertet. Als Vorläufer der Utopien gesehen wurden vornehmlich beispielsweise Homers Schilderung der Phaiakeninsel und natürlich Teile der platonischen Dialoge, namentlich die drei Paradoxien einer idealen Stadt in der Politeia sowie die Bearbeitung des Atlantis-Mythos im Kritias und Timaios.336 Das Werk Christines und dessen Bedeutung hingegen blieb ganz überwiegend unbeachtet.337 Wohl auch, weil man sich nicht auf epochenspezifische 331  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,8 S. 48. 332  Zimmermann: Einleitung. S. 29. 333  Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. I,4 S. 43. 334  Zimmermann: Einleitung. S. 29-30. Zimmermann: Moderata Fonte (1555-1592). S. 104-105. Thumfart/Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 280 und 304. Klarer: Frau und Utopie. S. 63. 335   Thumfart/Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 279. Morus: Utopia. S. 53-57, Campanella: Die Sonnenstadt. S. 5, Andreae: Christianopolis. S. 19 und Bacon: Neu-Atlantis. S. 3 zur dortigen Gesprächs- beziehungsweise Erzählsituation. Zur Deutung von Christianopolis und Nova Atlantis als imaginierte Nicht-Orte des Wissens Lazardig: Welthaltigkeit und Ortlosigkeit. S. 113-123. 336  Vgl. die Aussagen zu den Phaiaken in Buch VI-VIII der Odyssee. Platon: Der Staat (Politeia). V,3-7, 451c-457e, S. 245-254; V,7-13, 457e-466d, S. 254-267; V,17-21, 471c-478c, S. 274-278. Platon: Kritias. 112c-121c, S. 316-330. Platon: Timaios. 19b-25d, S. 194-204. Hellmut Flashar meint sogar: „Doch der platonische Staat ist eine Utopie, die nicht in der Wirklichkeit umgesetzt werden konnte und sollte, die aber ein Modell darbietet, an dem die Frage nach der Gerechtigkeit für den einzelnen und das Gemeinwesen in konsequenter Einseitigkeit zu Ende gedacht wird.“ (Flashar: Der platonische Staat als Utopie. S. 35) Ähnlich auch Hans-Georg Gadamer: „Denken in Utopien, das ist die Perspektive, unter der ich die platonischen Staatsschriften sehe und unter der man sie lesen muß.“ (Gadamer: Platos Denken in Utopien. S. 288) Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/2. S. 272273. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 137. 337   Thumfart/Waschkuhn: Staatstheorien des italienischen Bürgerhumanismus. S. 279. Hölscher: Utopie. S. 731. Münkler/Münkler: Lexikon der Renaissance. S. 397.

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Ausdrucksformen des Utopischen einließ und stattdessen die Vorgaben frühneuzeitlicher Utopien als verbindlich für die gesamte Gattung begriff.338 2.5

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Die lange vor dem Mittelalter angestoßene Diskussion über den Ort des Denkens hatte bereits in der Antike zu verschiedensten Ergebnissen geführt. Ungemindert wurde die Debatte im Mittelalter fortgeführt. Auch hielt man an der Vielfalt der gegeben Antworten fest. Vorgebracht wurde nahezu jede mögliche Kombination der diskutierten Elemente: die Präferenz eines Denkens in der Isolation oder im Austausch mit Anderen. Der Rückzug auf das Land beziehungsweise in die Natur als dauerhafte Lösung oder lediglich zum Zwecke, einen dem Denkprozess förderlichen Ort der Ruhe und Erholung aufzusuchen. Nicht zuletzt wurde auch die Stadt mit all ihren Facetten als Denkort aufgefasst. Sie sei der Ort der Bücher und Bibliotheken, seit jeher die Heimstatt der Philosophie, die dort ihre Festung errichtet habe. Als Wohnsitz der Weisheit verstanden präsentiere sich die Stadt aber auch in einem weiteren, gänzlich ortlosen Sinne, so dass er losgelöst von konkret benannten Gebäudetypen oder Bauwerken auch inmitten der Straßenzüge angetroffen werden könne. Ein Rückzug in einen gesonderten von seinen Mitmenschen separierten und architektonisch besonders definierten Raum innerhalb des Urbanen wurde folglich nicht durchgehend als Notwendigkeit erachtet. Schließlich war die Stadt auch als Ausformung utopischer Ortlosigkeit des Denkens verstanden worden, als Fluchtburg Niedergehaltener, die sich in der literarischen Imagination einen eigenen Raum des Denkens schufen. Die Rezeption mittelalterlicher Denkprozesse wie auch die Darstellung der Orte dieses Denkens in den folgenden Jahrhunderten lässt die Vielfalt all dieser Deutungsansätze jedoch vermissen. An die Stelle eines Nebeneinanders unterschiedlichster Denkorte und Denkformen tritt die Wahrnehmung eines isoliert Denkenden als dominierendes Modell. Dabei werden innerhalb dieses Modells insbesondere zwei Motive für die bildliche Präsentation des isoliert Denkenden prägend: Zum einen handelt es sich dabei um die Pose des melancholisch gestimmten Denkers, wie sie von Walther von der Vogelweide eingenommen wurde, zum anderen sind es Motive in der Tradition des Hieronymus-im-Gehäuse-Bildtypus, zu dessen Verbreitung der Wandel hin zu individuelleren Arbeits- und Lesegewohnheiten maßgeblich beitrug. 338  Oexle: Utopisches Denken im Mittelalter: Pierre Dubois. S. 301. Klarer: Frau und Utopie. S. 62. Roß: Politische Utopien von Frauen. S. 15-16 und 127-128. Seibt: Utopica. S. 13-14.

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Verstärkte die Veränderung dieser Gewohnheiten doch die Etablierung einer speziellen Raumform des Denkens, die sich vor allem im Studierzimmer manifestierte.339 2.5.1 Die Pose des Denkers Ein weiteres Mal macht Walther von der Vogelweide den Anfang. Mit gekreuzten Beinen, den Ellenbogen auf das Knie und die Wange in die Hand gestützt, hatte sich Walther zu Beginn des Reichstons abseits menschlicher Gemeinschaft niedergelassen, um über Wohl und Wehe des Reichs nachzudenken (Abb. 23 und 24). Wie kaum eine zweite ist die von ihm eingenommene Pose zum Inbegriff des Denkenden geworden. Doch reicht die Geschichte dieser Körperhaltung weit über Walther von der Vogelweide und auch weit über das Mittelalter hinaus. Weder war Walther der erste, noch der letzte Denker, der sich in einer solchen Positur darstellte oder dargestellt wurde. Bereits im Codex Manesse und der Weingartner Liederhandschrift wurde nicht nur Walther von der Vogelweide, sondern auch Heinrich von Veldeke in der entsprechenden Pose abgebildet (Abb. 30 und 31). Ein mittelbar literarisches Vorbild für das von Walther gebrauchte Motiv des Nachdenkens findet man in den Versen des König Rother, in Strickers Karl der Große zudem eine auf Walther direkt folgende Nachbildung dieser Haltung.340 Aber auch fern des Mittelalters konnten die Spuren dieses Bildschemas noch in der römischen, griechischen und ägyptischen Kunst von der Forschung aufgefunden werden.341 In den Fokus sollen hier allerdings nicht die vormittelalterlichen, sondern die auf das Mittelalter folgenden Verwendungsweisen des Motivs gerückt werden. Als die zwei in der nachmittelalterlichen Bearbeitung der Denkerpose wohl bekanntesten Bildnisse dürfen der zuvor bereits angesprochene Kupferstich Albrecht Dürers Melencolia, I und Auguste Rodins Der Denker angesehen werden (Abb. 28 und 32). Josef Adolf Schmoll beschrieb die auf einem Stein sitzende athletische Gestalt des Denkers als „eine moderne Version der Melancholie“. Mit dem auf den Handrücken gestützten Kinn „grübelt [er] ausweglos über den Problemen menschlicher Existenz, […].“342 In dieser verbindungslosen Betrachtungsweise, die den Denker als eigenständiges Werk 339  Die Veränderung dieser Gewohnheiten spiegelt sich auch in der eingangs erwähnten Bedeutung des Begriffs Studium wider (Verger: Studium. Sp. 257. Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. X/4. Sp. 286-287). 340  Bennwitz/Stein (Hrsg.): König Rother. Vers 448-456 S. 57. Weber: Strickers Karl der Große. Vers 971-976 S. 297. Schweikle: Kommentar. S. 340. 341  Wenzel: Melancholie und Inspiration. S. 136-137. Wandhoff: Walther von der Vogelweide. S. 253. 342  Schmoll: Zum Menschenbild und Menschenlos in Rodins Höllentor. S. 89.

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wahrnimmt, wird die Plastik auch heute noch vorrangig verstanden. Die anfängliche Intention Rodins war jedoch eine andere, wie auch Schmoll hervorhebt. Rodin schuf den Denker nicht als separates Werk, sondern in Verbindung mit dem Höllentor. Den Zuschlag für ein repräsentatives Tor des geplanten Musée des Arts Décoratifs hatte Rodin im August 1880 erhalten und damit drei Jahre Zeit, seinen eingereichten Vorschlag zu fertigen: eine Illustration von Dantes Commedia.343 „Vor diesem Tor [erklärt Rodin einem Journalisten um die Jahrhundertwende], allerdings auf einem Felsen, sollte Dante sitzen, in tiefes Sinnen versunken, wie er über den Plan seines Poems nachdenkt. Hinter ihm waren Ugolino, Francesca, Paolo und all die Gestalten aus der Göttlichen Komödie.“344 Nicht eine beliebige Gestalt, stellvertretend für die gesamte Menschheit, sollte Der Denker sein. Dante Alighieri, der Schöpfer der Commedia selbst war es, dem Rodin ein Denkmal zu setzen beabsichtigte. Aber aus der Idee wurde nichts. Hager und asketisch wie er war, fiel mein Dante in seiner schlichten Robe aus dem Ensemble heraus, hätte er keinen Sinn gehabt. Noch immer inspiriert von meiner ursprünglichen Idee, entwarf ich einen anderen Denker, einen männlichen Akt, der mit angezogenen Beinen auf einem Felsen hockt. Die Faust gegen die Zähne gepresst, sitzt er gedankenverloren da. Seine fruchtbaren Gedanken entfalten sich allmählich in seiner Phantasie. Er ist kein Träumer; er ist ein Schöpfer.345

Dennoch blieb die Assoziation mit Dante im Bewusstsein der Betrachter präsent und wurde erst nach und nach verdrängt.346 Die Verbindung der Statue mit Dante Alighieri lässt aus dem mittelalterlichen Dichter den genialen Schöpfer der Commedia werden, die zu einem Werk allein seines Geistes erklärt wird. Dante wird zum eigentlichen Richter über das Schicksal der auf dem Höllentor abgebildeten Menschen. Er entscheidet, ob sie im Jenseits erhoben oder in die Tiefe gestürzt werden.347 An dieser Wahrnehmung sollte auch die Neupositionierung der Figur nichts ändern, die ihre Stellung vor dem Höllentor verlor und stattdessen im Tympanon des Portals ihren Platz einnahm.348 343  Barbier: Das Höllentor. S. 9 Schmoll: Rodins Höllentor. S. 13. 344  Zitiert nach Grunfeld: Rodin. S. 218. Angedacht hatte Rodin zudem den Totenrichter Minos in vergleichbarer Haltung wie Dante auf dem Höllentor abzubilden (Schmoll: Zum Menschenbild und Menschenlos in Rodins Höllentor. S. 89). In einer solchen Pose wurde Minos dann einige Jahre später im Dante-Denkmal in Trient dargestellt (zu diesem Denkmal Lentzen: Dante: Denkmäler und Dichtung. S. 69-73). 345  Zitiert nach Grunfeld: Rodin. S. 218-219. 346  Grundfeld: Rodin. S. 219. Schmoll: Rodins Höllentor. S. 31. 347  Schmoll: Rodins Höllentor. S. 26 und 31. 348  Vgl. hierzu auch die Schilderungen Rainer Maria Rilkes, der für einige Monate als Sekretär bei Rodin angestellt war und die Arbeit am Höllentor verfolgen konnte (Rilke: Auguste Rodin. S. 39).

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Die Verbindung des Denkers mit der Person Dantes ergibt sich ferner auch aus Rodins Vorlagen für seine Arbeit. Neben Michelangelos Il Pensieroso, dem Standbild auf dem Grabmal für Lorenzo de’ Medici, ist es auch eine Dante Alighieri selbst darstellende Plastik, die Einfluss auf Rodin genommen hat. Sitzend, im Schoß sein Werk, darauf ruhend die linke Hand, die rechte ans Kinn geführt, den Kopf mit Lorbeer bekränzt, wurde Dante von Stefano Ricci auf seinem Kenotaph in der Florentiner Kirche Santa Croce präsentiert (Abb. 33).349 Hier wie da fand der gestus melancholicus als charakteristisches Stilmittel Verwendung. Sei es bei Rodin wie auch in den Darstellungen von Lorenzo de’ Medici oder Dante Alighieri. Als Melancholiker war Dante schon in Giovanni Boccaccios Vita di Dante bezeichnet worden. Dante habe, so Boccaccio, einen Gesichtsausdruck „malinconico e pensoso“.350 Dabei bezieht sich jedoch sowohl die Einreihung Dantes unter die Melancholiker, als auch diejenige von Rodins Denker, auf die schöpferische, kreative Form der Melancholie. Michelangelos Pensieroso dagegen ist ein anderer Fall, der das Motiv eher in parodierender Absicht nutzt. Doch dazu später mehr. Die Verbindung der Melancholie mit dem Potential zu schöpferischer Tätigkeit war bereits in den unter Aristoteles’ Namen firmierenden Problemata physica hergestellt worden. Im dreißigsten Buch dieser Schrift äußert sich der Autor verwundert darüber, dass „alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten“ Melancholiker gewesen seien.351 Der positiven Wertung der Melancholie zum Durchbruch verhalf indes erst Marsilio Ficino, dessen Ausführungen in De vita libri tres maßgeblich zur Vorstellung vom genialen Melancholiker beitrugen.352 Doch wurden nicht durchgehend die positiven Folgen einer melancholischen Gemütslage hervorgehoben. Stattdessen erwies sich die träge, alles zersetzende Ausformung der Melancholie lange Zeit als tonangebend. Angeführt wird diese etwa bei Hildegard von Bingen. Wie jene vor ihr, die sich mit dem Wesen der Melancholie befassten, so stützt sich auch Hildegard für ihre Ausführungen auf die Lehre von den Temperamenten, die auf der Vorstellung von aus dem Gleichgewicht geratenen Körpersäften basiert. Eigen seien einem jedem Mensch vier Flüssigkeiten, die sich als bestimmend für sein Wesen erweisen: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Sobald deren Mischungsverhältnis 349  Grunfeld: Rodin. S. 219. Champigneulle: Rodin. S. 41-42. Danti: Die Grabmale. S. 294. Helmrath: Dante. S. 217-218. Lentzen: Dante: Denkmäler und Dichtung. S. 65-67. Schulze: Dante Alighieri als nationales Symbol Italiens (1793-1915). S. 49-53. 350  Boccaccio: Vita di Dante. S. 124. 351  Aristoteles: Problemata physica. XXX,1 953a, S. 250. 352  Insbesondere Ficino: De vita libri tres/Drei Bücher über das Leben. I,5 S. 57-59. Zu Ficino und seinen Ausführungen über die Melancholie Klibansky/Panofsky/Saxl: Saturn und Melancholie. S. 368-394.

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nicht mehr in der Balance sei, sobald also einer der vier Säfte im Übermaß vorhanden sei, ändere sich sein Charakter. Ein Zuviel an Blut mache den Betroffenen zum Sanguiniker, der durch Heiterkeit geprägt sei. Dominiere dagegen der Schleim, werde man phlegmatisch, während der Überschuss an gelber Galle den Menschen cholerisch werden lasse. Im Übermaß vorhanden bewirke die schwarze Galle schließlich ein melancholisches Gemüt.353 Diese auf Hippokrates und Galen zurückgehenden Überlegungen blieben dem Mittelalter etwa durch Beda Venerabilis präsent, der im dem Humoralsystem gewidmetem Abschnitt seiner Schrift De mundi coelestis terristisque constitutione eine prägnante Zusammenfassung dieser Lehre vornimmt, sie mit den Elementen, den Jahreszeiten und dem Alter der Person verbindet. Das Blut finde seine Entsprechung demnach in der Luft, würde im Frühjahr zunehmen und wäre in der Kindheit dominierend. Der Schleim dagegen wird mit dem Wasser verbunden, steige in den Wintermonaten an und präge das Greisenalter. Zwischen Frühling und Winter, Kindheit und Alter ordnet Beda gelbe und schwarze Galle ein. Die gelbe Galle imitiere das Feuer, wachse im Sommer und überwiege in der Adoleszenz. Die schwarze Galle zuletzt wird Erde und Herbst beigeordnet und sei im Erwachsenenalter vorherrschend.354 Neben der Beschreibung der Symptomatik des antiken Humoralsystems befasste man sich aber auch mit der Frage, wie einem Überschuss etwa der schwarzen Galle zu begegnen sei. So unternimmt Constantinus Africanus den Versuch, den negativen Folgen der Melancholie entgegenzuwirken, indem Ernährungs- und Lebensgewohnheiten, aber auch der Wohnort des Melancholikers einer Anpassung unterzogen werden.355 Vor dem Hintergrund dieser Diskussion um Bedeutung und Wirkung der schwarzen Galle schrieb nun auch Hildegard von Bingen über die Melancholiker und vertrat dabei eine grundlegend andere Überzeugung, als die aus den Problemata physica überlieferte Wertung.

353  Klibansky/Panofsky/Saxl: Saturn und Melancholie. S. 39-54. al-Khalil: Im Haus der Weisheit. S. 230. Rebel: Albrecht Dürer. S. 281-283. 354   Beda Venerabilis: De mundi coelestis terristisque constitutione. PL 90,881. Eine komprimierte Zusammenfassung der Lehre von den Temperamenten findet man im Spätmittelalter etwa im Werk des Dichters Johann von Würzburg (Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 19). 355  Klibansky/Panofsky/Saxl: Saturn und Melancholie. Anm. 48, S. 149. Zu Constantinus Africanus’ Melancholie-Verständnis Büchsel: Albrecht Dürers Stich Melencolia, I. S. 9396. Ähnlich wie Constantinus Africanus argumentierte auch der Traktat De disciplina scholarium aus dem 13. Jahrhundert sowie al-Kindi und al-Zahrawi (Liebenwein: Studiolo. S. 133-134. Freely: Platon in Bagdad. S. 107 und 148).

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Die Melancholiker. Es gibt andere Menschen, die schwermütig, ängstlich und in ihren Stimmungen schwankend sind, so dass es bei ihnen keine richtige beständige Verfassung gibt. Sie sind wie ein starker Wind, der für alle Pflanzen und Früchte schädlich ist. Daher wächst in ihnen ein Phlegma, das weder feucht noch dick, sondern lauwarm ist. Es ist wie ein Schleim, der zäh ist und sich wie Gummi in die Länge zieht. Er verursacht die Schwarzgalle, die zu Anbeginn aus Adams Samen durch den Atem der Schlange entstand, da Adam ihren Rat beim Essen befolgte. […] Die Schwarzgalle ist schwarz, bitter, löst alles Übel aus, manchmal sogar eine Gehirnerkrankung, lässt am Herzen sozusagen die Adern überschäumen und verursacht Schwermut und Zweifel an allem Trost, so dass der Mensch keine Freude über das himmlische Leben und keinen Trost am irdischen Leben haben kann. Diese Melancholie gehört infolge der ersten Verseuchung durch den Teufel zum Wesen eines jeden Menschen, da der Mensch beim Essen des Apfels Gottes Gebot übertrat. Aus dieser Speise hat sich diese Melancholie in Adam und in seinem ganzen Geschlecht entwickelt, und sie ist die Ursache jeder ernsten Erkrankung bei den Menschen. […].356

Kein Wort über potentiell positiven Wirkungen der Melancholie kommt Hildegard über die Lippen. Für sie bleiben Schwermut und Zweifel des Melancholikers eine Folge von Adams Sünde. Auch für diese durch Hildegard von Bingen exemplarisch vertretene Form der als verdammungswürdig ausgewiesenen Melancholie soll hier zumindest ein Beispiel aus der visuellen Umsetzung mittelalterlicher Denkvorgänge gegeben werden. Mit dem eingangs vorgestellten Bildtypus des schöpferisch Denkenden hat die Verwendung des gestus melancholicus in Teilen der folgenden Serie von Bildwerken nichts gemein. Die im Zeitraum zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert entstandenen und unter dem Begriff Triumphbilder subsumierten Darstellungen haben sich einer in das Medium des Bildes übertragenen Unterordnung der Lehren und der Person des Averroes unter Thomas von Aquin verschrieben.357 In der Regel wird der durch Thomas’ Schrifttum niedergerungene Averroes als zu Boden geschleuderte Gestalt zu Füßen des Aquinaten präsentiert. So zum Beispiel auf dem Tafelbild Die Verherrlichung des Hl. Thomas von Aquin in der Pisaner Kirche Santa Caterina (Abb. 34).358 Noch drastischer wird die Unterwerfung des Averroes bei Benozzo Gozzoli und Filippino Lippi präsentiert (Abb. 35 356   Hildegard von Bingen: Heilwissen. S.  65. Klibansky/Panofsky/Saxl: Saturn und Melancholie. S. 140-142. 357  Lechner: Iconographia Thomasiana. S. 963. Zahlten: Disputation mit Averroes oder Unterwerfung des ‚Kommentators‘. S. 721. 358  Die Autorenschaft des Werkes ist nicht letztgültig geklärt. Perrig weist es Lippo Memmi zu, während Lechner in ihm eine Arbeit Francesco Trainis erkennt und Zahlten es als das Produkt eines anonymen Meisters ausweist (Perrig: Malerei und Skulptur des

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und 36). Wird Averroes bei Benozzo Gozzoli schon auf dem Bauch liegend und dominiert von der über ihm aufragenden Figur des Thomas von Aquin vorgeführt, erhält das Geschehen bei Filippino Lippi eine ungleich höhere Dynamik. Gozzolis Thomas verharrt noch statisch im Zentrum seines Tafelbildes. Filippino Lippis Fresko dagegen zeigt, wie Thomas mit der Rechten Averroes den Platz zu seinen Füßen zuweist, während dieser von den Füßen des Aquinaten über den Sims dem Abgrund entgegen gedrückt wird.359 Zusätzlich zu dieser Darstellungsform von Thomas’ Triumph über Averroes begegnet eine alternative Abbildung des Geschlagenen in den von Andrea da Firenze gefertigten Fresken für die spanische Kapelle in Santa Maria Novella in Florenz. Eingebettet ist der siegreiche Thomas in eine Wiedergabe des Wissenssystems der Zeit, das unterhalb der zentralen Szene durch jeweils vierzehn Frauen und Männer abgebildet ist. Je sieben weibliche Personifikationen für die theologischen Wissenschaften wie auch für die artes liberales werden durch einen namhaften Repräsentanten der jeweiligen Disziplin begleitet. Auf dieser Sockelzone erhebt sich die Abbildung des thronenden Thomas von Aquin, umgeben von den Evangelisten und Persönlichkeiten des Alten Testaments. Über ihm schließlich schweben sieben Engelsfiguren, die für die vier Kardinal- und die drei theologischen Tugenden stehen.360 Beachtung für die Analyse des gestus melancholicus verdient nun eine der drei Figuren, die ihren Platz vor der imaginierten Architektur eines gotischen Chorgestühls eingenommen hat, in der Andrea da Firenze Thomas von Aquin und die vierzehn wissenschaftlichen Disziplinen einfügte. Flankiert von den Häretikern Arius und Sabellius handelt es sich auch hier um Averroes (Abb. 37). Doch ist er diesmal nicht zu Boden geworfen, sondern sitzt, den Ellenbogen auf ein hochkant gestelltes Buch, den Kopf in die Hand gestützt, am Boden vor dem Aquinaten. Sicherlich darf davon ausgegangen werden, dass die Anwendung des gestus melancholicus für die Figur des Averroes nicht auf den schöpferischen Aspekt der Melancholie bezogen werden kann.361 Derart dargestellt verweist Averroes wohl eher auf die Konsequenzen, die Jenen drohen, Spätmittelalters. S. 75. Lechner: Iconographia Thomasiana. S. 968. Zahlten: Disputation mit Averroes oder die Unterwerfung des ‚Kommentators‘. S. 727). 359  Lechner: Iconographia Thomasiana. S. 965-966. Zahlten: Disputation mit Averroes oder die Unterwerfung des ‚Kommentators‘. S. 733. 360  Lechner: Iconographia Thomasiana. S. 964-965. Belting: Das Bild als Text. S. 51-52. Zahlten: Disputation mit Averroes oder die Unterwerfung des ‚Kommentators‘. S. 721-732. 361  Einen Verweis auf diese wird man im Bild des Hieronymus erkennen dürfen, der als vierter von links in der Sockelzone die Rolle des Vertreters der kanonischen Geschichte einnimmt und in einer Variante des gestus melancholicus abgebildet wurde. Zur Identifikation des Hieronymus Lechner: Iconographia Thomasiana. S. 965.

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die sich aus dem vorgegebenen System der Wissenschaften lösen und sich mit seinen Irrlehren befassen. Ihnen droht beständiger Zweifel, Schwermut und ein Leben frei von Trost. Ob ein Weg zurück möglich ist, bleibt fraglich. Kehrt Averroes den heilversprechenden Lehren doch den Rücken zu, ist somit nicht einmal mehr in der Lage, sie wahrzunehmen. Auch die von Hans Belting in seiner Untersuchung des Freskos hervorgehobene Bedeutung der Architektur lässt die Möglichkeit einer Rückkehr zweifelhaft erscheinen. Sei die räumliche Ausschließung der drei falsche Lehren Verbreitenden doch als Gleichnis für ihre Bedeutungslosigkeit im in sich geschlossenen System des Wissens aufzufassen. Sie fallen aus dem Bild und haben keinen Platz mehr in der architektonisch ausgeformten Örtlichkeit mittelalterlichen Denkens.362 Im Rahmen der hier behandelten Fokussierung auf einen isoliert Denkenden steht die Darstellung des Averroes bei Andrea da Firenze nicht zuletzt für eine gleich doppelt zu gewichtende Isolierung. Averroes denkt für sich allein. Doch ist seine Isolation nicht Ausdruck individueller Genialität, sondern symbolisiert das Denken eines Parias. Seine Isolation ist damit vollkommen. Sie schließt ihn auch aus den für das Denken notwendigen Räumen aus, zu denen er den Zugang verloren hat. 2.5.2 Denken im Gehäus Von der Darstellung des in der Tradition eines Walther von der Vogelweide stehenden Denkers abgesehen, nimmt die bildliche Umsetzung des in sein Studierzimmer Zurückgezogenen die Stellung als zweiter dominierender Bildtypus in der nachmittelalterlichen Visualisierung mittelalterlichen Denkens ein. Das mit Büchern und Attributen der Gelehrsamkeit gefüllte studiolo entwickelt sich dabei zu einem essentiellen Bestandteil in der Abbildung von Gelehrsamkeit.363 Als solcher wird der Typus des Gelehrten zusehends erst durch die ihn umgebende Architektur und Ausstattung des Studierzimmers identifizierbar. Ein Bindeglied zwischen diesen beiden Archetypen lässt sich in Domenico Ghirlandaios Fresko Hl. Hieronymus in der Florentiner Kirche Ognissanti identifizieren (Abb. 38). Ohne den charakteristischen Löwen dargestellt, sieht man den Kirchenvater beengt inmitten gefüllter Regale an einem Schreibpult sitzen. Er verharrt in der Arbeit, den Griffel noch in der Rechten, die Linke aber im gestus melancholicus als Stütze an den Kopf geführt. Seine Stirn liegt in Falten; sein Blick geht ins Leere. Dieser Moment vermeintlicher Untätigkeit 362  Belting: Das Bild als Text. S. 51. 363  Liebenwein: Studiolo. S. 131. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 156. Zur Geschichte des studiolo auch Schneider: Besuch bei Hieronymus. S. 65-70.

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ist allerdings nicht als Indiz für die negativen Auswirkungen der Melancholie fehlzudeuten. Solche wären beim Verfasser der Vulgata ohnehin als unangebracht empfunden worden. Betont wird auch hier die schöpferische Form der Melancholie, weshalb Gestik und Mimik des Kirchenvaters mehr Hinweis auf die Befähigung zur Selbstbefragung und intellektuellen Durchdringung der Arbeit kraft des eigenen Verstandes sind. Zur Erkenntnis befähigt ist Hieronymus damit durch sich selbst und nicht erst durch eine von außen gewährte Inspiration.364 Dagegen lässt das Pendant zu Ghirlandaios Bildnis des heiligen Hieronymus in Ognissanti eine hiervon deutlich abweichende Haltung erkennen. Sandro Botticellis Vision des Hl. Augustinus bricht förmlich aus seinem Denkraum heraus (Abb. 39). Die Proportionen Augustins stimmen nicht mit denen des ihn umgebenden Raumes überein. Der Tisch ist zu klein, die Decke zu niedrig und Augustinus schlicht zu groß. Der Heilige ist diesem Raum entwachsen.365 Botticelli fertigte damit ein dem Postulat der Ortlosigkeit des Denkens bei Augustin nahestehendes Bildnis, das die Bedeutungslosigkeit konkreter Räumlichkeiten für den Erkenntnisvorgang nicht allein durch die überdimensionierte Statur Augustins hervorhebt, sondern diese auch durch die Blickrichtung des Dargestellten vermittelt. Es ist nicht der Blick ins Leere und keine Erkenntnis aus sich selbst heraus. Augustinus blickt zu einem imaginären Fenster empor, von dem aus das Licht den Raum erhellt und dem Denkenden Eingebung verspricht.366 Ganz anders als bei Botticelli wirkt der Raum des Studierzimmers in Albrecht Dürers Kupferstich Hl. Hieronymus im Gehäus (Abb. 40). Gebeugt über dem Schreibtisch verschwindet der sitzende Hieronymus beinahe in der Tiefe des Raums.367 Ein Eindruck, der durch die Positionierung des 364  Liebenwein: Studiolo. S. 131-133. Dombrowski: Die religiösen Gemälde Sandro Botticellis. S. 139. 365  Dombrowski: Studiolo. S. 373. 366  Liebenwein: Studiolo. S. 132. 367  Gleiches gilt auch für die Darstellung Hieronymus im Gehäus von Antonello da Messina. Eine Arbeit, die wiederholt Dürer zugeschrieben wurde (Lucco: Hl. Hieronymus im Gehäus. S. 212). Das der Raumwirkung Dürers entgegengesetzte Extrem stellen schließlich die beiden Bildnisse Hieronymus’ von Caravaggio dar. Der als „Stubenheilige“ titulierte Hieronymus (Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers. S. 209) wird bei Caravaggio nahezu vollständig aus einem definierbaren räumlichen Umfeld gelöst. Im Halbdunkel des Hintergrundes verschwinden die Konturen des Raumes sowohl in Caravaggios Hieronymus-Bildnis in Montserrat als auch in jenem der Galleria Borghese. Doch während die Darstellung in der Galleria Borghese Hieronymus als Tätigen, in den Text vertieft präsentiert, erscheint er im Bildnis in Montserrat vollkommen in sich versunken; die Hand ans Kinn geführt, dem gestus melancholicus nahestehend.

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Schreibenden verstärkt wird. Zwar liegt der Fluchtpunkt in der Person des Heiligen, doch ist er nicht in den Bildmittelpunkt, sondern etwas abseits von ihm gerückt und erzeugt dadurch eine eigentümliche Wahrnehmung des Bildes.368 Der Raum selbst wird zum Protagonisten des Stichs erhoben. Der geschlossene und ruhige Raum ist es, den Hieronymus für seine Tätigkeit benötigt.369 Weicht Dürers Stich in der Wahrnehmung des Raums zwar spürbar von Botticellis Arbeit ab, so gleichen sie sich doch in ihrer Antwort auf die Frage, ob das Übersetzungswerk des Hieronymus Ergebnis individueller Schöpfungskraft oder äußerer Inspiration ist. Wie bei Botticelli erhält auch bei Dürer das einfallende Licht zentrale Bedeutung als Ausdruck äußerer Inspiration. Derart erleuchtet finden sich auf dem Schreibtisch des Übersetzers keinerlei Hilfsmittel, die für die Anfertigung der Vulgata zu erwarten gewesen wären. Nur ein Tintenfass und das Kruzifix; mehr nicht. Mehr benötigt der aus der Erleuchtung heraus arbeitende Hieronymus nicht.370 Atmosphärisch stellt der Hieronymus-Stich damit das Gegenstück zur Melencolia, I dar. Ruhe und Ordnung hier, Unrast und eine nur schwer zu überblickende Zahl an Gegenständen dort.371 Folgt man Ernst Rebel, so greift Dürer mittels des von der Decke hinabhängenden Kürbis zudem das in Melencolia, I behandelte Thema der Humorallehre wieder auf, da der Kürbis als Hinweis auf den zur Faulheit neigenden, wässrig-trägen Phlegmatiker verstanden werden könne. Doch durch ein gut eingerichtetes Inneres ließe sich dem begegnen. Die (Innen-)Architektur wird somit zum Mittel seelischer Disziplinierung, wie sie schon Constantinus Africanus für den Melancholiker vorgeschlagen hatte.372 Obwohl diese Deutung verlockend klingt, ist sie wahrscheinlich doch zu spitzfindig. Im Kürbis wird man wohl nicht mehr als einen Hinweis auf den Übersetzungszwist um die Vokabel kikayon in Jonas IV,6-10 sehen dürfen, die mal mit Efeu, mal mit dem Kürbis übertragen wurde.373 Über die Darstellung der Kirchenväter hinaus nimmt der Bildtypus des im Studierzimmer verorteten Gelehrten auch an anderer Stelle eine dominante Rolle ein. Mitte des 14. Jahrhunderts schuf Tommaso da Modena für das 368  Eichler: Der hl. Hieronymus im Gehäus. S. 33. Büchsel: Albrecht Dürers Stich Melencolia, I. S. 179. 369  Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers. S. 209. 370  Büchsel: Albrecht Dürers Stich Melencolia, I. S. 182-183. Eichler: Der hl. Hieronymus im Gehäus. S. 33. 371  Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers. S. 209. Büchsel: Albrecht Dürers Stich Melencolia, I. S. 177-180. 372  Rebel: Albrecht Dürer. S. 299. 373  Eichler: Der hl. Hieronymus im Gehäus. S. 33. Büchsel: Albrecht Dürers Stich Melencolia, I. S. 185. Schneider: Albrecht Dürer (1471-1528) – Hieronymus im Gehäuse, 1514. S. 212.

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Dominikanerkloster von Treviso einen Freskenzyklus vierzig namhafter Brüder des Ordens. Von Albertus Magnus über Robert Kilwardby bis hin zu Vinzenz von Beauvais, allesamt abgebildet im Augenblick der Arbeit in ihrer Zelle, aber variiert in ihrer Gestik. Der eine greift zum Buch, ein anderer spitzt die Feder, ein Dritter macht den Betrachter auf eine Passage im von ihm gerade gelesenen Text aufmerksam. Und mancher ist auch im Moment des Versunkenseins in die eigenen Gedanken widergegeben, den Kopf in die Hand gelegt (Abb. 41). Durch die kontinuierliche Verwendung einer stets gleichbleibenden räumlichen Verortung der abgebildeten Ordensmitglieder wird dem unter diesen Fresken Gehenden nachgeborenen Bruder ein Gefühl der Zugehörigkeit zu diesen Gelehrten des Ordo Praedicatorum gegeben. Wie sie brütet auch er in einer solchen Zelle.374 Der isoliert Denkende wird damit wieder ein Stück weit aus seiner Abschottung gelöst. Durch die malerisch erzeugte Scheinwelt einer der Zeit enthobenen Gelehrtengemeinschaft binden Tommasos Fresken den Einzelnen wieder in den Ordensverbund ein. Eine weitergehende Veränderung in der Wahrnehmung dieser spezifischen Bildschematik und des mit ihr verbundenen Denkraums vollzieht sich am Übergang zur Renaissance. Waren beide Elemente bislang vornehmlich an Kirchen und Klöster wie auch an die Abbildung des Klerus gebunden, werden sie deren Obhut nun entzogen. Im Kielwasser der Ausführungen eines Francesco Petrarca über die Vorzüge der vita solitaria wird die mit dem Mönchstum verbundene Idealvorstellung des sich in der Abgeschiedenheit vollziehenden Denkens in zweifacher Hinsicht säkularisiert. In seiner Verortung fern von sakralen Bauten als auch in der inhaltlichen Ausrichtung dieses Denkens. Nicht mehr die Suche nach der Erkenntnis Gottes steht im Vordergrund, sondern die Möglichkeit, einen Ort zu finden, an dem man die Größen der Vorzeit studieren kann.375 Petrarca fand diesen Ort in seiner überaus ergötzlichen transalpinen Einsamkeit (Transalpina solitudo mea iocundissima),376 in seinem Haus in Vaucluse: „Inzwischen aber setze ich im Geiste hier Rom, hier Athen, hier auch mein Vaterland fest, hier überdies alle meine Freunde, die ich besitze oder besaß, nicht allein die in vertrautem Zusammenleben erprobten oder gleichzeitig mit mir Lebenden, sondern auch die vor vielen Jahrhunderten verstorbenen, die mir einzig dank einer Wohltat der Literatur bekannt sind.“377 Die mnemotechnische Funktion des Studierzimmers, bei Petrarca angerissen, ist durch Niccolò Machiavelli weiter ausgebaut worden. Im auf den 374  Perrig: Malerei und Skulptur des Spätmittelalters. S. 92-93. 375  Cheles: The Studiolo of Urbino. S. 22. Hoff: Meditation in Solitude. S. 293-294. 376  So lautet die Bildunterschrift seiner Zeichnung der Quelle der Sorgue (Abb. 25). 377  Petrarca: Familiaria. XV,3,14 S. 107.

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10. Dezember 1513 datierten Brief an Francesco Vettori verweist Machiavelli auf Petrarca und auch Dante, verändert die Bildsprache vom Beginn der Commedia und verarbeitet Petrarcas Lob auf die Quelle der Sorgue in seinem Sinne,378 um schließlich auf sein studiolo zu sprechen zu kommen. „Wenn der Abend kommt, kehre ich nach Hause zurück und gehe in mein Schreibzimmer. An der Schwelle werfe ich die Bauerntracht ab, voll Schmutz und Kot, ich lege prächtige Hofgewänder an und, angemessen gekleidet, begebe ich mich in die Säulenhallen der großen Alten.“379 Hier eröffnet sich ihm die Möglichkeit, dem tristen Alltag in der Verbannung zu entfliehen und in ein Gespräch mit den großen Alten einzutreten, dessen Ergebnis Il principe festhält.380 Die Umdeutung der behandelten Bildschematik reduziert sich aber nicht allein auf den Bereich der Inszenierung literarisch imaginierter Studierzimmer, sondern findet einen realen Niederschlag im studiolo des Herzogspalasts von Urbino. Die beengten Dimensionen dieser kleinen Kammer, die eine Fläche von nur unwesentlich mehr als drei mal drei Meter einnimmt, werden durch die ungewöhnliche Raumhöhe, vor allem aber durch die rundherum mit Bildern versehenen Wände erweitert. Wie im Dominikanerkonvent in Treviso öffnet sich der Raum auch hier mittels der durch die Bildwerke erzeugten Imagination von Schränken, Bücherstapeln und dem Blick durch eine fingierte Säulenhalle auf die sich dahinter abzeichnende Silhouette einer Hafenstadt. Über all dem angebracht sind die Portraits von achtundzwanzig Denkern der Vergangenheit. Antike Autoritäten wie Aristoteles und Cicero aber auch Vertreter des Mittelalters wie Aurelius Augustinus und Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus oder Dante Alighieri und Francesco Petrarca nimmt der Betrachter wahr und erkennt in ihren Bildnissen eine ungewöhnliche Doppelung. Auch für ihre Darstellung wurde konsequent auf die Räumlichkeit des Studierzimmers zurückgegriffen, so dass der Blick aus dem realen studiolo in Urbino in die irrealen Denkräume der Abgebildeten eindringt (Abb. 42). Angesichts der an den Wänden allgegenwärtig angebrachten trompe-l’œil-Illustrationen wäre eine abwechslungsreichere Darstellung der Autoritäten der Altvorderen indes durchaus im Rahmen des Möglichen gewesen. Doch ist eine solche nicht gewollt, weil der Gelehrte 378  Aus dem finsteren Wald zu Beginn der Commedia wird bei Machiavelli ein lichtes, bewirtschaftetes Gehölz, in dem sich der Autor an eine Quelle zurückziehen kann, Bücher Petrarcas oder Dantes bei sich führend (Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 405-406. Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. S. 249-251). 379  Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407. 380  Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407. Hoeges: Machiavellis Principe – Rhetorik – Struktur – Ästhetik. S. 76-78.

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nun mit dem ihm umgebenden Raum verbunden und seine Gelehrsamkeit durch das Studierzimmer unterstrichen wird. Und so spiegelt sich in dieser szenischen Doppelung die Situation in Federico da Montefeltros Palast wider. Umgeben vom selben Interieur wird der Herzog von Urbino auf eine Stufe mit den Gelehrten der Vergangenheit gestellt. Der Palazzo Ducale bricht damit monastische Wissensmonopole auf und erwirkt eine neuartige Verbindung zwischen Bildung und Macht.381 Als ungewöhnlich erweist sich ferner die durch die Intarsien erzeugte allgemeine Unordnung, die Federicos studiolo kennzeichnet. Hastig übereinander gestapelte Bücher, achtlos auf den Sitzbänken abgelegte Gegenstände und über den Raum verstreute Insignien des Herzogs lassen jene für das Denken als notwendig erachtete Ordnung vermissen, die von Constantinus Africanus als Mittel gegen die schädlichen Auswirkungen der Melancholie und in Albrecht Dürers Stich Hl. Hieronymus im Gehäus verfochten wurde. In Anbetracht der geringen Raummaße, einer nur unzureichenden Beleuchtung und dem Fehlen an realen Stellflächen hat man es daher nicht mit einem tatsächlichen, sondern mit einem Schein-studiolo zu tun. Für die Bedürfnisse eines ernsthaft betriebenen Studiums ist der Raum im Palazzo Ducale nicht geeignet. Federico da Montefeltro nutzte das studiolo daher auch nicht zur Arbeit, sondern als Empfangsraum für diplomatische Gespräche unter vier Augen. Dem Gast soll der Eindruck von Gelehrsamkeit des Fürsten vermittelt werden. Federico stellt sich hier als Fürst dar, der sich mit den Autoritäten der Vergangenheit bespricht, sich in seinen politischen Entscheidungen von ihnen beraten lässt.382 Es offenbart sich hierin eine grundlegend andere Konzeption politischen Entscheidens, als jene, die Niccolò Machiavelli mit der Schilderung seines Studierzimmers bezweckte. Der in Ungnade gefallene Machiavelli bietet sich einem Fürsten als Ratgeber an, der seine Lehren aus den im studiolo geführten Gesprächen mit den großen Alten gezogen und sie im Principe niedergeschrieben hat. Federico hingegen braucht keinen solchen Ratgeber, da er selbst im unmittelbaren Austausch mit den großen Alten steht. Zugleich ließe sich die Unordnung in Federicos studiolo auch als Hinweis auf den individuellen Genius des Herzogs lesen. Er überblickt das Chaos; er kann es meistern und kontrollieren.383

381  Roeck/Tönnesmann: Die Nase Italiens. S. 154. Tönnesmann: Die Kunst der Renaissance. S. 47-48. 382  Roeck/Tönnesmann: Die Nase Italiens. S. 170-171. 383  Roeck/Tönnesmann: Die Nase Italiens. S. 169-170.

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2.5.3 Parodie, Kritik und feindliche Übernahme An die beiden Bildtypen des melancholisch gestimmten Denkers beziehungsweise des Blicks in das Studierzimmer erinnerte man sich auch, als seit dem ausklingenden Mittelalter der Unmut über das erstarrte Bildungswesen scholastischen Zuschnitts wuchs. Auf sie griff man zurück und nutzte sie für die eigenen Absichten. Vermeintliche Geistesgrößen wurden durch deren Verwendung parodiert, der gelehrte Stoff, das Bildungswesen selbst kritisiert, bis sich die Gegner mittelalterlicher Denktraditionen diese Motive schließlich selbst einverleibten. Man schrieb das Jahr 1520, als Michelangelo Buonarroti den Auftrag annahm, mit der Neuen Sakristei der Florentiner Kirche San Lorenzo ein Gegenstück zu Filippo Brunelleschis Alter Sakristei zu fertigen. Dort, in einer der eindrucksvollsten Arbeiten Brunelleschis, war die ältere Linie der Familie Medici zu Grabe getragen worden. Hier wurden Giovanni di Bicci de’ Medici, seine Frau Piccarda de’ Medici und Cosimo il Vecchio beigesetzt. In der Neuen Sakristei dagegen sollte die jüngere Generation der Familie, Lorenzo il Magnifico, sein Bruder Giuliano, dessen gleichnamiger Sohn, der Herzog von Nemours und schließlich auch der jüngere Lorenzo, der Herzog von Urbino, dem Niccolò Machiavelli nach dem Tode Giulianos de’ Medici Il Principe gewidmet hatte, ihre letzte Ruhestätte finden.384 Doch wie so viele andere Werke des Meisters wird Michelangelo die Grablege der Medici in der Neuen Sakristei nie vollenden. Für die Grabmäler der beiden Herzöge allerdings gilt dies nicht. Über sie äußerte Giorgio Vasari, der große Biograph italienischer Künstlerviten: „Neben den anderen Statuen befinden sich dort auch jene Heerführer in Rüstung, von denen der eine der in Gedanken versunkene Herzog Lorenzo ist, der das Aussehen eines Weisen hat […].“385 Worüber Vasari in so nüchternem Ton berichtet, hat jüngst Volker Reinhardt als ein Werk entlarvt, das von Michelangelo mit feinem Gespür für Ironie und großem Selbstvertrauen gegenüber seinem Auftraggeber zu einer Parodie des Denkermotivs gefertigt wurde (Abb. 43 und 44). Die von den Medici gewünschte memoria, die Art wie man sich ihrer Verstorbenen erinnern sollte, stimmt mit dem von Michelangelo Geschaffenen nicht überein. Hatte die Familie aus der Vita des Herzogs von Nemours das Bild eines Philosophen zu formen versucht, sollte Lorenzo der Nachwelt als ein aussichtsreicher Feldherr in Erinnerung bleiben.386 384  Néret: Michelangelo. S. 58. Reinhardt: Der Göttliche. S. 166. Markschies: Brunelleschi. S. 101-104. Vasari: Das Leben des Brunelleschi und des Alberti. S. 52-55. Machiavelli: Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. S. 407-408. Machiavelli: Il Principe. S. 5. 385  Vasari: Das Leben des Michelangelo. S. 105. 386  Reinhardt: Der Göttliche. S. 188-190.

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Doch spricht sowohl der Marmor des Grabmals für Giuliano als auch jener für Lorenzo eine andere Sprache. Der Betrachter erkennt in Giulianos Grabmal das Bild eines tatkräftigen jungen Feldherrn. Die gesamte Körperhaltung lassen die Statue als ein Zeugnis für die Bereitschaft des Herzogs, Entscheidungen zu treffen und Befehle zu erteilen, erscheinen. Fast wirke es, als würde sich der Herr von Nemours sogleich erheben.387 Dagegen zeugt die Statue auf Lorenzos Grab von einer anderen Geisteshaltung. In der Pose des in sich versunkenen Denkers dargestellt, die rechte Hand das Kinn stützend, die linke in einer höchst eigenwilligen Haltung vom Oberschenkel des rechten Beines abgespreizt, wird Lorenzo de’ Medici trotz oder gerade wegen seiner antik anmutenden Rüstung nicht wie sein Verwandter als zupackender Heerführer wahrgenommen, sondern als falscher Mann am falschen Ort. „Die Widersinnigkeit eines in abgrundtiefe Meditation versunkenen Generals treibt die Körperhaltung auf die Spitze. Dadurch, dass er das rechte Bein vor das linke stellt, blockiert sich dieser Anti-Held selbst. […] dieser ‚Lorenzo‘ [müsste] erst einmal seine Gliedmaßen ordnen, um aufstehen zu können.“388 Vom Habitus eines Weisen, den Vasari bei Lorenzo erkannt haben mochte, bleibt dem Herzog von Urbino somit nichts. Hatte sich Michelangelo noch damit begnügt, anhand des aus dem Mittelalter überlieferten Motivs eines introvertierten Denkers seinen Schabernack mit den Mächtigen von Florenz zu treiben – ihnen vielleicht sogar ihre Ohnmacht gegenüber der Macht der Bilder und des Bildhauers zu demonstrieren389 –, verband Hieronymus Bosch die Parodie dieses Bildtyps mit der Kritik an vermeintlicher Gelehrsamkeit. In der Tafel Das Steinschneiden knüpft Bosch sein Urteil über die Gelehrten an die visuelle Umsetzung der niederländischen Redewendung „wer dumm ist, der habe einen Stein im Kopf“ (Abb. 45). Doch welcher der vier ins Bild gesetzten Protagonisten muss sich hier die Eselsohren anziehen lassen? Ist es der auf seinem Sessel fixierte Patient, dessen Arzt bereits 387  Reinhardt: Der Göttliche. S. 188-189. 388  Reinhardt: Der Göttliche. S. 190. Dass sich die martialische Darstellung beider Herzöge nicht mir ihren militärischen Errungenschaften deckt, betont auch Frank Zöllner. In der Beinstellung Lorenzos sieht er hingegen eher ein Zitat aus der römischen Kaiserikonographie (Zöllner: Der Bildhauer 1513-1534. S. 244). 389  Zumal sich der Künstler bereits selbst in einer ganz ähnlichen Pose dargestellt hatte. Im Bildnis des Propheten Jeremias in den Fresken der Sixtinischen Kapelle wähnt man ein Selbstportrait Michelangelos erkennen zu können (King: Michelangelo und die Fresken des Papstes. S. 309-310. Néret: Michelangelo 1475-1564. S. 46. Rausch: Malerei der Hochrenaissance und des Manierismus in Rom und Mittelitalien. S. 329). Zu den Befugnissen Michelangelos im Verlauf der Planung und Erstellung der Medici-Grablege Reinhardt: Der Göttliche. S. 168-169 und 187. Zur spöttischen Haltung Michelangelos gegenüber seinen Auftraggebern Zöllner: Der Bildhauer 1513-1534. S. 253.

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das Skalpell an sein Haupt setzt? Der die Tafel umgebende Schriftzug lässt diese Möglichkeit wahrscheinlich wirken: „Meester snijt die keye ras – Mijne name Is lubbert das“.390 Doch womöglich ist eher der Medicus gemeint? Durch den Trichter, den er sich an Stelle einer Kopfbedeckung aufgesetzt hat, wird dieser als bestenfalls wenig seriöser Vertreter seiner Zunft gekennzeichnet. Die ungewöhnliche Kopfbedeckung des Arztes sei als Weisheitstrichter zu verstehen, den sein Träger aber nicht zu gebrauchen weiß. Stattdessen gehe es ihm um das Geld seines Patienten. Nicht den Stein der Torheit entfernt er ihm aus dem Kopf, sondern eine Blume, eine Sumpftulpe, die als ein Symbol des Geldes gilt. Zusätzlich verstärkt auch das Messer an der Börse des Patienten den so erzeugten Eindruck.391 Ebenso tragen auch die beiden Repräsentanten der Geistlichkeit kaum zur Vertrauensbildung bei. Von dem gestikulierenden Mönch mit der Weinkanne in der Linken hat der zu Operierende keinen Zuspruch zu erwarten. Auch von Seiten der Nonne ist vergeblich auf Empathie zu hoffen. Den Kopf in die Hand gestützt, hängt sie schwermütig den eigenen Gedanken nach und lässt nicht erkennen, dass sie das Geschehen um sich herum schert.392 In der vertrauten Pose des Denkenden dargestellt ist sie in sich selbst versunken und dabei doch nur eine Parodie dieses Motivs. Es geht ihr nicht darum das Wesen der Welt zu erfassen. Ihr Blick ins Leere ist ein Spiegelbild ihres leeren Verstandes. Wie der Arzt trägt auch sie mit dem Buch ein Symbol für Weisheit und Bildung auf dem Kopf. Doch ebenso wie der Arzt kann auch sie nichts mit ihm anfangen. Statt das Buch zu lesen, balanciert sie es lieber unnütz auf ihrem Haupt. In ihrer Weigerung sich mit dem geschriebenen 390  Meister, schneid den Stein rasch – oder raus –, Mein Name ist Lubbert Dachs (betrogener, gehörnter Dachs). Es ist der Name, der im volkstümlichen Theater für den Trottel vorgesehen ist (Linfert: Hieronymus Bosch. S. 46. Büttner: Hieronymus Bosch. S. 106. Harris: Hieronymus Bosch und die geheime Bildwelt der Katharer. S. 152). 391  Tolnay: Hieronymus Bosch. S. 54 und 335. 392  Für Linfert: Hieronymus Bosch. S. 46 ist die Nonne hingegen gezeichnet durch einen verbissenen, boshaften Ausdruck. Auch starre sie nicht ins Unbestimmte, sondern auf die Operation vor ihr. Eine gänzliche andere Deutung des Personals und der dargestellten Szenerie nimmt Lynda Harris vor. In der abgebildeten Frau sei keine Nonne, sondern eine Priesterin der Katharer zu sehen. Auch sei der Operateur als der katholischen Kirche zugehörig zu werten. Boschs Werk thematisiere daher das durch die Priesterin gemachte Angebot der Geisttaufe. Allerdings habe der Patient dieses Angebot ausgeschlagen und sich stattdessen in die Hände zweier Vertreter der römisch-katholischen Kirche begeben. Harris stützt ihre Auslegung unter anderem darauf, dass im Verlauf der von den Katharern praktizierten Taufe den Anwärtern ein Evangeliar auf den Kopf gelegt wurde. Der Trichter auf dem Kopf des Operateurs sei demnach eine Verspottung der katholischen Taufpraxis (Harris: Hieronymus Bosch und die geheime Bildwelt der Katharer. S. 149-152). Eine Übersicht der Deutungen des Werks geben Tolnay: Hieronymus Bosch. S. 335-336 und Marijnissen/Ruyffelaere: Hieronymus Bosch. S. 440-443.

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Wort zu befassen wird die Nonne zum Sinnbild für die accidia, die Todsünde des Müßiggangs. Bosch hatte sich mit ihr in seiner Darstellung der sieben Todsünden schon einmal befasst. Und auch hier begegnet das Motiv des unbeachteten Buches als Symbol für die Hinwendung zu einem frevelhaften Leben (Abb. 46). Doch während es in der Darstellung der accidia eine Nonne ist, die dem schlafenden Sünder die Rückkehr zu einem gottgefälligen Leben offeriert, indem sie ihm Rosenkranz und Buch überbringt, ist es in der Tafel Das Steinschneiden die Vertreterin des Klerus selbst, die sich der Sünde des Müßiggangs hingibt. Damit wird die Tafel zu einer unverhohlenen Kritik am Klerus.393 Zugleich ließe sich die Darstellung der Nonne aber auch als Hinweis auf das nur vorgebliche Wissen der Kleriker verstehen. Ausdruck der Torheit in diesem Werk ist es damit nicht allein, sich in die Hände eines Quacksalbers zu begeben, eine nicht minder große Eselei ist es, auf die Kenntnisse der Geistlichen zu vertrauen. Deutlich weiter als Michelangelo und Hieronymus Bosch ging Sebastian Brant bei seiner Bearbeitung des Denkermotivs. Dabei griff er nicht auf den Bildtyp des durch Walther von der Vogelweide exemplarisch vertretenen Denkers zurück, sondern bediente sich des zweiten eingangs aufgeführten Bildes, dem Denkenden inmitten seines Studierzimmers. Unverhohlen macht er in der Beschreibung des Büchernarren auf seine Missbilligung unnützen Bücherwissens aufmerksam. In seinem satirischen Werk Das Narrenschiff präsentiert Brant dem Leser die Figur des Büchernarren, in dem sich die Kritik an der Leblosigkeit der universitären Lehre des späten Mittelalters Bahn bricht. Von Seiten der Scholastik werde nur noch Wortklauberei betrieben, statt eine echte Auseinandersetzung mit den Texten zu suchen.394 Einer Galionsfigur gleich hat der Büchernarr am Bug des Narrenschiffes Platz genommen. Er rühmt sich seines Doktorgrades und verlässt sich ganz auf seine Bücher, von denen er zwar eine Vielzahl sein Eigen nennt, doch sie weder liest 393  Büttner: Hieronymus Bosch. S. 107-108. Linfert: Hieronymus Bosch. S. 42-44. Zur Kritik am Umgang des Klerus mit Büchern vgl. Bracciolini: Poggius Florentinus Secretarius Apostolicus pl. sal. dicit Guarino suo Veronesi. S. 242-244. In die Nachfolge von Boschs accidia-Darstellung sind Rembrandts Schlafender alter Mann und Jan Vermeers Schlafendes Mädchen einzureihen. Der gestus melancholicus zeichnet in beiden Gemälden den in den Schlaf gesunkenen Mann wie auch das Mädchen aus und steht, wie bei Hieronymus Bosch, nicht für eine produktive Form des Denkens, sondern ist abermals als Symbol der sündhaften Trägheit zu begreifen (Manuth: Nr. 9: Schlafender alter Mann. S. 256. Büttner: Vermeer. S. 68). Dagegen sieht Wheelock in Vermeers Schlafendes Mädchen weniger eine Darstellung der Trägheit als der durch Liebeskummer hervorgerufenen Melancholie (Wheelock: Vermeer. S. 74). 394  Białostocki: Bücher der Weisheit und Bücher der Vergänglichkeit. S. 14-16.

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noch versteht. Vermutlich wäre er dazu auch gar nicht in der Lage, gesteht der Büchernarr doch schließlich selbst, dass „jch gar wenig kan latin“.395 Mit dem der Schilderung des Büchernarren beigegebenen Stich werden Sebastian Brants Vorwürfe zusätzlich betont (Abb. 47). Die Bedeutung dieser seiner Schrift hinzugefügten Bilder als dem Text gleichberechtigt gegenüberstehende Bestandteile des Gesamtwerks hebt Brant in der Vorrede zum Narrenschiff selbst hervor wenn er schreibt: „Der bildniß jch hab har gemacht / Wer yeman der die gschrifft veracht / Oder villicht die nit künd lesen / Der siecht jm molen wol syn wesen / Vnd fyndet dar jnn / wer er ist / Wem er glich sy / was jm gebrist / Den narren spiegel ich diß nenn / […].“396 Vor die Augen des Betrachters tritt im Bildnis des Büchernarren im Studierzimmer eine mit Schellenkappe, Brille und Staubwedel ausstaffierte Gestalt. Sie thront erhoben auf einem Pult, das ihr zugleich als Schrank zur Aufbewahrung einer enormen Zahl an Büchern dient. Im Hintergrund des Bildes erhebt sich ein Regal, auf dessen Brettern sich weitere Schriften stapeln. Doch dieses Horten von Büchern hat nichts mehr gemein mit der Freude am Buch, die Richard de Bury in seinem Philobiblon postulierte. Die Vorzeichen hatten sich inzwischen geändert. Vor allem der Buchdruck lässt die einstmalige Rarität, die aufzuspüren nicht unerhebliche Mühe kostete und nicht geringe Geldsummen verschlang, zu einem der breiten Masse zugänglicheren Produkt werden. Konservative Kreise, und Sebastian Brant wird diesen zugerechnet werden müssen, sahen diesen Wertverfall des Buches mit einem generellen Verfall der Kultur einhergehen. Das Buch wird zum Bestandteil der Vanitas-Ikonologie, die sich in den Bücherstilleben ein eigenes Subgenre erschafft. Als Attribut der Gelehrsamkeit und des Wissens verliert das Buch an Bedeutung. Stattdessen wird es nun vermehrt auch als Inbegriff für eitlen Tand und Vergänglichkeit wahrgenommen, gehört es doch zu den Eigenheiten der Schrift zu versuchen, schon lange Vergangenes festzuhalten.397 Somit erhält auch das Buch seinen Platz innerhalb der Stilleben-Malerei und gesellt sich ikonographischen Elementen wie dem Chronometer, dem Totenschädel, reifen Früchten oder Blumengebinden in voller Blütenpracht zu. Verwendung findet das Buch derart etwa im Vanitas-Stilleben von Pieter Claesz (Abb. 48). Gemeinsam mit einer Taschenuhr, blanken menschlichen Gebeinen, einem gestürzten Römer und einer erloschenen Kerze wird es zum 395  Brant: Das Narrenschiff. S. 112-114. 396  Brant: Das Narrenschiff. S. 108. Knape: Einleitung. S. 78-81. 397  Schneider: Stilleben. S. 187-189. Cavalli-Björkman: Kompositportraits und umkehrbare Köpfe. S. 122. Schneider: Meister des Haintz Narr – Der Büchernarr. S. 224. Mulsow: Prekäres Wissen. S. 399-400.

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Symbol für ein verfehltes Leben, das sich allein an Diesseitigem orientiert.398 In einem ebensolchen Sinne begegnet das Buch ferner in Antonio de Peredas Stilleben Der Traum des Ritters (Abb. 49). Eingeschlafen in einem Lehnstuhl sitzend, die Wange in die linke Hand gestützt und damit dem gestus melancholicus nahestehend – wenngleich es sich hier, wie schon bei Hieronymus Bosch, eher um den Ausdruck der Trägheit handelt –, materialisieren sich die Inhalte des ritterlichen Traums auf dem Tisch im rechten Bildteil: Ein Globus, verschlungen beinah vom dunklen Hintergrund, Waffen und Teile einer Rüstung, eine Krone und ein Lorbeerkranz, Münzen und Banknoten sind ebenso zu erkennen wie Musiknoten und eine durch den Harnisch fast vollständig verdeckte Geige. Daneben eine Uhr, zwei Totenschädel und nicht zuletzt auch zwei Bücher bedecken, neben etlichen weiteren Gegenständen, die erträumte Tischplatte. Dass es sich hierbei um Attribute der Vergänglichkeit handelt, wird durch die ein Spruchband ausbreitende Engelsfigur im Bildhintergrund endgültig geklärt: „Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehen.“399 Der Gattung des Bücherstillebens zugerechnet werden kann schließlich auch Giuseppe Arcimboldos Kompositportrait Der Bibliothekar (Abb. 50). Zusammengesetzt aus übereinandergestapelten Büchern, großen wie kleinen, ergibt sich das Antlitz eines Mannes. Vermutlich handelt es sich bei ihm um Wolfgang Lazius. Der studierte Mediziner und Rektor der Universität Wien war in der Mitte des 16. Jahrhunderts von Kaiser Maximilian II. zum Hofhistoriographen ernannt worden. Die Finger seiner rechten Hand bilden sich aus den Lesezeichen der zuunterst liegenden Bücher, zwei Schlüsselringe stehen für seine Augen, ein Staubwedel für seinen Bart. Nicht zuletzt in der Verwendung dieses Requisits kann man eine Bezugnahme Arcimboldos auf Sebastian Brants Büchernarren erkennen. Der Staubwedel als gewichtiges Utensil zur Pflege seiner Schätze wird bei Brant wie Arcimboldo gleichermaßen hervorgehoben. Zugleich zitiert Arcimboldo bei der Darstellung seines Büchernarren auch ein Detail aus Hieronymus Boschs Das Steinschneiden, zumindest verwendet er ein vergleichbares Motiv. Das aufgeschlagene Buch, das dem Bibliothekar an Stelle eines Hutes als eigenwillige Kopfbedeckung dient, stellt eine Parallele zu jenem Buch dar, das bei Bosch von der Nonne auf ihrem Kopf balanciert wird. Hier wie da schmückt man sich mit seinen Büchern, gefällt sich in der Rolle eines nach außen hin gelehrt Wirkenden, doch tatsächlich ist .

398  Schneider: Stilleben. S. 86. 399  Schneider: Stilleben. S. 80-81.

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alles bloßer Schein. Das Buch wird nicht gelesen, es ist nur Staffage und damit nicht Symbol der Weisheit, sondern wissenschaftlicher Torheit.400 Auch an anderer Stelle wird im Buch nicht mehr gelesen. Rembrandt van Rijn verbindet in seinem Gemälde Der lustlose Student die beiden eingangs genannten Bildtypen und somit den gestus melancholicus mit dem Blick in das Studierzimmer (Abb. 51).401 Doch dieser Raum vermag den Denkenden nicht zu inspirieren. Das fahle Zimmer wirkt zu groß, die Figur in ihm wie verloren. Ein Eindruck, der durch die Dimension des Tisches und des aufgeschlagenen Codex auf ihm noch verstärkt wird. Und so erinnert der in die schmucklose Wand geschlagene Nagel unweigerlich an die Möglichkeit, das Studium kurzerhand an selbigen zu hängen. Zwar verspricht ein Studium künftigen Wohlstand und Ansehen, eine Verheißung, die durch den Tisch, bei dem es sich um einen Zahltisch handeln dürfte, der für die Abwicklung von Geldgeschäften gedacht ist, gemacht wird, doch ist das Studium nicht mehr, was es einmal war. In Rembrandts Augen hat es eine Veränderung durchlaufen, die ihm nicht zum Vorteil gereicht. Und so wird es von seinem Studenten nicht mehr als aufregend, von Lust am Lernen und Wissen geprägt wahrgenommen. Es ist erstarrt und versteinert. Bar der Eigenschaften, vor denen sich Bernhard von Clairvaux zu Beginn der Scholastik noch gefürchtet hat. Rembrandts Student hat die Lust an diesem Studium verloren. Sein Blick geht ins Leere weg von den Büchern. Den Kopf hat er in die linke Hand gestützt, seinen Körper frei von jedweder Anspannung auf einem wackeligen, weil lediglich dreibeinigen Stuhl niedergelassen. Auf dem Tisch zu seiner Linken überragt eine mittelalterliche Pergamenthandschrift, von einem modernen Buch gestützt, den größten Teil der Tischfläche. Sie ist es wohl, die in nicht unerheblichem Maß die Unlust des Studenten hervorruft. Stellvertretend für das gesamte System mittelalterlicher Wissenschaft blockiert sie die Beschäftigung mit den neuen Erkenntnissen, indem sie den Griff zum neuen Buch versperrt. Die von Rembrandt aufgegriffenen Bildtypen mittelalterlichen Denkens werden vom Künstler somit zu einer Visualisierung des Vorwurfs von der überholten scholastischen Denkart umfunktioniert, deren wissenschaftliches Streben bereits mit der stets aufs Neue vorgetragenen Kommentierung klassischer Werke zufriedengestellt

400   Cavalli-Björkman: Nr. IV.29: Der Bibliothekar. S. 170. Cavalli-Björkman: Kompositportraits und umkehrbare Köpfe. S. 121-122. Wolf: Giuseppe Arcimboldo. S. 6-8. 401  Die Zuschreibung des Gemäldes in das Œuvre Rembrandts erfolgte erst vor wenigen Jahren. Lange galt Der lustlose Student als eine Arbeit von Pieter Codde. Hierzu Schnackenburg: ‚Der lustlose Student‘. S. 187-190. Schnackenburg: Nr. 6: Student mit Pfeife neben einem Tisch mit Büchern (Der lustlose Student). S. 250. Werche: Pieter Codde. S. 172-173.

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wurde.402 Der lustlose Student ist damit weit mehr als nur eine satirische Bearbeitung vertrauter Motive. Rembrandt hat mit ihm die Möglichkeit ergriffen, auf die aus der Zeit gefallenen Lerninhalte und Lehrmethoden des gegenwärtigen Universitätswesens zu verweisen. Schließlich werden diese Motive aber nicht nur zum Zwecke der Parodie genutzt oder um mit ihnen Korrekturen an überkommenen Verhältnissen einzufordern. Die Vertrautheit des Betrachters mit derartigen Bildtypen sorgt dafür, dass sie nicht aus dem Repertoire einer visuellen Umsetzung geistiger Prozesse verschwinden. Und so wird das Motiv des sich in die Natur zurückgezogenen Denkers auch von Gegnern mittelalterlicher Denkformen wiederholt aufgegriffen und in ihrem Sinne verwendet. Im Schatten eines Baumes hat sich Gottfried Wilhelm Leibniz niedergelassen. Zu seinen Füßen das Ufer eines Gewässers. Den Kopf auf die Hand gestützt, die Schulter an den Baum gelehnt, schweift sein Blick in die Ferne, weg von den beiden vor ihm liegenden Büchern. In seinem Rücken öffnet sich der ihn umgebende Wald und gibt den Blick auf die Dächer eines Gehöfts frei (Abb. 52).403 In einem Brief an Nicolas Remond hat Leibniz diese im Wäldchen Rosenthal bei Leipzig spielende Szene geschildert, die dann von Johann August Eberhard in seiner Leibniz-Biographie aufgegriffen wurde.404 Die Abkehr von der Welt der Menschen und der Rückzug in die Natur, um eine Entscheidung darüber zu 402  Schnackenburg: ‚Der lustlose Student‘. S. 195-197. Schnackenburg: Nr. 6: Student mit Pfeife neben einem Tisch mit Büchern (Der lustlose Student). S. 250. Schmid: Kommentar: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlicher Aristoteles-Rezeption. S. 51. Zur Kritik an der Spät-Scholastik unter anderem: Speer: Die Summa theologiae lesen – eine Einführung. S. 1. Cohen: Die zweite Erschaffung der Welt. S. 82. Petrarca: Mein Geheimnis. S. 259-260. Luther/Melanchthon: Deutung der zwo greulichen Figuren, Bapstesels zu Rom und Mönchskalb zu Freiberg in Meissen funden. S. 377. Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. I,5 S. 36. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Sendschreiben an den Leser S. 1112; IV,7 S. 266-267; IV,8 S. 290-291; IV,17 S. 377-378. Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. S. 17. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. S. 587-588. Auch in der Literatur hat der Abgesang auf die scholastische Art des Denkens Einzug gehalten. Siehe Zweig: Amerigo. S. 15. Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. S. 26 und S. 34-35. Dort heißt es über den Unterricht an der Universität Paris: „Auch der Unterricht ekelt ihn [Erasmus] an: rasch lernt er den Geist der Scholastik mit seinem abgestorbenen Formalismus, seinen schalen Talmudismen und Spitzfindigkeiten für immer verabscheuen, der Künstler in ihm empört sich – […] – gegen die Vergewaltigung des Geistes in diesem Prokrustesbett.“ 403  Wunderlich: ‚Buch‘ und ‚Leser‘ in der Buchillustration des achtzehnten Jahrhunderts. S. 98-99. Meier: Die Buchillustration des 18. Jahrhunderts in Deutschland und die Auflösung des überlieferten Historienbildes. S. 150. 404  Leibniz: Brief vom 10. Januar 1714 an Nicolas Remond. S. 606. Eberhard: Gottfried Wilhelm Freyherr von Leibnitz. S. 16-18.

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fällen, wie gedacht werden soll, wird in Eberhards Biographie wie in Johann David Schuberts Kupferstich dieser Szene mit der Loslösung von einer aristotelisch geprägten Philosophie, mit der Loslösung auch von der Scholastik und der Hinwendung zur Mathematik und Mechanik verbunden.405 In diesem Moment der Entscheidung richtet sich Leibniz’ Blick dabei weg von den vor ihm ausgebreiteten Büchern der alten und neuen Philosophie. Weg auch von der Welt des Menschen. Stattdessen blickt er in den Raum der Natur. Fast schon wie bei Walther von der Vogelweide scheint auch Leibniz Inspiration in der Natur zu suchen. Die Abkehr von mittelalterlichen Denkmustern wird somit durch die Übernahme einer der Archetypen der Darstellung mittelalterlicher Denkformen vollzogen. Orientierung für die gewählte Form der Darstellung Leibniz’ bot Schubert aber nicht allein das mittelalterliche Vorbild. Wahrscheinlich spielt es für ihn ohnehin eine zu vernachlässigende Rolle. Als gewiss wirkmächtiger darf das zum Zeitpunkt der Fertigung von Schuberts Stich im Jahr 1796 bereits weitverbreitete Thema liegender Lesender inmitten der Natur angesehen werden. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf das Gemälde Sir Brooke Boothby von Joseph Wright of Derby hingewiesen (Abb. 53). Der Maler lässt den englischen Gentleman hier auf einer Waldlichtung liegend, den Kopf in der inzwischen hinlänglich vertrauten Pose in die rechte Hand gestützt nachdenklich den Blick des Betrachters suchen. In der Linken hält er das Buch, um das seine Gedanken kreisen: es ist mit „Rousseau“ beschrieben.406 Rund dreißig Jahre bevor Joseph Wright daran ging, Sir Brooke Boothby zu portraitieren, befindet sich Jean-Jacques Rousseau auf dem Weg, seinen inhaftierten Freund Denis Diderot in der Festung von Vincennes zu besuchen. Als Autor staats- und religionskritischer Schriften war Diderot unbefristet in Haft genommen worden. Erst seit Kurzem ist es ihm wieder gestattet, Besuch zu empfangen.407 Zu den Ersten, die ihn in der Haft besuchen, gehört auch Rousseau. Im Spätsommer 1749 begibt er sich bereits zum wiederholten Male nach Vincennes. Inzwischen ist ihm die Strecke ebenso vertraut wie der Gang durch die Festungsmauern des Gefängnisses. Die Monotonie der zur Routine 405  Kabitz: Die Philosophie des jungen Leibniz. S. 49-51. Mercer: Leibniz’s Metaphysics. S. 2427. Bredekamp: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. S. 40. 406  Białostocki: Bücher der Weisheit und Bücher der Vergänglichkeit. S. 28. Rousseau schenkte Boothby in den 1770er Jahren ein Exemplar seiner Dialoge, die Boothby wiederum in England edierte (Wenderholm: Verwirrung, Schwindel, Herzklopfen. S. 430-431). Wunderlich: „Buch“ und „Leser“ in der Buchillustration des achtzehnten Jahrhunderts. Anm. 24, S. 99. Meier: Die Buchillustration des 18. Jahrhunderts in Deutschland und die Auflösung des überlieferten Historienbildes. Anm. 338, S. 150. 407  Geier: Aufklärung. S. 129-130. Rousseau: Die Bekenntnisse. II,8 S. 345.

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gewordenen Wegstrecke, die fehlende Begleitung, vor allem aber die Hitze der Mittagssonne haben ihn diesmal eine Ausgabe des Mercure de France mit auf den Weg nehmen lassen, darauf hoffend, dass ihre Lektüre seine schnellen Schritte mäßigt. Und so fällt Rousseaus Blick auf die im Mercure abgedruckte Preisfrage der Akademie von Dijon: „Ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Verderbnis oder zur Veredlung der Sitten beigetragen hat? Im Augenblick, da ich dies las, sah ich eine andre Welt, und ich wurde ein andrer Mensch.“408 Rastend unter einer Eiche begann Rousseau sofort damit, erste Gedanken niederzuschreiben, ohne dabei auch nur annähernd all das zu Papier zu bringen, was ihm durch den Kopf ging.409 So wollte Rousseau diesen Moment der Erleuchtung überliefert wissen, so hat er ihn in seinen Confessions und abermals in einem Brief an Malesherbes selbst beschrieben und so wurde das Geschehen schon bald auch bildlich festgehalten. Zum Zeitpunkt, als Joseph Wright sein Bildnis des Sir Brooke Boothby schuf, gab es somit bereits mehrere Gemälde, die Rousseaus Erleben auf dem Weg nach Vincennes behandelten.410 Zum Vorbild, nicht allein für Wright, sondern auch für Schuberts Leibniz-Stich, taugte etwa Rousseaus Erleuchtungserlebnis von Januarius Zick (Abb. 54). Man erblickt Rousseau, zu Boden gesunken und an einen Baum gelehnt in Kleidern ähnlich jenen, in denen Allan Ramsay den Philosophen in seinem rund vier Jahre älteren Portrait dargestellt hat (Abb. 55).411 Mantel und Hemd sind geöffnet, die Rechte greift in Richtung Herz, die Linke umfasst das Exemplar des Mercure de France. Auffallend an dieser Bearbeitung der Bildthematik ist allerdings, dass sich die zu konstatierende Nähe zur Natur in einem wichtigen Detail von den Vorgaben Rousseaus löst. Rousseaus Naturbezug, der im ersten Moment eine Nähe auch zu mittelalterlichen Formen des Denkens darstellt, beruft sich auf eine von Menschenhand geformte Landschaft. Es ist nicht wie bei Walther von Vogelweide der Rückzug in unberührte Natur, deren ordo zum Vorbild für die menschliche Gemeinschaft erhoben wird. Das Erleben von Natur erfolgt bei Rousseau auf der Avenue von Paris nach Vincennes, am Fuße eines der Bäume am Wegesrand, die, wie Rousseau in den Confessions schreibt, stets beschnitten

408  Rousseau: Die Bekenntnisse. II,8 S. 345-346. Rousseau: Lettre 1633: Rousseau à ChrétienGuillaume de Lamoignon de Malesherbes (12.1.1762). S. 26. 409  Rousseau: Die Bekenntnisse. II,8 S. 346. Rousseau: Lettre 1633. Rousseau à ChrétienGuillaume de Lamoignon de Malesherbes (12.1.1762). S. 26. 410  Białostocki: Bücher der Weisheit und Bücher der Vergänglichkeit. S. 28-29. Bredekamp: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. S. 40-41. 411  Straßer: Nr. 31: Rousseau löst die Preisfrage der Akademie Dijon, 1765-1770. S. 108-109. Wenderholm: Verwirrung, Schwindel, Herzklopfen. S. 415.

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waren.412 Die derart gehegte und angeordnete Natur kaschiert Zicks Gemälde und lässt sie wieder in ihrer urwüchsigen Form erscheinen. Erst so wird daher auch nachvollziehbar, warum die Forschung in Zicks Rousseau eine direkte Verkörperung der Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon zu sehen meint.413 Aus Rousseaus Schilderung seiner Erleuchtung ergibt sich keine direkte Wechselseitigkeit zwischen Naturerleben und dem gezogenen Schluss, dass die Wissenschaften gleich wie die Künste eben nicht zu einer Verfeinerung der Sitten beigetragen haben. Wissenschaften und Künste seien als Ausdruck von Dekadenz und Verfall zu bewerten. So soll es in Ägypten, Griechenland, Rom, Byzanz und auch in China gewesen sein. Lediglich die sonst als barbarisch verlachten Völker hätten sich noch das Bewusstsein eines sittlichen und geglückten Lebens bewahrt.414 Wenige Jahre später veröffentliche die Akademie von Dijon neuerlich eine Preisfrage, deren Beantwortung Rousseau nicht ausschlagen wollte. Der „Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ war erfragt worden.415 Rousseau antwortete mit dem Discours sur l’inégalité. Von der Möglichkeit, Missverständnisse zu produzieren merklich befreit, stellt Rousseau auch den Ort des Denkens dar, der zur Entstehung des Deuxième Discours geführt hat. Um über diesen Gegenstand in Ruhe nachzudenken, unternahm ich eine Reise von sieben bis acht Tagen nach Saint-Germain mit Thérèse, unserer Wirtin, die eine gute Frau war, und einer ihrer Freundinnen. Ich rechne diesen Ausflug zu den angenehmsten meines Lebens. Es war sehr schönes Wetter. Die guten Frauen sorgten für alles und trugen die Kosten. Thérèse unterhielt sich gut mit ihnen; und ich, jeder Sorge ledig kam, um mich zu den Stunden der Mahlzeit zwanglos zu erheitern. Den ganzen übrigen Tag tief im Walde weilend, suchte und fand ich dort das Bild der Urzeit, deren Geschichte ich kühn umriss; […].416 412   Rousseau: Die Bekenntnisse. II,8 S. 345. Als Orientierungspunkt diente hingegen Augustins Bekehrungserlebnis. Neben den zahlreichen Verbindungen zwischen Rousseau und Augustinus erweist sich das Geschehen im Mailänder Garten auch für Januarius Zick als bedeutsam. Als er seinem Vater Johann Zick, Maler wie er selbst, bereits bei dessen Aufträgen half, fertigte dieser eine Tolle lege-Fresko für das Prämonstratenser-Kloster in Schussenried (Wenderholm: Verwirrung, Schwindel, Herzklopfen. S. 426-429). 413  Wenderholm: Verwirrung, Schwindel, Herzklopfen. S. 426. Bredekamp: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. S. 41. Auch Tabarasi: Der Landschaftsgarten als Lebensmodell. S. 224 hebt die Assoziation Rousseaus mit dem frei wachsenden Baum hervor und sieht in den gestutzten Bäumen des Barockgartens einen Gewaltakt des Menschen wider die Natur. 414  Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. S. 27-33. 415  Rousseau: Die Bekenntnisse. II,8 S. 383. 416  Rousseau: Die Bekenntnisse. II,8 S. 383. Im Discours sur l’inégalité erwähnt Rousseau noch einen zweiten, an Machiavelli und die Entstehung des Principe gemahnenden, Denkort. Er imaginiert sich in das Gymnasium von Athen, wo er vor Platon und Xenokrates seine

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Aus dem Wald heraus entstehend und sich an ihm orientierend lässt sich dieser Ansatz Rousseaus erheblich leichter mit mittelalterlichen Denkmustern im Stile eines Walthers von der Vogelweide vereinen. Dabei folgt die Übernahme auch mittelalterlicher Symbolik zu einem nicht unerheblichen Teil jedoch dem Ziel, sich zugleich von einer großen Zahl mittelalterlicher Denker zu distanzieren. Anhand des Titelblatts des Deuxième Discours wird dies schnell deutlich. Dem Titelbild einer libertas, umgeben von allerlei Freiheitssymbolen, ist ein Zitat des Aristoteles vorangestellt: „Man muss nun eher an den Dingen, die sich der Natur gemäß verhalten, das, was von Natur aus ist, betrachten und nicht an denen, die verdorben sind.“417 Was wie eine Reminiszenz an die philosophische Autorität des Aristoteles und damit weiter Teile des Mittelalters wirkt, ist doch das genaue Gegenteil davon. Die Distanz zu Aristoteles könnte kaum größer sein und wohl nur wenig liegt Rousseau ferner, als sich dem politischen Aristotelismus eines Albertus Magnus oder Thomas von Aquin anzuschließen. Der Mensch als von Natur aus politisches Wesen ist für Rousseau ein nicht mehr nachzuvollziehender Ansatz politischer Anthropologie.418 In der Person von Jean-Jacques Rousseau ist ein vorläufiger Endpunkt dieser kleinen Geschichte der Verwendung mittelalterlicher Bildsymbole erreicht. Sie begann mit einer parodistischen Nutzung dieser Zeichen. Sie nahm ihren Lauf mit Vertretern, die sich der Bildsymbolik auch oder sogar vornehmlich zum Zwecke der Kritik an den aus dem Mittelalter tradierten Denkformen bedienten. Und sie endete schließlich mit der Übernahme mittelalterlicher Bilder durch die Repräsentanten neuer Philosophien. 2.5.4 Versuch einer Erklärung Wie lässt sich die umrissene Engführung auf die Darstellung isoliert Denkender am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erklären? Eine mögliche Antwort bietet die seit der Renaissance ungleich stärkere Betonung der Existenz eines individuellen Genius. Eine Vorstellung, die sich im Verlauf des Mittelalters am Horizont abzuzeichnen beginnt, zu der ein gutes Stück des Weges im Spätmittelalter bereits zurückgelegt wurde, die jedoch erst am Übergang zur Renaissance passiert wird. An die Stelle des von Gott Inspirierten tritt nach und nach die Vorstellung eines Individuums, das aus der Kraft des eigenen Verstandes heraus schöpferisch tätig werden kann. Ideen präsentieren würde (Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. S. 34. Meier: „Les rêveries du Promeneur Solitaire“. S. 20-22). 417  Aristoteles: Politik. I,5, 1254a S. 83. 418  Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/1. S. 471-472.

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Die Entdeckung des Individuums als typisches Merkmal für den sich in der Renaissance vollziehenden kulturgeschichtlichen Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist bereits von Jacob Burckhardt thematisiert worden: „Im Mittelalter […] aber erkannte sich [der Mensch] nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien […] aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. […] Mit Ausgang des 13. Jahrhunderts aber beginnt Italien plötzlich von Persönlichkeiten zu wimmeln; der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, ist hier völlig gebrochen; […].“419 Ob man den Fundort des Individuums jedoch tatsächlich in Italien zu verorten hat, ihn nicht eher viele hundert Kilometer weiter nordwestlich in Frankreich und England vermuten muss, ist in diesem Zusammenhang eine Diskussion, die hier nicht geführt werden soll. In Bezug auf die theoretische Durchdringung des Konzepts von Individualität allerdings wird Italien hinter Frankreich und England zurückstehen müssen. Nur drei Namen seien hierfür genannt: Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Schon für Thomas von Aquin existiert die Universalie als solche nicht mehr. Was existiert, ist das Individuum.420 Deutlich wird dies insbesondere in seiner Abhandlung der Frage nach der Erkennbarkeit des letzten Zieles, in der Jeder ein anderes erblicken wird.421 Johannes Duns Scotus wird den Individualismus durch die Verwendung des Begriffs der haecceitas, der Dieseinzigkeit, in Abgrenzung von der quidditas, weiter ausbauen.422 Und schließlich wird Wilhelm von Ockham urteilen, „[…] dass jede Universale ein Einzelding ist; […].“423 Neben der räumlichen Zuordnung ließe sich freilich auch über die zeitliche Zuschreibung der Entdeckung des Individuums diskutieren. Für eine Kenntnis des Individuums im Mittelalter könnte etwa auf die Veränderung des Beichtmodus durch das vierte Laterankonzil von 1215 hingewiesen werden. Nicht mehr nur die vollzogene sündhafte Tat galt es nun zu offenbaren, schon die Intention zur Sünde war zu beichten. In der damit verlangten Prüfung 419   Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. S. 99-100 (Hervorhebungen im Original). Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 106. 420  Portalupi: Das Lexikon der Individualität bei Thomas von Aquin. S. 63. 421  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 4. I,62,8,3, S. 337. Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 6. I,81,1, S. 239 und I,82,2, S. 220. Zimmermann: Der Begriff der Freiheit nach Thomas von Aquin. S. 143-146. Perkams: Gewissensirrtum und Gewissensfreiheit. S. 41. 422  Beckmann: Haecceitas. Sp. 985. Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 143-144. Heer: Mittelalter. S. 449-450. 423  Ockham: Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft. S. 65.

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des eigenen Selbst kann ein Hinweis auf eine früher einsetzende Lösung des Individuums aus der von Burckhardt konstatierten Bindung an „Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst irgendeiner Form des Allgemeinen“ gelesen werden.424 Vollkommen überzeugend wirkt diese Lesart indes nicht. Fraglich bleibt, ob das im Angesicht des Beichtvaters vorgetragene Bekennen eigener Sünden nicht auch Ausdruck der Einschließung in die übergeordnete Korporation Kirche ist. Gerade Vorgaben wie die Verpflichtung, wenigstens einmal im Jahr zur Beichte zu gehen, noch mehr aber die Bestimmung, bei einem angestrebten Wechsel des Priesters sich zuerst die Erlaubnis seines bisherigen Beichtvaters einzuholen, deuten eher auf eine Disziplinierungsintention als auf die Entdeckung von Individualität hin.425 Wenn die geänderte Beichtpraxis also den Aufbruch hin zum Individuum begünstigen sollte, dann begünstigt sie einen Aufbruch von sehr weit weg. Ergiebiger ist daher der Hinweis auf die vormals schon erwähnte Betonung des Ich in den Strophen des Reichstons bei Walther von der Vogelweide.426 Auch ist der Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloisa als Zeugnis einer erwachenden Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen zu verstehen, in dem sich die Grundlage menschlicher Selbstentfaltung und Lebensgestaltung offenbare.427 Sowohl bei Walther von der Vogelweide als auch bei Abaelard und Heloisa hat man es mit einer Selbstoffenbarung jenseits der Bindung an eine übergeordnete Korporation zu tun. Ähnlich hatte Abaelard auch in seiner Ethica argumentiert. Eine moralische Verfehlung (peccatum) sei mehr durch den Willen beziehungsweise die Einwilligung zur Tat als Verfehlung zu bewerten, als durch die Tat selbst. Daher zähle vor Gott nicht was getan werde, sondern aus welcher Absicht (intentio) heraus die Tat erfolge.428 Vergleichbares auch für das Frühe Mittelalter aufzuzeigen fällt hingegen schwer. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich sei dieser Zeitspanne noch fremd gewesen.429 Zwar lassen sich Ansätze dazu zum Beispiel in Augustins Confessiones zweifellos erkennen, doch könne das Individuum gegen die Prädestinationslehre des Kirchenvaters nicht bestehen.430 Überdies hob Aaron Gurjewitsch hervor, dass es sich bei Augustins Confessiones und den wenigen weiteren Vertretern autobiographischer Schriften im Mittelalter um Ausnahmefälle handele, so dass man unweigerlich den 424  Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. S. 99. Fried: Das Mittelalter. S. 281. 425  Wohlmuth: Dekrete der ökumenischen Konzilien. S. 245. 426  Siehe Kapitel 2.4.2. 427  Fried: Das Mittelalter. S. 252. 428  Abaelard: Scito te ipsum [Ethica]. §§ 16-19, S. 33-41. 429  Borst: Lebensformen im Mittelalter. S. 262. 430  Augustinus: Bekenntnisse. X,17, S. 266. Flasch: Augustin. S. 190.

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Schluss ziehen müsse, dass im Mittelalter „die Autobiographie als besondere Gattung gar nicht [existiere].“ Dargestellte Charakterzüge seien daher nicht als individuelle Merkmale zu bewerten, sondern entsprechen spezifischen Rollenvorstellungen.431 Dem Individuum an die Seite tritt eine veränderte Wahrnehmung menschlicher Schöpfungskraft. Erst durch sie lässt sich über die Existenz eines individuellen Genius sprechen. Eine neu akzentuierte Auslegung des NarzissMythos sowie die Umdeutung der platonischen Auffassung der Idee erweisen sich für diese Veränderung als maßgeblich. Die in den Jahrhunderten des Mittelalters vorherrschende Meinung vom zu verurteilenden Narziss fand ihren Ausdruck in seiner Wertung als Inbegriff des Hochmuts und der Eitelkeit. Derart wird die Gestalt des Narziss etwa bei Arnulf von Orléans eingeführt.432 Als derjenige, der in der Betrachtung eines bloßen Abbildes (eídōlon) versunken bleibt, anstatt sich der Schönheit der Idee (eídos) zuzuwenden, erscheint Narziss auch schon in den Enneaden des Plotin: Wie kann man eine überwältigende Schönheit erschauen, die gleichsam drinnen bleibt im heiligen Tempel und nicht nach außen heraustritt dass sie auch ein Ungeweihter sehen könnte? So mache sich denn auf und folge ihr ins Innere wers vermag, und lasse das mit Augen Gesehene draußen und drehe sich nicht um nach der Pracht der Leiber wie einst. Denn wenn man Schönheit an Leibern erblickt, so darf man ja nicht sich ihr nähern, man muss erkennen, dass sie nur Abbild Abdruck Schatten ist, und fliehen zu jenem von dem sie das Abbild ist. Denn wenn einer zu ihr eilen wollte und sie ergreifen als sei sie ein Wirkliches, so geht es ihm wie Jenem – irgendeine Sage, dünkt mich, deutet es geheimnisvoll an: der wollte ein schönes Abbild, das auf dem Wasser schwebte, greifen, stürzte aber in die Tiefe der Flut und ward nicht mehr gesehen: ganz ebenso wird auch, wer sich an die schönen Leiber klammert und nicht von ihnen lässt, hinabsinken nicht leiblich aber mit der Seele in dunkle Tiefen die dem Geiste zuwider sind; so bleibt er als Blinder im Hades (im Dunkel) und lebt schon hier wie einst dort nur mit Schatten zusammen.433

Schließlich nutzte auch Dante Alighieri den Mythos von Narziss, um mit ihm im dreißigsten Gesang des Infernos die auferlegte Strafe der Fälscher zu illustrieren, die der Dichter im untersten Teil des Malebolge verortete.434 431  Gurjewitsch: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. S. 340. Zum Genre von Autobiographien, Tagebüchern et al. in der Renaissance vgl. Burke: Die Renaissance in Italien. S. 195-198. 432  Arnulphi Aurelianensis: Allegoriae super Ovidii Metamorphosin. III,5-6, S. 209. 433  Plotin: Plotins Schriften. I,6,8, S. 21. 434  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Inf. XXX,128, S. 118. Belting: Florenz und Bagdad. S. 252.

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Durchweg negativ fällt das Urteil über Narziss im Mittelalter jedoch nicht aus. Eine der wenigen aber doch vorhandenen Ausnahmen stellt der Roman de la Rose dar. Im Garten der Liebe erblickt der Erzähler einen Brunnen, auf dessen Rand eine Inschrift in kleinen Buchstaben angebracht wurde. Mit ihr erzählt Guillaume de Lorris den Mythos von Narziss nach. Noch ganz konventionell wird Narziss hier moralisierend aufgefasst und als Inbegriff der Eigenliebe präsentiert. Aus Angst schreckt der Erzähler von der Quelle zurück. Doch dann obsiegt die Neugier, er verdrängt seine Furcht und wagt es, einen Blick in den Brunnen zu riskieren. Am Grund des Brunnenschachts nimmt er zwei Kristalle wahr, die sich zum Sinnbild der Geliebten wandeln. Die von Narziss’ Brunnen ausgehende Gefahr der Selbstliebe wird damit zur notwendigen Vorstufe der Liebe erklärt.435 „Denn Cupido, der Venus Sohn, / säte hier das Korn Amors, / […]“436 In der Renaissance wird nun vor allem Leon Battista Alberti mit seinem Traktat De pictura die bis dahin vorherrschende Narziss-Auffassung ersetzen durch einen Narziss, der als Begründer der Malerei verstanden wird. Daher, so Alberti, „[…] pflege ich gerne im Kreise meiner Freunde zu sagen, der Erfinder der Malkunst sei – nach Ansicht der Dichter – Narziss gewesen, […]. Geht es schließlich beim Malen um etwas anderes als darum, mit Kunst jene Oberfläche des Quellteichs zu umarmen?“437 Nein, lautet die Antwort bei Alberti, da der Maler das nachahmt, was Narziss in der Natur beobachten konnte, nämlich das Erkennen des eigenen Ichs.438 Der dergestalt verstandene Narziss erfährt im Werk Albertis zugleich noch eine weitere Aufwertung. Als Begründer der Malerei ist er Begründer auch der vornehmsten unter den Künsten. Denn „ist es ferner nicht so, dass die Malerei als Lehrerin aller übrigen Künste zu gelten hat – oder doch zumindest als deren hervorragende Zier? […] Ja, am Ende wird sich wohl überhaupt keine Kunst finden lassen – es sein denn eine vollkommen wertlose –, die nicht auf die Malkunst blickte, […].“439 435  Guillaume de Lorris/Jean de Meun: Der Rosenroman. Vers 1425-1622, S. 147-155. Marek: Narkissos (Νάρκισσος, lat. Narcissus). S. 459. 436  Guillaume de Lorris/Jean de Meun: Der Rosenroman. Vers 1588-1589, S. 153 (Hervorhebungen im Original). 437  Alberti: Die pictura/Die Malkunst. II,26, S. 237. Die klassische Darstellung des NarzissMythos findet sich bei Ovid: Metamorphosen. III,339-510, S. 181-197. 438  Belting: Florenz und Bagdad. S. 246-257. 439  Alberti: De pictura/Die Malkunst. II,26 S. 237. Unstrittig ist die von Alberti vorgenommene Hierarchisierung der Künste nicht. Noch war sie je unstrittig. Albertis Meinung über die Vorrangstellung der Malerei teilte etwa Leonardo da Vinci, während sie von Niccolò Machiavelli abgelehnt wurde, da er der Dichtung den ersten Platz unter den Künsten einräumt. Zurückverfolgen lässt sich der Disput zwischen Dichtern und Malern bis auf Horaz (Leonardo da Vinci: The Notebooks. S. 227-229. Machiavelli: Discorsi. I,10 S. 39.

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Verwoben mit dem Narziss-Mythos erweist sich auch die Abkehr von einer auf Platon zurückgehenden Lehre der Ideen. Zum einen erfolgt diese durch die Ablehnung einer dem Menschen von außen eingegebenen Idee. Vielmehr wird die Idee eines Schöpfungswerks vom Menschen nun selbst erschaffen.440 Dagegen war bei Aurelius Augustinus noch der Gedanke vorherrschend, dass die Idee nicht dem Geist des Menschen entspringt, sondern von diesem lediglich aufgegriffen und bearbeitet wurde, die Idee selbst aber von Gott auf den Menschen gekommen ist.441 Und auch bei Thomas von Aquin ist der Mensch nur Empfänger einer durch Gott vermittelten Idee.442 In der Renaissance jedoch ändert sich dies schlagartig. Nikolaus von Kues spricht bereits vom Menschen als zweitem Gott. Der Mensch ist bei ihm nicht mehr nur ein Werkzeug des Allmächtigen, denn wie Gott „Schöpfer der realen Seienden und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen Formen, […].“443 Und auch Giorgio Vasari meint, „[…] dass disegno nichts anderes sei als eine anschauliche Gestaltung und Darlegung jener Vorstellung, die man im Sinn hat, von der man sich im Geist ein Bild macht und sie in der Idee hervorbringt.“444 Zum anderen erfolgt die Abkehr von Platon durch die zunehmende Verbreitung des Portraits im Verlauf des 14. Jahrhunderts. Der frühchristlichen Kirche war es gelungen, die Abbildung eines Menschen mittels seiner individuell charakteristischen Physiognomie zu unterbinden. Die naturgetreue Darstellung wurde durch die Abbildung des Typus Mensch ersetzt. Erkennbar gemacht wurde der Einzelne durch die Hinzufügung seines Namens, Titels oder Wappens.445 Nun aber entwickelte sich ein neuer Realismus, der den Anspruch erhob, die Welt zu zeigen wie sie tatsächlich ist und Hoeges: Zur Ästhetik der Macht. S. 71. Hoeges: Niccolò Machiavelli. S. 134-135. Horaz: De arte poetica liber. S. 231. Schmid: Kunst im Sinne Machiavellis: Leonardo, Michelangelo und die Fresken im Ratssaal von Florenz. S. 262). 440  Burioni: Gattungen, Medien, Techniken. S. 10-11. 441  Augustinus: Der freie Wille. II,42, S. 96-97. 442  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 4. I,44,3, S. 12. 443  Nikolaus von Kues: De beryllo. S. 9. Ansätze hierzu lassen sich schon bei Vinzenz von Beauvais: Speculum quadruplex sive speculum maius. Spec. Doc. XI,14, Sp. 1002 auffinden. Schuler: Vitruv im Mittelalter. S. 223. 444  Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. S. 98. Unter disegno versteht Vasari die jedem Werk vorausgehende Entwurfstätigkeit, durch die der Künstler Zugang zur Idee gewinnt (Burioni: Gattungen, Medien, Techniken. S. 10-11). Paatz: Die Kunst der Renaissance in Italien. S. 29-30. Vgl. auch die Überlegungen von Benedetto Varchi bezüglich der vom Künstler entworfenen Idee (Roggenkamp: Vom „Artifex“ zum „Artista“. S. 852-857) sowie Bredekamp: Der Künstler als Verbrecher. S. 20-21. 445  Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. S. 158-159. Engemann: Porträt. Sp. 114. Kluckert: Malerei der Gotik. S. 455. Kopp-Schmidt: Ikonographie und Ikonologie. S. 119-121. Reinle:

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nicht, wie man sie sich wünscht. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen, die Frage nach der Vereinbarkeit von Theorie und Praxis wurde zu einem Charaktermerkmal der Renaissance. In den unterschiedlichsten Zusammenhängen findet man fortan die Erörterung dieser Sein-SollenFrage. Im politischen Denken etwa bei Leon Battista Alberti oder bei Poggio Bracciolini, die moralische Normen für mit den politischen Realitäten unvereinbar hielten.446 Natürlich findet man sie auch bei Niccolò Machiavelli, der in der berühmten Passage im XV. Kapitel des Principe feststellt, dass es ihm angemessener erscheint „[…] der Wirklichkeit der Dinge nachzugehen als den bloßen Vorstellungen über sie. Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat; denn es liegt eine große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, […]“.447 Aber auch in der Kunst erhalten die Herausforderungen, die der Realismus stellt, ihren Platz. In Theorie, Methode und Praxis wird man sich mit ihnen befassen. In den kunsttheoretischen Schriften Albrecht Dürers etwa trifft man die Trennung von Sein und Sollen wieder an, wenn Dürer zwischen dem, „wie die Menschen gestaltet sind, und wie sie müssen sein, und wie sie möchten sein“, unterscheidet.448 In der Methode wird durch die Entwicklung der Zentralperspektive der Anspruch erhoben, die Welt unverfälscht festzuhalten, sie zu erfassen, wie sie wirklich ist.449 In der Praxis schließlich offenbart sich dieser Anspruch vorbildhaft in Jan van Eycks Arnolfini Hochzeit (Abb. 56). Oberhalb des Spiegels, im Bildhintergrund entdeckt der Betrachter dort einen Schriftzug, mit dem der Maler bezeugen will, dass die gezeichneten Ereignisse der Realität und nicht seiner Imagination entsprechen. Der Schriftzug lautet: „Johannes van Eyck fuit hic“. Jan van Eyck ist hier gewesen.450

Bildnis. Sp. 154. Differenzierter stellt Niehr: Die Kunst des Mittelalters. S. 40-46 diesen Prozess dar. 446  Keßler: Die Philosophie der Renaissance. S. 57. 447  Machiavelli: Il Principe. S. 119. 448  Zitiert nach Einem: Goethe und Dürer. S. 12. 449  Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft. S. 22. Zum Wahrheitsanspruch des Bildes zusammenfassend auch Büttner: Die Macht des Bildes über den Betrachter. S. 34. 450  Tönnesmann: Die Kunst der Renaissance. S. 109-110. Kluckert: Malerei der Gotik. S. 412. Dhanens: Hubert und Jan van Eyck. S. 198. Siehe zum über die Spiegelmetapher erhobenen Anspruch auf Wahrheit auch Belting: Florenz und Bagdad. S. 184 und 253257. Die Darstellung von Realem im Bild erstreckt sich auch auf vermeintlich Triviales. Beispielsweise in dem Werk eines anonymen niederländischen Malers, der 1626 einen siebeneinhalb Pfund schweren Riesenrettich lebensgroß abgebildet hat. Dieses Naturereignis sollte im Bild festgehalten bleiben (Grijzenhout: Non gloria, sed memoria. S. 101).

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Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass der Anspruch, die Welt wahrzunehmen wie sie wirklich ist, trügerisch sein kann. Aufzeigen lässt sich dies am Beispiel der Zentralperspektive: Zentralperspektive bedeutet, dass für die Perspektive zentral nicht ein bestimmtes Thema ist, sondern der Blick des Betrachters. „Das perspektivische Bild […] suggerierte, dass wir mit eigenen Augen sehen, was wir doch nur im Bild sehen können.“451 Geschaffen wird somit nur ein vermeintlicher Realismus. Die Schilderungen entsprechen nicht der Realität, sondern zeichnen viel eher das Bild, das sie vermitteln sollen. Doch in Verbindung mit den zuvor umrissenen Entwicklungen offenbart sich selbst in einem solchen Fall – oder gerade in einem solchen Fall – die Betonung individueller Schöpfungskraft. Es ist die durch den Menschen kreierte Idee, die vermittelt wird. Sein Genius ist es, der sich als maßgeblich erweist. Die Veränderungen zum Mittelalter bleiben somit frappierend und die Konzentration auf das Motiv des isolierten Denkers kann hierin einen Erklärungsansatz finden. Weitere Ansätze sind erklärend hinzuzuziehen, ergänzen und verstärken nicht nur die bislang beschriebene Entwicklung, sondern auch die nachfolgend benannten Phänomene. Im Zusammenhang mit der Fokussierung auf den isoliert Denkenden ist etwa der kulturhistorische Wandel der Lesepraktik anzuführen. An die Stelle des lauten Lesens, dem Artikulieren des Gelesenen, insbesondere des lauten Vorlesens, trat das leise für sich selbst Lesen. Die beispielsweise aus der Regula Benedicti oder der universitären Lehrform der lectio vertraute Praxis der Lesung vor einer größeren Hörerschaft wird durch die Beschäftigung des Einzelnen mit dem Geschriebenen ersetzt.452 Schriftliche Zeugnisse für die Existenz von und die Auseinandersetzung mit verschiedenen Lesetechniken im Mittelalter finden sich etwa bei Aurelius Augustinus, Hugo von St. Viktor und Johannes von Salisbury. Augustinus erwähnt das stumme Lesen im Zusammenhang seiner Bekehrung, die er im achten Buch der Confessiones schildert. Er führt aus, wie er zur Schrift greift und stillschweigend, nicht aber laut, das Wort des Apostels zu lesen beginnt (legi in silentio).453 Gleich drei Arten des Lesens unterscheidet Hugo von St. Viktor im dritten Buch seines Didascalicon. Darin schreibt der Viktoriner, dass voneinander zu unterscheiden seien: das Lesen nach Art des Lehrenden, 451  Belting: Florenz und Bagdad. S. 24. Auf die Renaissance als Zeit der Konstruktion von Parallelwelten und Utopien macht aufmerksam ferner Tönnesmann: Die Kunst der Renaissance. S. 22-23. 452  Benedikt von Nursia: Die Regula Benedicti. XXXVIII,1-8, S. 165-167. Vgl. zur Regula Benedicti Kapitel 2.4.1. Zu den universitären Lehrformen Verger: Grundlagen. S. 55. 453  Augustinus: Bekenntnisse. VIII,12, S. 215. Manguel: Eine Geschichte des Lesens. S. 58-59.

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des Lernenden und des für sich Lesenden (per se inspicientis).454 Ähnlich wie Hugo von St. Viktor unterscheidet auch Johannes von Salisbury drei Bedeutungsformen des Wortes Lesen. So könne darunter Lehren wie Lernen verstanden werden, aber auch etwas selbständig zu lernen (per se scrutantis scripturas) gemeint sein.455 In den Schriften der beiden Letztgenannten wird das Lesen demnach getrennt in eine auf die zwischen Lehrer und Schüler bezogene Situation einerseits, und eine das private, für sich vollzogene Lesen betonende Situation andererseits. In den Skriptorien der Klöster hielt die Praktik stummen Lesens zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert Einzug. Doch erst erheblich später, im 14. Jahrhundert, fand sie Verbreitung auch außerhalb monastischer Umgebung und trat dort neben die überwiegend mündliche Überlieferung von Texten.456 Auch die allmählich wachsende Verbreitung privaten Lesens nimmt schließlich Einfluss auf die zuvor geschilderte Herausbildung des Individuums und trägt ihren Teil zur Wahrnehmung des eigenen Selbst bei. Durch sie werde ein innerer Erfahrungsraum geschaffen, in dem sich der Leser auf sich selbst konzentrieren könne und nicht im Austausch mit anderen lese.457 Neben der Wahrnehmung des eigenen Selbst sind zwei weitere Entwicklungen zu nennen: die ansteigende Alphabetisierung, die nun auch auf des Lesens bislang unkundige Schichten übergreift (a) sowie die gleichsam gestiegene Verfügbarkeit und Verbreitung des Buches insbesondere infolge des durch Johannes Gutenberg entwickelten Buchdrucks mit beweglichen Lettern (b). Wobei allerdings nicht übersehen werden sollte, dass das stumme Lesen der technischen Veränderung in der Buchherstellung zeitlich voranging.458 (a) Der Beginn des Anstiegs der Lesefähigkeit wird bereits auf das Hochmittelalter datiert. Lesen wird nun nicht mehr nur als eine Kompetenz des Klerus wahrgenommen, sondern zu einer auch dem Adel und dem Bürgertum 454  Hugo von St. Viktor: Eruditionis Didascalicae. PL 176, 771. Illich: Im Weinberg des Textes. S. 91. Offergeld: Einleitung. S. 87-88. 455  Johannes von Salisbury: Metalogicus. PL 199, 853. 456   Zedelmaier: Lesetechniken. S. 13. Zedelmaier: Lesen, Lesegewohnheiten im MA. Sp. 1909. Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung. S. 7. Zedelmaier: Buch und Wissen in der Frühen Neuzeit. S. 506-507. Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 72 und 96. Tuchmann: Der ferne Spiegel. S. 67. Zu monastischem und akustischem Lesen ferner Illich: Im Weinberg des Textes. S. 55-66. Zur Datierung des Übergangs zum leisen Lesen bereits auf das frühe 7. Jahrhundert (ebd. S. 91-92. Manguel: Eine Geschichte des Lesens. S. 64-65). Zur Forschung über das leise Lesen siehe Glauch/Green: Lesen im Mittelalter. S. 384-386. 457  Zedelmaier: Lesen, Lesegewohnheiten im MA. Sp. 1909. 458  Zedelmaier: Lesetechniken. S. 13. Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Aufklärung und Renaissance. S. 7.

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eigenen wie notwendigen Fähigkeit, die insbesondere durch die Urbanisierung vorangetrieben wurde. Die allmähliche Abkehr von vorrangig mündlich geprägten sozialen Verkehrsformen, die Verbreitung volkssprachlicher Literatur und die Entstehung der Universitäten etwa trugen ihren Teil zur Verschriftlichung bei.459 (b) Folgt die technische Veränderung im Buchdruck dem Wandel der Lesegewohnheiten auch nach, so geht dem Buchdruck doch voran, dass die Herstellung von Handschriften im Laufe des Mittelalters preisgünstiger wurde. Zurückgeführt wird dies nicht allein auf das gestiegene Interesse und die auch außerhalb geistlicher Institutionen bewerkstelligte gewerbliche Produktion von Schriftwerken, sondern auch darauf, dass der zunehmende Fleischkonsum innerhalb der Städte Pergament als maßgeblichen Beschreibstoff billiger werden ließ.460 Eine Entwicklung, die ab dem 14. Jahrhundert durch das Papier als wiederum günstigerem Beschreibstoff weiter vorangetrieben wurde.461 Genaue Zahlen für die Zunahme erzeugter Bücher zu nennen ist schwierig. Folgt man jedoch den von Braun und Burke gegebenen Werten, so darf angenommen werden, dass allein die Drucker Venedigs im 15. Jahrhundert mit den von ihnen rund zwei Millionen gedruckten Büchern eine annährend gleich große Zahl an Werken fertigten, wie die Schreiber und Kopisten des alten Reichs zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert.462 Auf dem Weg zur Betonung des isoliert Denkenden stellt die Verbreitung von Büchern, stellt vor allem die sich durch den Buchdruck rascher vollziehende Verbreitung des Buches eine weitere wichtige Etappe dar. Sie begünstigt individuelle Arbeits- und Denkweisen, indem sie dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, sich von der Kommunikation innerhalb normierter Institutionen und unabhängig von dem dort zu lehrenden Curriculum mit den Auffassungen auch randständiger und kritischer Denker auseinanderzusetzen.463 Martin Mulsow verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Fußnote als einen „Keller der Gelehrsamkeit“, in dem sich häufig „Schmuggelware“ 459  Braun: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. S. 225. Zedelmaier: Lesen, Lesegewohnheiten im MA. Sp. 1909. Koppitz: Buch. Sp. 806-807. Tuchmann: Der ferne Spiegel. S. 410. Ein Abriss über die Forschung zum Lesen im Mittelalter bieten Glauch/Green: Lesen im Mittelalter. S. 370-380. 460  Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 96. Koppitz: Buch. Sp. 804-805. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 159-160. 461  Kälin: Papier. Sp. 1665-1666. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 158-159. Tuchmann: Der ferne Spiegel. S. 409-410. 462  Vgl. Braun: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. S. 229-230 und Burke: Papier und Marktgeschrei. S. 152. 463  Vgl. Kapitel 2.6.2. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 167.

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verstecke, die sich dem ersten flüchtigen Blick entziehe.464 Doch war die Sicht frühneuzeitlicher Obrigkeit, des Staates aber auch der Kirche, weder auf beiden Augen getrübt noch blind. Nicht umsonst zeigen bildliche Darstellungen der Zeit die Staatsraison in einem Gewand übersät mit Augen und Ohren.465 Dem Staat soll nichts verborgen bleiben, er sieht und hört alles. Und er spürt der Schmuggelware nach, die mit der Verbreitung des Buches seiner Kontrolle zu entgleiten droht. Die Gefahr von außerhalb der Kontrolle unterworfenen Einrichtungen stehenden Denkweisen und Wissensbeständen führte maßgeblich zur Herausbildung der Zensur. Angst vor Aufruhr und der Schutz von Wissen und Geheimnissen auf Seiten des Staates, das Ansinnen den Glauben rein zu halten auf Seiten der Kirchen, waren maßgebliche Triebkräfte bei der Entstehung frühneuzeitlicher Zensursysteme. Vor allem der als Antwort auf den Buchdruck eingeführte Index Librorum Pohibitorum der katholischen Kirche wurde hierfür als vorbildhaft angesehen.466 Steht er doch paradigmatisch für die Verdichtung von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, die über die im Mittelalter praktizierten Übergriffe auf Bücher und Denkweisen hinausgeht.467 Doch erwies sich allen Bemühungen zum Trotz der durch den Buchdruck rasant wachsende Bestand von Büchern rasch als nicht mehr kontrollierbar, so dass der Wille zu einer umfassenden Revision aller Bücher an der Realität scheitern musste.468 Schließlich finden diese Veränderungen ihren Niederschlag auch in der Architektur. Als Ort des Denkens etabliert sich das studiolo, das Studierzimmer als neue Raumform innerhalb der Fürstenpaläste gleichwie in den Häusern der Bürgerschaft. Für erstere sei hier abermals auf das bereits genannte studiolo im Palazzo Ducale in Urbino verwiesen. Letztere haben literarische Denkmäler gefunden etwa in den ebenfalls bereits erwähnten Schriften von Francesco Petrarca oder Niccolò Machiavelli.469 464  Mulsow: Prekäres Wissen. S. 23. Zur Geschicht der Fußnote etwa Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Hierin macht Grafton auch darauf aufmerksam, dass in Fußnoten nicht nur Autoren und deren Arbeiten versteckt, sondern auch verschwiegen werden können: „Das Unterlassen eines Verweises auf einen bestimmten Wissenschaftler oder Text kommt einer polemischen Feststellung, einer damnatio memoriae gleich, die im Kreis der Interessierten sofort bemerkt und decodiert wird.“ (ebd. S. 22) 465  Werner: Staatsräson. S. 381-383. Saracino: Schweigen als Tugend und Kunst. S. 172. Zur Augenmetaphorik siehe Stolleis: Das Auge des Gesetzes. S. 7-37. 466  Burke: Papier und Marktgeschrei. S. 135-137. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. S. 390-391. 467  Mulsow: Prekäres Wissen. S. 143. Reinhardt: Geschichte der Staatsgewalt. S. 391. Vgl. die begrenzte Wirkung der Pariser Verurteilung von 1277 (Kapitel 2.6.2). 468  Zedelmaier: Das katholische Projekt einer Reinigung der Bücher. S. 188-190. 469  Vgl. Kapitel 2.5.2.

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Inspiriert durch antike Schilderungen und monastische Baupraxis entwickelte sich das Studierzimmer in der italienischen Renaissance zu einem Bestandteil der Architektur.470 Obzwar die Antike kein Anschauungsmaterial in Form Stein gewordener studioli überlieferte, boten tradierte Texte doch Anregungen für die Entwicklung dieses Raumtypus.471 Hinzu trat die Erfahrung monastischer Studierzellen, die das für alle Mönche vorgesehene Skriptorium um die für das Studium einer Einzelperson gedachte Raumform ergänzten.472 Begünstigt durch veränderte Lesegewohnheiten, die voranschreitende Alphabetisierung, die Verbreitung von Büchern und den Prozess der Individualisierung dient das Studierzimmer dem Fürsten wie dem Bürger als privater Rückzugort einerseits, findet andererseits aber auch als öffentlicher Raum Gebrauch. Als solcher dient er der Darstellung des eigenen Selbst und wird damit Ausdruck der Persönlichkeit und der sozialen Position des Hausherrn.473 Auch deswegen nimmt die Zahl an Bildnissen des Lesers am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zu. Paradigmatisch hierfür kann auf die Darstellung des Federico da Montefeltro durch Pedro Berruguette hingewiesen werden (Abb. 57).474 Gewahr wird man dem Herzog im Werk des spanischen Malers in einer kulturhistorisch wie auch politikgeschichtlich aussagekräftigen Pose. Mitnichten gleicht das Dargestellte dem Versuch, eine natürliche Momentaufnahme zu geben, sondern stellt eine zutiefst artifizielle Bildkomposition dar. Der Herzog in Harnisch und Hermelinmantel gekleidet sitzt in diesem überaus unpraktischen Äußeren lesend in einem Lehnstuhl, seinen kleinen Sohn Guidobaldo neben sich. Gezeigt ist aber keine Vorlesesituation zwischen Federico und seinem Sohn, sondern ein in sich versunkenes Lesen als Ausdruck der Gelehrsamkeit des Herzogs. Guidobaldos Aufmerksamkeit ist nicht auf den Vater gerichtet und die seine nicht auf den Sohn. Federico ist regungslos und mit geschlossenen Lippen ganz in die Lektüre versunken, ein Abbild stummen 470  Schneider: Besuch bei Hieronymus. S. 67-70. 471  Liebenwein: Studiolo. S. 13-15. Schneider: Besuch bei Hieronymus. S. 67. Vgl. auch Kapitel 2.3.3. 472  Schneider: Besuch bei Hieronymus. S. 67. 473  Liebenwein: Studiolo. S. 15-17. Schneider: Besuch bei Hieronymus. S. 70. Siehe auch die Etymologie des Begriffs Studium (Verger: Studium. Sp. 257. Grimm/Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. X/4. Sp. 286-287). 474  Aber nicht nur der Adel wird als lesend im Bild dargestellt. Vorrangig die niederländische Malerei zeigt auch Bürgerliche als Leser. So etwa Gerard ter Borch Der Lesende, Pieter de Hooch Brieflesende Dame und Eglon Hendrik van der Neer Die Leserin (zu den genannten Werken siehe: Werche: Gerard ter Borch. S. 154. ebd.: Pieter de Hooch. S. 222. ebd.: Eglon Hendrik van der Neer. S. 256).

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Lesens.475 Zugleich ist das Gemälde Ausdruck des Anspruchs Federicos, in seiner Person Gelehrsamkeit und politische Macht zu vereinen. Der lesende Fürst, der auch eine große Bibliothek sein Eigen nennen kann, ist Symbol des Ideals vom princeps doctus. Einem Fürsten, der seine Herrschaft nicht allein auf den Gebrauch der Macht, sondern auch auf Wissen und Bildung gründet.476 Das Zusammenspiel der geschilderten Prozesse kann eine mögliche Erklärung für die Reduktion auf den isoliert für sich Denkenden als dominanten Bildtypus in den auf das Mittelalter folgenden Jahrhunderten anbieten. Die zunehmende Betonung des Individuums, die sich etwa in einer wohlwollenden Beschäftigung mit der Gestalt des Narziss oder der Vorstellung vom Menschen als Schöpfer seiner eigenen Welt ausdrückt, der zugleich durch veränderte Lesegewohnheiten und den mit ihnen einhergehenden Begleiterscheinungen neue Möglichkeiten gegeben wurden, ist als potentielle Wegbereiterin für die Dominanz der beiden prägenden Formen visueller Umsetzungen des Denkprozesses zu identifizieren. 2.6

Eine etwas andere Geschichte der Universität im Mittelalter

Zu Beginn der letzten Dekade des 17. Jahrhunderts fällt der englische Aufklärer John Locke in dem seinem Versuch über den menschlichen Verstand beigegebenem Sendschreiben an den Leser ein wenig vorteilhaftes Urteil über den Wert des an den mittelalterlichen Universitäten vermittelten Denkens. Die Metapher der Architektur nutzend stellt Locke fest, dass: In der Gelehrtenwelt […] es gegenwärtig nicht an Meistern der Baukunst [fehlt], deren großartige Bestrebungen der Nachwelt bleibende Denkmäler hinterlassen werden; aber nicht jeder darf hoffen, ein Boyle oder ein Sydenham zu sein; und in einem Zeitalter, das solche Meister, wie den großen Huygens und den unvergleichlichen Newton nebst so manchem anderen von der gleichen geistigen Größe hervorbringt, muss es dem Ehrgeiz genügen, wenn man als Hilfsarbeiter beschäftigt wird, um den Baugrund etwas aufzuräumen und einen Teil des Schuttes zu beseitigen, der den Weg zur Erkenntnis versperrt.477

Der auffallenden Demutsgeste des Autors nachgeordnet, hinter der er seine eigenen Ambitionen verbirgt, formuliert John Locke in diesen wenigen Sätzen 475  Roeck/Tönnesmann: Die Nase Italiens. S. 198-199. Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung. S. 7. 476  Roeck/Tönnesmann: Die Nase Italiens. S. 198-200. Exemplarisch für das Bücherstudium des Fürsten Erasmus von Rotterdam: Fürstenerziehung. S. 135-137. 477  Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Sendschreiben an den Leser S. 11.

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implizit eine erste Spitze gegen die mittelalterliche Universität und die dort gelehrte Scholastik, die dem Suchenden zu keiner Einsicht verhelfen kann.478 Allein steht Locke mit diesem Urteil nicht. Schon in der Übergangsphase vom Mittelalter zur Neuzeit bricht sich die Kritik an scholastischem Formalismus und einem beständigen Wiederkäuen immer gleicher Texte und Ansichten Bahn. Kurzum, das scholastische Denken ist als ein erstarrtes, versteinertes empfunden worden.479 So war bereits in Cusanus’ Idiota de sapientia und Sebastian Brants Das Narrenschiff der Scholastik mit großer Skepsis begegnet worden.480 Und auch in der literarischen Form des Tierepos wird anhand der Figur des Wolfes Isegrim im niederdeutschen Werk Reynke de Vos die Nutzlosigkeit scholastischer Bildung konstatiert. Isegrim sagte: Die Schrift möchte ich sehn, / Die ich nicht lese. Was könnte das sein, / Französisch, Deutsch, Italienisch, Latein? / In Erfurt habe ich doch studiert, / Mit weisen Alten disputiert / Wie mit den Meistern der Audienzien, / Probleme behandelt und Sentenzien, / In Jura wurde ich Lizenziat. / Alles Geschrieben ist in der Tat / Gleichwie mein Name mir bekannt. / Drum komm ich damit wohl zu Rand.481

Trotz einer vermeintlich allumfassenden Bildung gelingt es dem titelgebenden Fuchs ein ums andere Mal Isegrim hinters Licht zu führen und seine Missetaten auf Kosten des Wolfes, dessen Frau und Kindern zu begehen. Auch hier hilft das an der Universität erworbene scholastische Wissen somit nicht weiter. Gegen die Weisheit der Straße ist es nutzlos. All das Bücherwissen, all die Disputationen, all die Kommentierung der Sentenzen sind bedeutungslos. Schließlich liest man auch im Secretum Francesco Petrarcas über die Vertreter der Scholastik, dass sie zwar in der Lage seien, „Material für unendliche Auseinandersetzungen zu liefern“, „meist aber wissen die Urheber selbst nicht, was ihre Worte bedeuten.“482 Das eigentlich Verwerfliche sei jedoch nicht ihr

478  Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Sendschreiben an den Leser S. 11-12; IV,7 S. 266-267; IV,8 S. 290-291; IV,17 S. 377-378. 479  Speer: Die Summa theologiae lesen – eine Einführung. S. 1. Cohen: Die zweite Erschaffung der Welt. S. 82. 480  Nikolaus von Kues: Der Laie über die Weisheit. I,1-7 S. 3-11. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 602-603. Flasch: Nikolaus von Kues in seiner Zeit. S. 66-67. Freely: Platon in Bagdad. S. 230-231. Flasch: Nikolaus von Kues in seiner Zeit. S. 66-67. Brant: Das Narrenschiff. S. 112-114. Białostocki: Bücher der Weisheit und Bücher der Vergänglichkeit. S. 14-16. 481  Langosch (Hrsg.): Reineke Fuchs. II,6 Vers 3774-3784 S. 137. 482  Petrarca: Mein Geheimnis. S. 259.

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Gerede selbst, sondern dass mit diesen „kindischen Spielen“ der Geist der Jugend verdorben werde.483 Petrarcas Kritik wurde von Poggio Bracciolini dahingehend erweitert, dass er nicht nur die an den Universitäten gelehrte Scholastik ob ihrer Erstarrung missbilligte, sondern auch das abseits der Stadt gelegene Kloster als Kerker des Wissens brandmarkte. Auf der Suche nach antiken Schriftzeugnissen war Poggio, dem Jäger alter Manuskripte, in der Klosterbibliothek St. Gallen ein Exemplar von Quintilians Institutio oratoria in die Hände gefallen. Doch in was für einem Zustand befand sich das Werk! Der Würde dieses Buches spottete die Aufbewahrung in der Klosterbibliothek, die mehr einem Gefängnis gleiche.484 Indessen werden Poggios spezifische Beanstandungen klösterlicher Versäumnisse im Umgang mit dem Buch von der schieren Quantität der Scholastik-Kritik mit Leichtigkeit in den Schatten gestellt. Obgleich sie sich in Bezug auf die vorgebrachten Argumente stark ähnelt, zum Teil auch wiederholt, bleibt sie für die Nachwelt durch die Schärfe im Ton und die beständige Wiederholung ihres Anliegens besser zu vernehmen als die von Poggio vertretene Position. Einen mit Francesco Petrarca vergleichbaren Schluss zogen etwa Martin Luther und Philipp Melanchthon. Allerdings brachten sie ihre Einwände gegen die Scholastik ungleich drastischer formuliert zu Papier. Die „Theologi Scholastici“ seien ein „verdampt volck“. Und die „armen Seelen“ würden durch die „Scholastica Theologia“ mit „erlogen[em], verflucht[em], teuffelische[m] geschwetze“ in die Irre geführt.485 Weniger aufgebracht, in der Sache aber nicht minder unnachgiebig, formulierte dann Thomas Hobbes seine Sichtweise, wenn er den „Kauderwelsch der Scholastiker“ im Leviathan als die siebte Ursache absurder Schlussfolgerungen bezeichnet, „die nichts bedeuten, sondern von den Schulen übernommen und mechanisch gelernt worden sind […].“486 Ebenso begegnet das Motiv der Scholastik-Kritik auch bei JeanJacques Rousseau. Zu Beginn des Discours sur les sciences et les arts hält er fest, dass vor dem Aufkommen der Renaissance „Europa […] in die Barbarei der Frühzeit zurückgefallen [war]. Die Völker dieses heute so aufgeklärten Erdteils lebten noch vor wenigen Jahrhunderten in einem Stande, schlimmer als 483  Petrarca: Mein Geheimnis. S. 260. 484   Bracciolini: Poggius Florentinus Secretarius Apostolicus pl. sal. dicit Guarino suo Veronensi. S. 242-244. 485  Luther/Melanchthon: Deutung der zwo greulichen Figuren, Bapstesels zu Rom und Mönchskalb zu Freiberg in Meissen funden. S. 377. 486  Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. I,5 S. 36.

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Unwissenheit. Ich weiß nicht, welcher wissenschaftliche Jargon, verachtenswerter noch als die Unwissenheit, sich den Namen ‚Wissen‘ angemaßt und seiner Wiederkehr ein schier unüberwindliches Hindernis in den Weg gelegt hat.“487 Entgegen seiner Beteuerung weiß Rousseau indes sehr wohl, welcher wissenschaftliche Jargon sich anmaßte, über Wissen zu verfügen. Einmal mehr handelt es sich auch hier um einen Angriff auf die Scholastik. Erst eine Revolution, hervorgerufen durch den Fall Konstantinopels, habe der Wissenschaft die notwendigen neuen Impulse gegeben, um das europäische Denken von der Dominanz der Scholastik zu befreien.488 Schließlich befasst sich auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie mit der Bewertung der Scholastik, die „[…] eine ganz barbarische Philosophie des Verstandes, ohne realen Stoff, Inhalt [ist]; es erregt uns kein wahrhaftes Interesse, und wir können nicht dahin zurückkehren. Es ist Form, leerer Verstand, der sich in grundlosen Verbindungen von Kategorien, Verstandesbestimmungen herumtreibt. […]; die Gedanken sind stroherne Verstandesmetaphysik. Wozu alles dieses? Es liegt hinter uns als Vergangenheit, es muss für sich unbrauchbar bleiben.“489 In seiner Kritik geht Hegel weit über das hinaus, was John Locke dem scholastischen Denken vorgeworfen hatte. Für Locke war es ein Hindernis, das es zu beseitigen galt, um auf dem Weg der Erkenntnis voranzukommen. Doch immerhin war es bei ihm noch auf dem Weg zur Erkenntnis anzutreffen. Als völliger Irrweg wird es noch nicht bezeichnet. Diesen Schluss zieht dagegen Hegel, wenn er schreibt: „Wenn wir den am nächsten bei der Hand liegenden Gegensatz gegen die scholastische Philosophie und Theologie und das Treiben des scholastischen Wissens suchen, so können wir sagen: es ist der gesunde Menschenverstand, […].“490 Der Widerspruch zur Scholastik erwies sich als derart wirkmächtig, dass er jeden sonstigen Gegensatz in der philosophischen Debatte zu überdecken vermochte und den Vertretern unterschiedlichster Denkrichtungen ein 487  Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. S. 17. 488  Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. S. 17. 489  Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. S. 587. 490  Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. S. 558. Heinrich Heine hingegen gestand der Scholastik ein überraschend hohes Ausmaß an Gedankenfreiheit zu: „Freylich, schon seit einigen Jahrhunderten hatte man ziemlich frey denken und reden können, und die Scholastiker haben über Dinge disputiert, wovon wir kaum begreifen wie man sie im Mittelalter auch nur aussprechen durfte.“ (Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. S. 36) Allerdings erfolgt sogleich der Einschub, dass diese Gedanken verborgen in den Hörsäalen „und in einem gothisch abstrusen Latein, wovon doch das Volk nichts verstehen konnte, so daß wenig Schaden für die Kirche dabey zu befürchten war [vorgetragen wurden].“ (ebd. S. 36)

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gemeinsames Fundament anbot. Im ersten Band seiner 1899 in zweiter Auflage erschienenen Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften fasste Wilhelm Windelband dies wie folgt zusammen: Die positiven Richtungen, aus deren Wachsthum und Erstarkung das moderne Denken sich erzeugt hat, sind so mannigfaltig, gehen so weit auseinander und haben zum Theil so wenig mit einander zu thun, dass ihnen zunächst nichts weiter gemeinsam zu sein scheint, als der lebhafte Gegensatz, in welchem sie sich alle zur Scholastik befinden. So verschieden sie sich das Ziel ihres Denkens bestimmen, darin sind sich alle einig, die Tendenz der Scholastik sei es nur abzulehnen, sei es mehr oder minder energisch zu bekämpfen.491

Wie konnte es soweit kommen, dass die Scholastik nur noch als Antithese zum modernen Denken verstanden wurde? Wie war es möglich, dass man ihr Denken wider den gesunden Menschenverstand erachtete und es bestenfalls als Bauschutt ansah, der den Weg zu wahrhafter Erkenntnis versperrt? Die Antwort auf diese Fragen ist eng verbunden mit der Entstehungsgeschichte der Universität und deren Entwicklung hin zu einem Stein gewordenen Denkraum des Mittelalters. 2.6.1 Von räumlicher Öffnung Die Geschichte der physischen Verortung schulischer Denkräume im Mittelalter kann anhand einer Pendelbewegung umschrieben werden. Vielerorts erweist sich das Denken zunächst als räumlich in den Kloster-, Dom- und Kathedralschulen fixiert. Der Zugang zu diesen blieb ein Privileg, wodurch Wissen kontrollierbar war und man disziplinierend auf die Lernenden einwirken konnte. Es ist daher ein bemerkenswerter Umstand, dass zu den Kritikpunkten, die Bernhard von Clairvaux an der sich im 12. Jahrhundert verbreitenden Scholastik vorbringt, nicht deren Versteinerung gehört, sondern ganz im Gegenteil, dass die Scholastik ein Aufbrechen der Denkräume bewirkt habe. In einem an Papst Innozenz II. adressierten Brief klagt Bernhard darüber, dass nun schon fast in ganz Frankreich Studenten die Thesen Abaelards nicht mehr nur in den Schulen, sondern auch auf den Straßen, inmitten der Öffentlichkeit diskutieren.492 Dass Bernhard sich gedrängt fühlt, die Ablösung von den Schulen explizit hervorzuheben, zeugt davon, dass die Örtlichkeiten dieser Diskussionen von ihm als ein nicht minder großes Skandalon wie die 491  Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften. S. 3. 492  Bernhard von Clairvaux: Epistola CCCXXXVII. PL 182, 540. Libera: Denken im Mittelalter. S. 27.

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diskutierten Thesen selbst erachtet wurden. Die Verlagerung der Debatten in den öffentlichen Raum macht das Denken unkontrollierbarer. Nun konnte nicht mehr, wie bisher in den Dom- oder Klosterschulen, in Bernhards Sinne korrigierend eingegriffen werden. Denken ohne architektonische Fixierung ist es, wovor sich Bernhard fürchtete. Ebendiese Öffnung sollte mit der Entstehung der Universitäten vorangetrieben werden. Nun lösen sich die Denkräume von ihren architektonischen Beschränkungen. In der Scholarenkonstitution von Roncaglia, der Authentica habita, befand Kaiser Friedrich I. über den Gelehrtenstand seiner Zeit, er sei „durch Liebe zur Wissenschaft heimatlos“.493 Diese Heimatlosigkeit spiegelt sich in der universitären Infrastruktur wider. In ihren Anfängen präsentiert sich die Universität als beispielhafte Verkörperung von Obdachlosigkeit, wodurch das aus ihr hervorgehende Wissen zum Inbegriff eines ortlosen Denkens wird.494 Als obdachlos verstanden ist die Keimzelle der frühen universitates damit auch nicht mit spezifischen Baulichkeiten verbunden. „The mediaeval university was, in the fine old phrase of Pasquier, built of men – bâtie en homes.”495 Erst in ihrem Verständnis als Personenverband wird man sie begreifen können. Das Fehlen einer örtlichen Fixierung der universitären Kooperation hatte dabei zur Folge, dass man sich insbesondere bei Veranstaltungen mit größerem Zulauf unter freiem Himmel, in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt zusammenfand. Die sich so vollziehende Öffnung der Universität trieb zugleich die Ausweitung des Kreises derer voran, die am intellektuellen Leben teilhaben konnten. Bildung wurde zugänglicher, als sie es noch in den Jahrhunderten zuvor war, in denen sie sich vornehmlich hinter den Mauern der Klöster verbarg und sich von der sie umgebenden Welt separierte.496 Gleichwohl der auf Latein gehaltene Unterricht nach wie vor ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für die überwältigende Mehrheit der Menschen bedeutete, ist doch eine Ausweitung der Teilhabemöglichkeiten an höherer Bildung festzustellen, so dass von einer ersten umfassenderen Befreiung des Denkens von ihm angelegten Fesseln gesprochen werden kann. Die Amplitude des Pendels schlägt somit zur anderen Seite aus.

493  Friedrich I.: Diplomata Friderici I. 243. S. 39. Müller: Geschichte der Universität. S. 10. 494  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 207. Friese/Wagner: Der Raum des Gelehrten. S. 11. 495  Haskins: The Rise of Universities. S. 2. 496   Die Gründung neuer Mönchsorden, durch Franziskus und Dominikus, die das monastische Wesen nicht in der Abkehr von, sondern der Hinwendung zu ihrer Umwelt sahen, trug ihren Teil zu dieser Entwicklung bei (Lutterbach: Das Mönchtum – Zwischen Weltverneinung und Weltgestaltung. S. 446).

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Ein Umstand, der sich auch auf die Bereitschaft zu kritischem Denken niederschlug.497 Es sind dies die Jahrzehnte, die durch die von Bernhard von Clairvaux so gefürchtete Neugier geprägt sind.498 Die Zeit, in der Thomas von Aquin davon spricht, dass jedes Wissen gut sei.499 Die Zeit, in der Kurt Flasch und Udo Jeck die Anfänge der Aufklärung vermuten und Ludger Honnefelder auf die Suche nach den Ursprüngen der Moderne ging.500 Es ist schließlich die Zeit, in der die Wahrnehmung des Denkens nicht durch das aus der Regula Benedicti vertraute Gebot des Zuhörens, sondern durch die Diskussion, den Zweifel und das Hinterfragen von vermeintlichen Gewissheiten geprägt wird. Hatte Abaelards sic et non das Vertrauen in die Aussagen der Autoritäten empfindlich gestört, traten an seine Stelle nun wissenschaftliche Rationalität und die Kraft des besseren Arguments.501 So verbanden sich Wissbegier und Diskussionsfreude mit dem Fehlen räumlicher Einschränkungen. In Bologna disputierte man auf der Piazza di San Stefano. In Paris entwickelte sich die Rue Galande und der Place Maubert, auf dem Albertus Magnus las und Aristoteles kommentierte, zu bedeutenden Denkorten der jungen Universität.502 Daneben ist auf einen dritten Ort in Paris hinzuweisen, an dem Angehörige der Universität in den Straßen der Stadt lasen und hörten. „Es ist die ewige Leuchte des Sigerus, / Der einstens in der Rue de Fouarre / Mit scharfem Geiste bittre Wahrheit lehrte.“503 (esse è la luce etterna di Sigieri, / che, leggendo nel vico degli strami, / sillogizzò invidïosi

497  Gerald Rauning ist deshalb zu widersprechen, wenn er auf die Frage was die Universität sei antwortet: „Zweifellos trifft Folgendes zu: Sie war immer schon eine herrschaftssichernde Institution, um nicht zu sagen eine Anstalt zur Einübung in Unterwerfung. Es trifft zu für die Gründungsphase der ersten Universitäten wie für die Zeit der Formierung des Humboldt’schen Bildungsideals.“ (Rauning: Fabriken des Wissenes. S. 24) Entgegen der Aussage des Autors kann dieser Befund nicht frei von Zweifeln gelten. Gerade in ihrer Gründungsphase erweist sich die Universität durchaus zu nonkonformen Denken fähig. 498   Schneidmüller: Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. S. 67. Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. S. 30. 499  Thomas von Aquin: Sentencia libri de anima. I,1,3, S. 4. 500  Noch 1989 versah Kurt Flasch die Formulierung von der Aufklärung im Mittelalter mit einem Fragezeichen, als er den Text der Pariser Verurteilung von 1277 erstmalig ins Deutsche übertrug (Flasch: Einleitung. S. 13-14). Acht Jahre später war das Fragezeichen im Untertitel des gemeinsam mit Udo Jeck herausgegebenen Sammelbandes Das Licht der Vernunft verschwunden (Flasch: Aufklärung im Mittelalter. S. 7-11). Siehe auch Köhler: Autorität und philosophische Urteilsbildung. S. 101-102. 501  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 207. Honnefelder: Woher kommen wir? S. 42-43. 502  Rückbrod: Universität und Kollegium. S. 34-35. Friese/Wagner: Der Raum des Gelehrten. S. 13. Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 207. 503  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. X,136-138, S. 306.

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veri)504 Der Blick zurück auf diese drei unlängst behandelten Verse aus Dantes zehntem Paradiesgesang ruft die Erinnerung an den Unterricht des Siger von Brabant in der Pariser Rue du Fouarre wach. Die so eingängig wirkenden Verse haben ihre Übersetzer und Interpreten dennoch mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert. Als unsicher erwies sich die räumliche Zuordnung Sigers. Dabei war es nicht die Identifizierung von Dantes vico degli strami als Rue du Fouarre, die Probleme bereitete.505 Unterschiedlich vielmehr fiel die Antwort auf die Frage aus, ob Siger nun in oder auf der Straße lehrte. War er also ein Vertreter erwähnter Obdachlosigkeit des Denkens oder ist die Formulierung so zu verstehen, dass Siger über einen Raum für seinen Unterricht innerhalb der Rue du Fouarre verfügen konnte? Für die Obdachlosigkeit des Denkens spricht die grundlegende Struktur der Commedia. Dante ist an keinem Ort. Dante ist gleichbedeutend mit der Reise.506 Einer Reise, die auch die Vielfalt der behandelten Fragen philosophischer, theologischer, politischer oder historiographischer Prominienz innerhalb der mittelalterlichen Wissenslandschaft beinhaltet. Dantes Nähe zu Reise, Ort- und Obdachlosigkeit des Denkens ist jedoch nicht als eine umfassende Öffnung des Wissens für die breite Masse misszuverstehen. Dante wendet sich nicht von den Fürstenhöfen ab und der auf der Straße anzutreffenden Volksmenge zu. Eigen ist dem Dichter nach wie vor ein aristokratischer Zug in der Vermittlung von Wissen.507 Dazu korrespondierend fasst die überwiegende Mehrheit der deutschen Dante-Übersetzer die entsprechende Passage derart auf, dass Siger in der Rue du Fouarre las und damit stellvertretend für die historische Praxis steht,

504  Dante Alighieri: La Commedia. Par. X,136-138 S. 238. 505  Im Detail offenbaren sich jedoch selbst hier Differenzen. In seiner Übertragung der Commedia übersetzt Rudolf Borchardt vico degli strami als „Schüttengasse“ (Dante Alighieri: Dante Commedia deutsch. Par. X,137 S. 363), leitet den Namen der Straße damit von einer Schütte ab, also einem Ort für die Lagerung von Getreide (Grimm/ Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. IX. Sp. 1205-2106). Dagegen erklären Karl Streckfuß und Aleksander Gieysztar den Namen der Straße damit, dass jeder Student ein Bündel Stroh mit sich führte, um darauf zu sitzen (Streckfuß: Anmerkungen. S. 254. Gieysztar: Organisation und Ausstattung. S. 134). Hartmut Köhler schließlich leitet den Namen der Rue du Fouarre von fourrage, ab und übersetzt sie daher mit Futtergasse (Dante Alighieri: La Commedia. Par. X,137 S. 239. Vgl. auch Köhlers Anmerkungen zu Vers 133-138 auf S. 240-241). 506  Helmrath: Dante. S. 211. „Der Raum des Reisenden wäre“, wie Marc Augé betont, „[…] der Archetpyus des Nicht-Ortes.“ (Augé: Nicht-Orte. S. 90) 507   Dante Alighieri: Das Gastmahl. I,11,5, S. 45 und I,11,6, S. 55. Cheneval: Einleitung. S. XXXVIII-XL. Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 234 und 255 hingegen deutet Dante als Apolegeten einer Demokratisierung von Wissen.

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dass die Magister in von ihnen angemieteten Häusern lehrten.508 Die damit einhergehende örtliche Fixierung – die sich nebenbei bemerkt natürlich auch aus ganz pragmatischen Erwägungen heraus erklärt, etwa dem Bedürfnis, sich vor Wind und Wetter zu schützen – eröffnet die Möglichkeit den Zugang zu Wissen zu kontrollieren. Zugleich ist die örtliche Fixierung aber noch nicht gleichbedeutend mit einem Erstarren im Denken. Die Vielzahl der Lehrlokale und die direkte Finanzierung durch den jeweiligen Magister, ohne die Notwendigkeit, eine übergeordnete Verwaltungsinstanz einzubeziehen, belies die Autonomie der Lehrenden unangetastet. Doch zeichnen sich entgegengesetzte Entwicklungen bereits im 13. Jahrhundert ab. Als man überdies im 14. Jahrhundert dazu überging, gezielt Gebäude für die Erfordernisse der Lehre zu erwerben, vor allem aber, als die Universität im 15. Jahrhundert selbst als Bauherr tätig wurde, begann auch das Denken zu erstarren und das Pendel wendete sich wieder der entgegengesetzte Richtung zu.509 2.6.2 Von räumlicher Schließung Mit der einsetzenden Bautätigkeit einher gingen Nebenfolgen, die maßgeblichen Anteil am Erstarren des scholastischen Denkens hatten. Erste Ansätze dieser negativen Auswirkungen der Sesshaft-Werdung sind bereits im 13. Jahrhundert zu erkennen. Um den Einfluss der Kirche zu minimieren, vorrangig aber der Kontrollmöglichkeit der Lehrinhalte wegen, entschied Kaiser Friedrich II., dass seine Untertanen nur noch innerhalb des Königreiches, an der von ihm gegründeten Universität Neapel, studieren sollten. Außerhalb des Königreiches, ja nicht einmal an einer anderen Schule innerhalb der Herrschaft Friedrichs II., sollte es niemand wagen zu lehren wie zu lernen.510 Deut508  Vgl. die Übersetzungen und Erläuterungen von Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. X,137 S. 306 mit Dante Alighieri: La Commedia. ebd., S. 239, Dante Alighieri: Göttliche Komödie. ebd., S. 40, Dante Alighieri: Göttliche Comödie. (Philalethes) ebd., S. 136 und Anm. 28, S. 137, Dante Alighieri: Dantes Commedia deutsch. ebd., S. 363 und Kauer: Anmerkungen. S. 694. Hiervon abweichend übersetzte Walter Nauman in seiner Übertragung der Commedia die entsprechende Passage mit „auf der Strohgasse lehrend“ (Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Par. X,137 S. 410). Hierzu auch die Erläuterungen von Ferdinand Barth in: Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. (Barth) Bd. 2. S. 448. Zur Anmietung von Häusern durch die Magister: Haskins: The Rise of Universities. S. 21. Häring: Die ersten Konflikte zwischen der Universität Paris und der kirchlichen Lehrautorität. S. 38. Rückbrod: Universität und Kollegium. S. 34. Friese/Wagner: Der Raum des Gelehrten. S. 13. Verger: Die Universitätslehrer. S. 148. Gieysztar: Organisation und Ausstattung. S. 133. Weber: Geschichte der europäischen Universität. S. 21. 509  Rückbrod: Universität und Kollegium. S. 35. Gieysztar: Organisation und Ausstattung. S. 133-134. 510  Nardi: Die Hochschulträger. S. 91-92. Nette: Friedrich II. von Hohenstaufen. S. 32.

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lich zeichnet sich in diesem Entschluss das Ansinnen ab, Kontrolle über das universitäre Denken durch dessen räumliche Fixierung zu erhalten. Ebenso wurden an der Universität Paris im 13. Jahrhundert wiederholt Versuche ruchbar, Einfluss auf die Lehrinhalte zu nehmen. Das bekannteste Ereignis dieser Bemühungen war die von Seiten des Pariser Bischofs Étienne Tempier ausgesprochene Verurteilung von 1277. Vorangegangen war ihr eine erste Verurteilung am 10. Dezember 1270, deren dreizehn als mit dem christlichen Glauben unvereinbar erklärte Thesen die kritischen Geister unter den Artisten aber in ihrem Denken nicht zu beeinflussen vermochte. Zwei Jahre später entschied die Artistenfakultät daher, ihren Angehörigen Äußerungen zu theologischen Fragen zu untersagen. Noch einmal gingen vier Jahre ins Land, in denen sich die Lage nicht im Sinne der Kirche besserte, so dass den Artisten nun auch die Lehre in privaten Zirkeln verboten wurde.511 Als die Wirkung auch dieser Beschlüsse begrenzt blieb, erfolgte der große Schlag. Von Professoren der Theologie beraten, vom Papst und dem Kardinallegaten Simon de Brion initiiert, befand Étienne Tempier 219 der von den Artisten diskutierten Thesen als häretische Irrtümer.512 Zwar handelt es sich bei der Verurteilung dieser Sätze fraglos um einen veritablen Eingriff in das Denken der Pariser Magister, doch zeugen die Thesen zugleich auch von dem, was man inzwischen zu denken und zu lehren wagte. Ein Wagemut, der auch nicht davor zurückschreckte, von zentralen Inhalten des christlichen Glaubens abzuweichen. Als Beispiel sei hierfür nur auf die neunte These der Verurteilung von 1277 hingewiesen: „Es gab keinen ersten Menschen, und es wird keinen letzten geben, sondern es gab immer und wird immer geben die Erzeugung eines Menschen aus einem Menschen.“513 Mit wenigen Federstrichen negiert dieser Satz das gesamte christliche Verständnis menschlicher Geschichte. Ihr Beginn mit der Genesis und ihr Ende am Tag des Jüngsten Gerichts werden hinfällig und durch die Vorstellung eines endlosen Fortschreitens ersetzt. Überdies erwies sich die Verurteilung nicht als der erhoffte durchschlagende Erfolg. Gerichtet war sie in erster Linie gegen die Vertreter eines radikalen Aristotelismus’, wie er beispielsweise durch Siger von Brabant verfochten wurde. Jenem Siger also, „der einstens in der Rue de 511  Flasch: Einleitung. S. 50-52. Bianchi: Der Bischof und die Philosophen: Die Pariser Verurteilung vom 7. März 1277. S. 72-74. Zu den Verurteilungen auch Weisheipl: Thomas von Aquin. S. 254-258. 512  Flasch: Einleitung. S. 53. Tewes: Die päpstliche Kurie und die Lehre an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert. S. 868. Eine parallel zu der hier präsentierten räumlichen Schließung verlaufende Entwicklung ist in der Verfolgung beispielsweise von Häretikern zu erkennen (Moore: The Formation of a Persecuting Society. S. 6-27). 513  Zitiert nach Flasch: Das Dokument von 1277. S. 106-107.

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Fouarre / Mit scharfem Geiste bittre Wahrheit lehrte.“514 Gegen ihn und seine Brüder im Geiste richtet sich Tempier wenn er schreibt, dass „einige Lehrer der freien Künste zu Paris die Grenzen ihrer eigenen Fakultät überschreiten und es wagen, die offensichtlichen und verabscheuungswürdigen Irrlehren oder vielmehr Eitelkeiten und falschen Hirngespinste, […], als an der Universität behandlungswürdige Probleme abzuhandeln und zu disputieren.“515 Darüber hinaus traf die Verurteilung aber auch erheblich konservativere und den Artisten gegenüber mehr als skeptisch eingestellte Denker wie Thomas von Aquin. Gleich die erste These des Pariser Dokuments lautete: „Gott ist nicht dreieinig und einer, weil die Dreieinigkeit nicht vereinbar ist mit der höchsten Einfachheit. Wo wirkliche Vielheit ist, dort gibt es notwendigerweise Hinzufügung und Zusammensetzung.“516 Für Thomas aber ist Gott dreieinig. Denn „es gibt im Göttlichen mehrere Personen.“517 Das heißt, dass es „eine Mehrheit von Trägern und eine gewisse Einheit […] die Einheit der Wesenheit“ gibt518. Demnach ist zum Beispiel „der Sohn ein anderer […] als der Vater, weil Er nämlich ein anderer Wesensträger der göttlichen Natur ist, wie Er auch eine andere Person […] ist.“519 Ist es ferner reiner Zufall, dass Étienne Tempier die Verurteilung am 7. März 1277 und damit genau am dritten Todestag des Aquinaten verkündete? In Anbetracht der weiteren Ereignisse fällt es schwer, dies zu glauben. Nur wenige Tage später verurteilte Tempier auch den ThomasSchüler Aegidius Romanus und initiierte zudem einen Prozess gegen Thomas von Aquin selbst, der jedoch auf Betreiben der Dominikaner ins Leere lief.520 Für eine lediglich begrenzte Wirkung der Pariser Verurteilung spricht ferner, dass die Dominikaner die Lehren des Aquinaten schon 1286 zur offiziellen Doktrin des Ordens erklärten.521 Die Hochachtung, die man Thomas ungeachtet der Pariser Entscheidung entgegenbrachte, illustriert aber nicht nur dieser Entschluss seiner Ordensbrüder, sondern zeigt sich deutlicher noch im Werk Dante Alighieris, der den Aquinaten als seinen Führer durch den Sonnenhimmel präsentiert. Dort, zu Thomas’ Linken, begegnet Dante zudem keinem

514  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. X,137-138, S. 306. 515  Zitiert nach Flasch: Das Dokument von 1277. S. 92. 516  Zitiert nach Flasch: Das Dokument von 1277. S. 99. 517  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 3. I,30,1, S. 63. 518  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 3. I,31,1, S. 82. 519  Thomas von Aquin: Summa Theologica. Bd. 3. I,31,2, S. 87. 520  Bianchi: Der Bischof und die Philosophen: die Pariser Verurteilung vom 7. März 1277. S. 70. Flasch: Einleitung. S. 57. 521  Ubl: Engelbert von Admont. S. 14.

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geringeren als dem gleichsam Verurteilten Siger von Brabant.522 ­Zuletzt zeugt auch Thomas’ Heiligsprechung 1323 davon, dass man der Pariser Verurteilung nicht bedingungslos zu folgen gewillt war. Erst zwei Jahre nach seiner Kanonisierung wurden die Lehren des Aquinaten von der Pariser Verurteilung ausgenommen.523 Und so kann festgehalten werden, dass die Verurteilung in erster Linie eine lokal auf das Pariser Milieu begrenzte blieb, wodurch den Vertretern unerwünschten Denkens zwei bewährte Mittel verblieben: der Streik oder der Auszug aus der Stadt in eine andere.524 Die Möglichkeiten Einzelner oder gleich der ganzen universitas, in Konfliktfällen die Stadt kurzerhand zu verlassen, schwindet jedoch mit einer sich ausweitenden architektonischen Verortung der Universitäten.525 Eingetauscht werden diese Möglichkeiten gegen eine höhere Chance auf Beständigkeit, als sie der Zusammenschluss einzelner Personen bot. Die Versteinerung der Institution Universität gewährt ihr eine steigende Unabhängigkeit vom Leben Einzelner.526 Zugleich entstehen damit aber neue Abhängigkeiten. Um ihren Bestand vor Ort sicherstellen zu können, unterstellen sich die Universitäten zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert mehr und mehr dem Willen ihres jeweiligen Landesherren. Zügig wurden die anfangs noch isoliert vollzogenen Zugriffe auf das Lehrprogramm oder den Lehrkörper ausgeweitet und bewirkten ein immer ausgeprägteres Abhängigkeitsverhältnis der Universitäten, denn ohne die gewährten finanziellen Zuschüsse war ihr Betrieb nicht mehr aufrecht zu erhalten.527 Den beklagten Verlust an intellektueller Originalität und Flexibilität begünstigt ferner auch die Architektur der nun errichteten Universitätsgebäude.528 522  Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Par. X,133-136, S. 306. Dantes Verehrung von Thomas von Aquin rührt möglicherweise auch daher, dass sein Lehrer Remigio de’ Girolami gewesen sein soll, ein Schüler des Aquinaten (Torrell: Magister Thomas. S. 328). 523  Elders: Th. v. Aquin. Sp. 709. Das heutige katholische Recht verpflichtet die Seminare überdies, seinen Methoden und Prinzipien in Theologie wie Philosophie Folge zu leisten (Dondaine: Thomas von Aquin. Sp. 121). 524  Flasch: Einleitung. S. 60-62. Hülsen-Esch: Buchmalerei. S. 344-345. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 308. 525  Gieysztar: Organisation und Ausstattung. S. 135. 526  Friese/Wagner: Der Raum des Gelehrten. S. 26. 527  Maurer: Universitätsreform im Mittelalter. S. 22-23. Müller: Geschichte der Universität. S. 45-46. Nardi: Die Hochschulträger. S. 104-108. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. S. 398-401. 528  Bezüglich der Bedeutung des Raumes für das Denken und Lernen sprach der italienische Pädagoge Loris Malaguzzi vom Raum als drittem Pädagogen – der erste Pädagoge seien die Mitschüler, der zweite der Lehrer –, der Begegnungen zu fördern, aber auch

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Auch hier gehen erste Erwägungen über die architektonische Gestaltung von Lehrräumen noch auf das 13. Jahrhundert zurück. Über den idealtypischen Aufbau eines solchen Raumes reflektierte bereits 1220 der italienische Rechtsgelehrte Buoncompagno. Neben allgemeinen Ratschlägen, wie der mit medizinischen Ansichten ebenso wie mit der Humorallehre verbundenen Erfordernis ausreichender Luftzirkulation oder der Lage abseits vom Lärm der Stadt,529 werden schon hier Vorkehrungen getroffen, die einer Disziplinierung der Lernenden und einer Kontrolle des Denkens den Weg bereiten.530 Die räumliche Begünstigung eines freien Ringens um das bessere Argument wird durch die Fokussierung auf den Magister ersetzt. Die Plätze aller Scholaren seien so auszurichten, dass sie den erhöht sitzenden Lektor gleichermaßen wahrnehmen können. Von der Kathedra aus soll der Lektor seinerseits in der Lage sein, jeden seiner Schüler stets im Auge zu haben, weshalb der Raum auch nur über einen Eingang verfügen dürfe, so dass das Kommen und Gehen der Schüler dem Blick des Lehrenden nicht entzogen bleibt. Schließlich wird auch die U-förmige Anordnung der Sitzbänke allmählich aufgegeben und durch eine hintereinander gestaffelte Reihung der Plätze ersetzt, wodurch eine Ordnung des Raumes geschaffen wird, die den Fokus auf die Kathedra abermals verstärkt und die Anwendung einer Lehrmethodik jenseits des Frontalunterrichts erschwert.531 Eingeschlagen wird damit ein Weg hin zum Richter-Professor, der über die Güte der gelesenen Texte und der von den Studenten vorgetragenen Argumente urteilt.532 In diesen Zusammenhang fügt sich auch die Darlegung zu verhindern wisse (Kühn: Architekturkolumne. S. 246. Priem: Pädagogische Räume – Räume der Pädagogik. S. 29-36). 529  Hierzu beispielsweise Nette: Friedrich II. von Hohenstaufen. S. 58. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. II,2 S. 63-64. Ibn Khaldūn: Die Muqaddima. IV,5 S. 302. Die abgesonderte Lage der Lehrräume begründet Buoncompagno ferner mit seinem Anliegen, Frauen den Zutritt zu den Räumen höherer Bildung so leichter verwehren zu können (Rückbrod: Universität und Kollegium. S. 67). 530  Rückbrod: Universität und Kollegium. S. 67. 531  Rückbrod: Universität und Kollegium. S. 72-73. 532  Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 208. Foucault: Überwachen und Strafen. S. 392393. Die Probleme dieser Art zu lehren hat Foucault in seinen eigenen Veranstaltungen erlebt. Über seine Vorlesungen am Collège de France äußerte er: „Man müsste über das von mir Vorgestellte diskutieren. Manchmal, wenn die Vorlesung nicht gut war, würde ein Weniges genügen, eine Frage, um alles zurechtzurücken. Aber diese Frage kommt nie. In Frankreich macht die Gruppenbildung jede wirkliche Diskussion unmöglich. Und da es keine Rückkoppelung gibt, wird die Vorlesung theatralisch. Ich habe zu den anwesenden Personen eine Beziehung wie ein Schauspieler oder Akrobat.“ (zitiert nach Ewald/Fontana: Vorwort. S. 8) Wider den bei Foucault nachgezeichneten Disziplinierungsgedanken (vgl. auch Foucault: Überwachen und Strafen. S. 188-189) sind die pädagogischen Überlegungen Jean-Jacques Rousseaus gerichtet. Für Rousseau sei der

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von Gert Selle passend ein, wonach die Lehrstühle spätmittelalterlicher Universitäten zu kleinen Burgen des Geistes geworden seien. Erhöht und deutlich abgegrenzt von seiner Hörerschaft erzeuge bereits das Möbelstück eine auf den Magister ausgerichtete Form des Denkens.533 Das durch die Architektur und Ausstattung des Hörsaals zum Ausdruck gebrachte Selbstverständnis eines sich hierarchisch deutlich über den Lernenden wähnenden Magisters trägt damit erheblich zur Erstarrung mittelalterlicher Diskussionskultur bei. Den Platz von dubitatio und disputatio, anfängliche Wesenskerne des sich in der Scholastik manifestierenden Denkens an der Universität, nimmt die magistrale determinatio ein, die endgültige Entscheidung einer Frage durch den Magister.534 Mit dem Ausklang des Mittelalters finden die großen Neuerer ihren Ort des Denkens außerhalb der Universität.535 Ein Universalgelehrter wie Leonardo da Vinci, Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und Niccolò Machiavelli, schließlich auch ein Theologe wie Martin Luther haben sich vom versteinerten Raum und Denken der Universitäten gelöst.

Denkraum so zu gestalten, dass er den individuellen Bedürfnissen des Lernenden entsprechend Rechnung trage (Rousseau: Plan für die Erziehung des Hern de Sainte-Marie. S. 147). 533  Selle: Die eigenen vier Wände. S. 154. 534  Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. S. 314. Zu den genannten Wesenskernen scholastisch-universitären Denkens zum Beispiel Schneidmüller: Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. S. 66-67. Honnefelder: Woher kommen wir? S. 42-43. Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 207 und 210. Lüddecke: Veritas exagitata. S. 325326. Dirk Lüddecke hat hierzu jedoch zu bedenken gegeben, dass auf die umschriebene Überhöhung des Magisters in Ockhams Dialogus verzichtet werde (Lüddecke: Veritas exagitata. S. 336). Als Ausnahme von der an den Universitäten betriebenen Überhöhung des Magisters kommt Ockhams Dialogus jedoch nur eine begrenzte Aussagekraft zu, da die literarische Gattung des Dialogs für die universitäre Lehre untypisch sei (Jacobi: Einleitung. S. 10). Zu den an den Universitäten gebräuchlichen Textformen Jacobi: Einleitung. S. 9. Köpf: Scholastik. Sp. 951. 535  Siehe zur Verortung großer Teile der Humanisten fern der Universitäten Burke: Papier und Marktgeschrei. S. 40-41.

Schluss Zuletzt war in der entstehenden Architektur der Universitäten ein Motiv für das in den auf das Mittelalter folgenden Jahrhunderten oftmals beklagte Versteinern mittelalterlichen Denkens benannt worden. Verbunden mit der Herausbildung eines den Magistern eigenen Selbstverständnisses, strittige Fragen abschließend klären zu können, gingen die Bereitschaft zu Widerspruch, Kritik und Nachfrage an den Universitäten mehr und mehr verloren. An die Stelle der von den frühen Universitäten bewirkten Öffnung von Denkräumen trat deren abermalige Schließung. Das durch die Scholastik aus den Dom- und Klosterschulen zunächst auf Plätze und Straßen verlagerte Denken wurde wieder örtlich fixiert und damit leichter dem kontrollierenden Zugriff von Kirche und politischer Obrigkeit zugänglich gemacht. Unter anderem durch die Betonung von Individualität und individueller Schöpfungskraft in Folge einer neu akzentuierten Auslegung des Narziss-Mythos, ferner durch die Veränderungen von Lesegewohnheiten und Lehrformen, schließlich auch durch die Entwicklung der Raumform des Studierzimmers schlug sich dieser Prozess der Schließung ebenfalls in bildhaften Darstellungen des Denkens nieder. So zum Beispiel in Werken, die das mittelalterliche Denken parodieren, wie Hieronymus Boschs Das Steinschneiden oder Giuseppe Arcimboldos Der Bibliothekar. Aber auch in Werken, die das mittelalterliche Denken als überkommen kritisierten, wie Rembrandt van Rijns Der lustlose Student. Schließlich griff eine dritte Form bildlicher Darstellungen die aus dem Mittelalter vertrauten Motive auf, um mit ihnen die Abkehr von mittelalterlichen Denkformen auch visuell zu verdeutlichen. Obwohl eine Vielzahl von Orten des Denkens und eine Vielzahl unterschiedlicher Denksituationen im Mittelalter bekannt waren und über ihre Eignung diskutiert wurde, reduzierte sich die bildliche Darstellung des Denkens im Wesentlichen auf zwei zentrale Motivtypen: Das Denken im Gehäuse und die Pose des Denkers. Der erste Typus steht dabei in der Tradition der Darstellung des Heiligen Hieronymus im Gehäuse, der zweite Typus in der Tradition jener Darstellungen, die sich etwa auf die Selbstbeschreibung des Denkprozesses im Reichston des Walther von der Vogelweide zurückführen lassen. Die im Mittelalter diskutierte Vielfalt an Denkorten wird diese Verengung in der Rezeptionsgeschichte nicht gerecht. So fand auch die utopische Ortlosigkeit weiblichen Denkens in den auf das Medium Aevum folgenden Jahrhunderten vorerst keinen Widerhall. Resultierend aus dem Mangel an Möglichkeiten, die gängigen Orte des Denkens zu betreten, blieb für Frauen oft nur die imaginäre Konstruktion eigener Denkorte, wie sie paradigmatisch in Christine de Pizans

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765135_005

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Cité des Dames zum Ausdruck kam. Mit ihrem Werk griff die Autorin auf das Motiv der Stadt als Ort des Denkens zu, das eines der am weitesten verbreiteten in der Diskussion um den Raum des Denkens war. Von ihren Verteidigern wurde die Stadt präsentiert als Ort, der Bücher, Bibliotheken und Universitäten beherberge, nicht zuletzt deshalb sogar zur Heimstatt der Philosophie erklärt wurde. Für die Vorzüge des urbanen Raums wurde Partei aber nicht allein von jenen Denkern ergriffen, die Erkenntnisse allein aus der vita contemplativa heraus für möglich erklärten, sondern auch von jenen, die in der vita contemplativa keine Erkenntnisse fördernde Lebensweise sahen und statt dessen nur die vita activa und das Treiben im urbanen Raum als Lehrmeisterin anerkannten. Dieser Verortung des Denkens entgegen stand die Argumentationsfigur, das Land als Denkort auszuweisen. Hierzu wurden die Vorzüge des Landes gepriesen, das Vergnügen an der dortigen Stille, an Flora und Fauna hervorgehoben, dem eine revitalisierende Wirkung zugeschrieben wurde, wohingegen das Leben in der Stadt den Geist auslauge. Begründet wurde dieser negative Einfluss des urbanen Raums nicht zuletzt mittels der Assoziation der Stadt mit dem sündhaften Babylon, wie es den Denkern des Mittelalters aus der Schil­ derung der Heiligen Schrift vertraut war. Der Aufenthalt in der Stadt wurde als Makel empfunden und die Flucht aus ihr nicht allein dem Denkenden anempfohlen, um die eigene Seele zu retten. Doch beileibe nicht alle Vertreter des auf das Land zu verlagernden Denkens teilten diese harsche Sicht auf die Stadt. Verbunden wurde der um des Denkens willen vollzogene Rückzug aus der Stadt auch mit der Aufforderung zur Rückkehr in die Stadt, damit dort die gewonnenen Erkenntnisse Anwendung finden könnten. Zu den im Mittelalter diskutierten Orten des Denkens gehörte auch die Ortlosigkeit. Für sie, für die Lösung von der physischen Welt, traten insbesondere jene Denker ein, die Einsicht als eine direkte Eingebung Gottes verstanden. Der Austausch mit anderen als erkenntnisfördernder Vorgang wurde dadurch ausgeschlossen, da Sprache dafür kein geeignetes Medium sei. Sprache verfälsche und verberge die intendierte Aussage, weshalb es nicht in ihrem Vermögen liege, Wissen zu vermitteln. Nicht der Diskutant, nicht der Nachfragende, sondern der Gotthörige war damit charakteristischer Repräsentant für die Ortlosigkeit des Denkens. Anhand der Vielzahl der im Mittelalter auf die Frage nach dem Ort des Denkens gegebenen Antworten wurde deutlich, dass eine lineare Entwicklung hier nicht festgestellt werden konnte. Ein gleichzeitiges Nebeneinander der präsentierten Archetypen dominierte die Diskussion. Mit dieser Vielfalt potentieller Denkorte knüpften die Denker des Mittelalters an die bereits in der Antike geführte Auseinandersetzung um die Verortung des Denkens an. Auch hier fanden sich Vertreter eines in der Ortlosigkeit, auf dem Land oder

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in der Stadt anzusiedelnden Denkens, so dass auch hier eine einheitliche Linie nicht gezogen werden konnte. Der Rückzug in sich selbst ebenso wie die Betonung einmal der Vorzüge, dann wieder der Nachteile von Stadt und Land auf die Möglichkeit zu denken, wurde auch in der Antike hervorgehoben. Prägend für Antike und Mittelalter blieb die Offenheit in der Auseinandersetzung, während am Übergang von Mittelalter zur Neuzeit eine Engführung in der Diskussion konstatiert werden konnte. Exemplarisch konnte in diesem Zusammenhang auf die Selbstdarstellung des eigenen Denkprozesses von Niccolò Machiavelli verwiesen werden. An diesem sich selbst in Szene setzen, lies sich zugleich demonstrieren, dass am Beginn des politischen Denkens der Neuzeit der Rückgriff auf vorangegangene, auf antike wie auch mittelalterliche Denkmuster, herzustellen versucht wurde, ein klarer Bruch zwischen den Epochen somit nicht stattgefunden hat. Wie im Werk Niccolò Machiavellis war auch die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Politik und Architektur bei Thomas Hobbes eine mit überwiegend traditionellen Argumentationsfiguren geführte Auseinandersetzung. Architektur diente bei beiden Denkern vorrangig als Mittel symbolischer Kommunikation. Und Architektur war bei beiden Denkern vorrangig nicht als geeignetes Fundament eines Staatswesens benannt. Nicht die Bauwerke, sondern die Bürger oder Untertanen wurden als für den Staat grundlegend von Belang ausgewiesen. Von Hobbes und Machiavelli verwendete Argumentationsfiguren knüpften überdies an Bestandteile der in der italienischen Renaissance und auch schon im Spätmittelalter geführten Diskussion um die Bedeutung von Befestigungsbauten an. Somit ließ sich auch auf der Grundlage dieses Diskurses ein klarer Bruch zwischen dem politischen Denken des späten Mittelalters und dem der Renaissance nicht feststellen. Innerhalb des Fortifikationsdiskurses wurde das Augenmerk allerdings im Wesentlichen auf tyrannische Formen politischer Ordnungen und deren Verwendungsweisen von Festungsbauten gerichtet. Dagegen hatte Ambrogio Lorenzetti in seinen Fresken im Palazzo Pubblico Sienas nicht die Konstruktion von Festungen als charakteristisch für schlechte politische Ordnung ausgewiesen, sondern architektonische Dekonstruktion. Architektonische Konstruktion hingegen war von ihm als Charakteristikum guter politischer Ordnung dargestellt worden. In diesem Kontext wurden von ihm auch Festungsbauten als Bestandteil guter politischer Ordnung abgebildet. Bestimmend für das ideale Gemeinwesen aber war letzten Endes auch für ihn nicht die Architektur. Bestimmend blieb der Gedanke einer durch die Concordia verbundenen Bürgergemeinschaft. Über sie, die Gemeinschaft der Bürger und ihre Abhängigkeit vom Wirken des Architekten äußerte sich auch Marsilius von Padua. Seine Ausführungen im Defensor Pacis betonten die Notwendigkeit der Baukunst, da dem Menschen

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ein gutes Leben ohne sie nicht möglich sei. Allerdings wurde die Verortung des guten Lebens in civitas und regnum nicht näher anhand der Architektur ausgeführt. Somit blieb der Berichterstattung über die Bedeutung der Baukunst bei Marsilius nur übrig, auf einige wenige Aspekte im Defensor Pacis zu verweisen. Deutlich mehr Nennungen fanden sich dagegen im Werk Dante Alighieris. Für das Paradiso allerdings hatte sich noch der Gedanke einer architekturfernen Gemeinschaft als prägend erwiesen. Dagegen waren von Dante in Purgatorio, Inferno aber auch schon in der Vita nova architektonische Elemente zur Bestimmung politischer Ordnungsformen herangezogen worden. Im Verlauf seiner Reise durch das Jenseits wusste Dante über Mauern, Türme und Tore zu berichten, aber auch von Stadt und Festung zu erzählen. Doch nicht allein Purgatorio und Inferno erfuhren ihre Formgebung mit Hilfe auch der Architektur. Wirkung entfaltete die Baukunst ebenso im Diesseits, so dass der Dichter seine Heimatstadt über ihre Baulichkeiten bestimmte und mit dieser Bestimmung von der aristotelischen Lesart abwich, wonach eine Polis nicht durch die Werke der Architektur verstanden werden dürfe, sondern die Gemeinschaft der Bürger maßgebend sei. Den Differenzen in den Auffassungen der Vertreter des Fortifikationsdiskurses Ambrogio Lorenzetti, Marsilius von Padua und Dante Alighieri zum Trotz verband diese ihre Haltung, Architektur als eine für die Politik unverzichtbare Größe anzusehen. Anknüpfen konnten sie dabei an die Wahrnehmung von Architektur und politischem Denken im 13. Jahrhundert. Dass der Mensch mittels der Architektur dazu in die Lage versetzt werde, seine Lebenswelt selbst zu gestalten, war ein in den Schriften von Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Brunetto Latini und Vinzenz von Beauvais aufzufindender Topos. Der Architekt wurde als eine zentrale Gründungsgestalt des Gemeinwesens verstanden. Durch diese positiv konnotierte Neuakzentuierung der Baukunst verlor die Vorstellung, Architektur mit dem Brudermörder Kain, dem biblischen Begründer der Baukunst zu verbinden, an Bedeutung. Erwägungen zur Architektur fanden sich bei Thomas von Aquin insbesondere in seinem Fürstenspiegel De regno ad regem Cypri. Nicht gänzlich frei von Skepsis bestimmte der Aquinate das Gemeinwesen hierin über seine Architektur. Und so schrieb Thomas dem städtegründenden König eine höhere Rangstellung zu, als dem lediglich regierenden Monarchen. Zu bedenken hatte der städtegründende König vor allem die Wahl eines geeigneten Bauplatzes, der das physische Wohl seiner Untertanen sicherstellte, der dem Gemeinwesen zugleich aber auch ökonomische Autarkie gewährte und damit eng verbunden dessen Sitten zu bewahren vermochte. Ohne die ausreichende

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Beachtung dieser Kriterien, so die aus dem Text zu ziehende Schlussfolgerung, sei das Gemeinwesen auf seinem Weg zur Seligkeit zum Scheitern verdammt. Anders als in seinem Fürstenspiegel erwies sich die Auseinandersetzung mit der Architektur in den beiden Summen des Aquinaten, der Summa theologiae und der Summa contra Gentiles, nur als sehr bedingt von Bedeutung, da die Baukunst in ihnen vor allem in metaphorischem Sinne Gebrauch fand. Sinnbildlich gebraucht wurde die Architektur etwa unter Verweis auf 1 Kor III,10 und Aussagen des Aristoteles als Beispiel für eine leitende Wissenschaft. Darüber hinaus konnte auf der Textgrundlage der beiden Summen nur sehr wenig über die Architektur selbst sowie zu ihrem Verhältnis zur Politik festgehalten werden. Im Kommentar zur Politik des Aristoteles schließlich sprach Thomas von Aquin nur vereinzelt von der Architektur. In Ansätzen waren anhand des Textes erste Annäherungen an die Fragen möglich, ob Thomas die Stadt mehr über ihre Bauten oder ihre Bürger verstanden wissen wollte, und wie der Aquinate die Baukunst wissenschaftssystematisch verortete. Anknüpfungspunkte zu mehr bot der Text jedoch nicht an. Ähnlich waren auch die Äußerungen von Thomas’ einstigem Lehrer Albertus Magnus über Fragen der Architektur nicht in einer Abhandlung gebündelt, sondern verstreut über seine Werke. In diesen übernahm Albert weitgehend die ablehnende Haltung des Aristoteles gegenüber der Architektur, so dass auch Albert das Gemeinwesen nicht mittels der Werke der Architektur begründete. Als Resultat hiervon fand ein vor allem metaphorischer Gebrauch der Architektur in den Schriften Alberts des Großen statt. In eine andere Richtung allerdings wies eine Lesart des Ethik-Kommentars. Ihr gemäß hatte Albert in diesem Kommentar nicht nur eine Wendung der Architektur zur Wissenschaft formuliert, sondern die Architektur der Politik sogar übergeordnet. Über den wissenschaftssystematischen Standort der Architektur geäußert hatte sich auch Brunetto Latini. Für ihn jedoch war die Architektur der Politik nicht übergeordnet. Brunetto sah in ihr vielmehr ein Instrument des Herrschers, der sich aus Sorge um das physische Wohl seiner Untertanen auch der durch die Architektur bereitgestellten Mittel bedienen sollte. Begründet aber wurde das Gemeinwesen über die Rhetorik und nicht über die Baukunst. Als Bestandteile der Politik verband Brunetto Rhetorik und Architektur allerdings und vereinte damit diese beiden Wissensbereiche. Bezüglich der Frage, ob Politik und Architektur zu trennende Disziplinen seien oder sie als Einheit gedacht werden sollten, waren ferner die Ausführungen aus Vinzenz von Beauvais’ Speculum maius zu Rate gezogen worden. Vinzenz trennte Politik und Architektur insofern voneinander, als er, anders

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als der Bericht der Bibel belegte, die beiden Disziplinen auf jeweils eigene Gründer zurückführte. Während die Politik von dem biblischen Brudermörder Kain herkomme, hatte danach die Architektur in der mythologischen Gestalt des Dädalus ihren Ahnherrn gefunden. Dergestalt konnte Vinzenz Architektur als eine Disziplin präsentieren, der, nicht durch die Tat Kains befleckt, eine wesentlich höhere Stellung innerhalb der Wissenschaften zugewiesen werden konnte. Diese Stellung äußerte sich in der Rangordnung des Architekten über den Repräsentanten der übrigen artes mechanicae, aber auch in seiner Stellung über dem Politiker. Den Politiker überrage er, da es der Architekt sei, der das Gemeinwesen begründe. Anknüpfen konnte Vinzenz von Beauvais mit seinen Ausführungen an die Vorarbeiten des Hugo von St. Viktor. Unmittelbar bewirkten die Überlegungen des Viktoriners indes noch keine einheitliche Neubewertung der Architektur. Joachim von Fiore, Honorius von Augustodunensis und Otto von Freising waren als Beispiele für je eine unterschiedliche Art des Umgangs mit der Baukunst vorgestellt worden. Dieser reichte von Joachim von Fiore, der Architektur als eine das Gemeinwesen ordnende Disziplin wertete, über die Auffassung des Honorius von Augustodunensis, dass Architektur den freien Künsten angehörig und auch für die Politik bedeutsam sei, bis hin zum Beharren auf einer tradierten Wahrnehmung im Verhältnis von Politik und Architektur bei Otto von Freising. Gegen diese traditionelle Wahrnehmung hatte sich Hugo von St. Viktor im Didascalicon gewandt und die Wertung der Architektur auf ein neues Fundament gestellt. Hierfür begann Hugo bereits beim Begründer der Baukunst. Nicht mehr Kain wurde als erster Architekt benannt, sondern Dädalus, dem das Wissen um die Baukunst von Minerva vermittelt worden sei. Architektur wurde nicht länger mit der biblischen Geschichte des Brudermordes verbunden, sondern als eine Lebensnotwendigkeit für den Menschen ausgewiesen. Überdies wertete Hugo die Architektur und die ihr verwandten Disziplinen der mechanica zusätzlich dadurch auf, dass er sie formal in die Nähe der artes liberales rückte, dass er weiter nicht von artes, sondern von scientiae mechanicae sprach, und dass für ihn schließlich die Beschäftigung mit diesen scientiae mechanicae die Kenntnis der artes liberales voraussetzte, Architektur theoriewürdig und folglich zu mehr als einem bloßen Handwerk erklärt wurde. Zu Gunsten der Architektur beeinflusst wurde das geistige Klima der Zeit bereits durch die Schule von Chartres. Durch die Beschäftigung der Chartrenser mit der pythagoreisch-platonischen Kosmologie des Timaios wurde die Distanz zwischen artes liberales und artes mechanicae verringert. Hierzu trug

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im Wesentlichen die Vorstellung Gottes als Baumeister bei, der sich bei der Erschaffung des Kosmos mathematischer Kenntnisse bediente. Noch zu Beginn des Mittelalters hingegen waren Handwerk und Handarbeit als eine Folge des Sündenfalls begriffen worden. Erst mit der Vertreibung aus dem Paradies sei der Mensch dazu genötigt worden, sich seinen Lebensunterhalt zu erarbeiten. Insbesondere die Verbreitung urbaner Lebensformen einerseits und monastische Mentalität, die sich der Regula Benedicti und ihrem Motto ora et labora gegenüber verpflichtet fühlte andererseits bewirkte hingegen eine Aufwertung körperlichen Arbeitens. Eine Aufwertung, die sich auch in den Werken politischen Denkens niederschlug und dadurch eine Grundlage für die positivere Sicht auf die mechanica im Allgemeinen und die Architektur im Speziellen schuf. Dieser Sicht entgegen standen vor allem die vier davor behandelten Aspekte: Die Verbindung der Architektur mit der Tyrannis, der Ausschluss der Architektur aus dem Kanon der artes liberales bei Martianus Capella, das Denken des Aurelius Augustinus über die Architektur und die Bewertung der Baukunst in der Bibel. Atto von Vercellis Polipticum quod appellatur perpendiculum wies die Architektur als ein Herrschaftsmittel des Tyrannen aus, mit dem er seine Territorien kontrollieren und die ihm Untergebenen überwachen konnte. Architektur verlor damit sowohl die Möglichkeit, zum Ausdruck politischer Gemeinschaft zu werden, als auch zur irdischen, gar himmlischen Glückseligkeit beizutragen. Allerdings war Attos Schrift ein Spezialfall, der nicht exemplarisch für das politische Denken des frühen Mittelalters stand. Als weitaus wirkmächtiger als Atto von Vercellis Schrift erwies sich Martianus Capellas Urteil über den Rang der Architektur in De nuptiis Philologiae et Mercurii. Architektur genauso wie auch die Medizin wurden von Martianus aus der Gruppe der artes liberales ausgeschlossen. Beide Disziplinen seien durch ihre Sorge um die physischen Bedürfnisse des Menschen der Aufnahme in die freien Künste nicht würdig, da sich diese nicht mit irdischen Belangen beschäftigten. Abwertend hatte sich sodann auch Aurelius Augustinus über die Architektur geäußert. Hauptsächlich in De civitate Dei fanden sich die Aussagen Augustins zur Architektur. Auffällig erwies sich dabei das architekturferne Verständnis von civitas im Werk Augustins. Realem Bauen gegenüber blieb er ablehnend eingestellt. Symptomatisch für das Denken des Kirchenvaters war, dass, ausgehend von Kain und Romulus, Politik und Architektur mit Mord und Totschlag verbunden seien. Ein Christ müsse daher auf Aufnahme in den Ort jenseitiger Zuflucht hoffen, auf Aufnahme in das Himmlische Jerusalem, die civitas Dei.

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Mit dem Bild des Himmlischen Jerusalems war ein Höhepunkt biblischen Berichtens über das Bauen und die Baukunst benannt worden. Eine einheitliche Bewertung der Architektur aber war in den Texten der Heiligen Schrift nicht zu finden. Das Buch der Bücher blieb hierin ambivalent. Durch die Prophezeiung der zukünftigen Himmelsstadt veränderte sich die anfängliche Skepsis gegenüber der Architektur im Alten Testament. Ebenso standen auch im Neuen Testament Kritik und Lob der Architektur nah beieinander und fanden in der Gegenüberstellung der Hure Babylons mit dem Himmlischen Jerusalems ihren Abschluss. Mit am Anfang der Schrift jedoch stand die Architektur, stand ihr Begründer und zugleich erster Politiker der Menschheit, stand Kain. Am Anfang dieser Arbeit stand die Aussage, dass Ursprung aller Politik die Architektur sei. So begann die im Vorangegangenen erzählte Geschichte über das Verhältnis von Politik und Architektur im Mittelalter. Nun am Ende dieser Erzählung angelangt, ist zu fragen, ob die eingangs aufgestellte Behauptung aufrechterhalten werden kann. Ist nach den betrachteten Werken aus der Geschichte politischen Denkens Architektur tatsächlich Ursprung aller Politik? Architektur ist nicht der Ursprung aller Politik oder allen Denkens über Politik. Zwar fand sich in den untersuchten Werken die Auffassung, dass Politik in der Architektur beginnt, sei es in den Politik und Architektur auf die biblische Gestalt Kains zurückführenden Arbeiten oder in jenen Überlegungen, die das Gemeinwesen mit der Schöpfung des Architekten begründet sehen wollen, doch war damit nur ein Ursprung von Politik benannt. Andere Ursprünge wurden mit der Betonung der Gemeinschaft der Bürger, etwa einer an Augustin ausgerichteten Orientierung oder gemäß einer aristotelischen Prägung und der Rhetorik angegeben. Ebenso erwies sich Architektur als nur eines von mehreren das Denken über Politik formende Element. Dem architektonisch geformten Raum der Stadt, des Hörsaals oder des Studierzimmers war das Denken in der Natur oder die nicht näher spezifizierte Ortlosigkeit des Denkens entgegengestellt. Oftmals war die gezeigte Verbindung von Politik und Architektur überdies nur metaphorischer Art. Gleichnisse und Metaphern begegnen in der Geschichte politischen Denkens wieder und wieder. Sie sind „als flackernde Irrlichter des Verstandes verdammt“ oder „als überaus kunstvolle Möglichkeit sprachlichen Ausdrucks gepriesen [worden]“.1 Aber nicht nur als Irrlicht oder rhetorisches Stilmittel finden in den Werken politischer Denker

1  Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. S. V.

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Metaphern wie jene vom Staatsschiff2 ebenso Verwendung wie Tiervergleiche (etwa von Fuchs und Löwe, Wolf oder Biene),3 die Metapher des Arztes4 und nicht zuletzt der Vergleich mit der Architektur und dem Architekten. Daniel Höchli bezeichnete den Vergleich mit dem Architekten als optimistischer und moderner als den Vergleich mit dem Arzt.5 Optimistischer ist er insofern, als der Arzt sich nur um die Wiederherstellung des status quo ante bemühen kann. Mitunter aber gelingt ihm nicht einmal dies. Dann sieht er sich dazu gezwungen, Knochensäge und Skalpell zu ergreifen und das nekrotische Glied 2  Siehe für die Ursprünge des Bilds vom Staatsschiff in der Dichtung des Alkaios und Theognis Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. S. 216-217 und S. 469. Zur Metapher des Staatsschiffs ferner beispielsweise Platon: Der Staat (Politeia).VI,4, 487e-489d, S. 293-295. Polybios: Geschichte. VI,44, S. 570-571. Horaz: Sämtliche Gedichte. Ode I,14, S. 37-39. Quintilian: Ausbildung des Redners. VIII,6,44, S. 237. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,2, S. 10-11. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. (Gmelin) Pur. VI,77, S. 158. Arasse: Leonardo da Vinci. S. 150. Alberti: Momus oder vom Fürsten. S. 371-375. Grundlegend zur Metaphorik vom Staatsschiff Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. S. 700-863. Kompakter die Darstellung von Wolff: Schiff. S. 323-329. 3  Zum Tiervergleich in der politischen Ikonologie der Überblick bei Brückle: Tiervergleich. S. 428-437. Für den Gebrauch des Tiervergleichs im politischen Schrifttum klassisch die mittelalterliche Fuchsepik oder George Orwells Animal Farm (ein den Tiervergleich mit der Architektur verbindendes Beispiel aus der Fuchsepik bietet die Ameisenszene in Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. 1239-1320, S. 85-89. Zur politischen Lesart dieser Szene etwa Göttert: Nachwort. S. 173-175. Zu Orwell Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 4/1. S. 33-34). Paradigmatisch sind Fuchs und Löwe im XVIII. Kapitel des Principe gebraucht (Machiavelli: Il Principe. S. 137). Mit dem Wolf ist man nicht zuletzt durch den in Plautus’ Asinaria getätigten Ausspruch „lupus est homo homini“ vertraut, (Plautus: Asinaria. II,4, 495) dem durch Thomas Hobbes größere Beachtung zu Teil wurde (Hobbes: Vom Bürger. S. 59). Über die Bienen schließlich schreiben unter anderem Aristoteles: Politik. I,2, 1253a, S. 78, Vergil: Georgica. S. 176-209, Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,12, S. 48, Erasmus von Rotterdam: Fürstenerziehung. S. 85, Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. II,17, S. 133-134, Bernard Mandeville: Die Bienenfabel oder private Laster als gesellschaftliche Vorteile. S. 13-26 und sogar noch Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. S. 87. 4  Zur Metapher des Arztes beispielsweise Platon: Der Staat (Politeia). VI,4, 489b-c, S. 295. Cicero: Vom rechten Handeln. III,32, S. 243. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. I,2, S. 11. Implizit findet die Metapher des Arztes Anwendung auch bei Dante Alighieri: Monarchia. I,16,5, S. 113 und III,4,14, S. 195. Ferner Donato Giannotti: Die Republik Florenz (1534). II,20, S. 217. Explizit bei Erasmus von Rotterdam: Fürstenerziehung. S. 171. In Ansätzen findet die Metapher Gebrauch auch bei Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Einleitung, S. 5 und wird im Frontispiz des Leviathan durch die beiden Seuchenärzte visualisiert (siehe Bredekamp: Thomas Hobbes der Leviathan. S. 108-109. Falk: Hobbes’ Leviathan und die aus dem Blick gefallenen Schnabelmasken. S. 223-224. Agamben: Stasis. S. 62-63). 5  Höchli: Zur politischen Sprache Giannottis. S. 115.

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zu amputieren.6 Der status quo ante ist für den Baumeister hingegen nicht der Zielpunkt seines Wirkens. Er erschafft Neues, erweitert das Gemeinwesen, begründet es in manchen Fällen sogar. Insofern ließen sich die Metaphern vom Baumeister und seinem Wirken als ein Gegengewicht zu der Vorstellung vom finsteren Mittelalter deuten, die mit Beginn der Renaissance zunehmend Verbreitung fand. Das Mittelalter sei Stagnation, gar Verfall der antiken Kultur.7 Wieder und wieder werden dem Medium Aevum und die in ihm erbrachten Leistungen abschätzige Urteile von Seiten der Nachwelt zuteil. Paradigmatisch kann hierzu auf die Verwendung des der Architektur entlehnten Begriffs Gotik verwiesen werden. Giorgio Vasari bezeichnete mit ihm den auf die Antike folgenden Baustil, der fortan die Welt verseucht habe.8 Auch in der politischen Publizistik wird vom Adjektiv gotisch in solch abwertender Art und Weise Gebrauch gemacht. So nennt James Harrington in The Commonwealth of Oceana die gothic balance die niederste Form des Feudalsystems und Johann Gottfried Herder spricht im zweiten Teil von Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von gotisch, gotischem Geist, gotischen Gebäuden und gotischem Körper, im Zusammenhang einer üblen Staatskunst.9 6  So die Wendung der Metapher bei Cicero: Vom rechten Handeln. III,32, S. 243. Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. S. 453-465. Eine makabre Diskussion innerhalb der Auseinandersetzung um die Anatomie des politischen Körpers entspann sich im Zuge der Französischen Revolution. Durch die Hinrichtung mittels der Guillotine wurde die Frage erörtert, ob der Tod direkt eintrete oder der vom Körper getrennte Kopf noch eine geraume Zeit weiter am Leben bleibe. Insbesondere in Anbetracht der Hinrichtung Ludwigs XVI. wurde die Geltung dieser Frage ersichtlich (Arassse: Die Guillotine. S. 52-66. Manow: Im Schatten des Königs. S. 97-101). 7  Das Bild vom finsteren Mittelalter geht zurück auf Francesco Petrarca. Hierzu grundlegend Mommsen: Der Begriff des „Finsteren Zeitalters“ bei Petrarca. S. 154-179. Siehe auch Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2/2. S. 1-3. Fried: Das Mittelalter. S. 536558. Groebner: Das Mittelalter hört nicht auf. S. 26-35. 8  Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. S. 63-64. Burioni: Gattungen, Medien, Techniken. S. 15. Auf die „äußerst variable Anwendung des Wortes“ gotisch zwischen einem historisch-deskriptiven und ästhetisch-normativen Gebrauch, der auch in der politischen Diskussion Verwendung fand, verweist Klaus Niehr: Gotisch. S. 862-864. 9  Harrington: The Commonwealth of Oceana and a System of Politics. S. 47. Riklin: Die Republik von James Harrington 1656. S. 10 und 91-92. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. S. 47-53. Bezüglich dem bei Herder genannten gotischen Geist und Körper kann auf Victor Hugo und sein Gleichnis der Kathedrale NotreDame de Paris und Quasimodo verwiesen werden (Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame. III,4, S. 145-146). Wobei dieses Gleichnis nicht als Ausdruck der Missbilligung missverstanden werden darf. Vielmehr sei die Schönheit der Kathedrale durch „das Werk der Zeit“, „das Werk der Revolutionen“ und die „barbarische Arbeit von Gelehrten und Professoren“ verunstaltet

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Dieser Sicht auf das Mittelalter kann der metaphorische Gebrauch von Architektur und Architekt entgegengestellt werden. Allerdings kann er dies nicht ausnahmslos. Nicht durchweg zeugt der Verweis auf die Architektur von einer optimistischen Sicht. Beispielsweise ist Hildebert von Lavardins berühmtes Diktum Roma fuit nicht zuletzt auch die Klage über die einstige, nun vergangene und verlorene Größe der Stadt am Tiber.10 Zudem ist auch die oftmals vollzogene Bindung der Architektur an die Person Kain kein Ausweis eines optimistischen Blicks. Weder auf die Architektur, noch auf die durch Kain mit ihr verwobene Politik. Erst als sich die Architektur von der Bindung an den Brudermörder löste, wurde eine optimistischere Sicht möglich. Das Gleichnis von Politik und Architektur impliziert außerdem ein Verständnis von Politik, das zu einem nicht unerheblichen Teil auf Exklusion beruht. Begriffen wird Politik demnach zuvorderst als eine Ordnung des Raums. Allerdings ist eine solch territoriale Auffassung politischer Ordnungsformen für den untersuchten Zeitraum nicht sogleich nachvollziehbar. Antike wie auch mittelalterliche Staatlichkeit werden gemeinhin unter dem Gesichtspunkt der Personalität verstanden. Vormoderne Staaten seien demgemäß primär Personenverbände, die ihre Identität mehr in ihrer Verfassung begründet sahen, wie die antike Polis, oder im personalen Treueverband, wie das mittelalterliche regnum.11 Jedoch sollte die territoriale Dimension von Politik für Antike wie Mittelalter nicht zu gering gewichtet werden. Weder den Griechen12 worden (Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame. III,1, S. 128). Zu Hugo: Bachelard: Poetik des Raums. S. 104. Nerdinger: Architektur wie sie im Buche steht. S. 13. CorbineauHoffmann: Architekturen der Vorstellung. S. 36. Implizite Kritik an der Gotik als Symbol monarchischer Ordnung findet man in Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. IV,37-65, S. 98-99. Ein ungleich wohlwollenderes Bild der von ihm so benannten gotischen Regierung zeichnete hingegen Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. XI,8, S. 230-231. 10  Hildebert von Lavardin: Carmina Minora. XXXVI, Vers 21, S. 23. Fried: Das Mittelalter. S. 16-17. 11   Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 1/1. S. 9. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 4/1. S. 259. Mayer: Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter. S. 289-294. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. S. 42-43. Junge: Staatlichkeit und Territorialität. S. 227. Todorov: Die Angst vor den Barbaren. S. 243-244. 12  Für die Griechen beispielsweise die bei Herodot geschilderte Forderung der Perserkönige nach Erde und Wasser als Zeichen der Unterwerfung der hellenischen Poleis (Herodot: Historien. VI,48-49, S. 789-791 und VII,32, S. 899). Keine personelle Bindung wird damit gefordert, sondern eine Bindung des von den Griechen beanspruchten Raums. Zwar wird diese Forderung von Repräsentanten aus einem nicht-griechischen Kulturraum erhoben, doch wissen sie die Griechen sehr wohl zu verstehen, wie die Reaktion der Athener und Spartaner auf drastische Art und Weise belegt (Herodot: Historien. VII,133, S. 961. Zumal

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noch den Römern13 war sie fremd und auch im Mittelalter ist das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Dimension der Politik nicht verloren gegangen,14 erfuhr über den Rückgriff auf antike Vorbilder hinaus auch eine eigenständige Begründung.15 Aufbauend hierauf konnte eine mittels der Architektur bestimmte Abgrenzung eines Innen- von einem Außenraum vollzogen werden. Eine Abgrenzung von Innen und Außen, die ein unter dem Schutz der Gesetze stehendes Gebiet von einem Ort jenseits der Architektur trennt, an dem die rechtlichen Normen flüchtig werden.16 Die sich in der Architektur ausauch die Trennung beider Kulturräume nicht derart strikt verstanden werden sollte. Hierzu etwa Burkert: Die Griechen und der Orient. S. 107). 13  Zur Raumbindung von Politik bei den Römern zum Beispiel die bei Plutarch überlieferte Geschichte der Gründung Roms oder die Befestigung der Reichsgrenzen. Siehe Plutarch: Große Griechen und Römer. Bd. 1. Romulus 11, S. 88-89. Vgl. auch Ovid: Fasti. IV,821-822, S. 195. Fustel de Coulanges: Der antike Staat. S. 181-182. Auch bei Gründung der Republik begegnet die Raumbindung (Titus Livius: Römische Geschichte. I,56,10-13, S. 147). Zu den Reichsgrenzen etwa Aelius Aristides: Die Romrede. S. 49-51. Hänger: Die Welt im Kopf. S. 230-240. 14  Kontinuität zum räumlich-politischen Denken Roms wurde im Mittelalter etwa durch die Verwendung antiker römischer Mauern hergestellt (Esch: Antike Mauer im Mittelalter. S. 99. Esch: Leon Battista Alberti, Poggio Bracciolini, Andrea Mantegna. S. 148-152). 15  Hierzu etwa die Umschreibung Gottes bei Ramon Lull: „Unermesslich“ sei die Herrschaft des Allmächtigen und „weder durch Raum noch Zeit begrenzt“ (Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. S. 3. Vgl. auch Anselm von Canterbury: Proslogion. S. 45). Unter anderem die Betonung räumlicher Unbegrenztheit zeichnet die Differenz weltlicher Herrschaft aus. Vgl. die Betonung von Grenzräumen oder dem Prinzip der Landnahme am Beginn jedweder Herrschaft bei Einhard: Vita Karoli Magni. S. 19. Die Geschichte der Welfen und die Chronik Burchards von Ursberg. S. 35. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 16-17. Heller-Roazen: Der Feind aller. S. 214. Ebenso gilt, dass für agrarisch strukturierte Gesellschaften der Besitz an und die Kontrolle über Land das wertvollste Gut darstellt (Vollrath: Magna Charta. S. 320. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 160. So blieb die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung auch in Abhängigkeit von ihren Grundherren (domini terrae). Hierzu Schneidmüller: Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. S. 29-30). Auch innerhalb eines Personenverbandes behält die Beherrschung des Raums eminente Bedeutung bei. In Ermangelung schriftlich fixierter Verfassungen spiegelt die Positionierung im Raum, etwa bei der Verteilung von Sitzplätzen, nicht allein die Stellung im politischen System wider, sondern wird zum Ausdruck der Ordnung selbst (Schneidmüller: Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. S. 52. Vgl. Die Goldene Bulle. S. 110-111 und 130-131. Grundlegend zu Ritualen als Machtfaktor Althoff: Die Macht der Rituale. S. 199-203). Eine Tafelrunde, wie jene König Arthus’ wäre Ausdruck des Fehlens sozialer Rangordnung und somit Utopie (Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 74-75. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. S. 153). 16  Dem steht das Urteil Simeon Gutermans über das Wesen mittelalterlicher Rechtsvorstellung entgegen, wonach das Recht dem Personalitätsprinzip unterlag (Guterman: The

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drückende Rechtsordnung beschränkt sich aber nicht allein auf die Abgrenzung einer Gemeinschaft von einem äußeren Raum, sondern kann auch die Abgrenzung einzelner von der jeweiligen Gemeinschaft bezeichnen. Die Mauern des Hauses dienen in diesem Fall dazu, die Grenzen des Staates zu bestimmen.17 Innerhalb seiner eigenen vier Wände ist der Einzelne dem Zugriff des Staates aber auch dem Zugriff seiner Mitbürger entzogen. Seit alters her erfährt das Haus diese besondere Rechtstellung.18 Diesem der Begründung der Politik auf der Architektur inhärenten Sinn zur Seite steht zugleich aber auch ein Verständnis von Politik, das einerseits den Ausschluss jener beinhaltet, die nicht dem durch die Mauer zusammengefassten Gemeinwesen angehören sollen, und das andererseits die innere Segregation befördert. Der Ausschluss jener, die nicht dem Gemeinwesen angehören sollen, wird paradigmatisch in Ciceros Catilinarischen Reden deutlich. Dem „concursus bonorum omnium“19 wird der Feind Roms entgegengestellt, befehligt von „innerhalb der Stadtmauern“.20 Dass sich der Verschwörer Catilina noch innerhalb der Stadtmauern aufhält, ist ein Störfaktor. Deshalb ruft Cicero Catilina dazu auf, die Stadt zu verlassen, damit auch die physische Trennung zwischen Catilina und der römischen Bürgerschaft erfolgen kann, nachdem Catilina die Mauern bereits durch sein Denken und Handeln hinter sich gelassen hat. Die Einheit der Bürgerschaft, von Catilina gesprengt und mit ihm der Rechtsraum innerhalb der Mauern befleckt, müsse wiederhergestellt werden.21 Eine derart durch Architektur geschaffene kollektive Identität ist jedoch in nicht geringem Ausmaß das Produkt einer erkennbar schwachen Definition, Principle of the Personality of Law in the Germanic Kingdoms of Western Europe from Fifth to the Eleventh Century. S. 35-37). Dagegen betont Verena Epp, dass die lex terrae Vorrang vor der lex hominis besessen habe (Epp: Zur Kategorie des Raums in frühmittelalterlichen Rechtstexten. S. 575-590). Vielsagend ist in diesem Zusammenhang die Formel mit der man im 15. Jahrhundert Missetäter vor Gericht zitierte. Sie lautete, dass Klage gegen ‚[m]einen vnnd des lanndes schadbarn man‘ erhoben wird (zitiert nach Schild: Folter, Pranger, Scheiterhaufen. S. 80). Hierher gehört auch das Misstrauen gegenüber dem Landstreicher. Dessen Aussage vor Gericht als nichtig erachtet wurde (Foucault: Überwachen und Strafen. S. 49-50). 17  Siehe etwa Coke: The Selected Writtings and Speeches of Sir Edward Coke. S. 136. Walzer: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. S. 38. 18  Aus ihr heraus erklärt sich etwa das Wüten des Odysseus gegen die Freier in seinem Haus, die diesen besonderen Rechtsraum missachtet haben (Homer: Odyssee. XXII,35-41, S. 593 und XXIV,454-462, S. 663). Für das Mittelalter Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 58. Le Goff: Die Liebe zur Stadt. S. 69-74. Duby: Private Macht, öffentliche Macht. S. 26-28. 19  Cicero: Vier Reden gegen Catilina. I,1 (1), S. 4 20  Cicero: Vier Reden gegen Catilina. I,2 (5), S. 9. 21  Cicero: Vier Reden gegen Catilina. I,5 (10), S. 13.

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der es an selbsterklärenden Bestimmungsmerkmalen mangelt. Die Identität der eigenen Gruppe bleibt in Abhängigkeit von den Anderen, den durch die Mauer Ausgeschlossenen. Ohne diese Anderen fehlt der eigenen Gemeinschaft ihre differentia specifica. Ohne ein die bleibt das zu bestimmende wir zu vage, findet eine Entsprechung allenfalls in der aristotelischen Konzeption der Nutzenfreundschaft statt, die, wie Aristoteles selbst beschreibt, nur durch ein sehr locker geknüpftes Band zusammengehalten wird.22 Neben dem Ausschluss derer, die der Gemeinschaft nicht angehören sollen, begünstigt die Begründung von Politik über die Architektur die innere Segregation eines Gemeinwesens. Derartige Überlegungen finden sich beispielsweise abermals bei Aristoteles, der im siebten Buch der Politik schreibt, dass „kein niederer Arbeiter, kein Bauer und niemand sonst dergleichen“ die Agora betreten dürfe.23 Beispielhaft können weiter die Geschlechtertürme in italienischen Kommunen angeführt werden. Diese Türme können als gebauter Ausdruck von Misstrauen verstanden werden, das sich aus dem Hass der Nachbarn nährt und vor ihm Schutz sucht.24 Schließlich finden sich auch im Architekturtraktat des Leon Battista Alberti in diesem Sinne zu lesende Sätze. Alberti nennt zwischenliegende Mauern, mittels derer eine Stadt geteilt werden könne, damit die reicheren, vornehmeren Bürger von Geschäften, Handwerkern und Hausierern getrennt blieben.25 Ungewollten Kontakten wurde und wird durch das Ausweichen in kontrollierbarere Umgebungen zu entgehen versucht.26 Das damit verbundene Auseinanderdriften der Lebenswelten lässt den für die Bürgerfreundschaft notwendigen Nutzen als zunehmend wertloser erscheinen, so dass die Bürgerfreundschaft aufgekündigt zu werden droht.27 22  Aristoteles: Nikomachische Ethik. VIII,5, 1157a-b, S. 219-220. 23  Aristoteles: Politik. VII,12, 1331a-b, S. 349. 24  Duby: Die Zeit der Kathedralen. S. 552-554. Tragbar: Vom Geschlechterturm zum Stadthaus. S. 69 und 73-84. 25  Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. V,1, S. 221. Umgesetzt findet sich diese soziale Trennung in Albertis Gestaltung von Pienza (Tönnesmann: Pienza. S. 74-75). 26  Schroer: Grenzen – ihre Bedeutung für Stadt und Architektur. S. 26. Schroer: Räume, Orte, Grenzen. S. 233. Castells: Die zweigeteilte Stadt – Arm und Reich in den Städten Lateinamerikas, der USA und Europas. S. 205. 27  Dagegen hatte sich etwa Oscar Niemeyer ausgesprochen (Niemeyer: Wir müssen die Welt verändern. S. 15-16), weswegen für ihn „der Architekt […] seine Funktion nämlich nur dann wirklich aus[übt], wenn er seinen Beruf bewusst als politische Tat begreift.“ (ebd. S. 15) Im angerissenen Auseinanderdriften der Lebenswelten aber kann auch eine Rückkehr zum Wesenskern der vorgestellten Auffassung von Politik erkannt werden: Sich in Auflösung befindliche oder schwächer werdende Gemeinschaften erzeugen den Bedarf für die Entstehung neuer Gemeinschaftsformen. Geeint werden diese durch die Abgrenzung von einem so empfundenen Raum der Unsicherheit und dem damit verbundenen Versuch

Schluss

345

Anhand des im zweiten Teil dieser Arbeit Gezeigten lässt sich schließlich ein weiteres Argument gegen die Nennung der Metapher vom Architekten als eines optimistischeren Vergleichs als jenen mit dem Arzt anführen. Die Klosterbibliothek als Kerker des Wissens und das darin aufbewahrte Buch als Grabstätte des Denkens, mehr aber noch die Architektur des Hörsaals, die Fokussierung auf die hierarchisch übergeordnete Stellung des Magisters und der damit verbundene Verlust an geistiger Flexibilität waren mit der Architektur verbundene Vorwürfe. Derart verstanden ist die durch das Werk des Architekten bewirkte Versteinerung des Denkens kein Ausdruck einer optimistischen Metapher. Vielmehr lässt sich einwenden, dass der Architekt mit seinem Schaffen, dem Arzt darin nicht unähnlich, eine konservierende Wirkung ausübe. In ihrer Wirkung auf das politische Denken droht Architektur damit ihre progressive, Neues begründende Ausrichtung zu verlieren und zu einer konservativen Geisteshaltung beizutragen.28 Ob die architektonische Metapher demnach optimistischer als die biologische Analogie ist, kann nicht zweifelsfrei festgehalten werden. Noch ungewisser als die Antwort auf die Frage, ob die Metapher nun optimistischer sei als jene des Arztes, ist es, ob sie auch moderner genannt werden kann. Mit dem Begriff modern bezeichnet wird entweder eine zeitlich unbestimmte Bezugnahme auf die Gegenwart, eine ebenso unbestimmte Differenzierung von Altem und Neuem oder auch eine Abgrenzung von Antike und Mittelalter, wobei der Begriff modern sogar weitgehend als Synonym der Neuzeit verstanden wird.29 Modern, im Sinne einer Gleichsetzung des Begriffs mit der Neuzeit ist die Metapher, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, mitnichten. Die Metapher ist eine althergebrachte, lange vor die Zugriffsmöglichkeiten auf den von ihnen beanspruchten Raum durch dessen Einhegung zu reduzieren (Webster/Glasze: Conclusion: dynamic urban order and the rise of residential clubs. S. 217). Der Wunsch nach Sicherheit lässt sich aber nicht allein auf Schutz vor Kriminalität beschränken. Ihm zuzurechnen sind auch das Bedürfnis nach einer geregelten Versorgung oder dem Leben in einer Nachbarschaft, die durch einen vergleichbaren Lebensstil, Werte und ästhetische Vorstellungen verbunden ist (Füller/ Glasze: Gated communities und andere Formen abgegrenzten Wohnens. S. 35-36). 28  Zum Begriff Konservatismus siehe Bendel: Konservatismus. S. 325. Vierhaus: Konservativ, Konservatismus. S. 537-541. Greiffenhagen: Konserverativ, Konservatismus. Sp. 980. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3/3. S. 1. Zu verweisen ist hierbei jedoch darauf, dass es diverse Strömungen innerhalb des Konservatismus gibt, so dass der Konservatismus nicht durchgehend mit einem Beharren auf dem status quo gleichzusetzen ist (ebd. S. 4). 29  Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. S. 96. Weiß: Moderne. S. 395-396. Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. S. 569. Brecht: Modern. Sp. 1404-1405. Piepmeier: Modern, die Moderne. Sp. 54.

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Schluss

der Neuzeit gebräuchliche. Durch die zeitliche Unbestimmtheit des Begriffs modern stößt die Möglichkeit, die Metapher so zu benennen ebenfalls an ihre Grenzen. Bereits im Mittelalter wurde mit der Bezeichnung modern die eigene Epoche von der vorangegangenen abgegrenzt.30 Modern in einem auf Fortschritt rekurrierenden Sinne dergestalt, dass die Unterscheidung von Altem und Neuem hervorgehoben wird, kann die Metapher ebenfalls nur bedingt genannt werden. So genannt werden kann sie nicht, weil sie dem mit Fortschritt verbunden Aufbau von Neuem entgegenstehen kann. Architektur kann eine einmal etablierte Ordnung zementieren.31 Modern in diesem Sinne kann sie hingegen genannt werden, weil durch architektonische Konstruktion eine neue Ordnung überhaupt erst etabliert werden kann. Die Metapher des Architekten räumt dem Menschen somit grundlegende Handlungsmöglichkeiten ein.32 Konfrontiert mit solchen Metaphern, die Teils der Überlieferung aus der Antike und der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Autoritäten wie Aristoteles und Vitruv entstammten, konfrontiert auch mit der biblischen Beschäftigung mit der Baukunst, konfrontiert nicht zuletzt mit den aus der eigenen Erfahrung und Lebenswelt gezogenen Erkenntnissen, begründete sich die Beschäftigung mittelalterlicher Denker mit dem Verhältnis von Politik und Architektur. Eine einheitliche, gar lineare Entwicklung blieb dieser Beschäftigung überwiegend fremd. Die Auseinandersetzung war ein teils sprunghafter, kontingenter Prozess, der durch Gleichzeitigkeiten und die Wiederkehr von vermeintlich Überkommenem geprägt war. Aber, es war ein Fortschreiten. Einmal in die Welt gesetztes Wissen konnte nicht mehr zurückgenommen werden. So kann am Ende dieser Arbeit festgehalten werden, dass in der Architektur ein Ursprung von Politik und politischem Denken zu sehen ist. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

30  Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. S. 97-98. 31  Die Zerstörung von Architektur, das Schleifen der Stadtmauern, der Sturm auf die Bastille oder der Mauerfall, sind demnach symbolhafte Ausdrucksformen eines Herrschaftsverfalls oder auch eines Herrschaftswechsels (Schwarte: Philosophie der Architektur. S. 9-10. Brunner: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. S. 147-148. Drechsel: Mauer. S. 130-132. Gamboni: Bildersturm. S. 148. Wolfrum: Die Mauer. S. 566-568). 32  Siehe Höchli: Zur politischen Sprache Giannottis. S. 115.

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Abb. 1 Andrea Mantegna, Jagdgefolge (Detail), 1465-1474, Camera picta, Palazzo Ducale, Mantua

Abb. 3 Frontispiz zu Frederik de Marselaes Legatus libri duo, 1666, nach einem Entwurf von Peter Paul Rubens

Abb. 2 Andrea Mantegna, Begegnungsszene (Detail), 1465-1474, Camera picta, Palazzo Ducale, Mantua

Abb. 4 Brüder Limbourg, Les très riches heures du Duc de Berry, Der Garten Eden, 1416, Musée Condé, Chantilly, MS. 65, fol. 25v

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Abb. 5 Oberrheinischer Meister, Paradiesgärtlein, 1410/1420, Städel-Museum, Frankfurt

Abb. 7 Ambrogio Lorenzetti, Auswirkungen der guten Regierung auf das Land (Detail), 1338-1340, Palazzo Publico, Siena

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Abb. 6 Jean Fouquet, Errichtung des Tempels, Paris, Bibliothèque nationale de France, fr. 247, fol. 163

Abb. 8 Ambrogio Lorenzetti, Auswirkungen der guten Regierung auf das städtische Leben (Detail), 1338-1340, Palazzo Publico, Siena

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351

Abb. 9 Brüder Limbourg, Les très riches heures du Duc de Berry, Kalenderblatt März, 1412-1416, Musée Condé, Chantilly, MS. 65, fol. 3v

Abb. 10 Brüder Limbourg, Les très riches heures du Duc de Berry, Kalenderblatt Juli, 1412-1416, Musée Condé, Chantilly, MS. 65, fol. 7v

Abb. 11 Brüder Limbourg, Les très riches heures du Duc de Berry, Kalenderblatt Oktober, 1412-1416, Musée Condé, Chantilly, MS. 65, fol. 10v

Abb. 12 Brüder Limbourg, Les très riches heures du Duc de Berry, Kalenderblatt August, 1412-1416, Musée Condé, Chantilly, MS. 65, fol. 8v

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Abb. 13 Joachim von Fiore, Liber figurarum, Tafel XII

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Abb. 14 Kathedrale Notre-Dame de Paris, Tympanon mit dem Weltgericht, mittleres Westportal, nach 1200

Abb. 15 Der Macedonische Berg Athos in Riesen-Gestalt, in: Johann Bernhard Fischer von Erlach: Entwurff einer historischen Architectur, Leipzig 1725

Abb. 16 unbekannter Künstler, 1460-1470, Boethius: Philosophiae Consolatio, Das Rad der Fortuna, Wallace Collection, London

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Abb. 17

Domenico de Michelino, Dante und die drei Reiche, 1465, Museo dell’Opera del Duomo, Florenz

Abb. 18 Ambrogio Lorenzetti, Auswirkungen der guten Regierung auf das Land (Detail), 1338-1340, Palazzo Publico, Siena

Abb. 19 Ambrogio Lorenzetti, Auswirkungen der guten Regierung auf das städtische Leben (Detail), 1338-1340, Palazzo Publico, Siena

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Abb. 20 Ambrogio Lorenzetti, Auswirkungen der guten Regierung auf das städtische Leben (Detail), 1338-1340, Palazzo Publico, Siena

Abb. 22 Abraham Bosse, Frontispiz zu Thomas Hobbes Leviathan, 1651

Abb. 21 Ambrogio Lorenzetti, Allegorie der guten Regierung (Detail), 1338-1340, Palazzo Publico, Siena

Abb. 23 Herr Walther von der Vogelweide, Heidelberger Liederhandschrift, Codex Manesse, Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. Germ. 848, fol. 124r

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Abb. 24 Walther von der Vogelweide, Weingartner Liederhandschrift

Abb. 26 Michael Bosch/Melchior Junius, Actus tres Academiae Reipublicae Argentoratensis, Tabula Militiae Scholasticae, 1578

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Abb. 25 Francesco Petrarca, Zeichnung in Plinius‘ Naturalis historiae, Paris, Bibliothèque nationale de France, ms.lat. 6802, fol. 143 v°

Abb. 27 Gregor Reisch, Margarita Philosophica, Typus Grammaticae, 1503

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Abb. 28 Albrecht Dürer, Melencolia, I, 1514, Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe

Abb. 30 Herr Heinrich von Veldeke, Heidelberger Liederhandschrift, Codex Manesse, Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 30r

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Abb. 29 Ambrogio Lorenzetti, Auswirkungen der guten Regierung auf das städtische Leben (Detail), 1338-1340, Palazzo Publico, Siena

Abb. 31 Heinrich von Veldeke, Weingartner Liederhandschrift

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Abb. 32 Auguste Rodin, Der Denker, 1881-1882, Musée Rodin, Paris

Abb. 34 Unbekannter Meister, Die Verherrlichung des Hl. Thomas von Aquin, 1323, Santa Caterina, Pisa

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Abb. 33 Stefano Ricci, Dante-Kenotaph, 1830, Santa Croce, Florenz

Abb. 35 Benozzo Gozzoli, Triumph des Thomas von Aquin (Detail), 1471, Musée du Louvre, Paris

358

Abb. 36 Filippino Lippi, Triumph des Hl. Thomas von Aquin über die Häretiker (Detail), 1489-1491, Santa Maria sopra Minerva, Rom

Abb. 38 Domenico Ghirlandaio, Hl. Hieronymus, 1480, Ognissanti, Florenz

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Abb. 37 Andrea da Firenze, Triumph des Hl. Thomas von Aquin (Detail), 1366-1367, Santa Maria Novella, Florenz

Abb. 39 Sandro Botticelli, Vision des Hl. Augustinus, 1480, Ognissanti, Florenz

359

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Abb. 40 Albrecht Dürer, Hl. Hieronymus im Gehäus, 1514, Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe

Abb. 42 Justus van Gent, Aristoteles, 1476, Musée du Louvre, Paris (ursprünglich studiolo, Palazzo Ducale, Urbino)

Abb. 41 Tommaso da Modena, Giovanni di Sassonia, 1352, San Niccolò, Treviso

Abb. 43 Michelangelo Buonarroti, Grabmal für Giuliano de‘ Medici, 1524-1531, San Lorenzo, Florenz

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Abb. 44 Michelangelo Buonarroti, Grabmal für Lorenzo de’ Medici, 1524-1531, San Lorenzo, Florenz

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Abb. 45 Hieronymus Bosch, Das Steinschneiden, 1475-1480, Mueso del Prado, Madrid

Abb. 46 Hieronymus Bosch, Die sieben Todsünden (Detail), 1480, Museo del Prado, Madrid

Abb. 47 Der Büchernarr, Holzschnitt in der Baseler Ausgabe von Sebastian Brant, Das Narrenschiff, Basel 1494

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Abb. 48 Pieter Claesz, Vanitas-Stillleben, 1630, Mauritshuis, Den Haag

Abb. 49 Antonio de Pereda, Der Traum des Ritters, 1655, Museo de la Real Academia de San Fernando, Madrid

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Abb. 50 Guiseppe Arcimboldo, Der Bibliothekar, 1566, Skokloster, Stockholm

Abb. 52 Johann David Schubert, Leibnitz wählt zwischen der alten und neuen Philosophie, 1795, Staatsbibliothek zu Berlin

Abb. 51 Rembrandt van Rijn, Der lustlose Student, 1630, Musée des Beaux-Arts, Lille

Abb. 53 Joseph Wright of Derby, Sir Brooke Boothby, 1781, Tate Gallery, London

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Abb. 54 Januarius Zick, Rousseaus Erleuchtungserlebnis, 1770-1771, Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen

Abb. 55 Allan Ramsay, Jean-JacquesRousseau in armenischer Tracht, 1766, National Gallery of Scotland, Edinburgh

Abb. 56 Jan van Eyck, Arnolfini-Hochzeit (Detail), 1434, National Gallery, London

Abb. 57 Pedro Berruguete, Federico da Montefeltro und sein Sohn, 1480-1481, Galleria Nazionale delle Marche, Urbino

Abbildungsnachweis Abb. 1 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Camera_picta,_l%27incontro_02.jpg Abb. 2 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Andrea_Mantegna_-_The_Meeting_-_WGA14010.jpg Abb. 3 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://en.wikipedia.org/wiki/ Frederick_de_ Marselaer#/media/File:Titlepage_Legatus_1666.jpg Abb. 4 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category:Tr%C3%A8s_Riches_Heures_du_Duc_de_Berry?uselang=de#/media/ File:Folio_25v_-_The _Garden_of_Eden.jpg Abb. 5 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/ Oberrheinischer_Meister#/media/Datei:Meister_des_Frankfurter_Paradiesg%C3% A4rtleins_001.jpg Lizenz: GNU Free Documentation License Abb. 6 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei: Construction_du_Temple_de_J%C3%A9rusalem.jpg Abb. 7 und 18 wurden am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/ Ambrogio_Lorenzetti#/media/Datei:Ambrogio_Lorenzetti_-_Effects_of_Good_ Government_in_ the_countryside_-_Google_Art_Project.jpg Abb. 8, 19, 20 und 29 wurden am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia. org/wiki/Ambrogio_Lorenzetti#/media/Datei:Ambrogio_Lorenzetti_-_Effects_of_Good_ Government_in_ the_city_-_Google_Art_Project.jpg Abb. 9 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Les_Tr% C3%A8s_Riches_Heures_du_duc_de_Berry_mars.jpg Abb. 10 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Les_ Tr%C3%A8s_Riches_Heures_du_duc_de_Berry_juillet.jpg Abb. 11 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Les_Tr%C3 %A8s_Riches_Heures_du_duc_de_Berry_octobre.jpg

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Abbildungsnachweis

Abb. 12 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Les_Tr%C3 %A8s_Riches_Heures_du_duc_de_Berry_aout.jpg Abb. 13 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category:Liber_Figurarum?uselang=de#/media/File:Liber_Figurarum_Libro_de_las_ Figuras_Tabla_XII_C%C3%B3dice_Reggiano(s.XIII)_Joaquin_de_Fiore(1135-1202).jpg Abb. 14 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Pary%C5%BC_notre-dame_portal.JPG Fotograph: Albertus teolog Abb. 15 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ fischer1725/ 0045/image Abb. 16 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category:Wheel_of_Fortune_in_art?uselang=de#/media/File:15th-century_painters_-_ Frontispiece_-_WGA15903.jpg Abb. 17 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Dante_Domenico_di_Michelino_Duomo_Florence.jpg Abb. 21 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Ambrogio_ Lorenzetti#/ media/Datei:Ambrogio_Lorenzetti_-_Allegory_of_Good_Government_-_ Google_Art_Project.jpg Abb. 22 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Leviathan_ (Thomas _Hobbes)#/media/Datei:Leviathan_by_Thomas_Hobbes.jpg Abb. 23 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ %20Category: Walther_von_der_Vogelweide?uselang=de#mediaviewer/File:Codex_ Manesse_Walther_von_der_Vogelweide.jpg Abb. 24 wurde am 30.8.2019 entnommen: http://digital.wlb-stuttgart.de/sammlungen/ sammlungsliste/werksansicht/?no_cache=1&tx_dlf%5Bid%5D=3919&tx_ dlf%5Bpage%5D=147&tx_dlf%5Bdouble%5D=0&cHash=44110f2574578e1d7e121c3 3f3965990 Abb. 25 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Books_by_Francesco_Petrarca#/media/File:04_Fontaine_de_Vaucluse_ Dessin_de_P%C3%A9trarque_(manuscrit_de_Pline)_BN_fonds_latin_n%C2%B0_ 6802.jpg

Abbildungsnachweis

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Abb. 26 wurde am 30.8.2019 entnommen: http://daten.digitale-sammlungen.de/ bsb00032121/ image_9 Abb. 27 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Gregor_Reisch_-_Margarita_philosophica_-_4th_ed._Basel_1517_-_p._VI_-_Typus_ grammaticae_-_500ppi.jpg Abb. 28 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_ D%C3%BCrer#/ media/Datei:D%C3%BCrer_Melancholia_I.jpg Abb. 30 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_ von_Veldeke# mediaviewer/Datei:Codex_Manesse_Heinrich_von_Veldeke.jpg Abb. 31 wurde am 30.8.2019 entnommen: http://digital.wlb-stuttgart.de/sammlungen/ sammlungsliste/werksansicht/?no_cache=1&tx_dlf%5Bid%5D=3919&tx_ dlf%5Bpage%5D=59&tx_dlf%5Bdouble%5D=0&cHash=265d6c2ac9be5e82eb38b189c ebabd2c Abb. 32 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Le_Penseur_in_the_Jardin_du_Mus%C3%A9e_Rodin,_Paris_March_2014.jpg Fotograph: Thibsweb Lizenz: GNU Free Documentation License Abb. 33 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Dante_Alighieri?uselang=de#/media/File:Santa_Croce_Alighieri_cenotaph.jpg Fotograph: Wknight94 Lizenz: CC BY-SA 3.0 Abb. 34 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Apotheosis_of_Saint_Thomas_Aquinas_by_Lippo_Memmi_and_Francesco_ Traini?uselang=de#/media/File:Lippo_Memmi_-_Triumph_of_St_Thomas_ Aquinas_-_WGA15020.jpg Abb. 35 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Benozzo_Gozzoli_004.jpg#/media/Datei:Benozzo_Gozzoli_-_Triumph_of_St_ Thomas_Aquinas_-_WGA10334.jpg Abb. 36 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Triumph_of_St_Thomas_Aquinas_over_the_Heretics_by_Filippino_Lippi? uselang=de#/media/File:Filippino_Lippi,_Carafa_Chapel,_Triumph_of_St_Thomas_ Aquinas_over_the_Heretics_02.jpg

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Abb. 37 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Cappellone_degli_Spagnoli_-_Triumph_of_St._Thomas_Aquinas?uselang= de#/media/ File:Andrea_di_Bonaiuto._Santa_Maria_Novella_1366-7_fresco_0001.jpg Abb. 38 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Saint_Jerome_by_Ghirlandaio?uselang=de#/media/File:Domenico_ghirlan daio,_san_girolamo_01.jpg Abb. 39 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Ognissanti%27s_Saint_Augustine_(Botticelli)?uselang=de#/media/ File:Sandro_Botticelli_050.jpg Abb. 40 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_ D%C3%BCrer#/media/Datei:D%C3%BCrer-Hieronymus-im-Geh%C3%A4us.jpg Abb. 41 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/ wiki/Category: Sala_del_Capitolo_(Seminario_di_Treviso)?uselang=de#/media/File:06_ Giovanni_di_Sassonia.jpg Fotograph: Risorto Celebrano Lizenz: CC BY-SA 3.0 Abb. 42 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Aristotle_-_Pedro_Berruguete_and_Justus_van_Gent_-_Louvre_MI_656?use lang=de#/media/File: Gent,_Justus_van_-_Aristotle_-_c._1476.jpg Abb. 43 und 44 Fotographien des Autors Abb. 45 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Cutting_the_Stone_(Bosch).jpg Abb. 46 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Jheronimus_Bosch_Table_of_the_Mortal_Sins_(Accidia).jpg Abb. 47 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Geyler. Narrenschyff.B%C3%BCchernarr.jpg Abb. 48 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Paintings_by_Pieter_Claesz.?uselang=de#/media/File:Pieter_Claesz_002.jpg Abb. 49 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category:Antonio_de_Pereda_y_Salgado?uselang=de#/media/File:Antonio_de_ Pereda_-_El_sue% C3%B1o_del_ caballero_-_Google_Art_Project.jpg

Abbildungsnachweis

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Abb. 50 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Arcimboldo_Librarian_Stokholm.jpg Abb. 51 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Pieter_ Codde_-_Young_Scholar_in_His_Study_-_Melancholy_-_WGA05115.jpg Abb. 52 Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Signatur: Pb 1591-2 Abb. 53 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Sir_ Brooke_Boothby_Joseph_Wright.jpg Abb. 54 Bestand des Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen Abb. 55 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category: Portrait_paintings_by_Allan_Ramsay?uselang=de#/media/File:Allan_ Ramsay_-_Jean-Jacques_ Rousseau_(1712_-_1778)_-_Google_Art_Project.jpg Abb. 56 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/ArnolfiniHochzeit#/ media/Datei:Van_Eyck_-_Arnolfini_Portrait.jpg Abb. 57 wurde am 30.8.2019 entnommen: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Pedro_Berruguete_-_Prince_Federico_da_Montefeltro_and_his_Son_-_WGA 02085.jpg

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