Politisches Denken. Jahrbuch 2017 [1 ed.] 9783428555642, 9783428155644

Der 27. Band des Jahrbuchs Politisches Denken versammelt Beiträge, die erneut nachhaltig belegen, dass sich das politisc

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German Pages 260 Year 2018

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Politisches Denken. Jahrbuch 2017 [1 ed.]
 9783428555642, 9783428155644

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JAHRBUCH

POLITISCHES DENKEN 2017

Band 27

Herausgegeben von V. Gerhardt, C. Kauffmann, H.-C. Kraus, F.-L. Kroll, P. Nitschke, H. Ottmann, M. P. Thompson Heinz-Joachim Müllenbrock: Der Cockney als Welterretter: H. G. Wells’ politische Mission  Hans-Ludwig Buchholz: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“  Martin Beckstein: Eigentum verpflichtet  Samuel Garrett Zeitlin: Propaganda und Kritik  Igor P. Smirnov: Politische Romantik im Vergleich  Hasso Hofmann: Nietzsche-Zarathustras Gleichnis von den „letzten Menschen“  Hauke Behrendt: Unbestimmtheit – Eine Kritik an Habermas’ Prozeduralismus  Richard Saage: „Beyond Therapy“  Giuseppe Duso: Wie lässt sich eine europäische Verfassung begreifen?  Rüdiger Voigt: „Staatsverständnisse“  Reinhard Mehring: „Vergeben Sie ihm bitte, mein lieber Herr Professor Jaspers“  Hans-Christof Kraus: Neues von und über Max Weber  Thomas Meyer: Zu neuerer Literatur über Leo Strauss

Duncker & Humblot

JAHRBUCH POLITISCHES DENKEN 2017

Band 27

In Verbindung mit dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens als Geschäftsführenden Herausgebern: Prof. Dr. Clemens Kauffmann Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll Prof. Dr. Peter Nitschke

Redaktion: Prof. Dr. Clemens Kauffmann Dr. Eva Odzuck Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Politische Wissenschaft Kochstraße 4/21, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected]

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher † (Frankfurt), Wilhelm Hennis † (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard † (Gießen), Kenneth Minogue (London), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Das „Jahrbuch Politisches Denken“ (JPD) erscheint seit 1991 in Zusammenarbeit mit der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ (DGEPD). Den Zielen der Gesellschaft entsprechend fördert das Jahrbuch die fächerübergreifende, wissenschaftliche Forschung, die das politische Denken international und in seiner ganzen Breite zum Gegenstand hat, sowie den Austausch zwischen politischem Denken und praktischer Politik. Zur Publikation eingereichte Texte durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Typoskripte sind anonymisiert und in zweifacher Ausfertigung als Ausdruck sowie in elektronischer Form (in einem üblichen Datei-Format) bei der Redaktion einzureichen. Hinweise zur Formatierung sind zugänglich unter www.dgepd.de. Verlage senden Rezensionsexemplare ihrer Publikationen bitte an die Redaktion. Für unverlangt bei der Redaktion eingereichte Exemplare bestehen keine Besprechungszusage und kein Anspruch auf Rücksendung.

Jahrbuch Politisches Denken 2017 Band 27 Herausgegeben von Volker Gerhardt, Clemens Kauffmann, Hans-Christof Kraus, Frank-Lothar Kroll, Peter Nitschke, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH Printed in Germany ISBN 978-3-428-15564-4 (Print) ISBN 978-3-428-55564-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85564-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Editorial  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I.  Aufsätze Eigentum verpflichtet: Joseph von Radowitz und die intellektuelle Vorbereitung des Wohlfahrtsstaats Martin Beckstein  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Unbestimmtheit – Eine Kritik an Habermas’ Prozeduralismus Hauke Behrendt  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 „Uns kommt nur noch die Komödie bei“. Friedrich Dürrenmatts „Dramaturgisches Denken“ als Methode der Politischen Theorie Hans-Ludwig Buchholz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Der Cockney als Welterretter: H. G. Wells’ politische Mission Heinz-Joachim Müllenbrock  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 „Beyond Therapy“. Anmerkungen zur technischen Aufrüstung des Menschen Richard Saage  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Propaganda und Kritik: Eine Einführung in „Land und Meer“ Samuel Garrett Zeitlin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Politische Romantik im Vergleich. Carl Schmitt und die Romantikrezeption in Russland Igor P. Smirnov  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Wie lässt sich eine europäische Verfassung begreifen? Giuseppe Duso  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Nietzsche-Zarathustras Gleichnis von den „letzten Menschen“ Hasso Hofmann  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

II.  Gastbeitrag „Staatsverständnisse“: Konzept – Verlauf – Ausblick Rüdiger Voigt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

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Inhaltsverzeichnis III.  Rezensionsessays

Neues von und über Max Weber Hans-Christof Kraus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 „Vergeben Sie ihm bitte, mein lieber Herr Professor Jaspers“. Heidegger-Schüler in der Korrespondenz mit Karl Jaspers Reinhard Mehring  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Zu neuerer Literatur über Leo Strauss Thomas Meyer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

IV.  Rezensionen Quentin Skinner: Thomas Hobbes und die Person des Staates. Aus dem Englischen übersetzt v. Christian Neumeier. Duncker & Humblot (Carl-­Schmitt-Vorlesungen, Bd. 2), Berlin 2017, 67 S. Peter Nitschke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Jan Christoph Elfert: Konzeptionen eines „dritten Reiches“: Staat und Wirtschaft im jungkonservativen Denken 1918 – 1933. Duncker & Humblot, Berlin 2018, 438 S. Frank-Lothar Kroll  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Thomas Arne Winter: Traditionstheorie. Eine philosophische Grundlegung. Mohr Siebeck (Philosophische Untersuchungen, 42), Tübingen 2017, 327 S. Hans-Christof Kraus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Martin Schwarz/Karl-Heinz Breier/Peter Nitschke: Grundbegriffe der Politik. 33 zentrale Politikbegriffe zum Einstieg. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Nomos, Baden-Baden 2017, 246 S. Michael Holldorf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Autorenverzeichnis  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Editorial Editorial

Der 27. Band des Jahrbuchs Politisches Denken versammelt Beiträge, die erneut nachhaltig belegen, daß sich das politische Denken in der Breite seiner Artikulationen nur dem interdisziplinär geschulten Verständnis und der epochen- und fächerübergreifenden Forschung erschließt. Ein Blick auf die Quellen, mit denen sich die Autoren auseinandersetzen und zu denen wie selbstverständlich auch die Belletristik gehört, macht die Spannweite bereits deutlich – auch hinsichtlich der methodischen Konsequenzen. Martin Beckstein setzt sich mit dem wenig gelesenen Autor Joseph von Radowitz auseinander und argumentiert für die These, daß dieser in seinem exoterisch-esoterischen Dialog „Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche“ nicht etwa einen, sondern eine Kombination verschiedener Protagonisten benutzt, um seine frühe sozialstaatliche Botschaft zu kommunizieren. Hauke Behrendt entwickelt ein „Unbestimmtheits“-Argument, das eine systematische Kritik an Jürgen Habermas’ Prozeduralismus impliziert. Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Literatur stellt Hans-Ludwig Buchholz an, der den methodologischen Überlegungen zum Umgang mit literarischen Quellen eine Analyse von Friedrich Dürrenmatts „dramaturgischem Denken“ folgen läßt. Heinz-Joachim Müllenbrock setzt erstmals H. G. Wells’ umfassendes Œuvre in einen dezidiert politisch-sozialen Deutungszusammenhang und gelangt zu einer klaren Charakterisierung von Wells’ „politischer Mission“. Die utopische Dimension politischen Denkens, die sich darin zeigt, kehrt in anderer Gestalt in Richard Saages Analyse verschiedener US-amerikanischer, biopolitischer – um nicht zu sagen eugenischer – Visionen wieder, welche die Reichweite des biotechnologischen Ausgriffs „Beyond Therapy“ ausloten. In ein besonderes Werk politischer Literatur, Carl Schmitts geopolitischen Text „Land und Meer“, führt Samuel G. Zeitlin ein, dessen Einleitung zur englischen Übersetzung von ­Schmitts Text hier auf Deutsch erscheint. Igor P. Smirnov vergleicht die Wahrnehmung der politischen Romantik durch Carl Schmitt mit der russischen Rezeption und kommt zu dem Ergebnis, daß sich beide – ungeachtet der bleibenden Differenzen – komplementär zueinander verhielten. Darin kommt eine europäische Dimension politischen Denkens zum Tragen, die auch für Giuseppe Dusos Frage „Wie läßt sich eine europäische Verfassung begreifen?“ von Belang sein dürfte. Er entwickelt zu diesem Zweck neue Kategorien, um das Konzept der Verfassung anders zu begreifen als es in den vergangenen 200 Jahren üblich war. Hasso Hofmanns Überlegungen zu „Nietzsche-Zarathustras Gleichnis von den ‚letzten Men-

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Editorial

schen‘“ führen ebenfalls den Blick aus engstirnigen Rezeptionsschemata hinaus zu Nietzsches „gutem Europäerthum“. In einem Gastbeitrag erläutert Rüdiger Voigt aus Anlaß des Erscheinens des 100. Bandes der von ihm verantworteten Reihe „Staatsverständnisse“ deren Konzept, den Verlauf der Editionstätigkeit und er gibt einen Ausblick darauf, welche weiteren Vorhaben die Erforschung der wechselseitigen Durchdringung von politischem Denken und konkretem, politikleitenden Staatsverständnis bereichern werden. Abgerundet wird der Band durch drei Rezensionsessays, in denen neue Bände der Max Weber-Gesamtausgabe (von Hans-Christof Kraus), die Edition von Karl Jaspers’ Korrespondenz mit Schülern von Martin Heidegger (von Reinhard Mehring) und neuere Literatur über Leo Strauss (von Thomas Meyer) besprochen werden. Hinzu kommen Besprechungen aktueller Publikationen über Thomas Hobbes’ Staatslehre, zur philosophischen Traditionstheorie, zum jungkonservativen Denken in der Weimarer Republik und zur Deutung politischer Grundbegriffe. Die Herausgeber danken Dr. Eva Odzuck für das besondere Engagement bei der Redaktion des Bandes. Erlangen, im Herbst 2018

Clemens Kauffmann

I.  Aufsätze

Eigentum verpflichtet: Joseph von Radowitz und die intellektuelle Vorbereitung des Wohlfahrtsstaats Eigentum verpflichtet

Von Martin Beckstein Eigentum verpflichtet: Joseph von Radowitz und die intellektuelle Vorbereitung des Wohlfahrtsstaats Martin Beckstein

Abstract In a post-feudal order, Joseph von Radowitz argues in “A Contemporary Conversation on Church and State” (1846), the noblesse oblige principle can only be preserved if translated into a more general property obliges principle. Because of this argument, scholars rank Radowitz’s text among the documents that intellectually pioneered the social welfare state. Nevertheless, “A Contemporary Conversation on Church and State” has not yet been analyzed in detail, which however is indispensable for its interpretation given the playful exoteric/esoteric form of the text. The present article fills this lacuna and shows that Radowitz aimed at forging an alliance across all classes to prevent institutional decay in the face of nascent industrialization rather than at beguiling the working class to keep the aspiring bourgeoisie in check.

I. Einleitung Dem preußischen Staatsmann Joseph Maria von Radowitz blieben politische Triumphe zumeist verwehrt. Immer wieder scheiterte er an Widerständen innerhalb der preußischen Führungsriege, der Unentschlossenheit des Königs oder anderen widrigen Umständen. Das kam nicht von ungefähr. Ungarischstämmig, in jungen Jahren „auf verstandesmäßig-wissenschaftlichem Wege“1 zum Katholizismus konvertiert und nicht nur im revolutionierten Frankreich sozialisiert, sondern auch für die Grande Armée gegen Preußen im Einsatz und von Napoleon sechszehnjährig in die Ehrenlegion aufgenommen, musste er in seiner neuen Heimat als Fremdkörper wirken. Dass ihn der wankelmütige und etwas schwärmerische Friedrich Wilhelm IV. trotzdem als seinen engsten Freund und Berater ins Herz schloss, tat das Seine dazu. Als Radowitz’ letztes Projekt, die Erfurter Union 1849/50, scheiterte und seine politische Karriere ein jähes Ende fand, jubilierten die politischen Kader Preußens. Der aufstrebende Bismarck ritt nach eigener Aussage „vor Freude auf [s]einem Stuhl rund um den Tisch.“2 1 

Meinecke, 1913: 4. Bismarck in einem Brief an Hermann Wagner vom 7. 11. 1850. Abgedruckt in: Kohl, 1897: 57. 2 

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Radowitz’ realpolitisches Schicksal spiegelte sich über weite Strecken des 20. Jahrhunderts in der Marginalisierung seines politischen Denkens wider. In maßgeblichen Überblickswerken zur Geschichte des politischen Denkens und dem deutschen Konservatismus wird er nicht erwähnt. Selbst Jerry Z. Muller, der prominent auf die Vernachlässigung der konservativen Kritik des Frühkapitalismus und deren ungebrochene Relevanz hingewiesen hat, scheint ihn übersehen zu haben.3 Warum Radowitz auch als politischem Denker gesteigerte Beachtung schenken? Er brach eine Lanze für die ständische Monarchie als Intellektuelle in Europa längst bei der modernen Demokratie und den Menschenrechten angekommen waren; ihn überzeugten religiöse Legitimationen staatlicher Souveränität mehr als säkulare; seine politischen Reflexionen scheinen eher von den praktischen Erfahrungen eines Staatsmannes geprägt, denn der analytischen Schulung eines Philosophen; und seine Schriften umfassen Dialoge, Fragmente, einen mathematischen Fachbeitrag sowie einen dreihundert Seiten starken Kommentar über die Charakterattribute christlicher Heiliger – aber kein systematisch entwickeltes Werk politischer Theorie. Und dennoch, seit Mitte der 1990er Jahre wird Radowitz gesteigertes Interesse entgegengebracht. Hauptgrund dafür ist, dass ein Stück politischer Literatur von Radowitz – der Dialog „Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche“ (1846)4 – als wichtiges Dokument der intellektuellen Vorbereitung des Wohlfahrtsstaats in Deutschland erkannt worden ist. Radowitz habe darin, so u. a. David Barclay, Herrmann Beck und Gunther Heinickel, als einer der ersten die soziale Frage über den Staat lösen wollen. In der Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen habe Radowitz eine Möglichkeit für einen strategischen Schulterschluss des Adels mit der Arbeiterschaft gegen das aufstrebende Bürgertum gesehen.5 Eine detaillierte Analyse der in der Tat erstaunlichen „Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche“ zur Überprüfung dieser Deutung wurde gleichwohl noch nicht vorgelegt. Der vorliegende Aufsatz will ebendies nachholen. Dafür werden in methodischer Hinsicht biographische, esoterische, kontextualistische und werkimmanente Interpretationsstrategien miteinander kombiniert. Denn Radowitz’ Dialog ist, wie sich erweist, ein ebenso sorgsam durchkomponiertes wie tückisches Werk politiktheoretischer Reflexion. Sein inhaltlicher Bedeutungsgehalt erschließt sich nicht allein über die verbalisierten Aussagen und deren zeitgenössischen Referenzrahmen, sondern auch darüber, welchem Charakter des Dialogs diese Aussagen jeweils in den Mund gelegt wer3 Greiffenhagen, 1986; Mannheim, 1984; Muller, 1990, 1997; Ottmann, 2001. Eine Ausnahme stellt Kondylis, 1986, dar. 4  Ich verwende die zweite verbesserte und erweiterte Auflage, die wenige Wochen nach der Erstveröffentlichung, ebenfalls 1846, erschien. In der ersten Auflage ist das wichtige Kapitel zur Adelsreform nicht enthalten. 5  Siehe v. a. Barclay, 1995; Beck, 1995a; Heinickel, 2014.

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den, welche Charaktere überhaupt für den Autor sprechen sollen sowie welche früher geäußerten Ansichten Radowitz nun bekräftigt oder aber verwirft. Auch wenn die vorgelegte Interpretation mindestens ebenso viele Fragen aufwirft wie beantwortet, so ermöglicht sie uns erstens, das Argument der Radowitzschen Rechtfertigung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen genauer zu erfassen. Zweitens zwingt sie uns, die vorherrschende Deutung von Radowitz’ zugrundeliegender Motivation zu revidieren. Drittens legt sie nahe, dass die „Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche“ weniger eine spezifische politische Position als mehr eine bestimmte Haltung gegenüber politischen Positionen zu popularisieren erhoffen. Der folgende Abschnitt (II.) nimmt eine Bestimmung des eigenwilligen Konservatismus der Hauptfigur des Texts („Waldheim“) sowie der politischen Positionen seiner Dialogpartner vor. Im dritten Schritt (III.) wird der Fokus auf das fünfzehnte Kapitel gerichtet, in dem die Hauptfigur Waldheim wohlfahrtsstaatliche Reformen einklagt. Daraufhin (IV.) wird das Verhältnis von Radowitz zu den von ihm geschaffenen Charakteren diskutiert, da fraglich ist, ob er sich wirklich mit der Hauptfigur Waldheim identifiziert, ehe (V.) eine zusammenfassende Schlussbetrachtung erfolgt. II. Waldheims eigenwilliger Konservatismus In den „Gesprächen aus der Gegenwart über Staat und Kirche“ diskutieren fünf fiktive Charaktere über die gesellschaftliche Situation in Preußen, politische Ordnungsmodelle, das Verhältnis von Kirche und Staat sowie die Verfasstheit und Legitimation des Adels. Der aristokratische Pietist Arneburg verteidigt das Gottesgnadentum und die alte ständische Ordnung. Er empört sich im Grunde über Veränderungsvorhaben jedweder Art. In den Ansichten seiner Gesprächspartner wittert er einen „stillen und offenen Vernichtungskrieg gegen die königliche Gewalt, gegen die angestammten Rechte der deutschen Fürstenhäuser, gegen die ganze Staatsordnung der christlichen Welt“6 und vermag in den Gegenentwürfen zum Gottesgnadentum nur Varianten „menschlicher Willkür“7 zu erkennen. Der Industrielle Crusius votiert in liberal-individualistischer Manier für eine Emanzipation des Bürgertums. An der Monarchie will er nicht rütteln, er erachtet aber Machtbeschränkungen des Königs als notwendig. Durch die politische Miteinbeziehung der Bürger (d. h. „die Gebildeten, […] die Besitzenden“8) sollen ihre individuellen Freiheiten, insbesondere das Recht auf Privateigentum, vor staatlichen Übergriffen geschützt werden. Der heißspornige Linkshegelianer Detlev fordert den demokratischen Sozialismus. Gegen Arneburg und Crusius 6 

Radowitz, 1846: 359. Radowitz, 1846: 250. 8  Radowitz, 1846: 24. 7 

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wendet er ein, dass einer Regierung weder die christliche Offenbarungslehre noch die Inklusion der Bessergestellten zur Legitimation verhilft. Eine gerechte Ordnung basiere auf individueller Selbstbestimmung und die werde nur eingelöst, wenn auch einfache Arbeiter wählen gehen dürften. Von einem gewaltsamen Umsturz hält Detlev zwar nichts, dennoch fordert er „den Untergang des Bestehenden, aber wohlverstanden, des Bestehenden überhaupt“.9 Ministerialrat Oeder dagegen will die Regierungsarbeit durch niemanden – weder Arbeiter, noch Bürgerliche, noch den Adel – gestört wissen. Am besten würden Sicherheit und Wohlfahrt durch einen staatlichen Verwaltungsapparat mit hochspezialisierten Beamten gefördert. Über den Hintergrund des fünften im Bunde, den besonnenen Waldheim, erfährt man wenig, wie er auch politisch schwieriger einzuordnen ist. Er bringt für seine Position die Bezeichnungen „konservativ“ und „liberal“ ins Spiel, will beides aber nicht „nach dem angenommenen Sprachgebrauche“10 verstanden wissen.11 Bezüglich der Dialogfunktion ähnelt Waldheim dem Sokrates in den platonischen Dialogen. Waldheim tritt den Diskussionen, die in sechzehn Unterredungen jeweils zweier oder dreier Charaktere unterteilt sind, stets etwas später hinzu, um jedem in Einzelpunkten, nicht aber im Gesamtbild, Recht zu geben. Mit Arneburg verbindet ihn grundsätzlich das christliche Weltbild und die Hochschätzung des mittelalterlichen Ständewesens, aber während jener in Erinnerungen an eine heile Welt zu schwelgen neigt, ist Waldheims Blick fest auf die Herausforderungen der Gegenwart gerichtet. Mit Crusius verbindet ihn der Anspruch, Rechtssicherheit und das Privateigentum zu gewährleisten. Doch er pflichtet Detlevs Kritik bei, die Liberalen lösten das Prinzip der individuellen Freiheit nur nach oben, nicht aber nach unten ein. Konsequenter als die von ihnen anvisierte konstitutionelle Monarchie sei der von Detlev geforderte demokratische Sozialismus durchaus. Auch will Waldheim, ebenso wie Arneburg, seine Augen nicht vor dem Elend der Arbeiter verschließen und teilt damit weitgehend Detlevs Problemdiagnose, wenngleich ihm eine andere Lösung vorschwebt. Nur mit dem Technokraten Oeder, der über seine Beamtenherrschaft Politik nicht nur aus der Sphäre der Öffentlichkeit, sondern des Staates überhaupt zu verbannen wünscht, ist nicht recht auf einen grünen Zweig zu kommen. Allen aber bemüht sich Waldheim nachzuweisen, dass ihre Ordnungsmodelle stets einen wie auch immer definier-

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Radowitz, 1846: 74. Radowitz, 1846: 390 – 391. 11  Man darf annehmen, dass Waldheim dadurch in erster Linie von Arnheim, dem selbsterklärten Konservativen, sowie Crusius, dem selbsterklärten Liberalen, abgegrenzt werden soll. Preußische Konservative aus Radowitz’ (früherem) Umfeld bezeichneten sich beizeiten in Abgrenzung zum bürgerlich-individualistischen Liberalismus als „altliberal“. Vgl. Kondylis, 1986. 10 

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ten Staatszweck über die Rechte des Einzelnen stellen und sich damit als Spielarten „despotischer“, beziehungsweise „absolutistischer“ Herrschaft erwiesen. Aufgrund dieser generellen Kritik an den politischen Ansichten seiner Diskussionspartner deutet sich an, dass der geistige Pate des eigenwillig liberal-konservativen Waldheims nicht etwa Edmund Burke oder Justus Möser, sondern (der in den „Gesprächen“ mehrfach zitierte) Montlosier ist. Jener war zwar, wie andere Konservative auch, ein Kritiker der Französischen Revolution. Doch kam er in seinem Geschichtswerk über das vorrevolutionäre Frankreich zu dem für seine konservativen Mitstreiter durchaus überraschenden Schluss, 1789 markiere keineswegs das Datum des politischen Sündenfalls. Mehr als hundert Jahre früher, so Montlosier, seien die europäischen Völker bereits auf die schiefe Bahn geraten, nämlich 1661, dem Jahr also, in dem der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. effektiv die Staatsangelegenheiten übernahm und sein absolutistisches Kabinettsystem aufzubauen begann. Dass Ludwig XIV. eine „révolution totale“ durchgeführt habe, mag eine Übertreibung Montlosiers sein, zumal viele Schritte zur Zentralisation Frankreichs, der Entmachtung des Adels und der Errichtung eines repressiven Verwaltungsregimes bereits unter Richelieu seit 1629 unternommen worden waren. Der eigentliche Punkt Montlosiers war aber, dass die Ideen von 1789 zwar auf einen Bruch mit den überkommenen Gesellschaftsstrukturen abzielten, in gewisser Hinsicht aber auch auf eine Konsolidierung des Absolutismus. Denn eine Dezentralisierung, Gewaltenteilung und Beschränkung der legislativen und exekutiven Kompetenzen der Regierung – das also, worauf es laut Montlosier in einem gerechten Staat vor allem anderen ankommt – wollten die Revolutio­ näre gerade nicht. Der Französische Revolutionär, schloss Montlosier, ist ein unorigineller Nachahmungstäter: „a moins fait une révolution, qu’il n’a manifesté des révolutions déjà faites“.12 Waldheim teilt diese Diagnose mit Montlosier. Das von ihm befürwortete politische Ordnungsmodell versteht sich dementsprechend nicht als Negierung von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, der Menschenrechte und Aufklärung oder Demokratie, sondern als „Gegensatz zu dem Absolutismus in allen seinen Gestalten“.13 Waldheim schlägt vor, dieses Modell positiv als „christlich-germanische Monarchie“ und „ständischen Patrimonialstaat“14 zu fassen. Jedenfalls die e­rste Bezeichnung ist hochgradig irreführend. Christlich will das Gebilde nämlich nur insofern sein, als sich die staatliche Gesetzgebung am göttlichen Gerechtigkeitsgebot „Jedem das Seinige“ orientieren soll. Waldheim räumt jedoch sogleich ein, dass keine Gewissheit über die konkrete Bedeutung des Prinzips in der gesellschaftlichen Praxis zu erlangen sei, weswegen sich die Rechtssetzung 12 

Montlosier, 1814: II, 135, 23. Vgl. Kondylis, 1986: 213. Radowitz, 1846: 255. 14  Radowitz, 1846: 255, 238. 13 

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darauf beschränken müsse, historisch vermittelte Sitten und Gewohnheiten zu institutio­nalisieren und untereinander zu harmonisieren.15 Einer theokratischen Konkretisierung des göttlichen Gerechtigkeitsgebots ist damit jegliche Grundlage entzogen. Bestenfalls kommt dem Element der Christlichkeit eine präambelartige Rolle zu. Das zweite Charakteristikum, das Waldheim ebenso wenig hilfreich als „germanische Nationalität“16 fasst, verweist auf nichts anderes als die Garantie von individuellen Freiheitsrechten. Das Privateigentum, die Presse- und Assoziationsfreiheit hebt Waldheim dabei als „nothwendige Früchte eines wirklichen Rechtsbodens“17 hervor. Weder der Existenz von Ständen noch der monarchischen Regierungsform räumt Waldheim dabei einen konstitutiven Status ein. Beides schätzt er vielmehr unter den gegebenen Bedingungen als vielversprechende Mittel ein, um die (tatsächlich konstitutiven) Prinzipien der Subsidiarität und Dezentralisierung umzusetzen. Angesichts des anti-absolutistischen Anspruchs und wegen der Ausrichtung der Rechtssetzung an lokalen Traditionen nähert sich Waldheims „christlich-germanische Monarchie“ beziehungsweise „ständischer Patrimonialstaat“ stark an das an, was Michael Oakeshott „civil association“ nennt und idealtypisch von einer „enterprise association“ abgrenzt.18 Eine solche Ordnung zielt in der Gesetzgebung darauf ab, es den Bürgern zu ermöglichen, ihre je eigenen Zwecke zu verfolgen, anstatt sie auf ein zentral definiertes, kollektives Ziel (wie z. B. des größten Glücks der größten Zahl oder sozialer Gerechtigkeit) zu verpflichten. Wie Oakeshott ist es Waldheim deshalb im Grunde auch einerlei, ob die Staatsform letztlich monarchische, aristokratische oder demokratische Züge annimmt. Schließlich mache es ja keinen großen Unterschied, welche Art von Regierung es unterlässt, die individuelle Lebensführung in die Verfolgung eines Staatszwecks einzuspannen.19 Die Abwesenheit eines kollektiven Ziels staatlicher Gouvernanz impliziert dabei für Waldheim ebenso wenig wie in Oakeshotts Modell einen libertären Minimalstaat.20 Vielmehr müsse eine Regierung (damit die Einzelnen ihre individuellen Zwecke tatsächlich verfolgen können) der Aufgabe nachkom15 

Radowitz, 1846: 249 – 250. Radowitz, 1846: 257. 17  Radowitz, 1846: 147. 18  Oakeshott, 1991: Kap. II. 19  Vgl. z. B. Radowitz, 1846: 230 – 231: „Wo die Unterthanen, oder nach Ihrem Sprachgebrauche, die Staatsbürger, solcher Eingriffe in ihre rechtliche Existenz ausgesetzt sind, da ist ihr Zustand ein unfreier. Es ist hierbei völlig gleichgiltig, ob die Verletzung durch nackte Gewaltthätigkeit oder durch Gesetze erfolgt. Eben so gleichgiltig ist dabei die Staatsform, sie trage den Namen monarchisch, aristokratisch oder demokratisch.“ 20  Dass eine mehr oder weniger grundlegende bildungs- und sozialpolitische Versorgung durchaus mit dem Konzept einer „civil association“ kompatibel sein kann und also eine „civil association“ nicht notwendig auf einen Nachtwächterstaat hinauslaufen muss, haben u. a. Chantal Mouffe (1992: 239) und Andrew Norris (2016) betont. 16 

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men, die „leibliche und geistige Wohlfahrt“ des Volks zu gewährleisten.21 Unter den historischen Umständen umfasse dies laut Waldheim u. a. die Bereitstellung von Mitteln zur Rechtsdurchsetzung (Polizei), für eine grundlegende Allgemeinbildung (Schulwesen), zur Armen- und Krankenpflege sowie zur Unterstützung der Kirche.22 Ohne Weiteres lasse sich die „christlich-germanische Monarchie“ natürlich nicht unter den gegebenen Bedingungen umsetzen. Ein Schritt in die richtige Richtung würde aber getan, wenn die Regierung erstens weniger regeln und sich zweitens die Zustimmung der Betroffenen in jenen Angelegenheiten einholen würde, die sie regelt.23 Darüber hinaus müssten einige konkrete Reformversäumnisse der Staats- und Gesellschaftsordnung behoben werden, nicht zuletzt das des Adels. Den entsprechenden Lösungsvorschlag unterbreitet Waldheim im fünfzehnten Gespräch, das der folgende Abschnitt näher betrachtet. III. Das Adelsreformgespräch Die Diskussion über den Adel nimmt mit der Feststellung des Bürokraten Oeders seinen Ausgang, dass der Adel eine „Anomalie“ im Staatskörper darstelle, der wie jeder überflüssig gewordene Teil in einem organischen Prozess ausgeschieden werden müsse.24 Arneburg will daraufhin wissen, wie er sich diesen Ausscheidungsprozess vorstellen solle. Der Entzug der verbliebenen rechtlichen Privilegien (z. B. Jagdrechte) würde bestenfalls den verarmten Adel treffen, den vermögenden Adel stärke man dadurch sogar. Dem pflichtet Waldheim bei; die Frage der rechtlichen Ungleichstellungen sei vernachlässigbar. Und zumal erstens die Menschen nun einmal über unterschiedliche Talente sowie ökonomische Ressourcen, sozialen Status und politische Fähigkeiten verfügten oder sich im Laufe der Zeit aneigneten, zweitens die staatliche organisierte Nivellierung solcher Kapitalien dagegen nur vermittels der Auflösung individueller Freiheiten möglich sei und drittens die formale Nichtanerkennung Eliten in „ätzende Gifte“25 verwandle, sei das „aristokratische Element [… die] erste Bedingung des freien Rechtsstaates.“26 Dennoch habe Oeder einen wunden Punkt getroffen, denn der preußische Erbadel sei, wenngleich nicht dem Wesen nach pathologisch, so doch mittlerweile „verknöchert […], sich zum Verderben, den anderen Ständen zum gefährlichen Anstoße.“27 Der gegenwärtige Zustand leide also an der Nicht­ 21 

Radowitz, 1846: 271. Radowitz, 1846: 271. 23  Radowitz, 1846: 261. 24  Radowitz, 1846: 377 – 378. 25  Radowitz, 1846: 305. 26  Radowitz, 1846: 400 – 401. 27  Radowitz, 1846: 389. 22 

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übereinstimmung der Adligen mit den „aristoi“, den Mitgliedern der „wahren Aristokratie“: „Aus den politisch ‚Besten‘ ist die wahre Aristokratie stets zusammengesetzt gewesen. Mehr Zugeständnisse erwarte und brauche ich auch nicht. Eine gewisse Zahl unter den Adeliggeborenen gehört nicht mehr zur Aristokratie, und eine gewisse Zahl von Bürgerlichgeborenen gehört zur Aristokratie.“28

Wie denn nun genau eine solche Adelsreform anzufangen sei, „um den Anforderungen der Zeit zu willfahren,“29 möchte Oeder daraufhin wissen. Waldheim ist nicht um eine Antwort verlegen und führt detailreich aus, dass verdiente Offiziere und Beamte in den Adelsstand erhoben werden sollten und dazu ein Stadt­ adel („Patriziat“) zu gründen wäre, der Zugang nicht nur über Stadtgrundbesitz gewährt, sondern auch größeren Kaufleuten und Fabrikanten sowie herausragenden Persönlichkeiten in Kunst und Wissenschaft offen stünde.30 Hinsichtlich des Landadels folgt Waldheims Reformvorschlag nahezu vollkommen dem in den frühen 1840er Jahren mühsam ausgehandelten Kompromiss zwischen dem preußischen Staatsministerium und der Adelskommission, inklusive des Details, dass die nichterbenden Kinder eines Nobilitierten zwar das Wappen der Adelsfamilie führen dürften, selbst aber im Bürgerstand verbleiben sollten.31 Die Idee eines meritokratisch zusammengesetzten Patriziats geht zwar weit über das hinaus, was damals durchsetzbar schien, übermäßig originell aber war auch diese Idee nicht. Die Nobilitierung der meritokratischen Elite hatten bereits viele andere vor ihm gefordert, sogar Friedrich Buchholz, der „schärfste bürgerliche Adelskritiker“ (der bezeichnenderweise nicht die Abschaffung des Adels, sondern die Einführung eines neuen gefordert hatte).32 Und obschon Buchholz dem „natürlichen Adel“ Privilegien und gesellschaftliche Funktionen nur als Gemeinschaft herausragender Individuen, nicht als Personenstand, zubilligen wollte, so folgt Waldheim doch vielen anderen Adelsreformdebattanten, die das Verdienstprinzip lediglich als einen alternativen Zugang zum Adel neben das Vererbungsprinzip zu stellen gedachten.33 Trotzdem gibt Arneburg klein bei und selbst Oeder zeigt sich überzeugt: „Hiermit wäre demnach der Grundriß, Durchschnitt und Aufriß zu dem Plane Ihrer neuen Aristokratie fertig!“34 Aber Waldheim war noch nicht fertig, im Gegenteil. Es bedürfe einer weiteren tiefgreifenden Umgestaltung. Dieser messe er gar den eigentlichen Hauptwert 28 

Radowitz, 1846: 404. Radowitz, 1846: 408. 30  Radowitz, 1846: 419 – 424. 31  Vgl. Heinickel, 2014: 451. 32  Buchholz, 1807. Vgl. Heinickel, 2014: 75. 33  Vgl. Heinickel, 2014: 80. 34  Radowitz, 1846: 425. 29 

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bei. Durch die formelle Angleichung des Adels an die wahre Elite allein wäre dem „aristokratischen Prinzip“ mitnichten Genüge getan. Die Aristokratie legitimiere sich vielmehr über ihre gesellschaftliche Funktion, ihr Amt. Arneburg ist ganz einverstanden. Er hatte bereits zuvor pathetisch ausgeführt, dass es stets ein fester Teil des adligen Selbstverständnisses gewesen sei, dem König und Volk zu dienen.35 Auf die Nachfrage Waldheims aber, wie der Adel denn sinnhaft zu dienen hoffen könne, weiß Arneburg nach eigenem Bekunden „keine auch nur einigermaßen befriedigende Antwort“36 zu geben. Für Waldheim hingegen ist die Sache klar: die konkrete, gegenwärtige Aufgabe des Adels bestehe in der Bekämpfung der Massenarmut, des „tiefsten Schaden[s] der Jetztwelt […], dessen Heilung ebenso von dem höchsten christlichen Gebote als von der gemeinsten Klugheit verlangt wird.“37 Waldheims gesellschaftliche Indienststellung des Adels zur Behebung des Pauperismus ist schon deshalb bemerkenswert, weil die Frage nach der Notwendigkeit, Funktion und Legitimation des Adels in der nachständischen Gesellschaft in der Adelsreformdebatte der 1840er Jahre beinahe vollständig außer Acht gelassen wurde. Einzig der Braunschweiger Jurist und Publizist Friedrich August Liebe hatte 1844 die Leerstelle des „Adelsberufs“ angeprangert.38 Die meisten Adelsreformer nahmen hingegen wie z. B. Karl Otto von Raumer an, dass das Streben nach Ehre und Verdienst gesellschaftliche Aufgabe genug für den Adel sei. Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein ging verhältnismäßig weit, als er dem Adelsamt die Funktion eines historisch-kulturellen Vorbilds und sozialen Gedächtnisses zuwies.39 Neben der konkreten Aufgabenzuweisung hebt Waldheim aber noch zwei weitere Aspekte seines „wirklich entscheidenden“ Teils der Adelsreform hervor, die nicht minder außergewöhnlich sind: erstens, dass er dem Adelsamt über eine Reform von Eigentumsrechten (und -pflichten) zur Geltung verhelfen will, und zweitens, dass er in dieser Reformmaßnahme keine radikale Innovation, ja überhaupt keine Neuerung, sondern vielmehr eine Maßnahme zur Erhaltung der bereits etablierten, wenngleich mittlerweile in Degeneration begriffenen Institution der Aristokratie erkennt. Waldheim ruft zunächst in Erinnerung, dass sich der Übergang von der Ständegesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft nicht durch den Wegfall einer faktisch privilegierten Oberschicht charakterisiere. Die nachständische Ordnung nehme sich nicht minder hierarchisch aus, nur weil die „Herren von Gottes Gna35 

Radowitz, 1846: 386 – 387. Radowitz, 1846: 426. 37  Radowitz, 1846: 426. 38  Liebe, 1844: Kap. 4. Vgl. Heinickel, 2014: 452. Montlosiers Kritik an der Entmachtung des Adels in Frankreich im Zuge des Absolutismus ist aber von einer ähnlichen Überlegung geleitet. Vgl. Kondylis, 1986: 213. 39  Vgl. Heinickel, 2014: 448 – 450. 36 

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den gegen die Herren von Mammons Gnaden“40 eingetauscht werden. Tatsächlich verhält es sich Waldheim zufolge sogar so wie Detlev zuvor festgestellt hatte, nämlich dass sich die nachständische Gesellschaft ungeachtet des Abbaus von rechtlichen Ungleichheiten besonders nachteilig für die unteren Gesellschaftsschichten entwickelt habe: „Noch zu keiner Zeit war die Abhängigkeit der Armen von den Reichen so drückend, so unbarmherzig.“41 Ursächlich dafür sei, laut Waldheim, eine strukturelle Veränderung der Eigentumsarten: „Größerer Besitz und daraus fließende größere Berechtigung sind allerdings auch jetzt vorhanden, und üben ihre politische und sociale Wirkung, aber wie? […] Der alles Andere überragende Besitz ist das Geld, die bewegliche, unangreifbare Gattung des Eigenthums. Von den drei großen Formen des Eigenthums, die auf Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart hinweisen, und sich als corporativer Besitz, als Familienbesitz, und als individueller ausprägen, hat der letztere alle anderen weit überflügelt […]. Die Wirkungen des größeren Reichthums sind daher auch lediglich größerer Genuß ohne sociale und politische Gegenleistung.“ 42

Im Unterschied zum Familienbesitz der Erbadligen übe also der Besitz der neu in den Adelsstand Aufzunehmenden keine inhärent wohltätige Wirkung zugunsten der unteren Gesellschaftsschichten aus. Diese Entwicklung könne man den Industriellen an und für sich nicht zum Vorwurf machen. Aber insofern sie als Mitglieder der Elite formell anerkannt und also nobilitiert werden sollen, müssten auch ihre spezifischen Kapitalien sozial gebunden werden – jedenfalls, wenn die Institution der Aristokratie ihrem Wesen nach unverändert fortbestehen solle: „Ihr [d. i. der neu zusammen gesetzte Adel] Eigenthum sei wie das jeder ächten Aristokratie stets gewesen, kein unbedingtes, sondern unter bestimmte Pflichten gestellt, zunächst gegen den eigenen Haus- und Dienstgenossen, den Arbeiter, den Taglöhner, den Gehilfen, den Schuldner, dann gegen die bedürftigen Staatsgenossen überhaupt, in stufenweise sich erweiterndem Kreise. Je höher die Schicht, je weiter die Pflicht! Je stärker das Recht, je schärfer die Schranke!“43 „[Die reformierte Aristokratie] besitze ihr Gut, ihr Haus, ihre Fabrik nicht mit schrankenloser Verfügung über deren Früchte. Sie schmecke den Genuß des darin repräsentirten Capitals nicht wie der vogelfreie Fremdling, sondern wie der mit den Leben und Freuden eines Volkes unzertrennlich verwachsene Weltbürger“44.

40 Diese Formulierung ist der dritten Ausgabe der Gespräche von 1847 zugefügt (Radowitz, 1847: 389). 41  Radowitz, 1846: 113. 42  Radowitz, 1846: 402. 43  Radowitz, 1846: 429. 44  Radowitz, 1846: 428.

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Andernfalls verkomme die Institution der Aristokratie zur „unterste[n] Stufe des Egoismus, [der] Plutokratie!“45 In den „Gesprächen“ geht Waldheim nicht näher darauf ein, wie man sich diesen Teil der Adelsreform konkret vorstellen könne. In einem Fragment aus dem Jahr der Erstveröffentlichung der „Gespräche“, dessen Anfangssätze wortgetreu von Waldheim wiedergegeben werden, gibt Radowitz aber ein Beispiel. Neuentstehende Fabriken sollen zur Abführung eines Teils des Reingewinns an die Arbeiter der Fabrik verpflichtet werden, wobei dieser Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitnehmervorsorge in „Sparkassen kapitalisirt und unter Staatsaufsicht“46 zu stellen sei. IV. Wer ist Waldheim? Jetzt hatte Waldheim also auch den letzten Teil seiner Adelsreform ausgeführt, den „wirklich entscheidenden“ Teil preisgegeben. Aber stellt das von Waldheim Gesagte auch die zentrale Botschaft Radowitz‘ dar? Zeitgenössische Rezensenten der „Gespräche“,47 spätere Herausgeber48 und die Sekundärliteratur bis heute49 konstatieren einvernehmlich, dass durch Waldheim einfach Radowitz selbst spricht. Unter dem Pseudonym „Waldheim“ habe Radowitz in den zeitgenössischen Diskurs intervenieren und somit eine „That in Worten“50 vollbringen wollen. „Waldheim sagt, was der Verfasser denkt, glaubt und durchführen will“, bringt Emil Frensdorff diese Ansicht auf den Punkt.51 Aber so einfach ist es nicht. Allein der Umstand, dass Radowitz unter einem Pseudonym geschrieben hätte (was, wie wir unter IV.2 sehen werden, nicht zutrifft), wäre erklärungsbedürftig. Ferner müsste fahrlässig anmuten, die Frage nach der Bedeutung der Namensgebung der Charaktere unter den Tisch fallen zu lassen. Radowitz hatte ja gut zehn Jahre vor den „Gesprächen“ eine groß angelegte Abhandlung über Charaktersymboliken verfasst.52 Dazu umfasst sein schriftstellerisches Schaffen Fragmente über die Bedeutung von Namensgebung, und in den „Gesprächen“ werden Waldheim die Worte in den Mund gelegt, dass im Leben eines Menschen so ziemlich alles vom Zufall entschieden werden könne,

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Radowitz, 1846: 402. Radowitz, 1853a: 149 – 150. 47  Z. B. Ohne Verfasser, 1848: 196. 48  Corvinus, 1911: 34. 49  Z. B. Barclay, 1995: 51; Beck, 1995a: 75; Hassel, 1905: 417; Heinickel, 2014: 449; Morris, 1976: 57. 50  Ohne Verfasser, 1848: 195. 51  Frensdorff, 1850: 43. 52  Radowitz, 1834; Radowitz, 1853b: 46 – 47; Radowitz, 1853b: 56. 46 

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nur nicht, welchen Familiennamen man erhält.53 Neben einer Fülle weiterer, noch gar nicht angesprochener Obskuritäten muss der Frage nach der Identität von Waldheim nicht zuletzt deshalb nachgegangen werden, weil die Frage zu stellen ausreicht, um die gegenwärtige (und in erster Instanz durch Beck entwickelte) Forschungsmeinung zu destabilisieren. Zur Erklärung: Wie alle anderen so will auch Beck Radowitz durch Waldheim sprechen hören.54 Als einer der ersten Denker überhaupt habe Radowitz (als Waldheim) die soziale Frage durch den Staat zu lösen vorgeschlagen. Politische Gleichheit habe er den Arbeitern vorenthalten, die Bekämpfung der Armut aber ganz oben auf die Agenda von König und Adel setzen wollen. Der hauptsächliche Zweck seines „sozialen Königreichs“ sei dabei letztlich gewesen, das im Entstehen begriffene Industrieproletariat als Hebel für Monarchie und Adel gegen das verhasste aufstrebende liberale Bürgertum (aus-) zu nutzen. Nur die Belege für seine entscheidenden Argumentationsschritte entnimmt Beck gar nicht Äußerungen Waldheims, sondern des ultra-konservativen Arneburgs.55 Arneburg hegt starke Antipathien gegen das aufstrebende Bürgertum und sieht in den Besitzlosen einen „unerwarteten Bundesgenosse[n] gegen die Usurpation der Mittelclassen.“56 Waldheim sagt nicht nur nichts dergleichen, er widerspricht Arneburgs Ansicht sogar diametral. Viele Bürgerliche würden laut Waldheim „lediglich einen sichern Schutz ihrer Eigenthums- und Personenrechte gegen Willkür jeder Art“ wollen. „Mit solchen ist eine Aussöhnung, eine aufrichtige Verständigung noch möglich.“57 Entweder ist also Radowitz nicht der Verfechter des sozialen Königreichs und Feind des Bürgertums, für den er gehalten wird, oder Radowitz spricht durch Arneburg statt Waldheim.58 Oder steht noch eine ganz andere Option zur Verfügung? 53 

Radowitz, 1846: 383. „In the Gespräche, the reader became confronted with five different political mentalities. […] The political and social views of Radowitz himself were propounded by the humanitarian nobleman von Waldheim“ (Beck, 1995a: 66). 55  „In his propagation of the ,social kingdom‘, Radowitz’s main purpose was to use the propertyless masses as an instrument against the liberal bourgeoisie to salvage the monarchy and the conservative status quo, for he saw corruption and decline coming from the liberals. In the Gespräche, for example, the pietist conservative Junker Arneburg praised the usefulness of the lower classes as an ,unexpected ally […] against the usurpation of the middle classes‘“ (Beck, 1995a: 70; ähnlich auch Heinickel, 2014: 454). Barclay (1995) schlägt mittels der Charakterisierung Radowitz’ als deutschem „tory democrat“ in dieselbe Kerbe. 56  Radowitz, 1846: 353, vgl. auch 280, 361. 57  Radowitz, 1846: 272. 58 Dass Arneburg eine besondere Stellung unter den Gesprächspartnern einnimmt, wird im Abschnitt IV.2 ersichtlich werden, auch wenn das Hauptaugenmerk auf die Figur des Waldheim gerichtet wird. Der Vollständigkeit halber sind an dieser Stelle zwei scheinbare Zufälligkeiten aus der Zeit nach Veröffentlichung der „Gespräche“ zu erwähnen. Zum einen wurde Radowitz 1848 von der Stadt Arnsberg als Abgeordneter in die Paulskirche 54 

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1. Das merkwürdige Vorwort Eine Klärung des Sachverhalts verspricht zunächst das Vorwort der „Gespräche“ zu liefern. Hier werden, zumal Radowitz den Band anonym veröffentlichte, Hinweise zur Autorenschaft gegeben. Der Präsentationsform nach geschrieben ist das Vorwort dabei von den Charakteren der „Gespräche“, genauer gesagt, von mindestens zweien. Sie bezeichnen sich als „Verfasser“ und bekennen sich auch zur Herausgeberschaft des Bandes. Die in sechzehn Einzelgespräche unterteilten Kapitel habe allerdings ein anderer, nämlich ein „Berichterstatter“, niedergeschrieben. Zumal angedeutet wird, dass dieser Berichterstatter ebenfalls einer der Gesprächspartner ist, kann festgehalten werden, dass zwei bis vier Charaktere „Verfasser“ sein sollen. Diese zwei bis vier Charaktere verbürgen sich nun im Vorwort dafür, dass der Berichterstatter ihre Ansichten „in der Hauptsache richtig wiedergegeben“ habe. Dennoch hätten sie dem Band ein Nachwort hinzugefügt ohne dem Berichterstatter „Einrede zu gestatten“. Weil dieser „seinen eigenen Vortheil nicht vernachlässigt“ habe, so solle er „mindestens nicht das letzte Wort behalte[n].“59 Ein nobler, wenngleich etwas pathetischer Zug, mag der Leser des Vorworts denken. Der anonyme Autor täuscht sich nicht über seine Parteilichkeit hinweg und deutet sie dem Leser indirekt an. Zumal es Waldheim zukommt, den letzten Einzeldialog zu beenden, scheint er der Berichterstatter (und eigentliche Autor des Bandes) zu sein, dem die fiktiven Gesprächspartner und Verfasser des Vorworts (demnach: Arneburg, Crusius, Detlev und/oder Oeder) nicht das letzte Wort überlassen wollen. Doch das Nachwort nimmt die Form eines Briefwechsels zwischen Arneburg und eben jenem Waldheim an, von dem wir gerade noch festzuhalten glaubten durften, ihm als Berichterstatter und Alter Ego des Autors solle kein weiteres Forum gewährt werden. Ist dem Umstand Bedeutung beizumessen, dass im Nachwort Waldheims Brief an Arneburg zuerst kommt, ihm also nicht das allerletzte Wort gegönnt wird? Oder sollte Radowitz beim Versuch, einen gewitzten Handlungsrahmen zu zimmern, in Verwirrung geraten sein? Dazu, die Schrift anonym zu veröffentlichen, mochte er sich allein zum Schutz des Inhalts entschlossen haben. Manch einer in Preußen war ihm ja feindselig gesinnt und hätte die „Gespräche“ allein aufgrund des Wissens um die Autorenschaft voreingenommen lesen können. Aber wenn Radowitz aufgrund seiner Unbeliebtheit die Figur des Waldheim schuf, um unerkannt in den politischen Diskurs intervenieren zu können, wieso gab er die „Gespräche“ dann nicht so, wie die Encyclopedia

entsandt (vgl. Corvinus, 1911: 28). Andererseits wurde (anonym) in selbiger Stadt 1852 ein Antwortdialog auf die Gespräche verlegt (Ohne Verfasser, 1852). 59  Radowitz, 1846: v – vi.

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Britannica 1911 und Wikipedia 2018 irrigerweise behaupten,60 auch unter dem Pseudonym „Waldheim“ heraus? 2. Radowitz über Waldheim Der nächste Ort, um nach einer Klärung des Verhältnisses von Radowitz zu den Charakteren der „Gespräche“ zu suchen, liegt außerhalb des Texts im Manuskript seiner Autobiographie. Ein unmittelbar nach Veröffentlichung der „Gespräche“ geschriebener Eintrag enthält einen relevanten Kommentar: „Meine Absicht [mit den „Gesprächen“] ist, die Hauptrichtungen der Zeit in würdigen Repräsentanten einander gegenüberzustellen und jedem seine Sache mit den besten Gründen vortreten zu lassen, die dafür anzuführen sind. Daher habe ich die dialogische Form gewählt und in diesem Pentameron fünf Männer reden lassen, in welchem sich der protestantische Pietismus und der theokratische Royalismus, das Offiziantentum, der rationalistische Konstitutionalismus, der atheistische Demokratismus und endlich auch diejenige politisch-religiöse Überzeugung verkörpern, die ich selbst als das Resultat meines Lebens betrachte.“61

Beim Lesen stellt sich unwillkürlich der Eindruck ein, die ideologisch nicht spezifizierte Position, die Radowitz als seine eigene bezeichnet, werde durch Waldheim personifiziert. Dass Radowitz die Charaktere der „Gespräche“ nicht beim Namen nennt, stört diesen Eindruck ebenso wenig wie der Umstand, dass das Pentameron – also nicht die darin miteinander diskutierenden Charaktere – die ideologischen Positionen verkörpern soll („in welchem sich […] verkörpern“). Stutzig wird man jedoch, wenn man die Zuordnung konkret vornehmen will: Radowitz nennt fünf Gesprächsteilnehmer, zählt aber sechs Positionen auf. Vertritt ein Charakter zwei Positionen? Drei Charaktere lassen sich recht klar zuordnen: Oeder („Offiziantentum“), Crusius („rationalistischer Konstitutionalismus“) und Detlev („atheistischer Demokratismus“). Auf Arneburg passt „protestantische[r] Pietismus“ sowie „theokratische[r] Royalismus“, womit für Waldheim Radowitz‘ Überzeugung übrigbliebe. Doch auch Waldheim gibt sich als Anhänger des Königtums und Mann Gottes zu erkennen, er plädiert schließlich für eine „christlich-germanische Monarchie“. Möglicherweise könnte also Arneburg nur den protestantischen Pietismus, Waldheim dafür den theokratischen Royalisten darstellen. Durch wen und wie würde dann aber die sechste Position, die „das Resultat [s]eines Lebens“ sind, in den „Gesprächen“ zum Ausdruck gebracht werden? Zusätzliches Gewicht erhält die Interpretationsmöglichkeit einer bislang noch nicht geborgenen Bedeutungsschicht durch einen weiteren Kommentar von Rado60 „Joseph

von Radowitz“, Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_von_ Radowitz; aufgerufen am 21. 1. 2018; „Radowitz, Joseph Maria von“, Encyclopedia Britannica 1911, Vol. 22. Einsehbar unter: https://en.wikisource.org/wiki/1911_Encyclop% C3%A6dia_Britannica/Radowitz,_Joseph_Maria_von; aufgerufen am 12. 6. 2017. 61  Radowitz, 1905: 120.

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witz über Waldheim. Dieser Kommentar bezieht sich zwar nicht auf die „Gespräche“, dafür aber auf den von Radowitz 1851 (wiederum anonym) veröffentlichten Folgedialog „Neue Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche“. Im Vorwort nimmt Radowitz Bezug auf die „Gespräche“ von 1846 und erklärt, dass sich eine neue Diskussionsrunde bilden musste, da die damaligen Dialogpartner „in alle Winde zerstreut“ seien: „Niemand kann mehr Rechenschaft ablegen, was sie seitdem verkehrt und gesprochen“.62 Entgegen dieser Behauptung ist Waldheim wieder mit im Bunde. Das Vorwort der „Neuen Gespräche“ rechtfertigt diese Kontinuität damit, das „[g]ewisse Elemente in den kirchlichen und politischen Partheiungen ewig“63 seien. Jedoch will die von Radowitz in den „Gesprächen“ befürwortete Position laut Autobiographieeintrag gerade nicht ein immer schon Dagewesenes, sondern „das Result [s]eines Lebens“ (also wohl eine durch langjährige Reflexion und Erfahrung gewonnene Erkenntnis, keineswegs aber eine allgemein bekannte Lehre) sein. 3. Die Möglichkeit einer versteckten Botschaft Falls die „Gespräche“ eine sechste Position beinhalten, die nicht oder nicht direkt durch einen der fünf Charaktere zum Ausdruck gebracht wird, dann wäre dem Text eine exoterisch-esoterische Form zuzusprechen. Um diese Deutungsmöglichkeit so gut als möglich zu prüfen, muss der Blick auf den Bereich „zwischen die Zeilen“ gerichtet werden. Leo Strauss hat bekanntlich einige methodische Reflexionen zu einer solchen Aufgabe vorgelegt, wobei der wichtigste, wenngleich nur bedingt informative Ratschlag darin besteht, die Interpretationsstrategie fallspezifisch zu entwickeln.64 Bevor aber Thesen über den Inhalt einer etwaigen, verborgenen und nur an eine ausgewählte oder besonders aufmerksame Leserschaft gerichtete Mitteilung aufgestellt werden (dies erfolgt in den Abschnitten IV.4 – 6), sollen einige Eigenarten der „Gespräche“ nicht unerwähnt bleiben, die Strauss als Indizien für eine esoterische Textschicht ausgibt. Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht zunächst, dass sich das achte Gespräch mit der Zensur befasst, einer Form von Verfolgung also, die Schriftsteller dazu motivieren mag, ihre eigentlichen Ansichten nicht offen auszusprechen. Waldheim plädiert dabei für eine weitgehende Meinungsfreiheit, die unter Umständen zwar für die politische Presse, keinesfalls aber für literarische Werke (wie es die „Gespräche“ zu sein beanspruchen) eingeschränkt werden dürfe. Solche könnten „im policeilichen Sinne“ nämlich nicht gefährlich werden.65 Das den „Gesprächen“ vorangestellte Motto, das Radowitz so wichtig war, dass er es den Verlag 62  Radowitz,

1851b: 1/v. 1851b: 1/v. 64  Strauss, 1988: insb. 24, 30 – 36. Vgl. Beckstein/Weber, 2014: Kap. 4. 65  Radowitz, 1846: 182. 63  Radowitz,

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auch auf Werbeanzeigen abdrucken ließ,66 evoziert des Weiteren das Bild, dass man ein großes Werk nur vorzubereiten, nicht aber selbst zu vollenden versuchen solle: „Traget Holz und laßt Gott kochen. Alter Spruch.“ Ferner nährt die literarische Form der „Gespräche“ den Verdacht, dass wir es tatsächlich mit einem exoterisch-esoterisch verfassten Text zu tun haben. Dialoge waren in den 1840er Jahren keine populäre Form zur Vermittlung politischer Ansichten. Ein früher Rezensent der „Gespräche“ witterte in der Dialogform der „Gespräche“ prompt die unlautere Absicht des Autors, seine eigene Position vernebeln und gegen systematische Einwände immunisieren zu wollen.67 Trotz der Unpopularität der von Radowitz gewählten Literaturgattung hatte 1826 ein anderer Dialog doch größeres Interesse geweckt, nämlich Achim von Arnims „Landhausleben“. Die Persönlichkeitsstrukturen der dortigen Charaktere weisen dabei eine frappierende Ähnlichkeit mit jenen der „Gespräche“ auf. Die Hauptfigur von „Landhausleben“, der „neutrale“ Rittmeister, soll dabei gerade nicht den Autor repräsentieren.68 Glaubte Radowitz, gebildete Leser sähen die Parallele zum „Landhausleben“, dass sie sich durch die explizite Erwähnung Arnims69 in den „Gesprächen“ bestätigt fühlen würden und deshalb verstünden, dass Radowitz mit dem so vorteilhaft dargestellten Waldheim nur die Orthodoxie zu bedienen gedachte? Anzumerken ist schließlich, dass die Kunst, zwischen den Zeilen zu schreiben, in intellektuellen Kreisen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Preußen durchaus ein Thema war. 1804 hatte Friedrich Schleiermacher seine berühmte These propagiert, es gäbe keine ungeschriebene Lehre Platons. In den Folgejahren wurde diese These kontrovers diskutiert. Unter anderem beklagte sich G ­ oethe (mit dem Radowitz spätestens ab dem Frühjahr 1831 in Kontakt stand)70 darüber, dass nur wenige Intellektuelle noch eine Unterscheidung zwischen dem Exoterischen und dem Esoterischen zu machen verstünden.71 Eine Bezugnahme auf Schleiermachers Platon-These beinhalten die „Gespräche“ nicht;72 eine Bezugnahme auf Schleiermacher indes schon, zunächst in zustimmender, dann in abgrenzender Manier.73 Womöglich gilt also für die „Gespräche“ ganz besonders, 66 

So z. B. in: Müller, 1846. Ohne Verfasser, 1848: 193, 196. 68  Knaack, 1976: 77 – 79; vgl. Heinickel, 2014: 449 Fn. 318. 69  Arnim wird im siebten Einzelgespräch erwähnt (Radowitz, 1846: 149). 70  Brief von J. W. von Goethe an Joseph Maria Ernst Christian Wilhelm von Radowitz vom 22. 4. 1831. Abgedruckt in: Strehlke, 1884 II: 59. 71  Brief von J. W. von Goethe an Franz Ludwig Carl Friedrich Passow vom 20. 10. 1811. Abgedruckt in: Strehlke, 1884 II: 35 – 36, hier 36. 72  Seine Platon-Ausgabe versah Radowitz mit folgendem Sinnspruch: „Die Zeit ist da und nicht verborgen/Soll das Mysterium mehr sein;/In diesem Buche bricht der Morgen/ Gewaltig in den Tag hinein“ (Radowitz, 1853b: 45). 73  Radowitz, 1846: 143, 328. 67 

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was Paulus Cassel in seinem akademischen Nachruf auf Radowitz’ Anfang der 1850er Jahre betonte, nämlich dass man, um Radowitz’ Schriften zu verstehen und zu beurteilen, „sie als gesprochen hören, nicht als geschrieben lesen“ muss. Denn wie Platon durch seinen Sokrates, suggerierte Cassel weiter, habe auch Radowitz „nie mit der Feder, immer mit dem beflügelten Worte“ gelehrt.74 4. Die Meinungsänderung Um nun eine inhaltliche Vorstellung zu erhalten, worin eine sechste, in den „Gesprächen“ nur indirekt vermittelte Position bestehen könnte, lohnt sich ein Vergleich des Dialogs mit früher von Radowitz angefertigten Fragmenten. Einige von diesen übernahm Radowitz verbatim in die „Gespräche“. Als aufschlussreich könnten sich nun insbesondere jene Fragmente erweisen, die er abänderte oder aber gar nicht einbrachte. Ein solches Fragment springt in dieser Hinsicht unwillkürlich ins Auge. Denn während Radowitz in den „Gesprächen“ seiner heiter vorgetragenen Adelsreform einundsiebzig Seiten widmete, so fand er dabei keinen Platz für einen der wenigen in Fragmentform zu Papier gebrachten (und durchaus düsteren) Gedanken zum Thema, der ihn einige Jahre zuvor umgetrieben hatte. Zur Erinnerung: In den „Gesprächen“ regt Waldheim in gut meritokratischer Manier an, vermögende Bürgerliche, herausragende Wissenschaftler sowie verdiente Künstler in den Adelsstand zu heben, um Adel und natürliche Aristokratie zur Deckung zu bringen. Was mit jenem Teil der Erbadligen geschehen solle, die aufgrund von Verarmung nicht (mehr) zu den „aristoi“ gehörten, darüber schweigt er sich aus. Dass diese faktisch nichtaristokratischen Personen formell zu entnobilitieren seien, ergibt sich lediglich als Implikation. Die zeitgenössische Leserschaft dürfte diesen Schluss auch deshalb unwillkürlich gezogen haben, weil die Herabstufung des verarmten Erbadels selbst von eher gemäßigten Adelsreformern, wie etwa dem Reichsfreiherrn vom und zum Stein, befürwortet wurde.75 Im Fragment „Die Preußische Armee“ aus dem Jahr 1833 beteuerte Radowitz jedoch erkannt zu haben, dass dies der genau falsche Weg wäre: „Ich behaupte, daß das Wesen der preußischen Monarchie erfordere, daß stets ein zahlreicher und armer Adel vorhanden sei. Diese Ansicht verstößt ziemlich gegen alle currenten Meinungen und doch glaube ich ernstlich, daß sie die richtige sei […].“76 74 

Cassel, 1857: 321 – 322. Adel im Preußischen ist der Nation lästig, weil er zahlreich, größtenteils arm und anspruchsvoll auf Gehälter, Ämter, Privilegien und Vorzüge jeder Art ist. Eine Folge seiner Armut ist Mangel an Bildung, Notwendigkeit, in unvollkommen eingerichteten Cadettenhäusern erzogen zu werden, Unfähigkeit zu den oberen Stellen […]. Man verringere also die Zahl der Edelleute, man hebe den armen Adel auf“ (Stein, 1957: 853). 76  Radowitz, 1853b: 50 – 56, hier: 50 – 51. 75  „Der

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Radowitz führt aus, dass der preußische Staat wesentlich von der Armee und die Armee wesentlich von den Subalternoffizieren abhänge. Vom Subalternoffizier werde nun einerseits ein elitäres Selbstwertgefühl gefordert. Er müsse sich in der „Aristo-Demokratie“ des Offizierskorps unter seinesgleichen fühlen, das „Bewußtsein freier Standesehre behaupte[n]“ und eine „völlig anständige Haltung, ja selbst die Außenseite der höheren Lebensverhältnisse bewahren.“ Andererseits schulde er aber schon dem nächsten Vorgesetzten „unverbrüchliche Treue und Gehorsam.“77 Seine Aufgaben seien mühselig, anstrengend und gefahrvoll, ohne dass ihm dabei finanzielle Anreize gesetzt oder immerhin moderate Karriere­perspektiven eröffnet würden: „Sein Loos ist das beschränkteste, seine Aussichten bis an das Ziel seines Lebens, mit wenigen Ausnahmen, höchst gering.“78 Das Kleinbürgertum bringe nicht die nötige Gesinnung und Gewöhnung in höhere Standesverhältnisse für diesen Dienst mit. Das höhere Bürgertum und der vermögende Adel wende sich attraktiveren Karrierewegen zu. Nur der verarmte Adel sei imstande und gewillt, das Schicksal der so wichtigen Subaltern­ offiziere auf sich zu nehmen.79 Gunther Heinickel, dem der Kontrast des Fragments von 1833 mit den „Gesprächen“ im Rahmen seiner großangelegten Studie über preußische Adelsreform­ ideen zuerst auffiel, merkt an, dass Radowitz an dieser Beobachtung – wenngleich mit einer Modifikation – auch noch vier Jahre nach der Veröffentlichung der „Gespräche“ (d. h. 1850) festgehalten habe.80 Doch die Modifikation ist entscheidend. Denn die 1850 niedergeschriebene Beobachtung ist vollkommen konsistent mit der impliziten Forderung Waldheims in den „Gesprächen“, der verarmte Adel müsse formell seiner privilegierten Stellung enthoben werden. Das Fragment von 1850 räumt nämlich ein, dass die Ersetzung (verarmter) Erbadliger im Offiziersstand durch gebildete Bürgerliche überraschenderweise ohne jeglichen Qualitätsverlust von statten gegangen sei: „Sie [die Preußische Armee] beruht mehr wie irgend eine andere, auf dem Dasein einer ganz entschiedenen Aristokratie, verkörpert im Officierstande, der nicht blos graduell, sondern specifisch durchaus verschieden von dem Unterofficier und Gemeinen ist. Wie hat aber die formale Zusammensetzung dieser Aristokratie gewechselt? Zuerst eine wahre Feudalinstitution, dann ein Stand der sich ausschließlich aus dem Adel ergänzte. Jetzt ein Institut, das äußerlich ganz auf die Intelligenz und Bildung basiert ist, wie es das System der Examina mit sich bringt. In Folge dessen ist auch wirklich die Zahl der Nichtadligen sehr beträchtlich geworden, da der Adel eigentlich nur noch durch Tradition an die Armee gewiesen ist. Nichts destoweniger hat der Preußische Officierstand den aristokratischen Charakter im besten Sinne des Wortes ganz unverän77 

Radowitz, 1853b: 50 – 56, hier: 51. Radowitz, 1853b: 50 – 56, hier: 52. 79  Radowitz, 1853b: 50 – 56, hier: 54 – 55. 80  Heinickel, 2014: 450 Fn. 325. 78 

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dert bewahrt […]. Die nichtadligen Officiere nehmen den Standesgeist ganz in gleicher Weise in sich auf; in keiner Hinsicht stehen sie hinter ihren Kameraden zurück. Die Umwandlung der Form der militärischen Aristokratie ist daher ganz organisch vor sich gegangen, ohne das Wesen irgend zu gefährden.“81

Zwischen 1833 und 1850 veränderte Radowitz also offenbar seine Meinung hinsichtlich der Ersetzbarkeit des mit der Erbadligkeit verbundenen Selbst- und Standesbewusstseins. Waldheim weicht 1846 vom Radowitz des Jahres 1833 ab, befindet sich aber im Einklang mit dem Radowitz von 1850. 5. Vom frühen zum späten Radowitz Vor dem Hintergrund dieses Befunds der Meinungsänderung gewinnt ein biographisches Detail aus Radowitz’ Leben an potenzieller Erklärungskraft für die Deutung der Namensgebung Waldheims und, mittelbar, der „Gespräche“. Es geht dabei um die Erlebnisse, die Radowitz im Zuge von Napoleons Deutschlandkampagne in Sachsen sammelte. Ende Dezember 1812 war der fünfzehnjährige Radowitz zum Secondleutnant im Artillerie-Regiment der Grande Armée ernannt worden (aufgrund des dringenden Bedarfs an Soldaten nach dem desaströsen Russlandfeldzug) und hatte „das Glück“, wie es sein Biograph Paul Hassel zu fassen beliebt, „schon nach wenigen Monaten die Schule des Krieges kennen zu lernen.“82 Das geschah am 2. Mai 1813 in der Schlacht bei Groß-Görschen (auf französischer Seite „bataille de Lützen“ genannt) und drei Tage später dem Gefecht bei Gersdorf. Napoleon errang einen Sieg, bezahlte ihn aber mit dem Preis hoher Verluste und verfehlte das eigentliche Ziel, der Brigade von Steinmetz und den Truppen des russischen Generals Miloradowitsch den Rückzug zum restlichen Heer der Verbündeten abzuschneiden. Radowitz wurde durch die Explosion einer Granate verletzt. Eine Gelegenheit zur Verarbeitung der ersten Kriegserfahrungen bot sich Radowitz im Lazarett der Stadt, durch die sich die Verbündeten gerade noch hatten zurückziehen können, denn hier bezog Napoleon mitsamt seinen Offizieren tags darauf Unterkunft: Waldheim.83 Besitzen Radowitz’ Erlebnisse rund um die Stadt Waldheim Erklärungskraft für die Namensgebung des Charakters Waldheim? Gut möglich. Es lässt sich jedenfalls in Radowitz’ Biographie und Werk nichts Anderes finden, das sich plausibel auf den Namen des Hauptcharakters der „Gespräche“ beziehen ließe. Worüber machte sich Radowitz in Waldheim Gedanken? Wir wissen es nicht. Die (viel später niedergeschriebene und nur wenige Zeilen umfassende) autobiogra81 

Radowitz, 1853a: 213 – 215. Hassel, 1905: 146. 83  Zum genauen Hergang und den Stationen der kriegerischen Auseinandersetzungen, siehe: Zepelin, 1913: Kap. II/1 – 2; Reinhold, 1925: 166 – 167; Beizke, 1859 I: 319. 82 

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phische Notiz über sein Engagement in der Grande Armée erwähnen den ersten Fronteinsatz („bei Groß-Görschen zuerst den Feind gesehen“84), aber keine weiteren Erfahrungen, die in den relevanten Zeitraum fallen. Kaum vorstellbar ist, dass er mit den Geschehnissen rund um die Stadt Waldheim den Anfang vom Ende der französischen Deutschlandkampagne assoziierte.85 Wahrscheinlicher erscheint, dass Radowitz über die erhaltene Lektion der Schule des Krieges reflektierte und sich fragte, ob es nicht erquicklichere Betätigungen gäbe als sich von anderen Halbstarken Kugeln in die Brust jagen zu lassen. Denn laut Hassel zeichnete sich schon bei den ersten Schlachtbeteiligungen ab, „daß das eigentliche Element des jungen Kriegsmannes weniger der praktische Dienst war als das theoretische Studium der Militärwissenschaften.“86 Wenn dies der Fall gewesen ist, dann könnte Radowitz den Ereignissen rund um die Stadt Waldheim retroperspektivisch durchaus den Status eines biographischen Wendepunkts zugesprochen haben – und als Wendepunkt begriffen, verleihen sie der Namensgebung des Hauptcharakters in den „Gesprächen“ einen Sinn, der auch zu der zuvor (IV.4) festgestellten Meinungsänderung Radowitz’ über die Adaptionsfähigkeit aristokratischer Strukturen passt. Zunächst könnte Radowitz der Ort Waldheim einfach als Symbol für seine Hinwendung zur Schriftstellerei gedient haben. So wie er sich geistig 1813 von der Praxis des Krieges zu dessen Theorie hinzuwenden begann, markieren die „Gespräche“ 1846 einen Moment, in dem er von der ausübenden Politik zu deren theoretischer und literarischer Verarbeitung überging. In einem erweiterten Sinn mochte sich das Wendepunkt-Symbol „Waldheim“ aber auch dazu angeboten haben, den doch recht einschneidenden Veränderungen seiner Vita Ausdruck zu verleihen: der Konversion vom Protestantismus zum Katholizismus, dem Seitenwechsel von Frankreich nach Deutschland, der Abkehr vom ultra-konservativen Zirkel des Berliner Politischen Wochenblatts, dem Radowitz noch in den 1830er Jahren nahe stand,87 der Transformation von einem „Marktweib der Reaction“88 also zum Liberalkonservativen eines eigenen Verständnisses, kurzum: vom früheren Ich zum gewordenen Ich, von Arneburg zu Waldheim. Die „Gespräche“ wollen ja schließlich Gespräche aus der Gegenwart und nicht der Vergangenheit sein, und die darin offenbarte eigene Überzeugung das Resultat seines Lebens. So verstanden entpuppt sich der Charakter Waldheim weder einfach als Radowitz 84 

Radowitz, 1905: 6. Napoleon mochte es sich so dargestellt haben, denn rückblickend bezeichnete er die erlittenen hohen Verluste bei Groß-Görschen, Gersdorf sowie kurz darauf Bautzen als Todesstoß für seine Vorherrschaft in Deutschland. Vgl. Clark, 2006: 365. 86  Hassel, 1905: 147. 87  Für Details über Radowitz’ Verhältnis zum Zirkel des Berliner Politischen Wochenblatts, siehe: Beck, 1995b: 42 – 43, und Meinecke, 1913: 41. 88  Radowitz, 1853b: 354. 85 

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noch als ein ganz anderer, sondern als der neue Radowitz; jener, der weder die Augen vor Entwicklungen wie der aufkommenden Industrialisierung, dem Pauperismus oder sich wandelnden Sitten verschließt, noch sich in gute alte Zeiten zurückwünscht; der sich also wie ein guter Konservativer an die Welt anpasst anstatt zu versuchen, die Welt an sich anzupassen. 6. Die sechste Position Wenn sich das Geheimnis um die „Gespräche“ darin erschöpft, dass der Charakter Waldheim, wie in den vorhergehenden Abschnitten (IV.4 und IV.5) gedeutet, den gereiften Radowitz repräsentieren soll, Arneburg dagegen jedenfalls in mancherlei Hinsicht den einstigen und Detlev in einem übertragenen Sinn vielleicht den jugendlichen,89 dann sind die zuvor angesprochenen Zwiespältigkeiten des Vorworts (IV.2) als Inkonsistenzen beziehungsweise Konstruktionsfehler zu bewerten. Radowitz hätte die Schrift anonym herausgegeben, obwohl das Pseudonym Waldheim konsequenter gewesen wäre; er hätte im Vorwort einen unnötig komplizierten Handlungsrahmen konstruiert; und er wäre hinsichtlich des Schlussworts ungenau gewesen, da selbiges nicht den Ansichten des „Berichterstatters“ entsprechen soll, die erste Hälfte aber doch aus einem Brief Waldheims besteht. Schließlich hätte Radowitz irreführenderweise in den „Gesprächen“ sowie in autobiographischen Notizen die Möglichkeit einer sechsten und nur indirekt vermittelten Position in den Raum gestellt, obwohl es keine solche gibt. Dass sich dies tatsächlich so verhält, ist möglich. Ein stimmigeres Bild vermag jedoch die Sichtweise zu zeichnen, dass die „Gespräche“ eine sechste Position – genauer gesagt: so etwas Ähnliches wie eine sechste Position – beinhalten. Um diese Möglichkeit zu erfassen, muss die Unterhaltung zwischen Waldheim, Arneburg, Oeder, Detlev und Crusius konsequent als Selbstgespräch von Radowitz verstanden werden. Dass die „Gespräche“ das Resultat eines sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Selbstgesprächs sind, und die Nebencharaktere des Buchs nicht, 89  Dafür, dass Arneburg den alten Radowitz jedenfalls in mancher Hinsicht personifiziert, spricht dessen ultrakonservative Einstellung und protestantische Konfession. Die These, dass Detlev in einem übertragenen Sinn den jungen Radowitz repräsentiert, stützt sich darauf, dass Detlev Arneburgs jüngerer Bruder ist und wie Radowitz in Frankreich sozialisiert wurde. Mit Waldheim, d. h. dem neuen Radowitz, teilt Detlev nicht nur zen­ trale Kritikpunkte am konstitutionellen System, sondern auch die Einschätzung, dass die Arbeiter in der nachständischen Gesellschaft schlimmer unterdrückt sind als zu Zeiten des Feudalismus. Waldheim sieht auch eine Verwandtschaft zwischen seinen und Detlevs Ansichten und glaubt daran, dass Detlev, der wie kein anderer „nach Wahrheit lechz[t]“, im Laufe der Zeit zu seinen eigenen Schlussfolgerungen gelangen kann (vgl. Radowitz, 1846: 217, 476). Interessant ist in dieser Hinsicht auch, dass Radowitz in einem Fragment aus dem Jahr 1847 mit einem „praktischen“ Kommunismus sympathisiert (vgl. Radowitz, 1853b: 175 – 177).

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beziehungsweise nicht mehr dominante Stimmen des Autors darstellen, legen Titel, literarische Form und das bislang Herausgearbeitete durchaus nahe. Es wird ferner gestützt durch den ersten Satz des Vorworts „Was im Großen die Welt bewegt, spiegelt sich im kleinsten Kreise ab“, sowie ein Fragment, in dem Radowitz das vielgestaltige Denken eines Volkes mit dem Denken eines Einzelmenschen analog setzt.90 Ein Fragment aus dem Jahr 1841, das beinahe wörtlich ins unscheinbare elfte Gespräch eingestreut ist, zeigt nun, dass Radowitz dem dialektischen Selbstgespräch nicht nur einen literarischen, sondern auch einen autodidaktischen, und recht betrachtet, philosophischen Wert beimisst: „Wer sich nicht auf den Standpunkt des Gegners zu versetzen, und von diesem aus in den Streit hineinzugehen vermag, der gelangt nie zu billiger und daher auch allein richtiger Beurtheilung dessen, worauf es ankommt.“91

Radowitz fordert hier, gegnerische Positionen nicht nur zu durchdringen, sondern auch, sie sich – jedenfalls in Form eines methodischen Zwischenschritts – zu eigen zu machen und gegen seine eigentlichen Ansichten zu vertreten. Nur auf dieser Grundlage könne man hoffen, informierte und fair abgewogene Urteile zu fällen. Es geht Radowitz also nicht nur darum, welche Position man letztlich die eigene nennt, sondern auch darum, wie man zu dieser gelangt und wie man im Prozess der Positionserlangung den Ansichten Anderer gegenübertritt. Kurzum: mitentscheidend zu sein scheint, dass man eine bestimmte Haltung gegenüber konfligierenden politischen Positionen einzunehmen versteht. Ideengeschichtlich lässt sich eine solche Haltung in zweierlei Traditionen auffinden: der theologischen Irenik und der philosophischen Eklektik. Ireniker wie Franz Junius der Ältere oder David Pareus forderten angesichts der Reli­ gionskriege, dass sich die Konfessionen der christlichen Friedensbotschaft entsprechend begegnen, den Dialog und letztlich einen Basiskonsens suchen.92 In eben dieser Weise tritt Waldheim Arneburg in den Gesprächen über das Verhältnis von Katholizismus und Protestantismus entgegen, wobei Waldheim auch den (atheistischen) Rationalismus miteinzubeziehen befürwortet.93 So wie die Irenik den Extremen von Dogmatismus und Relativismus (Waldheim unterscheidet Dogmatismus von „Indifferentismus“94) entsagen möchte, so versteht sich die philosophische Eklektik als Mittelweg zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Der eklektische Zweifel, der Vorurteilen nicht systematisch, sondern punktuell und sukzessive nachgeht (dubitatio eclectica); die Appropriation, Interpretation und Gewichtung von politischen Konzepten (libertas philosophandi); 90 

Radowitz, 1846: v. Radowitz, 1853a: 111 – 112; hier: 111. Vgl. auch Radowitz, 1846: 298. 92  Holtmann, 1984. 93  Vgl. Radowitz, 1846: Kap. 11, 12, 13, 16; insb. 317, 339. 94  Radowitz, 1846: 317. 91 

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die bewusst auf eine Synthese verzichtende Vermittlung heterogener politischer Positionen (conciliatio eclectica) und nicht zuletzt die Einsicht in die Fehlbarkeit menschlichen Denkens (imbecillitas mentis) sowie das nur vorbehaltliche Fürwahrhalten des errungenen Standpunkts (Fallibilismus)95 – all dies zieht sich als roter Faden, wenngleich meist unterschwellig, durch die Fragmente Radowitz’ seit 1835,96 wie durch die Äußerungen Waldheims in den „Gesprächen“, der ja mal diesem, mal jenem Recht gibt, um daraufhin einen provisorischen dritten Weg einzuschlagen. Er findet in den Anschauungen seiner Gesprächspartner stets „ein Stück Wahrheit“, verleugnet keineswegs die „achtbaren Elemente“ von Liberalismus und Rationalismus, und will bei seiner Kompromisssuche weder einfach die „Extreme abschneide[n] und den Rest zusammenw[erfen]“ noch „verschmelz[en], was getrennt bleiben muß.“ Radowitz gibt Deliberation und pragmatischer Übereinkunft den Vorzug gegenüber philosophischer Deduktion und verleiht seiner dadurch erlangten inhaltlichen Position nur den Anspruch provisorischer Gültigkeit: „Dieser Pfad oder ein anderer, besserer!“97 Zusammenfassend kann zwar nicht davon gesprochen werden, dass die „Gespräche“ eine sechste inhaltliche Position umschließen, zwischen den Zeilen eine gänzlich heterodoxe politische Ansicht vertreten oder gar eine subversive Geheimbotschaft an Eingeweihte versenden. Gleichwohl wird ersichtlich, dass Radowitz durchaus unterschwellig und performativ einer interessanten dispositionalen Überzeugung zu größerer Geltung verhelfen will, die über die inhaltlichen, politischen Positionen inklusive jener Waldheims hinausgeht und sie ihrerseits einhegt. V. Schlussbetrachtungen Ohne sämtliche Rätsel der „Gespräche“ eindeutig lösen zu können, darf die vorliegende Untersuchung beanspruchen, den Kenntnisstand zu diesem bemerkenswerten Text, zu den intellektuellen Ursprüngen der Sozialstaatlichkeit in Deutschland sowie zur Verortung von Radowitz’ politischem Denken in dreierlei Hinsicht verbessert zu haben. Erstens konnte entgegen der vorherrschenden Forschungsmeinung nachgewiesen werden, dass Radowitz durch die Figur des Waldheim nicht deshalb einen Lösungsvorschlag für die soziale Frage unterbrei95  Vgl. Kelley, 2001: 581; Holzhey, 1983: 147 – 148; Schneider, 1992: 220 – 222; Schneider, 1998: 177; Schneiders, 1985: 177. Siehe auch Beckstein/Weber, 2018: 12 – 14. 96  Siehe insbesondere: Radowitz, 1853a: 60 – 61; Radowitz, 1853a: 91 – 95; Radowitz, 1853a: 96; Radowitz, 1853a: 111 – 112; sowie nach 1846 „Politischer Fanatismus (1851)“, in: Radowitz, 1853a: 220 – 221. 97  Radowitz, 1846: 248, 339, 317, 296, 430. Siehe auch das Vorwort zur 4. Auflage der Gespräche von 1851, das allen Gesprächspartnern bescheinigt, sie seien durch die Märzrevolution widerlegt worden und das eine Kritik am antagonistischen Parteitreiben beinhaltet (Radowitz, 1851a: viii, xiii).

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tete, um das aufstrebende Bürgertum zu bekämpfen. Eine entsprechende Strategie wird lediglich durch den erzkonservativen Arneburg geäußert, mit dem sich Radowitz aber nicht (mehr) identifiziert. Für den in den „Gesprächen“ wesentlich weiser dargestellten Waldheim besteht das zu behebende Problem nicht in den nachständischen Ambitionen der Mittelklasse, sondern in der Verelendung der unteren Bevölkerungsschichten angesichts der einsetzenden Industrialisierung. Im Bürgertum erkennt er gar einen geeigneten Koalitionspartner zur Verringerung des Elends. Zweitens konnte nahegelegt werden, dass Radowitz in einem komplexen Verhältnis zu den von ihm geschaffenen Charakteren steht. Er zeigt weitreichendes Verständnis für die Ansichten aller (vielleicht mit Ausnahme des Technokraten Oeder), ohne sich dabei auf sie verbindlich zu verpflichten. Dies gilt auch für Waldheim, den Repräsentanten einer Ordnungsvorstellung, die auf liberalen Freiheitsrechten, meritokratischen Prinzipien sowie paternalistischen Fürsorgepflichten basiert. Die „Gespräche“ unternehmen den ambitionierten, zweigliedrigen Versuch, einerseits einen inhaltlichen Kompromiss zwischen den politischen Lagern auszuhandeln und andererseits die allgemeine Kompromissbereitschaft zu fördern und somit der dogmatischen Verhärtung entgegen zu wirken. Der Pragmatismus von Radowitz’ politischer Pädagogik zeichnet sich besonders deutlich am Adelsreformvorschlag ab, womit die dritte Erkenntnis der vorliegenden Untersuchung benannt wird. Die formelle Anerkennung des Elitenstatus von wahren „aristoi“ mag zwar mit dem von ihm favorisierten Konzept einer „civil association“ (bzw. „christlich-germanischen Monarchie“) kompatibel sein, sie ergibt sich aber nicht zwangsläufig daraus. Selbiges gilt für die Forderung, den Anwendungsbereich der Sozialbindung des Eigentums auszuweiten. Radowitz argumentiert zwar zunächst normativ, dass die Abschaffung der Aristokratie durch eine Nivellierung von ökonomischen und sozialen Unterschieden nicht wünschenswert sei, da hierfür eine „despotische“ Verletzung bestehender Freiheitsrechte in Kauf genommen werden müsste (z. B. Enteignung, gesellschaftliche Diskreditierung). Und den neuen Eliten die formelle Anerkennung (weiterhin) zu versagen hält er nicht nur für unratsam, sondern auch für ungerecht und im Widerspruch mit dem Konzept der Aristokratie. Doch den konkreten Adelsreformvorschlag untermauert Radowitz nicht über die Anwendung von (im engeren Sinne) normativen Prinzipien. Er verzichtet auf eine Fundierung mit Hilfe von Fürsorgenormen (wie in der katholischen Soziallehre oder bei Friedrich Julius Stahl) ebenso wie durch stabilitätspolitische Klugheitsgebote (die etwa vor der destruktiven Macht von Massenarmut warnen). Radowitz empfiehlt vielmehr eine funktionsäquivalente Erneuerungsreform der etablierten Institution der Aristokratie, deren bescheidener Zweck sich in der Verhinderung von Entartung erschöpft. Die Notwendigkeit einer Adaption ist ihm zufolge vor allem sozioökonomischen Entwicklungen geschuldet, wie etwa dem Bedeutungs-

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zuwachs frei investierbaren Kapitals und der Verarmung mancher Erbadliger. Die vorgeschlagene Reform zollt also dem mit diesen externen Entwicklungen verbundenen Auseinanderdriften von Erbadel und wahren „aristoi“ Tribut und beansprucht lediglich, dem institutionenimmanenten Bedürfnis, Anspruch und Wirklichkeit in der Deckung zu halten, nachzukommen. Gleiches gilt für die Forderung, den Anwendungsbereich der Sozialbindung des Eigentums zu erweitern. Dem Eigentum der Erbadligen („Familienbesitz“) sei ein Trickle-down-Effekt inhärent, d. h. aus ihm gehe wesensmäßig eine wohltätige Wirkung auf die unteren Gesellschaftsschichten hervor. Mit dem Eigentum der noch nicht nobilitierten gesellschaftlichen Eliten („individueller Besitz“) sei eine solche Wirkung nicht innerlich verbunden.98 Deshalb bedürfe es einer aktualisierenden Anpassung, um die Institution der Aristokratie nicht unter der Hand in eine Plutokratie verkommen zu lassen. Vermag uns heute Radowitz’ so unzeitgemäß anmutende Adelsreformdiskussion, eine unverbrauchte Perspektive auf den politischen Umgang mit Eliten und der Ausgestaltung von Ungleichheitszumutungen in der liberalen Demokratie zu eröffnen? Könnte uns seine Forderung nach einer Ausweitung des sozialgebundenen Eigentums als Denkanstoß dienen, die entsprechende Norm in Art. 14 Abs. 2 GG zu überdenken? Sollten wir also darüber reflektieren, ob der relative Bedeutungszugewinn des Finanzkapitals gegenüber dem Realkapital seit den 1970er Jahren den Anspruch, dass Eigentum verpflichte, ausgehöhlt hat? Es sei dahingestellt. In jedem Fall mag uns Radowitz’ Adelsreformargument an die Relevanz von „nichtemanzipatorischen“ Erhaltungsmaßnahmen erinnern. Der Status quo stellt ja den natürlichen Ausgangspunkt in jeder Reformdebatte dar. Insofern sich ideologisch verhärtete Fronten gegenüberstehen oder Pfadabhängigkeiten einen Kurswechsel verteuern, wird man auch oft nicht weit darüber hinauskommen können.99 Doch eine Politik der Verhinderung von Rückschritt, der Vermeidung von unbeabsichtigter Funktionsveränderung oder sogar fahrlässigem Funktionsverlust institutioneller Errungenschaften aufgrund von sozialen, ökonomischen und anderen Entwicklungen ist ebenso selbstlegitimiert wie sie oft proaktive, wenn nicht sogar radikale Anpassungsmaßnahmen einfordern wird.

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Siehe hierzu auch Radowitz, 1853a: 43 – 44, 112, 137. Vgl. Buchanan, 2004.

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Hauke Behrendt: Unbestimmtheit. Eine Kritik an Habermas’ Prozeduralismus

Unbestimmtheit – Eine Kritik an Habermas’ Prozeduralismus Von Hauke Behrendt Unbestimmtheit – Eine Kritik an Habermas’ Prozeduralismus Hauke Behrendt

Abstract I argue that procedural justice is not sufficient for the legitimation of a legal order, rather that substantial and procedural justice are necessary presuppositions which are irreducible to one another. Therefore I introduce Jürgen Habermas’s concept of a just constitutional democracy as one of the most famous models of a procedural theory and propose two reasons why his account of legitimation by procedures is not acceptable in all details. Firstly, I claim that a formal procedure alone is unable to ensure reasonable outcomes because for systematic reasons there can be no full inclusion of all citizens in the political discourse. Secondly, even if an inclusive public deliberation process can be realized, it seems doubtful, that a public discourse alone can generate a reasonable justification. Thus for the legitimation of constitutional principles there is at least a need for substantial principles of justice that are themselves not legitimized by democratic procedures, but rather must be justified within a normative theory of justice.

I. Immer dann, wenn Menschen ihr Zusammenleben mit Hilfe verbindlicher Regeln organisieren und gestalten, sehen sie sich vor die zentrale Aufgabe gestellt, diese Normen nicht nur möglichst umfassend und kohärent zu bestimmen, sondern sie gleichfalls in einer Weise zu rechtfertigen, die das so generierte Regelwerk als legitim ausweist. Unausweichlich und mit besonderer Dringlichkeit gilt diese Forderung für eine positive Rechtsordnung, da ihre Normen mit einer Zwangsgewalt einhergehen, die allgemeinen und generellen Gehorsam nötigenfalls erzwingt.1 Im vorliegenden Beitrag werde ich den von Jürgen Habermas entwickelten Ansatz einer diskursiven Rechtfertigung des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats diskutieren.2 Meine zentrale These lautet, dass Habermas’ Diskurstheorie trotz ihrer Vorzüge einem fundamentalen Einwand ausgesetzt ist: So kann es nämlich nicht gelingen, seine anspruchsvolle Rechtfertigungstheorie rationaler 1  2 

Vgl. Habermas, 1992: 49; Rawls, 1998: 222 f.; Höffe, 2002: Kap. 3.1. Vgl. Habermas, 1992; Habermas, 2009a; Habermas, 2009b.

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Diskurse rein prozeduralistisch zu operationalisieren. Damit meine ich, dass es demokratische Institutionen, die allgemeine und gleiche Teilhabe am Begründungsverfahren nicht bloß formal erlauben, sondern wirksam garantieren – wie es Habermas zur Voraussetzung macht – grundsätzlich nicht geben kann. Daraus folgt, dass reine Verfahrensgerechtigkeit kein normativ befriedigendes Kriterium abgibt, um Recht zu legitimieren. Ich werde dafür argumentieren, dass Habermas’ Prozeduralismus vielmehr in das Dilemma mündet, sich entweder (i) substanziellen Prinzipien legitimer Rechtsetzung und -durchsetzung öffnen zu müssen, die seinen radikal-demokratischen Ansatz unterlaufen, oder (ii) (gegebenenfalls) Rechtsnormen als legitim anzuerkennen, die keine allgemeine Zustimmung verdienen und damit seiner Theorie zufolge keinerlei Legitimität beanspruchen können.3 Aus rechtfertigungstheoretischer Sicht scheint nur (i) akzeptabel zu sein. Um diese These zu begründen, werde ich zunächst verdeutlichen, dass Habermas keinesfalls jeder beliebigen Form öffentlicher Meinungs- und Willensbildung die rechtfertigende Kraft zuschreibt, soziale Normen zu legitimieren. Vielmehr findet sich bei ihm ein bestimmtes Prinzip des öffentlichen Vernunftgebrauchs, das den Begründungsdiskurs normiert. Habermas argumentiert dafür, dass politische Macht nur insoweit demokratisch legitimiert sein kann, als sie in eine vollständig inklusive, alle Rechtsunterworfenen einbeziehende Öffentlichkeit eingebettet ist, die als originärer Nukleus demokratischer Willensbildung zwischen Zivilgesellschaft und politischem System vermittelt (II). Daran anknüpfend werde ich zeigen, dass es grundsätzlich nicht gelingen kann, die mit diesem Prinzip öffentlicher Vernunft unweigerlich einhergehenden Idealisierungen rein prozedural einzufangen, was zu der von mir kritisierten rechtfertigungstheoretischen Unbestimmtheit führt. In der aktuellen Rezeption von Habermas’ Diskurstheorie von Recht und Demokratie wird bislang vor allem die generelle Machbarkeit einer voll inklusiven Öffentlichkeit in Zweifel gezogen. Ich halte diese Kritik für einschlägig, möchte hier jedoch über sie hinausgehen. Habermas’ anspruchsvolle Öffentlichkeitskonzeption lässt sich nämlich vor dem Hintergrund seiner Legitimationstheorie nicht nur als unrealistisches I­deal entlarven. Ich werde aus umgekehrter Perspektive dafür argumentieren, dass Habermas – genau besehen – sogar ein Öffentlichkeitsideal vertritt, das unter normativen Gesichtspunkten gar nicht erstrebenswert ist, weil es mit der privaten Autonomie der Bürger kollidiert (III). Abschließend werde ich das oben skizzierte Dilemma verdeutlichen, dem sich ein reiner Prozeduralismus, wie er von Habermas vertreten wird, ausgesetzt sieht. 3  Nun weist Habermas zu Recht darauf hin, dass auf dem Feld der Tagespolitik Entscheidungen oftmals in Verhandlungen und mit ausgleichenden Kompromissen herbeigeführt werden müssen, die ihrerseits diskursiv gerechtfertigt werden müssen. Das Problem rechtfertigungstheoretischer Unbestimmtheit kehrt aber spätestens auf der Ebene der Verfassungsprinzipien zurück, die die eigene Legitimität nicht selbst verbürgen können.

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Um das daraus resultierende Legitimitätsdefizit zu beseitigen, sollte Habermas’ Konzeption um inhaltlich-substanzielle Prinzipien legitimer Herrschaftsausübung erweitert werden. Dieser Schritt scheint, recht besehen, bereits theorieimmanent bei Habermas angelegt zu sein (IV). II. Die normative Forderung, dass sich sowohl eine positive Rechtsordnung als Ganze als auch ihre einzelnen Rechtsnormen gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern als legitim rechtfertigen lassen müssen, scheint heute als eine Minimalbedingung politischer Gerechtigkeit allgemein anerkannt zu sein. Weniger Einigkeit herrscht allerdings darüber, worin die geforderte Legitimität besteht und wie sie sich im Zweifelsfall herbeiführen lässt. Nach Habermas stehen sich in dieser Debatte klassischerweise zwei normative Theoriepositionen – der politische Liberalismus und der Republikanismus – unversöhnlich gegenüber. Sein eigener diskurstheoretischer Ansatz lässt sich nun als der Versuch verstehen, die Defizite dieser Konzeptionen quasi dialektisch in einem dritten, deliberativen Typus politischer Legitimität aufzuheben.4 Habermas lehnt dabei eine monologische Rechtfertigung ab.5 In Form des „Diskursprinzips“ liegt seiner Konzeption vielmehr ein normativ wie kognitiv anspruchsvolles Kriterium intersubjektiver Rechtfertigung zugrunde. Demnach sind Normen genau in dem Maß gerechtfertigt, in dem sich der von ihnen erhobene Geltungsanspruch durch den Austausch guter Gründe diskursiv einlösen lässt. Rechtfertigende Gründe – so die These – können nur mit Bezug auf alle möglicherweise Betroffenen zweifelsfrei bestimmt werden. Ihrer Struktur nach transzendieren gute Gründe zwar durchaus die subjektive Perspektive einzelner Diskursteilnehmer, so dass es letztendlich die besseren Argumente sind, die einen Dissens in normativen Fragen entscheiden (sollen). Rechtfertigungskontexte sind aber in so radikaler Weise fallibel und unabgeschlossen, dass sie sich nicht nur ihrer Gültigkeit ständig neu versichern müssen, sondern dabei gleichermaßen auf den Input weiterer Gründe und neuer Informationen angewiesen bleiben. Und diese Bedingung kann für Habermas nur durch einen öffentlich geführten, vollständig inklusiven Diskurs eingelöst werden: „Der Anspruch, daß eine Norm im gleichmäßigen Interesse aller liegt, hat […] den Sinn rationaler Akzeptabilität – alle möglicherweise Betroffenen müßten ihr aus guten Gründen zustimmen können. Und das kann sich wiederum nur unter den pragmati-

4  Vgl. Habermas, 2009c. Eine instruktive Darstellung der Grundannahmen deliberativer Demokratie bei und nach Habermas findet sich u. a. bei Forst, 2007a, sowie Gaus, 2013. 5  Vgl. auch für das Folgende Habermas, 1992: Kap. III.

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schen Bedingungen von Diskursen herausstellen, in denen auf der Grundlage einschlägiger Informationen allein der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommt.“6

Der im Diskurs erzeugte Konsens hat deshalb legitimierende Kraft, weil er der uneingeschränkten Selbstbestimmung der Bürger Rechnung trägt. Wenn eine Norm mit allgemein und reziprok anerkannten Gründen gerechtfertigt ist, stellt sie sich den Betroffenen als selbstauferlegt dar – sie sind damit Rechtsautoren und -adressaten in einer Person.7 Es ist folglich keineswegs gleichgültig, unter welchen Bedingungen der Konsens eines Begründungsdiskurses zustande kommt und von welchen Gründen er getragen wird – für Habermas hat dieser nur dann legitimierende Kraft, wenn er als Ausdruck öffentlicher Vernunft angesehen werden kann. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es geht Habermas um kommunikativ erzielte Verständigung, nicht um traditionell fundierte Dogmen oder strategische Kompromisse. Um dieser rationalistischen Bedingung begründeten Urteilens und Entscheidens gerecht werden zu können, muss der Diskurs bestimmten (idealisierten) Voraussetzungen genügen, die ihn von allen verzerrenden Asymmetrien befreien. Dafür hat Habermas den Begriff der „idealen Sprechsituation“8 geprägt. Danach unterstellen wir präsumtiv allen potentiellen Diskursteilnehmern etwa die kognitive Fähigkeit und motivationale Bereitschaft, am Diskurs teilzunehmen, die Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen, ihren Gewaltverzicht usw. Mit anderen Worten: Diskursteilnehmer müssen ihre Argumentation so gestalten, dass die begründete Hoffnung besteht, ausschließlich kraft guter Gründe freiwilliges Einverständnis zu erzielen. Sie müssen sich so verhalten, als ob sie als Freie und Gleiche in einem herrschaftsfreien Diskurs über allgemeine Regeln deliberieren, die zurückzuweisen niemand Grund hat. Habermas lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Legitimität einer Norm für ihn einzig und allein aus einer solchen diskursiven Verständigung unter idealen Bedingungen hervorgehen kann: „Ein unter idealen Bedingungen diskursiv erzieltes Einverständnis über Normen oder Handlungen hat mehr als nur autorisierende Kraft, es verbürgt die Richtigkeit moralischer Urteile. […] Die ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit einer Norm weist nicht […] über die Grenzen des Diskurses hinaus auf etwas hin, das unabhängig von der festgestellten Anerkennungswürdigkeit ‚Bestand‘ haben könnte.“9

6 

Ebd.: 133. Vgl. Forst, 2007b. 8  Vgl. Habermas, 2009d: bes. 259 ff. Habermas hat sich in späteren Arbeiten nach und nach von der Idee einer idealen Sprechsituation distanziert, ihre Präsuppositionen müssen aber weiterhin für den rationalen Diskurs – sofern er als normativer Begriff eine Rolle spielen soll – angenommen werden. 9  Habermas, 2009e: 411. 7 

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Was einer (Rechts-)Norm Legitimität verleiht, ist damit letztlich nicht ihre faktische Akzeptanz, sondern ihre vernünftige, von guten Gründen getragene Akzeptabilität.10 Ein alle Betroffenen einbeziehender Diskurs stellt dafür eine notwendige Gelingensbedingung dar. Er soll die fehlbaren Urteile Einzelner korrigieren und zugleich jene rechtfertigenden Gründe liefern, die sich nicht ohne Bezug auf alle möglicherweise Betroffenen bestimmen lassen. Für Habermas haben demokratische Verfahren damit auch einen epistemischen Wert: Im sozialen Raum institutionalisierter Öffentlichkeit(en), der alle möglicherweise Betroffenen einbezieht, sollen Entscheidungen getroffen werden, die nicht nur gleichermaßen im Interesse aller liegen. Diese sollen darüber hinaus ebenfalls sachlich angemessen sein.11 Die Vernünftigkeit demokratischer Meinungs- und Willensbildung resultiert für Habermas dabei nicht aus einer reinen Aggregation stabiler Präferenzen oder Expertengesprächen, sondern aus der kommunikativen Verflüssigung aller individuellen Standpunkte im Medium öffentlicher Verständigung. Öffentliche Vernunft verbürgt dabei gleichzeitig Rechtmäßigkeit, weil ihr „nur solche Normen, Regeln oder Entscheidungen als legitim gelten, die auf eine durch Gründe gerechtfertigte, diskursiv erzeugte allgemeine Übereinstimmung zurückgehen […].“12 Ohne das egalitäre Forum einer Öffentlichkeit, an der alle gleichermaßen teilhaben, kann es keine Volkssouveränität und damit letztlich auch keine legitimen kollektiv bindenden Entscheidungen geben.13 III. Die Diskurstheoretikerin ist somit auf eine Menge optimistischer Annahmen festgelegt. Sie muss davon ausgehen, dass sich ausschließlich verständigungs­ orientierte Akteure gegenüberstehen, die das gemeinsame Zusammenleben nach den besten Gründen gestalten möchten. Habermas scheint hier eine starke geschichtsphilosophische These zu vertreten: Demnach gibt es keine unabhängigen Standards, die darüber entscheiden, was als guter Grund zählt. Vielmehr bleibt es den Zeitgenossen selbst überlassen, sich in rationalen Diskursen über angemessene Rationalitätsstandards zu verständigen. Diese stellen demnach einerseits notwendige Ermöglichungsbedingungen gelingender Interaktion dar, werden gleichzeitig aber immer wieder durch neue Begründungsmuster und kontextverändernde Lernprozesse destruiert und aktualisiert. Um trotzdem an seiner kognitivistischen Position festhalten zu können und nicht in einen begründungstheoretischen Zirkel zu geraten, muss Habermas dabei eine Art „unsichtbare Hand“ der 10 

Vgl. Habermas, 1992: 53 ff. Vgl. Habermas, 2009f. 12  Forst, 2007a: 224 f. 13  Vgl. Lafont, 2006: 7 f.; Kreide, 2016: bes. 142 f. 11 

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(kommunikativen) Vernunft unterstellen, die sich schrittweise als historischer Fortschrittsprozess entfaltet.14 Diese Konzeption rationaler Diskurse ist ungemein voraussetzungsreich. Angesichts des weltanschaulichen Pluralismus moderner Gesellschaften spricht vieles dafür, dem Verständigungspotential zwischen Fremden mit etwas mehr Skepsis zu begegnen, als es Habermas tut. Vielleicht sind also schon die Grund­ annahmen falsch und der darin ausgedrückte Vernunftoptimismus muss abgeschwächt oder korrigiert werden.15 John Rawls etwa hielt es für eine ausgemachte Tatsache, dass dem, was wir anderen gegenüber rechtfertigen können, natürliche Grenzen gesetzt sind.16 Es erschien ihm unerlässlich, im Rahmen einer Konzeption politischer Gerechtigkeit inhaltlich-substantielle Kriterien zu bestimmen, die den Raum guter politischer Gründe eingrenzen.17 Tatsächlich fällt es schwer in Anbetracht des andauernden Pluralismus offenbar unversöhnlicher Wertüberzeugungen große Hoffnungen zu hegen, dass sich ein allseitig anerkannter Rationalitätsstandard im freien Diskurs wie von Zauberhand durchsetzen wird. Diese Hoffnung scheint ebenso unbegründet wie die radikalkapitalistische Mär von der Selbstregulierung der Märkte. Was für den idealen Markt gilt, trifft mutatis mutandis ebenso für die ideale Sprechsituation zu: Beides sind kontrafaktische Idealisierungen, deren theo­retische Aussagekraft sich nicht ohne weiteres in die Praxis übertragen lässt.18 Doch selbst dann, wenn man dem generellen Ziel und der grundsätzlichen Möglichkeit einer kommunikativ erzielten Rechtfertigung mit etwas mehr Wohlwollen begegnet und sie nicht prinzipiell in Frage stellt, bleibt Habermas’ Diskurstheorie höchst anspruchsvoll. So muss unter anderem sichergestellt werden, dass wirklich alle möglicherweise Betroffenen ihre Gründe in den Diskurs einbringen. Andernfalls hätte man es doch wieder mit einem selektiven Verfahren zu tun, in dem ein historisch zufälliger Kreis von Privilegierten unter dem Deckmantel intersubjektiver Deliberation für alle anderen die Entscheidungen trifft. 14  Für Allen (2016: Kap. 2) gehört Habermas methodologisch daher eher in die Gruppe der rekonstruktivistischen Neo-Hegelianer als der konstruktivistischen Neo-Kantianer. 15  So haben u. a. Rehg und Bohman (2002) fehlende Pluralität und mangelnden Realitätsbezug in Habermas’ Konzeption der diskursiven Rechtfertigung angekreidet. Eine überzeugende Verteidigung findet sich in Kreide, 2016: 145 ff. 16  Vgl. Rawls, 1998: V2, § 2. 17  Vgl. Rawls, 2002. 18  Dieser Vergleich mag manchem etwas hergeholt erscheinen. Dazu nur in Parenthese: Der ideale Markt teilt mit der idealen Sprechsituation die Gemeinsamkeit, dass beides Ideale sind und damit in der Realität nicht herstellbar. Damit will ich keinesfalls bestreiten, dass es sich dabei nicht um geeignete Modelle für ihren je bestimmten Gegenstand handelt. Es bedarf aber zusätzlicher Maßnahmen, um die Verzerrungen ihrer nicht-idealen Konterparts auszugleichen.

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Genau diese Garantie einer wahrhaften Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder vermag Habermas’ Prozeduralismus nicht einzulösen. So richtig es ist, das Diskursprinzip rechtlich zu institutionalisieren – das heißt, alle Bürgerinnen und Bürger mit gleicher und umfassender kommunikativer Freiheit auszustatten und so ihre öffentliche Autonomie mittels positiven Rechts zu gewährleisten – die politische Meinungs- und Willensbildung bleibt letztendlich dennoch einem exklusiven Kreis von parlamentarischen Repräsentanten vorbehalten.19 Habermas weiß um dieses Problem und fordert deshalb, der parlamentarischen Öffentlichkeit kritische (Gegen-)Öffentlichkeit(en) und eine vitale Zivilgesellschaft entgegenzustellen, die den „Raum der Gründe“ (Sellars) ausreichend fluide halten und so den politischen Prozess sowohl kontrollieren als auch mit neuen Beiträgen und Informationen bereichern können.20 Dazu heißt es bei Habermas: „Das deliberative Modell begreift die politische Öffentlichkeit als Resonanzboden für das Aufspüren gesamtgesellschaftlicher Probleme und zugleich als diskursive Kläranlage, die aus den wildwüchsigen Prozessen der Meinungsbildung interessenverallgemeinernde und informative Beiträge zu relevanten Themen herausfiltert und diese ‚öffentlichen Meinungen’ sowohl an das zerstreute Publikum der Staatsbürger zurückstrahlt wie an die formellen Agenden der zuständigen Körperschaften weiterleitet.“21

Dieses Ideal kritischer Öffentlichkeit, die als vermittelnde Handlungssphäre zwischen Zivilgesellschaft und politischer Administration fungieren soll, ist auf Vollinklusion angelegt. Öffentlichkeit verlange schon ihrer Idee nach, so Habermas’ zentrale These, die vollständige Inklusion aller möglicherweise Betroffenen, um ihre Legitimationsfunktion erfüllen zu können. Das heißt, dass im Prinzip jedem, der bereit ist, sich öffentlich einzubringen, die Beteiligung offenstehen soll.22 Allerdings muss kaum daran erinnert werden, dass unter Bedingungen moderner Massendemokratien und einer fortschreitenden Globalisierung selbst diese basisdemokratische Forderung lebhafter Bürgerbeteiligung aus der Zivilgesellschaft längst als eine kaum zu realisierende Utopie realexistierender Demokratien angesehen wird. Nancy Fraser und andere haben schon früh auf das Problem einer systematischen Exklusion bestimmter Gruppen aus der bürgerlichen Öffentlichkeit hingewiesen.23 Diesbezüglich unterschiedet Bernard Peters drei Arten 19 

Vgl. Scheuerman, 2002: 70 ff. Vgl. Habermas, 1992: Kap. VIII. 21  Habermas, 2009f: 93. 22  Vgl. Habermas, 1962: § 5; Habermas, 1992: 435 ff. Für eine Diskussion siehe auch Gerhardt, 2012: 223 – 227, 252 – 255. 23  Vgl. dazu insbesondere die einschlägigen Beiträge in Calhoun, 1992. Für eine Diskussion siehe auch Fraser, 2009, sowie Allen, 2012. 20 

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möglicher Exklusion, die ich als formelle, informelle und strukturelle Exklusion bezeichnen möchte:24 „Exklusion kann die Form von formellen oder informellen Verboten haben, die es bestimmten Kategorien von Personen oder Mitgliedern bestimmter sozialer Gruppen untersagen, sich in der Öffentlichkeit zu äußern [formelle Exklusion; H.B.]; sie kann auch die Form der einfachen Nichtbeachtung haben [informelle Exklusion; H.B.]. […] Für unser Thema wichtiger sind […] die variablen Ungleichheiten oder graduierbaren Asymmetrien in Kommunikationen [strukturelle Exklusion; H.B.].“25

Diese „variablen Ungleichheiten“ und „graduierbaren Asymmetrien“, von denen hier die Rede ist, stellen strukturelle Barrieren der Öffentlichkeit dar, weil sie den Beteiligten die Möglichkeit verstellen, ihre Teilnehmerrollen voll wahrzunehmen. Peters benennt drei solcher Barrieren, die der Verwirklichung vollständiger Inklusion in Bezug auf gesellschaftliche Öffentlichkeit entgegenstehen: „Es gibt Ungleichheiten der Sichtbarkeit oder Vernehmlichkeit, des jeweils beanspruchten oder kontrollierten Anteils am öffentlichen Raum, es gibt Ungleichheiten des Einflusses; und es gibt schließlich asymmetrische Wissensvoraussetzungen in Kommunikationen.“26 Er resümiert: „Einige der genannten strukturellen Beschränkungen von Gleichheit und Reziprozität in der öffentlichen Kommunikation gehören zu den invarianten Grundmerkmalen moderner Gesellschaften: In großen Öffentlichkeiten ist der Anteil aktiver Sprecherrollen zwangsläufig klein im Verhältnis zur Größe des Publikums. Die asymmetrische Verteilung von Wissen, die mit wachsendem Umfang und wachsender Komplexität des sozialen Wissensvorrats einhergeht, ist nicht reversibel […]. Die modernen Massenmedien […] sind kaum denkbar ohne spezialisierte Kommunikationsrollen. Diese Bedingungen erzwingen offensichtlich Revisionen des Gleichheitsprinzips im Hinblick auf öffentliche Kommunikation.“27

Ganz davon abgesehen, dass unabhängige Kriterien fehlen, zwischen einer marginalisierten Minderheitenmeinung und purer Unvernunft zu unterscheiden, ist es eine offene Frage, wie in einer auch sozial differenzierten Gesellschaft die Bedingungen wirklich gleicher Beteiligung jemals erfüllt werden könnten. Vielen Bevölkerungsgruppen dürfte schlicht die öffentliche Wahrnehmung fehlen, ihren Themen und Gründen den nötigen Nachdruck zu verleihen, um parlamentarische Debatten effektiv zu beeinflussen. Mehr noch: Bestimmten Milieus fehlt darüber hinaus schlicht das Bewusstsein um die eigene Verantwortung und Einflussmöglichkeit, sodass sich relevante Themen hier quasi nur „von Außen“ aufgreifen ließen. Diese vielfältigen Exklusionsschwellen der Öffentlichkeit stellen 24 

Vgl. Behrendt, 2017: 64 ff. Peters, 2007: 70. 26 Ebd. 27  Ebd.: 80 (meine Hervorhebung). 25 

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ein erhebliches Legitimitätsdefizit politischer Gemeinwesen dar, weil große Teile der Bevölkerung dadurch von der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ausgeschlossen bleiben. Jenseits dieser bekannten Schwierigkeiten, die politische Öffentlichkeit so zu institutionalisieren, dass alle politisch aktiven Bürger wirklich wirksam partizipieren können, muss Habermas’ Vorschlag, die informelle kommunikative Macht des Volkes in das eigentliche, rechtlich institutionalisierte Organ der Rechtssetzung einzuschleusen, jedoch schon an einer weiteren, in der Fachdebatte bislang kaum beachteten Voraussetzung rationaler Begründungsdiskurse scheitern: „Die rationale Akzeptabilität der verfahrenskonform erzielten Ergebnisse erklärt sich aus der Institutionalisierung vernetzter Kommunikationsformen, die idealerweise sicherstellen, daß alle relevanten Fragen, Themen und Beiträge zur Sprache kommen und auf der Grundlage der bestmöglichen Informationen und Gründe in Diskursen und Verhandlungen verarbeitet werden.“28

Das heißt, nur wenn alle Beteiligten auch faktisch von ihrer rechtlich verbürgten Möglichkeit zur politischen Partizipation Gebrauch machen, ist die Bedingung eines wahrhaft inklusiven und damit legitimitätsstiftenden Begründungsverfahrens verwirklicht. Aus Habermas’ anspruchsvollem Legitimitätsprinzip folgt damit, recht besehen, dass eine Rechtsordnung nicht nur jedem Rechtssubjekt die positive Freiheit sichern muss, sich als Gleicher unter Gleichen in den Begründungsdiskurs einbringen zu können – sie müsste ihren Gebrauch letztlich sogar voraussetzen. Dass ein solcher (Rechts-)Grundsatz, der eine Teilnahme am Begründungsverfahren allgemein erzwingt, der privaten Autonomie entgegensteht und daher nicht ernsthaft verfochten werden kann, weiß freilich auch Habermas.29 Mit Christoph Möllers gesprochen: „Selbstbestimmung mag die Fähigkeit voraussetzen, sich rechtfertigen zu können; aber der Schutz der Selbstbestimmung muss auch davor schützen, sich stets rechtfertigen zu müssen“.30 Habermas’ Hoffnung, dass deliberative Demokratiekonzeptionen gegenüber republikanischen Spielarten auf die unrealistische Voraussetzung einer „kollektiv handlungsfähige[n] Bürgerschaft“31 verzichten könnten, muss damit aber verworfen werden. Vermutlich gibt es viele, die einfach nicht an der kollektiven Rechtsbegründung teilnehmen möchten, ja sich noch nicht einmal für Begründungsfragen interessieren.32 Doch auch gegenüber all diesen Gruppen muss der verbindliche Rechtszwang gerechtfertigt werden können, dem sie gegebenenfalls unterworfen sind. Selbst 28 

Ebd.: 210 (meine Hervorhebung). Vgl. Habermas, 2005: 109 f. 30  Möllers, 2009: 260. 31  Habermas, 2009c: 81. 32  Vgl. Crouch, 2008: Kap. 1. 29 

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dann also, wenn es gelingen sollte, soziale Asymmetrien so zu regulieren, dass eine wirklich gleiche politische Teilhabe möglich ist, scheint der von Habermas konstatierte doppelte Bezug der Rechtsgeltung zumindest für diese zuletzt genannten Akteure dauerhaft auseinanderzufallen.33 IV. Wenn diese Überlegungen stimmen und sich die legitimitätsverbürgenden Bedingungen der idealen Sprechsituation weder in einen fairen demokratischen Prozess übersetzen lassen noch durch Zwangsinklusion in die Arena öffentlicher Begründung erzwungen werden dürfen, muss jede Normbegründung immer auch Teil eines Stellvertreterdiskurses sein. Und wenn auch das stimmt, dann lassen sich soziale Normen (wenigstens was den konstitutionellen Rahmen der Rechtsetzung, -durchsetzung und -sprechung betrifft) niemals durch ein demokratisches Verfahren allein für alle Betroffenen gleichermaßen rechtfertigen. „Schön und gut“, mag der Diskurstheoretiker hier vielleicht einwenden wollen, „wer sich aus dem Diskurs ausklinkt, der soll sich nachher nicht über das Ergebnis beschweren.“ Eine solche Erwiderung ist jedoch aus dem folgenden Grund wenig überzeugend: Die Rechtfertigungspflicht sozialer Normen ergibt sich gerade aus ihrem allgemeinen Geltungsanspruch. Es leuchtet nicht ein, dass ihre Gültigkeit nur denen gegenüber gerechtfertigt werden muss, die sich in irgendeiner Weise damit auseinandersetzen. Die Rechtfertigung wird im Gegenteil jedem geschuldet, dessen Freiheit durch die Anwendung der Norm eingeschränkt wird. Zweitens könnte behauptet werden, dass die Positionen von Minderheiten und Diskursverweigerern von anderen mitbedacht werden könnten, etwa auf der Grundlage umfassender Meinungsumfragen usw. Aber genau diese Möglichkeit muss Habermas aus Gründen logischer Konsistenz zurückweisen. Da sich für ihn die Fairness der Ergebnisse eines Begründungsverfahrens einzig aus der Fairness ihrer Bedingungen ergibt, die – das folgt aus dem Diskursprinzip – eben nicht erfüllt sind, wenn nicht alle gleichermaßen am Diskurs teilnehmen, verbieten sich alle Kompensationsversuche dieser Art. Das stürzt den Diskurstheoretiker in das eingangs formulierte Dilemma: (i) Entweder muss er den Begründungsdiskurs um substantielle Prinzipien des öffentlichen Vernunftgebrauchs ergänzen, die eine allgemeine Rechtfertigung durch Stellvertreter erlauben, oder (ii) ihm muss jede Norm als legitim gelten, die aus dem nicht-idealen Diskurs hervorgeht – ungeachtet der wahren Gründe, die dabei ausschlaggebend waren. Möglichkeit (ii) verbietet sich aus den oben bereits genannten Gründen: Als freie und gleiche Staatsbürger müssen wir unser politisches Handeln und die da33 

Vgl. Habermas, 1992: 47 ff.

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rin unweigerlich zum Ausdruck kommende Ausübung politischer Macht allen anderen Mitbürgern gegenüber rechtfertigen können. Das ist das Grundprinzip politischer Gerechtigkeit. Das prozedurale Verfahren allein, wie Habermas es vorschlägt, genügt diesem Anspruch jedoch nicht.34 Ein unparteiisches Urteil erfordert vielmehr Gründe, die von einem unparteilichen Standpunkt aus gerechtfertigt sind. Um einen solchen Standpunkt zu modellieren, kann die ideale Sprechsituation durchaus als ein hypothetisches Darstellungsmittel herangezogen werden. Man kann sie benutzen, um zu bestimmen, welche Gründe wir aus dem Diskurs ausschließen müssen, weil sie nicht mit einem herrschaftsfreien Diskurs kompatibel sind. Wenn Habermas’ rekonstruktive Methode es erlaubt, bestimmte unhintergehbare Präsuppositionen zu benennen, die selbst nicht mehr diskursiv eingeholt werden – etwa, dass es sich bei demokratischen Staatsbürgern immer um freie und gleiche Bürger handelt – warum sollte man diesen „dogmatischen Kern“35 dann nicht auch um weitere substantielle Grundsätze der öffentlichen Vernunft erweitern, insbesondere wenn dadurch die Grundlagen politischer Legitimität effektiv gestärkt werden können? Ich habe hier einige Gründe präsentiert, warum dieser Schritt nicht nur folgerichtig, sondern rechtfertigungstheoretisch auch geboten wäre. Literatur Allen, Amy (2012): Public Sphere: Ideology and/or Ideal? In: Political Theory, 40 (6), 2012, 822 – 829. – (2016): The End of Progress: Decolonizing the Normative Foundations of Critical Theory. New York: Columbia University Press. Behrendt, Hauke (2017): Was ist soziale Teilhabe? Plädoyer für einen dreidimensionalen Inklusionsbegriff. In: Misselhorn, Catrin/Behrendt, Hauke (Hrsg.), Arbeit, Gerechtigkeit und Inklusion: Wege zu gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe. Stuttgart: Metzler, 50 – 76. Calhoun, Craig (Hrsg.) (1992): Habermas and the Public Sphere. Cambridge, Mass./London: The MIT Press. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt a. M: Suhrkamp. Forst, Rainer (2007a): Die Herrschaft der Gründe: Drei Modelle deliberativer Demokratie. In: ders., Das Recht auf Rechtfertigung: Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 224 – 269. – (2007b): Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit: Rawls’ Politischer Liberalismus und Habermas’ Diskurstheorie in der Diskussion. In: ders., Das Recht auf Rechtfertigung: Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 127 – 188. 34  35 

Vgl. dazu auch die Kritik in von der Pfordten, 2000: 32 ff. Habermas, 1992: 537.

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Fraser, Nancy (2009): Theorie der Öffentlichkeit. In: Brunkhorst, Hauke/Kreide, Regina/ Lafont, Christina (Hrsg.), Habermas Handbuch. Stuttgart: Metzler, 148 – 154. Gaus, Daniel (2013): Qualität statt Partizipation und Gleichheit? Eine Bemerkung zum epistemischen Sinn von Demokratie. In: Leviathan, 41 (2), 2013, 264 – 290. Gerhardt, Volker (2012): Öffentlichkeit: Die politische Form des Bewusstseins. München: C. H. Beck. Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1992): Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2005): Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? In: ders., Zwischen Naturalismus und Religion: Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 106 – 118. – (2009a): Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie. In: ders., Philosophische Texte: Studienausgabe in 5 Bänden: Bd. 4: Politische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 140 – 153. – (2009b): Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien? In: ders., Philosophische Texte: Studienausgabe in 5 Bänden: Bd. 4: Politische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 154 – 175. – (2009c): Drei normative Modelle der Demokratie. In: ders., Philosophische Texte: Studienausgabe in 5 Bänden: Bd. 4: Politische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 70 – 86. – (2009d): Wahrheitstheorien. In: ders., Philosophische Texte: Studienausgabe in 5 Bänden: Bd. 2: Rationalitäts- und Sprachtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 208 – 269. – (2009e): Richtigkeit versus Wahrheit: Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen. In: ders., Philosophische Texte: Studienausgabe in 5 Bänden: Bd. 3: Diskursethik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 382 – 434. – (2009f): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? In: ders., Philosophische Texte: Studienausgabe in 5 Bänden: Bd. 4: Politische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 87 – 139. Höffe, Otfried (2002): Politische Gerechtigkeit: Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat: Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kreide, Regina (2016): Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit. In: Koller, Peter/Hiebaum, Christian (Hrsg.), Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Berlin/Boston: De Gruyter, 135 – 152. Lafont, Christina (2006): Is the Ideal of a Deliberative Democracy Coherent? In: Besson, Samantha/Marti, José Luis (Hrsg.), Deliberative Democracy and its Discontents. Aldershot: Ashgate, 3 – 25. Möllers, Christoph (2009): Demokratie und Recht. In: Brunkhorst, Hauke/Kreide, Regina/ Lafont, Christina (Hrsg.), Habermas Handbuch. Stuttgart: Metzler, 254 – 263.

Unbestimmtheit – Eine Kritik an Habermas’ Prozeduralismus

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Hans-Ludwig Buchholz: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“. Friedrich Dürrenmatts „Dramaturgisches Denken“ als Methode der Politischen Theorie

„Uns kommt nur noch die Komödie bei“ Friedrich Dürrenmatts „Dramaturgisches Denken“ als Methode der Politischen Theorie Von Hans-Ludwig Buchholz „Uns kommt nur noch die Komödie bei“. Friedrich Dürrenmatts „Dramaturgisches Denken“ als Methode der Politischen Theorie Hans-Ludwig Buchholz

Abstract Works of literature are increasingly recognised as forms of political thought. However, research in political theory and the history of political thought lacks a sufficient methodology to deal with literary language. The œuvre of the Swiss author Friedrich Dürrenmatt offers an important theoretical and practical contribution to the debate. He develops a narrating form of philosophy, which creates distance, visualisations, and an openness of thought by means of literary instruments of style. Not only does his literary writing for theoretical purposes communicate the results of thought processes; it also reveals the necessity of and provides means and impulses for non-ideological political thought.

I. Politik und Literatur Seit den 1970ern und verstärkt in den 1980ern begann die Politische Theorie und Ideengeschichte, sich mit literarischen Werken zu beschäftigen. Unter dem Begriff „Politics and Literature“ bildete sich vor allem im angloamerikanischen Raum in dieser Zeit eine Nischendisziplin heraus.1 Kurz zuvor hatten bereits Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus die Disziplinengrenzen aufgeweicht.2 In Deutschland war die Entwicklung des Forschungsfeldes derweil sehr viel zurückhaltender.3 „Politics and Literature“ verstand sich von Anfang an als Gegenbewegung zu einer als unnötig starr empfundenen Abgrenzung der Wissenschaftsdisziplinen und Gattungen gegeneinander. Die Wiedereingliederung literarischer Sprache in das politische Denken wendet sich dabei gegen die klassisch liberale Trennung

1  Besonders hervorzuheben sind aus dieser Zeit: Crick, 1989; Ingle, 1977; Spegele, 1971; Whitebrook, 1984; Wilding, 1980; Zuckert, 1981. 2  Etwa Derrida, 1974. 3  Ottmann, 1996.

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zwischen rigoros wissenschaftlicher Textanalyse und privatem Lesen4 sowie gleichzeitig gegen eine szientistische und behavioralistische Politiktheorie, die versucht, sich gegen als trivial empfundene Literatur abzugrenzen.5 Die klassische Politiktheorie trennt also klar zwischen einer nach Eindeutigkeit strebenden, „problemlösenden“ theoretischen Sprache und einer offenen, vieldeutigen „welterschließenden“ literarischen oder poetischen Sprache.6 „Politics and Literature“ sieht hingegen eine absolute Trennlinie zwischen den Sprachen sowohl in der Praxis als auch in der sie beschreibenden Theorie skeptisch. Vor allem geht es dieser Forschung darum, die Stärken der literarischen Sprache als ein zusätzliches Instrument für die Theorie nutzbar zu machen. Ausdrücklich soll theoretische Sprache nicht durch literarische Sprache ersetzt werden, sondern es sollen der Theorie durch das Erlernen einer zusätzlichen Sprache neue Möglichkeiten geschaffen werden. Diese zusätzlichen Möglichkeiten sind zugleich die Argumente der Verfechter von „Politics and Literature“. Zum einen geht es hier praktisch um eine Erweiterung der Quellenbasis. Vor allem in der Ideengeschichte, so das Argument, könne ein Blick auf literarische Quellen zusätzliche Ideen, Kontexte, Erklärungen etc. erschließen.7 Zum zweiten hätten literarische Werke die Besonderheit der sprachlichen Selbstreferenzialität, definiert als „Einsicht in die eigene Darstellungsstruktur und deren Effekte, ja eine Einsicht in das, was Darstellung und Sprache überhaupt sind“.8 Diese Werke seien damit besondere Instrumente, auch um die Rolle von Sprache in Politik zu untersuchen. Literatur führe letztlich der Wissenschaft aktiv das vor, „was diese ablehnt, nämlich die Souveränität der Sprache“.9 Zum dritten sei literarische Sprache per definitionem offen, vieldeutig, fiktiv, dialektisch und spielerisch. Dadurch könne sie emotionale, irrationale, widersprüchliche und komplexe Probleme besser verstehbar machen oder beschreiben als eine zwangsweise klare theoretische Sprache: „The questions that led political scientists to look to works of art for enlightenment concern the aspects of human life that are most difficult, if not impossible, to study and observe externally or objectively – the attitudes, emotions, and opinions that shape and are shaped by people’s circumstances, especially their political circumstances“.10

4 

Whitebrook, 1984: 4. Horton/Baumeister, 1996: 4, 8; O’Donnell, 2010: 279, 284; Zuckert, 1995: 189. 6  Habermas, 1985: 240 – 246. 7  O’Donnell, 2010: 284; Ottmann, 2001: V; Rorty, 1984: 74; Whitebrook, 1995: 60. 8  Horn/Menke/Menke, 2005: 7. 9  Barthes, 2006: 16. 10  Zuckert, 1995: 189: ähnlich Horton/Baumeister, 1996: 11 – 19; Nussbaum, 1990: 3, 7; Whitebrook, 1995: 60; dies., 1996: 48. 5 

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Konkret kann Literatur die Disziplin „Politische Theorie“ auf mehrere Arten ergänzen:11 (1) als Illustration und Beispiel in politischen Theorien, (2) als Medium nichtakademischer Kommunikation, (3) als Quelle für Formen der Soziologie oder Geschichtsschreibung, die politische Einflüsse auf das Denken von Autoren untersuchen, (4) als Primärquelle der Politischen Theorie und Ideengeschichte und (5) als eigenständige oder gleichberechtigte Form des politischen Denkens. Lediglich die beiden letzten Formen beschreiben eine tatsächliche Verbindung zwischen Theorie und Literatur, denn nur hier nutzt Politische Theorie die Möglichkeiten literarischer Sprache tatsächlich, statt nur hin und wieder Querverweise auf einzelne Werke zu nennen. Gerade diese sprachlichen Besonderheiten stellen jedoch ernste Probleme für das Schreiben und Interpretieren in der Politischen Theorie dar. Entsprechende methodische Überlegungen sind bisher noch nicht kohärent und umfassend ausgearbeitet worden.12 Ziel solcher methodischen Überlegungen müsste es sein, Möglichkeiten zu finden, die Besonderheiten literarischer Sprache zu nutzen ohne sie lediglich per Interpretation direkt in theoretische Sprache zu übersetzen.13 Wenn literarischer Text durch die Interpretation noch vor seiner Nutzung in eine theoretische, eindeutige Form übersetzt würde, könnte beispielsweise seine Vieldeutigkeit nicht mehr das Nachdenken über vieldeutige moralische Phänomene informieren.14 Politische Theorie bräuchte also das notwendige Bewusstsein und methodische Instrumentarium, um ihre klassischen Denk- und Schreibweisen mit offeneren literarischen zu kombinieren. Es ist daher ein vielversprechender Ansatz, sich Debatten, Autorinnen und Autoren in der Literatur zuzuwenden und sie aus Sicht der Politischen Theorie neu zu durchdenken. Dies soll im Folgenden mit den im Œuvre Friedrich Dürrenmatts dargestellten Überlegungen geschehen. Sie sollen zunächst skizziert werden, um sie anschließend für die Politische Theorie nutzbar zu machen. II. Politik und Literatur bei Friedrich Dürrenmatt15 Der Schweizer Dramatiker Dürrenmatt (1921 – 1990) ist für diese methodische Expedition in das Gebiet der Literaturwissenschaft deshalb besonders interes11 

Aufgelistet bei Spegele, 1971: 108, und Whitebrook, 1995: 56. Derrida, 2001: 11; Stow, 2007: 156. 13  O’Donnell, 2010: 290; Zuckert, 1995: 190. 14  Kern, 2005: 71. 15  Texte Dürrenmatts werden im Folgenden nach der Werkausgabe in 37 Bänden (Dürrenmatt, 1998) zitiert. Um die Zuordnung zu einzelnen Texten zu erleichtern werden statt Verweisen auf die Sammelbände Kurztitel der Texte angegeben. Folgende Kurztitel werden verwendet: 55 Sätze – 55 Sätze über Kunst und Wirklichkeit (Band 34); Angers – Zu den Teppichen von Angers (32); Aspekte – Aspekte des dramaturgischen Denkens (30); 12 

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sant, da er sich sowohl theoretisch als auch praktisch ausführlich mit den Möglichkeiten politischen Denkens durch, in und mit Literatur befasste. Sich selbst beschrieb Dürrenmatt einmal als „verkleidete[n] Philosoph[en]“.16 Bekannt ist er zwar vor allem durch seine Komödien und Kriminalromane. Sein Werk umfasst daneben jedoch eine große Zahl weniger bekannter Prosatexte. Sie enthalten neben politischen Ideen und einer Dramentheorie auch grundsätzliche und methodische Überlegungen zum Zusammenwirken von Literatur und politischem Denken. Letztere wendet Dürrenmatt bereits an, während er sie erarbeitet und ausdrückt. Seine Prosatexte sind in einem eigentümlichen theoretisch-literarischen Mischstil verfasst, der literarische Sprache bereits in den Dienst des theoretischen Denkens stellt: „[Sein] anspielungsreiches Formenspiel bildet die Gedankenspiele dahinter genau ab“.17 Sichtbar wird bereits hier, dass die literarische Form für Dürrenmatt nie eine nur ästhetische Bedeutung hat, sondern auch essentieller Bestandteil seiner Art der Philosophie und des Nachdenkens ist.18 Alle seine Schriften und Genres sind potentiell gleichwertig für die Interpretation und die literarischen Elemente sind zentrale Teile der theoretischen Schriften, deren Literarität potentiell bedeutsam ist. Dürrenmatts Konzeptionen entspringen seiner Schreibpraxis sowie seiner Sicht auf die Welt, nicht den Regeln eines festen Systems.19 Er bezeichnet sein Dramaturgien – Zwei Dramaturgien? (30); Frank der Fünfte – Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank (6); Gerechtigkeit – Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht. Eine kleine Dramaturgie der Politik (33); Hoffnung – Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen. Laudatio auf Michail Gorbatschow (36); Komödie – Anmerkungen zur Komödie (30); Kriegsblinden-Preis – Ansprache anläßlich der Verleihung des Kriegsblinden-Preises (16); Kulturpolitik – Über Kulturpolitik (34); Kunst und Wissenschaft – Kunst und Wissenschaft oder Platon oder Einfall, Vision und Idee oder Die Schwierigkeit einer Anrede oder Anfang und Ende einer Rede (36); Labyrinth – Labyrinth. Stoffe I-III (28); Literaturpreis – Rede zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Bern (34); Mitmacher – Der Mitmacher (14); Mitmacher-Nachwort – Nachwort (14); Nachgedanken – Nachgedanken unter anderem über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Judentum, Christentum, Islam und Marxismus und über zwei alte Mythen (35); Paragraphen – Zehn Paragraphen zu „Romulus der Große“ (2); Physiker – Die Physiker; (7); Romulus – Romulus der Große (2); Sätze – Sätze über das Theater (30); Sinn – Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit (32); Stadt – Die Stadt (19); Theaterprobleme – Theaterprobleme (30); Turmbau – Turmbau. Stoffe IV-IX (29); Wega – Das Unternehmen der Wega. Ein Hörspiel (17); Winterkrieg – Der Winterkrieg in Tibet (28); Zusammenhänge – Zusammenhänge – Essay über Israel. Eine Konzeption (35). Gespräche und Interviews Dürrenmatts werden unter Angabe des Kurztitels „Gespräche“ nach der vierbändigen Gesprächssammlung (Dürrenmatt, 1996) zitiert. 16  Gespräche III: 208. 17  Arnold, 1990: 15. 18  Kaiser, 1990: 104. 19  Theaterprobleme: 65.

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Vorgehen als „Dramaturgie vom Stoffe her“, im Gegensatz zur „Dramaturgie vom Zwecke her“ bei Schiller und Brecht und der „Dramaturgie vom Einzelnen her“ von Ionesco.20 Dramaturgie, oder weiter gefasst: literarische Formen, dienen demnach der Darstellung und dem Durchdenken eines Stoffes (d. h. eines als Narration darstellbaren Problemkomplexes wie z. B. eine gesellschaftliche Rolle, eine Norm, ein politisches System oder eine moralische Frage). Die Beschaffenheit des Stoffes verlangt eine Form, die das Durchdenken, Bewerten und unverfälschte Betrachten des Stoffes ermöglicht. Dürrenmatts philosophische Methode ist also die des Durchdenkens mit Hilfe passender literarischer Formen. Sein Begriff für dieses Vorgehen ist „dramaturgisches Denken“. 1. Labyrinth und Sisyphos: Dürrenmatts Weltsicht und Menschenbild Ausgangspunkt des Denkens Dürrenmatts ist seine Sicht auf die Welt und den Einzelnen, denn sie sind es, die Dürrenmatt mit seiner literarischen Philosophie durchdenken will. Sie sind die zentralen Fixpunkte seiner Stoffe. Dürrenmatt sieht den Menschen als grundsätzlich irrational, komplex und widersprüchlich und kommt daher zu dem Schluss: „In der Menschenwelt gibt es nur mehrdeutige Antworten“.21 Er unterscheidet jedoch strikt zwischen allgemeinem und besonderem Begriff des Menschen, also zwischen Menschheit und Mensch.22 Der Menschheit begegnet Dürrenmatt mit großer „Hoffnungslosigkeit“.23 Seine Dramen sind geprägt von Weltuntergängen 24, und die Prosatexte sprechen immer wieder von einer Welt, die vor der Menschheit kaum noch zu retten sei.25 Folglich widmet Dürrenmatt sein Schreiben der Hoffnung für die einzelnen, subjektiv und potenziell vernünftig denkenden Menschen. Zwar seien auch sie geprägt von Irrationalität, doch sei dies eine Irrationalität, die sich nicht nur in Unverständlichkeit, sondern auch in Emotionalität und Fantasie ausdrücken könne.26 Der Einzelne sei daher potenziell fähig zu Moral und Vernunft.27 An diesem Punkt setzt Dürrenmatts Kunst an. Über den „Sinn der Dichtung in unserer Zeit“ schreibt er: „Die Chance liegt allein noch beim Einzelnen. Der Einzelne hat die Welt zu bestehen. Von ihm aus ist alles wieder zu gewinnen“.28 20 

Aspekte: 106 – 118. Gespräche III: 166. 22  Gerechtigkeit: 56. 23  Brock-Sulzer, 1990: 35. 24  Siehe beispielhaft Physiker; Romulus; Wega. 25  Besonders drastisch in Angers: 149 f. 26  Gespräche IV: 69; Nachgedanken: 176 f. 27  Mitmacher-Nachwort: 107 ff; Brock-Sulzer, 1990: 35 f. 28  Sinn: 67. 21 

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Aufgabe des Schriftstellers sei es folglich nicht (wie Brecht es versucht habe29 und wie politische Theorien es versuchen müssten30) mit Thesen die Welt selbst retten zu wollen, sondern dem Einzelnen beim Denken und der Wahrnehmung seiner Chance zu helfen. Dies sei die Bedeutung jener Metaphern, die in den Dramen Dürrenmatts hinter den verschiedenen Figuren immer wieder zum Vorschein kommen: „der Rebell (die ewige Rebellion), Atlas (das Weltertragen), Sisyphos (das Nieaufgeben), Minotaurus (der Vereinzelte)“.31 Dürrenmatts Weltsicht ist so negativ wie sein Bild von der Menschheit insgesamt: Seine bevorzugte Metapher für die Welt ist das Labyrinth und sein Schreiben entspricht seinem Betreten dieses Labyrinths.32 Die Metapher beschreibt „das getreue Abbild einer bildlos gewordenen Welt, nicht im Sinne eines mythischen Symbols, sondern als reale Topographie des Lebens und als literarische Konkretion der Wirklichkeit“.33 Die (moderne) Welt sei geprägt von Komplexität und genereller Unverstehbarkeit. Dies gelte besonders in der Politik: „Der heutige Staat ist unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden […]. Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone. Der Staat hat seine Gestalt verloren […]“.34 Diese Weltsicht, verbunden mit den oft zynischen Weltuntergängen der Komödien, wurde häufig als Kapitulation vor der Welt missverstanden: „Die Wirklichkeit wird, überspitzt formuliert, zu einem unbeeinflußbaren, unveränderlichen Chaos dämonisiert, mit dem man sich abzufinden hat“.35 Jedoch beschreibt Dürrenmatt ausdrücklich seine Hoffnung. Obwohl ein Einreißen des Labyrinths durch die gesamte Menschheit utopisch sei, könne der Einzelne das Labyrinth als Einzelner betreten und versuchen, es subjektiv zu lösen.36 Die labyrinthische Welt sei weder verstehbar noch planbar und könne daher nicht von einer angeleiteten oder überzeugten Menschheit oder von einer universellen Ideologie umgeformt werden ohne alles nur noch schlimmer zu machen. Jedoch könnten Menschen als denkende Individuen freiwillig Lösungen finden und so als Summe von Einzelnen eine unbewusste, „letztmögliche“ Lösung erreichen: „Nicht der Einzelne verändert die Wirklichkeit, die Wirklichkeit wird von allen verändert. Die Wirklichkeit sind wir alle, und wir sind immer nur Einzelne. Eine der Schwierigkeiten der Politik liegt in diesem dramaturgischen Satz“.37 29 

Aspekte: 110 f. Hensel, 1990: 32. 31  Gespräche III: 217. 32  Labyrinth; Literaturpreis: 174. 33  Arnold, 1998: 55. 34  Theaterprobleme: 59 f. 35  Durzak, 1973: 38; ähnlich Leiser, 1990: 20; Knopf, 1988: 181, 194. 36  Mitmacher-Nachwort: 108 f. 37  Gerechtigkeit: 96. 30 

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Jeder Lösungsansatz müsse subjektiv und unideologisch sein. Eine objektive Erklärung und Lösung der Welt gebe es nicht – lediglich eine mögliche Darstellung, die dann subjektiv von jedem Einzelnen ausgedeutet und genutzt werden könne. In seinen Dramen und Romanen38 lässt Dürrenmatt daher fiktive Einzelne versuchen, aus labyrinthischen Situationen moralisch erhobenen Hauptes herauszufinden. Er gibt damit den realen Einzelnen im Publikum erste Ansatzpunkte, Hinweise und Anregungen für ihren eigenen subjektiven Weg durch das Labyrinth.39 Literatur ist für Dürrenmatt notwendig, um der Unerklärlichkeit der Welt und der zwangsläufigen Subjektivität menschlichen Handelns begegnen zu können. Die dahinterliegende Epistemologie definiert er in Abgrenzung zur klassischen Philosophie und ihrer Denkmethoden, insbesondere zu Platon: „Platon destillierte aus der Sprache […] reine Begriffe, die wie riesenhafte, aber inhaltslose Wortblasen in der intelligiblen Welt seines Geistes verschwinden“.40 Sprache sei jedoch grundsätzlich uneindeutig und interpretationsbedürftig. Werde sie dennoch zur Vermittlung eindeutiger Aussagen und zur Suche oder Darstellung eindeutiger Wahrheiten gebraucht, drohe die Sprache, zur gefährlichen Ideologie zu werden.41 Weil Dürrenmatt der Sprache misstraut, hält er eine Philosophie für unmöglich, die versucht in der Sprache und mit der Sprache eindeutige Wahrheiten zu finden.42 Die Lösung sei eine durch literarische Sprache entideologisierte, nicht absolute Philosophie, die Einzelne zum Denken befähige, statt ihnen ein Denken aufzuzwingen.43 Diese andere Philosophie könne durch literarische Sprache angestoßen werden. 2. Distanz, Verbildlichung und das Aushalten von Widersprüchen: Die Funktionen der Komödie Das offene Denken des Einzelnen, das Dürrenmatt mit seinem literarischen Gegenentwurf zu den geschlossenen Erklärungen der klassischen Philosophie anstoßen möchte, stützt sich auf ein epistemologisches Wechselspiel aus Distanz und Nähe, welches durch die Komödie ideal ermöglicht werde. Er fasst dies in

38 

Besonders deutlich in Mitmacher, Physiker, Stadt, Winterkrieg. Hensel, 1990: 41. 40  Kunst und Wissenschaft: 90. 41  „Ideologie“ nennt Dürrenmatt Ideen und Welterklärungen, die durch ihre Emotionalisierung Absolutheitsanspruch erlangen (Zusammenhänge: 96). Dürrenmatt lehnt sie als Scheinwahrheiten (Gespräche III: 87), Bedrohung der Freiheit des Einzelnen (Mitmacher-Nachwort: 156) und Ursache von Krieg und Unterdrückung (Gerechtigkeit: 63 f.) ab. 42  Sinn: 62 – 66. 43  Aspekte: 117. 39 

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dem doppeldeutigen Aphorismus „Uns kommt nur noch die Komödie bei“44 zusammen. Verstanden als „Nur noch die Komödie kann uns und unsere Welt beschreiben“, verweist der Satz auf den Schritt zurück, den Dürrenmatt durch Kunst und Kunstrezeption ermöglichen will. Der Ausweg aus dem Labyrinth führe, bildhaft gesprochen, nach oben, von wo aus zumindest ein Überblick über die endlosen, verworrenen Pfade gelingen könne. Der Einzelne brauche Distanz zu sich selbst, seiner Lage, seinen Problemen und seiner Umgebung, um diese durchdenken zu können, und diese Distanz sei durch die Unbedingtheit der Kunst möglich:45 „Man schafft sich eine Welt auf der Bühne, um unbedingter Denken zu können“.46 Hier wird erneut die bereits angesprochene Chance des einzelnen Subjekts relevant, unabhängig und gegebenenfalls gegen die Vorgaben der Gesellschaft zu denken.47 Die Distanz auf der Bühne heißt für dieses Subjekt erst einmal Dis­ tanz zur eigenen Situation, um über sich selbst nachdenken zu können, ohne sich im Labyrinth aus eigenen Ängsten, Wünschen, Interessen und Erwartungen zu verfangen. Hierzu will Dürrenmatt das Publikum „durch Stücke in seinen Fall, der immer auch politisch ist, hinein[]listen“.48 Er erschafft Figuren, an Hand derer der Einzelne seine Situation unparteiisch durchdenken kann: „Die Gestalten [erwähnt werden der Henker, Romulus, Bodo von Übelohe-Zabernsee, Akki und Titus Andronicus], mit denen ich mich beschäftigte, […] sind meine Träume, in denen immer wieder ein Motiv auftaucht, unerbittlich, ein einziges bloß, die Möglichkeit, an die ich glaube, an die ich mich anklammere, die Möglichkeit, ganz ein Einzelner zu werden, die Möglichkeit der Freiheit“.49 Distanz schafft Dürrenmatt zudem zur labyrinthischen Welt. Auch hier ist sein Mittel die Kunst, insbesondere die Komödie: „Jedes Kunstwerk braucht zu seinem Inhalt Distanz. […] Ist sein Inhalt die Tragödie, ist seine Distanz die Komödie. […] Distanz wird durch Humor möglich“.50 Die Absage richtet sich hier nicht nur gegen die Tragödie, sondern genauso gegen jedes andere Schreiben, das versucht, mit Ernsthaftigkeit und eindeutigen moralischen Kategorien die Welt zu erklären. Auch eine entsprechende Philosophie kommt uns demnach nicht mehr bei, d. h. sie ist zwangsläufig von der Welt überfordert, so lange sie von Menschen betrieben wird. Es geht Dürrenmatt schließlich um Verstehen und Erkenntnis, nicht um ein möglichst mitleiderregendes aber im Nachhinein unglaubwürdiges 44 

Theaterprobleme: 62. Kunst und Wissenschaft: 78. 46  Gespräche I: 103. 47  Knapp, 1993: 22. 48  Gespräche III: 216. 49  Mitmacher-Nachwort: 208. 50  Sätze: 162 f. 45 

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Spektakel auf der Bühne.51 Während also in der Philosophie und weniger stark in der Tragödie, so beschreibt das Knopf, „die Sprache die Sache unmittelbar selbst“ meine, ermögliche die Komödie „die Insistenz darauf, daß Wort und Sache auseinanderklaffen, daß die Sprache, beim Wort genommen, zur Distanzierung gegenüber der gemeinten Sache beitragen kann, daß sprachkritisches Verfahren […] zugleich komödiantisches Verhalten ist“.52 In der Praxis müssen etwa Zuschauer und Zuschauerinnen im „Besuch der alten Dame“ gerade durch die satirischen Überhöhungen, Wortspiele und Kalauer nicht direkt überlegen, ob sie selbst das Angebot der Claire Zachanassian angenommen hätten53 (mit aller Unehrlichkeit, Schönrednerei oder Rechtfertigung durch die eigene Not, die dies mit sich bringen müsste). Sie können stattdessen unbedacht über die Güllener urteilen – und sich erst hinterher bewusstwerden, dass sie damit auch über die Ungerechtigkeiten und Schein-Rechtfertigungen des eigenen Alltags geurteilt haben. Auf diese Weise wird zudem erreicht, dass das Publikum sich nicht mit einer Identifizierung und Bemitleidung des Opfers herausreden kann. „Auch die Opfer sind [in der Komödie] ‚komisch‘, weil es unmenschlich ist, Opfer sein zu müssen, weil die Opfer dadurch, daß sie Opfer sind, von dem getrennt sind, was sie sein könnten: Menschen“.54 Dürrenmatt verhindert durch Genre und Form bewusst Sympathien der Zuschauer für seine Figuren55 und ermöglicht damit ein distanziert-neutrales Durchdenken von deren Lage: Eine Lage, die zwar nicht in der dargestellten Überhöhung, aber doch in ihren Grundzügen immer auch die des Publikums sein könnte. Dürrenmatts programmatischer Aphorismus kann zugleich auch im Sinne von „Nur noch die Komödie geht uns nahe“ verstanden werden. Während nämlich Dürrenmatts Literatur, und eben besonders die Komödie, die Funktion hat, die Distanz aus der Verfangenheit zu ermöglichen, soll sie gleichzeitig die labyrinthische Welt fassbar, zugänglich, menschlich und verstehbar machen.56 So, wie die Distanz des Lesers zum Stoff ihm helfe, diesen unverfälscht und in seiner Gänze zu erkennen, so müsse er zudem ein sichtbares Bild des Stoffes haben, um ihn in seiner Komplexität zu erfassen: „Der Schriftsteller gebe es auf, die Welt retten zu wollen. Er wage es wieder, die Welt zu formen, aus ihrer Bildlosigkeit ein Bild zu machen. […] Indem er entschieden etwas anderes betreibt als eine Philosophie, 51 

Komödie: 25; Theaterprobleme: 36 f. Knopf, 1976: 33 f. 53  In der Komödie bietet die Milliardärin Claire Zachanassian den Einwohnern des Städtchens Güllen eine Milliarde für die Ermordung ihres ehemaligen Verlobten Alfred Ill und stürzt die verarmte Gemeinde so in einen Gewissenskonflikt. Am Ende können die Bürger nicht widerstehen und morden gemeinsam. 54  Dramaturgien: 149. 55  Käppeli, 2013: 81 f. 56  Muhres, 1974: 64. 52 

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die vielleicht nicht mehr möglich ist. Indem er entschieden den Tiefsinn fahren lässt, indem er die Welt als Materie verwendet“.57 Die Verbildlichung der Welt sei gerade durch die Literatur, verstanden als „natürliches Werkzeug, das der Mensch zur Erkenntnis braucht“,58 zu leisten, denn Irrationalität und Fantasie, zwei der Besonderheiten literarischer Sprache, könnten dem Menschen helfen, das zu erfassen, was rein rational nicht erklärt oder erfasst werden könne, beispielsweise Emotionen oder irrationales Verhalten.59 Im Anschluss an Russel und Popper schreibt Dürrenmatt daher: „Was [die Ratio] Intuition nennt, ist Phantasie, ist das Irrationale: ohne diesen Nährboden kommt die Ratio auch nicht weiter“.60 Anstelle der komplexen, unverstehbaren Welt selbst stellt Dürrenmatt die von ihm gezeichneten Bilder und Figuren auf die Bühne. Insbesondere die Figuren heben Teilaspekte bzw. Teilwirklichkeiten der Welt hervor, die dann isoliert durchdacht werden können, und sie beschäftigen sich so mit bestimmten abstrakten Konzepten, dass diese als konkrete Verbildlichung, d. h. als sichtbares Problem auf der Bühne erscheinen.61 So spielt Dürrenmatt in der Komödie „Frank der Fünfte“62 verschiedene Formen der Freiheit – positive und negative Freiheit, selbst genommene und gegebene Freiheit, scheinbare Unfreiheit etc. – an Hand seiner Figuren und deren Handlungen parodistisch durch. Oder er greift in „Romulus der Große“ die fiktive Teilwirklichkeit63 eines Menschen in einer nicht mehr rettbaren Situation heraus und führt daran die trotz allem noch möglichen Handlungen und Nicht-Handlungen zur moralischen Beurteilung vor. Dürrenmatt zielt mit Literatur nicht auf die Abbildung der gesamten Welt und nicht auf allgemein gültige Wahrheiten oder Erklärungen. Die Dramatik, könne stattdessen ein „Spiegel“ der Wirklichkeit sein, in dem der Einzelne je nach Standpunkt eine bestimmte Wahrheit über die Wirklichkeit sehen könne.64 Dürrenmatt distanziert die Literatur damit lediglich von einer absoluten, vom Individuum gelösten und letztlich in der Sprache „nicht mehr möglichen“ Form der 57  Sinn:

67. Gespräche I: 226. 59  Keller, 1999: 326. 60  Nachgedanken: 177. 61  Käppeli, 2013: 75. 62 Die Bankangestellten der Komödie handeln nach angeblichen Notwendigkeiten, zum Leid anderer und bis zu ihrem eigenen Untergang. Am Ende müssen sie jedoch erkennen: „Es gibt kein Erbe, das nicht auszuschlagen wäre, und kein Verbrechen, das getan werden muß. Wir waren frei […]“ (Frank der Fünfte: 92). 63  Die Komödie über Westroms letzten Kaiser ist nur scheinbar historisch. Teilaspekt der Wirklichkeit ist die Komödie für Dürrenmatt dennoch, da sie tatsächlich mögliche menschliche Handlungsweisen darstellt (Paragraphen: 124). 64  Sätze: 210 f. 58 

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Philosophie. Er verweigert der Literatur nicht die Möglichkeit, philosophisch zu denken. Stattdessen erklärt er sie zur Methode einer „noch möglichen“, gewissermaßen postmodernen Philosophie, die jeder Einzelne für sich betreiben müsse. All dies dient einer Denkweise, die bestrebt ist, theoretisches Denken zu ergänzen und beständig daran zu erinnern, dass eindeutige Antworten immer eine Verengung des zu Grunde liegenden Stoffes sind. Es geht darum, die Notwendigkeit des Suchens nach erklärender Eindeutigkeit (in der Philosophie) und die Erkenntnis der Mehrdeutigkeit (in der Literatur) in ihrer Widersprüchlichkeit auszuhalten.65 Die literarische Form ist der Versuch, Wirklichkeit (oder einen Teil davon) nicht verkürzt, sondern in ihrer Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit pointiert darzustellen:66 „Es ist sinnlos, das Theater für irgendeine politische Tendenz zu verwenden, die auf Spruchbändern oder mit Zeitungsartikeln deutlicher darzustellen ist. Das Theater ist nicht eindeutig, sondern mehrdeutig, weil die Menschheit ihrer politischen Struktur nach und in ihrer wirtschaftlichen Verflochtenheit nur mehrdeutig und nicht eindeutig darzustellen [im Gegensatz zu: erklären oder lösen] ist“.67 Da es die Widersprüche, Konflikte und Paradoxien sind, die für Dürrenmatt die Welt ausmachen und die zur Erstellung von Lösungsversuchen erkannt werden müssen, sind sie es auch, die in einer Abbildung der Welt oder ihrer Teilwirklichkeiten nicht fehlen dürfen.68 „Deshalb zwingt [Dürrenmatt] seine Zuschauer, auf den Stühlen hin- und herzurutschen, nicht wissend, was sie von den Figuren auf der Bühne halten sollen. […] Streckenweise steckt die Doppeldeutigkeit in jedem Satz“.69 Bilder und Gegenbilder wechseln sich ab, ohne dass der Zuschauer sich von einem überzeugen lassen kann.70 Und am Ende steht „ein akzeptiertes Nicht-Wissen um das Rätsel der Welt“.71 Dürrenmatt stiehlt sich damit nicht aus der Verantwortung der Lösungsfindung. Er verzichtet dort auf eine objektive Lösung, wo es sie in seinen Augen nicht (mehr) geben kann. Folglich ist etwa bis zum Schluss der Komödie unklar, ob Romulus in der Zerstörung seines Reiches scheitert und seine Nächsten im Stich lässt oder ob er gerade durch sein Nichts­ tun den unausweichlichen Untergang möglichst unblutig akzeptiert und so zum Helden wird. Ähnliches gilt für die Figuren in „Ein Engel kommt nach Babylon“, „Frank der Fünfte“, „Herkules und der Stall des Augias“, „Die Physiker“, „Der Besuch der alten Dame“ und „Die Wiedertäufer“. 65 

Labyrinth: 68 f.; Sinn: 68 f. Arnold, 1990: 11; Käppeli, 2013: 63. 67  Kulturpolitik: 52. 68  Mitmacher-Nachwort: 108 f.; Theaterprobleme: 63; Zusammenhänge. 69  Berghahn, 1956: 101. 70  Knopf, 1976: 35; Käppeli, 2013: 72. 71  Keller, 1999: 88. 66 

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3. Dramaturgisches Denken Die Technik des Nachdenkens in und durch Literatur, notwendig für Einzelne in einer labyrinthischen Welt und ermöglicht durch Distanz, Verbildlichung und Vieldeutigkeit, nennt Dürrenmatt „dramaturgisches Denken“: „Meine Denktechnik als Dramatiker besteht darin, die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen in Theater zu verwandeln und mit dieser verwandelten Wirklichkeit weiterzudenken. Ich denke die Welt durch, indem ich sie durchspiele. Das Resultat dieses Denkprozesses ist nicht eine neue Wirklichkeit, sondern ein komödiantisches Gebilde, in dem sich die Wirklichkeit analysiert wiederfindet. Diese Analyse ist von der Einbildungskraft bestimmt, vom Gedankenexperiment, von der Spielfreude, sie ist darum nicht streng wissenschaftlich, sie ist in vielem leichtfertig doch gerade darum nützlich“.72 Die literarische Form ist hier nicht nur ein Medium, um bestimmte Inhalte auszudrücken, sondern ein Instrument des Denkens, ebenso bedeutsam wie der Inhalt selbst. Bei Dürrenmatt ist die Schöpfung und Interpretation der aus bestimmten Formen heraus entwickelten Narrationen schon Teil des Durchdenkens eines Problems (oder Stoffs). „Sein ‚dramaturgisches Denken‘ erfand sich das erzählende Philosophieren und philosophierende Erzählen“.73 Ziel dieses Denkens ist das Erkennen von hintergründigen politischen, gesellschaftlichen oder individuellen Konflikten und Strukturen. Nur in ihnen seien die eigentlichen, weitestgehend existenziellen und moralischen Probleme der Menschheit zu finden, während die professionalisierte Politik auch im besten Falle nur eine ideologische Freiheit oder Gerechtigkeit als Basis des individuellen Handelns bereitstellen könne.74 Im Gleichnis des Labyrinths gesprochen, geht es Dürrenmatt daher nicht so sehr um die Gründe der Erbauung des Labyrinths oder der Entscheidung Einzelner, an einer bestimmten Kreuzung rechts oder links abzubiegen. Ihn interessieren der architektonische Plan, die Struktur der Wege, die Gründe des Loslaufens und die Möglichkeiten des Ausbruchs. Auf die Politik angewandt bedeute das, „hinter ihre Regeln zu kommen, nicht hinter ihren Inhalt“.75 „Regeln der Politik“ meint ihre in (fiktiven) Ideal- und Extremsituationen sichtbar werdenden76 Strukturen: die immer wiederkehrenden Handlungsmuster von Menschen in bestimmten Rollen und angesichts bestimmter Probleme, die Triebkräfte politischer Systeme, die Regelmäßigkeiten einer verworrenen Bürokratie, die immer wieder kehrenden Muster des Diskurses etwa bei der Entste72 

Gerechtigkeit: 91. Arnold, 2003: 11. 74  Kriegsblinden-Preis: 179 f. 75  Gerechtigkeit: 91 f. 76  Käppeli, 2013: 72; Stromsik, 1981: 44. 73 

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hung von Ideologien und die Abläufe hinter den bloßen Symptomen.77 Durch die literarische Form gelingt die notwendige Distanz, um den Fokus zu wahren. Literarische Mittel und Formen entsprächen diesem dramaturgischen Verständnis der Politik besser als theoretische Sprache. Philosophieren und politisches Denken verschwimmen bei Dürrenmatt mit der Narration zu einer offenen, dialektischen Form des Denkens. Er beschreibt dieses Vorgehen im bereits zitierten „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“ und bettet auch die Erklärung selbst in eine Narration. Ausgehend von der Geschichte der Entstehung des Vortrages schreibt er: „Taktisch habe ich komödiantisch akademisch zu sein, das heißt, ich habe, als Komödiant von Geschichten ausgehend, diese so kompliziert zu behandeln, daß Sie als Akademiker das Gefühl haben, einem akademischen Vortrage beizuwohnen“.78 Am Ende entsteht durch diese Technik eine Einheit aus der Vielzahl verschiedener Stile, Eindrücke, Thesen, historischer Exkurse, Erzählungen, wissenschaftlicher Erkenntnisse etc. als Literatur, die auch Theorie ist, und umgekehrt.79 „Dramaturgisches Denken“ wird damit „in Zusammenhang von Welt-Entwicklung und -Erfahrung Gedachtes: anschaulich gemachte Philosophie, Her- und Darstellung von untergründigen Zusammenhängen“.80 Aus den verschiedenen möglichen Wahrheiten wird keine herausgegriffen und übernommen, sondern sie alle werden in Beziehung zueinander gesetzt und zu einem Welt-Ganzen verknüpft. Das „dramaturgische Denken“ ist dementsprechend auch ein hypothetisches.81 Es schwankt zwischen verschiedenen Weltanschauungen und Erklärungsmodellen, verknüpft sie, zieht Ideen aus ihnen und verwirft ihre Absolutheitsansprüche. Da er die Verabsolutierung objektiver Wahrheit ohnehin ablehnt, kann Dürrenmatt auf das hypothetische Glauben und Erzählen vertrauen, was diese Technik erst ermöglicht.82 Die Denk- und Darstellungstechnik entwickelt zudem eine bildhafte Dialektik zwischen den dramaturgischen Protagonisten der verwobenen und kontrastierten Weltanschauungen.83 Die Positionen bleiben dabei trotz ihrer Verwobenheit in einer Geschichte oder Handlung unaufgelöst: „Dürrenmatts Gestalten auf dem

77 

Gerechtigkeit: 66 f., 91; Gespräche III: 216; Theaterprobleme: 60. Gerechtigkeit: 38; ähnlich im Mitmacher-Nachwort. 79  Arnold, 2003: 12. 80  Arnold, 1998: 15. 81  Arnold, 1990: 14 f. 82  Hoffnung: 204 – 209; Turmbau: 107 f. 83  Gerechtigkeit: 92. 78 

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Theater sprechen nur, um eine wort- und sprachlose Situation des Konflikts vorstellbar zu machen. Durch Sprache wird bei Dürrenmatt nichts bereinigt“.84 Das Publikum (und damit auch die Interpretation) wird durch diese Techniken der offenen Form aktiv von den realweltlichen Inhalten weg- und auf die verbildlichten, konkretisierten Strukturen etwa der Politik und der in ihr wirkenden Einzelinteressen hingelenkt: „Ist dies erreicht, so gelten auf der Bühne nicht mehr die Handlungen, Beweggründe und Aussagen, sondern die Muster, die sie in die Erlebnisbereitschaft der Zuschauer einritzen, nachdem diese rein auf formale Spannungen und Gegensätze präpariert ist“.85 Daher sind die Figuren Dürrenmatts zunächst keine Persönlichkeiten, sondern Funktionen des Systems:86 „Der Held eines Theaterstücks treibt nicht nur eine Handlung vorwärts oder erleidet ein bestimmtes Schicksal, sondern stellt auch eine Welt dar“.87 Nur in der Literatur sei diese pointierte Vorführung von Rollen möglich, und nur in dieser Pointierung könnten sie vollständig und unabhängig durchdacht werden. Die Bühnenpersonen gehen ganz in ihren gesellschaftlichen Rollen auf, bleiben in deren Interessen, üblichen Handlungsweisen etc. verhaftet und werden zum Sinnbild des entsprechenden Teils der Wirklichkeit. Im Drama „Der Mitmacher“, der vollständigsten Umsetzung dieser Technik Dürrenmatts, zeigen das bereits die Namen der Figuren: Doc, Cop, Boss. Sie alle scheitern bei dem Versuch, ihren Rollen zu entkommen, und machen die Rollen gerade darin zu zugänglichen Extrembildern. Im Gegensatz zur klassischen Tragödie soll sich der Zuschauer nicht mit den Figuren identifizieren oder mit ihnen fühlen, sondern sie distanziert und kritisch betrachten. Ein weiteres Stilmittel des „dramaturgischen Denkens“ ist die ausdrücklich modellhafte Darstellung der Welt auf der Bühne.88 Nicht die Welt selbst, sondern ihr modellhaftes, idealisiertes und zugespitztes Abbild wird zum Durchdenken präsentiert.89 Durch die distanzierende Wirkung der Komödie soll diese Tatsache dem Zuschauer jederzeit bewusst sein. Autor und Zuschauerin erhielten so die Möglichkeit, „unbedingter denken zu können“, d. h. ohne Einbeziehung ihrer eigenen gesellschaftlichen Rollen.90 Die explizite Bildhaftigkeit bzw. Modellhaftigkeit befreie das Theater damit von der Gefahr, Ideologie zu werden oder ideologische Aussagen zu treffen.91 Dürrenmatt beschreibt sich selbst als „einen, der 84 

Mayer, 1990: 127. Berghahn, 1956: 101. 86  Gespräche I: 105. 87  Theaterprobleme: 58. 88  Muhres, 1974: 137. 89  Gespräche I: 285. 90  Gespräche I: 103. 91  Knopf, 1988: 136. 85 

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die Politik durchdenkt, um Wichtigeres zu denken, einen, der sich für die Politik einsetzt, um sich ihr nicht auszusetzen“.92 Gleiches erwartet er vom Publikum. Die Möglichkeit der distanzierten Betrachtung einer Modellwelt auf der Bühne befreie es dann vom interessengeleiteten, irrational ideologischen Hintergrund, der einem bloß theoretischen Denken anhaften müsse: „Das ideologische Denken stellt einen Kampf als notwendig dar, das dramaturgische Denken sucht nach den tatsächlichen Gründen, die nicht nur im Ökonomischen und Machtpolitischen, sondern auch im Emotionalen liegen“.93 Gerade dieses Hinausgehen über die Politik ist jedoch politisch, denn erst wenn mit den Mitteln der Literatur die Zusammenhänge hergestellt, das Laby­ rinth verbildlicht und die Schleier aus Ideologien und Interessen gelichtet sind, wird für Dürrenmatt der Blick auf die grundlegenden Mechanismen, Konflikte und Konstellationen der Politik frei.94 Ausdrücklich ist dieses Denken als Instrument für alle Einzelnen gedacht,95 in ihren Rollen als Autor, Zuschauerin, Politikerin, Philosoph, Wissenschaftlerin etc. Es ist ein Mittel, um Denken zu ermöglichen und anzustoßen, nicht, um dessen Ergebnisse zu kommunizieren. Um dies zu erreichen, verzichtet Dürrenmatt (mit Ausnahme einiger Reden und Artikel) auf Lösungsansätze und Wahrheitsansprüche.96 Auch das macht Dürrenmatt seinen Zuschauern durch die Wahl seiner unernsten Formen Komödie und Groteske deutlich, und erst spät hat daher die Kritik die Bedeutung der Komik, Übertreibung etc. für die Werke Dürrenmatts erkannt.97 III. Methodische Schlussfolgerungen Die Überlegungen Dürrenmatts bieten einige methodische Impulse für „Politics and Literature“. Sein „dramaturgisches Denken“ beschreibt eine Art Methode, die durchaus wörtlich verstanden den Werkzeugkasten der Politischen Theorie und Ideengeschichte ergänzen kann. Diese Art literarisch an politische Probleme heranzugehen ist relevant als Interpretationsmethode und als Methode des Nachdenkens: Theoretiker und Theoretikerinnen können im beschriebenen Sinne Dürrenmatts literarische Werke lesen und literarisches Schreiben zumindest abschnittsweise in ihre theoretische Arbeit eingliedern. Was es konkret bedeutet, das erzählende Philosophieren Dürrenmatts wörtlich anzuwenden, muss wie bei jeder Methode der Politischen Theorie im tatsächlichen Interpretieren 92 

Literaturpreis: 173. Gerechtigkeit: 94. 94  Gerechtigkeit: 93. 95  Jenny, 1967: 13. 96  Hensel, 1990: 32. 97  Kaiser, 1990: 103 f.; Mingels, 2003: 351 f. 93 

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und Schreiben jeweils neu verhandelt werden. Einige Beispiele können dennoch genannt werden: Zunächst hieße diese Methode, Fiktionen als herausgegriffene und idealisierte Aspekte der Wirklichkeit ernst zu nehmen. Dies bedeutet, bei der Wahl der Hilfsmittel zum Nachdenken über a priori theoretisch durchdachte Beispiele und Gedankenexperimente hinauszugehen und auch ganze Erzählungen mit allen Details, Unabgeschlossenheiten, Verbildlichungen und Widersprüchen als relevant für theoretische Wahrheit zu verstehen. Auch menschliche, emotionale, unkonkrete Aspekte könnten somit argumentativ relevant sein, ohne notwendigerweise verallgemeinert zu werden. Verbunden damit könnte das Nachdenken anhand von Literatur Politischer Theorie beibringen, nicht nur zielgerichtet zu denken. Die Offenheit der Literatur zu nutzen ermöglicht Problembeschreibungen ohne den Zwang zur – möglicherweise ideologisch verallgemeinernden – Lösungsfindung. Für die Theoretikerin heißt das auch, den Leser selbst weiterdenken zu lassen. „Dramaturgisches Denken“ ist ein Schreiben und Lesen über Probleme und Strukturen, ohne den Text zu feststehenden Schlussfolgerungen oder Lösungen zu zwingen. Literarische Texte sollen nicht (nur) überzeugen, sondern das Nachdenken anregen und ermöglichen. Ohne dies zu intendieren, entwirft Dürrenmatt damit ein Modell für ein tatsächlich poststrukturalistisches oder postmodernes Denken. Das oben im Detail beschriebene „dramaturgische Denken“ erfüllt eben das, von dem Kerchner beklagt, dass es viel zu selten konsequent angewandt oder durchdacht werde: „sich den tatsächlichen Redeäußerungen zuwenden, um in diesem Material danach zu suchen, welche davon sich zu Aussagen mit dauerhafter Geltung verdichten. Nicht die spontanen, kurzfristigen Äußerungen, sondern die Aussagen fungieren hier also als ‚Atome‘ des Diskurses; im weiteren käme es dann darauf an, die Beziehungen zwischen diesen ‚Atomen‘ zu finden und so den Diskurs als regelgeleitete Aussageordnung überhaupt erst sichtbar zu machen“.98 Genau dies leistet Dürrenmatt sehr bewusst, wenn beispielsweise die Figuren im Stück „Der Mitmacher“ zu bloßen Schablonen ihrer absoluten, distanzierten, beobachtbaren und in ihre Situation hineinidealisierten Rollenaussagen werden. Politische Theorie könnte nun anhand dieser idealtypischen Schablonen theoretisieren, müsste diese Fiktionen dazu aber als legitime Abbilder einer Wirklichkeit anerkennen. Ein weiteres Beispiel ist die durch Humor und andere theatralische Stilmittel erreichte Distanz, die durch literarische Elemente auch im theoretischen Text anwendbar wäre. Ähnlich der Nutzung emotionaler Nähe im „moralischen Sentimentalismus“99 könnte Politische Theorie im distanzierten Nachdenken mit 98  99 

Kerchner, 2006: 57. Frazer, 2017; Nussbaum, 1990.

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Stilmitteln Emotionen, Komplexität und Widersprüche in einer Weise verstehen und nutzen, die mit abstrakter theoretischer Sprache sogar stärker kompatibel ist. Affekt und Klarheit könnten durch beispielsweise humoristische Stilmittel in einer Weise verbunden werden, die zusätzliche Erkenntnisse möglich macht. Die gleichen Stilmittel könnten aber auch zeigen, wie normativ und ideologisch gerade die angeblich streng neutrale theoretische Sprache sein kann. Diese Stilmittel setzen jedoch voraus, dass Politische Theorie bereit ist, poetische Sprache ernst zu nehmen. Das hieße etwa, fiktiv dargestellte „Wahrheiten“ anzuerkennen und stilistische Interpretationen in die theoretisch-inhaltliche Interpretation als gleichwertig einzubeziehen.100 Es hieße aber auch, nicht alles Literarische in Theorie zu übersetzen. Der Nutzen vielschichtiger Metaphern und Narrationen liegt gerade in ihrer Bedeutungsoffenheit. Narrationen, die leicht auf eindeutige Bedeutung festlegbar sind,101 ergänzen Theorie kaum. Die Schlussfolgerung hieraus ist ein gewissermaßen zweisprachiges Interpretieren und Schreiben im Sinne einer echten Kombination aus Literatur und Theorie. Konkret geschehen könnte das in einer Interpretation Dürrenmatts, die ihn als Anlass zum theoretischen Weiterdenken heranzieht, oder in einer theoretischen Abhandlung, die seine Metaphern übernimmt, ohne sie auf eindeutige Aussagen festzulegen (wie es hier mit der Labyrinth-Metapher versucht wurde). Politische Theorie würde sich damit nicht nur neue Themenfelder und Ideen erschließen, sondern sich auch von dem durch Dürrenmatt diagnostizierten Hang zum Absolut-Eindeutigen, letztlich Ideologischen distanzieren. Literatur Arnold, Heinz Ludwig (1990): Theater als Abbild der labyrinthischen Welt. In: Keel, Daniel (Hrsg.), Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich: Diogenes, 80 – 100. – (1998): Querfahrt mit Friedrich Dürrenmatt. Zürich: Diogenes. – (2003): Die Entdeckung des Erzählens: Die Karriere des Prosa-Autors Friedrich Dürrenmatt. In: Text + Kritik, 50/51 (3. Auflage Neufassung), 2003, 7 – 18. Barthes, Roland (2006): Das Rauschen der Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Berghahn, Wilfried (1956): Friedrich Dürrenmatts Spiel mit den Ideologien. Frankfurter Hefte, 11, 1956, 100 – 106. Brock-Sulzer, Elisabeth (1990): Handlungen werden lassen – und nichts weiter. In: Keel, Daniel (Hrsg.), Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich: Diogenes, 29 – 38. 100 

Dürrenmatt deutet eine praktische Anwendung in einer Interpretation von „Ein Engel kommt nach Babylon“ an: „Die Makamen des Akki sind nichts anderes als die äußerste Möglichkeit seiner Sprache und somit eine Verdichtung seiner Gestalt [und damit also auch der durch diese Gestalt vertretenen Ideen]“ (Theaterprobleme: 54). 101  Eine Konzentration auf solche Narrationen empfehlen Patterson/Monroe, 1998.

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Heinz-Joachim Müllenbrock: Der Cockney als Welterretter. H. G. Wells’ politische Mission

Der Cockney als Welterretter: H. G. Wells’ politische Mission Von Heinz-Joachim Müllenbrock Der Cockney als Welterretter: H. G. Wells’ politische Mission Heinz-Joachim Müllenbrock

Abstract This is the first overall investigation in German since more than half a century of H. G. Wells’s work with particular reference to his political and social thought. It is also the first study which puts his multifarious and extensive oeuvre in a comprehensive perspective of interpretation, which comprises his early science fiction right up to his late political and didactic writings. In recognizing his humble social origins, against which he rebelled early on, as the crucial impulse for his emancipation from the narrow restraints of the Victorian era, this essay shows how Wells’s persistent preoccupation with the future of human society unfolded towards a conception of politics that resulted in his overriding message of the necessity of a world state. Wells deserves to be acknowledged as an early seismograph of globalization. From the point of view of the history of political ideas he can be regarded as our contemporary owing to the still unresolved concerns of vital importance which he put on the international agenda.

I.  Darstellungsziel und methodisches Vorgehen Der hierzulande nach dem Zweiten Weltkrieg1 vergleichsweise stiefmütterlich behandelte Herbert George Wells (1866 – 1946) war nicht nur einer der prominentesten Autoren seiner Zeit, sondern auch lange die vielleicht am meisten beachtete Stimme Englands im europäischen und transatlantischen Austausch politisch-sozialer Ideen. Gerade als öffentlich engagierter Schriftsteller, der er eigentlich immer war, verdient er heute erneut unsere Aufmerksamkeit. Bei dem vorliegenden Essay handelt es sich um die erste deutsche Gesamtdarstellung seit langem von H. G. Wells’ Schaffen unter besonderer Berücksichtigung seines politisch-sozialen Denkens. Zugleich ist es die erste Studie, die Wells’ vielgestaltiges und zeitlich langgestrecktes Œuvre in einen übergreifenden Deutungshorizont stellt, der die frühe Science-Fiction bis zu den späten politisch-didaktischen Schriften umfasst. Die folgende Darstellung soll – gewissermaßen per Abbreviatur, um seinen Verlautbarungsdrang als öffentlicher Schriftsteller nachzuvollziehen – Wells’ Emanzipation aus viktorianischen Gegebenheiten beleuchten. Diese Emanzipation betraf ja nicht nur seine Befreiung aus den Fesseln familiärer Häuslichkeit, 1 

Zur unmittelbar vorangehenden Rezeptionsphase siehe Nate, 2013: 105 – 125.

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pädagogischer Borniertheit und der beruflichen Zwangsjacke als Tuchhändlerlehrling, sondern setzte sich in seiner gesamten Existenz als Schriftsteller in der Abkehr von eingefahrenen Denkmustern überhaupt fort. Aufs Ganze gesehen widmete er sein Schaffen dem Aufbruch in neue Horizonte menschlicher Sozialisation. Diese Emanzipation war ein kontinuierliches, in seinen einzelnen Etappen mit einer gewissen Folgerichtigkeit fortschreitendes Unternehmen, das sein schriftstellerisches Wirken zu einem lebenslangen Werbefeldzug für politische Transparenz und Effizienz werden ließ. Wells betraute sozusagen einander ablösende, auf die jeweilige zeitgeschichtliche Situation abgestimmte literarische beziehungsweise publizistische Instanzen mit der Artikulierung seiner ihm immer dringlicher erscheinenden, allerdings gegen Ende seiner Laufbahn immer ungehörter verhallenden Botschaft. Dieser Wells’ innerem Antrieb gehorchende Instanzenzug soll in seiner Prozeßhaftigkeit herausgearbeitet werden. Dabei wird nicht unterstellt, daß bestimmte Genres nur in bestimmten Phasen eingesetzt wurden – Utopien etwa schrieb er in unterschiedlichen Zeiträumen –, sondern lediglich zu zeigen versucht, daß spezifische, Neuakzentuierungen anzeigende Artikulationsformen einzelnen Phasen in Wells’ Schaffen ihr besonderes Gepräge gaben. Die Darstellung zielt also darauf ab, den Werdegang des politischen Schriftstellers Wells in seiner literarisch-publizistischen Entfaltung aus einem dominierenden Antriebsmoment heraus nachzuvollziehen. Zu diesem Zweck muß die gesamte Breite von Wells’ Schaffen berücksichtigt werden. Im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Gegenstandsauffassung, welche die in der Wells-Forschung häufig anzutreffende Dichotomie zwischen schöner und expositorischer Literatur durch thematische Integration vermeidet, werden die verschiedenen Textsorten als ein aus einem gemeinsamen Aussageimpuls resultierendes Ganzes begriffen, dessen Keimzelle das soziale Schlüsselerlebnis seiner Jugend bildet. Wells ist oft die literarische Disparität seines Œuvres vorgehalten worden; unter rein literarischen Gesichtspunkten gebührt der frühen Science Fiction 2 zweifellos mehr Aufmerksamkeit als allen anderen seiner Schriften. Betrachtet man jedoch sein reich facettiertes Werk aus einer ganzheitlichen Perspektive, die dem Schaffensimpuls des Autors gerecht wird, fügt es sich zu einem kohärenten Ensemble zusammen. Auf der gemeinsamen kulturellen Folie eines von allen Gattungen mitgetragenen öffentlichen Diskurses analysiert, erweist sich Wells’ unterschiedliche Artikulationsformen nutzendes Werk als ein weitgespanntes System korrespondierender Denkanstöße. Es war das Medium für das humanitäre Engagement von Wells, der, sich früh aus der Enge seines viktorianischen Umfeldes emanzipierend, den Sprung in neue soziale Dimensionen wagte und der Verbreitung dieser Botschaft sein Lebenswerk widmete. 2 

Siehe hierzu etwa Bergonzi, 1969.

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II.  Hinterhof Herbert George Wells wurde am 21. September 1866 in dem Städtchen Bromley in der Grafschaft Kent in eine Familie der unteren Mittelklasse geboren. Dieses soziologische Eingangsdatum liefert den Schlüssel für das Verständnis von Wells’ gesamtem Werdegang; dieser kann und soll als Wells’ Ausgang aus dem bedrückenden sozialen und geistigen Ambiente seiner Kindheit und Jugend gedeutet werden. Während seine Mutter Kammerzofe gewesen war und später als Haushälterin auf dem Adelssitz „Up Park“ beschäftigt wurde, dessen Bibliothek die intellektuelle Neugier des kleinen Wells anfachte, war sein Vater Gärtner, Besitzer eines kleinen Ladens, der nicht ging, hauptsächlich aber berufsmäßiger Kricketspieler. Trotz der kümmerlichen Lebensumstände besaß die Mutter ein ausgeprägtes Klassenbewußtsein, das sie auf ihren Sohn übertrug, der gewisse Vorbehalte gegenüber dem Proletariat nie abstreifte; noch ein halbes Jahrhundert später hat Lenin Wells als „incurably middle-class“3 bezeichnet. Vor allem aber löste die Herkunft aus dem untersten Saum des Bürgertums bei Wells frühzeitig eine innere Rebellion gegen die Ungerechtigkeit der anscheinend für immer festgeschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse im viktorianischen England aus. Sie verband sich unauflöslich mit einer tiefsitzenden Antipathie gegen alles Kleinliche, Mickrige und Dürftige. Das empirische Substrat für diese geradezu allergische Abneigung ist in Wells’ bitteren Kindheitserinnerungen zu suchen, deren Inbegriff die folgende Charakterisierung seines engsten sozialen Umfeldes vermitteln mag. In der High Street Nr. 47 befand sich ein winziger Kramladen, in dessen Schaufenster die Gestalt des Atlas prangte, der eine Lampe an Stelle der Welt trug. Hinter dem Laden, in dem Töpfer- und Glaswaren, Porzellan und Kricket-Ausrüstungsgegenstände in bunter Unordnung meist vergeblich um Aufmerksamkeit wetteiferten, lag eine winzige Stube mit einem Kamin und Aussicht auf den lächerlich kleinen Hof, der die einzige Möglichkeit zum Spielen im Freien bot. Eine enge Treppe führte hinunter in die Souterrain-Küche, die ihr Licht durch ein vergittertes Fenster erhielt. Das war der Blickwinkel des kleinen Wells, der auf der Straße keine Menschen, sondern nur Stiefel sah, die vorbeigingen und ihn durch ihre Beschaffenheit auf Berufe und soziale Stellungen ihrer Träger schließen ließen.4 In dieser knappen, seiner aufschlußreichen Autobiographie „Experiment in Autobiography“ (1934b) zu entnehmenden Beschreibung objektivieren sich Wells’ nachhaltig wirkende Kindheitseindrücke. Unser Autor konnte jedenfalls gar nicht anders als letztere zu verinnerlichen und bewußtseinsbildend werden zu 3 

Wells, 1934b: 95. teilweise wörtlichen Übereinstimmungen meiner Beschreibung mit derjenigen von Hans-Joachim Lang in Lang, 1948: 5, ergeben sich aus der engen Anlehnung beider an die Darstellung in Wells’ Autobiographie. 4  Die

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lassen. Ohne tiefenpsychologische Kategorien in Anspruch nehmen zu müssen, läßt sich sagen, daß in diesem sozialen Trauma die unterschwellige Motivationsbasis für Wells’ antagonistisches Gesellschaftsdenken zu erkennen ist. Als Autor und Publizist von internationalem Rang hat Wells später, an seine biographischen Ursprünge erinnernd, die Welt, metaphorisch gesprochen, auf seinen Schultern zu tragen vermeint: Welterretter in propria persona. Das seine Lebensarbeit prägende Aufbegehren gegen alles Kleinformatige, Restriktive, den Menschen in seiner materiellen und geistigen Existenz Einschnürende, das sich bei ihm in das konstruktive Verlangen nach dem Transparenten, Großformatigen, letztlich Weltumspannenden umsetzte, hat seinen Ausgangspunkt in dem deprimierenden Erlebnis der chaotischen und ärmlichen Lebensumstände seiner Familie, dieses ungesicherten und in seiner Daseinsberechtigung bedrohten Organismus. Wells’ sich früh entfaltendes globales Anschauungsvermögen darf als Kontrapunkt und Korrektiv seiner kärglichen sozialen Herkunft gedeutet werden. Die in dem Mikrokosmos seines Elternhauses gemachten Erfahrungen gesellschaftlicher Ordnungs- und Planungslosigkeit, dem Archetyp dessen, was er später „muddle“ nennen sollte, schienen sich Wells bald auf allen Ebenen des viktorianischen England fortzusetzen, unmittelbar bereits in der prekären Wirtschaftslage Bromleys. Am sozialen Makrokosmos nahm er zunehmend die gleichen Mangel­ erscheinungen war. Der kritische Blick des jungen Wells, der Mr. Morleys „Commercial Academy“, eine kleine, rührend um einen modernen Anstrich bemühte Privatschule besuchte, fiel besonders auf die Zerrissenheit und Ziellosigkeit des englischen Erziehungswesens, dessen Inkompetenz ihm zum Spiegel nationaler Defizite wurde; er hat es auch später dementsprechend kritisiert. In autobiographisch gefärbten Romanen hat Wells seine früh verinnerlichte Diagnose der viktorianischen Gesellschaft explizit formuliert. Während es in „The New Machiavelli“ (1911) heißt: „Chaotic indiscipline, ill-adjusted effort, spasmodic aims, these give the quality of all my Bromstead memories“,5 sieht er in „TonoBungay“ (1909) London weitgehend „without plan or intention“6 wachsen. In „Kipps. The Story of a Simple Soul“ (1905), einem seiner an Dickens erinnernden Kleinbürgerromane, wird der Sozialist Masterman, der die Orientierungslosigkeit der nationalen Politik beklagt, zu Wells’ Sprachrohr: „There is no rule, no guidance, only accidents and happy flukes“.7 Mit dem anschaulichen Wort „muddle“, das sich ihm mit leitmotivischer Häufigkeit in allen seinen Schriften aufdrängt, prangert Wells das unkontrollierte und zufällige Wachstum der viktorianischen Epoche an. Dieses einprägsame Schlüsselwort findet auch in internationalem Kontext Anwendung. So gebraucht er beispielsweise in „The Dream“ (1924) den 5 

Wells, 1911: 54. Wells, 1966: 98. 7  Wells, 1952: 223. 6 

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Ausdruck „world muddle“8 für die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste Krise. Die breite Anwendungspalette dieses Begriffs bestätigt die vom Beginn seines Schaffens an sichtbaren Dimensionen von Wells’ kritischer Gesellschaftsdiagnostik. Sein Gesamtwerk ist der herkulische Versuch, dem von ihm registrierten gesellschaftlichen Durcheinander eine rationale Antithese entgegenzusetzen. III.  Emanzipation durch Science Fiction Die seinen literarischen Ruhm begründenden „scientific romances“ waren das erste, unübersehbare Signal für Wells’ Befreiung aus viktorianischen Denkschablonen und seinen intellektuellen Aufbruch in neue Sphären der Reflexion über die Entwicklung sozialer Organismen. Sie arbeiteten seiner bald hervortretenden Neigung zu kollektiver Bewußtseinsbildung bereits vor. Sie haben ihre wissenschaftlich-materiellen Anfangsgründe in Wells’ Studium der Biologie an der Normal School of Science in South Kensington 1884 – 1885 unter Thomas Henry Huxley, dem Popularisator Darwins („Darwin’s bulldog“). In seiner Autobiographie schreibt er über diese fruchtbare Zeitspanne: „That year I spent in Huxley’s class was, beyond all question, the most educational year of my­ life“.9 Es ist nicht übertrieben, von einem Erweckungserlebnis zu sprechen, das ihn befähigte, seine naturwissenschaftlichen Interessen mit seiner produktiven Phantasie zu Vorstellungskomplexen neuer Größenordnung zu verschmelzen. Gesellschaftsgeschichte suchte er jetzt systematisch als Naturgeschichte zu verstehen; das vierundzwanzigste Kapitel von „The First Men in the Moon“ (1901), das die Anpassung der Mondbewohner an ihre Umweltbedingungen schildert, ist „The Natural History of the Selenites“ überschrieben. Den Begriff „Human Ecology“, den er als passende alternative Bezeichnung für sein neuartiges historiographisches Konzept vorschlug,10 sollte Wells später für alle auf politische Organismen einwirkenden Faktoren verwenden. Den von ihm leidenschaftlich herbeigewünschten Weltstaat verstand er als logische Konsequenz umsichtiger politischer Ökologie. Die heutigen Probleme der Umweltzerstörung hat Wells noch nicht thematisiert, doch in „The War of the Worlds“ (1898) bereits eine ökologische Krise planetarischen Ausmaßes angenommen. Die Marsianer werden nämlich auf den Pfad der Eroberung gedrängt, weil sich ihr erschöpfter Himmelskörper im letzten Stadium der Bewohnbarkeit befindet. Das ihn bedrückende Beharrungsvermögen viktorianischer Gegebenheiten kompensierte er durch seine in zeitliche und räumliche Ferne ausgreifen8 

Wells, 1924: 232. Wells, 1934b: 201. 10  Siehe Wells, 1934c: 647. 9 

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de, zukunftsgerichtete Phantasie. Mit sogenannten wissenschaftlichen Märchen, deren visionäre Kraft bis heute unübertroffen ist, etablierte sich Wells als Pionier der modernen Science Fiction. Diese Gattung ersah er dazu aus, ein Veränderungsdenken einzuüben, das sich den Wandel bisher konstanter Realitätsfaktoren vorzustellen vermag und beispiellose Veränderungen der Situation des Menschen in der Zukunft ins Auge fassen kann. In mittlerweile klassischen Werken wie „The Time Machine“ (1895), „The Invisible Man“ (1897), „The War of the Worlds“ (1898) und „The First Men in the Moon“ (1901) beschwor er eine soziale Virtualität, deren Denkanstöße gerade in unserer szientifisch-technologisch geprägten Welt nachvollziehbar sein dürften. Die gesellschaftliche Reichweite aller Wells’schen Spekulationen über die Zukunft der Spezies Mensch wird bereits in „The Time Machine“ sichtbar. Anders als dem primär auf die Demonstration des technisch Möglichen erpichten Jules Verne ging es dem proleptischen Geist von Wells immer um das frühzeitige Aufspüren etwaiger anthropologisch-sozialer Auswirkungen der wissenschaftlichen Triebkräfte. In „The Time Machine“ entwirft Wells unter Orientierung an Thomas Henry Huxley, der in dem in dem Band „Evolution and Ethics and Other Essays“ (1894) enthaltenen Essay „The Struggle for Existence in Human Society“ (1888) die Ansicht vertreten hatte, daß die Evolution ebensogut eine rückschrittliche wie eine fortschrittliche Richtung einschlagen könne,11 ein Szenario negativer Evolution und projiziert die menschliche Entwicklung in das sinistre Jahr 802701. Der Fernblick soll den Nahblick schärfen. Die Polarisierung zwischen Eloi, den anmutig-dekadenten Oberweltlern, und Morlocks, den physisch abstoßenden und verrohten Unterweltlern, die, ähnlich wie das viktorianische Industrieproletariat in seinen Arbeits- und Wohnverhältnissen, kein Tageslicht bekommen, ist Wells’ Fortschreibung von Disraelis sozialkritischem Konzept der zwei Nationen unter Einbeziehung des marxistischen Klassenkampftheorems. Zugleich ist „The Time Machine“ eine imaginative Studie über „menschliche Ökologie“, weil sie die Wechselwirkungen zwischen Umweltveränderungen und Systembildungen veranschaulicht. Die Nemesis in Gestalt der ihre einstigen Gebieter verzehrenden Morlocks birgt Zündstoff für unsere Gegenwart in Anbetracht der sich beschleunigenden, weltweiten Aufspaltung in Arme und Reiche mit der Dritten Welt als unheilschwanger tickender Zeitbombe. Wells’ faszinierende Einbildungskraft schlägt sich in „The War of the ­Worlds“ in einer spiegelverkehrten Beleuchtung kolonialer Praktiken nieder. In dieser minuziösen Schilderung einer verheerenden Katastrophe verwandeln die roboterhaften, höher entwickelten und den Menschen technologisch weit überlegenen Invasoren vom Mars mit ihren Hitzestrahlen idyllische südenglische Landstriche in eine apokalyptische, alptraumhaft-surrealistisch gezeichnete Landschaft. 11 

Siehe Huxley, 1894: 199.

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Die Rückwirkung der Wells’schen Imagination auf die Wirklichkeit konnte man übrigens nicht ohne Beklemmung 1938 beobachten, als die den örtlichen Gegebenheiten angepaßte Hörspielfassung von Orson Welles in Amerika eine Massenpanik auslöste. Wie leicht seine imaginativen Experimente selbst bei scheinbarer Verstiegenheit den Nerv unserer Zeit treffen können, veranschaulicht seine Kurzgeschichte „The Stolen Bacillus“ (1894), in der Bakterien terroristischen Anschlägen dienen. Bereits in „The World Set Free“ (1914) hat er den Atomkrieg vorausgesagt und dieses düstere Szenario zudem noch selber eintreten gesehen. In der im Jahr 2100 angesiedelten und weltweite Tendenzen extrapolierenden skeptischen Utopie „When the Sleeper Awakes“ (1899) nimmt Wells die künftigen Dimensionen technisierter Riesenstädte in den Blick. Auch hier wird die Spaltung in Ober- und Unterklassen, in moralisch-sittlich indifferente Plutokraten und die sich zu einer eigenen biologischen Art entwickelnde, geistig verkümmerte und auf Orwells „proles“ in „Nineteen Eighty-Four“ vorausweisende Arbeiterschaft an den Problemhorizont der Zukunft geschrieben. In diesem Soziogramm der Zukunft wird mit dem erschreckenden Gefälle zwischen Armen und Reichen auch das unter den Bedingungen der heutigen Globalisierung drohende Wegbrechen der klassischen Mittelschicht prognostiziert. Die spezifische Aktualität dieser Erzählung beruht auf der Vorausahnung global agierender, Monopole bildender Finanz- und Geschäftsorganisationen, die Regierungen ihre Interessen aufzwingen und sogar das Erziehungssystem für ihre Zwecke instrumentalisieren. Die Warnung vor einer solchen Entwicklung hat er gegen Ende seines Lebens in „The Rights of Man“ (1940) eindringlich wiederholt.12 Ein ominöses Glanzstück von „When the Sleeper Awakes“ stellt die Schilderung der Reklame dar, die mit ihrer Allgegenwart das gesamte Leben überwuchert. Ein Jahrzehnt später hat Wells mit „Tono-Bungay“ (1909) der Werbung als Mitte der modernen Welt sogar einen ganzen, nach einer Schwindelmedizin benannten Roman gewidmet. Kein anderer Autor hat mit vergleichbarer Witterung die nivellierende Macht der Reklame so frühzeitig und klarsichtig erkannt. Wells’ kritischer Blick auf die damals ihren Siegeszug antretende Reklame darf vielleicht als Reflex seiner generellen Wahrnehmung gesellschaftlicher Konfu­sion verstanden werden, auch wenn er später auf den Einsatz von Plakatträgern (sogennanten „sandwich men“) für die Verbreitung seiner eigenen Bücher drängte. IV.  „Anticipations“: Wells als politischer Essayist Schon bald gab sich Wells nicht mehr mit den anregenden, aber unverbindlichen Schöpfungen seiner Phantasie zufrieden – bereits „When the Sleeper Awakes“ hat Übergangscharakter – und suchte nähere Tuchfühlung mit der 12 

Siehe Wells, 2015: 77.

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zeitgenössischen Realität. Mit den einen medialen und ideologischen Neuansatz markierenden, zuvor als Essay-Folge in der „Fortnightly Review“ veröffentlichten „Anticipations of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human Life and Thought“ (1901) etablierte sich Wells als Publizist mit nationaler Resonanz. Die „Anticipations“ sind Wells’ erste geschlossene Darstellung seiner jetzt hervortretenden politischen Weltanschauung. Von diesem innovativen Werk, das sich so gut wie ein Roman verkauft habe, sagt er in seiner Autobiographie: „It was the first attempt to forecast the human future as a whole and to estimate the relative power of this and that great system of influence. […] I was indicating […] new data of quite primary importance for rationalized social political and economic effort“.13 Dem biologischen Umweltkonzept von „The Time Machine“ gab er jetzt eine Wendung ins Politische. Die „Anticipations“, in denen er die der technischen Expansion inhärente Logik systematisch auszuloten versucht, waren seine Verabschiedung des freien, ungebundenen, rein spekulativen Schweifens der wissenschaftlichen Märchen und der Auftakt zu einer stärker an die politische Wirklichkeit gekoppelten Denkart. In den „Anticipations“ probiert Wells den Spagat zwischen seiner weltumspannenden Vorstellungskraft und konkreter politisch-sozialer Prognostik. Nachdem er bereits in „When the Sleeper Awakes“ die Distanz zur Realgeschichte verkürzt hatte, positionierte er sich jetzt gewissermaßen in deren Windschatten. Inzwischen war Wells aufgrund seines raschen literarischen Aufstiegs mit Vertretern der politischen Klasse in Berührung gekommen, denen er namentlich im Debattierklub der „Coefficients“14 begegnete. Von der Jahrhundertwende an wurde er zu einem aufmerksamen Kommentator der politischen Szene und durch seine Vernetzung im öffentlichen Raum Londons zu einem präzisen politischen Seismographen insbesondere der das Inselreich in seiner internationalen Stellung tangierenden Probleme.15 Die besondere Konstellation der auf Wells einwirkenden Zeitumstände brachte es mit sich, daß dieser, als er seine Schriften stärker politischen Belangen öffnete, sich imperialistisches Gedankengut zu eigen machte. In der Gedankenschmiede der „Coefficients“ lernte er nicht nur die außenpolitischen Vorstellungen der führenden „Liberal Imperialists“ und konservativ-unionistischer Anhänger dieser Denkrichtung wie Lord Milner kennen, sondern stand auch im Kontakt mit hochrangigen Publizisten imperialistischer Couleur wie Leo Maxse und J. L. Garvin. So geriet der auf Grund seiner Herkunft und Erziehung in außenpolitischen Dingen gänzlich unerfahrene Wells zu Beginn seiner Karriere in den ideologischen Bannkreis der politischen Elite Englands. Seine 13 

Wells, 1934c: 645 – 646. Zusammensetzung dieser informellen Vereinigung siehe Müllenbrock, 2014: 155 – 156. Nähere Darlegungen zu Wells’ Verbindung zu den „Coefficients“ finden sich in Rose, 2011: 19 – 20, 91 – 93, 121 – 123. 15  Darüber informiert umfassend Müllenbrock, 1967, passim. 14 Zur

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Assimilierung des imperialistischen Programms der Führungsschicht war allerdings insofern nicht ohne Plausibilität, als sich der junge Wells innerlich bereits der Abkehr von kleinkalibrigen politischen Konzepten verschrieben hatte. Der großräumige Ansatz des Imperialismus kam seinem Denkstil entgegen. Ein Kernpunkt in der imperialistischen Vorstellungswelt der politischen Klasse war der Gedanke englisch-amerikanischer Vorherrschaft, ja Weltdominanz. Wells ist der herausragende literarische Vertreter dieser panangelsächsischen Idee und hat in seiner aus „Anticipations“, „Mankind in the Making“ (1903) und „A Modern Utopia“ (1905) bestehenden Trilogie, mit der er im neuen Jahrhundert als politischer Planer an die Öffentlichkeit trat, ein künftiges anglo-amerikanisches Kondominium propagiert. Die massive Kritik, die er in dem „The New Republic“ überschriebenen einleitenden Kapitel von „Mankind in the Making“ an der englischen Krone übt, ist vor allem als Einwand gegen eine Institution zu verstehen, die die im Vorwort als Ziel vorgegebenen angelsächsischen Einheitsbestrebungen zum Scheitern verurteilen müsse. Da er aufgrund seiner tief in seinem Bewußtsein verankerten sozialen Benachteiligung zugleich mit sozialistischen Ideen sympathisierte, könnte man Wells’ gesellschaftskritische Variante des Imperialismus als progressives Pendant zu der von Rudyard Kipling verkörperten konservativen Spielart bezeichnen, für den ebenfalls ein englisch-amerikanisches Zusammengehen auf der politischen Tagesordnung stand. Die technologische Ausgangsbasis für Wells’ sich in „Anticipations“ herauskristallisierendes Zukunftsdenken bildet die rasante Beschleunigung des Entfernungen überwindenden Verkehrs. Aufgrund der durch die mechanische Revolution16 gewaltig gesteigerten Möglichkeiten der Beförderung17 erwartet er eine mobile, zunehmend in Migration befindliche und in ausgedehnte urbane Regionen drängende Bevölkerung. Die von der Ökonomie schon vorgezeichneten Ansätze zu makrosozialem Zusammenschluß verfolgt er bis zu dem von ihm langfristig anvisierten Endstadium des hier erstmals als eigentliche Bestimmung der Menschheit proklamierten Weltstaats. „I was writing the human prospectus“18 – so kennzeichnet er in seiner Autobiographie das in „Anticipations“ Unternommene. Die nähere Tuchfühlung mit der zeitgenössischen Politik, die dem ambitionierten Weltstaatsprojekt Plausibilität verleihen soll, besteht in Wells’ Anknüpfen an gegenwärtige Tendenzen zur Schaffung politischer Großräume, wie er sie in dem 16  Deren von Wells als quasi evolutionäre Kraft empfundene Dynamik analysiert ausführlich Walter Rathenau in seinem Buch „Zur Kritik der Zeit“ (Rathenau, 1912), wo die Politik ebenfalls im Zugzwang der Mechanisierung der Welt gesehen wird. 17  Zur Bedeutung neuartiger Fortbewegungsmöglichkeiten siehe auch kurz Schenkel, 2004: 53. 18  Wells, 1934c: 646.

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raumgreifenden Britischen Weltreich und in Pan-Bewegungen wie dem Pangermanismus und dem Panslawismus verkörpert sieht. In diesem Zusammenhang sagt er die ökonomische Ballung Westeuropas in einer der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entsprechenden, um das rheinisch-niederländische Gebiet konzentrierten Region voraus. Der Wettstreit der in neue politische Größenordnungen vorstoßenden Imperialismen – die Veränderung der Größenverhältnisse auf der Welt seit der Erfindung der Dampfmaschine ist das Generalthema von „Anticipations“ – gibt die Grundlage von Wells’ Erwartungshorizont ab. Das Verschwinden bisheriger sozialer Organismen und die Synthese immer ausgedehnterer und komplizierterer Einheiten sind für Wells eine ausgemachte Sache, und so verkündet er ungeachtet drohender, aber nicht detaillierter und schnell wieder verdrängter Schwierigkeiten optimistisch: „[…] this process nevertheless aims finally, and will attain to the establishment of one world-state at peace within itself. In the economic sense, indeed, a world-state is already established“.19 Wells’ Skizzierung des Weges zum Weltstaat könnte sogar einem mit dieser Thematik erst viel später befassten und von dem Fortgang der Geschichte profitierenden Autor Zustimmung abgefordert haben. Jedenfalls weist Ernst Jüngers Darstellung einer von geologisch-kosmischen Kräften gespeisten, die Nationalstaaten obsolet machenden Bewegung zum Weltstaat hin in „Der Weltstaat. Organismus und Organisation“ (1960)20 eine erstaunliche Affinität mit der Wells’schen Geisteshaltung in „Anticipations“ auf. Die Übereinstimmung beruht nicht zuletzt darauf, daß auch Wells, den Jünger nicht erwähnt, den Weg zur Welteinheit als „a process independent of any collective or conscious will in man, as being the expression of a greater Will“21 sieht und ihn vergleicht mit „some huge secular movement in Nature, the raising of a continent, the crumbling of a mountain-chain, [that] goes on to its appointed culmination“.22 Wells’ Weltstaatsdenken wohnte die Überzeugung von einer naturgeschichtlichen Bestimmung der Menschheitsentwicklung zu globaler Synthese inne. Mit den „Anticipations“ gab Wells gewissermaßen seine Visitenkarte als Vordenker des Weltstaats ab. Sein Sinnen und Trachten war früh auf die globale Korrektur irdischer Zersplitterung gerichtet. Schon in „The War of the Worlds“ hatte sich trotz der Fin de siècle-Düsternis der tröstliche Gedanke in den Epilog eingeschlichen, daß die Invasion der Marsianer die Menschen der Vorstellung von einer Weltgemeinschaft näherbringen könnte. Auch in einem anderen wissenschaftlichen Märchen, „The First Men in the Moon“, wurden die Konturen eines künftigen Weltstaats in dem von Swift inspirierten Gespräch zwischen dem 19 

Wells, 1902: 245. Ähnlich äußert sich Rathenau in einer späteren Auflage von „Zur Kritik der Zeit“ (Rathenau, 1919: 64). 20  Siehe z. B. Jünger, 1960: 33. 21  Wells, 1902: 246. 22  Ebd. 246 – 247.

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Grand Lunar und Cavor, das eine scharfe Kritik an terrestrischem Unwesen mit seinen Kriegen beinhaltet, schon vorgezeichnet.23 Der Weltstaatsgedanke wurde sein publizistisches Markenzeichen. V.  Kosmopolis: Wells als Sozialingenieur in „A Modern Utopia“ Die ihn faszinierende Weltstaatsidee hat Wells in der Essaysammlung „Mankind in the Making“ (1903) und vor allem in „A Modern Utopia“ (1905) sogleich weiterverfolgt – als habe er seine persönliche Anwartschaft auf dieses Projekt anmelden wollen. Nach dem Erscheinen dieser Utopie galt Wells als Apostel des Weltstaats. Darin geht er wiederum von der unweigerlichen Zusammendrängung früher weit voneinander getrennter Regionen und Staaten aufgrund der rasant fortschreitenden und das Verkehrswesen – mit dem Flugzeug als Beförderungsmittel von morgen – revolutionierenden Technik aus. Diese Tendenz lasse isolierte Gebilde wie Morus’ „Utopia“ mit ihrer idealen Abgeschlossenheit nicht mehr zu. Deshalb erklärt er gleich im ersten, „Topographical“ überschriebenen Kapitel apodiktisch: „No less than a planet will serve the purpose of a modern Utopia“.24 Die Modernität seiner Utopie ergibt sich aber nicht nur aus technologischer Warte, sondern auch aus dem ihr eingeschriebenen Zeithorizont. Wells verzichtet nämlich darauf, prästabilisierte Harmonie im Sinne seiner Vorgänger zu zeichnen, und legt seine Utopie nicht mehr statisch, sondern dynamisch an – im Eingangskapitel verwendet er dafür den Ausdruck „kinetic“.25 Damit zieht er die Konsequenzen aus der radikalen Verzeitlichung des Weltbildes durch Darwin, in dessen Gefolge auch die menschliche Gesellschaft als stets in Bewegung befindlich gedacht werden muß. Daß die Evolution auf einen Weltstaat zuläuft, ist Wells’ auf breiter Leinwand ausgemaltes Credo. Während er in „Anticipations“ lediglich seine Erwartungen hinsichtlich der Zukunft formuliert hatte, bringt er in „A Modern Utopia“ seine Sehnsüchte nach einer vernünftigen Weltordnung zum Ausdruck. „A Modern Utopia“ ist nicht mehr Befund, sondern schon Desiderat. Dieses Wunschbild ist die exakte Antithese zu den von ihm gebrandmarkten „headlong, aimless and haphazard methods“26 der viktorianischen Epoche, die radikale Korrektur dessen, was er früh als gesellschaftliches Defizit internalisiert hatte. Der utopische Entwurf ist gewissermaßen die Auslöschung seines Kindheitstraumas durch allumfassende Transparenz. Selbst die Beschreibung eines sauber und adrett eingerichteten Schlafzimmers in dem Gasthaus, in dem der 23 

Siehe Wells, 1961: 246 – 247. Wells, 1905: 11. 25  Ebd. 5. 26  Zitiert nach Müllenbrock, 1972: 33. 24 

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Besucher Utopiens anfangs übernachtet, scheint schon Wells’ Kindheitserfahrungen zu kompensieren!27 Die Makrostrukturen Utopiens lassen sein kompensatorisches Streben dann überdeutlich werden. Eine Bürokratie planetarischen Ausmaßes, die den weltweiten Arbeitsmarkt kontrolliert, setzt den Kontrapunkt zu viktorianischen Planungsmängeln. Sie wird durch den riesigen Zentralindex in Paris – wohl eine Verbeugung vor Englands neuem Partner in der „Entente cordiale“ (1904) – symbolisiert, der als administrative Notwendigkeit bei einer ständig in Bewegung befindlichen Bevölkerung bezeichnet wird. Der sich Naturwissenschaft und Technik massiv für seine Zwecke nutzbar machende Weltstaat, der keine Rücksicht auf nationalstaatliche Rivalitäten mehr zu nehmen braucht, ist der alleinige Grundbesitzer der Erde, unter dessen Aufsicht die Lokalregierungen weite Gebiete verwalten. In paternalistischer Weise ist er um eine Lenkung der Ökonomie bemüht. Allerdings ist die Wirtschaft Utopiens, um individuellen Ansporn aufrechtzuerhalten, weiterhin zu einem beträchtlichen, wenn auch begrenzten Teil kapitalistisch organisiert und dadurch bis zu einem gewissen Grade konjunkturellen Schwankungen unterworfen. Die von der heutigen kapitalistischen Weltwirtschaft geforderte Flexibilität von Arbeitnehmern, die freilich in Wells’ Zukunftsvision immer weniger körperlicher Plackerei ausgesetzt sind – auch das ein aktueller Aspekt –, ist schon vorgezeichnet. Die Gefahr, daß in einer weltweit nach dem Kriterium ökonomischer Funktionalität gesteuerten Gesellschaft Menschen zu bloßen Arbeitsbienen und Warenkonsumenten genormt werden, ist freilich nicht ganz von der Hand zu weisen. Vor den in der globalisierten Ökonomie unserer Gegenwart mit der Entfesselung eines ungehemmten Wirtschaftsliberalismus drohenden Verwerfungen ist der Bürger allerdings insofern geschützt, als der Staat dafür sorgt, daß jeder eine anständige Unterkunft hat, gut ernährt, guter Gesundheit und ordentlich gekleidet ist. Der Autor versucht offenbar, die Vorteile einer sozialistischen mit denen einer kapitalistischen Ordnung unter Vermeidung der jeweiligen Nachteile zu verbinden. Wells’ ansatzweiser „Welfare State“ fiel mit dem Beginn einer längeren Herrschaft der unter Lloyd Georges Anstoß eine umfangreiche Sozialgesetzgebung mit Krankenfürsorge und Arbeitslosenunterstützung durchführenden Liberalen Partei zusammen, womit England – langfristig gesehen – den Weg zum Wohlfahrtsstaat einschlug, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Erst Wells hat die von Francis Bacon in „New Atlantis“ (1627) projizierten Möglichkeiten technisch-naturwissenschaftlicher Umgestaltung der sozialen Wirklichkeit utopisch voll ins Bild gesetzt. Was Winwood Reade in „The Martyr­ dom of Man“ (1872) knapp skizziert hatte, die künftige Rolle der Wissenschaft als treibender Kraft zu globalem Wohlstand und einer weltweiten Industriege27 

Siehe Wells, 1905: 103 – 105.

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sellschaft, in der die Menschen den ganzen Planeten als ihre Heimat betrachten würden, hat Wells in seinem großflächigen Tableau sozialer Perfektionierung veranschaulicht. Die Kehrseite der Medaille, ihre Schattenseite, ist der rigorose Reglementierungszwang, dem die Bürger des Weltstaats unterworfen werden. Man kann darin Wells’ Überreaktion auf seine biographisch bedingte Wahrnehmung gesellschaftlicher Ziellosigkeit erblicken, die Ablösung dessen, was er als „that age of scramble and go-as-you-please“28 bezeichnet hat. Die weltumspannende Größenordnung sozialer Planung – seinem geradezu obsessiven Drang nach einer großräumigen, alles Kleinformatige tilgenden Sozialordnung hatte er zuvor in Fantasia-Form auch in „The Food of the Gods“ (1904) freien Lauf gelassen – hat ihr Äquivalent in der extensiven Beaufsichtigung der Bevölkerung und namentlich deren zahlreicher Unterschicht. Es sind kommensurable Größen, die ihre Entsprechungen in Wells’ tiefsitzender Aversion gegen kleinkariertes politisches Wursteln und der ambivalenten Verarbeitung seiner Herkunft haben. Der zur evolutionären Höherentwicklung des Menschengeschlechts bestimmte Weltstaat war für ihn offenbar nicht ohne maßstabsgetreue Kontrolle möglicher Störfaktoren denkbar. Das ideologische Konzept dafür lieferte ihm der ganz in der Zeitatmosphäre liegende Sozialdarwinismus, wie er etwa von Autoren wie Benjamin Kidd und John Beattie Crozier vertreten wurde. Zwar legt Wells in „A Modern Utopia“ ein Lippenbekenntnis gegen rassistisches Gedankengut ab und verwirft auch extreme Positionen der Sozialdarwinisten, doch das von ihm entworfene Sozialgefüge hat einen eindeutig sozialdarwinistischen Anstrich.29 Während er, der schon in „The Island of Doctor Moreau“ vor wissenschaftlicher Hybris gewarnt hatte, positive Züchtung zurückweist, verschreibt er sich um so ungenierter einer negativen Eugenik. Insofern überträgt er die darwinistische Vorstellung von der natürlichen Auslese auf die menschliche Gesellschaft, in der im Grunde nur den Tüchtigen oder Adaptationsfähigen eine Daseinsberechtigung zukommt. Nachdem er bereits in „Mankind in the Making“ in dem Kapitel „Certain Wholesale Aspects of Man-Making“ einen umfangreichen Katalog mit Vorschlägen zu negativer Auslese aufgestellt hatte, setzte er seine Eugenik30 in „A Modern Utopia“ fort, indem bestimmte, für die Höherentwicklung des Staates ungeeignete Typen von Menschen von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden. Durch Rassenhygiene, durch das, was er euphemistisch als „social surgery“ bezeichnet, können Erbkranke, Alkoholiker und Asoziale auf Dauer eliminiert werden. Die Umwertung wirtschaftlicher Gegebenheiten in psychisch-soziale Kategorien gestattet 28 

Wells, 1934b: 251. Das betont zurecht Schultze, 1984: 167, 170. 30  Zu Wells’ Liebäugeln mit eugenischen Maßnahmen siehe Nate, 2011: 55 – 63. 29 

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Wells seine rigorose utopische Planung. In der mit „Anticipations“ beginnenden Trilogie ist das Austrocknen des gesellschaftlichen Bodensatzes sich aufgeklärt gebendes sozialdarwinistisches Programm. Was Wells’ Zukunftsentwurf aus heutiger Sicht moralisch belastet, dessen eugenische Komponente, die von einem christlichen Standpunkt aus von G. K. Chesterton und Hilaire Belloc früh kritisiert wurde, fand in der angelsächsischen Welt gerade unter progressiven Köpfen sogar lange darüber hinaus Fürsprecher. Noch 1962 plädierte der erste Generalsekretär der Unesco, Julian Huxley, Enkel von Thomas Henry Huxley und älterer Bruder Aldous Huxleys, im Rahmen seines evolutionären Humanismus für ein umfangreiches eugenisches Programm und forderte ein Fortpflanzungsverbot für die nicht zukunftstauglichen zwanzig Prozent der Bevölkerung!31 Aus dieser perspektivischen Warte darf der dominante Zeitgeist vielleicht zur Entlastung von Wells’ darwinistischer Rigorosität ins Feld geführt werden. Der Charakter der Wells’schen Utopie verdeutlicht sich in ihrer Klassenstruktur. Die Bevölkerung ist in vier Klassen eingeteilt: „the Poetic“ (die Schöpferischen), „the Kinetic“ (die Tätigen), „the Dull“ (die Stumpfen) und „the Base“ (die Niedrigen). Der Staat hat eine bedingt assimilationsfähige Herrschaftskaste, die funktionale, aber demokratisch nicht legitimierte Elite der Platos Wächtern nachempfundenen „Samurai“, die er schon in „Anticipations“ unter dem Namen „New Republicans“ eingeführt hatte. Die gesamte politische Gewalt befindet sich in den Händen dieser „voluntary nobility“. Die „Samurai“ – die Namensgebung dieses Ordens könnte eine Geste an das seit 1902 mit England verbündete Japan darstellen – verdanken ihre Existenz der Tatsache, daß Wells der Meinung war, daß die Größe zukünftiger sozialer Organisation wirksamere Methoden der Kontrolle erfordere, als sie der demokratische Prozeß liefern konnte. Wells’ soziale Konstrukte weisen in der Regel einen demokratieskeptischen oder sogar demokratiefeindlichen Zuschnitt auf. Ihm ist deshalb gelegentlich der Vorwurf gemacht worden, mit extremen politischen Bewegungen zu sympathisieren, obwohl er sich vom Faschismus und vom Nationalsozialismus klar distanziert hat. Zweifellos wohnt seinem rigorosen Planungsdrang – wie fast allen utopischen Entwürfen – ein totalitärer Zug inne. Die Gattung der Utopie ist mit diesem Vorwurf auch immer wieder konfrontiert worden. Wells nimmt gewissermaßen das gattungstypische Privileg in Anspruch, über die Menschen seiner Zukunftswelt nach Gutdünken zu disponieren. Der Frage, wer seiner selbsternannten Elite von Sozialingenieuren das Recht verleiht, die Menschheit nach ihren Vorstellungen zu formen, hat sich Wells nie gestellt; sie erschien ihm offenbar zweitrangig oder gar kleinkariert gegenüber der Unabdingbarkeit seines visionären, von organisatorischen Präliminarien souverän absehenden Zielbewußtseins. 31 

Siehe hierzu noch kürzlich Sperling, 2016.

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In „A Modern Utopia“ hat Wells in den wissenschaftlichen Märchen noch mit einem eher düsteren Ausblick verbundene, apokalyptische Katastrophen-Szenarios erwägende weltumspannende Vorstellungskraft einer konsequent praktizierten „organised clairvoyance“32 Platz gemacht, die dazu bestimmt ist, den traditionellen, gegenüber starken Regierungen mißtrauischen Liberalismus abzulösen. Der globale Dirigismus der „Samurai“ spiegelt Wells’ allergische, früh nachweisbare Reaktion gegen eine ungesteuerte Gesellschaftspolitik wider. Die globale Richtung seines von einem kritischen Sozialismus gespeisten politischen Denkens offenbarte sich in dem vergeblichen Versuch, die von Sidney und Beatrice Webb geführte Fabian Society, in der er sich hitzige Debatten u. a. mit Shaw lieferte, in eine an die Proportionen des weltweiten Ordens der „Samurai“ angelehnte Organisation umzuwandeln. Der in seiner Autobiographie gegen die Fabier erhobene Vorwurf, daß diese nicht imstande gewesen seien, über den Tellerrand der rivalisierenden imperialistischen Großmächte vor 1914 hinauszublicken,33 zeigt daß Wells trotz seines durchaus vorhandenen Patriotismus, der ihn das Empire auch mit Wohlwollen betrachten ließ, der Anbahnung weltweiter Solidarität den Vorrang einräumte. Daß nationale Befugnisse auf eine supranationale Ebene übertragen werden müßten, war für ihn eine ausgemachte Sache. Seine letztliche Präferenz stand nicht im Zweifel, obwohl er gerade in der Zeitspanne bis zum Ersten Weltkrieg bestrebt war, seine internationalistischen Ziele unter Salvierung seines nationalen Gewissens zu bekunden. Allerdings zog Wells’ bei bedeutenden englischen Autoren des 20. Jahrhunderts eher seltene Herkunft aus dem Kleinbürgertum seinem Engagement gegen soziale Ungerechtigkeit, die durch weitsichtige Maßnahmen zu überwinden sei, zugleich gewisse Grenzen. Die aus seiner kleinbürgerlichen Sozialisierung erwachsene janusköpfige Haltung gegenüber der Arbeiterklasse zeigt sich in „A Modern Utopia“ in unübersehbarer Schärfe. Einerseits ist er sich der Misere der Arbeiter durch die von ihm getadelten wirtschaftlichen Verhältnisse, deren bedrückende Folgen er in seinem eigenen Elternhaus erleben mußte, bewußt; so tritt er für Sozialfürsorge für die Minderbemittelten ein und fordert – ein ironischer Fingerzeig – sogar einen Sozialplan für die von der Nachkommenschaft Auszuschließenden. Andererseits distanziert sich Wells, der mit marxistischen Konzepten eines revolutionären Proletariats nichts anzufangen wußte, von der seiner Auffassung nach durch einen strengen Normenkontrollzwang zu domestizierenden Unterschicht mittels seiner eugenischen Maßregelungen. Was der ähnlich unsentimental denkende Shaw als polemischen Wunsch ins Auge faßte, die Abschaffung der Arbeiterklasse selbst, praktiziert Wells als Utopist: die Beseitigung des Elends der Massen durch die Beseitigung der Massen selbst. Wells, der 32  33 

Wells, 1905: 165. Siehe Wells, 1934b: 260 – 261.

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die Masse nie verklärte, hat, unter dem Einfluß der in seinem kleinbürgerlichen Elternhaus vermittelten Ressentiments, der Arbeiterklasse keine entscheidende, aktive politische Rolle zuerkannt – der Zukunftsstaat wird dem Gros der Bevölkerung stets durch eine aufgeklärte Minderheit oktroyiert. In „A Modern Utopia“ zeigt sich der außenpolitische Verschiebungen stets seismographisch exakt reflektierende Wells über die neueste Entwicklung wohlinformiert, indem er als Vorstufe zu der herbeigewünschten Völkersynthese eine von England, Frankreich und den Vereinigten Staaten geführte internationale Gemeinschaft entwirft, in die auch das sich von seinen Dreibundpartnern entfremdende Italien einbezogen wird. Die gleichzeitige Aussparung des von Wells schon um die Jahrhundertwende negativ beurteilten Deutschen Reiches aus dieser Gruppierung deutet darauf hin, daß er hier bestimmten, von einer außenpolitischen Elite vorgegebenen Vorstellungen folgt. Jedenfalls bilden nationale Interessen die Ausgangsbasis für Wells’ internationalistisches Gedankengebäude. Gleichwohl signalisierte Wells mit seiner Abkehr von zwischenstaatlicher, kriegerische Verwicklungen nach sich ziehendender Rivalität und Hinwendung zu weltstaatlicher Solidarität seinem Publikum seinen ideellen Abstand von der politischen Normalität des Tages. Sein soziales, seit seiner Kindheit mitgeschlepptes Trauma hatte sich zum utopischen Traum vom Weltstaat sublimiert, mit dem er den Traditionalisten den Fehdehandschuh hinwarf. VI.  Kosmopolitismus als Universalgeschichte: „The Outline of History“ Nach der epochalen Zäsur des Ersten Weltkriegs trat Wells mit einem Paukenschlag an die Öffentlichkeit, der seinem kosmopolitischen Streben neues Gewicht gab. In „The World Set Free“ (1914) hatte er noch vor Kriegsausbruch die Folgen nationalistischer Zerfleischung ausgemalt, und in dem das deutsch-englische Verhältnis an einer kritischen Weggabelung beleuchtenden Weltkriegsroman „Mr. Britling Sees It Through“ (1916) hatte er trotz zwischenzeitlicher nationalistischer Vehemenz eine konziliante, den Ballast nationaler Einseitigkeiten abwerfende Haltung eingenommen. Jetzt wagte er mit der als Universalgeschichte angelegten „Outline of History“ (1920) einen großen Wurf, dessen gewaltige, evolutionäre Beharrlichkeit suggerierende Dimensionen gewissermaßen das Antidot zu dem ungeheuren Zerstörungspotential des Weltkriegs symbolisierten. Kein anderer Autor hatte ein so weitgespanntes Vorhaben wie „The Outline of History“ jemals in Angriff genommen, die sich von den ersten Regungen organischen Lebens bis zum Versailler Vertrag erstreckt – Globalisierung in historiographischem Gewand. Wells wurde dabei von der Überzeugung geleitet, daß die unheilvollen demagogischen Konsequenzen nationalistischer Geschichtsschreibung nur durch einen allen zugänglichen Fundus gemeinsamen Geschichtswissens überwunden wer-

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den könnten; der universale Blick sollte Vereinzelung in Gemeinsamkeit überführen. Als Wells, der schon in dem Pamphlet „History Is One“ (1919) die Einheit der Weltgeschichte behauptet hatte, bewußt wurde, daß keiner der Fachgelehrten ein solches Unternehmen wagen würde, hatte er es selbst angepackt. Natürlich konnten kritische Einwände nicht ausbleiben; am bekanntesten ist Wells’ Kon­ troverse mit Hilaire Belloc über die Einschätzung des Katholizismus geworden. Zwar hatte die in England traditionell als Sparte der Literatur geltende Historiographie Popularität nie verschmäht, doch brach Wells mit der „Outline of History“ schon zu neuen, massiveren Formen der Publikumswirksamkeit auf; sein ihn in der Folgezeit ganz ausfüllendes Projekt der Welterziehung hatte begonnen. Den maßgeblichen Antrieb zu seiner Bravourleistung hat Wells gegen Ende seines voluminösen zweibändigen Werks konzis formuliert: „Human History becomes more and more a race between education and catastrophe“.34 Das ist die durch die Weltkriegskatastrophe aktualisierte Einsicht seines Lehrers Thomas Henry Huxley, daß der Mensch als moralisch begabtes Gesellschaftswesen den moralisch indifferenten Prozeß der Evolution durch einen ethischen Prozeß ersetzen müsse. Die in jugendlichem Alter von Huxley empfangenen geistigen Impulse wirkten in Wells’ gesamtem schriftstellerischen Schaffen nach. Die Weite des biologischen,35 im Untertitel „Being a Plain History of Life and Mankind“ bereits anklingenden und der Evolution einen titanischen Anstrich gebenden Ansatzes sollte Partikulargesichtspunkte obsolet und die Entwicklung des Homo sapiens zu Solidarität als weltgeschichtlichen Endzweck erscheinen lassen. Griechischer Logos, jüdischer Monotheismus und christliche Menschheitsidee werden teleologisch als Etappen auf dem Wege zum Ziel des Weltstaats aufgefaßt. Wells interpretiert die Weltgeschichte als einen heroischen, von Rückschlägen unterbrochenen, aber letztlich zum Erfolg bestimmten Kampf der Menschheit mit ihren Widersachern wie Krieg und Nationalismus. „The Outline of History“ kann als kosmopolitisches Manifest zur Welteinigung durch ‚Entnationalisierung‘ gelesen werden: „Nationalism as a God must follow the tribal gods to limbo. Our true nationality is mankind“.36 Wells, der im Mai 1918 von Lord Northcliffe zum Leiter der Propagandaabteilung Deutschland nach Crewe House berufen worden war, trat in seiner um dieselbe Zeit verfaßten Schrift „In the Fourth Year“ (1918) gleichwohl schon für die Abwicklung der imperialistischen Herrschaftssysteme einschließlich des „British imperialism“ ein!37

34 

Wells, 1920: 758. biologische Ansatz eröffnete nach Wells’ Ansicht ein breiteres Geschichtsverständnis: siehe Wells, 1934c: 717. 36  Wells, 1920: 750. 37  Siehe Wells, 1934c: 699. Er bezieht sich auf seine eigenen Ausführungen in Wells, 1918: 40. 35  Der

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Die „Outline of History“, von Historikern wie Arnold J. Toynbee in „A Study of History“ und später A. J. P. Taylor mit Lob bedacht, aber von dem Romanisten Ernst Robert Curtius mit dem wohlfeilen, über die primär pädagogischen Intentionen des Autors hinwegsehenden Etikett des Dilettantismus versehen,38 war ein überwältigender finanzieller Erfolg und wurde in fast alle bedeutenden Sprachen übersetzt. Mit dieser Zusammenschau der Weltgeschichte traf Wells ungeachtet seiner Eigenart, brillante intellektuelle Einsichten mit leichtfertigen Urteilen zu vermischen, den Nerv des nach der Kriegskatastrophe internationalistischen Bestrebungen günstig gesinnten Publikums. Sie war gewissermaßen das positive Gegenstück zu Oswald Spenglers um die gleiche Zeit erschienenem „Untergang des Abendlandes“ (1918 – 22). Wells verstand die „Outline“, die im Schlußteil auch schon als zupackendere und geradlinigere Alternative zu der gerade ihre Arbeit aufnehmenden, zimperlich-vornehmen Genfer Institution gedacht war, als eine erste Skizze zur ideologischen Erziehung des Weltbürgers. Seinen Optimismus,39 die unmittelbare Zukunft betreffend, bezog er, an die zuerst in „Anticipations“ dargelegten Vorstellungen anknüpfend, aus der rasch fortschreitenden mechanischen Revolution mit ihrer Tendenz zu einer die verschiedenen Gebiete der Erde zusammenführenden, immer intensiveren Kommunikation. So eignet seiner Geschichtsdarstellung trotz der geologischen Zeitentiefe ein dynamisches, vorwärtsdrängendes Element mit Technik und Wissenschaft als Katalysatoren für politische Reaktionen. Denn die Politik, die die im Fortgang der Zivilisation erzeugten Zwänge der Objektivität, die sich autonom vollziehenden Vorgänge der Wirklichkeit akzeptieren muß, hat sich, so lautet Wells’ Credo, den technologischen Vorgaben anzupassen – Ausdrücke wie „to adjust“ und „adjustment“ sind in Wells’ Schriften jetzt immer häufiger auftauchende Schlüsselwörter. Der weltbürgerlichen Erziehung wies er eine die Politik anspornende Funktion zu, und so hat er schon in der „Outline“ den auf sein enzyklopädisches Projekt vorausdeutenden Leitgedanken „of the free and growing common intelligence of mankind“40 zur Regulierung der menschlichen Angelegenheiten ins Spiel gebracht. VII.  Erweiterung der medialen Palette In „Men Like Gods“ (1923) vertraute Wells seine optimistische Zukunftsvision noch einmal dem klassischen Genre der Utopie an. Unter zeitgeschichtlichem Aspekt zugleich als Satire auf den Imperialismus angelegt – Catskill alias Churchill und Burleigh alias Balfour verkörpern das antiquierte Denken der die alternative Welt besuchenden Erdlinge – , führt diese wohl bekannteste Utopie von Wells vor 38 

Siehe die offenkundige Bezugnahme auf Wells’ „Outline“ in Curtius, 1963: 381. Der den ersten Band der „Outline“ für „The Athenaeum“ rezensierende E. M. Forster sagte, nur ein Optimist „could attempt a history of this planet“ (siehe Parrinder, 1972: 253). 40  Wells, 1920: 753. 39 

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allem dessen immer wieder angepeiltes Endstadium der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen vor Augen, die Abschaffung traditioneller Formen des Regierens nach Installierung einer funktionalen, naturwissenschaftlich geschulten Elite. Durch viele Generationen biologischer Kontrolle konnte „the Last Age of Confusion“,41 womit Wells’ eigene Gegenwart gemeint ist, überwunden werden und dauerhaft einer friedlichen, von irdischen Konflikten befreiten Menschheit Platz machen. Die Kombination von Vertrauen in globale Gesellschaftsplanung und Vertrauen in die Technik als Motor unaufhaltsamen Fortschritts brachte es mit sich, daß Wells trotz Eintrübung der mentalitätsgeschichtlichen Großwetterlage als einer der letzten Autoren noch positive Utopien zu schreiben vermochte, deren optimistische Grundhaltung ihn zur literarischen Hauptzielscheibe von Antiutopisten wie Aldous Huxley und Orwell machte. In „Men Like Gods“ ist von einer dreitausend Jahre langen Erziehung des Menschengeschlechts die Rede,42 einer äonenhaften Prognose, die Wells’ eigenem ungeduldigen Temperament diametral widersprach. Weder gab er sich fernerhin mit langfristigen Denkanstößen zufrieden noch mochte er weiter auf primär literarische Qualitäten setzen. Die sich in den zwanziger Jahren abzeichnende Verschlechterung des politischen Klimas veranlaßte ihn vielmehr, seine Weltstaats­ pläne auf eine breitere Plattform zu stellen. Die geographische und historische Weite seines politischen Aufklärungsfeldzuges fand jetzt ihr Pendant in einer immer expansiveren, drängenderen und aufgrund ihres repetitiven Charakters seine Leserschaft zusehends strapazierenden Rhetorik. An die Stelle imaginativer Überzeugungskraft trat – unter Intensivierung des seine schriftstellerische Loyalität seit der Jahrhundertwende absorbierenden Ausgangsimpulses – zunehmend die direkte propagandistische Ansprache des für seinen kosmopolitischen Kreuzzug zu gewinnenden Publikums. Den ersten Schritt auf diesem Weg tat Wells mit dem zuerst in seinem Roman „The World of William Clissold“ (1926) geäußerten Gedanken einer offenen Verschwörung, den er in dem das Konzept einer „New Republic“ weiterentwickelnden Büchlein „The Open Conspiracy“ (1928) konkretisierte. Es war ein Appell an die kreativen Kräfte der Menschheit, die Fesseln nationalstaatlicher Souveränität zu sprengen und den Weg zum Weltstaat einzuschlagen. 1931 zu „What Are We to Do with Our Lives?“ umgearbeitet, war dieser allerdings vage bleibende Appell ein Zeichen dafür, daß Wells angesichts des Ansteigens der internationalen Fieberkurve – das Scheitern des von ihm zunächst begrüßten Völkerbundes hatte er längst enttäuscht registriert – die Notwendigkeit verspürte, publizistisch dagegenzuhalten. Seine optimistische Annahme, daß Wirtschaftsführer und Wissenschaftler der offenen Verschwörung beitreten würden, wurde von wohlmeinen41  42 

Wells, 1923: 97. Siehe ebd. 101.

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den Intellektuellen wie J. M. Keynes und Bertrand Russell sogleich in Zweifel gezogen.43 Vertrug sie sich überhaupt mit Wells’ andernorts geäußerter Skepsis gegenüber den Zwängen kapitalistischer Wirtschaftspraxis? In zwei großangelegten Büchern hat Wells seine jetzt mit religiöser Weihe umgebene Weltstaatsideologie noch einmal umfassend dargelegt. Das Volumen dieser Bücher war Indiz für Wells’ im großen Stil erfolgendes Sich-Aufbäumen gegen die immer ungünstiger werdenden politischen Umstände. In dem nationalökonomisch und soziologisch ausgerichteten Werk „The Work, Wealth and Happiness of Mankind“ (1932), welches das gesamte gegenwärtige Tun des Menschen in den Blick nimmt, soll die erdrückende Fülle der die Gemeinsamkeit menschlicher Anliegen herausstellenden Fakten offenbar die Verpflichtung zu weltweitem Gemeinschaftssinn erzwingen. Sogar der die Trivialität der statistischen Angaben monierende F. R. Leavis gestand in seiner Rezension zu, daß Wells’ Bemühen, die Loyalität der Menschen durch die Wahrnehmung ihrer essentiellen Einheit umzuorientieren, keineswegs trivial sei, und sprach von der „noble disinterestedness“,44 der Wells sein Leben gewidmet habe. Den Kampf gegen „the political fragmentation of humanity“45 setzte Wells mit unvermindertem, sogar noch gesteigertem Elan in „The Shape of Things to Come“ (1933) fort, „the last important book I have written“,46 wie er in seiner Autobiographie vermerkt. Der politischen Zersplitterung der Welt setzte er in dieser halb fiktiven Geschichte der anderthalb Jahrhunderte später Wirklichkeit gewordenen Zukunft sein hochgesinntes evolutionäres Pathos entgegen, als ob seine fast exorzistisch anmutende Zukunftsvision dem von ihm gegeißelten Chaos der Gegenwart Paroli bieten könnte. Von der Annahme ausgehend, daß materieller Überfluß auch geistigen Reichtum hervorbringen werde, entfaltet Wells die Vision einer mentalen Höherentwicklung des Menschen, der seine künstliche Evolution in die Hand nehmen werde. Trotz der von ihm weiter vorgesehenen eugenischen Maßnahmen mündet Wells’ Zukunftsoptimismus in die Sublimierung menschlicher Egoismen zu humanem Miteinander ein. Er beschwört das Zusammenwachsen der Menschheit zu „one single organism“47 und sieht den Menschen – Ausweis seiner hartnäckigen Zukunftsgläubigkeit – in voluntaristischer Denkmanier auf „a new phase, a phase with a common consciousness and a common will“48 zusteuern.

43 

Vgl. Wagar, 1961: 193 – 194. Parrinder, 1972: 316. 45  Wells, 1932: 631. 46  Wells, 1934c: 748. 47  Wells, 1934a: 429. 48  Ebd. 430. 44 

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„The Shape of Things to Come“ war Wells’ letzter großer Wurf, dessen revolutionärer Überschwang – revolutionär im Sinne der von ihm geforderten Umgestaltung der bisherigen Weltordnung – zunehmend von einem eher pragmatischen, wenn auch gleichgerichteten Ansinnen überlagert wurde. Wells war schon früh, in embryonaler Form bereits in „The First Men in the Moon“,49 von dem aufklärerischen Gedanken einer enzyklopädischen Zusammenfassung allen Wissens erfüllt gewesen, wie u.a. die Pläne in Stephen Strattons Verlagshaus in „The Passionate Friends“ (1913) belegen. Die Vorstellung einer Weltenzyklopädie beschäftigte ihn jetzt zusehends. In „The Work, Wealth and Happiness of Mankind“ ist ein ganzes Unterkapitel, „The Role of an Encyclopaedia in a Progressive Civilization“, der Idee gewidmet, „to direct the ideological side of human education“,50 und in „The Shape of Things to Come“ läßt die enzyklopädische Organisation in Barcelona, die das Gedächtnis der Menschheit verkörpert, „a collective Brain, the Encyclopaedia, the Fundamental Knowledge System“51 bereits verheißungsvoll aufleuchten. Wells, der 1936 einen Vortrag vor der Royal Institution hielt und im folgenden Jahr einen gleichgearteten, „World Brain“ überschriebenen Beitrag für die neue „Encyclopédie Française“ lieferte, verband mit dem Projekt einer Weltenzyklopädie die Hoffnung, der Menschheit ein gemeinsames Zielbewußtsein zu vermitteln, und plante sie auch als eine Kontrollinstanz für die Ausräumung internationaler Mißverständnisse, die den Weltfrieden näherbringen sollte. Die qualifizierten Beiträger sah er dazu bestimmt, durch ihre offene Verschwörung eine neue Weltordnung zu schaffen. In Wells’ Propaganda52 für ein offen zu organisierendes Netzwerk zur permanenten Bereitstellung, Verbreitung und Aktualisierung des Wissens sehen manche die Keimzelle des Internets. Wells, der noch auf den Mikrofilm als neue, Wissensverbreitung ermöglichende Technologie setzte, war von der Überzeugung erfüllt, daß ein solches Netzwerk mittels der Freiheit des Ideenaustausches die gemeinsame Menschlichkeit offenbaren und sich politisch heilsam auswirken werde. Jüngst hat Timothy Garton Ash in seiner optimistischen Vision „Free Speech. Ten Principles for a Connected World“ (2016) das Netz als kommunikative Entsprechung zu der im Werden begriffenen Weltgemeinschaft (‚Cosmopolis‘) konzipiert. Wahrscheinlich hätte Wells dem noch vor kurzem als demokratischer Heilsbringer gefeierten Internet trotz der Verkürzung oder Banalisierung des politischen Diskurses dank seiner die Allgemeinheit einbeziehenden aufklärerischen Effekte mehr Positives als Negatives abgewinnen können. 49 

Siehe Wells, 1961: 227 f., 240. Wells, 1932: 769. 51  Wells, 1934a: 420. 52  Mehrere seiner Vorträge und Artikel wurden in Buchform in „World Brain“ zusammengetragen; vgl. Sherborne, 2012: 320. 50 

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Bei Absenken der Tonhöhe gegenüber dem rhetorischen Crescendo der Schlußpartien von „The Shape of Things to Come“ war dieser Werbefeldzug mit seiner Erweiterung des Persuasionspotentials zu planetarischer Kommunikation noch einmal ein neuer Zug ins Große, in die Wells stets vorschwebenden globalen Dimensionen menschlicher Vorwärtsbewegung. In der von ihm herbeigewünschten Weltenzyklopädie spiegelte sich, biographisch-entwicklungsmäßig betrachtet, ein letzter Reflex seines frühen Aufbegehrens gegen die unsystematische Erziehung seiner Kindheit und seines lebenslangen Protests gegen die Unzulänglichkeiten des englischen Bildungswesens. Mit der in „World Brain“ (1938) projizierten intellektuellen Schaltzentrale als weltweitem Hirnzentrum hatte sich Wells’ nie nachlassendes Streben nach einer Globalisierung politischen Denkens, nach Ablösung eines agonalen durch ein partizipatorisches Politikverständnis konzeptionell und artikulatorisch erschöpft. Die Tatsache, daß Wells noch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit leicht abgewandelten Reprisen früherer optimistischer Entwürfe aufwartete, tut dieser Feststellung keinen Abbruch. Zwischen den wissenschaftlichen Märchen seiner Anfänge und dem enzy­ klopädischen Kulminationspunkt eines weltumspannenden Hirnzentrums spannt sich fast ein halbes Jahrhundert. Ungeachtet der Vielseitigkeit seines Schaffens läßt sich dieser lange Zeitraum aus schriftstellerischer Warte auf den gemeinsamen Nenner von Wells’ biographisch bedingtem Trachten bringen, sich aus der Enge seines familiären, sozialen und auch nationalen Umfeldes zu befreien. Dieser Befreiungsakt offenbarte sich zunächst in einer durch seine biologischen Studien inspirierten Phantasie, die in den „scientific romances“ neue Dimen­ sionen für die Betrachtung unseres Planeten auftat und durch die Weite des Ansatzes selbstverständliche Annahmen über die Bestimmung der Erde und ihre gesellschaftliche Organisation in Frage stellte. Die insbesondere von den späten politisch-didaktischen Schriften in der Sekundärliteratur oft nahezu hermetisch abgeriegelten wissenschaftlichen Märchen bilden unter integrativem Aspekt sogar den keimhaften Auftakt zu Wells’ Langzeitprojekt. Bereits um die Jahrhundertwende richtete sich der Wells’ geistiges Temperament beherrschende Veränderungsimpuls auf das Problem, wie die gesellschaftliche Entwicklung bislang verlaufen sei und welche Möglichkeiten der Verbesserung sie in sich barg. Denn von „Anticipations“ an sann sein umtriebiger Intellekt auf Umgestaltung der bisherigen Sozialordnung, der er, nationale Perspektiven transzendierend, das internationalistische Ziel weltweiten Zusammenschlusses wies. Sein gesamtes schriftstellerisches Wirken stellte er seitdem, von damals sich bereits ankündigenden Tendenzen zu globalem Zusammenrücken angeregt, in den Dienst der regulativen Idee eines Weltstaats, der allein die Befreiung des Menschen von seinen selbstzerstörerischen Anlagen versprach. Sein schriftstellerisches Werk ist der Niederschlag dieses als Lebensaufgabe verstandenen Impulses, dessen sukzessive, den jeweiligen Zeitumständen rhetorisch angepaßte Umsetzung die innere wie äußere

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Einheit seines Schaffens ausmacht. Die gequälte Endzeitstimmung von „Mind at the End of Its Tether“ (1945), seinem letzten veröffentlichten, in Erwartung des Todes geschriebenen Buch schmälert nicht sein lebenslanges, leidenschaftliches Festhalten an seinem humanitären Fernziel, zumal der Pessimismus von „Mind at the End of Its Tether“ durch den heiter-optimistischen Duktus der um die gleiche Zeit verfassten Essaysammlung „The Happy Turning“ (1945) ausbalanciert wird. VIII.  Wells’ Aktualität Dieser Essay hat gezeigt, daß sich Wells’ unter rein literarischen Gesichtspunkten ungleiches Werk einem ganzheitlichen Zugriff öffnet, wenn man es unter das leitende Kriterium eines von frühauf gesellschaftskritischen Aussagewillens stellt. Das von Wells unter dem Anstoß familiärer Misere empfundene Ungenügen an den viktorianischen Verhältnissen führte zu seinem langfristigen Aufbegehren gegen den gesellschaftlichen Status quo und resultierte von seiner inneren Konsequenz her in dem Gegenmodell eines weltumspannenden sozialen Kosmos. Dieser Zukunftsentwurf verdient unter den Vorzeichen gegenwärtiger politischer Konstellationen und Denkströmungen verspätete Anerkennung. Insofern darf dieser Essay als Plädoyer für eine zeitgerechte Korrektur des Aufmerksamkeitsdefizits verstanden werden, das diesen Autor seit längerem umgibt. Gerade der unter den obwaltenden Umständen zutage tretende Sisyphuscharakter seines unaufhörlichen Werbens für den Weltstaat drückt Wells’ „tour de force“ das Siegel unverbrüchlicher Loyalität zu seinem humanitären Sendungsbewußtsein auf. Sein die Mitwelt irritierender Optimismus war gewissermaßen das Spiegelbild seines Unwillens, sich den vernunftwidrigen, evidente Notwendigkeiten ignorierenden Zeitläuften zu beugen. Der Weltstaatsapostel Wells war, anders als spätere bloße Trittbrettfahrer des Internationalismus, das Gegenteil eines Opportunisten. Er muß das Abbröckeln seiner Publikumsbasis gespürt haben, als in der Spätphase seines Schaffens manche Zeitgenossen, darunter auch wohlmeinende, sein gelegentlich in eine pompöse Diktion gekleidetes Insistieren auf einem illusionär erscheinenden Vorhaben als penetrant empfanden. In seinem Roman „A Man of Parts“ (2011) charakterisiert der umsichtig zeitgenössisches Material verarbeitende David Lodge Wells’ offene Verschwörung in ironischer Übertreibung als eine politische Bewegung, die nicht mehr als ein Mitglied, nämlich den Urheber selbst, zählte und nie außerhalb der Einbände seiner Bücher existierte.53 Immerhin trat die kurzlebige „Federation of Progressive Societies and Individuals“ noch unter den Vorzeichen von Wells’ offener Verschwörung an.54 53  54 

Siehe Lodge, 2011: 524. Siehe Wagar, 1961: 197 – 198.

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Die sich damals freilich immer weiter öffnende Schere zwischen verstärkter schriftstellerischer Produktivität und nachlassender Publikumsresonanz braucht aber einem positiven Ausblick auf Wells’ Engagement nicht entgegenzustehen. Insbesondere wenn man bedenkt, wie der Primat des Ethischen heutzutage immer mehr zum Beurteilungsmaßstab politischen Handelns wird, sollte man Wells postume Anerkennung nicht versagen. In seinem Weltstaatsprojekt sah Wells das Heilmittel, um die beunruhigende Diskrepanz zwischen den technologischen Fähigkeiten des Menschen und seiner politisch-moralischen Schwäche zu beheben. Angesichts der sich in der Zwischenkriegszeit seit den späten zwanziger Jahren abzeichnenden Verdunkelung des politischen Horizonts muß Wells seine früh gestellte ‚Sozialprognose‘ eines unweigerlichen Zusammenrückens der Menschheit zu der unbedingten ethischen Verpflichtung verinnerlicht haben, dem Weltstaatsgedanken Priorität vor allen anderen Belangen einzuräumen. Darin mag ihn das Gefühl bestärkt haben, daß seine internationale Ausstrahlung vor allem in den Vereinigten Staaten noch immer beträchtlich war. Die Großen der Welt haben ihn in den dreißiger Jahren empfangen, Franklin D. Roosevelt, dessen innenpolitisches Programm des „New Deal“ zukunftsträchtige Ansätze zu enthalten schien, ebenso wie Stalin, den er in seinem naiven Enthusiasmus vergeblich für seinen Plan eines sozialistischen Weltstaats einzunehmen versuchte! Von den zaghaften und verlogenen Ansätzen des von ihm zunächst begrüßten Völkerbundes bitter enttäuscht,55 setzte sich Wells, der dem Foreign Office schon seit längerer Zeit mit großer Skepsis gegenüberstand, als trotziger Widerpart zu zwischenstaatlichem Traditionalismus in Szene, um die seiner Meinung nach in den internationalen Beziehungen waltende Orientierungslosigkeit – die Durkheim’sche Wortprägung „Anomie“ wäre hier angebracht – zu überwinden. Der abweisenden Widrigkeit der politischen Realitäten setzte er, dem die bescheidenere Zielsetzung der von Coudenhove-Kalergi begründeten Paneuropa-Bewegung schon bald unzureichend erschien,56 mit missionarischer Unbeirrbarkeit das Ostinato seiner die Notwendigkeit einer Weltgemeinschaft beschwörenden Schriften entgegen. Wells’ manche Zeitgenossen monoman anmutende publizistische Kraftanstrengung hatte damals das Zeitklima gegen sich; sie trug jedoch die Keime künftiger Aufwertung in sich. Immerhin hatte er noch die Genugtuung, daß die Sankeysche Erklärung der Menschenrechte, für die er sich persönlich eingesetzt hatte, in die Charta der Vereinten Nationen integriert wurde. Vor dem Fazit zu Wells’ Mission als politischer Schriftsteller sei das Wort noch einem amerikanischen Autor überlassen, dessen Standortbestimmung zu Wells ein halbes Jahrhundert später keineswegs veraltet erscheint und der Tendenz die55  Harold J. Laskis Kritik, daß der Völkerbund scheitern müsse, „wenn er nicht zu einer Abschaffung der nationalen Souveränität in Weltangelegenheiten führe“ (Gollwitzer, 1982: 457), entsprach Wells’ Auffassung. 56  Vgl. Partington, 2013: 322.

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ses Essays nahekommt. In Saul Bellows Roman „Mr. Sammler’s Planet“ (1969) bildet Wells einen durchgehenden Bezugspunkt im Rahmen der pessimistischen Auseinandersetzung des Verfassers mit dem Zeitgeist. Mr. Sammler, der vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem englischen Autor in näherem Kontakt stand, bedenkt in Erinnerung an dessen fortschrittlich-aufklärerisches Ideengut die seitdem eingetretene gesellschaftliche Entwicklung. Dabei muß er, der eigentlich ein Buch über Wells schreiben wollte, sich eingestehen, daß letzterer inzwischen obsolet geworden ist. Doch dieses Eingeständnis wird von der melancholischen Einschätzung begleitet, daß Wells im Grunde genommen auf dem richtigen Weg gewesen sei mit seiner Idee einer Emanzipation der Menschheit zu einer geordneten Weltgemeinschaft.57 Zwar hat Mr. Sammler, der im Gespräch mit Dr. Lal den auch von dunklen Gedanken gequälten Wells unter Berufung auf Schopenhauer von dem Vorwurf eines vulgären Optimismus freispricht,58 selber gewisse Zweifel an der Regierbarkeit der Menschheit, doch hängt er in seiner Schlußerklärung Wells’ Zielvorgabe als einem ideellen Meilenstein nach: „,I would not swear that mankind was governable. But Wells was inclined to believe that it was. He thought, most of the time, that the minority civilization could be transmitted to the great masses, and that orderly conditions for this transmission were possible‘“.59 Wells’ Anwartschaft auf Einverleibung in unser Gegenwartsbewußtsein beruht nicht zuletzt darauf, daß er mit seinem Weltstaatskonzept nicht ins Blaue hinein phantasierte, sondern sich gewissermaßen von einem soziologischen Kompaß leiten ließ. Als Seismograph der sich um 1900 in ersten Ansätzen ankündigenden Globalisierung hat er die politisch-gesellschaftlichen Konsequenzen der rasant fortschreitenden technologischen Entwicklung bemerkenswert früh auszuloten versucht. Das gegenwärtige Zeitalter der Globalisierung mit seinem gewaltigen Veränderungspotential hat seinen diskursiven Vorlauf im vielschichtigen Werk von Wells. Er hat eine Brücke zu schlagen versucht von der ihm gewissen Obsoleszenz der alten Welt zu der ihm schon aufleuchtenden Struktur der neuen Welt. Als Literat der Globalisierung ist er in doppeltem Sinne unser Zeitgenosse. Einerseits war Wells ein frühzeitiger kritischer Beobachter der technologisch-ökonomisch vorgezeichneten Entwicklung und ihrer Verwerfungen. So hätte das heutige Leitbild eines atomistisch-individualistischen Universalismus, wie es im Interesse einer ökonomistischen Ideologie weltweit propagiert wird, vor seinen Augen nicht bestehen können. Auch hätte er die sich heute abzeichnende, in einem internationalen Geflecht von Fachgremien und multinationalen Firmen resultierende Verselbständigung wirtschaftlicher Machtansprüche („global governance“) abgelehnt, 57 

Siehe Bellow, 1971: 26, 35, 168. Siehe ebd. 168. 59  Ebd. 171. 58 

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weil sie seinem Leitgedanken einer echten politischen Zentrale („global government“) zuwiderläuft. Die im Gefolge der Globalisierung über eine unvorbereitete Welt hereinbrechenden Einwandererströme und Flüchtlingswellen waren von ihm kaum absehbar. Andererseits – und vor allem – machte er sich, dem optimistischen Kalkül den Vorrang einräumend, zum Anwalt des allein den universellen Frieden sichernden und deshalb von ihm leidenschaftlich herbeigewünschten Weltstaats. Seine Forderung eines globalen Gemeinwesens mit weltweiter Koordinierung auf allen das Wohlergehen der Menschheit betreffenden Gebieten, einer sozialpolitischen Agenda, die an Aktualität nichts eingebüßt hat, sollte dem in Vergessenheit geratenen Wells gerade in Deutschland verdiente Aufmerksamkeit eintragen, wo Internationalismus mittlerweile zur obersten politischen Richtschnur geworden ist. Der nach wie vor, ja dringlicher denn je als regulative Idee auf der politischen Tagesordnung stehenden Forderung nach Praktizierung einer Weltinnenpolitik hat niemand beharrlicher vorgearbeitet als Wells. Dieser Essay hat aufgezeigt, wie sich sein humanitäres Anliegen in Form einer sich literarisch-publizistisch immer höher schraubenden Spirale entfaltete. Die robuste, künstlerische Ambitionen unbekümmert verabschiedende Intensivierung seines Engagements, die ihn literaturgeschichtliches Prestige kostete, ist – ausgleichende Gerechtigkeit der Rezeptionsgeschichte – der Anerkennung von öffentlicher Warte wert. Die späte Würdigung seines Vermächtnisses hätte ihm mehr bedeutet als literarischer Nachruhm. Den kosmopolitischen Postulaten eines Carl Friedrich von Weizsäcker und eines Jürgen Habermas, die hierzulande hoch geschätzt werden, ist Wells weit vorausgeeilt. Wells starb am 13. August 1946. Ein Jahr zuvor war die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen worden. Allein dieses Datum kommt einer Rehabilitierung seines Lebenswerks gleich.

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„Beyond Therapy“ Anmerkungen zur technischen Aufrüstung des Menschen1 Von Richard Saage „Beyond Therapy“. Anmerkungen zur technischen Aufrüstung des Menschen Richard Saage

Abstract About one and a half decades ago, two prominent reports were published in the United States (US) which strongly influenced subsequent international discussions on the topic of human enhancement: a 2002 report on „Converging Technologies for Improving Human Performance“ based on a workshop which was organised by the US National Science Foundation (NSF) and the US Department of Commerce in December 2001, and the first report of the US President George W. Bush’s Council on Bioethics (PCBE), published in October 2003 with the title „Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness“. In the present article, these two crucial publications are analysed against the backdrop of the philosophical anthropology as since the 1920s it was developed by Helmuth Plessner and others. It is argued that philosophical anthropology provides us with an important alternative to both, anthropological essentialism and scientism, which is still highly relevant when it comes to current discourse on human enhancement.

Angesichts der „technischen Aufrüstung des Menschen“ heute ist mein Aufsatz der Debatte über die „Zukunft der menschlichen Natur“2 gewidmet. Diese Kontroverse avancierte in den USA längst zu einem Politikum, dessen polarisierende Linien quer durch die traditionellen Lager der Republikaner und der Demokraten verlaufen.3 Auch in Deutschland erregte die Diskussion über die technische Verbesserung des Menschen öffentliche Aufmerksamkeit, seit Frank Schirrmacher ihr um die Jahrtausendwende Eingang ins Feuilleton der FAZ ver1  In diesem Artikel vertiefe ich Gedanken, die ich in dem für „NanoEthics“ vorgesehenen Aufsatz „Human Enhancement and the Anthropology of the ,Human Being as a Whole‘“ entwickelt habe. 2  Diese scharf gemeißelte Formel geht auf Jürgen Habermas zurück. Vgl. Habermas, 2005. Habermas nähert sich seinem Thema über die kritische Reflexion einer Eugenik unter liberalen Bedingungen in medizinethischer Absicht. Dagegen wird in den folgenden Ausführungen die Zukunft der menschlichen Natur im Licht ihrer transhumanistischen Umgestaltung thematisiert. 3  Vgl. Saage, 2011: 171 – 178.

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schaffte.4 Er konfrontierte eine technophile, wissenschaftsoptimistische USA mit einem eher verschlafenen Europa, dessen Intellektuelle Darwin ignorierten und sich immer noch zu oft auf Marx und Freud beriefen.5 Andererseits haben die Protagonisten der technischen Verbesserung des Menschen ihren Erwartungshorizont so hochgradig spekulativ aufgeladen, dass zu fragen ist, ob man sie überhaupt zur Kenntnis nehmen sollte. Doch die realen Erfolge dieser Technologien vorausgesetzt, könnten wir es mit einem Jahrhundertproblem zu tun haben. Denn wenn auch nur ein Bruchteil der aktuellen Visionen des Human Enhancement verwirklicht würde, werden sich einige Menschen aufgrund ihrer technischen Optimierung von den Menschen, wie wir sie kennen, unterscheiden. Die Einheit der menschlichen Gattung stünde dann auf dem Spiel.6 Diese mögliche Veränderung der conditio humana reicht aus, um die Debatte über die technische Aufrüstung des Menschen ernst zu nehmen und sie nicht als bloßen technologischen Eskapismus abzutun. Die Begründung für diese These soll anhand der beiden Schlüsseltexte erfolgen, die in den Vereinigten Staaten Furore gemacht haben. Es handelt sich einerseits um den Bericht „Converging Technologies for Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology und Cognitive Science“7 vom Juni 2002, gefördert von der National Science Foundation und dem Department of Commerce unter der Präsidentschaft Bill Clintons (Teil I). Ihm steht der Report aus dem Jahr 2003 „Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness“8 (Teil II) gegenüber. Er wurde vom Council of Bioethics verfasst, den Präsident George W. Bush eigens zu diesem Zweck berief. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung über die Zukunft des Menschen in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation des 21. Jahrhunderts soll die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht nur eine Alternative zu dieser Kontroverse gibt, sondern ob eine solche darüber hinaus innvovatives Orientierungswissen im Blick auf die Zukunft zu generieren vermag (Teil III). I. „Converging Technologies for Improving Human Performance“ (im Folgenden „Bericht“) ist seinem eigenen Anspruch nach mehr als nur ein gewöhnlicher Forschungsbericht. Er geht zwar von den führenden Leittechnologien des

4 

Vgl. Schirrmacher, 2001. Vgl. Coenen, 2011: 8. 6  Vgl. Coenen, 2011: 10. 7  Roco/Bainbridge, 2002. 8  President’s Council on Bioethics, 2003. 5 

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21. Jahrhunderts und den ihnen zugrunde liegenden Wissenschaften aus.9 Aber sein eigentliches Ziel ist die Vermessung der Gestaltungsfähigkeit der menschlichen Natur. Dabei sind folgende Fragen relevant: Was verstehen die Autoren unter „Converging Technologies“? Auf welche Schwerpunkte konzentrieren sich die Beiträge des „Berichts“? Nach Klärung dieser Sachverhalte verengt sich die Darstellung auf das eigentliche Problem: Welchen Status hat der Mensch im Fokus der Konvergenztechnologien? In welchem Maße ist seine Natur technisch verfügbar? Gibt es Grenzen seiner wissenschaftlich-technischen Manipulation? Wird in der Anwendung technischer Mittel auf den menschlichen Körper zwischen Therapie, d. h. der Wiederherstellung ausgefallener physiologischer Funktionen, und der Anwendung technischer Mittel auf den gesunden Körper unterschieden? Welche Rolle spielt die Ethik als mögliches Korrektiv von Fehlentwicklungen? Bereits der Untertitel des „Berichts“ listet die neuen Leittechnologien auf, um die es geht: Nanowissenschaft und Nanotechnologie; Biotechnologie und Biomedizin einschließlich der Gentechnologie; Informationstechnologie unter Berücksichtigung der fortgeschrittenen Computer- und Kommunikationswissenschaft und schließlich die Kognitionstechnologien unter Einbeziehung der Neurowissenschaft. Diese neuen Leitwissenschaften stehen nun aber nicht isoliert nebeneinander, sondern konvergieren in dem Sinne, dass sie durch gemeinsame Schnittmengen auf Nano-Ebene synergetische Effekte hervorbringen, welche in einem angemessenen ethischen und sozialen Rahmen eine ungeheure (tremendous) Steigerung der menschlichen Fähigkeiten, des gesellschaftlichen Leistungsvermögens und der Lebensqualität ermöglichen sollen. Der Konvergenz-Topos erscheint bereits auf dem Frontispiz des „Berichts“: Dessen Markenzeichen sind vier auf einen Punkt hinstrebende Pfeile, die das kombinierte Zusammenspiel der genannten Technologien (im Folgenden NBIC) mit dem Ziel der beschleunigten Verbesserung der mentalen, physischen und allgemeinen menschlichen Leistungsfähigkeit symbolisieren. Dem „Bericht“ zufolge ist dieser bereits im Gang befindliche konvergenztechnologische Durchbruch durchaus mit der Größenordnung der Erfindung der Landwirtschaft und der Industriellen Revolution zu vergleichen. Die Einbettung in die bisherige Wissenschaftsgeschichte betonend, nennt der „Bericht“ als Vorläufer insbesondere die Renaissance. Tausend Jahre nach dem Niedergang und Fall des römischen Reiches sei es ihr gelungen, die Periode der Ignoranz und des blutigen Chaos der mittelalterlichen Welt dadurch zu beenden, dass sie die antiken Grundlagen der Wissenschaft wiederherstellte, erneuerte und somit die Voraussetzung der dynamischen wissenschaftlichen Entwicklung der Neuzeit schuf. Das Markenzeichen der Renaissance sieht der „Bericht“ in ihrem holistischen Ansatz, der alle Gebiete der Kunst, der Wissenschaft, der Technologie und 9 

Vgl. Roco/Bainbridge, 2002: ix-xii, 1 – 30.

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der Kultur umfasste: Vom Geist der interdisziplinären Zusammenarbeit durchdrungen, verlieh er der eingeleiteten Naturbeherrschung ihre Dynamik. Doch mit wachsender Wissensakkumulation setzte sich im Laufe der Jahrhunderte nach der Renaissance eine Spezialisierung durch, die zu einer Fragmentierung des naturwissenschaftlichen Forschungsprozesses führte. Die Konvergenztechnologien knüpften demgegenüber an den Geist der Renaissance erneut an: Sie kehrten zur holistischen Perspektive auf einer höheren bzw. erweiterten Stufenleiter zurück.10 Ganz unsystematisch aufgeführt, handelt es sich u.a. um folgende angebliche „Optimierungen“ des menschlichen Organismus.11 Dieser wird belastungsfähiger, gesünder, kraftvoller, leichter therapierbar und resistenter gegen alle Arten von Stress, biologische Gefährdungen und Alterungsprozesse sein. Eine Steigerung der menschlichen Auffassungsgabe und seines biohybriden Systems, Exo­ skelette und Stoffwechselverbesserungen fasst der „Bericht“ unter die Rubrik Human performance augmentation12 zusammen. Die Implantation von Sensoren für die Verbesserung des Seh- und Hörvermögens sowie direkte Hirn-Maschine-Schnittstellen betrachtet der „Bericht“ als reale Möglichkeiten, ebenso wie den kontrollierten Stoffwechsel in Zellen, speziellen Geweben oder im gesamten Körper. Solche Anwendungen könnten die Ausdauer und den Widerstand gegen Schlafstörungen erhöhen. Eine andere Methode ist die Optimierung der Blutoxydation, wenn sich der Stoffwechsel in einer kritischen medizinischen Situation befindet. Genetische Tests können für individuell auf den Patienten zugeschnittene Medikamente sorgen, und künstliche Bauchspeicheldrüsen regulieren den Ausstoß von Hormonen im menschlichen Körper. Im gleichen Atemzug nennt der „Bericht“ aber auch „Verbesserungen“, die auf gesunde Menschen bezogen sind. Direkte Breitband-Schnittstellen zwischen dem menschlichen Hirn und den Maschinen sollen die Arbeit in den Fabriken, die Kontrolle der Automobile, die Sicherung der militärischen Überlegenheit der USA, die Erfindung neuer Sportarten, Kunstformen und die zwischenmenschlichen Interaktionen grundlegend verändern. Die Erhöhung der intellektuellen Qualitäten des Menschen erfordert das Verständnis und die Rekonstruktion des Gehirns. Die Kenntnis der Struktur, der Funktion und der gelegentlichen Dysfunktion der neuronalen Vernetzungen eröffnet dem „Bericht“ zufolge neue kognitive Potenziale. Ein künstliches Gehirn, simuliert von Computern, könnte sich als ein wichtiges Forschungsinstrument erweisen. Auch wenn die neuere Forschung eine solche Analogisierung zurückweist,13 weil sie das Gehirn als spontan optionsfähige Ganzheit auffasst, ist die Stoßrichtung der Argumentation klar: Sie 10 

Vgl. Roco/Bainbridge, 2002: 3. Roco/Bainbridge, 2002: 15. 12 Ebd. 13  Vgl. Scheich, 2012: 25 – 31. 11 

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folgt den Vorstellungen des Transhumanisten Ray Kurzweil, der es für möglich ansieht, dass Aspekte des menschlichen Bewusstseins auf Festplatten transferierbar sind, um die Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu optimieren.14 Zugleich erreicht im Zeitraum der nächsten zwanzig Jahre dem „Bericht“ zufolge die Altersbekämpfung einen neuen Höhepunkt. Ein aktives und würdiges Leben erscheint möglich bis weit ins zweite Jahrhundert hinein. Gen-Therapien, welche frühe Alterssymptome kurieren, avancieren zur allgemein akzeptierten Norm und garantieren eine weit verbreitete Langlebigkeit bei hoher Lebensqualität für Millionen von Menschen. Wie bewertet nun der „Bericht“ die ethische Qualität eines solchen Human Enhancement, das die Unterscheidung zwischen Therapie und technischer Aufrüstung gesunder Menschen unterläuft? Zusammenfassend wird gesagt werden können, dass zwar mehrfach von Ethik als Korrelat der Entwicklung und Anwendung der Konvergenztechnologien die Rede ist. Aber sie wird eher als deren Ausfluss und nicht als normatives Widerlager verstanden. Diese Selbstermächtigung des Menschen, die von ihm selbst erfundenen wissenschaftlich technischen Mittel auf seinen Körper anzuwenden, bringt eine Ethik hervor, die den konvergenztechnologischen Zielen dient.15 So heißt es an einer Stelle des „Berichts“: In dem Maße, wie sich die technische Kontrolle des Genoms der Menschen, der landwirtschaftlichen Pflanzen und der Tiere zum Wohl der Gesellschaft auswirke, bringe sie ihrerseits einen weitverbreiteten Konsens über ethische, soziale und moralische Prinzipien hervor, die diesen Prozess begleiteten.16 Es handelt sich also um eine Ethik der Zukunft mit spekulativen Zügen. Zwar könnten in einigen Bereichen des menschlichen Lebens alte Gebräuche und ethische Prinzipien überleben. Aber es sei schwer vorherzusagen, welche Handlungsräume und Erfahrungen sie betreffen. „Vielleicht werden völlig neue ethische Prinzipien in den fortgeschrittenen Forschungsfeldern dominieren, wie die Akzeptanz der Hirnimplantate, die Rolle der Roboter in der menschlichen Gesellschaft, die Ambivalenz des Todes in einer Epoche intensivierter Clon-Experimente.“17 Es scheint, als ob das Diktum des Renaissance-Philosophen Pico della Mirandola die anthropologische Fundierung der konvergenztechnologischen Ethik kennzeichnet, wenn er Gott dem Menschen sagen lässt: „Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht eine besondere Gabe habe ich Dir verliehen, damit du den Platz, das Aussehen und alle Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Wil14 

Roco/Bainbridge, 2002: 16. Roco/Bainbridge, 2002: 19. 16  Roco/Bainbridge, 2002: 5. 17  Roco/Bainbridge, 2002: 17. Diese Übersetzung und alle anderen Übertragungen ins Deutsche stammen von mir, R. S. 15 

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len und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen“.18 Oder anders ausgedrückt: „Du hast nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, deine eigene Evolution aus ihrer Blindheit zu befreien und sie bewusst in die eigene Hand zu nehmen!“. Doch kann dieser Versuch, Pico zu einem Vorläufer der Transhumanisten zu stilisieren, überzeugen? Er verfügte nicht über die konvergenztechnologischen Mittel wie jene, die ihn für sich reklamieren wollen, und aus Picos Vergleichsachse Gott-Mensch folgt, dass er zwar über die Potenz verfügt, sich als Mensch zu optimieren, doch ohne über die göttliche Macht zu verfügen, sich in eine neue Spezies zu verwandeln. Eine solche dem konvergenztechnologischen Fortschritt zuarbeitende und diesen stützende Ethik, in deren Dienst das gesamte Schul- und Ausbildungssystem gestellt werden soll, entspricht der Entwicklungsdynamik, von der der „Bericht“ lebt: Ihm geht es nicht darum, zu bedenken und abzuwägen, was an tradierten Qualitäten aufgegeben werden muss, wenn sich der Mensch in einem historisch bisher nicht gekannten Maß von der Technik abhängig macht. Vielmehr glaubt er umgekehrt, daran erinnern zu müssen, was an in der amerikanischen Verfassung verankerten Glückspotenzialen verloren geht,19 wenn die konvergenztechnologischen Möglichkeiten durch entschiedene Anstrengung von Forschern, Regierungen, Unternehmen etc. nicht vorangetrieben werden 20 und sich die technische Entwicklung, wie hinzuzufügen wäre, in das enge Korsett einer autonomen Ethik im Sinne Kants zwängen ließe. II. Im Oktober 2003 überreichte Leon R. Kass als Vorsitzender der vom amerikanischen Präsidenten einberufenen Bioethikkommission ihrem Auftraggeber, George W. Bush, den Bericht „Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness. A Report of The President’s Council on Bioethics“ (im Folgenden „Report“). Dieser „Report“ ist deswegen bemerkenswert, weil er den Gegenpol zu dem „Bericht“ „Converging Technologies“ vom Juni 2002 markiert. Auf die anthropologischen und ethischen Gründe dieser antithetischen Konfrontation ist 18 

Mirandola, 2009: 9. Auf den pursuit of happiness spielt der „Bericht“ an, wenn es heißt: „Das 21. Jahrhundert könnte im Weltfrieden, in universellem Wohlstand und in einer auf Mitgefühl und Vollkommenheit gegründeten Evolution enden. Es ist schwer, die Zukunft in der Perspektive einer geeigneten Metapher zu definieren. Aber es könnte sein, dass die Menschheit ein einziges, in sich verzweigtes und vernetztes Gehirn wird, dem neue Orientierungshorizonte der Gesellschaft zugrunde liegen. Dies läuft auf eine Verbesserung der Kreativität und der Unabhängigkeit der Individuen hinaus, die ihm größere Möglichkeiten einräumen werden, seine persönlichen Ziele zu erreichen“ (Roco/Bainbridge, 2002: 6). 20  Roco/Bainbridge, 2002: 6. 19 

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später einzugehen. An dieser Stelle sei nur auf einige Differenzen in der inhaltlichen Struktur beider Texte hingewiesen. Während der „Bericht“ auf die Synergieeffekte der vier NBIC-Technologien abhebt, konzentriert sich der „Report“ nur auf eine der vier Leittechnologien, nämlich die Biotechnologie. Zwar diskutiert der „Report“ auch die Versprechungen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung der Zukunft. Doch sein Hauptinteresse gilt den gegenwärtigen Auswirkungen des biotechnischen Human Enhancement auf das Individuum und die Gesellschaft, soweit die technischen Möglichkeiten der Manipulation der menschlichen Natur an konkrete Forschungsstände zurückgebunden bzw. realistisch extrapoliert werden können. Das Erkenntnisinteresse ist nicht darauf gerichtet, welchen Zuwachs an Glück die Einzelnen durch ihre technische Aufrüstung erwarten können, sondern welche Verluste an Authentizität, Autonomie und Kreativität sie befürchten müssen, wenn sie sich dem technisch Möglichen jenseits der Therapie ausliefern. Und nicht zuletzt unterscheidet der „Report“ im Unterschied zum „Bericht“ scharf zwischen Therapie und Enhancement. Diese Differenz steigt sogar zum zentralen normativen Referenzkriterium auf, das über die Grenzen der Anwendung technischer Mittel auf den Menschen entscheidet. Demgegenüber fällt auf, dass die konvergenztechnologische Aufrüstung sowohl therapeutischen als auch nicht-therapeutischen Zwecken dient. Beide Varianten werden unter dem Titel Enhancement verhandelt, ohne dass zwischen ihnen eine analytische und normative Unterscheidung explizit zu erkennen ist. Diese Differenz ist aber in der Perspektive des „Reports“ selbst dann nicht obsolet, wenn der therapeutische Eingriff in den Körper zu dessen Optimierung im Vergleich zu seiner früheren Leistungsfähigkeit führt, wie das z. B. bei Sportlern durch den Einsatz von Prothesen der Fall ist; denn der Ausgangspunkt dieser „Verbesserung“ war die Krankheit und nicht der gesunde Organismus. Es ist aus dieser Sicht ein Unterschied des Forschungsansatzes, ob wir ihn als Herr oder als Diener der menschlichen Natur konzipieren. Tatsächlich betonen die Verfasser des „Reports“ immer wieder, dass sie die Anwendung biotechnischer Mittel auf den menschlichen Körper zur Wiederherstellung ausgefallener physiologischer Funktionen begrüßen: Insofern weisen sie den möglichen Vorwurf der Technikfeindlichkeit zurück. Die Bedrohung setzt ihnen zufolge erst dann ein, wenn ein nicht-therapeutischer biotechnischer Eingriff in den an sich gesunden menschlichen Körper erfolgt. Dann handelt es sich um einen Angriff auf das, was die Natur des Menschen und seine nicht hintergehbare Würde betrifft.21 Die Wertschätzung und der Respekt vor dem „natürlich Gegebenen“ sehen die Autoren durch Hybris, die Würde menschlichen Handelns durch die Anwendung „unnatürlicher“ Mittel zu dessen Optimierung, die Be21 

Vgl. President’s Council on Bioethics, 2003: 286.

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wahrung der Identität durch den Willen zur Selbsttransformation und die volle Entfaltung des menschlichen Lebens durch verflachende Imitate (substitutes) bedroht.22 Sowohl subjektiv als auch objektiv würde eine ungehemmte Anwendung biotechnischer Mittel auf den Menschen diesen einer Zukunft annähern, die nicht auf eine Erfüllung des pursuit of happiness im Sinne der amerikanischen Verfassung hinaus liefe, sondern auf die Dystopie einer Gesellschaft von morgen, die wir nicht haben wollen können, wenn wir am humanen Kern unserer Existenz festhalten. Wir sahen, dass die Gegenposition, die in dem „Bericht“ „Converging Technologies“ vertreten wurde, diese essentialistischen Prämissen verwirft. Wie die äußere, den Menschen umgebende Natur, so ist auch dessen innere in Gestalt seines Körpers Material für seinen Willen, ihn technisch aufzurüsten. Die Unverfügbarkeit der menschlichen Natur erscheint den Vertretern des „Berichts“ als Mythos, der die Freiheit der naturwissenschaftlichen Forschung einschränkt oder gar unterbindet und dadurch negative Resultate für die Zukunft der Menschheit generiert. Gegen Positionen wie diese macht der „Report“ dezidiert Front. Die neuen biotechnischen Ingenieure maßten sich die Rolle Gottes an. Doch nicht selten bestehe das Problem weniger in einer solchen Hybris als vielmehr in der vorgetäuschten Attitüde, ohne tatsächlich im Besitz einer prätendierten göttlichen Macht zu sein. Indem man Gott spiele, handle man ohne das Korrektiv der lebensweltlich gesättigten Weisheit. Die Autoren des „Reports“ empfehlen demgegenüber als Alternative den Wertkonservatismus der ökologischen Bewegung in deren Umgang mit der Natur. Deren Motto: „Gehe behutsam mit der Natur um, weil du sonst alles zerstören kannst!“ treffe auch auf das nicht-therapeutische Human Enhancement zu. Ausdrücklich bemüht der „Report“ die metaphorischen Figuren des Arztes und des Ingenieurs, um zu verdeutlichen, worum es ihm bei seiner Positionsbestimmung zur „Natur“ geht. Der erstere versteht sich bei seinen therapeutischen Eingriffen als deren Diener: Er unterstützt mit seinen medizinischen Mitteln die Natur, damit diese den Heilungsprozess des Patienten vollenden kann. Der Bio­ ingenieur hingegen strebt nicht-therapeutische Ziele an. Er tritt nicht als Diener, sondern als Meister der Natur auf, nur von seinem Willen und seinen Vorstellungen geleitet. Aber die prometheische Entschlossenheit, die Natur einschließlich die des Menschen, zu rekonstruieren, führe in eine Sackgasse, weil sie von einem falschen Verständnis der uns als Gabe zugeeigneten Welt ausgehe. So seien unsere natürlichen Gaben nicht unser ausschließliches Eigentum, so sehr wir sie auch entwickeln und ausüben mögen, ebenso wenig wie uns alle Dinge dieser Welt zu unserer Disposition stehen. Ein solches Verständnis der Unverfügbarkeit von Aspekten natürlicher Gegebenheiten begrenze das prometheische Projekt und führe 22 

Vgl. President’s Council on Bioethics, 2003: 286 f.

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zu einer existenznotwendigen Demut. Obgleich Teil der religiösen Sensibilität, reiche ihre Resonanz über die Religion hinaus. Es gehe nicht nur um unbeabsichtigte Nebenfolgen: eine Sorge, mit der auch therapeutische Interventionen rechnen müssten. Ebenso wichtig seien „unsichere Ziele und die Abwesenheit natürlicher Standards beim Eindringen in die Zone ‚jenseits der Therapie‘.“23 Offenbar stehen sich in der Human Enhancement-Debatte zwei Lager gegenüber, deren Differenz nicht durch die auf den Menschen angewandten technischen Mittel im liberalen Rahmen staatlicher Neutralität markiert sind: Diese Prämisse ist unstrittig. Was sie trennt, ist vielmehr die Beantwortung der Frage, ob prinzipiell eine technische Verbesserung des gesunden Menschen anzustreben ist oder nicht. Der „Bericht“ tritt mit dem Anspruch auf, seine Leittechnologien implizierten eine Entwicklungsdynamik, der sich niemand ungestraft entziehen kann, auch wenn die ihnen zugrunde liegenden konvergenten Leitwissenschaften weitgehend antizipierten Charakter haben. Doch wo ist angesichts der nur spekulativen Verheißungen und ihrer unabweisbaren Risiken der Beweis, dass das Verlassen des Pfades der natürlichen Evolution für uns vorteilhaft ist? Diese Beweispflicht liegt nicht bei uns, sondern bei den Protagonisten der NBIC-Technologien. Solange sie ihr nicht schlüssig entsprochen haben, besteht auch kein Grund, ihren Imperativen blind zu folgen. Umgekehrt hat der „Report“ mit seiner Hervorhebung der Würde des Menschen die relevanten Problemlagen aufgezeigt.24 Doch ist in ihm die Tendenz zu erkennen, zu früh eine normative Entscheidung darüber zu treffen, was der menschlichen Natur zuträglich ist und was nicht. Es fehlt eine empirische „Pufferzone“, in der durch Erfahrung diese Frage zu entscheiden ist. Gibt es einen dritten Weg, der den anthropologischen Essentialismus ebenso vermeidet wie die szientifische Selbstermächtigung zur technischen Neugestaltung des Menschen? III. Die Autoren des „Reports“ „Beyond Therapy“ nehmen gegenüber den prometheischen Prämissen des „Berichts“ „Converging Technologies“ eine essen­ tialistische Position ein. Einer der Mitautoren des Berichts, Michael Sandel, bringt dessen zentrale Intention auf den Begriff, wenn er für ein „Plädoyer gegen Perfektion“25 optiert. „Der ‚Charakter des Lebens als Gabe, stünde radikal in Frage und mit diesem für das menschliche Selbstverständnis konstitutiven ­Sense of Giftedness auch die moralische Praxis, die dieser Charakterisierung folgt. Ab23 

President’s Council on Bioethics, 2003: 287. Zum Verhältnis der Menschenwürde zur Präimplantationsdiagnostik, Selektion sowie genetischer und geklonter Veränderung des Menschen vgl. auch von der Pfordten, 2016: 115 – 119. 25  Vgl. Sandel, 2008. 24 

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sichtlichkeit statt Geschenktheit, Kontrolle statt Akzeptanz des Unerbetenen, menschlich-technischer Entwurf statt natürlich-gewachsenem Sein – das alles zerstöre die ‚Schlüsselelemente unserer moralischen Landschaft‘“.26 Es gibt, so die Prämisse des „Reports“, nur eine verbindliche Natur des Menschen, die auch in ihrer normativen Überhöhung sozio-kulturell festgeschrieben ist und von deren Signatur die gesamte politische Ideengeschichte besonders des Abendlandes zeuge, auf die sich die Autoren immer wieder beziehen. Doch ist diese Position des anthropologischen Essentialismus zu halten? Auf diese Frage gibt es eine Antwort, wenn wir von der Unterscheidung zwischen der ersten animalischen und der zweiten sozio-kulturellen Natur des Menschen ausgehen, die in ihrer nichtdualistischen Korrelation allen Positionen der Philosophischen Anthropologie eignet, wie sie von Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen u.a. entwickelt worden ist. Analytisch ist diese Differenzierung wichtig, weil die Bestimmung des Verhältnisses beider Dimensionen zueinander über die Grenzen und die Möglichkeiten eines nicht-therapeutischen Human Enhancement entscheidet. Unter Berufung auf Pico della Mirandolas Diktum, der Mensch sei von allen Einschränkungen frei, selbst seine Natur zu bestimmen,27 wurde die These vertreten, die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu gestalten und zu optimieren, impliziere das Potenzial „zur fortwährenden Veränderung und Verbesserung der eigenen biologischen Natur“28 mit technischen Mitteln. Damit wäre im Sinne der Logik des „Berichts“ über das Verhältnis zwischen der ersten und der zweiten Natur des Menschen entschieden: Die erste (biologisch-physiologisch-physikalische) Natur des homo sapiens wäre dann nichts weiter als ein „Materiallager“, das zur freien Disposition seiner zweiten (kreativen, Kultur und Technik schaffenden) Natur steht.29 Diese Freiheit im Umgang mit sich selbst degradiere aber keineswegs den Menschen zu einem bloßen Objekt. Im Gegenteil: Seine autonome Selbstgestaltung gerinne zum „Ausdruck der einzigartigen Würde des Menschen“.30 26 

Özmen, 2011: 104 f. Vgl. Mirandola, 2009: 9. 28  Özmen, 2011: 114. 29  Diese Einschätzung ist selbst bei Autoren zu finden, die der Philosophischen An­ thropologie nahe stehen. So betont zwar Joachim Fischer, dass das menschliche Lebewesen „den Körper und den Zwang zur ,Verkörperung‘ seiner Erfindungen […] nicht los [wird]. […] Wegen seiner unhintergehbaren Körpergebundenheit im Kosmos bleibt das menschliche Lebewesen darauf angewiesen, seine exzentrischen Angriffe (in den Makround Mikrokosmos) in die Sprache der Positionalität zurückzuübersetzen, das Abstrakte an das Konkrete zurückzubinden“ (Fischer, 2002: 236). Doch wie soll sich dieser Rückbezug vollziehen, wenn der menschliche „Leib-Körper“ (Fischer), bis zum Extrem technisch aufgerüstet, mit der Maschine verschmilzt und der Umbau der Physis in deren Vernichtung endet? 30 Ebd. 27 

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Aber eine solche Bestimmung des Verhältnisses von erster und zweiter Natur des Menschen wirft ernste Probleme auf. Insbesondere Adolf Portmann warnte vor Tendenzen, den physiologischen Organismus des Menschen zur bloßen Dispositionsmasse seiner zweiten Natur zu degradieren. Explizit setzte er sich für eine Anthropologie ein, die im Gegensatz zu einem nicht-therapeutischen ­Human Enhancement steht, das im Kontext seiner Zeit zu Beginn der 1960er Jahre noch auf das biotechnische Ziel der genetischen Menschenzüchtung bezogen war. Zwar bezweifelte er aus innergenetischen Gründen, dass dieses Projekt gelingen könnte. Doch er schloss nicht aus, dass angesichts einer asymptotischen Annäherung an das Unerreichbare die Verwirklichung des Möglichen nicht von der Hand zu weisen sei. Ein solcher „Erfolg“, so Portmann, führe bereits in seiner Anlage in die Irre, weil er jene Spannung bedrohe, die das Menschsein ausmache: „die Spannung zwischen dem zu Bewahrenden, Dauernden, dem Primären unseres Menschseins und der sich umformenden sekundären Weltbeziehung, wie sie die historische Entwicklung mit sich bringt. Diese Spannung, die eine Grundsitua­ tion des Menschen ist und bleibt, wächst heute stets fort an Intensität und ergreift unter der Führung des abendländischen Geistes in steigendem Maße die gesamte Menschheit“.31 Ausdrücklich identifizierte er den archaischen Menschen, also dessen animalische Natur, „als ein zu bewahrendes Erbteil des Humanen“32 im sich vollziehenden Übergang in die „sekundäre Welt“. Es handele sich „um die Wiederkehr eines unvermeidlichen, ursprünglichen Ausgangspunktes des primären Menschseins“, das wir „als die Aktualität des Zeitlosen erleben“.33 Wenn dieses Erbe durch einen biotechnischen Transhumanismus verspielt werde, ende die Menschheit in einer als Dystopie verstandenen Utopie. Portmann äußerte die Hoffnung, dass diese Einsicht „uns zurück zur Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschseins“34 führt. Umgekehrt gibt es aber auch keine „reine“ Natur des Menschen, die ihm als metaphysische Wesenheit in einem überzeitlichen Sinne inhärent wäre. Der Mensch ist angesichts der Plastizität seiner Natur in einem viel höheren Maß das Produkt seiner selbst als der „Report“ unterstellt. In einer weitgehend säkularisierten Welt, in der die Darwinsche Evolutionstheorie einem in sich geschlossenen Schöpfungswerk mit festgelegtem Schicksal des Menschen den Boden entzogen hat,35 ist eine sakrosankte menschliche Natur anachronistisch.36 Demgegenüber betonte Portmann zu Recht die „Offenheit unserer Anlagen“: Sie stellten „jeden 31 

Portmann, 1964: 343.

32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35  36 

Vgl. Portmann, 1964: 311 – 313. Portmann, 1964: 310.

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einzelnen, jede Generation wieder neu vor die Aufgabe, die Lösung der sozialen Beziehungen zu finden, die Synthese von relativ konstanten Naturgegebenheiten und der jeweils einmaligen historischen Situation zu suchen“.37 Die ererbten Rituale in der Tierwelt zur Regelung ihrer sozialen Beziehungen träfen auf das menschliche Zusammenleben nicht zu; sie müssten diese „immer wieder neu […] erfinden, […] bewahren und […]festigen“.38 Doch es gibt Grenzen der sozio-kulturellen Selbstermächtigung. Dies ist in dem Maße der Fall, wie der Eigenwert des Körpers als integrierter Bestandteil des Humanen akzeptiert wird. Ohne ihn verlöre die sozio-kulturelle Welt der Artefakte ihr Gegengewicht in der animalischen Natur. Warum ist diese Balance, so müssen wir in Anlehnung an Portmann fragen, für die Zukunft der menschlichen Natur so wichtig, dass sie zu einem orientierenden Richtwert aufzusteigen vermag? Der Grund ist sehr einfach: Wenn sich die Spannung zugunsten des einen oder des anderen Pols auflöst, folgen Konsequenzen, deren Ausmaße nicht anders als dystopisch zu charakterisieren sind. Die Hegemonie der animalischen Natur des Menschen liefe auf einen biologischen Naturalismus hinaus, dessen letzte Konsequenz ein Zivilisationsbruch (Dan Diner) wäre. Die Hegemonie der sozio-kulturellen Natur des Menschen bewirkte in letzter Instanz, dass der Mensch seine Evolution in die eigene Hand nimmt und sich als Artefakt seiner selbst total von technischen Mitteln abhängig macht. Angesichts dieser Alternativen kann der Richtwert der Entwicklung des homo sapiens nur der „ganze Mensch“ sein, dessen humaner Kern in dem Zusammenwirken seines naturgeschichtlichen Erbes mit der von ihm selbst geschaffenen sozio-kulturellen Welt der Artefakte ist. Wie freilich diese gegenseitige Durchdringung funktioniert, bleibt ein Geheimnis des Menschseins. Vielleicht ist deswegen bei Helmuth Plessner die Rede vom homo absconditus. Wenn die Gefahr aus der Machtzusammenballung der wissenschaftlich-technischen Mittel resultiert, dann diagnostizierte Adolf Portmann die Bedrohung des Menschen in ähnlicher Weise wie die Essentialisten des „Reports“. Aber seine Begründung ist eine andere. Wer wie er den nachmetaphyischen Standort bezieht, kann die conditio humana nicht ontologisch nach außen abschotten. Eine solche Tendenz widerspräche dem dritten Weg zwischen Naturalismus und kulturgenerierender Potenz des Menschen.39 Andererseits ist evident, dass die Bekämpfung des Übels ihre Stoßkraft nur aus der Sphäre beziehen kann, aus der sie herrührt: der sozio-kulturellen Welt der Artefakte, zu deren Zentrum die neuen Leitwissenschaften ebenso gehören wie der verantwortungsvolle Umgang mit ihnen. Die Entscheidung über die Zukunft seiner Natur ist also in die Hände 37 

Portmann, 1970: 157. Portmann, 1970: 156. 39  Vgl. Plessner, 1965: 311 – 315. 38 

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des Menschen selbst gelegt. In welche Richtung sie gehen wird, hat die Willensbildung der Gesellschaft zu verantworten. Sie kann aber nur dann zielführend sein, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Zum einen muss sie die vormenschlichen evolutionären Ursprünge ihrer Existenz als etwas Gewordenes bewusst respektieren, das nicht ihre eigene Kreation ist.40 Zum anderen hat sie sich die Konsequenzen für den Einzelnen und die Gesellschaft klar vor Augen zu führen, wenn er die Versuche radikalisiert, „den Menschen umzuformen, den wir nicht selbst geformt haben“.41 Hier liegt die große Aufgabe einer medizinisch, neurobiologisch, kommunikationstheoretisch und nanotechnologisch informierten Geisteswissenschaft, der Öffentlichkeit Orientierungswissen zur Verfügung zu stellen.42 Dass insbesondere der „Report“ vor allem durch die Betonung der Risiken des nicht-therapeutischen Enhancement einen wichtigen Beitrag geliefert hat, auch wenn man seine normativen Prämissen nicht teilen kann, steht außer Frage. Nur eingedenk dessen, was Aldous Huxley in „Schöne Neue Welt“ als eine Zukunft, die wir nicht haben wollen können, wenn wir am homo absconditus (Plessner) festhalten, imaginiert hat, wird die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts zu bestehen sein. Die Autonomie der Selbstbestimmung des Menschen impliziert fraglos das Risiko seiner Selbstvernichtung, falls er sich für das nichttherapeutische Human Enhancement als Regelfall entscheidet. In diesem Fall wäre er bereit, sich in die Abhängigkeit der technischen Mittel zu begeben, die seine Leistungsfähigkeit steigern sollten. Dann würde sich freilich die Menschheit als Gattung auslöschen und das Schicksal vieler Arten teilen, welche den evolutionären Prozess nicht überlebt haben.

40 

Portmann, 1964: 209.

41 Ebd. 42  Die Generierung von normativ-ethischem Orientierungswissen ist ein Monopol der Geisteswissenschaften, weil die naturwissenschaftliche Methode auf quantitative Mess­ technik sowie kausale Zusammenhänge festgelegt ist und die im Experiment reproduzierbaren Einsichten in Teilaspekte natürlicher Phänomene in der Regel in der Sprache der Mathematik artikuliert werden. Ethik kommt erst dann ins Spiel, wenn es um die gesellschaftlichen Folgewirkungen naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse geht.

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Richard Saage

Literatur Coenen, Christopher (2011): Vorwort. In: Saage, Richard (Hrsg.), Philosophische Anthropologie und der technisch aufgerüstete Mensch. Annäherungen an Strukturprobleme des biologischen Zeitalters. Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler, 7 – 12. Habermas, Jürgen (2005): Die Zukunft der menschlichen Natur: Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Hamburg: Suhrkamp. Fischer, Joachim (2002): Androiden-Menschen-Primaten. Philosophische Anthropologie als Platzhalter des Humanismus. In: Faber, Richard/Rudolph, Enno (Hrsg.), Humanismus in Geschichte und Gegenwart. Tübingen: Mohr, 229 – 239. Mirandola, Pico della (2009): De hominis dignitate: Über die Würde des Menschen. Übersetzt von Gerd von der Gönna. Stuttgart: Reclam. Özmen, Elif (2011): Ecce homo faber! Anthropologische Utopien und das Argument von der Natur des Menschen. In: Nida-Rümelin, Julian/Kufeld, Klaus (Hrsg.), Die Gegenwart der Utopie: Zeitkritik und Denkwende. Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 101 – 124. Pfordten, Dietmar von der (2016): Menschenwürde. München: Beck. Plessner, Helmuth (1965): Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin: de Gruyter. Portmann, Adolf (1964): Utopisches in der Lebensforschung. In: Portmann, Adolf (Hrsg.), Eranos-Jahrbuch 1963: Vom Sinn der Utopie. Zürich: Rhein-Verlag, 311 – 344. Portmann, Adolf (1970): Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie. München: Piper. President´s Council on Bioethics (2003): Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness: A Report of the President´s Council on Bioethics, Washington. Roco, Mihail C./Bainbridge, William Sims (Hrsg.) (2002): Converging Technologies for Improving Human Performance: Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science: NSF/DOC sponsored report. Arlington (Virginia). Saage, Richard (2011): Philosophische Anthropologie und der technisch aufgerüstete Mensch: Annäherungen an Strukturprobleme des biologischen Zeitalters. Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler. Sandel, Michael J. (2008): Plädoyer gegen die Perfektion: Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Berlin: Berlin University Press. Schirrmacher, Frank (Hrsg.) (2001): Die Darwin AG: Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Scheich, Henning (2012): Das Gehirn und seine Semantik. In: Ammer, Christian/Lindemann, Andreas (Hrsg.), Hirnforschung und Menschenbild. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 25 – 32.

Propaganda und Kritik: Eine Einführung in Carl Schmitts „Land und Meer“* Von Samuel Garrett Zeitlin Propaganda und Kritik: Eine Einführung in „Land und Meer“ Samuel Garrett Zeitlin

Abstract The following article offers a historical introduction to the study of Carl Schmitt’s 1942 work, „Land and Sea: A World-Historical Meditation.“ Tracing the history of the work’s composition within Schmitt’s œuvre as a whole, the article argues that the work was composed both as a piece of wartime Nazi propaganda and as a tacit critique of Hitler’s violation of the Molotov-Ribbentrop Pact. Examining the variants between the 1942 edition and the post-war editions of 1954 and 1981 (as well as the 1952 Spanish translation of the work published in Franco’s Spain) the article also considers Schmitt’s views on piracy, the emergence of capitalism, Islam, the elements of world history, as well as S ­ chmitt’s treatment of the Jewish people in the text of „Land and Sea.“

Auf der Vorderseite des Schutzumschlags der 1981er Ausgabe von Carl Schmitts „Land und Meer“ findet sich ein kreisförmiges Emblem. In dieser Zeichnung, die von einer Doppellinie mit Minutenteilung eingefasst ist, befindet sich ein Globus. Der Globus ruht auf einem Strand wie eine Glaskugel auf einem Podest. Auf der Frontseite des Globus sind die Umrisse der Kontinente Afrika, Asien, Australien und Europa zu erkennen. Nord und Südamerika sind kaum sichtbar. Die Erdkugel selbst befindet sich auf einer Küste zwischen dem Land, mit einigen Felsen und etwas, das wie ein Krebs oder ein krabbelnder Hummer aussieht, und dem weiten und leeren Meer. Jenseits des Meeres sind Berge zu erkennen und etwas, das wie eine menschliche Behausung aussieht – wie ein Haus oder ein Bauernhof. Die Berge scheinen einen weiteren Kontinent darzustellen, der sich jenseits des leeren Meeres erhebt und die Berge zu beiden Seiten umschließt.1 *  Der Text ist die deutsche Übersetzung meiner Einleitung zu meiner 2015 im Telos Verlag erschienenen Übersetzung von „Land und Meer“ ins Englische (Zeitlin, 2015). Für die Übersetzung ins Deutsche danke ich Julien Straninger. Für die Abdruckgenehmigung danke ich dem Telos Verlag. 1  Schmitt, 1981: Schutzumschlag, Titelseite. In einem Telefongespräch mit dem He­ rausgeber der Ausgabe von 1981 am 27. Juli 2015 erzählte Günter Maschke, dass er das Bild aus einem Buch mit emblematischen Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts auswählte und Carl Schmitt vorlegte, der es für die Titelseite der letzten zu seinen Lebzeiten erschienenen Ausgabe von „Land und Meer“ billigte. Der Herausgeber der 1981er Ausga-

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Der Leser nähert sich „Land und Meer“ und dem Titelbild der 1981er Ausgabe des Werkes mit einem Blick vom Land hinaus aufs Meer, über den Ozean hinweg. Die Perspektive des Titelbildes rückt das Land ins Zentrum und spiegelt damit den Anspruch von „Land und Meer“ wider, mit dem Schmitt hinsichtlich seiner politischen Anthropologie auftritt. „Du brauchst nur an eine Meeresküste zu gehen und den Blick zu erheben, und schon umfaßt die überwältigende Fläche des Meeres deinen Horizont“, schreibt Schmitt im ersten Teil seines Werkes. „Es ist merkwürdig, daß der Mensch, wenn er an einer Küste steht, natürlicherweise vom Lande aufs Meer hinaus schaut und nicht umgekehrt vom Meer ins Land hinein.“2 Auf diese Weise zeigt sich Schmitts politische Anthropologie auf bildlicher wie textueller Ebene als eine offensichtliche Tatsache reflexiver Selbstverständlichkeit. Diejenigen, die an der Küste stehen, wissen, dass sie mit ihren Füßen auf dem Boden bleiben müssen. Diejenigen, die das Titelbild der 1981er Ausgabe von „Land und Meer“ betrachten, haben das Meer vor sich und das Land sowohl hinter als auch unter sich. Indem das Titelbild den Betrachter auf den Standpunkt der Küste versetzt, erzeugt es eine natürliche Vorsicht: Man dreht sich nicht mit dem Rücken zum Ozean, womit man sich dem Gefährlichen und Unbekannten aussetzen würde. Der Historiker und Memoirenschreiber Nicolaus Sombart beschrieb „Land und Meer“ als Carl Schmitts „schönstes Buch“.3 Für Sombart war es außerdem auch Schmitts „wichtigstes Buch“,4 weil „es […] in nuce die Quintessenz seiner gnostischen Geschichtsphilosophie [birgt].“5 Ein anderer Kommentator, der eine Generation nach Sombart tätig war, hat behauptet, dass „Land und Meer“ weit mehr enthüllt, als Schmitts Standpunkt zu Fragen der Geschichtsphilosophie: „Land and Sea is wide-ranging, encyclopaedic, poetic, and philosophically provocative. If there is a book that contains Schmitt’s philosophy, it is this.“6 Carl Schmitts „Land und Meer“ ist ein eigenartiges und gespenstisches Werk. In ihm treffen anti-jüdische Stereotype mit Wehklagen über industriellen Walfang zusammen, während belletristische Lobeshymnen auf Herman Melville und be berichtete zudem, dass Schmitt das Bild für ansprechend und zum Werk passend hielt. Vgl. Henkel/Schöne, 1967: 727. 2  Schmitt, 1981: 8 – 9; ders., 1954: 4; ders., 1942: 4. 3  Sombart, 1984: 21, 255. 4  Ebd.: 21: „Es war die Zeit, in der er sein vielleicht bedeutendstes, sicher aber sein schönstes Buch Land und Meer veröffentlicht.“ Cf. ebd.: 255: „Er schrieb gerade, wie sich bald herausstellen sollte, an seinem Büchlein ‚Land und Meer‘, sein, ich sagte es schon, schönstes Buch. Nein, ich bin sicher, auch sein wichtigstes Buch, denn es birgt in nuce die Quintessenz seiner gnostischen Geschichtsphilosophie.“ 5  Ebd.: 255. 6  Mendieta, 2011: 260.

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Jules Michelet, politische Anthropologie und martialische anti-britische Propa­ ganda zu einem vorgeblich „welt-historischen“ Ganzen verwoben werden. I. Entstehung Kurz vor der Veröffentlichung der zweiten Ausgabe von „Land und Meer“ im Jahre 1954 behauptete Schmitt, dass ihm das Argument von „Land und Meer“ im Sommer des Jahres 1940 gekommen sei. Im 1954 erschienenen „Sauerland“-Heft der Zeitschrift „Merian“ beschrieb Schmitt die Anfänge von „Land und Meer“ wie folgt: „An einem verregneten Ferientag des Sommers 1940 quälte mich meine zehnjährige Tochter, ihr etwas zu erzählen. Ich bin kein guter Erzähler. Die juristische Denk- und Sprechweise, die mir in Fleisch und Blut übergegangen ist, stört das unbedenkliche Fabulieren und verwandelt jede schöne Geschichte in einen Tatbestand oder Sachverhalt, in einen Fall, und wenn es besonders spannend zugeht, in einen Kriminalfall. Damals beschäftigten mich Fragen aus dem Völkerrecht des Meeres. Um nun in dem Bereich meines völkerrechtlichen Themas zu verbleiben und zugleich dem Kinde seinen Willen zu tun, fing ich an, von Piraten und Waljägern zu sprechen. Unversehens geriet ich in das Element des Meeres, das mir bis dahin fremd war. Die ganze Weltgeschichte öffnete sich plötzlich unter dem neuen Aspekt des Gegensatzes der Elemente Land und Meer. Daraus ergaben sich überraschende Einblicke und Erkenntnisse. So entstand die kleine Schrift Land und Meer, eine weltgeschichtliche Betrachtung, die in Reclams-Universal-Bibliothek erschienen ist und dort in kurzem wieder neu gedruckt wird.“7

In zeitlicher Übereinstimmung mit Schmitts Selbst-Darstellung seiner Inspiration für „Land und Meer“, aber frei von jeglicher Nachkriegs-Reminiszenz, steht jene Reihe von Artikeln, in denen Schmitt „Land und Meer“ skizzierte und entwarf, und die 1940 und 1941 in der Nazi-Wochenzeitung „Das Reich“8 veröffentlicht wurden, welche von einem heutigen Historiker als Joseph Goebbels‘ „Lieblingspropagandavehikel“ bezeichnet worden ist.9 In einem Beitrag für „Das 7  Schmitt, 1995: 513; vgl. auch den „Anhang des Herausgebers“ (ebd.: 517); Derman, 2011: 181: „Within a year’s time, the topic of his children’s story had become an idee fixe.“ 8  Bendersky, 1983: 261 n. 59; Volpi, 2011: 125 n. l, 147. 9  Mazower, 2011: 509. Siehe auch Evans, 2009: 313: „Der Reichspropagandaminister verband dies mit wiederholten Presseberichten über angebliche Greuel an deutschen Soldaten durch Soldaten der Roten Armee. Die Botschaft war klar. Die Juden hatten sich auf der ganzen Welt verschworen, die Deutschen auszurotten; der Selbstschutz machte es erforderlich, daß sie getötet würden, wo man sie traf. Als Antwort auf die vermeintliche Drohung schrieb Goebbels am 20. Juli 1941 in einem Artikel in der Zeitschrift Das Reich, die er im Mai 1940 gegründet und die inzwischen eine Auflage von 800 000 Exemplaren erreicht hatte: ‚Wie die Faust des erwachenden Deutschland einmal auf diesen Rassenunrat niedersaust, so wird auch einmal die erwachende Faust Europas auf ihn niedersausen. Dann […] werden sich [die Juden] stellen müssen. Es wird der Tag des Gerichts der Völker

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Reich“ vom 9. März 1941 behauptete Schmitt: „Es gehört zum ältesten Bestand menschlicher Geschichtsdeutung, in dem Gegensatz von See- und Landmächten einen Motor und Hauptinhalt der Weltgeschichte zu sehen. Die Kriege zwischen Athen und Sparta, Karthago und Rom sind die berühmten Beispiele aus der klassischen Geschichte.“10 Jedoch gab sich Schmitt in diesem Aufsatz, „Das Meer gegen das Land“ nicht mit Beispielen aus der klassischen Geschichte zufrieden. „Populäre Vergleiche“, schrieb Schmitt, „sprechen vom Kampf des Walfisches mit dem Bären, mythische Bilder von dem großen Fisch, dem Leviathan, der mit dem großen Landtier, dem Behemoth, einem Stier oder Elefanten, kämpft. Jüdische Kabbalisten des Mittelalters – unter ihnen der welt­ erfahrene Abravanel – haben diesen Schilderungen einen wichtigen Zusatz gegeben, indem sie bemerkten, daß die beiden großen Tiere sich gegenseitig töten, die Juden aber dem Kampfe zusehen und das Fleisch der getöteten Tiere essen. Auch die Kriege Englands gegen die Mächte des europäischen Festlandes, gegen Spanien, Frankreich und Deutschland, werden oft in diesen Zusammenhang gebracht. Natürlich gibt es hier viele Parallelen.“11

Schmitts Aufsatz „Das Meer gegen das Land“ zog weitere dieser losen Parallelen, indem er England zugleich im Besitz der Macht des Leviathans über die Weltmeere, aber auch hinsichtlich seiner imperialen Herrschaft an anderen orientiert sah, so wie es nach Schmitts Ansicht bei einem gewissen „Disraeli – ein Abravanel des 19. Jahrhunderts“12, der Fall war – Parallelen, die sich in manchen Fällen wortwörtlich in der Veröffentlichung von „Land und Meer“ im darauffolgenden Jahr wiederfinden würden.13 Schmitts Artikel, der vor dem Eintritt der Amerikaner in den Zweiten Weltkrieg und vor Hitlers Bruch des Molotov-Ribbentrop-Paktes mehrere Monate später veröffentlicht wurde, erwähnt weder Amerika noch Russland explizit, sondern inszeniert stattdessen etwas, das wie eine Blutbeschuldigung gegen das jüdische Volk erscheint, und prophezeit den Untergang des britischen Weltreiches: „Es wird bald zu einer historischen Erinnerung geworden sein, zu einer bloßen Episode in der großen Geschichte der Völker. Und unseren Enkeln werden wir die Sage von dem Weltreich des Levia­ than erzählen.“14 Sieben Monate vorher hatte Schmitt in „Das Reich“, unter dem Eindruck von Dünkirchen und der Niederlage der Dritten Französischen Republik gegen die Nazis, über das Potenzial eines amerikanischen Kriegseintritts geschrieben. In über ihre Verderber sein. Erbarmungslos und ohne Gnade soll dann der Stoß geführt werden. Der Weltfeind stürzt und Europa hat seinen Frieden.‘“ 10  Schmitt, 1995a: 395. 11 Ebd. 12  Schmitt, 1995a: 397. 13  Vgl. Schmitt, 1981: Abschnitte 3 und 17. 14  Schmitt, 1995a: 398.

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der Ausgabe vom 29. September 1940 präsentierte Schmitt in „Das Reich“ in einem Artikel mit dem Titel „Die Raumrevolution: Durch den totalen Krieg zu einem totalen Frieden“ Amerika in einer Lage, in der es sich immer noch entscheiden könne, wie sich gegenüber dem in Europa tobenden Krieg zu positionieren sei. „Hier erhebt sich die Frage“, spekulierte Schmitt auf den Seiten von „Das Reich“, „welche Front die andere angelsächsische Macht, die Vereinigten Staaten von Amerika beziehen werden“.15 Wieder erwähnte Schmitt im Aufsatz „Die Raumrevolution“ mit keinem Wort Russland oder die Sowjetunion; die Überlegungen zu Deutschlands Kriegsbestrebungen waren nach Westen auf Großbritannien und die Frage nach dem Kriegseintritt der USA gerichtet. Ein Jahr später, am 16. Oktober 1941, stellte Schmitt im besetzten Paris, auf einem unter Leitung von Karl Epting vom Institut Allemand organisierten Treffen, in einem Vortrag einen frühen Entwurf von „Land und Meer“ vor.16 In einem Tagebucheintrag, der mit der Überschrift „Paris, 18. Oktober 1941“ datiert ist, schrieb Ernst Jünger: „Mittags im ‚Ritz‘ mit Carl Schmitt, der vorgestern einen Vortrag über die völkerrechtliche Bedeutung des Unterschiedes von Land und Meer gehalten hat. […] Gespräch über wissenschaftliche und literarische Kontroversen in dieser Zeit. Carl Schmitt verglich seine Lage mit der des […] Kapitäns in Melvilles ‚Benito Cereno‘ und zitierte dazu den Spruch: ‚Non possum scribere contra eum, qui potest proscribere‘ [‚Es ist nicht möglich, gegen denjenigen zu schreiben, der in der Lage ist, den Tod anzuordnen‘]“.17 Nach der Darstellung in Jüngers Tagebuch war Schmitt zum Ende des Jahres 1941, während der Phase seiner öffentlichen Vorträge über „Land und Meer“, damit unzufrieden, dass er nicht offen gegen jene schreiben konnte, welche die Macht hatten zu ächten. Falls Jüngers Darstellung zutrifft, stellt sich die Frage, an welche Inhaber der Macht, zu ächten, Schmitt wohl 1941 gedacht haben könnte. Was hätte Schmitt gerne zum Ausdruck gebracht, das ihm aber verboten worden war?

15 Schmitt, 1995b: 391. Laut Helmuth Kiesel, dem Herausgeber der Schmitt-Jünger-Korrespondenz, schrieb Jünger in einem Brief an Schmitt, der auf den 2. Oktober 1940 datiert ist, bezugnehmend auf diesen Artikel, der in der Ausgabe vom 29. 9. 1940 von „Das Reich“ erschienen war: „Gestern brachte meine Frau aus Berlin Ihren schönen Aufsatz mit“ (Kiesel, 2012: 106, 552). 16  Die biografischen Quellen sind hinsichtlich des Titels des Vortrages uneindeutig. Franco Volpi gibt den Titel mit „Die völkerrechtliche Bedeutung des Unterschiedes von Land und Meer“ wieder, während er bei Reinhard Mehring „La mer contre la terre“ lautet. Auf der Einladung des Institut Allemand wurde der Titel als „Staatliche Souveränität und Freies Meer“ abgedruckt, die Einladung kündigt allerdings an, dass Schmitt den Vortrag auf Französisch halten werde. Vgl. den Brief von Schmitt an Ernst Jünger, 24. September 1941, in Kiesel, 2012: 130 – 32, 567; Volpi, 2011: 147; Mehring, 2009: 410; 473; Mazower, 2011: 396. 17  Jünger, 1979: 265; vgl. Bendersky, 1983: 262 und 262 n. 64.

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II. Schmitt und der Molotov-Ribbentrop-Pakt Wie verschiedene Forscher bemerkt haben, nahm Schmitt gegenüber dem Molotov-Ribbentrop-Pakt und seinen Folgeverträgen für die Aufteilung von Osteuropa zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion keine geringschätzige Haltung ein.18 In der dritten Auflage seiner Flugschrift „Völkerrechtliche Großraumordnung“ lobte Schmitt im Frühjahr 1941 den „deutsch-russische[n] Grenzund Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939“ für die Verwendung des Begriffs „Reich“. Der Vertrag stellte für Schmitt das erste Beispiel für ein internationales Rechtsdokument dar, das den Begriff „Reich“ als grundlegende Einheit des „Völkerrechts“, oder des „Rechts der Völker“, verwendete, das Schmitt mit der römischen Rechtstradition des „ius gentium“ identifizierte.19 Der Pakt regelte das grundlegende Prinzip der „Nichteinmischung raumfremder Mächte“ in die Angelegenheiten beider „Reiche“ (des Deutschen „Reiches“ oder des Sow­ jetischen „Reiches“) als geltendes Prinzip des Völkerrechts.20 Für Schmitt war das Rechtsabkommen zwischen Hitler und Stalin im Jahr 1941 nicht nur gültiges Vertragsrecht; es war darüber hinaus auch eine valide Legitimitätsquelle für ein Verständnis von „Reichen“ als grundlegenden Einheiten des Völkerrechts und die Rechtsquelle für das geltende Prinzip der Machtausübung im eigenen „Großraum“ eines Reiches. Der Molotov-Ribbentrop-Pakt und seine Folgeverträge boten für Schmitt eine rechtliche Verankerung sowohl für Hitlers geopolitische Agenda eines Lebensraum-Imperialismus als auch für Schmitts eigenen nationalistischen Großraum-Expansionismus. Schmitt beteuerte die Gültigkeit des Hitler-Stalin-Abkommens sogar nachdem die Verträge durch die deutsche Invasion auf sowjetisches Territorium vom 22. Juni 1941 gebrochen worden waren. In einem Vorwort zur vierten Auflage seiner „Völkerrechtlichen Großraumordnung“, das Schmitt auf den 28. Juli 1941 datierte, bemerkte Schmitt, dass er das Werk um ein ganzes Kapitel erweitert und einige „kleinere Verbesserungen“ angebracht habe.21 Allerdings behielt Schmitt den Abschnitt über die Gültigkeit des „deutsch-russische[n] Grenz- und Freundschaftsvertrag[s] vom 28. September 1939“ bei.22 Mehr als einen Monat nach der 18 

Nunan, 2011: 75 – 76; Balakrishnan, 2000: 238 – 45. Schmitt, 2009: 47 – 48; Zaslavsky, 2008: 82. 20  Schmitt, 2009: 47 – 48. 21  Ebd.: 9. 22  Ebd.: 47 – 48; Vgl. Nunan, 2011: 75: „The fourth and final edition of The Großraum Order of International Law, which was published in the summer of 1941, included a final new section on ,The Concept of Space in Jurisprudence‘ and retained the paragraph on the German-Soviet Treaty, even though the German Reich had already invaded the Soviet Union shortly before the publication of the fourth edition. S ­ chmitt added a preliminary remark, written on July 28, 1941, to this version of the text that comments obliquely in this fact.“ 19 

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Invasion Hitlers in die Sowjetunion 23 beteuerte Schmitt in gedruckter Form, dass das Folgeabkommen zum Molotov-Ribbentrop-Pakt nach wie vor geltendes Recht sei und die Operation Barbarossa somit eine Völkerrechtsverletzung wäre.24 Nach Schmitts Auffassung von internationalen Beziehungen stellte Hitlers Invasion der Sowjetunion ein internationales Verbrechen dar, wie es Hitlers Invasionen der Tschechoslowakei, Österreichs, Dänemarks, Polens, Belgiens und Frankreichs nicht gewesen waren. Es war aus Schmitts Sicht auch ein geopolitischer Fehler, wie es die vorhergehenden Invasionen nicht gewesen waren.25 Hatte Schmitt seinen Führer auch in gedruckter Form mehrfach hochgelobt,26 behielt er doch in gedruckter Form seine Haltung zur rechtlichen Geltung des Molotov-Ribbentrop-Paktes und seiner Folgeabkommen aufrecht, sogar als der Blitzkrieg durch die Ukraine und die eurasische Steppe voranschritt und Nazi-Soldaten auf Moskau vorrückten.27 23 

Vgl. van Laak, 2000: 273: „Lange Zeit wollte Hitler durch einen Verzicht auf koloniale und maritime Politik Großbritannien zu einem Bündnis mit Deutschland bewegen, um freie Hand für seine Absicht zu erhalten, Deutschland als führende kontinentale Weltmacht zu etablieren. Letztlich mag er kalkuliert haben, der Weg nach Afrika werde über Moskau führen.“ 24  In der Zeit zwischen 1939 – 42 betreute Schmitt an der Universität auch eine Dissertation über die rechtlichen Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes – eine Dissertation, die er im Mai 1942, fast ein Jahr nachdem der Vertrag durch die Operation Barbarossa gebrochen worden war, als bestanden bewertete. Vgl. Mehring, 2009: 402 – 3, 686 n. 50. 25 Sombart, 1984: 266, berichtet in seinen Memoiren von folgendem Gespräch mit ­Schmitt, das nach der Invasion der Nazis in die Sowjetunion stattfand: „Immer wieder stellte er sich (und mir) die Frage: Was ist das für ein Krieg, in den wir da verwickelt sind? Dieser Krieg, der mir so seltsam und gleichgültig war! Hatte er nach der Niederwerfung Polens und Frankreichs überhaupt noch einen Sinn? Die Revision des Versailler Diktates, das war Hitlers historischer Auftrag. Das waren konventionelle Landkriege. Aber jetzt? Was sollte man davon halten? Im Osten führen wir einen ideologischen Vernichtungskrieg, im Westen einen weltweiten Seekrieg. Dem sind wir überhaupt nicht gewachsen.“ In seiner Einleitung zur 1985 erschienenen französischen Übersetzung von „Land und Meer“ berichtet Julien Freund, 1985a: 14 – 15, von einer ähnlichen Aussage Schmitts über Hitlers Eroberungen: „Pour bien comprendre ces explications de Schmitt, il convient, je crois, de les compléter par une autre conversation. ,On vous a demandé, lui dis-je une fois, d’écrire un ouvrage sur Hitler. D’abord tenté par cette offre, vous l’avez en fin de compte rejetée. J’aimerais savoir quelle idée vous vous faites de cet homme.‘ Sur le coup, la réponse de Schmitt me surprit: ,Les erreurs stratégiques d’Hitler furent au premier chef un aveuglement politique. […] Comme la quasi totalité des intellectuels de cette époque, Hitler fut lui aus[s]i l’adversaire du Traité de Versailles. Son véritable, peut-être son seul but politique, fut l’abrogation de ce Traité. Hitler a marché sur Paris en juin 1940 à cette seule fin et, l’ayant atteinte, ne sut plus que faire politiquement.‘“ 26  Zarka, 2005: 53 – 88. 27  Evans, 2009: 231: „In der ersten Woche der Invasion brach die Heeresgruppe Mitte entscheidend durch die sowjetischen Abwehrstellungen und kesselte die Truppen der Roten Armee in mehreren Schlachten ein. Bis zum Ende der zweiten Woche im Juli hatten

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III. Der Mensch Die ersten Worte in „Land und Meer“ sind „Der Mensch“, und es lohnt sich, hier kurz zu verweilen, um zu fragen, was Schmitt unter „dem Menschen“ versteht und was er, politisch und theoretisch, mit diesem Begriff unternimmt. Nicht alle Mitglieder der Spezies „homo sapiens“ eignen sich nach Schmitts Auffassung für seine Klasse „des Menschen“. „Der Mensch“, behauptet Schmitt im ersten Satz seines Werkes, ist ein Landwesen, ein Landtier, ein Landtreter, der sich über den festen Erdboden bewegt.28 Nicht alle Mitglieder der Spezies „homo sapiens“ sind Landwesen, Landtiere oder Landtreter in seinem Sinne, wie Schmitt im Verlauf von „Land und Meer“ immer wieder behauptet. In allen Ausgaben von „Land und Meer“, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, behauptet Schmitt: „Auf den Inseln der Südsee, bei polynesischen Seefahrern, Kanaken und Sawoiori, erkennt man noch die letzten Reste solcher Fischmenschen.“29 Während Schmitt manche auf den Status von „Fischmenschen“30 degradiert, sind die Engländer laut Schmitt schlichtweg „Fisch“,31 neben anderen noch weniger glücklichen. Schmitts Idee des „Menschen“ scheint sich in einer Reihe von binären Gegensätzen wiederzufinden: Erde (Element)

vs.

Wasser (Element)

Boden

vs.

Ozean

Land

vs.

Meer

Landvölker

vs.

Seevölker

Landkrieg

vs.

Seekrieg

land-bezogene Existenz

vs.

maritime Existenz

der Mensch

vs.

Fische, Seeschäumer

Behemoth

vs.

Leviathan

Deutschland, Russland, Italien

vs.

England, Amerika

sie bereits 600 000 Rotarmisten gefangengenommen. Zu diesem Zeitpunkt waren über 3000 sowjetische Geschütze und 6000 Panzer erbeutet oder zerstört oder von den Soldaten einfach aufgegeben worden. 89 von 164 sowjetischen Divisionen der Roten Armee waren außer Gefecht gesetzt. Deutsche Kräfte nahmen Smolensk ein und rückten weiter Richtung Moskau vor.“ 28  Schmitt, 1981: 7; ders., 1954: 3; ders., 1942: 3. 29  Schmitt, 1981: 10; ders., 1954: 5; ders., 1942: 6. Siehe auch Schmitts Brief an Ernst Jünger, datiert auf den 16. August 1941, in Kiesel, 2012: 125: „Die ‚autothalattischen‘ zum Unterschied von ‚autochthonen‘ Rassen (Polynesier als Rasse solcher ‚Autothalatten‘) sprechen nur in Vokalen; das bezeichnet der Autor als typisch für eine nicht landtretende, reine Meer- und Fisch-Menschenrasse.“ 30  Schmitt, 1981: 10; ders., 1954: 5; ders., 1942: 6. 31  Schmitt, 1981: 92; ders., 1954: 54; ders., 1942: 65.

Propaganda und Kritik: Eine Einführung in Carl Schmitts „Land und Meer“

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Obwohl Schmitt diese Aufreihung von Gegensätzen an mehreren Stellen im Text nicht aufrechterhält und modifiziert32, bringt er die Idee von landbezogener Völkerschaft als Kriterium für „den Menschen“ als politische Waffe mit polemischer Zielrichtung in Stellung. Wie schon andere Wissenschaftler bemerkt haben33 ist Schmitts Idee des „Menschen“ eine privative Kategorie, die das Menschsein derer verneint, die davon ausgeschlossen sind. An mehreren Stellen in seinem Text behauptet Schmitt, dass der Entschluss englischer Seefahrer zu einer „rein maritimen Existenz“ mit ihrer Transforma­ tion zu „Seeschäumern“ oder „Fisch“ zusammengefallen sei.34 Die Entscheidung für das Meer, anstelle und gegen das Land, kommt in der Sprache von „Land und Meer“ einer willentlichen Verwirkung des eigenen Menschseins gleich, die eine Transformation in etwas anderes als Menschliches bewirkt. Während die Entscheidung der Engländer für das Meer in Schmitts Darstellung einer Verwirkung ihres menschlichen Status gleichkommt, bietet Schmitt sein Kriterium der Landbezogenheit auf, um auf polemische Art und Weise die Juden zu entmenschlichen, unabhängig von einer etwaigen Entscheidung dafür. Nach Schmitt entbehren die Juden eines Status als Menschen, da sie kein Land und daher auch nicht die entsprechende Fähigkeit haben, dort zu verweilen.35 Menschen sind für Schmitt „Landtreter“, die in ihrer „Reinform“ als arme Bauern auf ihrem Hof leben.36 Juden sind für Schmitt im Jahr 1942 landlose Wanderer, die in Zelten leben.37 In „Land und Meer“ von 1942 schließt Schmitt Juden und Briten von seiner Vorstellung des „Menschen“ aus, Russen und Italiener allerdings nicht. Im Verlauf von „Land und Meer“ gehört Russland, ebenso wie Deutschland zu den Landmächten.38 Nach Schmitts Darstellung sind russische 32 

Insbesondere Schmitt, 1981: 92 – 93 (= Abschnitt 17). 1998: 94. Kennedy argumentiert dafür, Menschsein sei für Schmitt „a polemical word that negates its opposite.“ 34  Schmitt, 1981: 92. 35  Schmitt, 1942: 9 – 10; ders., 1954: 8 – 9; ders., 1981: 16 – 17; ders., 1981: Abschnitt 3. 36  Schmitt, 1981: Abschnitt 1 und 3. Siehe auch Schmitt, 1995c: 564 (= Abschnitt 4): „[Altmann:] Haus und Eigentum, Ehe, Familie und Erbrecht, alles das bildet sich auf der Grundlage eines terranen Daseins, insbesondere des Ackerbaues. Auch der Bauer, wie wir ihn nennen, hat seinen Namen nicht etwa von der Arbeit des Bauens oder des Acker-Bebauens. Der Bauer heißt nach dem Bau, d. h. nach dem Gebäude, das ihm gehört und zu dem er gehört. Im Kern der terranen Existenz steht also das Haus.“ Vgl. Taubes, 1987: Abschnitt 1. 37  Schmitt, 1942: 10: „So töten sich, meinen diese Juden, die beiden kämpfenden Mächte gegenseitig. Die Juden aber, sagen sie weiter, stehen daneben und sehen dem Kampfe zu. Sie essen das Fleisch der sich gegenseitig tötenden Tiere, ziehen ihnen die Haut ab, bauen sich aus dem Fell schöne Zelte und feiern ein festliches, tausendjähriges Gastmahl. So deuten die Juden die Weltgeschichte.“ Vgl. van Laak, 2000: 278. 38  Schmitt, 1942: 9, 23, 69; ders., 1954: 8, 19, 57; ders., 1981: 16, 35, 97. 33  Kennedy,

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Pelzjäger in Sibirien, was englische Walfänger für die Weltmeere sind.39 Russland wird von Schmitt als Landmacht und somit als natürlicher Verbündeter von Deutschland betrachtet, wohingegen Japan, wie Großbritannien auch, klarerweise als Insel gesehen wird.40 Schmitt gesteht zwar zu, dass nicht jede Insel von derselben Art ist, insbesondere hinsichtlich einer politischen Entscheidung für eine maritime Existenz. Jedoch wirft die explizite Anerkennung Japans als Insel die Frage auf, welche Allianzen außerhalb des deutschen „Großraums“ Schmitt für ratsam hält41 und ob das deutsche Bündnis mit Japan von Schmitts Standpunkt aus ein geopolitischer Fehler war. Im Vokabular von „Land und Meer“ werden „Landmächte“ auf Ebene der Anthropologie als Völker verstanden, die ihre Existenzgrundlage auf dem Land haben. Indem er Russland und Deutschland durch ein gemeinsames Menschsein verbindet, welches die Deutschen mit Engländern, Amerikanern und Juden nicht teilen, scheint Schmitt auf subtile Art und Weise nahezulegen, dass es ein geopolitischer Fehler für den Nationalsozialismus war, den Hitler-Stalin-Pakt zu widerrufen. IV. Der Pirat und der Kapitalisten-Korsar Im römischen Recht und in dem von Schmitt mit dem „Völkerrecht“ gleichgesetzten „ius gentium“ wird Piraterie unter Bezugnahme auf eine spezifische Form der Feindschaft definiert. Der Pirat wird rechtlich als „hostis generis humani“, als Feind der gesamten Menschheit bezeichnet, worüber sich Schmitt vollkommen im Klaren war.42 In den Schriften der 1930er und 1940er Jahre bezog sich Schmitt auf amerikanische und britische Ansätze während und nach dem 39 

Schmitt, 1942: 23; ders., 1954: 19; ders., 1981: 35. 1981: Abschnitt 17. 41  Mindestens bis 1936 vertrat Schmitt in gedruckter Form die Auffassung, dass zukünftige Verbündete Deutschlands gemäß der Rassenlehre „Nicht-Arier“ wären. Schmitt, 1936: 16: „Der Rassenlehre verdanken wir die Erkenntnis des Unterschiedes von Juden und anderen Völkern. Franzosen, Engländer und Italiener haben großen Einfluß auf uns ausgeübt. Darunter sind gute und böse Einflüsse. Aber immer ist ein solcher Einfluß arischer Völker etwas völlig anderes als der Einfluß jüdischen Geistes. Sprechen wir hier, wo es sich um den Juden handelt, auch nicht allgemein von ‚Nichtariern‘. Auch dadurch würde der Jude in eine Gesellschaft versetzt, in der er unerwartete Bundesgenossen findet und womöglich mit großartigen Samurais und ritterlichen Magyaren Arm in Arm auftritt.“ Siehe auch Schmitt, 1995d: 636. 42  Schmitt, 2014a: 274: „Nach der alten, auch anläßlich dieser Konferenz oft wiederholten Formel gilt der Pirat als ‚Feind des Menschengeschlechts‘ hostis generis humani.“ Vgl. Schmitt, 2007: 57 n. 56: „Wilson hat in seiner Rede vom 2. April 1917 den Ausdruck ‚Piraterie‘ zwar nicht gebraucht, wohl aber den deutschen Unterseebootkrieg als einen ‚gegen die Menschheit‘ geführten Krieg bezeichnet, der ein ‚Krieg gegen alle Nationen‘ sei. Damit war Deutschland mit den für die Piraterie üblichen Formulierungen zum hostis generis humani erklärt.“ Vgl. Heller-Roazen, 2009: 16 – 22, 142 – 46, 163 – 170. 40 Schmitt,

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Ersten Weltkrieg, Angriffe von deutschen U-Booten auf amerikanische und britische Handelsschiffe als Akte der Piraterie zu klassifizieren und somit als feindliche Handlungen gegen die Menschheit.43 Aus diesem Grund verfolgte Schmitt die internationalen Verhandlungen über das Londoner Protokoll, den Londoner Flottenvertrag von 1930 und über das Abkommen von Nyon – internationale Abkommen, die das Ziel verfolgten, U-Boot-Angriffen auf Handelsschiffe unter Rückgriff auf den Pirateriebegriff des „ius gentium“ als Verletzungen des Völkerrechts festzuschreiben.44 In „Land und Meer“ sind es nicht deutsche U-Boote, sondern das gesamte englische Volk, das als Piraten abgestempelt wird,45 indem Schmitt behauptet, dass die Hinwendung der Engländer zu einer maritimen Existenz „ein Volk von Schafzüchtern in Piraten verwandelt hatte.“46 Schmitts Beschreibung der Engländer als Piraten steht in Einklang mit ihrer Einstufung als „Seevolk“ und schafft es, das gesamte englische Volk in „hostes generis humani“ umzumünzen – womit er das Konzept der Piraterie gegen jene verdreht, die es gegen die Deutschen und ihren U-Boot-Krieg in Stellung bringen wollten.47 43  Schmitt, 2014a: 277: „Sollte sich die englische Auffassung der U-Boot-Piraterie als ein allgemeiner Völkerrechtsbegriff durchsetzen, so hätte der Begriff der Piraterie seinen Platz im System des Völkerrechts gewechselt. Er wäre aus dem leeren Raum unpolitischer Nichtstaatlichkeit in jenen für das Völkerrecht der Nachkriegszeit typischen Raum der Zwischenbegriffe zwischen Krieg und Frieden verlegt worden.“ Vgl. Schmitt, 2007: 13, 51, 57 n. 56; Heller-Roazen, 2009: 226 n. 38 – 39; Brief von Ernst Jünger an Schmitt, datiert auf den 3. November 1937, in: Kiesel, 2012: 68. 44  Heller-Roazen, 2009: 137 – 46; Schmitt, 2014a: 274 – 77. 45  Nicolaus Sombart berichtet in seinen Memoiren von einem Gespräch aus der Zeit, als Schmitt an „Land und Meer“ arbeitete, in dem dieser das englische Volk wie folgt beschreibt: „Die Insel England löst sich plötzlich vom Lande ab und wird zu einem Schiff, das auf die Ozeane hinausfährt. ‚Ein Schiff,‘ sagte er geheimnisvoll, ‚ein Piratenschiff.‘ Die Insel England und ihre welterobernde Seefahrt bedurfte weder der absoluten Monarchie noch eines stehenden Landheeres, noch eines gesetzlichen Rechtssystems, wie es für das kontinentale Europa zu einer Notwendigkeit wurde. Nachdenklich fügte er hinzu: ‚Das englische Volk hatte einen Staat einfach nicht nötig, und wurde trotzdem Weltmacht. […] Das englische Volk, verstehst du, hat sich gegen den Staat entschieden – für das freie Meer!‘ ‚Wir sind Landtreter, Nikolaus,‘ sagte er, während wir durch den märkischen Sand im Grünewald stapften, und stieß unwillig mit dem Stock auf. ,Wir können gar nicht begreifen, was das heißt: das freie Meer!‘“ [Auslassungen im engl. Text] Sombart, 1984: 256. 46  Schmitt, 1981: 98; ders., 1954: 58; ders., 1942: 70. 47  Nicolaus Sombart berichtet in seinen Memoiren von einem Gespräch aus der Zeit, als Schmitt an „Land und Meer“ arbeitete, in dem dieser Piraten wie folgt beschreibt: „Aus der Perspektive der angelsächsischen Seeherrschaft sind wir Piraten – hostes generis humani, Feinde der Menschheit. Pirat, das weißt du jetzt schon, ist nicht der einzelne Seeräuber, sondern das Schiff und seine ganze Mannschaft, vom Kapitän bis zum letzten Kajütenjungen. Wird das Schiff gekapert, werden alle aufgehängt – mitgefangen, mitge-

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Wie wir gesehen haben, vollzieht Schmitt mit seiner Auffassung von Piraterie in „Land und Meer“ eine polemische Wendung gegen die Engländer. Darüber hinaus könnte dies als Schmitts Antwort auf Marx’ Begriff der ursprünglichen Akkumulation und auf Max Webers Begriff der protestantischen Ethik, die den Geist des Kapitalismus prägt, gelesen werden. In „Land und Meer“ verbindet Schmitt die früh-moderne Piraterie eng mit dem Protestantismus – so eng, dass es manchmal den Anschein hat, er betrachte die frühe moderne Piraterie ausschließlich protestantisch: „Alle diese Rochellois, Seegeusen und Buccaneers haben einen politischen Feind, nämlich die katholische Weltmacht Spanien“, schreibt Schmitt. „Sie kapern, so lange sie etwas auf sich halten, grundsätzlich nur katholische Schiffe und sehen das mit gutem Gewissen als ein gottwohlgefälliges, von Gott gesegnetes Werk an. Sie stehen also in einer großen, weltgeschichtlichen Front, in der Front des damaligen Weltprotestantismus gegen den damaligen Weltkatholizismus.“48 Was verbindet den Piraten für Schmitt mit dem Protestanten? Was einen Piraten von einem Soldaten – eine Piraten- von einer Marineflotte – unterscheidet, ist, dass ein Pirat in erster Linie nicht von einer Regierung anerkannt ist.49 Ein Pirat operiert außerhalb der Rechtsordnung und ist in dieser Hinsicht mit dem Protestantismus verbunden, der ebenfalls ursprünglich von keiner herrschenden Regierung oder Kirchenorganisation anerkannt war. In den Überlegungen zum „protestantischen“ Charakter der Piraterie schwingt Schmitts Erbschaft gegenüber Weber mit, zu dessen posthum erschienener „Erinnerungsgabe“ Schmitt einen Nachdruck von drei der vier Kapitel seiner „Politischen Theologie“ beigetragen hatte.50 Weber hatte die Mentalität des Kapitalismus mit den protestantischen Begriffen Berufung, Gnade und Askese verknüpft – spirituelle Einstellungen, die zum Sparen und zur Bildung von Kapital anhielten.51 Nach Schmitts Darstellung in „Land und Meer“ hat die protestantische Ethik, die dem Kapitalismus Vorschub leistet, wenig gemein mit Askese oder zur Sparsamkeit anhaltender Gnade. Der Geist des Kapitalismus wird nach Schmitt von einer protestantischen Ethik der Piraterie und der Ausbeutung befeuert, insbesondere gegen katholische Schiffe, die Beutegut aus den neu eroberten Ländern Amerikas transportieren.

hangen – mit Ausnahme der in den Ketten liegenden Gefangenen. Pardon wird da nicht gegeben …“. [Auslassung im Original] Sombart, 1984: 266. Schmitt, 1981: 98; ders., 1954: 58; ders., 1942: 70. 48  Schmitt, 1981: 44; ders., 1954: 25; ders., 1942: 30. 49  Freund, 1985b: 108. 50  Meier, 2009: 56 n. 12 – 57 n. 12; Mehring, 2009: 124 – 29; Kiesel, 2012: 660 – 61. 51  Weber, 2013: 96 – 202.

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In „Land und Meer“ entwirft Schmitt ein Bild von der Geburt früher moderner Piraterie, das sowohl mit dem Protestantismus verbunden ist – der Pirat steht in einer „großen, weltgeschichtlichen Front, in der Front des damaligen Weltprotestantismus“ – als auch mit der Geschichte rechtlicher Anerkennung von Piraten als Korsaren und, nach Ansicht Schmitts, mit dem Ursprung der Kapitalakkumulierung. Piraterie kann unter bestimmten Umständen wegen ihres Nutzwertes von einer königlichen oder fürstlichen Regierung anerkannt werden. Der Korsar ist ein offiziell anerkannter und mit Autorität versehener Pirat, der einen Kaperbrief seiner Regierung mit sich führt. Nach Schmitts Darstellungen in „Land und Meer“ kommt dem Korsar eine erhebliche historische Bedeutung zu: „Die Korsaren des 16. und 17. Jahrhunderts dagegen spielen eine große geschichtliche Rolle. Sie stehen als aktive Kämpfer in der großen Weltauseinandersetzung zwischen England und Spanien. Von ihren Feinden, den Spaniern, wurden sie als gemeine Verbrecher und Raubmörder bezeichnet und gehängt, wenn man sie faßte. Auch ihre eigene Regierung ließ sie kaltblütig fallen, wenn sie unbequem wurden oder wenn außenpolitische Rücksichten es erforderten. Oft war es wirklich nur ein Zufall, ob ein solcher Korsar als königlicher Würdenträger in einem hohen Amt oder als zum Tode verurteilter Pirat am Galgen endete. Dazu kommt, daß verschiedene Bezeichnungen, wie Pirat, Korsar, Privateers, Merchant-Adventurer52 in der Praxis unklar durcheinander gebraucht werden. An sich ist, juristisch gesehen, zwischen Piraten und Korsaren ein großer Unterschied. Denn der Korsar hat, im Gegensatz zum Piraten, einen Rechtstitel, eine Ermächtigung seiner Regierung, einen förmlichen Kaperbrief seines Königs. Er darf die Flagge seines Landes führen. Der Pirat dagegen fährt ohne rechtliche Vollmacht. Zu ihm paßt nur die schwarze Piratenfahne. Aber so schön und klar dieser Unterschied in der Theorie sein mag, so sehr löste er sich in der Praxis auf. Die Korsaren überschritten oft ihre Vollmachten und fuhren mit falschen Kaperbriefen, manchmal auch mit verbrieften Ermächtigungen nicht existierender Regierungen.“53

Schmitts Darstellung der Anerkennung von Piraten (verstanden als Protestanten) könnte als Parallele zur Anerkennung von Protestanten durch königliche oder fürstliche protestantische Staatskirchen im 16. und 17. Jahrhundert gesehen werden. Demnach bleibt der staatlich anerkannte Pirat ein Pirat, mag er auch unter der Flagge seines Königs oder Fürsten segeln. Schmitt verknüpft explizit seine Auffassung des Korsaren als eines Agenten des „Weltprotestantismus“ mit dem Kapitalismus: der Pirat wird zum Korsar und der Korsar wird ein Korsaren-Kapitalist. Schmitt verortet diesen Prozess in der Zeit der Herrschaft Königin Elisabeths I:

52  In seinem Text gibt Schmitt die Begriffe „Privateers“ und „Merchant-Adventurer“ auf Englisch wieder. 53  Schmitt, 1981: 43 – 44 (= Abschnitt 7); ders., 1954: 24 – 25; ders., 1942: 29 – 30.

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„Die Königin Elisabeth gilt freilich als die große Begründerin der englischen Seeherrschaft und hat diesen Ruhm auch wohl verdient. Sie hat den Kampf mit der katholischen Weltmacht Spanien begonnen. Unter ihrer Regierung wurde die spanische Armada im Kanal besiegt (1588); sie hat Seehelden wie Franz Drake und Walter Raleigh geehrt und ermutigt; aus ihrer Hand erhielt die englische Ostindische Handelskompanie, die später ganz Indien für England erobert hat, im Jahre 1600 ihr Handelsprivileg. In den 45 Jahren ihrer Regierung (1558 bis 1603) wurde England ein reiches Land, was es vorher nicht gewesen war. Vorher trieben die Engländer Schafzucht und verkauften Wolle nach Flandern; jetzt aber strömte von allen Meeren die märchenhafte Beute englischer Korsaren und Piraten zur englischen Insel. Die Königin freute sich dieser Schätze und hat sich daran bereichert. Sie hat in dieser Hinsicht in aller Jungfräulichkeit nichts anderes getan, als was zahlreiche adlige und bürgerliche Engländer und Engländerinnen ihrer Zeit taten. Sie waren alle am großen Beutegeschäft beteiligt. Hunderte und Tausende von Engländern und Engländerinnen wurden damals zu ,Korsaren-Kapitalisten‘, zu corsairs capitalists.“54

Seine Darstellung der imperialen Expansion Englands und die darauffolgende Schilderung der Killigrew-Familie und des Korsarenkapitalismus könnte man als Schmitts Gegen-Narrativ zu Marx’ Diskussion der ursprünglichen Akkumula­ tion in Band 1 von „Das Kapital“ lesen.55 Sowohl nach Schmitt als auch Marx ist der Kapitalismus englischen Ursprungs und rührt von der Enteignung der Landbevölkerung her („Expropriation des Landvolks“):56 bei Marx ist es der englische Kleinbauer; bei Schmitt sind es die Konquistadoren der katholischen Weltmächte Portugal und Spanien. V. Carl Schmitt über den „Islam“ In „Land und Meer“ verleiht Carl Schmitt wie wohl in keinem anderen zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Buch seinen Ansichten über den „Islam“ Ausdruck.57 Das finstere Zeitalter lässt sich nach Schmitts Ansicht nicht dem weltgeschichtlichen Sieg des Christentums zuschreiben. Im Gegenteil, nach Schmitts Auffassung haben der „[…] Verfall des Römischen Reiches, die Ausbreitung des Islam, die Einbrüche der Araber und der Türken […] eine jahrhundertelange Raumverdunkelung und Verlandung Europas herbeigeführt.“58 In Anbetracht der Auswirkungen, die er der „Ausbreitung des Islam“ zuschreibt, lobt Schmitt in 54  Schmitt gibt hier auch den englischen Begriff mit teilweise deutscher Schreibweise wieder. Schmitt, 1981: 45 – 46; ders., 1954: 26; ders., 1942: 31. 55  Marx, 2013: 741 – 91. Vgl. Balakrishnan, 2000: 241 – 42. 56  Marx, 2013: 744. 57 Schmitts 1950 erschienene Abhandlung „Der Nomos der Erde“ behandelt dieses ­Thema in nahezu gleichwertigem Umfang im Verlauf eines längeren Werkes. Vgl. Schmitt, 1997: 22-35, 55, 81, 103. 58  Schmitt, 1981: 61; ders., 1954: 35; ders., 1942: 42.

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„Land und Meer“ das Byzantinische Reich in den höchsten Tönen dafür, den „Islam“ aufgehalten und sein Voranschreiten verhindert zu haben. Das byzantinische Reich war in Schmitts Verständnis „[…] ein wahrer ‚Aufhalter‘, ein ‚Katechon‘, wie man das auf Griechisch nennt; es hat trotz seiner Schwäche viele Jahrhunderte lang gegen den Islam ‚gehalten‘ und dadurch verhindert, daß die Araber ganz Italien eroberten. Sonst wäre, wie das damals mit Nordafrika geschehen ist, unter Ausrottung der antik-christlichen Kultur, Italien der islamischen Welt einverleibt worden.“59 An anderer Stelle in „Land und Meer“ hält Schmitt eine Lobrede auf die Schlacht von Lepanto und bemerkt: „Hier stieß die spanisch-venezianische Flotte mit der türkischen zusammen und errang den größten Seesieg, den Christen über Mohammedaner davongetragen haben.“60 Durch seine pauschale Aburteilung von „Islam“, „Arabern“ und „Mohammedanern“ verleiht Schmitt möglicherweise einem weitreichenden Antisemitismus Ausdruck, der über den bösartigen Hass gegen das jüdische Volk hinausgeht.61 Darüber hinaus wirft das politische Vokabular, mit dem Schmitt seine Diskussion über den „Islam“ führt, umfassendere geopolitische Fragen auf. Während Schmitt an „Land und Meer“ schrieb, waren die Nationalsozialisten jenseits des sogenannten deutschen „Großraums“ in einen Eroberungskrieg im Mittleren Osten und Nordafrika verstrickt und koordinierten Unternehmungen mit den Muslimbrüdern in Ägypten und mit dem Großmufti von Jerusalem im Völkerbundsmandat Palästina.62 In „Land und Meer“ gibt Schmitt zu, dass innerhalb des juristischen Rahmens der „Gemeinschaft der christlich-europäischen Völker“, mit der er sich insbesondere hinsichtlich ihres Kampfes gegen (tatsächliche oder eingebildete) Widersacher befasst, sie „[…] sich auch kein Gewissen daraus gemacht [haben], Nicht-Europäer, Mohammedaner oder Indianer, als offene oder heimliche Helfer oder gar Verbündete einzusetzen.“63 Schmitt sieht keinen Grund zur Besorgnis darin, „Mohammedaner […] als offene oder heimliche Helfer oder gar Verbündete einzusetzen“. Auf die nationalsozialistische Politik in den Jahren 1941 – 42 im Mittleren Osten angewandt, könnte dieser Gedanke Schmitts Billigung der Allianz der Nazis mit der Muslimbruderschaft und dem Großmufti zur Erreichung des gemeinsamen Ziels ausdrücken, das Britische Weltreich und das jüdische Volk zu zerstören. Auf der anderen Seite könnte Schmitts scharfe Rhetorik gegen den „Islam“ und die „Mohammeda59  Schmitt, 1981: 19; ders., 1954: 10; ders., 1942: 11 – 12. Für eine weitergehende Diskussion von Schmitts Begriff des „Katechon“ siehe ders., 1997: 28-35, 55. Vgl. Strong, 2008: xxv; Balakrishnan, 2000: 221 – 25; Meier, 2009: 243 – 49; Groh, 2014; 2. Thessaloniker 2:6 – 7. 60  Schmitt, 1981: 27; ders., 1954: 14; ders., 1942: 17. 61  Vgl. Strong, 2008: xv. 62  Motadel, 2014; Herf, 2010; Küntzel, 2009: 24 – 48. 63  Schmitt, 1981: 74; ders., 1954, 43; ders., 1942: 51 – 52.

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ner“ im Jahr 1942 ein Hinweis darauf sein, dass sogar die nationalsozialistische Expansionspolitik Grenzen kennt und bestimmte konfessionelle Bündnisse, wie zum Beispiel die Verstrickungen mit dem Großmufti, aus kulturellen Gründen zum Scheitern verurteilt wären.64 In Hinblick auf seine Rhetorik bezüglich des „Islam“ und des Plans, gegen die gemeinsamen Feinde des Nazismus „Mohammedaner […] einzusetzen“, dürfte Schmitt in tief verwurzelten kulturellen Widersprüchen gefangen gewesen sein, die weit widersprüchlichere Begehrlichkeiten widerspiegelten. VI. Visionen und Revisionen: Die Ausgaben von 1954 und 1981 Im 1954 erschienenen „Sauerland“-Heft der Zeitschrift „Merian“ kündigte Schmitt die zweite Ausgabe von „Land und Meer“ als Nachdruck der Ausgabe von 1942 an.65 Trotz dieser Ankündigung66 wich die Ausgabe von 1954 von ihrer Vorgängerversion in mehreren wichtigen Aspekten ab. Zunächst einmal lässt die Ausgabe von 1954 die „Übersicht“ aus, die für die 1942er Ausgabe als zusammenfassende Inhaltsangabe diente. Die 1981 veröffentlichte Ausgabe stimmt großenteils mit der nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Ausgabe von 1954 überein. Jedoch fügte Schmitt hier anstatt der Inhaltsangabe ein kurzes Nachwort hinzu, in dem er sein Verständnis von Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ mit der Hegel-Interpretation vom „Marxismus“ kontrastiert.67 Schmitt zitiert zuerst aus Hegels Abhandlung. „Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende Element das Meer“, und liefert dann einen ziemlich kurzen und ziemlich kryptischen Kommentar: „Ich überlasse es dem aufmerksamen Leser, in meinen Ausführungen den Anfang eines Versuches zu finden, diesen § 247 in ähnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen, wie die §§ 243 – 246 im Marxismus zur Entfaltung gebracht worden sind.“68 Indem es die Aufmerksamkeit auf den Boden als „das Prinzip des Familienlebens“ lenkt, könnte das Nachwort der Ausgabe von 1981 einen gewissen rhetorischen Parallelismus – ein epanaleptisches Konstrukt – mit der Widmung des Werkes bilden: „Meiner Tochter Anima 64  Zur Bedeutung der Kultur für Schmitt siehe Pan/Berman, 2008: 3: „Culture precedes politics, life precedes law, theology precedes order.“ 65 Schmitt, 1995f: 513. Vgl. den „Anhang des Herausgebers“ (Ebd.: 517); Derman, 2011: 181 – 89. 66  Die 1954er Ausgabe wird auf der Titelseite als „Neue, durchgesehene Auflage“ beworben; siehe Schmitt, 1954: Titelseite. Schmitt selbst stellt in „Welt großartigster Spannung“ sein Werk als Neudruck dar: Schmitt, 1995f: 513. 67 Schmitt, 1981: 108 – 109. Reinhard Mehring schreibt die Auslassung der „Übersicht“ herausgeberischer Vergesslichkeit auf Seiten von Schmitts Verlag, Reclam, zu. Vgl. Mehring, 2009: 702 n. 106. 68  Schmitt, 1981: 108 – 109..

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erzählt.“ Die 1981er Ausgabe von „Land und Meer“ beginnt und endet mit einem Bezug zur Familie – einem Schauplatz von Inklusion und Exklusion – einer sozialen Einheit, die nach Schmitts Darstellung auf der fragwürdigen Grundlage von „Blut und Boden“ basiert. In der 1942 erschienenen Ausgabe von „Land und Meer“ ist nur eine einzige Fußnote vorhanden, die philologische Varianten des Lateinischen in Senecas Tragödie „Medea“ in Betracht zieht.69 In der 1954 erschienenen Ausgabe fügte Schmitt eine zweite Fußnote hinzu, die „Land und Meer“ mit seiner 1950 erschienenen Abhandlung „Der Nomos der Erde“ verknüpft.70 Während er diese explizite Bindung zum Argument aus „Der Nomos der Erde“ beibehält, modifiziert Schmitt den zeitlichen Rahmen seiner Beschreibung des „nomos der Erde“ in der Ausgabe von 1954. 1942 schrieb Schmitt: „Die Ordnung des festen Landes besteht darin, daß es in Staatsgebiete eingeteilt ist; die hohe See dagegen ist frei, d. h. staatsfrei und keiner staatlichen Gebietshoheit unterworfen. Das sind die raumhaften Grundtatsachen, aus denen sich das christlich-europäische Völkerrecht der letzten dreihundert Jahre entwickelt hat. Das ist das Grundgesetz, der Nomos der Erde dieser Epoche.“71 In der Ausgabe von 1954 änderte Schmitt den letzten Satz zu „Das war das Grundgesetz, der Nomos der Erde dieser Epoche.“72 Im Jahr 1954 ist das christlich-europäische Völkerrecht ein Ding der Vergangenheit, anders als noch 1942. 69 

Schmitt, 1981: 60; ders., 1954: 34; ders., 1942: 41 (= Abschnitt 11). 1954: 41; Schmitt, 1981: 71: „Das griechische Hauptwort Nomos kommt von dem griechischen Zeitwort Nemein und hat wie dieses drei Bedeutungen. Nemein ist erstens dasselbe wie: Nehmen. Infolgedessen bedeutet Nomos erstens: die Nahme. Wie im Griechischen z. B. Legein-Logos dem deutschen: Sprechen-Sprache parallel verläuft, ebenso ist das griechische: Nemein-Nomos dem deutschen: Nehmen-Nahme parallel. Die Nahme ist zuerst Landnahme, später auch Seenahme, wovon in unserer weltgeschichtlichen Betrachtung viel die Rede ist, und im industriellen Bereich Industrienahme, d. h. Übernahme der industriellen Produktionsmittel. Nemein bedeutet zweitens: Teilen und Verteilen des Genommenen. Nomos ist also zweitens: die grundlegende Teilung und Verteilung des Bodens und die darauf beruhende Eigentumsordnung. Die dritte Bedeutung ist: Weiden, d. h. Nutzung, Bewirtschaftung und Verwertung des bei der Teilung erhaltenen Bodens, Produktion und Konsumtion. Nehmen-Teilen-Weiden sind in dieser Reihenfolge die drei Grundbegriffe jeder konkreten Ordnung. Weiteres über die Bedeutung des Nomos in dem Buch: Der Nomos der Erde, Köln, 1950. (2. Auflage, Berlin 1974).“ 71  Schmitt, 1942: 60. 72  Schmitt, 1954: 50; ders., 1981: 86. In der 1942 erschienen Ausgabe von Schmitts Text, liest sich dieser Satz wie folgt: „Das ist das Grundgesetz, der Nomos der Erde dieser Epoche.“ (Hervorh. d. Verf.). In der Ausgabe von 1954 änderte Schmitt den Satz ab, indem er „ist“ mit „war“ austauschte, eine Änderung, die er in der 1981er Ausgabe beibehielt. Vgl. Schmitt, 1942: 60; ders., 1954: 50; ders., 1981: 86. Im „Gespräch über den Neuen Raum“ [1955/1958], das ein Jahr nach der 1954 redigierten Veröffentlichung von „Land und Meer“ erschien, behauptete Schmitts „MacFuture“, dass Atom- und Wasserkraft der Raumordnung von Land und Meer vorbeugen würden. Siehe Schmitt, 1995c: 558. 70  Schmitt,

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Nicht weniger auffällig ist, dass Schmitt in den Ausgaben von 1954 und 1981 mehrere Passagen abschwächt, die sich gegen die Kriegsführung der Briten im Zweiten Weltkrieg gewendet hatten. In der Ausgabe von 1942 diskutierte Schmitt taktische Seeblockaden und meint: „Die englische Auffassung sieht darin – weil der Hungertod ein unblutiger Tod ist – sogar einen Beweis höherer Menschlichkeit und verfeinerter Humanität, während ihr der ‚Schlachtenkrieg‘ der kontinentalen Kriegführung als ein grausames Gemetzel vorkommt.“73 In dieser Manier fuhr Schmitt in Abschnitt 16 von „Land und Meer“ fort: „Das scheint ihnen gut und selbstverständlich; das ist für sie dasselbe wie Zivilisation und Menschlichkeit; es ist der Friede und das Völkerrecht selbst. Am erstaunlichsten ist, daß andere Völker solche englischen Begriffe als klassische Wahrheiten übernahmen.“74 In den Ausgaben von 1954 und 1981 fehlen diese Textstellen über die „englische Auffassung“, obwohl Schmitt die Stellen beibehielt, in denen er die Engländer als „Fisch“ und als „ein Volk von […] Piraten“ bezeichnete. Die vielleicht auffälligsten Änderungen im Vergleich zu seinem Text von 1942 beziehen sich auf seine Darstellungen des jüdischen Volkes, auf das sich Schmitt vornehmlich mit „die Juden“ bezieht. Möglicherweise unter dem Eindruck seiner 1936 geäußerten Erklärung, dass alle Autoren, Wissenschaftler und Personen mit jüdischen Wurzeln als solche kenntlich gemacht werden sollten75 (eine Äußerung, die er in Veröffentlichungen von 1937,76 1938,77 1939,78 194079 und 194180 durch73 

Schmitt, 1942: 62; ders., 1954: 51; ders., 1981: 88 (= Abschnitt 16); vgl. Volpi, 2011: 146. Schmitt, 1942: 62; ders., 1954: 52; ders., 1981: 89; vgl. Volpi, 2011: 146. 75 So in „Die Deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“ (­Schmitt, 1936), zitiert in Taubes, 1987: Abschnitt 1; ebenfalls zitiert in Heller-Roazen, 2009: 226 n. 53, 227 n. 53. Vgl. Mehring, 2009: 372 – 78; Schmitt, 1936: 16: „Der Rassenlehre verdanken wir die Erkenntnis des Unterschiedes von Juden und anderen Völkern. Franzosen, Engländer und Italiener haben großen Einfluß auf uns ausgeübt. Darunter sind gute und böse Einflüsse. Aber immer ist ein solcher Einfluß arischer Völker etwas völlig anderes als der Einfluß jüdischen Geistes. Sprechen wir hier, wo es sich um den Juden handelt, auch nicht allgemein von ‚Nichtariern‘. Auch dadurch würde der Jude in eine Gesellschaft versetzt, in der er unerwartete Bundesgenossen findet und womöglich mit großartigen Samurais und ritterlichen Magyaren Arm in Arm auftritt. Dann hat er die Möglichkeit, den Kampf gegen das Judentum als einen Kampf gegen andere nichtjüdische Völker zu denunzieren und seine deutschfeindliche Propaganda unter neue Aspekte zu stellen. Sprechen wir endlich auch nicht von dem Judentum als einer ‚nationalen Minderheit‘. […] Wir sprechen also von den Juden und nennen sie bei ihrem Namen.“ 76  Schmitt, 2007: 18: „Die Verwandtschaft dieser Konstruktion mit der Lehre vom sozialen Pluralismus des an der gleichen Londoner Hochschule wie Lauterpacht wirkenden jüdischen Professors Laski sei hier wenigstens erwähnt, obwohl dieser Autor, der aus der pragmatischen Philosophie des echten Angelsachsen William James die Sozialtheorie der zweiten Internationale gemacht hat, bei Scelle nicht besonders genannt ist.“ Dieses Buch war zuerst ein im Oktober 1937 gehaltener Vortrag. Siehe Mehring, 2009: 389 – 390. 77  Schmitt, 1938: 108: „Stahl-Jolson ist der Kühnste in dieser jüdischen Front.“; ebd.: 106: „Auch im 19. Jahrhundert war es der Blick eines jüdischen Philosophen, Friedrich Ju74 

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gängig aufrechterhielt) war Schmitt darauf bedacht, sich auf Benjamin D ­ israeli als „der jüdische Politiker Disraeli“81 zu beziehen, was selbst jemanden, der als Mitglied der „Church of England“ getauft worden war, als unausweichlich von seiner Abstammung gekennzeichnet markierte. Sowohl in der Ausgabe von 1954, als auch in der autorisierten, 1952 erschienenen spanischen Fassung, die vom „Instituto de Estudios Políticos“ in Madrid82 herausgegeben wurde, findet sich dieser nachdrückliche „Spitzname“ von Disraeli als „jüdische[r] Politiker“ nicht mehr.83 Weiterhin beschrieb Schmitt Disraeli in der 1942er Ausgabe als „ein Eingeweihter, ein Weiser von Zion“ – ein Begriff, der im Deutschen auf die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ hinweist, eine Bezugnahme, die aus der deutschen Ausgabe von 1954 entfernt wurde, jedoch in der Ausgabe von 1952, die von Schmitt für die Veröffentlichung in Francos Spanien autorisiert wurde, beibehalten wurde.84 Im Zuge einer Beschreibung des Kampfes zwischen Behemoth und Leviathan schrieb Schmitt in der 1942er Ausgabe: „So töten sich, meinen diese Juden, die beiden kämpfenden Mächte gegenseitig. Die Juden aber, sagen sie weiter, stehen daneben und sehen dem Kampfe zu. Sie essen das Fleisch der sich gegenseitig tötenden Tiere, ziehen ihnen die Haut ab, bauen sich aus dem Fell schöne Zelte und feiern ein festliches, tausendjähriges Gastmahl. So deuten die Juden die Weltgeschichte.“85 In der deutschen Ausgabe von 1954 wurde diese Passage wie folgt abgeändert: „So töten sich die beiden kämpfenden Mächte gegenseitig. Die Juden aber, sagen diese Kabbalisten weiter, feiern dann das festliche tausendjährige ‚Gastmahl des Leviathan‘, von dem Heinrich Heine 787980

lius Stahl-Jolson, der die Einbruchstelle sofort erkannte und benutzte.“; ebd.: 94: „der Jude Moses Mendelssohn“ ; ebd.: 37 – 38: „Jüdischer Herkunft ist wohl auch die Auffassung eines Zeitgenossen von Hobbes, Isaac de La Peyrère, der auf Spinozas Kritik am Wunderglauben großen Einfluß gehabt hat.“ 78  Schmitt, 2014b: 334: „Auf dem Höhepunkt des preußischen Verfassungskonflikts hat ein jüdischer Abgeordneter, Dr. Eduard Simson […] der Jude Simson.“ 79  Schmitt, 2014c: 265: „Im Jahre 1890 war der Sieg des verfassungsrechtlichen Positivismus entschieden, dessen anerkannter Führer der jüdische Rechtsgelehrte Laband war.“ 80  Schmitt, 2009: 60: „des sonst für den englischen Pluralismus meistens zitierten Juden Laski“. 81  Vgl. Schmitt, 1942: 72 mit ders., 1954: 59 (= Abschnitt 19). 82  Schmitt, 1952: 107. Zum „Instituto de Estudios Políticos“ und der Rolle, die es für die Schmitt-Rezeption im Spanien Francos spielte siehe Müller, 2003: 270 n. 6, 133 – 43. 83  Vgl. Schmitt, 1942, 72 mit ders., 1954: 59; ders., 1952: 107 (= Abschnitt 19). 84  Schmitt, 1942: 67; ders., 1954: 56; ders., 1981: 95; Gross, 2005: 276; Meier, 2009: 238; Volpi, 2011: 146. Die Version von 1942 ist in der spanischen Übersetzung von 1952 von Fernandez-Quintanilla beibehalten worden; Schmitt, 1952: 100. 85  Schmitt, 1942: 10; ders., 1954: 8 – 9; Gross, 2005: 274 – 77; Meier, 2009: 237 – 40; Volpi, 2011: 146.

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in einem berühmten Gedicht erzählt.“86 In der spanischen Übersetzung von 1952 wurde die aus der Ära des Zweiten Weltkriegs stammende Version dieser Textstellen beibehalten.87 Vielleicht erschienen Schmitt in den frühen 1950er Jahren bestimmte Märkte (im Speziellen die durch den „Franquismo“ beeinflussten) als empfänglicher für Schmitts Ansichten zum jüdischen Volk aus dem Jahr 1942; Ansichten, die Schmitt, so scheint es zumindest, im Kern nicht geändert hatte.88 VII. Die Elemente der Weltgeschichte Carl Schmitt vertritt in „Land und Meer“ die Auffassung, dass die „moderne Naturwissenschaft“ zwar die antike Lehre von den vier Elementen – Erde, Wasser, Luft und Feuer – „aufgelöst“ hat, dass die antike Lehre von den vier Elementen sich aber nichtsdestotrotz eine „unausrottbar lebendige Vorstellung“ und die verdienstvolle Basis für eine weltgeschichtliche Betrachtung erhalten hat.89 Schmitt räumt zwar ein, dass die Lehre von den vier Elementen im Bereich der Physik, der Metaphysik und der Erkenntnistheorie Probleme aufwerfen könnte,90 bleibt jedoch dabei: „Trotzdem können wir für unsere geschichtliche Betrachtung bei den vier Elementen bleiben. Für uns sind diese Elemente nämlich einfache und anschauliche Namen. Es sind Gesamtkennzeichnungen, die auf verschiedene große Möglichkeiten menschlicher Existenz hinweisen. Wir dürfen sie deshalb auch heute noch verwenden und sprechen insbesondere von Land und Seemächten im Sinne solcher Elemente.“91 Auf der Grundlage dieser auf die Elemente 86  Schmitt, 1942: 10; ders., 1954: 8 – 9; ders., 1981: 17; Gross, 2005: 274 – 77; Meier, 2009: 237 – 40; Volpi, 2011: 146. Sein Verweis auf Heine scheint sich auf das Schlussgedicht „Disputation“ des dritten Abschnitts von Heines „Hebräische Melodien“ aus der im Jahr 1851 erschienenen Sammlung „Romanzero, Gedichte“ zu beziehen. Die Textstellen, die Schmitt aus der Ausgabe von 1942 entfernte und die Passagen, die Schmitt in den Ausgaben von 1954 und 1981 beibehielt, finden sich in mehrerlei Hinsicht nicht in Heines Gedicht. Zum einen erwähnt Heines „Disputation“ weder Behemoth und damit die Schlacht zwischen Behemoth und dem Leviathan, noch die jüdische Zuschauerschaft dieser Schlacht. Zum zweiten erwähnt Heines „Disputation“ mit keinem Wort Juden, die den Leviathan häuten und aus seiner Haut Zelte herstellen, was Schmitt in der Ausgabe von 1942 ausdrücklich betont. Zum dritten findet sich in Heines „Disputation“ kein Hinweis darauf, wer den Leviathan tötet. Laut Heines Charakter Juda ist es Gott, der das Fleisch des Leviathan den Auserwählten, den Weisen und den Gerechten anbietet. 87  Schmitt, 1952: 17: „Así interpretan los judíos la historia universal.“ 88  Müller, 2003: 133 – 43; Meier, 2009: 235 – 40. Vgl. Taubes, 1987; Taubes, 2003; Sombart, 1991: insbes. 261 – 94; Rüthers, 1990: 113 – 16. Reinhard Mehring zeigt, dass die Abweichungen zur Ausgabe von 1954 (die in der Ausgabe von 1981 beibehalten wurden) auf den Herausgeber Reclam zurückzuführen sind. Vgl. Mehring, 2009: 474, 702 n. 106. 89  Schmitt, 1981: 12; ders., 1954: 6; ders., 1942: 6. 90  Schmitt, 1981: 13; ders., 1954: 6; ders., 1942: 7. 91  Schmitt, 1981: 13; ders., 1954: 6; ders., 1942: 7.

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bezogenen Sichtweise, beteuert Schmitt: „Die Weltgeschichte ist eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte.“92 Nach Schmitts Ansicht sind die Schlachten zwischen Athen und Sparta, Karthago und Rom, England und Deutschland im Wesentlichen weltgeschichtliche Kämpfe – und die Schlachten zwischen Deutschland und Russland nicht. Schmitts Konstruktion einer menschlichen und menschenwürdigen, landbezogenen Lebensweise ist einer fischartigen maritimen Existenz, wie er sie mit dem Leviathan assoziiert, diametral entgegengesetzt. Schmitt ist daran gelegen, seine Idee einer maritimen Existenz in Verbindung mit einer stufenweisen maritimen Entwicklung zu präsentieren. Hierfür beruft sich Schmitt explizit auf die Theorie des im 19. Jahrhundert verstorbenen Geographen Ernst Kapp93 und unterteilt die Beziehung des Menschen zum Element Wasser in eine potamische, eine thalassische und eine ozeanische Periode.94 In einer Beschreibung von Kapps dreiteiliger Stufenlehre, die Schmitt selbst später übernimmt, schreibt er: „Die Weltgeschichte beginnt für ihn mit der ‚potamischen‘, d. h. der Flußkultur des Orients im Zweiströmeland von Euphrat und Tigris und am Nil, in den assyrischen, babylonischen und ägyptischen Reichen des Ostens. Ihr folgt die sogenannte thalassische Zeit einer Kultur von Binnenmeeren und Meeresbecken des Mittelmeeres, zu der die griechische und römische Antike und das mediterrane Mittelalter gehören. Mit der Entdeckung Amerikas und der Umseglung der Erde ist das letzte und höchste Stadium, die Stufe der ozeanischen Kultur gewonnen.“95 Einzig auf dieser letzten, ozeanischen Stufe ereignete sich Schmitt zufolge eine „Raumrevolution“.96 Im Zentrum von „Land und Meer“ steht die Frage nach der Raumrevolution. „Was ist das, eine Raumrevolution?“,97 fragt Schmitt. Nach Schmitts Auffassung ging etwas, das einer solchen Transformation nahekommt, mit dem „ersten Jahrhundert der römischen Kaiserzeit“ einher – mit dem Jahrhundert von Cäsar, Augustus, Tiberius, Nero, Seneca, Paulus und den Gründern des Christentums. Schmitt schreibt: „Im ersten Jahrhundert der römischen Kaiserzeit, am stärksten 92  Schmitt,

1981: 16; ders., 1954: 8; ders., 1942: 9. Siehe auch ders., 1981: 73; ders., 1954: 42 – 43; ders., 1942: 51: „Die Weltgeschichte ist eine Geschichte von Landnahmen.“ Vgl. Armitage, 2007: 28. 93  Schmitt, 1981: 23 – 25; ders., 1954: 12 – 13; ders., 1942: 14 – 15 (= Abschnitt 4). Auf Ernst Kapps Schrift „Philosophische oder Vergleichende Allgemeine Erdkunde als Wissenschaftliche Darstellung der Erdverhältnisse und des Menschenlebens nach ihrem inneren Zusammenhang“ (Kapp, 1845) bezieht sich Schmitt in Abschnitt 4 von „Land und Meer“ mit dem verkürzten Titel: „Vergleichende Allgemeine Erdkunde“. 94  Vgl. van Laak, 2000: 267 und 267 n. 23. 95  Schmitt, 1981: 23; ders., 1954: 12; ders., 1942: 14 (= Abschnitt 4). 96  van Laak, 2000: 275. 97  Schmitt, 1981: 55; ders., 1954: 31; ders., 1942: 37 (= Abschnitt 10).

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wohl zur Zeit Neros, wurde dann das Bewußtsein eines tiefgreifenden Wandels so mächtig und ausgreifend, daß man, wenigstens bei den führenden Geistern, schon fast von raumrevolutionären Veränderungen sprechen kann. […] Das Blickfeld hatte sich nach Osten und Westen, nach Norden und Süden erweitert. Eroberungs- und Bürgerkriege hatten den Raum von Spanien bis Persien, von England bis Ägypten umgewühlt. Weit entfernte Gegenden und Völker kamen miteinander in Berührung und empfanden die Einheit eines gemeinsamen politischen Schicksals.“98 Allerdings beginnt für Schmitt die erste vollwertige Raumrevolution mit der Erforschung und Eroberung des amerikanischen Kontinents durch die Europäer und mit den sich wandelnden Vorstellungen von Raum, welche diese Entdeckungen gleichermaßen hervorbringen und vertiefen. Was nach Schmitt Raumrevolutionen zugrunde liegt, sind sich wandelnde Auffassungen darüber, was ein Raum ist. „Zu einer Raumrevolution gehört mehr als eine Landung in einer bisher unbekannten Gegend“, schreibt Schmitt. „Dazu gehört eine alle Stufen und Gebiete menschlichen Daseins erfassende Veränderung der Raumbegriffe.“99 Kunst und Architektur, behauptet Schmitt, sind Gradmesser von Raumrevolutionen, die plastischen und sichtbaren Indizien von sich verändernden Raumkonzeptionen und einem sich wandelndem Raumbewusstsein. „Die Malerei der Renaissance“, so Schmitt, „beseitigt den Raum der mittelalterlichen gotischen Malerei; die Maler setzen jetzt die von ihnen gemalten Menschen und Dinge in einen Raum, der perspektivisch eine leere Tiefe ergibt. Die Menschen und Dinge stehen und bewegen sich jetzt in einem Raum. Im Vergleich mit dem Raum eines gotischen Bildes bedeutet das in der Tat eine andere Welt.“100 Für Schmitt ermöglichen Raumtransformationen erst die auf die Elemente bezogenen Transformationen. In einem gewissen Sinn besteht für Schmitt eine dialektische Beziehung zwischen dem Raum und den Elementen. Während element-bezogene Transformationen durch Raumrevolutionen ermöglicht werden, sind es die Elemente, welche überhaupt erst eine Raumerfahrung möglich machen. Die Raumrevolution, welche die europäischen Eroberungen und Entdeckungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts hervorbrachte und begleitete, schuf nach Schmitt die Voraussetzungen für eine elementare Transformation. Diese Transformation ist nach Schmitt die Wende von einer terres­ trischen zu einer maritimen Existenz, die zugleich den Schritt von der zweiten zur dritten Stufe des Kapp’schen (und Schmittschen) triadischen Entwicklungsmodells markiert – eine Verschiebung zwischen thalassischer und ozeanischer

98 

Schmitt, 1981: 59; ders., 1954: 33 – 34; ders., 1942: 40 – 41 (= Abschnitt 11). Schmitt, 1981: 68; ders., 1954: 39; ders., 1942: 47 (= Abschnitt 12). 100  Schmitt, 1981: 68; ders., 1954: 39; ders., 1942: 47 – 48 (= Abschnitt 12). 99 

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Lebensweise, die eine Abwendung vom Land hin zu einer Lebensweise darstellt, die auf dem ausgedehnten Ozean gründet. Während für Schmitt gilt: „Die Weltgeschichte ist eine Geschichte von Landnahmen“,101 vollbringen die Engländer eine Raumrevolution, indem sie sich die Meere und Ozeane der Welt zu eigen machen. „England ist eine Insel“, schreibt Schmitt in „Land und Meer“. „Aber erst indem es Träger und Mittelpunkt der elementaren Wendung vom festen Land zur hohen See wurde, und nur als Erbin aller damals entfesselten maritimen Energien verwandelte es sich in die Insel, die man meint, wenn man immer wieder betont, daß England eine Insel ist. Und erst indem es in einem neuen, bisher unbekannten Sinne zur Insel wurde, hat es die britische Seenahme der Weltozeane vollendet und den damaligen ersten Abschnitt der planetarischen Raumrevolution gewonnen.“102 Nach Schmitts Ansicht bildet diese Inbesitznahme der Meere die Grundlage für nichts geringeres als die industrielle Revolution.103 Die industrielle Revolution „hatte mit der Erfindung der Maschinen im 18. Jahrhundert in England eingesetzt. Der erste Kokshochofen (1735), der erste Gußstahl (1740), die Dampfmaschine (1768), die Spinnmaschine (1770), der mechanische Webstuhl (1786), alles zuerst in England, das sind einige Beispiele, die deutlich machen, wie groß der industrielle Vorsprung Englands vor allen anderen Völkern war.104 Dampfschiff und Eisenbahn folgten 101 

Schmitt, 1981: 73; Schmitt, 1954: 42 – 43; Schmitt, 1942: 51 (= Abschnitt 13). Schmitt, 1981: 90; ders., 1954: 52 – 53; ders., 1942: 63 (= Abschnitt 17). Siehe auch den Abschnitt 3 vom „Gespräch über den Neuen Raum“ in Schmitt, 1995c: 561: „[Altmann:] Bis zum 16. Jahrhundert war die Insel England nicht mehr als ein abgesprengtes Stück des europäischen Kontinents, mit dem Gesicht zum festen Land. Noch im 15. Jahrhundert haben die englischen Ritter in Frankreich gute Beute gemacht, wie die Ritter anderer Länder auch. Denken Sie nur an die Zeit der Jungfrau von Orleans! Bis zum 16. Jahrhundert waren die Engländer ein Volk von Schafzüchtern, die ihre Wolle nach Flandern verkauften, wo sie zu Tuch weiterverarbeitet wurde. Und dieses Volk von Schafzüchtern hat sich nun im 16. und 17. Jahrhundert in ein Volk von Seeschäumern verwandelt. Jetzt wendet die Insel ihr Gesicht vom Kontinent weg und sieht auf die großen Weltmeere hinaus. Sie entankert sich und wird zum Machtträger eines ozeanischen Weltreiches.“ 103  Siehe die Abschnitte 17 – 18 von „Land und Meer“. Siehe auch den Abschnitt 4 im „Gespräch über den Neuen Raum“ in Schmitt, 1995c: 563: „[Altmann:] Die Engländer nahmen den Ozean; die Russen nahmen von Moskau aus Sibirien und vollzogen eine rein terrane Expansion. Aber wie merkwürdig: auf der Basis dieser riesigen russischen Landnahme ist keine industrielle Revolution entstanden. Die industrielle Revolution entsteht auf der Insel England, einer Insel, deren geschichtliche Situation ganz unvergleichbar geworden war, weil sie den Schritt zur maritimen Existenz getan hatte.“ 104 Diese Passage wird teilweise in Schmitts 1955 ausgestrahltem Radiospiel „Gespräch über den Neuen Raum“ wiedergegeben, in Schmitt, 1995c: 560: „N[eumeyer]. Woher die industrielle Revolution stammt, wissen wir alle. Sie stammt aus dem England des 18. Jahrhunderts. Die Daten finden sich in allen Schulbüchern: erster Koksofen 1735, Gußstahl 1740, Dampfmaschine 1768, erste moderne Fabrik in Nottingham 1769, Spinnmaschine 1770, mechanischer Webstuhl 1786, usw. bis zur Dampflokomotive 1825.“ 102 

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im 19. Jahrhundert. England blieb auch hier an der Spitze. Die große Seemacht wurde gleichzeitig die große Maschinenmacht.“105 Nach Schmitts Darstellung in „Land und Meer“ verursachte die Verschiebung der Engländer hin zu einer maritimen Existenz eine Raumrevolution, die mit der englischen Inbesitznahme der Meere einherging. Diese Inbesitznahme des Meeres schuf die Grundlage für die englische Seehoheit und setzte, nach Schmitts Auffassung, die Energie für die industrielle Revolution frei. In den 1940 und 1941 in „Das Reich“ erschienenen Propaganda-Artikeln sowie in einem Aufsatz für den Sammelband „Das Reich und Europa“106 drückte Schmitt seine Zuversicht aus, dass eine neue Raumrevolution im Gange sei. Das Deutsche „Reich“ war dabei die Grenzen seiner Macht auszudehnen und Schmitt äußerte öffentlich seine Hoffnung, dass der Nationalsozialismus sowohl Land-, als auch Lufthoheit in Kontinentaleuropa erringen könnte.107 Im März 1941, hoffte Schmitt in „Das Reich“, dass „[d]as Meer […] kein Element mehr, sondern ein Raum geworden [ist], wie auch die Luft ein Raum menschlicher Aktivität und Herrschaftsausübung geworden ist. Die gegenwärtige Raumrevolution ist größer und tiefer als die des 16. und 17. Jahrhunderts.“108 In seinem Kapitel für „Das Reich und Europa“, das ursprünglich im Februar 1941 als Tagungsbeitrag in Nürnberg gehalten worden war, ging Schmitt sogar noch weiter, indem er behauptete: „Die Eroberung des Luftraumes insbesondere schafft ein neues Weltbild, das die bisherige Trennung der Elemente von Land und Meer überwindet und neue Raumbegriffe, neue Maße und Dimensionen und damit auch neue Raum­ordnungen durchsetzt.“109 Offenbar im Februar und März 1941 schien Schmitt zu hoffen, dass eine neue Raumrevolution in einer Umorientierung der Geopolitik hin zu einer Großraumordnung bestehen könnte, hin zu einer Raumordnung, durch die Deutschland die britische Seehoheit mit der Übermacht der Luftwaffe übertrumpfen könnte – eine Raumrevolution weg vom Element Wasser hin zum Element Luft. Schmitts Auffassungen über die Lufthoheit, die er in seinen im Februar und März 1941 erschienenen Artikeln vertritt, ändern sich dahingegen in „Land und Meer“, wohl unter dem Eindruck der anhaltenden Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten und dem sich in die Länge ziehenden Kampf mit der Sowjetunion.110 „Land und Meer“ schließt nicht mit einer Raumrevolution vom Element 105 

Schmitt, 1981: 97; ders., 1954: 57; ders., 1942: 68 – 69 (= Abschnitt 18). Schmitt, 1995e: 401 – 30; vgl. Volpi, 2011: 147; van Laak, 2000: 276 n. 47. 107  Schmitt, 1995e: 416, 422; ders., 1995a: 398. 108  Schmitt, 1995a: 398. 109  Schmitt, 1995e: 422. 110  Für eine Abhandlung über Schmitts Auffassungen zur Lufthoheit siehe van Laak, 2000: 280; Armitage, 2007: 32; Hussain, 2011: 244 – 50. 106 

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Wasser zum Element Luft oder mit dem Sieg der Luftwaffe.111 Stattdessen endet „Land und Meer“ mit einer Raumrevolution in das Element Feuer. Zum Ende des Buches hin schlägt die Luftbombardierung Nazi-Deutschlands mit aller Macht durch und der Mensch tritt in das Element Feuer ein. Durch das Element Feuer geht die Welt in Flammen auf. Mit dem Bild einer Raumrevolution von Luft zu Feuer, einer buchstäblich apokalyptischen Wende,112 gibt Schmitt dem Leser zu verstehen, dass der Krieg bereits verloren ist. VIII. Schluss Was auch immer Schmitts „Land und Meer“ ist oder war oder möglicherweise sein könnte: Es wurde sowohl als Werk der nationalsozialistischen Propaganda verfasst, als auch als Kritik bestimmter Züge von Hitlers Geopolitik konzipiert. Dennoch ist es nicht die Art von Kritik, die sich ein Gegner der Nazis erhofft oder erwartet hätte: Es ist eine Kritik an Hitlers Bruch der Allianz mit Stalin und Sowjet-Russland; es ist eine Kritik der politischen Entscheidungen Hitlers, die nach Schmitts Ansicht dem militärischen und geopolitischen Voranschreiten des Nazismus nicht dienlich waren. Derselbe Beobachter, der „Land und Meer“ als Schmitts „schönstes Buch“113 porträtierte, sollte später behaupten: „Der Irrtum des Schmittschen Werkes ist die Wahrheit der deutschen Geschichte.“114 Verborgen in den Fallstricken der Weltgeschichte, in bunt gemischter Gesellschaft von Leviathanen und Behemothen, Piraten und Poeten, Walfängern und Korsaren, Nazi-Ethnographie und anti-jüdischer Polemik zeigen sich diese Irrtümer auf extravagante und eindringliche Weise in Carl Schmitts „Land und Meer“.115

111  Vgl. Schmitts Brief an Ernst Jünger, datiert auf den 4. Juli 1941 in Kiesel, 2012: 121: „Die Luft ist übrigens nicht etwa durch die Luftwaffe und Flugzeuge als neues Element erschienen; das der Luftwaffe zugeordnete Element ist nicht die Luft, sondern das Feuer.“ Vgl. Rüthers, 1990: 115. 112  Taubes, 1987: Abschnitt 1. Siehe Schmitts Brief an Ernst Jünger, datiert auf den 10. Dezember 1942 in Kiesel, 2012: 151. 113  Sombart, 1984: 21, 255. 114  Sombart, 1991: 13. 115  Für hilfreiche Kommentare zum Aufsatz bedanke ich mich ganz herzlich bei Russell Berman, Andreas Eder, Kinch Hoekstra, Victoria Kahn, Hannes Kerber, Heinrich Meier, John McCormick, Eva Odzuck, Thomas Oehl, David Ragazzoni, Robert Richardson, Aaron Roberts, Shannon Stimson, Julien Straninger, Lars Vinx und Joanna Williamson.

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Igor P. Smirnov: Politische Romantik im Vergleich. Carl Schmitt und die Romantikrezeption in Russland

Politische Romantik im Vergleich Carl Schmitt und die Romantikrezeption in Russland Von Igor P. Smirnov Politische Romantik im Vergleich. Carl Schmitt und die Romantikrezeption in Russland Igor P. Smirnov

Abstract Political romanticism – this is how Carl Schmitt defined the picture of the world that prevailed after WWI, in which he condemned the „technization“ of man and the imaginary resolution of the basic contradictions of rational mentality on a shaky aesthetic basis. Russian philosophy shared this criticism of the coming era, but in the argument followed the old German romanticism. The article reveals paradoxical similarities and differences between these two reactions. In the end, they confirm the belonging of the German and Russian thought to the common cultural space of Europe.

Es gibt eine gewisse Übereinstimmung bzw. Verwandtschaft zwischen der deutschen Romantik (F. Schlegel, Novalis, Schleiermacher, A. Müller) und der russischen Philosophie des 19.–20. Jahrhunderts. Es handelt sich nicht etwa um einen Ideentransfer, geschweige denn um eine direkte Rezeption, sondern vielmehr um eine originelle Entfaltung der Ideen deutscher Autoren in Russland. Das deutsche und das russische Denken verhalten sich meiner Meinung nach zueinander komplementär, trotz aller Unterschiede. Geistige Gemeinsamkeit bilden bestimmte Anknüpfungspunkte: die methodologischen Prinzipien der Romantik wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts in der russischen Philosophie verwendet und weiterentwickelt (besonders im Erkenntnisverfahren, zum Beispiel die Ganzheitlichkeitsidee, die von Herders Organismuslehre ausgehende romantische Auffassung des Menschen als eines Teils des Universums, des Ganzen, das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, das Streben nach Synthese, die Ratio­ nalismuskritik, die in der Kritik an Moderne und an der Fortschrittsidee resultiert, usw).1 In Russland fanden diese Ideen sehr großen Anklang. Der Gedanke des „Ausgleiches der Gegensätze“, wie es bei Adam Müller heißt, hat hier eine vielseitige Entwicklung genommen. Das kann man über das deutsche Denken nicht sagen. In Deutschland hat die romantische Auffassung eine kürzere Geschichte und kann in ihrer Bedeutung mit der klassischen idealistischen Philoso1 Smirnov,

2007: 131 – 165.

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phie nicht verglichen werden.2 Eine ihrer Folgen ist offenbar der (Neu-)Konservatismus – zu dem man auch Carl Schmitt zählen muss. Die Auseinandersetzung zwischen der deutschen Romantik und dem russischen Denken bildet ein interessantes geistesgeschichtliches Phänomen. Der Komplex der obengenannten Ideen war sowohl für die russischen Denker als auch für die deutsche Romantik beim Übergang von ihrer Frühform zur Spätform charakteristisch, dieser Komplex ist vollendet und abgeschlossen. Die erkenntnistheoretischen Übereinstimmungen sind wesentlicher und bedeutender, als die in den politischen, empirisch-historischen Ansichten oder die üblich erwähnten in der nationalen Frage. Auf dieser methodologischen Basis beruhen die Eigenart und die Originalität der russischen Philosophie des 19.–20. Jahrhunderts. Dieselben philosophischen Prinzipien werden noch Mitte des 20. Jahrhunderts bei der russischen Emigration und teilweise in der UdSSR (beispielsweise A. F. Losev) verwendet und weiterentwickelt. Der Einfluss der „organischen“ Weltanschauung von Schelling wurde im russischen Denken anerkannt, die allgemeine Einschätzung von Carl Schmitt entspricht hier passend dem Sachverhalt: „die Naturphilosophie von Schelling wurde romantisiert“.3 Was aber die anderen I­deen betrifft, die bei den Romantikern und russischen Philosophen eigentlich ganz ähnlich waren, wurde vielmehr ihr Ursprung aus der östlich-christlichen Patristik betont – so bezeichnete L. P. Karsavin die Romantik sogar als „misslungenen Versuch des Westens, zur Orthodoxie zurückzukehren“.4 Eigentlich wurde die „Romantik“ in Russland viel öfter als eine nur und rein literarische Erscheinung verstanden. Nichtsdestotrotz zeigen die wesentlichen Ähnlichkeiten, dass das russische Denken praktisch einen Teil des gesamteuropäischen intellektuellen Kulturraums darstellt – wenn auch mit einmaligen Zügen und Eigenschaften.5 Der Rechtswissenschaftler und Staatsphilosoph Carl Schmitt (1888 – 1985) ist ebenso umstritten wie aktuell – als bedenklich gilt er in Deutschland besonders aufgrund seiner Rolle vor 1945. Wie Hasso Hofmann bemerkte, tragen Schmitts Arbeiten stets ausreichend „Zündstoff für teils hitzige grundsatzpolitische Kontroversen“ in sich.6 Die Forschungen zu ihm sind schwierig, weil immer mit einem relevanten, positiven oder negativen, Ideologievorbehalt belastet. Ich möchte mit dem „Blick von außen“ – gewissermaßen als unbelasteter Dritter – mich der Frage annehmen, inwiefern die Ideen des frühen Carl Schmitt aus romantischen Denktraditionen herrühren und in welcher Weise diese Ideen mit Vorstellungen 2  Obwohl, wie A. Groh, 2004: 32, zu Recht bemerkt hat, „die Philosophie der politischen Romantik aus der Philosophie des deutschen Idealismus hergeleitet [wurde].“ 3  Schmitt, 1982: 108. 4  Karsavin, 1994: 370. 5  Smirnov, 2016: 307 – 315. 6 Hofmann, 1985: 65 f.

Politische Romantik im Vergleich

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russischer Denker konform gehen, von diesen implizit geprägt worden sind beziehungsweise diese implizit geprägt haben. Als ausschlaggebende Quellen benutze ich das Frühwerk von Carl Schmitt, vor allem: die Tagebücher 1912 – 1915, „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ (1914), „Theodor Däublers ‚Nordlicht‘“ (1916), „Politische Romantik“ (1919), „Die Diktatur“ (1921), „Politische Theologie“ (1922), „Römischer Katholizismus und politische Form“ (1923), „Die politische Theorie des Mythus“ (1923), „Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie“ (1926) und „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ (1929). Diese Schriften von Carl Schmitt, die für die angekündigte Fragestellung eine entscheidende Rolle spielen, wurden entweder zur Zeit des Ersten Weltkrieges geschrieben, oder stehen unter dessen Einfluß. Angesichts des Krieges schreibt Schmitt über ein „eschatologisches Entsetzen“7 und die Unfähigkeit des Subjektes, dieses wahrzunehmen. Der Krieg, der den Glauben an die sogenannte „zivilisierte Menschheit“ erschüttert hat, soll als ein Wendepunkt sowohl im deutschen als auch im russischen Denken begriffen werden. Das deutsch-russische geistige und intellektuelle Zusammenwirken ist dabei zu untersuchen. Reichweite und geistesgeschichtlicher Kontext der gegenseitigen Reflektionen oder Übereinstimmungen bedürfen der Analyse und Präzisierung, um eine Lücke im Bild der Auseinandersetzung zwischen den beiden Kulturen zu schließen. Um die Stellungnahme von Schmitt gegenüber der deutschen Romantik zu verstehen, muss man beachten, dass er vor allem aktuell-politische Gründe hatte, sich der Romantik zuzuwenden. Die Romantik war für ihn nur der ferne Name für eine gegenwärtige Sache. Sein Schaffen stellt im komparatistischen Zusammenhang vor zwei Hauptprobleme. Einerseits fand sich Schmitt selbst zuerst unter dem Einfluss der romantischen Tradition, speziell war für ihn die Auslegung von A. Müller von Bedeutung, dessen Schriften er nach eigenen Angaben bewundert hat. Andererseits markiert Schmitts Polemik gegen den „romantischen Geist“ seinen Abschied aus der Romantischen Tradition. Seine Kritik, ihre Motivation und Argumentation, hat mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Ideen deutscher Romantik in Russland einiges gemeinsam. Der Gedanke von F. M. Dostojewskij, dass jeder Russe zwei Vaterländer habe – Russland und Europa – wurde vielfach zitiert. Die meisten russischen Denker verehren die europäische Kultur und huldigen ihren „heiligen Steinen“; gegenüber der europäischen Zivilisation, der gott- und seelenlosen, waren sie hingegen zurückhaltend oder feindlich eingestellt. Von deutschen Romantikern wurde die Europa-Idee ebenfalls infrage gestellt, wie etwa in Novalis’ Werk „Christenheit oder Europa“.8 Das russische Denken Anfang des 20. Jahrhunderts ist sehr fol7  8 

Schmitt, 1919: 64. Novalis, 1996.

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gerichtig zur Diagnose einer tiefen Krise der europäischen Kultur gekommen. Dazu hat dann auch der Erste Weltkrieg wesentlich beigetragen. S. L. Frank hat über das „Scheitern der Götzenbilder“ geredet, N. A. Berdjaev über die „Krise des Humanismus“, G. P. Fedotov über die „Krise der Kultur“, W. W. Senkovskij über die „Säkularisation der Kultur“, L. P. Karsavin über ihre „Selbstzersetzung im Relativismus“, W. I. Ivanov über die „Krise des Individualismus“ usw. Dass die europäische Kultur sich in einer Krise befindet, haben auch die deutschen Denker postuliert – von F. Nietzsche, O. Spengler und M. Weber bis M. Scheler, K. Jaspers und M. Heidegger, und ihre Positionen reproduzieren ziemlich vieles aus der russischen Philosophie. Das gemeinsame Thema für beide Seiten bildete die Suche nach dem Sinn der menschlichen Existenz in der Epoche des Zusammenbruches der traditionellen Kultur, des Verlustes der Autorität des Göttlichen. C. Schmitt steht ebenfalls in dieser Reihe mit seiner kulturpessimistischen Kritik an der ästhetisch-künstlerischen Moderne, wie das seine Arbeit „Politische Romantik“ bezeichnet: die Immanenz sei absolut geworden, der verheerende Lauf des Verstandes habe begonnen, alles in den Relativismus zu reißen, usw. Ganz treffend hat J. Manemann bemerkt: „Schmitt ist ein Krisendenker im doppelten Sinne des Wortes: ein Denker der Krise und ein Denker in der Krise“.9 Er leidet an der verlorenen Nützlichkeit der Religion, wo „die Kirche durch das Theater ersetzt, das Religiöse als Schauspiel – oder Opernstoff, das Gotteshaus als Museum behandelt wird“.10 Der moderne Positivismus will das Paradies einer reinen Diesseitigkeit verschaffen. Nach Schmitts Einschätzung traten Menschheit und Geschichte durch die Philosophie von Descartes an die Stelle Gottes. In Russland war bei A. F. Losev die Rede davon, dass die moderne Kultur auf der subjektivistischen und individualistischen Mythologie beruht, deren Gründer Descartes sei und der „eine spezielle neueuropäische Lehre vom unendlichen Fortschritt“11 entspricht. Diese Ideen gehen in die gleiche Richtung. Für den jungen Schmitt sind die Kontakte zum Jungkatholizismus bezeichnend. Die Konversion zum Katholizismus war für die Romantiker wie F. Schlegel und A. Müller von Bedeutung. Im Katholizismus verwurzeltes Denken von ­Schmitt war von einem tiefen Pessimismus gegenüber den Fortschrittsvorstellungen geprägt und kreiste um Fragen des Rechts, der Macht und der Gewalt. Er diagnostizierte einen „anti-römischen Affekt“, der aus der Angst vor der politischen Macht des Papstes resultiert, die das Leben kontrollieren und die Menschen dirigieren will. Bei F. M. Dostojewskij und seinem „Großinquisitor“ erhebt sich das anti-römische Entsetzen zu voller Größe. Der Antichrist bei Schmitt ist nicht der Tyrann, sondern noch gefährlicher, weil er, genau wie der „Großinquisitor“ 9 

Manemann, 2009: 221. 1982: 23. 11  Losev, 1994: 19. 10 Schmitt,

Politische Romantik im Vergleich

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von Dostojewskij, Christus nachahmt: „Gott hat die Welt erschaffen, er macht sie nach“.12 Während das Christentum eine hohe Auffassung vom einzelnen Menschen hat, wird die universalistisch aufgefasste Menschheit in der Tat nur noch als große Masse betrachtet und beurteilt. Unter dem Deckmantel sozialer Liebe wird für die beiden – Dostojewskij und Schmitt – eine Menschenverachtung erkennbar. In welchem Verhältnis stehen diese Gedanken zueinander? Es geht um die gemeinsame „Angst vor dem sich ausbreitenden und alles verschlingenden liberalistischen Universalismus“.13 Schmitt spiegelt die Auffassung der Romantik wohlwollend wieder: „Was ‚organisch‘ ein Volk ist, was ‚Volksgeist‘ bedeutet, lässt sich nur historisch feststellen, auch das Volk ist hier nicht, wie bei Rousseau, Herr seiner selbst, sondern das Ergebnis geschichtlicher Entwicklung“.14 Bei N. S. Trubeckoj heißt es ein Jahr später: „Bei der Einschätzung des europäischen Kosmopolitismus muss man immer bedenken, dass die Wörter ‚Menschheit‘, ‚allgemeinmenschliche Zivilisation‘ und weitere Begriffe äußerst ungenaue Ausdrücke sind und dass dahinter ganz bestimmte ethnographische Begriffe stecken. Die europäische Kultur ist nicht die Kultur der Menschheit. Sie ist ein Ergebnis der Geschichte einer bestimmten ethnischen Gruppe“.15 Schmitt verwirft den naturrechtlichen Gedanken universeller Menschenrechte, die für jede Staatsform unabhängig von staatlich gesetztem Recht gelten sollen. Hier fällt eine Übereinstimmung mit den Ideen der russischen Slawophilen ins Auge. So bildete nach A. S. Chomjakov und I. W. Kireevskij das universelle römische Recht einen der wichtigsten Ausgangspunkte für den Widerspruch zwischen der „westlichen“ und der russischen Denkweise. Eine solche Wahrnehmung finden wir auch bei A. Müller: Nach seiner Meinung führte die Rezeption des römischen Rechtes zur allmählichen Zersetzung und Auflösung des Staates. Der in diesem Zusammenhang stehende Schmittsche Begriff der „Diktatur“, die er als Gegensatz zur „Diskussion“ interpretiert, ist dem des russischen Denkers I. A. Iljin sehr nah. Bei Iljin erscheint eine „erziehende“ Diktatur nicht als Ende, sondern als Anfang eines menschlichen und historischen Prozesses, als eine Etappe in der Vorbereitung des Gottesreiches.16 Für beide bedeutete Diktatur eine Wiederherstellung der gefährdeten geistigen Ordnung. Ein wichtiges Thema bildet das Problem der sogenannten Technisierung. Sein Zeitalter hat Schmitt als das Zeitalter der Technik, des Betriebs, der Organisation bezeichnet. Dieselbe Einschätzung und eine ähnliche existentiale Stimmung und 12 

Schmitt, 1919: 62. Grossheutschi, 1996: 116. 14 Schmitt, 1982: 91. 15  Trubeckoj, 1995: 59. 16  Iljin, 1992: 10 – 13. 13 

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Fragestellung finden wir, beispielsweise, bei N. A. Berdjaev in seinen Schriften „Das Schicksal des Menschen in unserer Zeit“ und „Der Mensch und die Technik“, oder bei G. P. Fedotov in seinen „Briefen über die russische Kultur“. Schmitt beschreibt den Betrieb als das großartig funktionierende Mittel zum sinnlosen Zweck, die Vordringlichkeit des Mittels vor dem Zweck, was den Einzelnen total vernichtet. Das Eindringen des ökonomischen Geistes in alle Lebensbereiche unterwirft das gesamte menschliche Leben und lässt es daher verkümmern. Die russischen Verfasser wie D. I. Mendeleev, I. Wostorgov, der Ökonom I. C. Ozerov oder F. M. Dostojewskij behaupteten, dass die negativen Folgen des wissenschaftlichen und technischen Fortschrittes den Verlust der lebenssinnstiftenden Orientierungen hervorgerufen und zur Nivellierung der Persönlichkeit geführt haben. Die „soziale Funktion“ der Technik hat N. A. Berdjaev hervorgehoben. Die Menschen, so Schmitt, sind verweltlicht und können sich zu keiner transzendenten Position mehr aufraffen: sie wollen den Himmel auf der Erde, allerdings den Himmel als Ergebnis von Handel und Industrie. Die „unwiderstehliche Macht der Technik“ erscheint bei ihm als die „Herrschaft der Geistlosigkeit über den Geist“.17 Die beiderseitige Kritik an der Massengesellschaft steht für den Vergleich des deutschen und russischen Denkens meines Erachtens im Mittelpunkt, sowohl vor Schmitt als auch nach ihm. Bereits 1919 ist Schmitt zum Fazit gekommen, dass nach bürgerlicher Demokratie schon die Massendemokratie eingetroffen sei, „durch welche gerade jene Herrschaft des liberalen Bürgertums und seiner Bildung beseitigt wurde“.18 Das „mechanistische Zeitalter“ sieht er seitdem immer in der Verbindung damit, dass der Mensch durch die Masse verdrängt wird. N. A. Berdjaev hat mit seinem Buch „Das neue Mittelalter“ die Ideen von Ortega y Gasset vorweggenommen und sich dann mit dem „Aufstand der Massen“ auseinandergesetzt. Dasselbe Interesse findet man bei Schmitt, und zwar ziemlich bald nach dem Erscheinen dieses Werkes. „Ich habe José Ortega y Gasset ‚Aufstand der Massen‘ zum Abholen bereit gelegt“,19 – schrieb er in seinem Brief an Ernst Jünger am 10. August 1931. Was bei Ortega y Gasset „Nivellierung“ heißt, nennt Schmitt „Neutralisierung“. Eine der anerkannten Eigenschaften der russischen Philosophie bildet bekanntlich ihre sozial-ethische, sozial-politische Tendenz und geschichtsphilosophische Färbung, was das russische Denken traditionell von der deutschen klassischen Philosophie mit ihrem wissenschaftlich-systematischen und akademisch-disziplinären Charakter unterscheidet. Für das russische Denken sind solche orga-

17 

Schmitt, 1988: 130. Schmitt, 1982: 17. 19  Kiesel, 1999: 11. 18 

Politische Romantik im Vergleich

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nizistischen Begriffe wie „Sobornost“20 und „All-Einheit“ charakteristisch, die der „Ewigen Einheit“ der Romantiker entsprechen und u. a. die menschlichen Beziehungen beschreiben sollen. Umso wichtiger ist im komparatistischen Vergleich Schmitts Vorstellung vom Staat, die sowohl für sein ganzes Weltbild als auch für seine Beziehung zur Romantik von großer Bedeutung ist. Von diesem Standpunkt aus bewertet er die romantische Grundhaltung. „Die organizistische Gesellschaftsphilosophie fasst Carl Schmitt als Politische Romantik zusammen“ – wie T. Meyer betont. 21 Der Staat war für Schmitt nicht statisch und normativ, sondern vital, dynamisch und faktisch – organisch, wie es bei A. Müller hieß, dessen „Elemente der Staatskunst“ öfter als „Hauptwerk der romantischen Staatswissenschaft“ bezeichnet worden ist. A. Müller fasst Gesellschaft, Staat und Wirtschaft als einen Organismus auf. Ein Mensch als ganzheitliche Persönlichkeit der organischen Gesellschaft sei nach Müller ohne Staat undenkbar, ein Staat erscheint bei ihm als der Inbegriff der Totalität aller menschlichen Bedürfnisse. Ähnlich bezeichnet Schmitt den Staat als eine „höchste politische Gemeinschaft“ und infolgedessen ein Träger des Monopols der politischen Entscheidung; diese Idee wurde gegen die aufklärerische Vertragstheorie gesetzt. Hier kann man Berührungspunkte zu den Ansichten des Philosophen K. N. Leontjev feststellen, der Ende des 19. Jahrhunderts die Stände zu bewahren suchte, um die lebendige Mannigfaltigkeit des historisch gewachsenen organischen Staates nicht zu verlieren. Auch im Bereich der Wirtschaftslehre in Russland war solche Wahrnehmung des Staates populär, nicht umsonst spricht man von der wichtigen Rolle der sich auf den Staat beziehenden deutschen „historischen Schule“ für die russischen Ökonomen. Die Aufmerksamkeit, die Schmitt der Idee vom Staat schenkt, kann man am folgenden Beispiel sehen. Denselben Gedanken von Novalis haben sowohl ­Schmitt, als auch N. A. Berdjaev kommentiert. Aber die Beobachtung von N. A. Berdjaev – „in den genialen in ihren Offenbarungen Fragmenten von Novalis kann man eine klare Bezeugung der Lehre vom Menschen als Mikrokosmos und Universum als Makroanthropos finden“22 – bringt Schmitt präziser zum Ausdruck, und vertieft den staatsphilosophischen Aspekt: „Novalis hat von diesem ‚schönen Individuum‘ Staat gesprochen und diesen, im Anschluß an mystische und theoretische Vorstellungen, einen Makroanthropos genannt“.23. Nun zum zweiten bezeichneten Hauptproblem, zu Schmitts Kritik an der Romantik und ihrer Philosophie. Hier ist es wichtig zu beachten, wo die Überlegungen von Schmitt und den russischen Denkern (trotz dieser Kritik!) übereinstim20 

Smirnov, 2010: 140 – 144. Meyer, 1997: 71. 22  Berdjaev, 1907: 170 – 171. 23  Schmitt, 1982: 156. 21 

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men, welche Richtungen ihre Argumente im jeweiligen geistesgeschichtlichen Kontext haben, bzw. ob und auf welche Weise bestimmte Thesen einer anderen gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung angepasst wurden.24 Bei der Auseinandersetzung mit der Romantik ging es Schmitt darum, eine bestimmte Weltsicht darzustellen, die er den „romantischen Geist“ nennt. Und diesen Geist lehnt er entschieden ab. Seine Struktur bestimmt Schmitt durch die besondere Stellung des Ästhetischen und der Phantasie. Die Romantik bringt, laut Schmitt, die Gegensätze und die Dualismen des cartesianischen Rationalismus (zwischen Körper und Geist, zwischen Wissen und Glauben, zwischen Sein und Sollen, zwischen Objekt und Subjekt usw. – eine ähnliche Kritik an Ratio charakterisiert auch das russische Denken) auf eine subjektive, gefühlsmäßige Ebene, um sie dann auf der Basis einer rein ästhetischen Bewertung ineinander aufzulösen. Die Romantiker, die Schmitt am Beispiel von A. Müller betrachtet, dessen Ansichten für ihn das typische Bild politischer Romantik darstellen, bewegen sich zwischen den gegensätzlichen Positionen beliebig hin und her – je nachdem, was sie sich gerade zum Gegenstand ihrer romantischen Phantasie gemacht haben. Es sei dabei betont, dass die zentrale Stellung des Ästhetischen und des Eigensinnigen in der Romantik auch die zentralen Kategorien der Moderne sind. Schmitts Ablehnung der Romantik ist im Grunde genommen intentional die gleiche Kritik an der unsachlichen bürgerlich-liberalen Gesellschaft, die für die russischen Verfasser typisch war. Schmitt sind der Mangel an Konsequenz und die politische Passivität der Romantik nicht recht. Er entwickelt die These, nach der die Romantiker zu keinem eigenen politischen Standpunkt in der Lage gewesen seien, weder zur politischen Entscheidung, noch zum moralischen Werturteil. Die Ursache dafür sieht er wiederum in der Struktur des romantischen Geistes. Der Romantiker will sich nach Schmitts Auffassung für nichts mehr entscheiden, sondern nur erleben und sein Erleben stimmungsvoll umschreiben. „Religiöse, moralische, politische und wissenschaftliche Angelegenheiten“ wurden – nach Schmitts Beschreibung, – von den Romantikern „als Thema künstlerischer oder kunstkritischer Produktivität behandelt“.25 So sei das Parlament aus dieser Perspektive nur der Hort der romantischen Idee eines „ewigen Gesprächs“, der Diskussion und der Unentschlossenheit – während ein „Mythos“ nur im wirklichen Krieg entsteht. Schmitt verfolgt das Fortdauern des romantischen Konzeptes in der zeitgenössischen intellektuellen und politischen Schicht Deutschlands, für ihn ist gerade die Bourgeoisie ein Träger und Schöpfer des romantischen Geistes. Indem Schmitt der Romantik 24  Die

vergleichende Betrachtung der Literatur ist methodologisch von J. G. Herder ausgegangen. Mögliche Vorbildwirkungen, Wechselbeziehungen und andere Einflüsse sollen untersucht werden, wobei allerdings die Rezeptionsbereitschaft und der aktive Charakter der Aufnahme zu berücksichtigen sind. 25  Schmitt, 1982: 21.

Politische Romantik im Vergleich

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einen prinzipiellen Mangel an existentiellem Ernst und eine Unentschlossenheit vorwarf, entdeckte er ebenfalls ihre moderne Struktur. Meines Erachtens handelt es sich um eine Kritik, die als Ausdruck von ­ chmitts Festhalten an einer traditionellen geistigen Ordnung verstanden werden S muss. Ein Gegenstück zu einem solchen Festhalten stellt die umfangreiche Ratio­ nalismuskritik der russischen Philosophie in ihrer Auseinandersetzung mit der Aufklärung dar. Die Argumente von Schmitt gegen die Romantik als eine „bloß epigonale Nachfolgeopposition“ zum Rationalismus lassen sich mit den jeweiligen Argumenten der russischen Philosophie gegen die Aufklärung durchaus vergleichen. Nach A. Müller sollte die Einheit von „rationalem begrifflichem Unterscheiden“ und „verbindender Ideen-Schau“ gesucht werden. Der „Begriffsrealismus“, wie es bei Schmitt heißt, steht diesem romantischen Konzept eigentlich nah – Schmitt will den Begriffen zur Realität verhelfen. Den Widerspruch zwischen dem Begriff und der Realität versteht Schmitt als ein erkenntnistheoretisches Problem ebenso, wie das die Romantiker getan haben. „Gott selbst wird in der Metaphysik des Deismus im 18. Jahrhundert aus der Welt herausgesetzt und gegenüber den Kämpfen und Gesetzen des wirklichen Lebens zu einer neutralen Instanz; er wird, wie Hamann gegen Kant gesagt hat, ein Begriff und hört auf, ein Wesen zu sein“.26 J. G. Hamann ist ein bedeutender Vorläufer der Romantik gewesen. Hier besteht eine Analogie zum russischen philosophischen Ontologismus. So meinte S. L. Frank, dass die moderne Wissenschaft keine echte, sondern nur sekundäre Erkenntnis erreichen kann. Sie spiegelt die Gegensätze nur in den Begriffen wieder, ohne sie wirklich zu erkennen.27 Daraus folgt noch ein Kritikpunkt, und zwar ein Vorwurf des Subjektivismus. Da Gott selbst nicht mehr als die höchste Instanz vorhanden sei, ist es nach ­Schmitt einem Romantiker möglich, sein eigenes subjektives Ich an dessen Stelle und ins Zentrum seiner eigenen künstlichen Realität zu setzen. Wie es bei F. M. Dostojewskij geäußert wurde – wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt. Der Begriff „Phantasie“ hat bei den deutschen Romantikern tatsächlich eine wesentlich größere Rolle gespielt als im russischen Denken,28 vielleicht von einigen epigonalen Erzählungen und Märchen von V. F. Odojevskij und I. V. Kireevskij abgesehen. Die „romantisierte Realität“ begreift Schmitt als eine Möglichkeit, die eigene Souveränität des Ich zu steigern. Die Romantik verurteilt er dementsprechend als eine Form des „Okkasionalismus“, d. h. im Romantischen behandelt das Subjekt die Welt als Anlass (occasio) und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität, ohne jegliche Ursache-Wirkungs-Beziehung zu achten. Nur durch das Eingreifen aufgrund von einzelnen Anlässen werden die 26 

Schmitt, 1988: 128. Frank, 1915: IV. 28  Vgl. Smirnov, 2007: 160 – 161. 27 

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Gegensätze auf einer subjektiven Ebene aufgelöst. Das bedeutete aber, die Pro­ blematik der Auflösung der Gegensätze stellt Schmitt nicht in Frage, nur das Verfahren der Romantik sieht er skeptisch. Die Gedanken von Schmitt stehen dabei im direkten Zusammenhang mit dem Urteil der Slawophilen über die krankhafte „Zerrissenheit des erkennenden Geistes“ in der „westlichen“ Denkweise. Ich wende mich den Schlussfolgerungen zu. Carl Schmitt lässt sich keiner geistigen „Richtung“ eindeutig zuordnen, aus einem einfachen Grund: Er ist mit keinem Begriff zufrieden, den er fertig aus der Literatur der Vorgänger nehmen kann, sondern er muss jeden Begriff selbst erfinden und eigenartig definieren und begründen. J. Manemann nennt ein Beispiel: „so verwundert es auch nicht, dass sich bei ihm – trotz der Betonung seiner ‚Katholizität‘ – eine Negation des Christentums finden lässt“.29 Das betrifft sehr unverkennbar auch den Romantik-Begriff, der für den Vergleich des deutschen und russischen Denkens im Zentrum steht. Was die Personalien betrifft, zählt Schmitt zu den Romantikern als besonders charakteristischen und typischen Figuren F. Schlegel, Novalis, Schleiermacher und A. Müller; das ist die Spätromantik, im Vergleich zum Frühromantikerkreis in Jena mit seiner pantheistischen „progressiven Universalpoesie“. Schmitt sieht im neuen Bürgertum, in der Bourgeoisie, den eigentlichen Träger der „romantischen Bewegung“, die für ihn die weitere Säkularisierung verkörpert in der spezifischen Form des „aus den Fesseln des Christentums sich befreienden Mystizismus“.30 Für dieses Thema ist schon Schmitts Buch „Politische Romantik“ (1919) die ausführliche und ausreichende Quelle. Die Romantik ist für Schmitt psychologisch und historisch ein Produkt bürgerlicher Sekurität. Die Kritik an der Gesellschaft, an der aufklärerischen Tendenz als blindem Glauben an die menschliche Vernunft, die Kritik an der säkularisierten Kultur, an Immanenz und Relativismus, an Individualismus, die für die Romantiker in Deutschland genauso wie für die russische Philosophie kennzeichnend war, teilt Schmitt durchaus und damit passt er eigentlich gut ins Bild vom deutsch-russischen intellektuellen Zusammenwirken. Die genannte Kritik bildet hier nämlich eine gewisse geistige Gemeinsamkeit und einen prinzipiellen Anknüpfungspunkt, aber paradoxerweise versteht Schmitt das als die Kritik an der Romantik. So behauptet er beispielsweise: „Die Ideen von 1789 werden in dem Wort ‚Individualismus‘ zusammengefasst, aber Romantik soll ebenfalls ihrem Wesen nach Individualismus sein“.31 Denn diese begreift er als einen gefühlsmäßig-ästhetischen „romantischen Geist“, wurzellos, widerstandslos gegen den jeweilig nächsten ästhetischen Eindruck, unfähig zu jeder „politischen Produktivität“, die 29 

Manemann, 2009: 222. Schmitt, 1982: 37. 31  Ebd. 43. 30 

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für Schmitt einen grausamen „Entscheidungskampf“ bedeutet. Wahrscheinlich trifft diese Analyse eher das Lebensgefühl des sogenannten „Biedermeier“ als den Inhalt der romantischen Philosophie. Im Schaffen von Schmitt und in seinem Stil explizit „romantische“ Züge zu finden, ist nicht einfach. Schmitts Tagebücher weisen die typisch „romantische“ Sehnsucht und Einsamkeit des Verfassers nach. Er notiert im Oktober 1912: „Wir sind hilflos verloren in einer brutalen Maschinerie, wenn wir uns nicht selbst mit einem ernsten Entschluss zur Selbstachtung bestimmen. Es handelt sich um einen Kampf des Selbst mit der Außenwelt“.32 Aber auch seine etwas spätere Rede aus dem Jahre 1929 „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ gibt einige Antworten. In der Entwicklung der vergangenen vier Jahrhunderte der europäischen Geschichte stellt er eine Stufenfolge vom Theologischen über das Metaphysische und das Moralische zum Ökonomischen fest (die russischen Argumente gegen den europäischen Ökonomismus sind 1912 in S. N. Bulgakovs Werk „Wirtschaftsphilosophie“ auf eine typische Weise dargelegt). Das nennt Schmitt die Stufen der fortschreitenden Neutralisierungen. In der Technik glaube der europäische Mensch schließlich, einen „endgültig neutralen“ Boden zu haben, aber die Technik ist nach Schmitt gar nicht neutral: „mit der Technik war die geistige Neutralität beim geistigen Nichts angelangt“33; und die Technik wird zum Mittel der ungeheuren Massenbeherrschung. Eine Parallele dazu findet man in W. S. Solov’evs Schrift „Die philosophischen Grundlagen des ganzheitlichen Wissens“ (1877). Der Autor schildert die geistige Entwicklung Europas: am Anfang stand die Trennung des theologischen und weltlichen Wissens; dann folgte die Herrschaft der Theologie über die Philosophie und Wissenschaft. Am Ende der Entwicklung wartete der Rationalismus und mit ihm die Anerkennung der Vollmacht des Verstandes.34 Also knüpft Schmitt hier eigentlich an das Gedankengut von den russischen Philosophen von Chomjakov und Kireevskij bis Bulgakov und Berdjaev und dann bis Losev an, die gegen die europäische Fortschrittsidee angetreten sind. Die Frage von Schmitt nach den Kosten des Fortschritts verbindet ihn mit A. Müller. Schmitt meint, dass die deutsche Generation von Weber, Scheler und Spengler, von einer Kulturuntergangsstimmung erfasst, nicht konsequent genug war und die letzten Folgen der Technisierung nicht gesehen hat. Damit stellt Schmitts Werk eine bedeutende Ergänzung und Vervollständigung zur Forschung der russischen Romantikrezeption und Reflexion dar. Ausgehend von Schmitts wichtigen Frühwerken kann man eine nicht genetische, sondern vielmehr geistesgeschichtliche Verbindung zwischen Schmitts 32 

Hüsmert, 2005: 1. Schmitt, 1988: 130. 34  Solov’ev, 1988: 165 – 167. 33 

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Kritik der Moderne und denjenigen russischen Denkern, die in vielfältiger Weise mit der deutschen Romantik verbunden waren, feststellen. Zwischen der Moderne und der „Romantik“ Schmitts gibt es kaum Unterschiede – laut Schmitt muss „ihre Darlegung, wie die jeder wichtigen Situation der modernen Geistesgeschichte, mit Descartes beginnen“.35 Den Gegensatz zwischen der Romantik und der Aufklärung will Schmitt nicht sehen, ganz im Gegenteil: er begreift die erste als Folge und Verschärfung der zweiten. Die Romantik erklärt er als die bloße Zwischenstufe des Ästhetischen auf dem Weg vom Moralismus des 18. zum Ökonomismus des 19. Jahrhunderts. In den Motiven für Schmitts Abneigung gegen die Romantik und in Schmitts Argumenten lassen sich jedoch deutlich Ideen erkennen, die die deutsche Romantik mit der russischen Philosophie teilt. Literatur Berdjaev, Nikolaj A. (1907): Sub specie aeternitatis. Sankt-Petersburg: M.W. Piroschkov Verlag, 170 – 171. Frank, Simon L. (1915): Predmet znanija. Ob osnovach i predelach otvletschennogo znanija. Petrograd: R. G. Schröder Verlag. Groh, Andreas C. (2004): Die Gesellschaftskritik der Politischen Romantik: Eine Neubewertung ihrer Auseinandersetzung mit den Vorboten von Industrialisierung und Modernisierung. München: Dieter Winkler Verlag. Grossheutschi, Felix (1996): Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon. Berlin: Duncker & Humblot. Hofmann, Hasso (1985): Carl Schmitt oder: Die eigene Frage als Gestalt. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 7 (1), 1985, 64 – 68. Hüsmert, Ernst (Hrsg.) (22005): Carl Schmitt: Tagebücher: Oktober 1912 – Februar 1915. Berlin: Akademischer Verlag. Iljin, Ivan A. (1992): Naschi zadatschi: Bd. 2. Moskau: Rarog. Karsavin, Lev P. (1994): Malye sotschinenija. Sankt-Petersburg: Aleteja. Kiesel, Helmuth (Hrsg.) (1999): Jünger, Ernst/Schmitt, Carl: Briefe 1930 – 1983. Stuttgart: Klett-Cotta. Losev, Aleksej F. (1994): Mif. Tschislo: Suschnost. Moskau: Mysl, 19. Manemann, Jürgen (2009): Carl Schmitt: der Seher. In: Schwab, Hans-Rüdiger (Hrsg.), Eigensinn und Bindung: Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Kevelaer: Butzon & Bercker, 215 – 234. Meyer, Thomas (1997): Stand und Klasse: Kontinuitätsgeschichte korporativer Staatskonzeptionen im deutschen Konservativismus. Opladen: Westdeutscher Verlag. Novalis (1996): Werke in zwei Bänden: Bd. 2: Christenheit oder Europa und andere philosophische Schriften. Köln: Könemann. 35 

Schmitt, 1982: 77.

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Schmitt, Carl (1919): Theodor Däublers „Nordlicht“: Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes. Berlin: Duncker & Humblot. – (41982): Politische Romantik. Berlin: Duncker & Humblot. – (1988): Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen: Rede gehalten auf der Tagung des Europäischen Kulturbundes in Barcelona am 12. Oktober 1929. In: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar –­ Genf – Versailles 1923 – 1939. Berlin: Duncker & Humblot. Smirnov, Igor P. (2007): Zur Rezeption deutscher Romantik in der russischen Geistesgeschichte. In: Zeitschrift für Weltgeschichte, 8 (1), 2007, 131 – 165. – (2010): Sobornost. In: Jaeger, Friedrich (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit: Bd. 12. Stuttgart/Weimar: Metzler, 140 – 144. – (2016): Europa-Idee in der Selbstfindung des russischen historisch-philosophischen Denkens und im deutsch-russischen geistesgeschichtlichen Zusammenwirken. In: Gehler, Michael/Müller, Peter/Nitschke, Peter (Hrsg.), Europa-Räume: Von der Antike bis zur Gegenwart. Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 307 – 315. Solov’ev, Wladimir (1988): Sotschinenija: Moskau: Bd. 1, Mysl., 165 – 167. Trubeckoj, Nikolaj S. (1995): Evropa i tschelovetschestvo. In: ders. (Hrsg.), Istorija: Kultura: Jazyk. Moskau: Progress.

Giuseppe Duso: Wie lässt sich eine europäische Verfassung begreifen?

Wie lässt sich eine europäische Verfassung begreifen?* Von Giuseppe Duso Wie lässt sich eine europäische Verfassung begreifen? Giuseppe Duso

Abstract Thinking of Europe as a new political entity needs a radical attempt to question the accustomed approaches to politics. This means overcoming the conceptual context that historically has accompanied the construction of national states, i.e. modern sovereignty and representative power. Democratic legitimation shows a strong connection with both terms. We need to reconsider such a concept in order to give real political dimension to plurality and differences.

I. Wie kann man die Europäische Union als politische Einheit begreifen? Heutzutage scheint die Auffassung weit verbreitet, dass es angesichts der neuen und noch wachsenden politischen Realität der Europäischen Union notwendig ist, diese mit neuen Begrifflichkeiten zu erfassen. Betrachtet man die Debatte jedoch genauer, so kann man feststellen, dass gemeinhin Begriffe verwendet werden, die der Ausbildung des Nationalstaates zugrunde lagen. Ich schicke sogleich voraus, dass ich kein Jurist bin. Meine Reflexionsebene ist „philosophisch“ in dem Sinne, dass der Terminus nicht so sehr die Bildung neuer Theorien oder Modelle für eine gute oder rationelle Politik anzeigt, sondern vielmehr die kritische Fragestellung der Begriffe, mit denen die politische Ordnung und die Legitima­ tion der Herrschaft gedacht werden: die Begriffe und Werte also, die auf Basis der Verfassung stehen. Meine Überlegungen schließen an die Arbeiten Dieter Grimms an, der mit konzeptioneller Maßgeblichkeit und Genauigkeit die Bedeutung von Verfassung und Konstitutionalismus präzisiert hat.1 Wer dazu neigt, lange VerfassungsgeÜberarbeitete und mit sprachlichen Korrekturen versehene Fassung eines Vortrags, der im Rahmen des Graduiertenkollegs „Verfassung jenseits des Staates“ an der Humboldt-Universität zu Berlin im Dezember 2013 gehalten wurde. Für die Übersetzung aus dem Italienischen danke ich Herrn Dr. Magnus Ressel (Goethe-Universität, Frankfurt am Main). Für die weitere Korrektur zur Veröffentlichung danke ich sehr Herrn Prof. Peter Nitschke. 1  Ich beziehe mich insbesondere auf Grimm, 2012. *

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schichten nachzuzeichnen, die vom Mittelalter bis in die Gegenwart reichen, muss in Bezug auf die vorangehende Tradition, in der der Begriff „Verfassung“ die Bedingungen, die grundlegenden Gesetze und alle das Regierungshandeln überhaupt bestimmenden Bande erfasste, anerkennen, dass der moderne Verfassungsbegriff nur mithilfe einer grundsätzlichen Trennung möglich war. Dies bedeutete nicht einfach die Wandlung eines bereits vorhandenen Verfassungsbegriffs, sondern die Begründung eines neuen Begriffs, der die Legitimität und Rationalität der vorhergehenden Art, Politik zu denken, negierte und somit auch die Bedeutung, die zuvor das Wort „Verfassung“ hatte. Während in der Vergangenheit eine absolute Herrschaft undenkbar war, erfordert der neue Verfassungsbegriff – dies in aller Offensichtlichkeit bei Sièyes – ein absolutes Subjekt – die Nation, das Volk also – welches durch nichts gebunden ist, da es das Subjekt selbst darstellt, das die Bande setzt (d. h. die Verfassung). Wie Grimm zu Recht gezeigt hat, besitzt diese Trennung zwei Zeiten: Eine theoretische, die in den Doktrinen des Naturrechts und des Sozialvertrags besteht, und eine historische, in welcher der im Naturrecht geborene begriffliche Zusammenhang das normative Fundament für die Organisation des politischen Körpers und für die Legitimierung der Herrschaft wird; und dieses wird durch Revolutionen durchgesetzt, insbesondere durch die Französische. Ich teile den Analyserahmen von Grimm: im selben Rahmen bewegen sich die von mir seit über 30 Jahren mit meiner Forschergruppe geführten philosophischen Forschungen über die Doktrinen des Sozialvertrages, über die Genese der Souveränität, über den Repräsentationsbegriff, über die Begriffe, die die repräsentative Demokratie und die Legitimation der Herrschaft im Staat bedingen. Ich unterscheide mich von seiner Herangehensweise allerdings dahingehend, dass unsere Analysen nicht nur darauf abzielen, die durch die moderne Verfassung bewirkte Errungenschaft, sondern auch ihre strukturellen Aporien herauszuarbeiten. Aporien, die in der derzeitigen Situation von Veränderung von Staat und der Verfassung selber – viele Verfassungsrechtler, wie Hasso Hofmann, sprechen zu Recht von „Entkonstitutionalisierung“ – eine gleichermaßen historische wie epochale Evidenz annehmen.2 In diesem Aufsatz möchte ich schematisch einige Aporien in Erinnerung rufen, die wir in der legitimen Herrschaft im Bereich der Nationalstaatslehre auffinden können, und vor allem die Unmöglichkeit einer staatlichen Verfassung, eine Pluralität von politischen Subjekten zuzulassen. Mein Ziel ist es dabei nicht, zu beweisen, dass eine europäische Verfassung unmöglich ist, sondern im Gegenteil möchte ich diese so auffassen, wie es Ingolf Pernice vorgeschlagen hat.3 Für 2  Ich beziehe mich insbesondere auf die von mir geteilte Position von Hasso Hofmann in Hofmann, 2002: 19, und Hofmann, 2005. 3  Pernice, 2002.

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einen solchen Versuch aber möchte ich nicht die modernen Begriffe, sondern neue Kategorien gebrauchen, mit der Absicht, das Konzept von Verfassung auf eine andere Art als die seit der Französischen Revolution übliche Weise zu begreifen. Ich habe den Eindruck, dass die Debatte über Europa häufig innerhalb eines politischen Denkrahmens verbleibt, der die Jahrhunderte des „Jus publicum europaeum“ charakterisierte und somit auch die Geschichte der Nationalstaaten. So ist das bekannte „Dilemma von Calhoun“ unvermeidbar: Entweder bleiben die Staaten, die Europa begründet haben, souverän oder die Europäische Union wird in Form eines neuen Megastaates souverän und die Mitglieder, die diese begründet haben, verlieren im selben Maße ihren politischen und dezisionalen Charakter. Euroskeptiker und -optimisten laufen Gefahr, all dies auf Basis des begrifflichen Zusammenhangs der „Souveränität“ zu denken: Wie viel an Souveränität muss bei den einzelnen Staaten verbleiben und wie viel an Europa abgegeben werden? Und, je nach der Basis, von der man die Souveränität herleitet, hält man mehrheitlich das Instrument der „Verfassung“ (traditionell an die Souveränität und an ihre bezeichnende und bezeichnete politische Einheit gekoppelt) – oder hält man das Prinzip des „Vertrages“ (welcher eher zur Aufrechterhaltung der Souveränität der Staaten geeignet erscheint) für adäquat?4 Es scheint mir, dass man in beiden Fällen innerhalb des begrifflichen Horizontes der modernen Auffassung von Souveränität (und damit der legitimen Herrschaft) verbleibt und keinen Erfolg haben kann, Europa als eine völlig neue Realität in Bezug zu den souveränen Staaten zu denken. Auch die seit längerem im Gang befindliche Debatte, die beim europäischen Formationsprozess einen Mangel an demokratischer Legitimation feststellt, da die Regierungen und nicht die Bevölkerungen beteiligt seien, läuft Gefahr, sich in denselben Schwierigkeiten zu verfangen. Um tatsächlich zu verstehen, was demokratische Legitimation bedeutet, kommt uns erneut just Dieter Grimm zu Hilfe, der in verschiedenen Aufsätzen dem Begriff einen bestimmten Sinn zuspricht:5 es gehe um das Auftreten eines einheitlichen europäischen Volkes, eines gleichgewichtigen Stimmrechtes aller Bürger dieses Volkes, der Wahl eines Korpus, das dessen Willen „repräsentativ“ ausdrücken könne, eines Parlamentes also, das die erste und wesentliche Gewalt zusammenbündeln würde. Es ist somit genau die Abwesenheit dieses Rahmens, die für Grimm das Denken über eine europäische Verfassung erschwert. Jedoch ist klar, dass gerade dies der Mecha4  Über die theoretischen Probleme des derzeitigen Weges zu einer europäischen Verfassung vor allem in Bezug auf den Unterschied zwischen Verfassung, Vertrag und dem unumgänglichen Pluralismus, der Europa kennzeichnen muss, siehe den Vortrag mit dem bedeutungsschweren Titel vom selben Autor: Grimm, 2004. Zur theoretischen Dimension, die die Verfassungen im Verlauf der Geschichte des modernen Staates gekennzeichnet hat, siehe die Arbeiten von Hasso Hofmann (in Kurzform die zwei oben zitierten Aufsätze). 5  Vgl. insbesondere Grimm, 1994.

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nismus ist, der die Staatsverfassungen kennzeichnet, ein Mechanismus, der es, wie Grimm andernorts ausführt,6 aufgrund der Vorstellung einer Trennung von Staat und Gesellschaft unmöglich macht, eine Pluralität von politischen Subjekten zuzulassen. Um eine politische Realität zu begreifen, die aus einer Pluralität an politischen Subjekten besteht, ist es nötig, eine weitere als diejenige Perspektive einzunehmen, die sich in den Jahrhunderten des „jus publicum europaeum“ entwickelt hat. Man benötigt eine Art des Denkens, die sich nicht auf moderne Begriffe reduziert, die im Bereich des Naturrechts und der Lehren des Gesellschaftsvertrags geschaffen wurden. Diese enden paradoxerweise damit, dass sie durch die Einführung des Begriffs der „Souveränität“, also einer einheitlichen und unwiderstehlichen Herrschaft, eine vertragsmäßige Dimension der Politik negieren. Man soll den politischen Vertrag anders auffassen, in der Weise, dass die politische Dimension der Vertragspartner erhalten bleibt, so wie es beispielsweise für die Mitglieder des Volkes in der „Politica“ von Althusius geschieht. Tatsächlich berufen sich heute einige Verfassungshistoriker auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Epoche, um die Unterschiedlichkeit der derzeitigen Lage von derjenigen zu verdeutlichen, die in der Doktrin des modernen Staates als einzige Quelle des Rechts ausgebreitet ist.7 Das Problem, das ich darlegen will, lautet also: Wenn es wahr ist, dass die Europäische Union in ihrer Einheit die politische Dimension von verschiedenen Subjekten zulassen soll, so stellt sich uns folgende Aufgabe – Wie können wir eine politische Einheit denken, die grundlegend plural ist und bleibt? Ich werde versuchen zu zeigen, dass diese Aufgabe nicht mit dem begrifflichen Dispositiv möglich ist, welches von den elaborierten Begriffen im Naturrecht bis zu unseren repräsentativen Demokratien reicht. So sehen wir uns also einer radikalen Aufgabe gegenüber: Wir können feststellen, dass es nötig ist, um Europa als politische Entität denken zu können, die Realität und die politischen Verpflichtungen auf eine andere als die gewohnte, also vom Gesichtspunkt der demokratisch-staatlichen Verfassungen ausgehende Weise zu konzipieren.

6  Grimm schreibt: „Insofern setzt die moderne Verfassung die Differenz von Staat und Gesellschaft voraus. Umgekehrt ist sie auf Akteure, Institutionen und Verfahren, die sich auf diese Grenzlinien nicht festlegen lassen, nicht eingerichtet.“ Grimm, 1991: 431. 7  Vgl. beispielsweise in Italien die jüngeren Arbeiten von Maurizio Fioravanti, die in einem Versuch münden, auf eine neue Art das Problem einer Verfassung für Europa zu stellen (Fioravanti, 2002; ders., 2001: 835 – 906. Ich habe diesen Vorschlag, seine Bedeutung und die Funktion, die ein heutiges Überdenken der Doktrin von Althusius haben könnte, besprochen in Duso, 2002a: insbesondere 124 – 134.

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II. Welche Methode für die Analyse der politischen Begriffe? Die Ausformulierung dieses Problems macht nur Sinn auf der Basis einer langen Forschungsarbeit über die modernen politischen Begriffe, die auch die punktgenaue Setzung einer theoretisch-methodologischen Reflektion ermöglicht. Dies kann ich hier nur schematisch darlegen. Ich habe vorgeschlagen, die notwendige epistemologische Arbeit sowie die kritische Analyse der modernen politischen Begriffe „Begriffsgeschichte“ zu nennen, in Einklang mit einer Strömung der deutschen Geschichtswissenschaft, die als herausragende Exponenten Otto Brunner, Werner Conze und Reinhard Koselleck hatte (die das berühmte „Historische Lexikon“ der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ herausgegeben haben).8 Auch wenn der Rückgriff auf diese Autoren, vor allem auf Otto Brunner, von Relevanz war, so hat unsere Arbeit dennoch durch die Konzentration auf das philosophische Element ihre eigenen Schwerpunkte gehabt; bis hin zum von mir vorgebrachten Entwurf einer Einheit von Begriffsgeschichte und politischer Philosophie in der Formulierung „Begriffsgeschichte als politische Philosophie“.9 Um es kurz darzulegen: Unsere Radikalisierung der deutschen Begriffsgeschichte besteht darin, die Koselleck’sche Sattelzeit des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert hin zu den Doktrinen des Naturrechts zu verschieben, die im 17. Jahrhundert mit Hobbes beginnen. Mit Recht haben die deutschen Historiker den Wendepunkt bei der Französischen Revolution verortet. Einen Wendepunkt, mit dem alte Wörter neue Bedeutungen gewannen und neue Worte geschaffen wurden. Die Begriffe hingegen, die sich im gesellschaftlichen Gebrauch in dieser Periode ausbreiteten und die theoretische Basis für die politischen Verfassungen lieferten, waren jedoch bereits im Rahmen der Naturrechtslehre entstanden. Der philosophische Aspekt unserer Begriffsgeschichte besteht deshalb weniger darin, die in den philosophischen Lehren des Naturrechts entstandenen Begriffe zu begreifen und zu erfassen, sondern vor allem in dem Versuch, die Logik und Aporien der modernen Begriffe zu verstehen – ein sokratisches Verfahren: in diesem Sinn „philosophisch“. Auf diese Art verlieren die Begriffe ihre prätendierte universelle Dimension, die Vorannahmen, auf denen sie basieren, werden herausgestellt und einige strukturelle Widersprüche aufgezeigt: d. h. sie bedingen Konsequenzen, die gerade im Widerspruch zu den eigentlichen Zielen stehen, die der ursprüngliche Zweck dieser Begriffsschöpfungen waren. Ich versuche hier, schematisch die Logik dieses begrifflichen Dispositivs anzuzeigen, das mit den Rechten der Individuen beginnt, insbesondere der Gleichheit und Freiheit, um zur Souveränität als legitimer Herrschaft zu gelangen. 8 

Vgl. Brunner et. al., 1972 – 1997. auch Chignola, 2002. Vgl. ebenso Duso in Chignola/Duso, 2008: 83 – 122, 123 – 157, 158 – 200; vgl. auch Duso, 2011. 9 Vgl.

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Dieses Dispositiv stützt sich auf zwei Begriffe, die mir zentral für die demokratischen Verfassungen der Nationalstaaten und ihrer Souveränität erscheinen: Jenen der „Volkssouveränität“ und jenen der politischen „Repräsentation“.10 Es wird sich zeigen, dass diese beiden Begriffe weit davon entfernt sind, die politische Beteiligung der Einzelnen zu bedingen, gerade weil die Herrschaft als Herrschaft aller verstanden wird, in welcher die Bürger eine politische Qualität zugesprochen bekommen, in der es schwierig wird, an so etwas wie Beteiligung zu denken. Weiterhin zielen die beiden Begriffe auf politische Einheit in einer Art und Weise, welche die Pluralität unmöglich macht. Wenn es so ist, wie ich meine, dann wäre es nicht außergewöhnlich zu betonen, dass die grundlegenden Begriffe der Moderne es nicht erlauben, eine Einheit von Europa zu denken, in der die Mitglieder vorhaben, sich ihre politische Dimension zu bewahren. Noch radikaler ließe sich sagen, dass die modernen Begriffe ungeeignet sind, unsere politische Realität zu verstehen.11 III. Die Entstehung der modernen politischen Begriffe Damit hier keine Missverständnisse aufkommen, muss ich präzisieren, dass ich mit dem Ausdruck „moderne Begriffe“ nicht das moderne Denken oder die moderne Philosophie meine. Alle bedeutsamen Momente des philosophischen Denkens (die deutsche klassische Philosophie, z. B. Kant und Hegel) begründen auf verschiedene Art und Weise eine „Aufhebung“ dieser Begriffe. Man kann diese dennoch so bezeichnen, da sie immer noch einer weit verbreiteten Auffassung entsprechen und immer noch als fundamentale Werte verstanden werden, die den Verfassungen zugrunde liegen. Auch wenn ich hierbei Gefahr laufe, als zu vereinfachend angesichts der Komplexität des Problems zu erscheinen, so hebe ich nun manche Elemente unter besonderem Bezug auf einen Autor wie Hobbes hervor, in dessen Denken die Logik dieses Dispositivs mit besonderer Klarheit aufscheint, sei es bezüglich des Aspekts der Absolutheit der Herrschaft, sei es für den Aspekt ihrer Legitimation. Der logische Prozess, der die Wissenschaft des Naturrechts kennzeichnet, einer Wissenschaft, die sich in vielen weit verbreiteten Traktaten in Deutschland von Pufendorf bis zum Ende des 18. Jahrhunderts manifestiert, ist dadurch charakterisiert, dass er als Basis das Individuum und seine Rechte nimmt, insbesondere Gleichheit und Freiheit, und die Schaffung einer Herrschaft, die zur Verwirklichung der Rechte Einzelner notwendig erscheint. In diesem Rahmen kann der Gehorsam nicht mehr vom Urteil über die Inhalte des Befehls abhängen: Das, was zählt, ist die Legitimität desjenigen, der den Befehl, also das Gesetz, gibt. Dieser 10  Für die Aporien dieser Konzepte vgl. Duso, 2003b; ders., 2000, und zudem ders., 2006. 11  Vgl. Duso, 2010a.

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handelt für den gesamten politischen Körper, und seine Legitimität basiert auf dem Willen aller Individuen. Durch die Figur des Gesellschaftsvertrags wird der Übergang vom Willen der Individuen zum gemeinschaftlichen Willen erreicht, ausgedrückt durch denjenigen, der von allen in diese Funktion delegiert wurde. Man versteht, dass es sich hier um eine „formale Rationalität“ handelt, die noch heute präsent ist, wenn man von „demokratischer Legitimität“ spricht, in Bezug auf das Verfahren, welches diese Legitimierung garantiert, d. h. die Wahlen. Jeder kann verschiedene Kriterien anlegen, um zu beurteilen, ob die Gesetze gerecht sind, aber dieses Urteil kann keine Konsequenz für den notwendigen Gehorsam gegenüber dem Gesetz nach sich ziehen; das, was für die Geltung dieser und die Anwendung öffentlicher Gewalt zählt, ist, dass sie das Produkt des Volkes sind, durch die Vermittlung der Mehrheit des repräsentativen Korpus. Die Formalität dieser Rationalität tritt im Denken von Hobbes deutlich hervor, der die „neue politische Wissenschaft“ begründet, die sich im Gewand des Naturrechts präsentiert. Hobbes’ Relevanz für ihre Verbreitung geht weit über das hinaus, was seine Kritiker glauben, die tatsächlich innerhalb desselben geistigen Horizontes verbleiben. Das polemische und explizite Angriffsziel von Hobbes ist die Tradition der ethischen Philosophie, die sich einerseits dem unausweichlichen Problem der Gerechtigkeit stellt und andererseits für dieses Problem verschiedene Lösungen anbietet. Als Ursache von Konflikt und der Zerstörung einer stabilen Ordnung erscheint ihm, dass das Verhalten der Menschen von ihren eigenen Meinungen über Gerechtigkeit abhängt. Das, was wir anstreben müssen, wie er im Vorwort von „De cive“ sagt, ist eine eindeutige Konzeption des Gerechten, konstant und gültig für alle. In diesem Sinne fällt das Gerechte mit dem Gehorsam gegenüber den Gesetzen zusammen. Man muss dabei hervorheben, dass auf diese Weise ein neuer Begriff des „Gesetzes“ präsentiert wird, welches identisch wird mit dem auf Basis des Willens der Individuen basierenden Befehl des kollektiven Subjekts. Den Charakter des Gesetzes hat der Befehl dessen, der autorisiert wurde, für den gesamten politischen Körper zu sprechen. Ab dem Moment der Schließung des Vertrages ist der Souverän/Repräsentant der einzige, der den Willen des kollektiven Subjektes, des Volkes, auszudrücken hat. Er verkörpert die Figur des einzigen Richters, eine notwendige Figur für alle Naturrechtler, da dies die einzige stabile Vorbedingung des Friedens ist. Auch wenn die Lehren der Hobbes nachfolgenden Denker nicht von der diesem eigenen Radikalität sind, so gilt für alle das gleiche Prinzip, dass es nur der Richter sein darf (oder der richtende repräsentative Körper), der die Herrschaft ausübt, und dass die Legitimität des Befehls in dem Prozess der Autorisierung liegt, die sich im Gesellschaftsvertrag manifestiert.12 12 

Vgl. Duso, 1993.

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Durch den Nexus von Souveränität und Repräsentation, den nur Rousseau zu übertreten sucht,13 zeigten sich die Individuen als notwendiger Pol der Konstruktion. Sie finden sich zwar am Anfang des Verfahrens, die tatsächliche Souveränität steht jedoch letztendlich nur dem kollektiven Subjekt zu. Die Individuen sind somit in dem Maße das Fundament der Gesellschaft, in dem sie diese durch den Ausdruck ihres Willens herstellen. Dadurch erschaffen sie den Gesellschaftsvertrag und finden sich nach Vertragsabschluss dem Souverän unterstellt, wie Untergebene. Diese Untergebenheit in Bezug auf das kollektive Subjekt ist nicht als eine Knechtung anzusehen, also als eine Verneinung der Freiheit, sondern im Gegenteil als die einzige Art, frei zu sein. Dies mag paradox erscheinen, ist es aber nicht, wenn man die Konstellation auf Basis eines neuen Begriffs von „Freiheit“ betrachtet, welcher mit Hobbes aufkommt: „Frei“ bedeutet, keine Hindernisse zu haben und konkret für den Menschen, von seinem eigenen Willen abzuhängen und nicht von dem Willen anderer. Ein solcher Begriff, der im „Leviathan“ vor der Begründung der bürgerlichen Gesellschaft auftaucht, ist in diesem Stadium der Argumentation noch nicht bis zum Schluss denkbar. Denn wenn im Naturzustand (d. h. ohne Staatsherrschaft) alle nur auf Basis ihres eigenen Willens handelten und nach Allem begehrten, so finden alle Beteiligten ihre je spezifischen Hindernisse und sind daher nicht wirklich frei. Der einzige Weg, diese Freiheit zu denken, ist der, sich gleichzeitig eine Reihe an Beschränkungen vorzustellen, die verhindern, dass die Ausübung der Macht eines jeden mit derjenigen der anderen zusammenprallt und dadurch jeder sich in seiner freien Verfügung begrenzt fühlt. Diese Hindernisse sind die Gesetze, die sich auf den Befehl desjenigen beschränken, der den Willen der „persona civilis“, also die Totalität der Bürger ausdrückt. Die Herrschaft in diesem Sinne ist nicht eine der Freiheit entgegengesetzte Instanz, sondern wird zum Element, das diese notwendigerweise benötigt, nicht nur um realisiert, sondern um bereits von vornherein überhaupt denkbar zu sein. Somit ist die Souveränität (die absolute Herrschaft) das Resultat des Begriffs der Freiheit. Dies muss bei unserem gesamten Gedankengang gut berücksichtigt werden, denn falls man der Ansicht ist, dass der Begriff der Souveränität im politischen Denken zu überwinden sei, so wäre auch dieses Konzept von „Freiheit“ zu überwinden, welches in der Moderne durch seine Verabsolutierung zur Grundlage und zum Zweck der Politik geworden ist. Eine solche Lehre ist erst durch eine Negierung all dessen ermöglicht worden, was zuvor den Horizont der Ordnung ausmachte (Recht, Religion, Ethik, Sitte). Diese Doktrin geht somit von einem Vakuum aus, das seitdem durch das subjektive Bewusstsein gefüllt werden muss. Zwei Beobachtungen können wir hier bezüglich dieses Dispositivs der Legitimation der Herrschaft machen. Zuallererst, dass der wahre Grund der Legitima13  Zum Risiko Rousseaus, durch den Zwang der Logik des modernen Dispositivs repräsentative Elemente wieder einzuführen, vgl. Duso, 2006: insb. 96 – 100.

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tion der Herrschaft im Ausdruck des Willens von Seiten der Individuen liegt, also all derer, die sich in der Rolle der Untergebenen befinden. Und der strategisch am besten erscheinende Begriff, um zu zeigen, dass die Herrschaft, auch wenn sie durch einige Wenige ausgeübt wird, die Herrschaft aller ist, ist der moderne Begriff der Repräsentation. „Autorität“ kann in der modernen Lehre nur derjenige haben, der von allen autorisiert wurde. Im „Leviathan“ (XVI. Kapitel) finden wir die Erfindung der modernen Repräsentation, die just auf dem Prozess der „Autorisierung“ basiert, in welchem sich jeder zum „Autor“ (Urheber) dessen erklärt, was der „Akteur“ (also der Vertreter) macht.14 Eine solche Art von Legitimation findet sich auch in der Weber’schen Behandlung der Kategorien von „Herrschaft“ und „Gehorsam“, welche darauf gründen, dass jeder den Befehl dessen, der legitimiert wurde, als Ergebnis des eigenen Willens aufzufassen habe. Hobbes und Weber markieren insofern die bestimmenden Punkte einer Parabel der modernen Herrschaft im Sinne der Souveränität, welche einen rein modernen Begriff darstellt.15 Im Moment der Auslöschung der Referenzpunkte zur Orientierung über die Frage der Gerechtigkeit, wie sie das Mittelalter und die Antike diskutiert haben, kann die Grundlage der Legitimation nur noch in derjenigen formalen Konstruktion weiterbestehen, mit der man sagen kann, dass der Gehorsam gegenüber dem Willen dessen, der die Herrschaft für den gesamten politischen Körper ausübt (dem Repräsentanten also), einem Gehorsam gegenüber sich selbst gleichkommt. Aber diese Identität betrifft nur die Form der Konstruktion, also die Beziehung, die den Repräsentanten und den von ihm Repräsentierten bindet, denn aufgrund der Tatsache, dass die Auswahl nicht in einer Übertragung von Willen besteht, sondern in einer Form der „Autorisierung“, sind die Inhalte des Befehls (die Gesetze) vom politischen Akteur formuliert, also von der konstituierten Autorität. So kommt eine eiserne Logik zum Vorschein, die den Begriff charakterisiert sowie seine Aporie. Die moderne Repräsentation (die ihren konstitutionellen Ausdruck in den Wahlen hat) besteht aus zwei Bewegungen, zwei Aktionen: derjenigen der Autorisierung (durch die Auswahl) und derjenigen der repräsentativen Ausübung der Macht. Auf der legitimierenden Basis der Autorisierung beruht die Begründung dafür, dass der von den Repräsentanten ausgedrückte Wille als der Wille des kollektiven Subjekts, des Volkes, also aller angesehen wird. Daher ist ein Widerstand gegenüber dem Befehl nicht vorstellbar. Dies bedeutet, dass die Herrschaft, also der in repräsentativer Weise gedachte Befehl, der Totalität des politischen Körpers zuzuordnen ist, somit einen vereinheitlichenden Nenner hat, und alle Mitglieder zu Untergebenen reduziert. Und dies ist der Grund, weshalb Kant der Meinung war, dass ein aus Einzelstaaten zusammengesetzter Staat 14  Vgl. auch ebd.: 83 – 88. Das grundsätzliche Referenzwerk für die Geschichte des Repräsentationsbegriffs ist selbstverständlich Hofmann, 2003. 15  Vgl. meine Argumentation in Duso, 2011; darüber hinaus vgl. ebenso Duso, 1999.

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nicht zu denken ist, da die ersteren auf Untergebene reduziert würden, wie es den Bürgern innerhalb eines Staates passiert. All dies erlaubt eine zweite Beobachtung, die für das Problem der Pluralität relevant ist. Die hier aufgezeigte eiserne Logik verdeutlicht auch eine versteckte Aporie: Die politische Einheit, die durch den repräsentativen Prozess erreicht wird, erscheint als von den Einzelnen erzeugt und dennoch wirkt sie ihrer Partikularität gegenübergestellt. Die Einzelnen gehorchen einem Befehl, dessen inhaltliche Ausformung sie nicht beeinflussen können.16 Gerade weil der Ausgangspunkt zur Konstruktion der Gesellschaft die Vielzahl der Individuen ist, besteht die durch den Vertrag erreichte Einheit – paradoxerweise, wenn man an die Bedeutung denkt, die der Vertrag in der vorangegangenen Tradition des politischen Denkens hatte – nicht so sehr im Einverständnis zwischen verschiedenen Willen, denn ein Einverständnis innerhalb einer unendlichen und nicht definierten Anzahl an Unterschieden ist in der Tat unvorstellbar, sondern in der Erzeugung eines einheitlichen neuen Willens.17 Der allgemeine Wille ist anders bezüglich aller partikularen Willensäußerungen; auch bei Rousseau ist der allgemeine Wille nicht mit dem Willen aller gleichzusetzen, und auch nicht mit der Vereinheitlichung der Einzelwillen. Was Hobbes sagt, ist relevant, um die Notwendigkeit der Repräsentation in ihrer neuen Bedeutung zu verdeutlichen. Wenn der Gedankengang von der Vielzahl der Individuen ausgeht, so liegt die einzige Art zur Vorstellung der diese Menge ausmachenden Mitglieder darin, dass einer der Repräsentant wird.18 Anders gewendet: Wenn man von der durch 16  Ich muss hier den Aspekt weglassen, weswegen manche Forscher, unter diesen auch Pitkin, die Willensbeziehung oder den Aspekt der Ähnlichkeit betonen, der den Repräsentanten mit dem Repräsentierten verbindet, eine Verbindung, die in der Tat die Beziehung des Repräsentanten zum Programm seiner Partei impliziert. Ich beschränke mich hier darauf zu konstatieren, dass diese Beziehung nicht die Aporie aufgelöst, sondern eine Verkomplizierung des in der Verfassung Geschriebenen mit sich gebracht hat. Die Verfassung betont, dass der Repräsentant frei von den Ketten des Mandats ist. Aber, damit es irgendeine Verbindung zwischen dem Willen des Wählers und dem des Abgeordneten gibt, bedürfte es tatsächlich und entgegen dem Verfassungstext, der Existenz einer neuen Form des imperativen Mandats, welches dann von den Parteien käme (vgl. Duso, 2015). 17  Zur radikal neuen Realität der Herrschaft (Souveränität), die in der Vertragslehre geschaffen wurde, vgl. auch jenseits der oben zitierten Literatur Kersting, 1990. 18  Vgl. Hobbes, 1991: 126 – 127 (Kap. 16): „Eine Menge von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person repräsentiert wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser Menge geschieht. Denn es ist die Einheit des Repräsentanten, nicht die Einheit der Repräsentierten, die bewirkt, dass eine Person entsteht. Und es ist der Repräsentant, der die Person, und zwar nur eine Person, verkörpert. Anders kann Einheit bei einer Menge nicht verstanden werden.“ Im Hinblick auf die theoretische Reflexion des 20. Jahrhunderts zum Thema „Repräsenta­ tion“ (man denke an Carl Schmitt und Leibholz) habe ich im Zitat die Ausdrücke „Vertreter“ und „Vertretene“ durch „Repräsentant“ und „Repräsentierte“ ersetzt.

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das Individuum bestimmten Größe ausgeht, entsteht die politische Einheit nicht durch die Vereinbarung zwischen unterschiedlichen Subjekten: in Bezug auf den Bürger erweist sich diese Einheit hingegen als andersartig und fremd. Der kollektive Wille zeigt sich als ein einziger und die Pluralität der Subjekte mit ihren Unterschieden erscheint nicht mehr auf der politischen Ebene.19 Somit verschwindet die Pluralität, welche die Szene des vorhergehenden politischen Denkens charakterisiert hat. Um nahe an einer Periode der Geburt der modernen politischen Wissenschaft zu bleiben, die aber auf Basis der von ihr erzeugten Begriffe unverständlich bleiben muss, kann man nun auf die politische Lehre von Althusius zurückgreifen. Aus seinem komplexen „verfassungsgemäßen“ Denken heraus (hier wird der Terminus in seiner etymologischen Bedeutung genutzt und nicht im modernen Sinne der formellen Verfassung) wird die Gesellschaft in einem pluralen Sinne verstanden, zusammengesetzt aus Gruppen und Aggregationen („consociationes“) durch welche die Einzelnen am Leben der Gemeinschaft partizipieren. Die Dimension vor der Politik ist in diesem Falle die Antike mit der bereits von Aristoteles aufgezeigten „koinonia“, des Einverständnisses, der Eintracht, der Kommunikation, der Solidarität. Aber gerade wegen der Unterschiede, welche in der Lehre des Althusius als „consociationes“ für die Dimension des Volkes bezeichnet werden – also wegen der Pluralität – stellt sich die Notwendigkeit von Führung und „Regierung“ (ein Wort, das in diesem Kontext einen bedeutsamen und entscheidenden Sinn hat, um Politik zu denken). Vor diesem Horizont anerkennt die Politik somit eine Pluralität an politischen Subjekten (Korporationen, Stände, Städte) mit spezifischen und objektiven Unterschieden, die dank der Führung des höchsten Magistrates dauerhaft zum Einverständnis untereinander tendieren. Man muss dabei die Tatsache im Auge behalten, dass es sich nicht um ein von einem willkürlichen Willen durchgesetztes Abkommen handelt, denn in diesem Falle bewegt man sich in einem gemeinsam mitgeteilten Ordnungshorizont. An diesem Realismus haben das gute alte Recht (die Grundlage zur Regelung der Politik), die Religion und die heiligen Texte, die verbreitete Ethik und die Sitten, die Zusammensetzung des politischen Körpers, ihren Anteil. Alle diese Bestandteile der Realität hängen nicht vom Willen ab, weder vom Willen der Regierenden, noch von dem der Regierten. In diesem Kontext haben die Unterschiede in einem bestimmten Maße einen politischen Charakter und die Gruppen der Gesellschaft haben ihren jeweils objektiven Charakter. Diese Unterschiede müssen gegenüber demjenigen, der regiert, repräsentiert werden. Zusammengefasst identifiziert hier der Denkrahmen 19  Diese Aporie besteht im Verhältnis von Vielen zu Einem und ist eingehend von Hegel behandelt, der in seinem politischen Denken zur Aufhebung dieser modernen Konzepte neigt, indem er den Weg zur Überwindung der Souveränität und einer anderen Auffassung der Repräsentation eröffnet (vgl. hierzu Duso, 2013b).

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bei Althusius die Repräsentativität nicht mit dem Befehl: gerade da er die Repräsentation an eine plurale Realität mit ihrer eigenen Objektivität bindet, konzipiert er den Befehl in der Form der Regierung. Hiermit wird eine notwendige Funktion, hergestellt aus der pluralen Totalität des politischen Körpers, kreiert, die aber nicht als Gesamtheit anzulegen ist, sondern an die Person dessen adressiert, der regiert: dieser ist hierfür verantwortlich. Man versteht, dass in diesem Kontext das Recht auf Widerstand denkbar ist und dass die einzelnen Mitglieder des politischen Körpers (nicht die Individuen als isolierte Größen) gegenüber der Regierung eine eigene politische Dimension bewahren. Wenn hingegen der Ausgangspunkt bei den Individuen liegt, so führt die unendliche Vielzahl der Unterschiede in ihrer Existenz in der Realität zur Verleugnung jeglichen Unterschiedes, was wiederum bedeutet, dass sich auf Basis der Repräsentationsidee angeblich alle als gleichberechtigte Individuen einfinden. Im Gegenbeispiel, der Lehre von Althusius, zeigt sich das Modell einer föderalen Konzeption der Politik, in welcher die Parteien an einem „foedus“ untereinander festhalten und unter der Führung der Regierung andauernd ihr Einverständnis suchen müssen. Dies ist gerade daher möglich, da diese Parteien sich nicht auf Ausformulierung eines angenommenen Interesses beschränken können (wie dies im sozialen Pluralismus heutzutage geschieht), sondern eine jeweils geteilte politische Verantwortung und einen gemeinsamen politischen Horizont haben. Hingegen sind im Modell der modernen Doktrinen des Sozialvertrags nicht mehr die Parteien das Repräsentationsobjekt (das Volk ist nicht mehr von Parteien gebildet), sondern die Repräsentation dient dem Ausdruck des einheitlichen Willens der Nation. Sicherlich wird diese Aufgabenstellung in der Realität unserer heutigen Staaten durch eine Reihe von Komplikationen erschwert und es sind daher viele Verhandlungen nötig, auch außerhalb der von der Verfassung eigentlich vorgesehenen Organe, um den Ausdruck eines sogenannten Volkswillens und die damit verbundene einheitliche Dimension der Gesetze herzustellen. Dennoch bleibt das Schema der Verfassungen dasjenige, welches auf der Trennung zwischen einer durch die Pluralität an Interessen charakterisierten bürgerlichen Gesellschaft und einem von der Logik der Einheit dominierten staatlichen Willen basiert. Ab der Französischen Revolution wird dann, zugleich mit der in den modernen Doktrinen des Sozialkontrakts geschaffenen Konzeption, die Politizität jeglicher Form von Aggregation verneint. Die Feststellung, dass man auf der Basis des modernen konzeptuellen Dispositivs, welches die Grundlage der Verfassungen bildet, die Pluralität verliert und somit auch die Möglichkeit einer echten Beteiligung,20 führt nicht zur Geringschätzung dessen, was Grimm die in den modernen Verfassungen ausgedrückte Errungenschaft nennt, sondern man muss verstehen, dass diese durch eine Aporie verbaut ist. Mit Hegel können wir sagen, dass es 20 

Vgl. auch den Sammelband Bertolissi/Duso/Scalone, 2008.

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sich sicherlich nicht um eine Verneinung des Konzepts der subjektiven Freiheit handelt oder eines Zurückweichens in Bezug auf diese moderne Errungenschaft, sondern eher um die Überwindung ihrer Verabsolutierung (der subjektiven Freiheit), welche in systematischer Hinsicht die hier aufgezeigten Konsequenzen mit sich bringt. Aufgabe ist es also, diese Pluralität zu denken und dabei die Erringung der persönlichen Freiheit zu bewahren, aber auf eine solche Art, dass dies nicht die exklusive Basis der Politik wird.21 IV. Europa jenseits der Souveränität Diese Überlegungen erlauben uns, zum Problem Europas und seiner Verfassung zurückzukehren. Aus dem oben Gesagten kann man schließen, dass es nicht möglich ist, Europa durch einen begrifflichen Zusammenhang, der im Naturrecht geboren wurde, und der die Basis für die modernen Staatsverfassungen bildet, erfolgreich zu konzipieren. Zu sagen, dass sich in der Bildung des politischen Europa ein Defizit von demokratischer Legitimität manifestiert, muss uns sicher nicht dazu führen, in Bezug auf die Prozesse zu schweigen, welche die Menschen in ihrer Beteiligung an Politik verhindern, so dass tatsächlich in der Realität nur eine von Wenigen ausgeübte Herrschaft dabei herauskommt. Gleichzeitig aber müssen wir uns fragen, ob das, was als demokratische Legitimation bezeichnet wird, wirklich adäquat ist, um die neuen, uns gegenüberstehenden Tatsachen zu erfassen, und mehr noch, ob dies nicht in sich Aporien trägt, die uns eine schwierige Aufgabe stellen, nämlich die Aufgabe, in eine formale Dimension jenseits der konstitutionellen Dimension von Demokratie zu gehen.22 Eine Mahnung in dieser Richtung kommt vor allem durch die Berücksichtigung der Pluralität der Mitglieder, welche die Realität der Europäischen Union kennzeichnet. Es ist nicht möglich, dass in dieser dasselbe geschieht, was in der Verfassung der Staaten geschah, wo die Subjekte, welche die Herrschaft bilden, dies nur als Verneinung ihrer eigenen direkten politischen Dimension machen können: Die Wahlstimme dient – wie wir gesehen haben – dazu, den politischen Akteur zu erzeugen, nicht dieser zu sein. Wenn man Europa durch das Konzept der repräsentativen Macht dächte, so hätten wir ein einziges Volk mit undifferenzierten Individuen als Mitgliedern: Die verfassunggebenden Mitglieder verschwänden in diesem Fall. Es scheint diesbezüglich instruktiv, an das zurückzu21  Eine große Inspiration kommt diesbezüglich vom hegelianischen politischen Denken, das nicht, wie oft angenommen, die Vollendung der Souveränität im staatlichen Rahmen darstellt, sondern im Gegenteil einer der interessantesten Versuche ist, die Pluralität im Staate zu denken: Nicht zufällig konzipiert er auf andere Art die Repräsentation, also nicht als eine einheitliche Formierung des Willen des Staates, sondern als politische Beteiligung der einzelnen Teile der Gesellschaft. Vgl. hier Duso, 2013a. 22  Vgl. in diese Richtung Duso, 2004.

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denken, was im Horizont des Föderalismus von Althusius geschieht: Nicht nur sind die Mitglieder der politischen Gemeinschaft immer „consociationes“ und nicht nur Individuen, darüber hinaus ist die Verfassung im materiellen Sinn, d. h. die Teilhaber, die das Reich oder die „respublica“ bilden, sind eine nicht auslöschbare Realität und ein Band, das sich in den Fundamentalgesetzen des Reiches manifestiert. Es gibt keine demokratische Mehrheitsentscheidung eines einheitlichen Organs, das diese Realität und diese Verfassung des Reiches auslöschen könnte.23 Also ist es in dieser Theorie unmöglich, eines oder mehrere Mitglieder des Ganzen verschwinden zu lassen, wodurch die Verfassung verändert würde. Die Aufrechterhaltung der Pluralität ist erst durch die „Überwindung“ der Souveränität und des sie bedingenden begrifflichen Zusammenhangs möglich.24 Die Souveränität wird geboren aus der Vorstellung der Vielheit der gleichrangigen Individuen; sie ist hingegen nicht denkbar, wenn die Gesellschaft als eine Einheit verstanden wird, die aus verschiedenen Teilen besteht. In diesem Fall besteht nämlich die Notwendigkeit eines vereinheitlichenden Organs, das seine Führung andauernd unter Einbeziehung dieser Pluralität des Volkes ausübt. Hier verschwindet dann die Dimension der Souveränität und das Moment des Befehls soll in der Form der Regierung verstanden werden. Wenn wir in der Souveränität ein formales Verhältnis für Befehl und Gehorsam haben (vgl. Max Weber über Herrschaft), ist dagegen der Regierende für den Befehl in der Regierung verantwortlich, aber im Horizont der Gerechtigkeit, die das plurale Volk determiniert, und gegenüber der realen Präsenz der Bürger. Daraus folgt, dass dann wiederum die „Regierung“ nur im alten Sinne von „gubernare“ verstanden wird. Es handelt sich in diesem Fall nicht um eine letzte und absolute Instanz, die einen repräsentativen Charakter in dem Sinne hat, dass ihre Handlungen der Totalität des politischen Körpers zugerechnet werden könnten, sondern eher um die Aufgabe einer Vereinheitlichung und Leitung der pluralen Subjekte, die ihre Politizität behalten. Eine solche Regierung würde somit nicht die Entscheidung des europäischen 23  Das Wort „Verfassung“ hat hier eine andere Bedeutung als nur eine formale Anzeige: Mit „Verfassung“ ist gemeint die Betrachtung der Realität des politischen Körpers und des Wesens, durch das dieser Körper in seinen Teilen konstituiert ist. Das moderne Konzept der Verfassung hingegen, das jenes der Souveränität und Herrschaft bedingt, löscht eine solche Realität aus und überträgt den absoluten Wert auf das Subjekt, das eine grundsätzliche und konstituierende Entscheidung treffen kann. 24  „Überwindung“ soll hier im hegelschen Sinne der „Aufhebung“ verstanden werden, nicht als Verneinung, sondern als Aufrechterhaltung dessen, was aufgehoben wird, eine Aufrechterhaltung, die genau in dem Maße möglich wird, in dem das Wort von dem Widerspruch befreit wird, der durch seine Verabsolutierung entstanden ist. Was man bezüglich der persönlichen Freiheit hervorheben kann: diese kann nur dann wirklich erhalten werden, wenn sie nicht, wie im modernen Naturrecht, als das einzige Fundament der Politik begriffen wird. Für eine kritische Analyse der Rolle, die in der Moderne der Begriff der Freiheit hat, welcher strukturell die Frage der Gerechtigkeit verdrängt, vgl. die Arbeiten von Hasso Hofmann (insbesondere Hofmann, 2000; ders., 1997).

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Volkes repräsentieren, sondern sie wäre eine Instanz, die vor der Pluralität der Europa ausmachenden Völker steht, die aber politisch aktive Subjekte sind, welche eine je eigene Dimension haben, sich zugleich jedoch in einer Gemeinschaft befinden sollen, jeweils als Teile einer viel größeren Gemeinschaft, woraus folgt, dass sie deshalb nicht souveräne und unabhängige Subjekte sein können. Wenn dies einen Sinn machen sollte, so wäre also eine föderalistische Auffassung der Politik notwendig, um Europa zu denken.25 Hierbei wäre die Pluralität der politischen Subjekte konstitutiv, also die Völker oder die Mitglieder eines Volkes, das aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist. Damit wäre die Notwendigkeit einer Leitung gegeben, die gerade daher stark ist, weil sie eine wirkliche Pluralität führen und regieren muss, einer Regierung also, die einerseits an der Eintracht der Teile arbeitet, und andererseits die notwendigen Entscheidungen findet, um aus der Unentschlossenheit herauszukommen, zu dem die gegenüberstehenden Parteien gelangen können. Für die Entscheidung dieser Führung oder Regierung zeichnen derjenige oder diejenigen verantwortlich, denen von Mal zu Mal diese Aufgabe anvertraut worden ist, nicht also die Gesamtheit der Mitglieder, die hingegen die Regeln und Prinzipien ausdrücken, an die sich die Regierung halten muss. Somit hat der Befehl, der auf diese Weise ausgedrückt wird, keinen repräsentativen Charakter (und damit ist so erst eine politische Pluralität denkbar). Die Dimension der Souveränität scheint inadäquat für die politische Realität der Europäischen Union, aber sie kann nicht einmal die Staaten charakterisieren, die diese „Union“ bilden, denn in diesem Falle würde es sich nicht um eine politische Realität handeln, sondern nur um einen zeitlich befristeten Vertrag von Subjekten, die in ihren Entscheidungen der Souverän bleiben. Zu einer föderalen Konzeption passt nicht die Unabhängigkeit und die Absolutheit des Willens, sondern eher das Gefühl, mit den anderen Mitgliedern Teil einer Gesamtheit zu sein. In diesem Sinne kann die Idee eines „Europas der Völker“ Sinn machen und nicht in der weit verbreiteten Ansicht, dass dies über den demokratischen Mechanismus in seiner repräsentativen oder direkten Form geschehen solle. Wenn man Europa föderal denkt, muss man auch die Mitglieder dieser politischen Realität föderal denken, soweit dieses eine radikal unterschiedliche Art des Denkens der Politik 25  Für die Klärung verweise ich auf meine Argumentation in Duso, 2002b. Um nicht missverstanden zu werden, muss hier betont werden, dass ich mich nicht auf den Gebrauch beziehe, den das Wort „Föderalismus“ heutzutage hat, eine direkte Beziehung also zur Realität des Staates in Form eines föderalen Staates oder einer Föderation von Staaten. In beiden Fällen bleibt die Natur des Staates und die ihn auszeichnende Souveränität entscheidend. Es scheint mir auch nicht so zu sein, dass es der Debatte zu einem Föderalismus auf Ebene der Europäischen Union gelingt, aus diesen Schwierigkeiten herauszufinden (vgl. Beaud et. al., 2004). Ich beabsichtige hingegen, mich auf einen Sinn des Wortes „Föderalismus“ zu konzentrieren, der seine Bedeutung daraus zieht, die Politik radikal anders als auf Grundlage der klassischen Staatslehre zu denken. Vgl. zur Bedeutung dieses Verständnisses von Föderalismus Duso, 2008; sowie ders., 2010b.

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ist, also eine Art, die nicht auf denjenigen Aporien basiert, die das konzeptuelle Dispositiv kennzeichnen, welches die Grundlage der Verfassungen bildet. Man versteht somit gut, dass die Aufgabe, Europa zu denken, auch die Aufgabe mit sich bringt, die Staaten zu überdenken, die durch den Verlust des Kennzeichens ihrer Souveränität nicht mehr das sind, was eine klassische Staatslehre, gestützt auf den Horizont des „jus publicum europaeum“, darunter versteht. Das bedeutet nicht eine Aufhebung der Wirklichkeit der Staaten, sondern der Art und Weise (begrifflich, aber auch verfassungsrechtlich) diese Wirklichkeit zu begreifen. Wie man hier klar sieht, bewegt sich diese Überlegung auf der begrifflichen Ebene und beabsichtigt sicherlich nicht, für die juristische verfassungsmäße Dimension einen Vorschlag zu machen. Es soll zur Reflektion über die fundamentalen Begriffe, welche die Verfassungen beleben und über die Beziehung, die diese mit den konstitutionellen Prozeduren haben, eine Anregung geben. Ich bin durch die Tatsache beruhigt, dass auch renommierte Verfassungsrechtler die enge Verbindung, die zwischen Staat und Verfassung besteht, anerkennen. Vor diesem Hintergrund und in Bezug auf die Probleme, die wir aufgezeigt haben, ist die Notwendigkeit anzusprechen, dass man in dem Moment, in dem man an die Verfassung Europas denkt, auch auf eine innovative Art die Bedeutung und Funktion einer solchen Verfassung konzipieren sollte.26 Wenn diese Andeutungen Sinn machen, so könnte sich das eingangs Gesagte erfüllen: Europa als politische Realität als Thema zu setzen, bedeutet, nicht nur politisch ein neues Objekt zu denken, sondern den „Modus, wie Politik bisher gedacht wird“, in Frage zu stellen. Für solch einen epistemologischen Weg sollte man die Schwäche der modernen politischen Begriffe überdenken, weil sie nicht in der Lage sind, uns die Realität begreifbar zu machen und sogar nicht einmal mehr in Bezug auf das Ziel, das sie traditionell hatten, nämlich die staatliche Herrschaft zu legitimieren, tatsächlich funktionieren. Wir haben gesehen, dass es, um uns für diese Aufgabe auszurüsten, paradoxerweise relativ nützlich sein kann, ältere Modalitäten von Politik perspektivisch zu berücksichtigen, immer, wie zuvor angedeutet, unter Beachtung ihrer Andersartigkeit auf Basis eines begriffsgeschichtlichen Bewusstseins, und dieses eben nicht in den Rahmen unserer modernistischen Begriffe zu zwingen. Dies erscheint nützlich, nicht weil man 26 Eine neue Konzeption wird angeregt durch Hofmann, 2002: insb. 23. Auch bei Grimm finden wir den Verweis auf eine Verfassung, die andauernd in Veränderung begriffen ist, gegen die Dogmatik der konstituierten Herrschaft, eine Idee, die bereits deutlich beim späteren Hegel, dem Hegel der Enzyklopädie der 1830er Jahre, präsent ist (vgl. hier auch Duso, 2013b, Kap. 5). In vielerlei Hinsicht stellt das Konzept des „multilevel constitutionalism“ eine solche neue Konzeption dar, sowohl was die Verfassung betrifft, als auch den Konstitutionalismus, vgl. Pernice, 1999; ders., 2009. Die Notwendigkeit, die Herrschaft und die demokratische Legitimation neu zu denken, wurde von einem Juristen, wie Arnim von Bogdandy, und einem Philosphen, wie Jürgen Habermas, auf unterschiedliche Weise ausgedrückt. Vgl. von Bogdandy, 1999, und Habermas, 2011.

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in ihnen Modelle wieder entdeckt, zu welchen man zurückkehren könnte oder sollte, sondern weil uns damit die Relativität der modernen Begriffe deutlich wird und uns solchermaßen eine Reihe von Fragen aufzeigen. Von diesen möchte ich zumindest zwei in Erinnerung rufen. Zunächst scheint es notwendig das Recht zu überdenken und die Verbindung zwischen Recht und Staat, auf welche vorhin hingewiesen wurde. Zuallererst, weil auch die Rolle des Staates als einzige und privilegierte Quelle des Rechtes de facto in Frage gestellt ist: man denke an die internationalen Verträge und eine Reihe an europäischen Prozessen, welche die Gesetze der einzelnen Staaten bedingen, auch wenn die formellen Verfassungen der Saaten nicht verändert werden. Das Recht erscheint somit als eine höhere Dimension, die nicht auf die Entscheidung des Staates reduziert werden kann. Dadurch kommt ein Szenario erneut zum Vorschein, in welchem die politischen Subjekte als durch das Recht reguliert gedacht werden. Diese Konstellation erscheint analog zu jener der Frühen Neuzeit, die in ihrer Entstehung die Souveränität negiert hat. Aber es ist auch die erste Bewegung der oben angedeuteten Beziehung, die von den individuellen Rechten zum Staat reicht und vom Staat zum Recht als Gesamtheit der Gesetze, welche heute in Frage gestellt werden muss. Wenn die Souveränität aus der Art und Weise entsteht, wie die Politik, welche die Rechte der Einzelnen zu ihrer Grundlage macht, bisher gedacht wird, so bedeutet die Überwindung der Souveränität auch die Überwindung dieser Art, Politik zu denken. Dies bedeutet sicherlich nicht, die Menschenrechte zu verkennen, deren Erhaltung den Endzweck der Moderne ausmacht. Es bedeutet die Überwindung der mit der modernen Naturrechtslehre entstandenen Logik und gleichzeitigen Aporie, welche durch die Verabsolutierung des Einzelnen und seiner Rechte notwendigerweise und unausweichlich zum Konzept der Souveränität und damit zur vollständigen Unterwerfung des Einzelnen gelangt ist. Vielleicht muss man als Basis der Politik mehr als an die Rechte der Einzelnen (mit dem dann unausweichlichen Individualismus, welche diese Rechte von ihrer Entstehung an in sich tragen) an die Ursprünglichkeit des Verhältnisses zu dem Anderen denken, was genau die Negierung der Möglichkeit bedingt, dass der Einzelne autonom und unabhängig sein kann. Im Rahmen der ursprünglichen Verhältnisse zwischen den Menschen muss sich auch der moderne Freiheitsbegriff ändern: Es ist nicht mehr möglich, den Begriff der Freiheit als Möglichkeit zu deuten, nach eigenem Gutdünken zu agieren, solange man den Anderen dabei nicht schädigt.27 Die Ursprünglichkeit des Verhältnisses zwischen den Menschen ist nicht nur eine philosophische Idee, sondern ein Orientierungspunkt für die Aufgabe der konstitutionellen Veränderung, in der man an Verpflichtungen denkt, die nicht die schlichte Kehrseite der Rechte sind. Es verändert sich so die 27 

Ich verweise hierzu auf meine Abhandlung Duso, 2003a.

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derzeit verbreitete Art, wie man politische Realität begreift. Man denke an die Relevanz, die diese Änderung auf dem mikroskopischen Szenario unseres täglichen Lebens und dem makroskopischen der globalen Prozesse haben könnte. Auf diese Weise ist auch die Formalität der Logik zu überwinden, welche die Gesamtheit der modernen Begriffe und ihre legitimierende Funktion charakterisiert. Um an Europa und an eine neue Art von Politik zu denken, scheint es notwendig, diesen kognitiven Auslöschungsakt rückgängig zu machen, der es erlaubt hat, die historischen Privilegien zu überwinden, der aber auch dazu geführt hat, die Gerechtigkeit auf rein formale Verhältnisse zu reduzieren. Wie die Beweisführung oben gezeigt hat, ist die tatsächliche Konzipierung der Pluralität möglich, indem man an eine Regierungsinstanz denkt, die gleichzeitig an der Einheit der politischen Gemeinschaft arbeitet, aber dennoch innerhalb eines Horizonts, der die Gemeinsamkeit, die Solidarität, den Versuch, das Gerechte zu denken, möglich macht. Dies erweist sich als die wahre Aufgabe, der wir uns in dieser Zeit gegenüber sehen. Sie ist eine neue Aufgabe, die sicherlich nicht mit den Modellen der Vergangenheit angegangen werden kann. Die heutzutage am Weitesten verbreitete Meinung scheint diejenige zu sein, dass man die Art der Politik, die sich in der Moderne durchgesetzt hat, als absolut und allein Gültige ansieht, und konsequenterweise deshalb meint, dass auch auf globalem Niveau diese Relativierung der Religionen und Kulturen stattfinden müsse. Dies, so wird es vom Mainstream propagiert, sei die einzige Möglichkeit der Realisierung von Ordnung und Frieden. Die Idee jedoch, das Modell der Demokratie mit ihren formalen Prozeduren auf einen globalen Maßstab hin zu exportieren (vielleicht auch, wenn nicht anders möglich, mit Waffengewalt) ist an diese relativistische Konzeption gebunden, welche den Glauben, die Religionen, Kulturen und Traditionen in die Sphäre des Privaten verweist. Vielleicht ist eine solche Vorstellung schwach. Die – selbstverständlich schwierige – Aufgabe scheint jedoch eher die zu sein, einen Raum an Gemeinsamkeiten zu finden, der sich wirklich dadurch auszeichnet, dass hierbei die verschiedenen Kulturen, der Glaube und die Sitten einbezogen werden, indem hierbei ihre Kompossibilität in einer Existenz der gemeinschaftlichen Produktivität stattfindet. Mit diesen Andeutungen, die auf eine einigermaßen schwierige Aufgabe verweisen, kann man aufgrund des spezifischen und limitierten Blickwinkels der Begriffe, mit denen wir begonnen haben, sich die Frage stellen, wie die Europäische Union als politische Realität zu begreifen ist. Dabei kommt zum Vorschein, dass diese Aufgabe mit der viel größeren Frage nach einer neuen Art, die europäische Kultur zu denken, zusammenhängt; zugleich ist damit die Notwendigkeit verbunden, eine neue Methode und Kreativität in Bezug auf die politische Thematik zu entwickeln. Eine Erneuerung also in einem Schlüsselbereich der europäischen politischen Philosophie, für die Prinzipien des gemeinsamen Zusammenlebens und der Verfassung, also der Demokratie.

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Hasso Hofmann: Nietzsche-Zarathustras Gleichnis von den „letzten Menschen“

Heinrich Meier zum 65. Geburtstag

Nietzsche-Zarathustras Gleichnis von den „letzten Menschen“1 Von Hasso Hofmann Nietzsche-Zarathustras Gleichnis von den „letzten Menschen“ Hasso Hofmann

Abstract Masked as Zarathustra, Nietzsche speaks to the people about the apocalyptic alternatives of the „Übermensch“ and the last man. As this is not crowned with success, he then addresses his message to his companions as combatants. Yet this means a turn from eschatology to politics and paves the way to the political exploitation of Zarathustra. In this context, the figure of the last man serves as political bogeyman and cultural deterrent.

I. Zarathustra – Nietzsches Maske Zur Erinnerung: Nietzsches Zarathustra ist keine historische Gestalt, sondern eine literarische Kunstfigur, der Name einem altiranischen Mythos entlehnt. Sie erscheint in mehreren Rollen: als Prophet, als Philosoph, als Dichter, als Psychologe, als Lehrer und Erzieher und dient Nietzsche als Maske. Nicht immer ist dieses Maskenspiel freilich so vordergründig wie in den Kapiteln „Von den Gelehrten“ und „Auf dem Ölberge“. „Als ich im Schlafe lag“, sagt Zarathustra2 im Kapitel „Von den Gelehrten“,3 „da frass ein Schaf am Epheukranze meines Hauptes […] und sprach dazu: ‚Zarathustra ist kein Gelehrter mehr.‘“ Worauf der bekennt, er sei tatsächlich „ausgezogen […] aus dem Hause der Gelehrten.“ Zarathustra will frei sein. Er sagt: „Ich bin zu heiss und verbrannt von eigenen Gedanken: oft will es mir den Athem 1  Mit Nachweisen versehener Text eines Vortrags, den der Verfasser am 30. 6. 2017 in einem kleinen Kreis Würzburger Kolleginnen und Kollegen aus allen Fakultäten gehalten hat. Den Anstoß gab das neueste Werk von Heinrich Meier (Meier, 2017); denn die Lektüre weckte Erinnerungen an Diskussionen im Zarathustra-Seminar von Karl Löwith im Heidelberger Wintersemester 1955/56. 2  Alle Zitate nach der Kritischen Gesamtausgabe der Werke und der Briefe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff. 3  Nietzsche, 1968a: 156 ff.

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nehmen. Da muss ich in’s Freie und weg aus allen verstaubten Stuben.“ Die Stubengelehrten vergleicht Zarathustra mit Menschen, die die vorübergehenden Leute angaffen, weil sie „Gedanken an[gaffen], die Andre gedacht haben.“ Er weiß, warum die Gelehrten ihm „gram“ sind: „[A]ls ich bei ihnen wohnte, da wohnte ich über ihnen.“ Nietzsche, der als altphilologischer Jungstar mit 25 Jahren noch vor der Promotion und ohne Habilitation auf eine Professur in Basel berufen worden war,4 galt der Zunft der Philologen in der Tat nicht mehr als ernst zu nehmender Gelehrter, seit er mit seiner „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872) die antike Tragödie (gegen die philologischen Methoden seiner Zeit und gegen das klassische Griechenbild Winckelmanns) mit der spätromantischen Kunst Richard Wagners philosophisch verknüpft hatte.5 Nietzsches Auszug aus dem Haus der Gelehrten geschah indes nicht ganz freiwillig. Nach nur zehn Jahren musste er seine Basler Professur wegen zunehmender gesundheitlicher Beschwerden aufgeben. Seither führte er ein unstetes Wanderleben, immer auf der Suche nach einem zuträglichen Klima zur Linderung seiner Augen- und Kopfschmerzen; ein honoriges Basler Ruhegehalt macht es in bescheidenem Maße möglich. Nietzsche hatte sich als Student wohl mit Syphilis infiziert. Von dieser Geschichte samt Krankheitsverlauf gibt es bekanntlich eine berühmte Romanfassung; sie findet sich nicht von ungefähr im „Doktor Faustus“ von Thomas Mann.6 Im Sommer hielt sich Nietzsche vorzugsweise im Oberengadin auf, wo er die Vision der ewigen Wiederkunft hatte, im Winter meist an der Riviera, wo ihm nach eigenen Worten der Zarathustra „einfiel“.7 An der Riviera verbrachte die vornehme Gesellschaft Alteuropas damals gern die kalte Jahreszeit. Nietzsches Winterreisen hingegen glichen eher einer Karikatur dieser Mode. Er haust in sehr bescheidenen Herbergen und friert in einem unbeheizten Nordzimmer, weil die billiger sind. In „Ecce homo“ – seiner mit diesem Pilatuswort betitelten Selbstbiographie – hat Nietzsche davon berichtet, wie er den Winter 1882/83 in Rapallo erlebte: „[D]er Winter kalt und über die Maassen regnerisch; ein kleines Albergo, unmittelbar am Meer gelegen, so dass die hohe See nachts den Schlaf unmöglich machte, bot ungefähr in Allem das Gegentheil vom Wünschenswerthen. Trotzdem […] war es dieser Winter und diese Ungunst 4 

Dazu statt aller die Biographie von Curt Paul Janz (Janz, 1978a: 254 ff., 285 f.). Dazu ebd.: 430 ff., 465 ff. Zum Folgenden ebd.: 846 ff., 202 ff. 6  In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1919 hat er die Grundlage seiner geistigen und künstlerischen Entwicklung mit drei Namen gekennzeichnet: Schopenhauer, Nietzsche und Wagner. Zum Nietzsche-Erlebnis Thomas Manns siehe Safranski, 2000: 334 ff. Manns Romanfigur trägt ein Nietzsche-Motto im Namen: „Leverkühn“ = Lebe kühn; die Schilderung von dessen unfreiwilligem Bordellbesuch (im Roman eine Schlüsselszene) beruht im Kern auf einem peinlichen, aber harmlosen Kölner Erlebnis Nietzsches während des Bonner Studienjahrs, von dem er seinem Jugend- und Studienfreund Paul Deussen (Deussen, 1901: 24) erzählt hat. 7  Nietzsche, 1969: 335. Zur plötzlichen Vision der ewigen Wiederkunft ebd.: 333. 5 

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der Verhältnisse, unter denen mein Zarathustra entstand.“8 Im Kapitel „Auf dem Ölberge“ – unser zweites Beispiel –, einem Spottlied Zarathustras auf seine Feinde, Neider und alle Mitleidigen, diese „Neidbolde und Leidholde“, las sich das so: „Der Winter, ein schlimmer Gast, sitzt bei mir zu Hause; blau sind meine Hände von seiner Freundschaft Händedruck.“ Und es folgen Verse wie diese: „Ein geringes Bett wärmt mich mehr als ein reiches, denn ich bin eifersüchtig auf meine Armut“ und: „Wie könnten sie (sc. die Feinde, Neider und mitleidigen Freunde) mein Glück ertragen, wenn ich nicht Unfälle und Winter-Nöte und Eisbären-Mützen und Schneehimmel-Hüllen um mein Glück legte!“9 Das nennt man wohl eine „hypomanische Depressionsabwehr“.10 II. Zarathustra spricht zum Volk vom Übermenschen und vom letzten Menschen Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ ist ein antichristliches Evangelium vom ausschließlich innerweltlichen Sinn menschlichen Lebens, sein Zarathustra ein Gegenspieler des Nazareners: „Aut Christus, aut Zarathustra“, wie Nietzsche an einen Freund schrieb.11 So parodiert schon der Anfang des Buches die biblische Überlieferung,12 wonach – Lukas, Kap. 3 und 4 – Jesus mit dreißig Jahren anfing und, „voll heiligen Geistes […] vom Geist in die Wüste geführt […] [ward]“, mit einem altiranischen Mythos: „Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und […] gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit […]“13 – so wie Nietzsche im Oberengadin. Nach 10 Jahren macht Zarathustra sich auf aus den Bergen, hinab „in die Tiefe“ zu den Menschen. Auf dem Weg begegnet er einem alten Heiligen und wundert sich, dass der „in seinem Walde noch Nichts davon gehört [hat], dass Gott todt ist“,14 will sagen: dass der Glaube an Gott unglaubwürdig geworden ist. In der nächstgelegenen Stadt hat sich wegen des angekündigten Auftritts eines Seiltänzers auf dem Markt viel Volk versammelt. Zu ihm spricht Zarathustra über seine Konsequenz aus dem Tode Gottes: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das 8  Ebd.: 334 f. Dazu Nietzsches Brief an Franz Overbeck vom 25. 12. 1886: „Ein Nordzimmer ohne Ofen: habituelle blaue Finger. Was habe ich in den 7 Wintern meiner Existenz im Süden schon gefroren! Im Grunde bin ich nicht bemittelt genug, um hier zu leben; die Pensionspreise mit Südzimmern sind viel zu hoch für mich […].“ (Nietzsche, 1982a: 294) 9  Nietzsche, 1968a: 214 ff. 10  Dazu Schmücker, 2011: 201 f. 11  Nietzsche, 1982b: 436. 12  Über Nietzsches Zarathustra und die (Luther)Bibel umfassend und nuanciert Salaquarda, 2000a. 13  Nietzsche, 1968a: 5. 14  Ebd.: 8.

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überwunden werden soll“, wie denn „[a]lle Wesen bisher […] Etwas über sich hinaus [schufen].“15 Und Zarathustra fährt fort: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde“; er ist eine „Brücke und kein Zweck“.16 Also muss er seinem Leben selbst einen Sinn geben, und zwar hier in dieser seiner Welt. Gegen alle längst erledigten „überirdischen Hoffnungen“ sollen die Menschen den „Sinn der Erde“ im Übermenschen17 sehen, in ihm den „Sinn ihres Seins“ finden.18 Das verstehen die Leute natürlich nicht; das Volk verlacht Zarathustra. Nachdem er so mit seiner Lehre vom Übermenschen als Sinn des irdischen Lebens gescheitert ist, macht er einen neuen Versuch: Jetzt will er seine Hörer bei ihrem Bildungsstolz packen und spricht nun vom verächtlichsten Gegensatz des Übermenschen: vom „letzten Menschen“: Die letzten Menschen sagen von sich, dass sie das Glück erfunden haben, und blinzeln dabei in „erbärmliche[m] Behagen“,19 unfähig klar zu sehen und ein höheres Ziel ihres Lebens ins Auge zu fassen. Urbanen Komfort suchend leben sie in absoluter Gleichheit ohne Leitung und Führung bloß der Gesundheit und der Unterhaltung; selbst die Arbeit dient nur noch der Zerstreuung. Jedes Engagement wird gemieden, jeder Konflikt schnell besänftigt. Narkotika schützen vor bösen Träumen und verhelfen am Ende zu „einem angenehmen Sterben.“20 Neunmal taucht der „letzte Mensch“ hier in der Vorrede als Chiffre für das verächtliche Glück stumpfer menschlicher Selbstzufriedenheit auf. Das erinnert an die neun Seligpreisungen der Bergpredigt bei Matthäus im 5. Kapitel, die ja auch Glücklichpreisungen genannt werden könnten. Denn das griechische makários kann mit Luther als „selig“ wiedergegeben werden, aber ebenso gut mit „glücklich“, wie das die neue Genfer Bibelübersetzung tut. Die zahlenmäßige Übereinstimmung mag Zufall sein. Sachlich gibt es indes keinen Zweifel, dass Zarathustras Rede vom letzten Menschen vor allem, wenn auch nicht nur, die Glücksverheißung christlicher Sanftmut und Hoffnung in der Bergpredigt karikiert.21 Schon der erste Zarathustra-Kommentar von 1899 aus dem Hause des Leipziger Verlegers Naumann charakterisiert das Bild vom Leben der letzten Menschen so: „Das Ideal der Socialdemokratie, des Christenthums, der Modernität: Chineserei ist also erreicht; vor ihrem Richterstuhle erscheinen die einstigen aristokratischen Ideale als Trug und Irrsinn.“22 „Chineserei“, das ist für die Zeit 15 Ebd. 16 

Ebd.: 10 f. Ebd.: 8 f. 18  Ebd.: 17. 19  Ebd.: 9. 20  Ebd.: 13 f. 21  Karl Löwith (Löwith, 1987a: 468, 479) nennt den ganzen „Zarathustra“ eine „antichristliche“, eine „umgekehrte Bergpredigt“. 22  Naumann, 1899: 106. 17 

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der verächtliche Ausdruck ununterscheidbar gleichförmiger Mittelmäßigkeit. Auch Nietzsche selbst nennt den letzten Menschen in einer Nachlassnotiz „eine Art Chinese“.23 Festzuhalten bleibt: Nietzsche-Zarathustras Rede vom letzten Menschen ist keine Prophezeiung. Der dreimalige Weheruf – „Wehe! Es kommt die Zeit […]“24 – kündigt nicht nahendes Unheil an, sondern warnt vor dessen noch abwendbarem Eintritt. Er meint also: Wehe, wenn die Zeit kommt. So wie wir sagen: Wehe, du tust das! und meinen: Wehe, wenn du das tust. Wenn die Zeit des letzten Menschen käme, wäre die Geschichte der Menschheit zu Ende. Übermensch und letzter Mensch – das ist ein äußerster und letzter Gegensatz.25 Denn der letzte Mensch ist nicht mehr fähig, sich ein höheres Daseinsziel zu setzen oder – in Zarathustras Poesie – einen „Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus [zu werfen]“; er hat kein „Chaos mehr in sich“, d. h. kein schöpferisches Potential, „um einen tanzenden Stern gebären zu können“, prosaisch: um ein neues kulturelles Leitbild zu entwerfen. Der letzte Mensch ist in diesem Sinne unfruchtbar wie ein ausgelaugter Boden, auf dem kein „hoher Baum“ mehr wachsen kann. Und gerade deswegen lebt er am längsten. Aber noch, so beschwört Zarathustra das Volk, habe es Chaos in sich, noch sei sein Boden „reich genug“, „dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“26 Die Menge jedoch missdeutet die Warnung als eine Verheißung und ruft Zarathustra an: „mache uns zu diesen letzten Menschen!“ Darob ist Zarathustra traurig. Doch geht ihm „[e]in […] Licht [auf]: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten!“27 III. Abbruch und Neubeginn: Zarathustra spricht zu seinen Jüngern – Von der Eschatologie zur Politik Zu seinen Jüngern spricht Zarathustra nun nach seiner sog. Vorrede auf dem Markt zwar viel vom Übermenschen, erwähnt den letzten Menschen jedoch nicht mehr. Lediglich gegen Ende des 3. Teils, in dem Kapitel „Von alten und neuen Tafeln“, fragt sich Zarathustra: „Oh meine Brüder, verstandet ihr […] was ich einst sagte vom ‚letzten Menschen‘?“28 Aber das ist nur ein Selbstgespräch. Erst in dem als Privatdruck 1885 nachgeschobenen vierten Teil des „Zarathustra“ findet sich 23  Nietzsche, 1977: 170. Siehe auch schon Nietzsche, 1973a: 311: „[…] wir halten es schlechterdings nicht für wünschenswerth, dass das Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmässigung und Chineserei sein würde) […].“ 24  Nietzsche 1968a, 13. 25  Nietzsche, 1977: 164. Dazu Pieper, 1990: 70 ff. 26  Nietzsche, 1968a: 13. 27  Ebd.: 19. 28  Ebd.: 263.

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ein Anklang: „Der Pöbel“, heißt es dort im Kapitel „Vom höheren Menschen“, „blinzelt: ‚wir sind alle gleich‘.“29 Und den „kleinen Leuten“ wird nachgesagt, sie würden nicht müde zu fragen: „wie erhält sich der Mensch, am besten, am längsten, am angenehmsten?“ Damit seien sie die „Herrn von heute“ und „des Übermenschen grösste Gefahr!“30 Im Übrigen aber verschwindet der letzte Mensch als Endzeit-Figur nach Zara­ thustras an das Volk gerichteter Rede. In der Tat ist dieses Schreckens- und Ekel­ bild funktionslos geworden; denn das Volk ließ sich dadurch nicht motivieren, und die Gefährten folgen ihm ja bereits aus eigenem Antrieb, müssen also nicht erst aufgestört werden. Mit dem Verzicht auf jenes Bild und mit der neuen Adressierung der Rede Zarathustras verwandelt sich die Szene und ändert sich die Botschaft. In den Vordergrund tritt der Gedanke der Entwicklung – nach Nietzsche übrigens Hegels, nicht Darwins „Neuerung von entscheidender Bedeutung“. Ausgemalt werden jetzt die enormen Schwierigkeiten des Weges. Äußerlich angesprochen war der Evolutionsgedanke schon in der Vorrede, als Zarathustra das Volk an seinen „Weg vom Wurme zum Menschen“ erinnerte und das Verhältnis von Mensch und Übermensch mit dem von Affe und Mensch verglich. Aber jetzt, den Jüngern zugewandt, geht es um die innere Triebkraft der aufsteigenden Entwicklung. Und diese sei das Leben selbst als Wille zur Macht, als „unerschöpfte[r] zeugende[r] Lebens-Wille“.31 In dem großen Kapitel „Von der Selbst-Ueberwindung“ offenbart Zarathustra: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht […]“.32 Und das Leben selbst habe es ihm verraten: „Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.“33 Folglich ist klar: Als schöpferisch Schaffende müssen die Gefährten Kämpfer werden für neue Wertsetzungen, zugleich damit freilich auch Zerstörer, welche die alten Werte – „Tafeln“ sagt Zarathustra in Anspielung auf die mosaischen Gesetzestafeln – zerbrechen.34 Kurzum: Erziehung, Kulturkritik und Politik35 statt Eschatologie. Oder salopp formuliert: Wegebeschreibung statt Zielbestimmung. Je näher der Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen in den Schlusspassagen des „Zarathustra“ rückt, desto mehr verblasst der Begriff des Übermenschen.36 Und wenn sich alles ewig wiederholt, kann es natürlich auch keinen endgültig letzten Menschen ge29 

Ebd.: 352. Ebd.: 354. 31  Ebd.: 143. 32 Ebd. 33  Ebd.: 144. 34  Ebd.: 82, 222. 35  Zu den politischen Elementen im Werk Nietzsches im Überblick siehe Hofmann, 1987. Umfassend Ottmann, 1987. 36  Vorzügliche Exposition der Problematik des Verhältnisses beider Lehren bei Müller-Lauter, 1971. 30 

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ben. Nach dem Zarathustra-Buch verschwindet mit der Endzeitfigur des letzten Menschen auch der Begriff des Übermenschen aus den Texten Nietzsches fast ganz, woraus sich ergibt, dass letztlich dem Wiederkunftsgedanken die zentrale Bedeutung zukommt.37 Die ursprüngliche Alternative – letzter Mensch oder Übermensch zur Kennzeichnung der Richtungen zweier gegensätzlicher Bewegungen: der massengesellschaftlichen Nivellierungstendenz und Nietzsches eigener „Bewegung“ zur „Verschärfung aller Gegensätze“38 – wird von der antiken Vorstellung ständischer Schichtung von höheren Menschen stärkerer Art, von neuem Adel und der ihn tragenden Gesellschaft nivellierter, „verkleinerter“, auf die Ökonomie reduzierter Durchschnittsmenschen verdrängt. In diesem Sinne sagt Zarathustra am Ende des 1. Teils, seine Gefährten im Sinne eines neuen Bundes, sozusagen eines neuen Testaments, als Brüder anredend: „[Ü]ber der ganzen Menschheit waltete bisher noch der Unsinn, der Ohne-Sinn. – Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der Erde […] und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt! Darum sollt ihr Kämpfende sein! Darum sollt ihr Schaffende sein!“39 Und es folgt die Verheißung: „Ihr Einsamen von heute […] sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: – und aus ihm der Übermensch.“40 Das klingt anders als Zarathustras Vorrede, die den Übermenschen als „Blitz“ aus der „dunklen Wolke Mensch“, mithin als plötzliche, erleuchtende und versengende Erscheinung bezeichnete.41 Die Aufforderung, sich selber auszuwählen für ein elitäres Volk sozusagen auf einer Stufe unterhalb des Übermenschen, wiederholt sich gegen Ende des Kapitels „Von alten und neuen Tafeln“ im 3. Teil (und damit kurz vor Schluss der ursprünglichen Konzeption des „Zarathustra“)42 in dem 37 

So schon Abel, 1984: 249. Fragment aus dem Frühjahr 1883. Nietzsche, 1977: 252. 39  Nietzsche, 1968a: 96. 40  Ebd.: 96 f. 41  Vgl. ebd.: 10, 17. 42  Was das umstrittene Verhältnis des 4. Teils zu den vorangegangenen drei Teilen betrifft, so hält der Verfasser Nietzsches authentische Interpretation in „Ecce homo“ (Nietzsche, 1969: 333 – 347) für maßgeblich. Dort bezeichnet Nietzsche den 3. Teil ausdrücklich als „letzten“, die ersten drei Teile als „Ganzes“ und den „Ewigen-Wiederkunfts-Gedanke[n]“ – nicht deren Lehre! – als „Grundconception“ des Werks, das „durchaus für sich [steht]“, weil die drei „Zehn-Tage-Werke“ (= die ersten drei Teile) sich einer von Nietzsche außerordentlich eindringlich geschilderten dichterischen „Inspiration“ verdanken, die dem 4. Teil ganz offenkundig abgeht. Dazu stimmt, dass der 3. Teil mit dem „Ja- und Amen-Lied“ schließt und die letzte von Nietzsche selbst autorisierte Ausgabe des „Zarathustra“ von 1887 nur die ersten drei Teile umfasst. Dem entspricht auch Nietzsches briefliche Mitteilung an Heinrich Köselitz vom 1. Febr. 1884, dass sein „Zarathustra“ mit dem Abschluss des 3. Teils „ganz fertig“ sei (Nietzsche, 1982c: 473). Eindeutig schließlich der Brief an Franz Overbeck vom 6. Febr. 1884 kurz nach Vollendung des 3. Teils (Nietzsche, 1981: 475): „[…] wenn Du aus dem Finale ersehen wirst, was mit der ganzen 38 

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Postulat eines neuen Adels, der sich vom „Pöbel“ abhebt.43 Im angestückten 4. Teil des „Zarathustra“ kommentiert sich Nietzsche dann unter dem Titel „Vom höheren Menschen“ mit scharfen Attacken gegen den Gleichheitsgrundsatz und unterstreicht die Notwendigkeit der Absonderung.44 Der neue Adel, die höheren Menschen sind offenkundig als geistige Elite gedacht, als eine Art Orden, nicht als Herrscher. Im Nachlass findet sich dazu die folgende Notiz: „Es ist durchaus nicht das Ziel, die letzteren [sc. die höheren Menschen] als die Herren der Ersteren [sc. der kleinen Leute] aufzufassen: sondern: es sollen zwei Arten nebeneinander bestehen – möglichst getrennt; die einen wie die epikureischen Götter, sich um die andere nicht kümmernd.“45 Zugleich mit der Abkehr vom Volk wie von der Endzeitalternative Übermensch/letzter Mensch und mit der Hinwendung zu den Jüngern lenkt Zarathus­ tra deren Blick, wie erwähnt, auf den Weg mit seinen Hindernissen. Er spricht von „Treppen des Übermenschen“46 und weist auf die Widersacher hin: die schläfrigen Tugendprediger und die leibfeindlichen „Hinterweltler“ wie überhaupt alle Verächter des Leibes und dessen Vernunft, will sagen: dessen Instinkten. Hauptsächlich aber steht den Jüngern „der Gute“ im Wege, der „Altes will […] und dass Altes erhalten bleibe“.47 Das Kapitel „Von tausend und Einem Ziele“ rückt das Problem in eine universalhistorische Perspektive. Die Eingangsworte des Kapitels parodieren den Anfang von Homers „Odyssee“: „Viele Länder sah ZarathustSymphonie eigentlich gesagt werden soll (– sehr artistisch und schrittweise, wie man etwa einen Thurm baut) – so wirst auch Du, mein alter treuer Freund, einen heillosen Schrecken und Schauder nicht überwinden können.“ Was kann das anderes heißen, als dass der ganze „Zarathustra“ auf die schreckliche Einsicht in die ewige Wiederkehr zuläuft? Dass Nietzsche einen vierten Teil als Privatdruck nachgeschoben hat, war nicht einem früheren Gliederungsplan geschuldet, sondern diente unter neuerlicher Verwendung der Maske Zarathustras (die Nietzsche gelegentlich sogar für einen 5. und einen 6. Teil in Betracht gezogen hat) in mehrfacher Hinsicht der (polemischen) Selbstvergewisserung und der Selbstverständigung über seine prophetische oder philosophische Mission in der Versuchung durch das Mitleid mit den „höheren Menschen“, die aber eben noch keine Übermenschen sind. Deutet man den vierteiligen Zarathustra indes insgesamt als einen solchen Prozess der Selbstverständigung, wie das H. Meier tut (Meier, 2017: 161 ff., 225 ff.), dann mögen die vier Teile als ein Ganzes auf der Grundlage eines nicht konsequent durchgeführten Konzepts erscheinen. Vgl. zum Problem auch Ottmann, 2000: 47 – 67 und Salaquarda, 2000b: 69 – 92. Aufschlussreich auch die musiktheoretisch inspirierte Analyse bei Janz, 1978b: 211 – 221. 43  Nietzsche, 1968a: 250 f. 44  Ebd.: 352. 45  Nietzsche, 1977: 252. Dass die Götter nach Epikur „um irdische Dinge wenig sich kümmern“, hat Lukrez in seinem Lehrgedicht „De rerum natura“ (Lucretius, 1831: 84/85 (V)) überliefert. 46  Nietzsche, 1968 a: 20. 47  Ebd.: 49.

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ra und viele Völker: so entdeckte er vieler Völker Gutes und Böses. Keine größere Macht fand Zarathustra auf Erden als Gut und Böse.“48 Und dann folgt auch noch eine Anspielung auf Blaise Pascals „Gedanken“ über die Relativität allen Rechts: „Vieles fand ich hier böse genannt und dort mit purpurnen Ehren geputzt“.49 Die jeweiligen Wertschätzungen hängen wie eine „Tafel der Güter […] über jedem Volke“.50 Nur in deren Bewahrung manifestieren sich Einheit und Lebenswille eines Volkes. Der Menschheit als solcher jedoch fehlt noch „das Eine Ziel“. Aber wenn das so ist, fragt Zarathustra, fehlt dann nicht auch die Menschheit selber noch? Gibt es die Eine Menschheit überhaupt?51 Eine schicksalsschwere Frage und ein aktuelles Problem der universalen Geltung von Menschenrechten europäisch-nordamerikanischer Herkunft. Komplement dieser quasi horizontalen Destruktion der „einen“ Menschheit – des Erbes der Aufklärung – ist Nietzsches gewissermaßen vertikale Auflösung des Begriffs durch seine antikisierende Behauptung einer natürlichen Rangordnung zweier Arten von Menschen. Das schon erwähnte außerordentlich umfangreiche Kapitel des 3. Teils „Von alten und neuen Tafeln“ nimmt das Thema der individuell wie kollektiv lebensbestimmenden Schätzungen von Gut und Böse noch einmal auf und zieht die Konsequenzen. Die „alten Tafeln“ müssen zerbrochen, namentlich der „alte Wahn“ von Gut und Böse zerstört werden. Dahin geht Zarathustras wiederholte dringliche Aufforderung an die Jünger.52 Und mit den alten Tafeln müssen deren Hüter und Bewahrer fallen. Das sind die Guten und Gerechten. Sie, die mit dem besten Gewissen den Status quo verteidigen, erscheinen als die „größte Gefahr aller Menschen Zukunft“.53 Denn sie glauben zu wissen, was gut und gerecht ist, 48  H. Meier macht darauf aufmerksam (Meier, 2017: 37, n. 41), dass Nietzsches Homer „kai nóon égno im Sinne der Konjektur [liest], die nóos durch nómos ersetzt.“ Diese Lesart hat später auch Carl Schmitt bevorzugt. 49  Dazu Petersen, 2015: 88. Dieses Buch eines Juristen scheint mit seinem Titel („Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit“) eine Darstellung der bislang verkannten Genialität von Nietzsches Rechtsphilosophie zu versprechen. Die im Buchtitel aus „Menschliches, Allzumenschliches“ (I Nr. 636) entlehnte Wendung „Genialität der Gerechtigkeit“ (Nietzsche, 1967: 373) meint dort die schier übermenschliche, eben geniale Fähigkeit, die Dinge vollkommen unvoreingenommen von allen Seiten zu beleuchten. Nietzsches Genialität wissenschaftlicher (Sach)Gerechtigkeit steht also im Gegensatz zur philosophischen, politischen und künstlerischen Genialität einerseits und zu allen auf Glauben und Überzeugungen beruhenden genialen Lehren andererseits. Mit dem, was man gemeinhin unter Gerechtigkeitsphilosophie versteht, hat das alles nichts zu tun. So kommt denn auch Petersen am Ende zu dem Schluss: „Durch die Ablehnung der Rechtsgleichheit und die kategorische Leugnung eines Naturrechts entfernt er [Nietzsche] sich jedoch denkbar weit von der ihm vorschwebenden ‚Genialität der Gerechtigkeit‘ […]“ (Petersen, 2015: 218) – in der Tat. 50  Nietzsche, 1968a: 70. 51  Vgl. ebd.: 72. 52  Ebd.: 247, 249, 253, 263. 53  Ebd.: 261.

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und verfolgen daher die, welche noch suchen, hassen die „Schaffenden“, welche neue Lebensentwürfe kreieren, „kreuzigen Den, der neue Werthe auf neue Tafeln schreibt“, und kreuzigen damit die Zukunft der Menschen selbst. Damit sind die Guten und Gerechten „immer der Anfang vom Ende.“54 Genau an dieser Stelle, wo die Endzeitperspektive, die Möglichkeit des Verlustes aller schöpferischen Kräfte, angedeutet wird, erinnert Zarathustra mit dem schon eingangs zitierten Vers an seine Rede vom letzten Menschen und wiederholt – im Druck hervorgehoben – seine Beschwörung: „Zerbrecht, zerbrecht mir die Guten und Gerechten!“55 Um deswillen stellt Nietzsche-Zarathustra über seine „Brüder“ „[d]iese neue Tafel […] werdet hart!“56 IV. Politisch-ideologische Ausbeutung des „Zarathustra“ Diese Imperative des Hart-Werdens und des Zerbrechens von Wertetafeln und Menschen stehen im „Zarathustra“ nicht allein. Dasselbe Kapitel „Von alten und neuen Tafeln“ enthält auch den berühmt-berüchtigten Satz: „[W]as fällt, das soll man auch noch stossen!“57 und die Sentenz: „An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen“.58 In diesen Zusammenhang gehören zudem natürlich die von Banalisierung und Barbarisierung bedrohten Parolen der „Zucht und Züchtung“ höherer Menschen und vom „hinauf “- statt vom bloßen „fort“-pflanzen wie der Wunsch: „So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den Einen, gebärtüchtig das Andere“59 und überhaupt die vielen kriegerischen Töne des „Zarathustra“. Zum Beispiel heißt es im Kapitel „Vom Krieg und Kriegsvolke“: „Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt. […] Krieg und […] Muth haben mehr grosse Dinge getan als die Nächstenliebe.“60 Provokant wirkten bekanntlich weiter die Schlagworte vom Übermenschen und vom Willen zur Macht. Dieser letztgenannte Begriff erscheint im „Zarathustra“ zwar nur dreimal, jedoch jeweils an sehr prominenter Stelle. Zum ersten Mal tritt er in der schon erwähnten universalhistorischen Betrachtung „Von tausend und Einem Ziel“ des 1. Teils als Ausdruck des Selbstbehauptungs- und Machtstrebens der Völker auf, sodann im 2. Teil im Kapitel „Von der Selbstüberwindung“ als Prinzip der Selbststeigerung allen Lebens – auch davon sprachen wir schon – und schließlich unter der Überschrift „Von der Erlösung“ als der auch noch das, was bereits geschehen ist, einschließende und 54 

Ebd.: 262. Ebd.: 263. 56  Ebd.: 264. 57  Ebd.: 257. 58  Ebd.: 255. 59  Ebd.: 260. 60  Ebd.: 55. 55 

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dadurch im Kreislauf alles ewig Wiederkehrenden sich von sich selbst erlösende Wille.61 Ursprünglich hatte Nietzsche ein Prosa-Hauptwerk mit dem Titel „Der Wille zur Macht“ geplant, zu dem der Zarathustra nur die „Vorhalle“ bilden sollte. Am Ende hat er dieses mehrfach variierte Vorhaben jedoch aufgegeben. Das nun – im letzten halben Jahr vor dem geistigen Zusammenbruch – in Angriff genommene Hauptwerk sollte den Titel „Umwertung aller Werte“ tragen.62 Aus der Nachlassmasse der einschlägigen Aphorismen ist im Nietzsche-Archiv auf Betreiben der ehrgeizigen Schwester Nietzsches dessen „Hauptwerk“ kompiliert und nach Nietzsches Tod unter dem Titel „Der Wille zur Macht – Versuch einer Umwertung aller Werte“ publiziert worden.63 Diese recht willkürliche Zusammenstellung war seinerzeit sehr erfolgreich. Der aus Nietzsche herausgelesene philosophische Vitalismus beflügelte alsbald alle Arten antibürgerlicher Lebensphilosophie und inspirierte auch jene „Nietzscheaner“, die Nietzsche gar nicht gelesen hatten.64 Zu Beginn des 1. Weltkriegs war Nietzsche so populär, dass während des 1. Weltkriegs mit 165.000 Stück mehr Exemplare des „Zarathustra“ verkauft wurden als in den 30 Jahren vorher.65 Es kam die Redensart auf, dass „jeder Soldat den ,Zarathustra‘ im Tornister trage“ (den er übrigens mit der Bibel und Goethes Faust teilte). Es sollen sogar Feldpredigten über Zarathustra-Verse gehalten worden sein. Mit alledem ist zugleich der Nährboden angedeutet, auf dem die einseitige und banalisierende Ausbeutung durch NS-Ideologen gedieh. Vorbereitet war sie durch ein Reclam-Bändchen aus dem Jahre 1931. Es trägt den Titel „Nietzsche, der Philosoph und Politiker“ und stammt von Alfred Baeumler,66 damals Philosophieprofessor in Dresden, 1933 auf den neuen Lehrstuhl für politische Pädagogik nach Berlin berufen, dort nebenbei Abteilungsleiter im Amt Rosenberg,67 ab 1941 Leiter 61  Ebd.:

177. Dazu Montinari, 1980: 345 f. 63  Zuerst 1901, in erweiterter und dann „kanonisierter“ Fassung 1906. Dazu Montinari, 1980: 347 f.; zuletzt drastisch Niemeyer, 2009: 349 ff. 64  Stern, 1992: 181 ff.; Safranski, 2000: 330 ff. 65  Nach Zapata Galindo, 1999: 20. Dazu Vaihinger, 1930: 9: „Das Bedürfnis ungezählt Vieler, ein konzentriertes Buch von hohem geistigen Gehalt ins Feld mitzunehmen, hat erfahrungsgemäß dazu geführt, daß neben der Bibel und neben Goethes ‚Faust‘ Nietzsches ‚Zarathustra‘ am meisten von unseren Soldaten mitgenommen worden ist. Diesem Bedürfnis ist auch eine eigene Feldausgabe von Nietzsches ‚Zarathustra‘ entgegengekommen.“ Reißenden Absatz fanden auch die „Nietzsche-Worte – Weggenossen in großer Zeit“ (Itschner, 1915). 66  Die Baeumler-Zitate beziehen sich auf diese Erstausgabe von 1931; es folgten zwei weitere Auflagen; dazu Zapata Galindo, 1999: 61 ff., 74 f., 77 f., 84 f., 87 f. Zum Folgenden vorzüglich Riedel, 1997: 127 ff. 67  Bollmus, 1970: 68. 62 

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der Parteihochschule. Was zunächst die Philosophie Nietzsches betrifft, so konstruiert Baeumler68 aus dem im Nietzsche-Archiv hergestellten „Hauptwerk“ umsichtig und mit bemerkenswertem schriftstellerischen Geschick ein einheitliches, folgerichtiges System, muss allerdings die angeblich religiöse Lehre von der ewigen Wiederkunft – immerhin eines der beiden Hauptthemen, wenn nicht gar als philosophisch-naturwissenschaftlicher „Ersatz für den Unsterblichkeitsglauben“69 die Botschaft des „Zarathustra“70 – , weil nicht integrierbar, als philosophisch „ohne Belang“ beiseitelassen. Als Hauptmotiv erscheint nach jener Amputation der „heroische Realismus“ der „heraklitischen Weltsicht“, wonach doch der „Krieg der Vater aller Dinge“ sei.71 Im zweiten, dem politischen Teil von Baeumlers Text kehrt die vermeintlich heraklitische Weltsicht als Nietzsches angeblich stammesverwandter „Germanismus“, als „germanische Grundhaltung“ wieder.72 Diese Wendungen sollen den Untergrund des deutschen, durch orientalische Einflüsse, namentlich das Christentum, bedauerlicherweise verformten Wesens bezeichnen.73 Nach Nietzsches ‚germanischer‘ Auffassung sei der Staat dort, „wo Größe ist, wo ein kühner Führer über streitbare Männer gebietet und weitgesteckten Zielen nachjagt“.74 Nietzsche, angeblich der einzige wesensverwandte und ebenbürtige Gegenspieler Bismarcks,75 habe dafür ein Symbol gehabt: Richard Wagners Siegfried: frei, hart, gesund, wohlgemut, verwegen und antikatholisch.76 Manche Zeitgenossen ließen sich von Baeumler außerdem gerne sagen, dass es nach wie vor Aufgabe der Deutschen sei, Europa durch „große Politik“ zu führen,77 auch, dass „der deutsche Staat der Zukunft […] geschaffen werde aus dem Geiste Nietzsches und dem Geist des Großen Krieges“.78 Nebenbei behauptet der Verfasser, Nietzsche sei den Juden „im Innersten abgeneigt“ gewesen.79 Die Wahrheit ist, 68  Nach dem Urteil seines nachmaligen Berliner Universitätskollegen Carl Schmitt von 1932 „ein überaus schlauer und pfiffiger Kerl“ (Mehring, 2009: 257). 69  Fragment aus dem Herbst 1883 über die mögliche Wirkung seiner Lehre in: Nietzsche, 1977: 547. 70  Dazu maßgeblich Löwith, 1987b: 100 – 384. Siehe jetzt Riedel, 2012. 71  Heraklits „pólemos pánton mèn patér esti“ (Frg. 53; Heraklit 1966: 162) ist allerdings ein kosmologischer Satz, wonach die Dinge im Streit einander erleidend allererst werden, was sie sind – keine Verherrlichung des Krieges; dazu Buchheim, 1994: 75 ff. 72  Baeumler, 1931: 17, 49, 67; massiv 88 f. 73  Ebd.: 165. 74  Ebd.: 181. 75  Zu Nietzsches Bismarck-Kritik siehe schon Hofmann, 1971. Mit Blick auf Nietzsches Kulturphilosophie jetzt eindringlich Riedel, 2003. 76  Baeumler, 1931: 148. 77  Ebd.: 166, 172, 182. 78  Ebd.: 183. 79  Ebd.: 158.

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dass Nietzsche ungeachtet seiner – stets mit Bewunderung gemischten – Kritik an den Juden, denen er insbesondere den sog. Sklavenaufstand der Moral anlastete,80 die Antisemiten zutiefst verabscheute. Das wirkt bis in die Wahnvorstellungen des beginnenden geistigen Zusammenbruchs hinein. So schreibt er Anfang Januar 1889 in einem Brief an seinen treuen Basler Freund, den Theologen und Kirchenhistoriker Franz Overbeck:81 „Ich lasse eben alle Antisemiten erschießen.“82 V. Die letzten Menschen als politisches Feindund als kulturelles Schreckbild Nach 1933 richtete Baeumler Nietzsche pauschal auf Hitler aus: „[A]us Feuer und Blut des großen Krieges ist der Nationalsozialismus geboren – er weist rückwärts auf die gewaltige Tat- und Opfergemeinschaft unseres Volkes, auf das größte Ereignis unserer Geschichte. Nietzsche aber weist aus seiner Zeit heraus vorwärts auf dieses Ereignis“; und: „[W]enn wir [der] Jugend zurufen: Heil Hitler! – so grüßen wir mit diesem Rufe zugleich Friedrich Nietzsche.“83 Trotz vielfacher ideologischer Schlagwort-Ausbeutung84 war Baeumlers nationalsozialistische Interpretation Nietzsches unter den NS-Ideologen jedoch durchaus umstritten.85 Sein Konkurrent Ernst Krieck, der mit den mehr als 20 Auflagen seiner „Nationalpolitischen Erziehung“ von 193286 zumindest anfangs eine „beherrschende Stellung in der nationalsozialistischen Pädagogik“ hatte,87 soll seine Kritik ironisch so resümiert haben: „Nietzsche war Gegner des Sozialismus, Gegner des Nationalismus und Gegner des Rassegedankens. Wenn man von diesen drei Geistesrichtungen absieht, hätte er vielleicht einen hervorragenden Nazi abgegeben.“88 Breite Zustimmung fand nur der sog. „heroische Realismus“ Nietzsches, der, nächst der heftigen Polemik gegen den Gleichheitsgedanken Rousseaus, wie über die Partei hinaus die rechtskonservative Opposition gegen Weimar inspirierte. Als verbindendes Element kam der gemeinsame Kampf gegen das hinzu, was man im Glauben an die Überlegenheit der eigenen „Kultur“ abschätzig die

80 

Dazu klassisch Scheler, 2017. Zur Freundschaft mit Overbeck siehe Janz, 1978a: 358 ff. 82  Nietzsche, 1984: 575. 83  Baeumler, 1937: 282, 294. 84  Dazu im Einzelnen Zapata Galindo, 1999: 71 ff. 85  Dazu das „Fazit“ der Kieler phil. Diss. von Langreder, 1971: 125 ff.; Riedel, 1997: 127 ff. 86  Hier zit. nach der 20. Aufl. von 1936. Siehe auch ders., „Nationalsozialistische Erziehung“ (Krieck, 1935), das Heft ist eine Art Schulungsbrief. 87  Lingelbach, 1969: 180. Dazu Hojer, 1997: 125 ff. 88  Zit. nach Langreder, 1971: 160. Siehe auch von Liebig, 1928. 81 

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westliche „Zivilisation“ nannte. Als Chiffre dafür diente Nietzsches Gleichnis von den letzten Menschen. Im „Typus des letzten Menschen“, betont Baeumler, habe Nietzsche all’ das „dargestellt“, was er bekämpfte: die „zunehmende Angleichung, Vermittelmäßigung und Verkleinerung des europäischen Menschen“. 89 Und dagegen gebe es nur „ein Gegenmittel: die Gefahr und den Krieg“90 – den „zeitweilige[n] Rückfall in die Barbarei“ ausdrücklich eingeschlossen.91 Denn dem letzten Menschen in seinem blinzelnden zivilisatorischen Behagen, seinem Glück ohne jede Anstrengung, seiner weitgehend konfliktfreien Welt bloßer Unterhaltung fehle jeder Lebensernst. Im völkischen, mehr oder weniger auch antisemitischen „Alldeutschen Verband“ hieß dieser Verzicht auf Machtpolitik samt Reduktion des Staates auf ‚Wirtschaft und Kultur‘ seinerzeit verächtlich die „Verschweizerung des deutschen Volkes“.92 Von besonderer Tragweite ist indes das, was Baeumler im Anschluss an Nietzsche über Individualismus, Menschheit und Humanität äußert: „Die Herrschaft der Toleranz und der moralischen Ideen, der Vernunft und des Mitleids, kurz der ‚Humanität‘ führt zur Inhumanität“.93 Den Grund dafür sieht er in dem, was man den Individualismus der Aufklärung nennt. Denn – und nun macht er aus dem nagenden Zweifel Zarathustras94 eine These – die „Gattung Mensch als geschichtliche Einheit“ gebe es nicht.95 Der „Einzelmensch […] entstamm[e] […] nie der Menschheit, sondern stets eine[r] konkreten Einheit“ im Gegensatz zu anderen „konkreten Einheiten“ wie Rasse, Volk oder Stand.96 Mit dieser Sicht stand Baeumler natürlich nicht allein. Pointierter, mit breiterer und nachhaltigerer Wirkung hat sie ein anderer Autor derselben Generation propagiert: der berühmt-berüchtigte Weimarer Staatsrechtler Carl Schmitt. In seinem genialischen „Begriff des Politischen“97 heißt es: „Menschheit ist kein 89 

Baeumler, 1937: 172.

90 Ebd. 91  Ebd.:

170. Von Liebig, 1928: 5. Übrigens wurde dieser Enkel des berühmten Nobelpreisträgers Liebig aus dem Alldeutschen Verband ausgeschlossen, als ruchbar wurde, dass eine seiner Urgroßmütter eine konvertierte Jüdin war. Ernst Krieck (1938: 29) hat den Ausdruck „Verschweizerung“ gegen Nietzsche selbst gekehrt: er sei nämlich „streckenweise dem Positivismus und dem Darwinismus, der antideutschen Verschweizerung und dem ‚guten‘ Europäertum [verfallen].“ Nicht genug tun, Nietzsches reichsfeindliche „Verschweizerung“ zu geißeln, konnte sich Steding, 1943: passim. 93  Baeumler, 1937: 79. 94  Siehe in diesem Aufsatz Teil III, Ende. 95  Baeumler, 1937: 178 ff. 96  Baeumler, 1937: 179. 97  Zuerst in „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (Schmitt, 1927), Teilabdruck in „Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles“ (Schmitt, 1988a [1940]), zitiert wird nach der erweiterten Fassung (Schmitt, 1932). Zu einer 92 

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politischer Begriff, ihm entspricht auch keine politische Einheit oder Gemeinschaft und kein Status.“98 Dabei bedeutet „politisch“ bei Schmitt bekanntlich die buchstäblich todernste Unterscheidung von Freund und Feind durch potenziell todes- und tötungsbereiter Menschengruppen, deren Einheit da ist oder nicht da ist.99 Und ausgerechnet in seinem Vortrag auf der Jubiläumstagung der Kant-Gesellschaft 1929 nannte er die politische Verwendung des Menschheitsbegriffs einen „Universalbetrug“,100 im „Begriff des Politischen“ später ein „ideologisches Instrument […] des ökonomischen Imperialismus“.101 Dagegen setzte er seine These vom politischen „Pluriversum“102 „konkreter“ Ganzheiten.103 In einer Welt ohne die Eventualität einer Unterscheidung von Freund und Feind – hier ist man versucht mit Zarathustra „Wehe“ zu rufen – gäbe es nur noch „Kultur, Zivilisation, Wirtschaft, Moral, Recht, Kunst, Unterhaltung“,104 aber keinen „Ernstfall“105 mehr. „[A]lle echte[n] politische[n] Theorien“ setzten den Menschen indes als „böse“ voraus. Und das nicht in dem herkömmlichen Sinn der Herrschaftsbedürftigkeit wegen seiner moralischen Schlechtigkeit, sondern im Sinn seines gefährlichen Wesens.106 Auch das klingt nach Zarathustra. Hatte der doch gelehrt, dass der schöpferische Mensch allemal auch „böse“ sei: „Je mehr er [der Mensch] hinauf in die Höhe und Helle will, umso stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, ins Dunkle, Tiefe – ins Böse.“ 107 „Also gehört das höchste Böse zur gewissen Nietzsche-Affinität Schmitts schon Hofmann, 2010 [1964]: 98 f., 105 f. Am weitesten ging in diesem Punkt Armin Mohler, der über der ganzen „Konservativen Revolu­ tion“ von Hans Freyer bis Hans Zehrer, Schmitt eingeschlossen, „Nietzsches Gestalt“ sah (Mohler, 1950: 118). Nicht zufällig hat Günter Maschke, leidenschaftlicher Verehrer Carl Schmitts, eine Übersetzung des Nietzsche-Buches von J. P. Stern (Stern, 1982) mit dem Untertitel „Die Moralität der äußersten Anstrengung“ in seine Reihe „Edition Maschke“ aufgenommen; denn die Formel lässt sich äußerlich gesehen auf den Immoralismus des Schmitt’schen Begriffs des Politischen (dazu Hofmann, 2010: 105) ebenso anwenden wie auf denjenigen Nietzsches. 98  Schmitt, 1932: 55. 99  Dazu Hofmann, 2010: 122. Spötter nannten das seinerzeit politischen Dadaismus. 100  Schmitt, 1988b: 143. 101  Schmitt, 1932: 55. 102  Dazu Hofmann, 2003. 103  Schmitt, 1988b: 143. 104  Schmitt, 1932: 54. 105  Zu diesem Schlüsselbegriff Schmitt, 1932: 35; diese Verwendung weist auf § 324 der Rechtsphilosophie Hegels zurück: „Der Krieg als der Zustand, in welchem mit der Eitelkeit der zeitlichen Güter und Dinge […] Ernst gemacht wird […]“ (Hegel, 1962: 280). 106  Schmitt, 1932: 61. 107  Vgl. ebd.: 43. In seiner Weihnachtsgabe für Cosima Wagner von 1872 – Homer’s Wettkampf – war das noch eine experimentierende Erwägung gewesen: „Der Mensch in seinen höchsten und edelsten Kräften ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter in sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltende Befähigungen sind

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höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische.“108 Bleibt nachzutragen, dass Carl Schmitt auch den bei Nietzsche auf die Einigung Europas gemünzten Ausdruck „große Politik“ verwendet, um seinerseits jedoch den existenziellen Ernstfall zu unterstreichen: „Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich […] theoretisch und praktisch in der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird.“109 War Nietzsche nach alledem ein „Protofaschist“? Dieses linke Schimpfwort aus der alten Bundesrepublik wurde seinerzeit in der DDR von den Parteiphilosophen der SED begierig aufgenommen, um die in Westdeutschland ausgemachte „Nietzsche-Renaissance“ als Zeichen des faschistischen Charakters der sog. BRD anzuprangern.110 Aber gerade in jener Beschwörung des Lebensernstes gegen die Welt der letzten Menschen, in diesem Punkt scheinbar größter Nähe tritt der fundamentale Unterschied der Intentionen zu Tage: Baeumler wie Schmitt zielen gegen Pazifismus und Liberalismus, heben auf die Tötungs- und Todesbereitschaft von Kampfgemeinschaften ab und relativieren von daher nicht nur Zivilisation, Wirtschaft, Kunst und Unterhaltung, sondern – so ausdrücklich Schmitt – auch die Kultur. Für Nietzsche dagegen meint der Ernst des Lebens bei allen martialischen Tönen stets die äußerste Anstrengung schöpferischer Aktivität gegen eine konfliktscheue zivilisatorische Konsumwelt, bedeutet also die Schaffung neuer kultureller Werte durch das sich selbst steigernde Leben auf Kosten der alten „Tafeln“. Kurzum: Das Glück der letzten Menschen steht auf der einen Seite für den Verlust der kämpferisch-politischen Identität, auf der anderen Seite für den Verlust der kulturellen Potenz. Und wo das Böse im Menschen thematisiert wird, da geht es beim politischen Existenzialisten Schmitt um die angeblich „echten“ politischen Theorien, die im Blick auf die Erhaltung der je eigenen Art ganz vordergründig an der Möglichkeit des tödlichen Ernstfalls Krieg Maß nehmen, bei dem vom „dionysischen Untergrund der Welt“ bewegten und vom Geist der Renaissance inspirierten Kulturphilosophen Nietzsche um den – freilich allemal auch gewalttätigen – Urgrund des Schöpferischen. Und weil dieser Schöpfungsprozess durch Gegensätze, letztlich biologisch durch den Steigerungswillen des Lebens – genannt „Wille zur Macht“ – angetrieben wird, ginge mit einer effektiven Weltfriedensordnung nach Nietzsches abgründiger Philosophie nicht nur

vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem alle Humanität in Regungen, Taten und Werken hervorwachsen kann.“ (Nietzsche, 1973b: 277) Dazu eindringlich Riedel, 1997: 262 ff. In „Zarathustra“ IV („Vom höheren Menschen“, 5) spitzt Nietzsche dann zu: „Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft“ (Nietzsche, 1968a: 355). 108  Schmitt, 1932: 126. 109  Ebd.: 67. 110  Dazu teilweise aus eigenem Erleben ausführlich Riedel, 1997: 207 – 245.

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der Lebensernst verloren, sondern würde letztlich das menschliche Leben selbst zerstört.111 Der zeitgenössische militaristische Nationalismus ist für den Kulturkritiker Nietzsche jedenfalls kulturlose Barbarei. Er hofft auf die Gemeinschaft derjenigen, die im Bewusstsein des Reichtums der überkommenen kulturellen Vielfalt im Sinne der Selbststeigerung zur Einheit Europas streben. So schreibt er nach dem „Zarathustra“ in „Jenseits von Gut und Böse“, diesem „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ (dies der Untertitel) unter der Kapitelüberschrift „Völker und Vaterländer“ Folgendes: 112 „Wir ‚guten Europäer‘“ – will sagen „Wir freien Geister“113 Europas – „auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten“ – das gilt hier Wagners Meistersinger-Ouvertüre –, „Stunden nationaler Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer alterthümlicher Gefühls-Überschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als wir es sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden, in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen, je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre ‚Stoffe wechseln‘. Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch in unserem geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche atavistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen zum ‚guten Europäerthum‘ zurückzukehren.“

111  Vgl. Nietzsche, 1968c: 329: „Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt […] wäre ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts.“ Siehe auch schon Teil II dieses Aufsatzes. 112  Nietzsche, 1968b: 188 f. 113  Ebd.: 5 (Vorrede).

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– (1973b): Weihnachtsgabe für Cosima Wagner von 1872 – Homer’s Wettkampf. In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe der Werke: Bd. III/2. Berlin/New York: De Gruyter, 277 – 286. – (1977): Nachgelassene Fragmente: Juli 1882-Winter 1883/84 In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe der Werke: Bd. VII/1. Berlin: De Gruyter. – (1981): Brief an Franz Overbeck vom 6. 2. 1884. In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe der Briefe: Bd. III/1. Berlin/New York: De Gruyter, 474 – 475. – (1982a): Nietzsches Brief an Franz Overbeck vom 25. 12. 1886. In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe der Briefe: Bd. III/3. Berlin/New York: De Gruyter, 294 – 295. – (1982b): Brief an Heinrich Köselitz vom 26. 08. 1883. In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe der Briefe: Bd. III/1. Berlin/New York: De Gruyer: 435 – 437. – (1982c): Brief an Heinrich Köselitz vom 1. 2. 1884. In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe der Briefe: Bd. III/1. Berlin/New York: De Gruyter, 472 – 473. – (1984): Brief an Franz Overbeck vom 4. 1. 1889. In: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe der Briefe: Bd. III/5. Berlin/New York: De Gruyter, 575. Ottmann, Henning (1987): Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin/New York: De Gruyter. – (2000): Kompositionsprobleme von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. In: Gerhardt, Volker (Hrsg.), Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Berlin: Akademie Verlag, 47 – 67. Petersen, Jens (22015): Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit. Berlin/Boston: De Gruyter. Pieper, Annemarie (1990): „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch“. Stuttgart: Klett-Cotta. Riedel, Manfred (1997): Nietzsche in Weimar – Ein deutsches Drama. Leipzig: Reclam. – (2003): Exstirpation des deutschen Geistes – Nietzsches Kampf gegen das Bismarckreich. In: Conze, Eckart/Schlie, Ulrich/Seubert, Harald (Hrsg.), Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik: Festschrift für Michael Stürmer zum 65. Geburtstag. Baden-Baden: Nomos, 191 – 205. – (2012): Vorspiele zur ewigen Wiederkunft – Nietzsches Grundlehre. Wien: Böhlau. Safranski, Rüdiger (2000): Nietzsche – Biographie seines Denkens. München: C. Hanser. Salaquarda, Jörg (2000a): Friedrich Nietzsche und die Bibel unter besonderer Berücksichtigung von „Also sprach Zarathustra“. In: Nietzsche Forschungen, 7, 2000, 323 – 333.

Nietzsche-Zarathustras Gleichnis von den „letzten Menschen“

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– (2000b): Die Grundkonzeption des Zarathustra. In: Gerhardt, Volker (Hrsg.), Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Berlin: Akademie-Verlag, 69 – 92. Scheler, Max (32017): Das Ressentiment im Aufbau der Moralen [1912]. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Schmitt, Carl (1927): Der Begriff des Politischen. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 58 (1), 1927, 1 – 33. – (1932): Der Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot. – (21988a): Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles [1940]. Berlin: Duncker & Humblot. – (21988b): Staatsethik und pluralistischer Staat [1930]. In: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles. Berlin: Duncker & Humblot, 133 – 145. Schmücker, Pia Daniela (22011): Art: Krankheit. In: Niemeyer, Christian (Hrsg.), Nietzsche-Lexikon. Darmstadt: WBG, 201 – 202. Steding, Christoph (21943): Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. Stern, Joseph Peter (1992): Nietzsche: Die Moralität der äußersten Anstrengung [1978]: Aus d. Engl. unter Mitwirkung des Autors übersetzt v. Fred Wagner: Edition Maschke. Köln-Lövenich: Hohenheim Verlag. Vaihinger, Hans (1933): Nietzsche als Philosoph. Berlin: Reuther & Reichard. Zapata Galindo, Martha (1999): Triumph des Willens zur Macht – Zur Nietzsche-Rezep­ tion im NS-Staat [1995]. Hamburg: Argument Hamburg Verlag.

II.  Gastbeitrag

Rüdiger Voigt: „Staatsverständnisse“: Konzept – Verlauf – Ausblick

„Staatsverständnisse“: Konzept – Verlauf – Ausblick* 1

Von Rüdiger Voigt „Staatsverständnisse“: Konzept – Verlauf – Ausblick Rüdiger Voigt

Bei allen staatstheoretischen Überlegungen sollten wir stets bedenken, dass wir lediglich „Zwerge auf den Schultern der Gelehrtengiganten früherer Zeiten sind“. Carl Schmitt

I. Varianz und Bedeutung von Staatsverständnissen Mit der Veränderung des Staates hat sich im Laufe der Jahrhunderte auch das Staatsverständnis gewandelt, wenn auch bestimmte Ideen, Fragestellungen und Erkenntnisse über die Jahrhunderte hinweg aktuell geblieben sind. Das bedeutet freilich nicht, dass die Entwicklung von realem Staat und Staatsdenken stets synchron verlaufen müsste. Es handelt sich vielmehr um zwei klar voneinander getrennte Bereiche, die sich aber wechselseitig – teilweise sogar stark – beeinflussen. Zwischen dem abstrakten, also bloß vorgestellten Staat und einem konkreten, selbst erlebten Staat gibt es durchaus Verbindungen. Daher lohnt es sich, in verschiedenen Epochen und unterschiedlicher Ausprägung sich damit intensiver auseinander zu setzen, wie der Staat verstanden worden ist, entweder positiv als Garant von Schutz und Freiheit des Individuums oder negativ als „Levia­than“, in dem die Menschen den Schutz des Staates nur durch den Verzicht auf ihre individuelle Freiheit erkaufen können. Zwischen diesen Polen gibt es freilich noch eine ganze Reihe von Zwischenstufen, die es verdienen, näher untersucht zu werden. Staatsverständnisse bzw. Staatsideen sind im Allgemeinen nicht so (relativ) kurzlebig wie konkrete Staatsgebilde, sie „veralten“ nicht so schnell, sondern haben eine viel längere „Laufzeit“. Beispielhaft sind die staatsphilosophischen Ideen, die Platon und Aristoteles vor mehr als zweitausend Jahren entwickelt haben, und die heute noch die Diskussion beflügeln. Die Erkenntnisse des Florentiners Niccolò Machiavelli und des Engländers Thomas Hobbes im 16. bzw. 17. Jahrhundert, aber auch die Aufklärungsphilosophie Immanuel Kants sowie die idealistische Staatsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels aus *

  Zugleich Vorstellung der im Nomos Verlag erscheinenden Reihe „Staatsverständnisse“ durch den Reihenherausgeber anläßlich des unlängst erschienenen 100. Bandes der Reihe, Manuel Knoll/Francisco L. Lisi (Hrsg.): Platons Nomoi: Die politische Herrschaft von Vernunft und Gesetz. Nomos, Baden Baden 2017, 290 S.

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dem 18. bzw. 19. Jahrhundert haben dauerhafte Spuren in der Staatsdiskussion hinterlassen. Georg Jellineks Allgemeine Staatslehre und Max Webers sozialwissenschaftlich fundierte Staatstheorie waren maßgeblich für das 20. Jahrhundert. Alle diese Theorien sind auch in den heutigen Debatten um den modernen Staat nicht wegzudenken. II. Abschied vom Nationalstaat? Gegenwärtig sind wir Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Die Regierungen verlieren einen Teil ihrer Durchsetzungsmacht an internationale Konzerne, vor allem aber an das algorithmengesteuerte globale Finanzsystem, teils freiwillig, teils unfreiwillig. Die Europäisierung verstärkt diesen Trend eher noch, als dass sie dem entgegenwirken würde. Dieses Bild von einem unwideruflichen Abschied des Staates könnte aber durchaus falsch sein. Entschlossenen Regierungen stehen nach wie vor vielfältige Handlungsmöglichkeiten zur Durchsetzung wichtiger Anliegen zur Verfügung. Der Nationalstaat ist der Ort, auf den man sich rückbesinnen kann, wenn die internationale Ordnung im Chaos versinkt, ein im Übrigen keineswegs fernliegender Gedanke. Angesichts ihrer partiellen Durchlässigkeit spielen dabei im „Internetzeitalter“ Grenzen, die für den Territorialstaat alter Prägung unverzichtbar waren, zwar keine so große Rolle mehr. Im Zuge der Massenmigration erscheinen die früher üblichen Grenzzäune sogar eher als Relikte einer vergangenen Zeit. In Zeiten einer überbordenden Migrationswelle kann aber auch auf sie nicht verzichtet werden. Auf der anderen Seite ist es zweifelhaft, ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird. Mit dem Kosmopolitismus hat sich jedoch in vielen Staaten insbesondere bei intellektuellen Eliten eine Strömung etabliert, die den Nationalstaat durch eine kosmopolitische Demokratie zugunsten von individuellen Rechten einerseits und einer globalen Herrschaftsordnung andererseits zumindest zurückdrängen, wenn nicht ganz abschaffen will. Die Protagonisten dieser ideologischen Strömung berufen sich dabei insbesondere auf Kants kleine Schrift „Der ewige Frieden“, die auch die Charta der Vereinten Nationen beeinflusst hat. Die Gegner unterstellen den Kosmopoliten teils Naivität, teils böse Absichten. III. Der abendländische Staat Platon und Aristoteles kannten den modernen Staat noch nicht, insofern sind ihre Ideen nicht unmittelbar auf unsere gegenwärtige Situation anwendbar. Der moderne Staat hat seinen Ursprung vielmehr in der italienischen Spätrenaissance, wo nicht nur das heutige Staatsdenken seinen Ursprung findet, sondern

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auch die Grundzüge des Handelskapitalismus entstehen. Verkörpert wird dieses Staatsdenken durch den Florentiner Niccolò Machiavelli, kristallisiert sich dann jedoch vor allem in den Religionskriegen in Frankreich (Jean Bodin) und England (Thomas Hobbes) heraus. Der Weimarer Staatsrechtslehrer Carl Schmitt hat diesen Staat die Krönung okzidentaler Rationalität genannt und zugleich den Untergang dieses Staates verkündet. Es ist ein „säkularer“ Staat, der auf einem – allerdings ganz unterschiedlich gedachten – „Gesellschaftsvertrag“ zwischen dem Monarchen und dem Volk beruht. Es ist ein Staat, der – zumindest theoretisch – über die uneingeschränkte Souveränität verfügt. Die Aufklärung hat ihre tiefen Spuren im europäischen Staatsdenken hinterlassen. Spätestens seit Hobbes können wir von einem modernen Staat sprechen, der dann mehr als fünfhundert Jahre die Diskussion beherrscht hat. Viele berühmte Staatsdenker haben sich an dieser Staatsdiskussion beteiligt, erwähnt seien hier – stellvertretend für viele Andere – nur Immanuel Kant und Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Jean-Jacques Rousseau und Charles de Montesquieu. Ob sich dieser abendländische Staat inzwischen überlebt hat oder nach wie vor die Diskussion bestimmt und zumindest als Idee noch vorhanden ist, ist Gegenstand der Erörterungen in der Reihe „Staatsverständnisse“. IV. Die Leitidee der „Staatsverständnisse“ Eine Schriftenreihe, in der vor allem mehr oder weniger bekannte Philosophen bzw. Philosophinnen und Theoretiker bzw. Theoretikerinnen (teilweise erneut) behandelt werden, lässt sich nur aus einer besonderen Fragestellung heraus rechtfertigen. Diese liegt – wie der Reihentitel nahelegt – zunächst ganz allgemein in der Fokussierung auf das Staatsverständnis eines bzw. einer bestimmten Staatsdenkers bzw. Staatsdenkerin (z. B. Thomas Hobbes oder Hannah Arendt), einer spezifischen Denkschule bzw. einer Stilrichtung des Staatsdenkens (z. B. Postmoderne oder Feminismus) oder einer eingrenzbaren Epoche (z. B. Renaissance oder Weimarer Republik). Die Analyse des Staatsverständnisses in anderen Ländern (sowohl im europäischen als auch im außereuropäischen Umfeld) und der Vergleich verschiedener Beispielfälle können dabei eine hilfreiche Ergänzung sein. Die Fokussierung auf Themenfelder und Politikbereiche wie z. B. Staatsräson oder Ausnahmezustand ermöglicht überdies vertiefte staatstheoretische und -praktische Einsichten. Darüber hinausgehend wurde die im Nomos Verlag, Baden-Baden, erscheinende Reihe „Staatsverständnisse“ im Jahre 2000 jedoch mit der besonderen Intention begründet, die Anschlussfähigkeit des jeweiligen Staatsdenkens an die heutige Diskussion zu gewährleisten. Dies kommt exemplarisch in der Leitfrage der Reihe zum Ausdruck: Was lässt sich den Ideen früherer und heutiger Staatsdenker für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates entnehmen? Interessant sind

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hierfür die Theorien der Staatsdenker und Staatsdenkerinnen, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Globalisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Um die Frage nach dem Erkenntnisgewinn nicht unbeantwortet im Raum stehen zu lassen, ist jeder Herausgeber bzw. jede Herausgeberin gehalten, für seinen bzw. ihren Band einen Kernsatz als Antwort auf die erkenntnisleitende Fragestellung zu formulieren, der auf der Rückseite des betreffenden Bandes drucktechnisch besonders hervorgehoben wird. Als Beispiel hierfür lassen sich die der Wirkungsgeschichte verpflichteten neueren Bände über Hobbes und Rousseau anführen. Z. B. lautet die Quintessenz des Hobbes-Bandes „Der sterbliche Gott“: „Thomas Hobbesʼ Erkenntnis, dass die Schutzverpflichtung des Staates und die Gehorsamspflicht der Bürger sich gegenseitig bedingen, gilt auch heute.“ In dem Band „Der Bürger als Souverän“ lautet die Antwort auf die Kernfrage: „Jean-Jacques Rousseau ist nicht nur mit seinem Gesellschaftsvertrag berühmt geworden, sondern er hat mit der Volonté générale auch einen Schlüsselbegriff für eine radikaldemokratische Staatstheorie geschaffen.“ V. Wiederaneignung der Klassiker Unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“, die aus staatswissenschaftlicher und nicht so sehr aus philosophischer bzw. ideengeschichtlicher Perspektive erfolgen soll, wird auch auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, immer wieder zurück zu kommen sein. Dies ist z. B. durch Bände zu Platons „Politeia“ und seinen „Nomoi“ (Band 100), zu der „Politik“ des Aristoteles, aber auch zum Peloponnesischen Krieg des Thukydides, zur Stoa und zu Ciceros Schriften (z. B. „De re publica“ bzw. „De legibus“) geschehen. Der Schwerpunkt der in der Reihe „Staatsverständnisse“ veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings nicht so sehr auf den antiken, sondern vielmehr auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der als Diagnostiker der Krise wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des „Leviathan“, John Locke, den „Kronzeugen“ des Liberalismus, Jean-Jacques Rousseau, den Protagonisten der volonté générale, bis hin zu Karl Marx, den politisch einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Weimarer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hermann Heller und Hans Kelsen und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marx’schen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind.

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Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang ebensowenig verzichtet werden wie auf Überlegungen zur Staatstheorie. Der Reihe „Staatsverständnisse“ geht es allerdings nicht allein um die Darstellung bestimmter Philosophen oder Theoretiker in ihrem politisch-gesellschaftlichen bzw. geistig-literarischen Umfeld, sondern in erster Linie um den Beitrag dieses Staatsdenkers bzw. dieser Staatsdenkerin zur Entwicklung eines spezifischen Verständnisses vom Staat, das für uns Heutige wichtig ist bzw. wichtig werden könnte. Dies gilt umso mehr, als sich die „alte“ Weltordnung in Auflösung befindet und die Strukturen einer „neuen“ Weltordnung noch nicht klar erkennbar sind. Da der Gesamtumfang jedes Einzelbandes der Reihe begrenzt ist, kann allerdings nicht das Gesamtwerk des betreffenden Staatsdenkers abgehandelt werden. Eine enzyklopädische Darstellung ist weder gewollt, noch kaufmännisch-technisch möglich. Die Konzentration auf wenige Beiträge macht es vielmehr notwendig, bewusst Akzente zu setzen. Das kommt den einzelnen Bänden durch eine Fokussierung auf das Wesentliche in der Regel sehr zugute. VI. Alte und junge Klassiker des Staatsdenkens Bei den behandelten bzw. noch zu behandelnden Staatsdenkern reicht das Themenspektrum von Thomas von Aquin und dem „Goldenen Zeitalter“ Spaniens – über die Renaissance, jene für das moderne Verständnis des Staates so ungeheuer wichtigen Epoche, – bis hin zu Ferdinand Lassalle, dem Stammvater der Sozialdemokratie, und schließlich bis ins 20. und teilweise bis ins 21. Jahrhundert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Mitte des 20. Jahrhunderts der Funke der Innovation im Staatsdenken die Seiten gewechselt hat. Von der rechtsrheinischen (deutschen) ist er auf die linksrheinische (französische) Seite übergesprungen. Seither verkörpern die französischen Staatstheoretiker der Gegenwart – wie z. B. Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Claude Lefort, Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy – gewissermaßen die Avantgarde des Staatsdenkens. Sie verdienen vor allem deshalb größte Aufmerksamkeit, weil sie sich weitgehend tabulos mit den Problemen des modernen Staates – Demokratiedefizit, Machtballung, Korruption etc. – auseinandersetzen. Zu diesem engeren Kreis der kritischen Analytiker gehören auch Giorgio Agamben, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau sowie Michael Hardt und Antonio Negri. Daneben kommen aber auch weitere „Klassiker“ des Staatsdenkens, wie z. B. Adam Smith, Henri de Saint-Simon, Benjamin Constant und Max Weber, zu Wort. Die deutschen bzw. deutschsprachigen Staatsdenker des 20. Jahrhunderts werden ebenfalls berücksichtigt, um damit den Bogen bis in die Gegenwart zu schlagen. Neben Bänden zum Staatsverständnis von Ernst Cassirer, Norbert Elias, Walter

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Benjamin, Ernst Bloch, Hans J. Morgenthau, Karl Loewenstein, Franz L. Neumann, Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel, Karl Jaspers und Jürgen Habermas treten Bände zu den bekannten Staatsrechtslehrern des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der jungen Bundesrepublik: Georg Jellinek, Hugo Preuß, Gustav Radbruch, Hans Kelsen, Rudolf Smend, Gerhard Leibholz und Wolfgang Abendroth. Staatstheoretikern der jüngeren Generation wie Peter Häberle, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Ulrich K. Preuß sind jeweils einzelne Bände der „Staatsverständnisse“ gewidmet. Die Behandlung solcher jüngerer Theoretiker schließt natürlich ein gewisses Risiko ein, weil sich die Zeitgenossen möglicherweise noch kein abgeschlossenes Urteil über den zu behandelnden Staatstheoretiker gebildet haben. Andererseits erhebt die Reihe „Staatsverständnisse“ den Anspruch, innovativ zu sein, und das heißt oft auch, neue, möglicherweise riskante Wege zu beschreiten. Neben den etablierten Staatsdenkern kommen daher auch neue, innovative Theoretiker und Theoretikerinnen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch aus anderen Kulturkreisen zu Wort. Neben Judith Butler geht es dabei u. a. um John Rawls, Charles Taylor und Michael Walzer sowie um den außerordentlich produktiven Slowenen Slavoj Žižek. VII. Denkschulen und Wirkungsgeschichte des Staatsdenkens Werden die Kerngedanken eines Staatsdenkers der eigenen Reflexion als notwendige Voraussetzung der Erkenntnis von einer oder mehrerer Wissenschaftlergenerationen zugrundegelegt, dann könnte man von einer Denkschule sprechen. Oft ist das Staatsdenken nicht nur durch einen Theoretiker bzw. eine Theoretikerin zu charakterisieren, sondern auch dadurch, dass dieser/diese gelegentlich so stark auf sein/ihr wissenschaftliches Umfeld einwirkt, dass ein anderes Denken als falsch oder jedenfalls nicht adäquat bzw. nicht zeitgemäß angesehen wird. Solchen Denkschulen nachzuspüren, sieht die Reihe „Staatsverständnisse“ als eine ihrer Aufgaben an. Es versteht sich von selbst, dass die „Giganten“ Platon und Aristoteles in der Antike, oder Kant, Hegel und Marx in der Gegenwart solche Denkschulen begründet haben, die auch lange nach ihrem Tod Bestand haben. Solchen Besonderheiten gehen insbesondere die wirkungsgeschichtliche Analysen der Reihe nach. Es ist die Perspektive des Betrachters, die maßgeblich ist für die Rezeption. Mit der Veränderung dieser Perspektive im Laufe der Zeit verschiebt sich auch der Blick auf den Staatsdenker. Die Erkenntnis: „Jede Zeit erschafft sich ihren eigenen Hobbes, Rousseau oder Hegel“, könnte als Motto für die Behandlung der Wirkungsgeschichte jedes großen Staatsdenkers gelten. VIII. Staatsutopien und realer Staat Staatsdenker stellen ihre Überlegungen regelmäßig vor dem Hintergrund des Staates an, in dem sie leben, auch wenn sie diesen möglicherweise ablehnen, ihn

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sogar abschaffen oder zumindest gründlich reformieren wollen. Oft konfrontieren sie diesen realen Staat mit dem Idealbild eines vergangenen Staates, das der Wirklichkeit nicht unbedingt entsprechen muss („Goldenes Zeitalter“). Auf der anderen Seite stehen die in die Zukunft gerichteten Staatsutopien, die oft so voraussetzungsvoll (selbstlose und gute Menschen; Philosophenkönige) gedacht werden, dass sie in der rauen Wirklichkeit keine Realisierungschance haben. Dementsprechend wird das Verständnis bzw. Nichtverständnis des Staates durch die Anarchisten ebenso behandelt wie die Utopien selbst. Umgekehrt wird zwar selten ein Staat gegründet oder neu konstituiert, der genau dem Vorbild eines zuvor erdachten Staatsideals entspricht, das heißt aber nicht, dass nicht doch u. U. wichtige Impulse von einem solchen Staatsmodell oder Staatsideal ausgehen, die dann oft genug in der neuen Verfassung ihre Spuren hinterlassen. So sind etwa die Französische Revolution und die sich daraus entwickelnden Verfassungen ohne die Kenntnis des Staatsdenkens von Jean-Jacques Rousseau oder von Emmanuel Joseph Sieyès nur schwer zu verstehen. Auch der Einfluss der sog. Federalists (Alexander Hamilton, James Madison und John Jay) oder – viel früher – von John Locke auf die amerikanische Verfassung ist nachweisbar. Hugo Preuß hat die Weimarer Verfassung, und Hans Kelsen hat die Verfassung der Republik Österreich nachhaltig beeinflusst. Der Einfluss Herman Hellers auf die Formulierung „sozialer Rechtsstaat“ ist unverkennbar. IX. Staatspraxis und Länderstudien Dazu gehört auch, dass neben den Staatstheoretikern in Zukunft verstärkt auch solche Staatspraktiker behandelt werden, die durch Schriften, Reden und Taten Einfluss auf die Diskussion um den Staat genommen haben. Den Anfang hat ein Band zum Staatsverständis von Martin Luther gemacht, Fürst Otto von Bismarck folgt demnächst, geplant sind darüber hinaus Bände zu Charles de Gaulle und zu Wladimir I. Lenin. Dass auch in dieser Publikationslinie ein – vor allem politisches – Risiko steckt, brauche ich nicht zu betonen. Mit dem Band über das Staatsverständnis des Reformators Martin Luther haben wir Neuland betreten, auch diese Richtung soll fortgesetzt werden. Hier öffnet sich ein breites Feld theologischer Studien, die sich mit dem Verhältnis der Religion zum Staat bzw. umgekehrt des Staates zu den Religionen befassen sollten. Als neues Feld kommen nunmehr verstärkt die Länderstudien hinzu, zunächst ging es um China, Korea und Japan, später um Italien und Frankreich. Weitere Länderstudien sollen folgen. X. Deutsch als Wissenschaftssprache und Zielgruppe der Reihe Die Reihe „Staatsverständnisse“ hat sich zum Ziel gesetzt, das Deutsche als Wissenschaftssprache zu fördern. Die Bände der Reihe erscheinen daher im Nor-

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malfall in deutscher Sprache. Das bedeutet, dass keine englischsprachigen Beiträge in einen deutschsprachigen Band aufgenommen werden können. Vielmehr müssen fremdsprachige Beiträge ins Deutsche übersetzt werden. In besonderen Fällen kann ein Band aber auch in englischer Sprache erscheinen. Dann müssen allerdings alle Beiträge dieses Bandes in englischer Sprache vorgelegt werden. Erstmals im Jahre 2017 sind zwei rein englischsprachige Bände in der Reihe „Staatsverständnisse“ erschienen und zwar zu Slavoj Žižek und zu Alain Badiou. Es handelt sich zunächst um einen „Pilotversuch“, der zeigen soll, ob wir auf diese Weise im englischsprachigen Raum Fuß fassen können. Die primäre Wissenschaftssprache der „Staatsverständnisse“ bleibt aber natürlich das Deutsche. Gemischtsprachige Bände sind nach wie vor nicht vorgesehen. Die Reihe „Staatsverständnisse“ richtet sich nicht in erster Linie an (politische) Philosophen, sondern gerade auch an Studierende der Geistes- und Sozial­ wissenschaften. Das bedeutet, dass Sprachniveau und Sprachduktus auf diese potenzielle Leserschaft abgestimmt sein müssen. Auch komplexe Sachverhalte sollen also verständlich dargestellt werden. Es versteht sich von selbst, dass philosophisches oder soziologisches „Fachchinesisch“ ebenso vermieden werden muss, wie eine allzu einseitige Sichtweise („Scheuklappen“). Angestrebt ist vielmehr eine Darstellung, die „anschlussfähig“ an den allgemeinen Diskurs ist, sowie eine klare („luzide“) und aussagekräftige Sprache, allerdings durchaus mit dem Mut zur Pointierung. Wissenschaftliches Denken setzt allerdings neben einer gewissen Methodik auch eine bestimmte Begrifflichkeit voraus. Wir haben es also mit Begriffen zu tun, die – wie Hegel sagt – die Wirklichkeit gestalten. Hier sollen sie hingegen in erster Linie als Werkzeuge zum Verständnis eines Staatsdenkers bzw. seines Staatsdenkens, seiner Zeit, seines geistigen Umfeldes sowie seiner Außenwirkung dienen. Tatsächlich bezieht sich das Staatsdenken zumeist auf einen abstrakten (Ideal-) Staat; es geht dabei also weniger um Institutionen, Akteure und Aktionen eines konkreten Staatswesens als um ein bestimmtes Verständnis des Phänomens Staat. XI. Aktualität staatstheoretischer Überlegungen Bei der Lektüre staatstheoretischer Texte wird sich jeder die Frage stellen, welchen Staat (Typ, Form, Ausprägung) er bzw. sie vor Augen hat, wenn er bzw. sie an den Staat denkt. Ist es der Staat, der uns in Gestalt der Sozialverwaltung gegenübertritt, die für unsere „Daseinsvorsorge“ (Ernst Forsthoff) zuständig ist? Oder geht es vor allem um den Schutz vor Kriminalität und terroristischen Anschlägen durch einen starken Staat? Ist es der Rechtsstaat, der in Verbindung mit der Demokratie unserem heutigen Staatsverständnis – jedenfalls im Westen – am nächsten kommt? Ist es der humanitäre Staat, der sich auch der außerhalb des Staatsgebietes lebenden Menschen annimmt, die in Not geraten sind? China führt

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uns überdeutlich vor Augen, dass auch mit Hilfe eines doktrinären Staatskapitalismus wirtschaftlicher Wohlstand und außenpolitischer Einfluss eines Staates enorm gesteigert werden können. Was sind dann aber die Kernbestandteile des demokratischen Rechtsstaats, auf die nicht verzichtet werden kann? Das ist im Übrigen keine Frage, die nur in autoritären Staaten gestellt werden muss, vielmehr befinden sich auch die Demokratien nach westlichem Muster in Gefahr, die Sicherheit überzubetonen und dabei Freiheit und Recht allzu sehr zu vernachlässigen. Auf der anderen Seite des Spektrums macht das Beispiel gescheiterter Staaten, wie z. B. Somalia, darüber hinaus deutlich, dass es eines funktionierenden Rechts- und Sozialstaates bedarf, um Schutz und Sicherheit, einen zumindest relativen Wohlstand sowie Freiheit und Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Dies sind Probleme, mit denen sich die Reihe „Staatsverständnisse“ bereits befasst hat und auch in Zukunft befassen wird.

III.  Rezensionsessays

Hans-Christof Kraus: Neues von und über Max Weber

Neues von und über Max Weber* Von Hans-Christof Kraus Neues von und über Max Weber Hans-Christof Kraus

Die kürzlich nach jahrzehntelanger Editionsarbeit abgeschlossene historisch-kritische Max-Weber-Gesamtausgabe (künftig: MWG), ein Großprojekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hat in zwei mächtigen Bänden ein einziges, vom eigentlichen Umfang her vergleichsweise schmales Werk Max Webers neu ediert: die berühmte Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ sowie den hierzu gehörigen, die Erfahrungen einer USA-Reise im Jahr 1904 verarbeitenden, später allerdings stark erweitert publizierten Aufsatz „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“. Nachdem die Erstfassungen der 1904/05 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienenen Aufsätze zugleich mit den ausführlichen Kritiken von H. Karl Fischer und Felix Rachfahl sowie den hierauf antwortenden „Antikritiken“ Webers in MWG I/9 (Tübingen 2014) auf fast eintausend Seiten ediert und kommentiert worden sind,1 folgen nun in MWG I/18 die in Webers Todesjahr 1920 erschienenen, z. T. deutlich erweiterten Letztfassungen im ersten Band der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“, die in gewisser Weise als das geistige Vermächtnis dieses überragenden Forschers und Denkers anzusehen sind. Der Herausgeber und eminente Weber-Kenner Wolfgang Schluchter, der selbst einen großen Teil seines eigenen wissenschaftlichen Lebenswerks der Erforschung und kritischen Edition der Schriften Max Webers gewidmet hat, rekons­ truiert in Vorwort und Einleitung des neuen Bandes (MWG I/18, VII-VIII, 1 – 59) die in der Tat ausgesprochen komplizierte Entstehungsgeschichte dieser Letzt* Zugleich Besprechung von: Max Weber: Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 18: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus / Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904 – 1920. Herausgegeben von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube. J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2016, XVIII, 761 S.; Max Weber: Gesamtausgabe, Abteilung II: Briefe, Bd. 1: Briefe 1875 – 1886. Herausgegeben von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Uta Hinz. J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2017, XXIII, 755 S.; Max Weber: Gesamtausgabe, Abteilung II: Briefe, Bd. 2: Briefe 1887 – 1894. Herausgegeben von Rita Aldenhoff-Hübinger in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Sybille Oßwald-Bargende. J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2017, XX, 679 S. [im Text: MWG I/18, MWG II/1, MWG II/2]. – Christopher Adair-Toteff: Max Weber’s Sociology of Religion. J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2016, 208 S. 1  Siehe dazu bereits Kraus, 2016.

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fassungen der „Protestantischen Ethik“, und er kann dabei den überzeugenden Nachweis erbringen, dass diesen Aufsätzen nicht nur ein programmatischer Charakter als Einleitung in die zentralen Fragestellungen der von Weber begründeten Religionssoziologie überhaupt zukommt, sondern dass diesen zwischen 1904 und 1920 entstandenen Texten mit ihren vielen Ergänzungen, Erweiterungen und Überarbeitungsstufen der Charakter eines im Grunde unabgeschlossenen (weil durch den vergleichsweise frühen und unerwarteten Tod Webers abrupt abgebrochenen) „work in progress“ zukommt. Jedenfalls kann Schluchter klarmachen, dass Weber um 1910 daran arbeitete, den historisch begrenzten Ansatz seiner Protestantismusstudien im Rahmen einer universalgeschichtlichen Perspektive stark zu erweitern, und zwar im Kontext seiner Rationalisierungsthese: Weber habe, indem er sich zunehmend in die wirtschafts- und sozialethischen Grundprinzipien auch der anderen großen Weltreligionen einarbeitete, zwei Haupttypen einer religiös vermittelten geschichtlichen Rationalisierung unterschieden: zum einen Rationalisierung als Weltanpassung (im Konfuzianismus) und zum anderen Rationalisierung als Weltbeherrschung (im asketischen Protestantismus). Insofern sei der Kontext der frühen Aufsätze von 1904/05 von Weber zwar verändert worden, dies jedoch im Sinne einer thematischen und inhaltlichen Erweiterung. Und diese Erweiterung war offenbar auch noch in einem anderen Sinne geplant; sie wurde zwar in Angriff genommen, jedoch nicht mehr zu Ende durchgeführt. Denn Weber beabsichtigte nach Schluchter ebenfalls noch, auch die „andere Seite der Kausalbeziehung“ von Wirtschaft und Religion näher in den Blick zu nehmen, also die Veränderung religiösen Bewusstseins durch ökonomische Wandlungen, somit die „Klassenbedingtheit der Religionen“ (MWG I/18, 12) zu analysieren. Doch dies ist Weber nach Ausweis seiner hinterlassenen Texte nur noch ansatzweise gelungen, etwa, worauf Schluchter ebenfalls hinweist (MWG I/18, 59), in seiner letzten, kurz vor seinem Tod an der Universität München 1919/20 gehaltenen Vorlesung über universale Wirtschafts- und Sozialgeschichte.2 Nur zu den um 1911 – 13 erschienenen kritischen Äußerungen zu seiner Protestantismus-These von 1904/05, die von zwei besonders einflussreichen und angesehenen Fachkollegen, Werner Sombart3 und Lujo Brentano,4 vorgetragen wurden, äußerte sich Weber in den Neufassungen von 1920, wenn auch leider in schwer lesbaren, weil überlangen und den Lesefluss empfindlich störenden Fußnoten. Neben der „zweiseitigen Kausalanalyse“ war von Weber, wie Schluchter anhand nachgelassener Zeugnisse zeigen kann, noch eine andere Erweiterung der „Protestantischen Ethik“ im Rahmen der Neufassung vorgesehen, nämlich „nach 2 

Kritisch ediert in MWG III/6, Tübingen 2011, 49 – 533, siehe hier bes. 380 ff. Sombart, 1911; Sombart, 1913. 4  Brentano, 1923a; Brentano, 1923b. 3 

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rückwärts und nach vorwärts“ (so Schluchter, MWG I/18, 48), d. h. erstens die Aufarbeitung von deren Vorgeschichte im Urchristentum, im orientalischen und im westlich-mittelalterlichen Christentum, und zweitens die Fortführung der im asketischen Puritanismus angelegten „Entzauberung der Welt“, die schließlich in einer „außerreligiöse[n] Entzauberung der Welt, durch die moderne Wissenschaft“ endet. Und diese wiederum, so Schluchter, gelangt im Ergebnis, „zu einem areligiösen theoretischen und praktischen Rationalismus“, der als solcher „auf das Verständnis von Religion zurückwirkt“ und die Religion auf diese Weise – trotz ihrer einst rationalisierenden Wirkungen! – im Rückblick erneut „zu einer irrationalen Macht“ erhebt (MWG I/18, 23). Da dieser in jeder Hinsicht zentrale universalgeschichtliche Vorgang nach Webers Überzeugung ausschließlich am Beispiel des Christentums zu rekonstruieren ist, plante er, entgegen der historisch korrekten Chronologie, seine stark erweiterten und überarbeiteten Protestantismusstudien an den Anfang seiner ursprünglich sogar auf vier Bände angelegten „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ zu stellen. Genau hierzu kam es schließlich, doch statt vier wurden es am Ende nur noch drei Bände, von denen der erste dann tatsächlich, neben den stark überarbeiteten Fassungen der Aufsätze von 1904/05, die völlig neu konzipierte und umfassend erweiterte Abhandlung „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ enthielt und dazu noch eine an den Anfang gestellte, später mit Recht berühmt gewordene „Vorbemerkung“. Der Grund hierfür (und dafür, dass die Protestantismusstudien eben nicht unter die erst im weiteren Teil des ersten Bandes eingeführte Rubrik „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ eingeordnet werden) liegt darin, dass Weber im asketischen Protestantismus, genauer gesagt in dessen Eigenschaft als „wichtigster Förderer der radikalen religiösen Entzauberung der Welt“, den eigentlichen und zentralen „Bezugspunkt für den universalhistorischen Vergleich“ des Christentums mit allen weiteren Weltreligionen erkennt (MWG I/18, 54). Dieses Programm hat Weber indessen nur noch künftiger Forschung als Aufgabe stellen können, es selbst jedoch nicht mehr durchzuführen vermocht. Das in dieser Deutung also „fehlende Buch“ Webers hätte, so Schluchters überzeugend argumentierende Vermutung, die Protestantismus-Aufsätze „in den jüdisch-christlichen Traditionszusammenhang vermutlich mit Hilfe von Stichworten wie religiöse Entzauberung der Welt, Arbeitsaskese und Bewährungsgedanke eingebettet“ (MWG I/18, 57 f.) und am Ende auch die „andere Seite der Kausalbeziehung“ der modernen Kultur mit in den Blick genommen. Und Weber hätte schließlich – gerade hierin erkennt Schluchter den „Mehrwert“, den Webers „heuristischer Eurozentrismus jenseits der immer umstrittenen Tatsachenurteile dem Mitglied der modernen europäischen Kulturwelt bis heute zu bieten“ hat – einen Weg gewiesen, um über den Umweg seiner religionssoziologischen und universalhistorischen Analysen „zur Selbstreflexion der modernen okzidentalen Kulturwelt zu gelangen“ (MWG I/18, 57). – Ob die

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neue historisch-kritische, dazu mit gelegentlich überbordenden, gelegentlich jedoch nicht ausreichenden Kommentaren5 versehene Ausgabe der Endfassung jener – mittlerweile ein ganzes Jahrhundert alten – Studien tatsächlich zu jener Selbstreflexion beitragen können, wird sich zeigen. Jedenfalls bleibt zu hoffen, dass diese anspruchsvolle Gesamtausgabe das Webersche Gesamtwerk nicht in den Bibliotheksmagazinen eingesargt hat, sondern (vielleicht auch in der Form preiswerter Studienausgaben) zu einer zugleich kritischen und reflektierten Neulektüre anregt. Wie stark das internationale Interesse an diesen klassischen Weber-Texten bis heute ist, zeigen u. a. die Einzelstudien, die angelsächsische Forscher wie etwa Peter Gosh oder auch Christopher Adair-Toteff diesem Gegenstand gewidmet haben. Der Letztgenannte, Dozent der Philosophie an amerikanischen und britischen Universitäten, hat seine Einzelstudien zum Thema 2016 herausgebracht – das Buch wird freilich erst auf den zweiten Blick als Aufsatzband erkennbar. In der Regel handelt es sich hierbei um Gelegenheitsstudien, etwa Beiträge zu Festschriften und Sammelbänden oder Vorträge, die für Fachtagungen verfasst wurden. Diese Einzelstudien sozusagen als „Kapitel“ einer Monographie zu verkaufen, wie der Verfasser es tut, dürfte daher eigentlich nicht ganz korrekt sein. Immerhin enthält der Band einige interessante und auch weiterführende Stücke, etwa zu Webers „Charisma“-Verständnis (29 – 45, 99 – 118) oder zum Problem des Asketismus (61 – 77). Im Anschluss an die bedeutenden Studien von Wilhelm Hennis zu Webers Antikenrezeption6 widmet sich ein weiterer Aufsatz Max Webers Deutung des Perikles im Kontext des Problems politischer Demagogie und eines hieraus resultierenden spezifischen Charismas (47 – 60). Nicht sehr viel Neues bringen hingegen zwei weitere Studien über Webers Verständnis des Protestantismus im Allgemeinen (hier die beiden Hauptlinien des Luthertums und des Calvinismus betreffend) und des spezifisch norddeutschen „Kulturprotestantismus“ während der Spätphase des Kaiserreichs im Besonderen; beim letzten Thema ausdrücklich bezugnehmend auf die ebenso bekannte wie äußerst umstrittene Arbeit von Heinz Steinert zur „Protestantischen Ethik“.7 Im zehnten und letzten Aufsatz kommt Adair-Toteff noch einmal – allerdings ohne auch hier wesentlich Neues präsentieren zu können – auf die „statistical origins“ der „Protestantischen Ethik“ zu sprechen, also auf die heute im Allgemeinen als unzureichend angesehene Dissertation von Webers Schüler Martin Offenbacher zur

5  Hierzu siehe vor allem den von mir (Kraus, 2016: 260, n.1) gegebenen Hinweis zu MWG I/9, 423, n.84 (Kommentar), nach dem neuerdings der Kommentar zur betreffenden Textstelle in Webers Neufassung der „Protestantischen Ethik“ in MWG I/18, 488, n.78 (Kommentar) von den Editoren der MWG korrigiert worden ist. 6  Hennis, 2003. 7  Steinert, 2010.

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sozialen Schichtung und Konfessionszugehörigkeit in Baden,8 die Weber seinerzeit als Ausgangspunkt seiner ersten Protestantismusstudien von 1904 genommen hatte.9 Einen tiefen Blick in den geistigen, persönlichen, beruflichen und nicht zuletzt auch politischen Werdegang des jungen Max Weber von dessen Schülerzeit bis zum Beginn seiner Freiburger Professur (1894) ermöglichen jetzt die beiden Bände II/1 und II/2 der MWG, in denen die überlieferten Briefe Webers aus den Jahren 1875 bis 1894 gesammelt, kritisch ediert und neu präsentiert werden, nachdem Webers Witwe Marianne bereits 1936 eine Auswahl der „Jugendbriefe“ ihres verstorbenen Mannes (in einer editorisch freilich unzureichenden Ausgabe) veröffentlicht hatte.10 Die neue Briefausgabe, von den Editoren kenntnisreich eingeleitet, lässt hingegen kaum einen Wunsch offen; wer alles, was über den jungen Weber irgend noch zu ermitteln ist, erfahren möchte, wird hier mehr als fündig. Jeder an Bildungsgeschichte Interessierte wird diesen Briefen eine Fülle von Informationen über Gymnasialbesuch und akademisches Studium zwischen Bismarckzeit und Wilhelminismus entnehmen können. Der Lebenslauf eines liberal-bürgerlich und norddeutsch-protestantisch sozialisierten jungen Gelehrten kann anhand des in diesen beiden Bänden präsentierten Materials nachgerade „idealtypisch“ rekonstruiert werden: vom Besuch einer privaten Bürgerschule über die Absolvierung des Königlichen Kaiserin-Augusta-Gymnasiums in Charlottenburg (damals noch nicht zu Berlin gehörig) über das Studium der Rechtsund Staatswissenschaften sowie der Geschichte und Philosophie in Heidelberg, Straßburg, Göttingen und Berlin – inklusive der Teilnahme am damaligen studentischen Verbindungsleben – bis hin zum „Hazard“ des Privatdozentendaseins, aus dem der junge Weber 1894 endlich erlöst wird. Nicht zu vergessen auch der „einjährig-freiwillige“ Militärdienst, das besondere Privilegium der gebildeten Bürgersöhne, der Weber gleichwohl zum ersten Mal in näheren persönlichen Kontakt mit Angehörigen der damaligen Unterschichten bringt. Erstaunlich die ungewöhnlich früh ausgebildeten geistigen Interessen des jungen Weber, der sich schon als Zwölfjähriger mit den Schriften Machiavellis, Herders und Luthers beschäftigt, auch mit der Geschichte der europäischen Dynastien samt deren Stammbäumen, der als Vierzehnjähriger sich ein so komplexes Werk wie Viktor Hehns „Hausthiere und Kulturpflanzen“ vornimmt und in diesem Alter bereits Theateraufführungen aller drei Teile von Schillers „Wallenstein“ besucht. Auch der junge Student pflegt eine ausgreifende, fast exzessive, die Gegenstände der eigenen Studienfächer weit überschreitende Lektüre, die 8 

Offenbacher, 1900. Vgl. MWG I/9, 124 ff. 10  Weber, o. J. [1936]. Diese Ausgabe enthält (teilweise gekürzt abgedruckte) Briefe Webers aus den Jahren 1876 bis 1893. 9 

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u. a. wichtige Klassiker der evangelischen Theologie (darunter Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß) umfasst, aber auch prominente damalige Philosophen und Philosophiehistoriker wie Hermann Lotze und Friedrich Albert Lange, dessen „Geschichte des Materialismus“ bei Weber nachhaltige Spuren hinterlässt. Hinzu kommen bald Friedrich Carl von Savigny oder Rudolf von Jhering11 und die englischen historiographischen Klassiker von Edward Gibbon bis Henry Thomas Buckle. Jedenfalls kann man nun auch den akademischen Bildungsgang Webers im engeren Sinne anhand seiner Berichte über die von ihm besuchten Lehrveranstaltungen exakter und detaillierter als bisher rekonstruieren. In wie starkem Maße die Briefe gerade auch des jungen Weber als Ausdruck einer „bürgerlichen Kommunikationsform“ angesehen werden können, zeigt Gangolf Hübinger in seiner sehr instruktiven Einleitung zum ersten Briefband (MWG II/1, 1 – 26, hier 21 f.): schon der Gymnasiast und Student wurde nicht nur bald schon einbezogen in ein enges briefliches Kommunikationsnetz der großen Familie und einer weitgespannten Verwandtschaft, sondern er hatte auch die ihm auferlegte „Berichterstattungsverpflichtung“ (MWG II/1, 21) sehr ernst zu nehmen und darüber hinaus seine Korrespondenz sogar – fast, möchte man sagen, in altpietistischer Tradition – auch als spezifische Form einer „Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung“ (MWG II/1, 22) des äußeren wie des inneren Menschen zu führen. Insofern dürfen die hier präsentierten Briefe nicht zuletzt als eine fallweise sehr ergiebige sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quelle gelten. Der zweite Briefband, die Korrespondenz der Jahre 1887 bis 1894 enthaltend, zeigt den jungen, aufstrebenden Wissenschaftler Max Weber als einbezogen in ein engmaschiges, aber weit ausgespanntes Netzwerk des wilhelminischen deutschen Gelehrtentums, er zeigt einen höchstbegabten Nachwuchsgelehrten, der mit großem Geschick die akademischen und politischen Beziehungen seines Onkels, des liberalen Straßburger Historikers Hermann Baumgarten, zu nutzen versteht, der fast wie selbstverständlich mit den gleichaltrigen Söhnen weltberühmter Wissenschaftler dieser Epoche wie etwa Theodor Mommsen oder Adolph Wagner bekannt oder befreundet ist und der keine Gelegenheit auslässt, seine immer weiter gespannten wissenschaftlichen Interessen intensiv zu pflegen, ja in gewisser Weise sogar auszuleben. Die Mühen der Habilitation und das damit schon damals eng verbundene berufliche und persönliche Risiko, das Weber später selbst bekanntlich als akademischen „Hazard“ bezeichnen sollte,12 spiegelt der zweite Briefband ebenfalls wider – wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass dem (wie man heute weiß) seitens seiner Familie mit finanziellen Reserven

11  In MWG II/1, 307 f., n.23, wird der Name übrigens falsch geschrieben: „Ihering“ statt korrekterweise „Jhering“. 12  Weber, 1973: 586.

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gut ausgestatteten Weber13 für den eigentlich unwahrscheinlichen Fall einer ausbleibenden Berufung berufliche wie private Alternativen, und zwar mehr als nur eine, zur Verfügung gestanden hätten. Neben der geistigen und wissenschaftlichen Entwicklung des jungen Weber sowie der Gestaltung seines persönlichen und familiären Lebens (erwähnt sei vor allem seine Verlobung mit Marianne Schnitger im Frühjahr 1893) bringt der zweite Band auch neue aufschlussreiche Informationen zur Entwicklung von Webers politischen Interessen, die nicht nur den Kulturkampf und dessen spätere Ausläufer und Folgen umfassen, sondern auch die Finanzpolitik des 1871 neu gegründeten Deutschen Reiches, sodann die dramatischen Ereignisse der Jahre zwischen 1888, dem „Dreikaiserjahr“, und dem Rücktritt Bismarcks im März 1890, endlich die ersten Regierungsjahre des jungen, fast gleichaltrigen und von Weber schon frühzeitig kritisch eingeschätzten Kaisers Wilhelm II. Und schließlich dokumentiert die Korrespondenz dieser Zeit auch die langsame Abwendung des jungen Gelehrten vom bürgerlichen Honoratiorenliberalismus, den sein Vater Max Weber senior und besonders auch sein (für den jungen Weber als Orientierungspunkt sehr wichtiger) gelehrter Onkel Hermann Baumgarten vertreten hatten. Dieser Abwendung korrespondierte das ansteigende Interesse für die neuen sozialpolitischen Strömungen, die sich besonders seit den frühen 1890er Jahren, etwa im „Verein für Socialpolitik“ oder im „Evangelisch-sozialen Kongreß“, auch öffentlich zu artikulieren begannen. Webers intensive Anteilnahme an diesen Bestrebungen ist bekannt. Und manche Bemerkungen aus den Briefen weisen, wenn man genau zu lesen versteht, bereits voraus auf die schwere psychische Erkrankung Webers, die schon bald, um die Jahrhundertwende, einsetzen und ihn jahrelang fast arbeits- und berufsunfähig machen sollte: So schreibt Weber im Juli 1894 an seine Frau, dass eine befürchtete „Depression schwerer Art“ bei ihm glücklicherweise nicht eingetreten sei, „weil ich das Nervensystem und das Gehirn durch anhaltendes Arbeiten nicht zur Ruhe kommen ließ“ (MWG II/2, 556). Das Ende auch dieser Geschichte ist, wie gesagt, bekannt. Aber das ist bereits ein ganz anderes Thema.

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Das belegen vor allem die Forschungsresultate von Roth, 2001.

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Literatur Adair-Toteff, Christopher (2016): Max Weber’s Sociology of Religion. Tübingen: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck. Brentano, Lujo (1923a): Die Anfänge des modernen Kapitalismus [1913]. In: ders., Der wirtschaftende Mensch in der Geschichte. Leipzig: Meiner Verlag, 204 – 260. – (1923b): Puritanismus und Kapitalismus. In: ders., Der wirtschaftende Mensch in der Geschichte. Leipzig: Meiner Verlag, 363 – 425. Hennis, Wilhelm (2003): Max Weber und Thukydides: Nachträge zur Biographie des Werks. Tübingen: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck. Kraus, Hans-Christof (2016): Kontroversen um Puritanismus und Kapitalismus: Zur neuen kritischen Edition der „Protestantischen Ethik“ von Max Weber. In: Jahrbuch Politisches Denken 2015, Berlin: Duncker und Humblot, 257 – 264. Offenbacher, Martin (1900): Konfession und soziale Schichtung: Eine Studie über die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden. Tübingen – Leipzig: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck. Roth, Guenther (2001): Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800 – 1950 mit Briefen und Dokumenten. Tübingen: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck. Steinert, Heinz (2010): Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Frankfurt a. M. – New York: Campus Verlag. Sombart, Werner (1911): Die Juden und das Wirtschaftsleben. München – Leipzig: Duncker und Humblot. – (1913): Der Bourgeois: Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. München – Leipzig: Duncker und Humblot. Weber, Max (ohne Jahr): Jugendbriefe: Herausgegeben und mit Vorwort von Marianne Weber [1936]. Tübingen: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck. – (1973): Wissenschaft als Beruf [1919], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre: Vierte, erneut durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Johannes Winckelmann. Tübingen: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, 582 – 613. – (2016): Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 18: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus/Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus: Schriften 1904 – 1920. Herausgegeben von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube. Tübingen: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck. – (2017a): Gesamtausgabe, Abteilung II: Briefe, Bd. 1: Briefe 1875 – 1886. Herausgegeben von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Uta Hinz. Tübingen: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck. – (2017b): Gesamtausgabe, Abteilung II: Briefe, Bd. 2: Briefe 1887 – 1894. Herausgegeben von Rita Aldenhoff-Hübinger in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Sybille Oßwald-Bargende. Tübingen: J. C. B. Mohr – Paul Siebeck.

Reinhard Mehring: „Vergeben Sie ihm bitte, mein lieber Herr Professor Jaspers“. Heidegger-Schüler in der Korrespondenz mit Karl Jaspers

„Vergeben Sie ihm bitte, mein lieber Herr Professor Jaspers“ Heidegger-Schüler in der Korrespondenz mit Karl Jaspers* Von Reinhard Mehring „Vergeben Sie ihm bitte, mein lieber Herr Professor Jaspers“. Heidegger-Schüler in der Korrespondenz mit Karl Jaspers Reinhard Mehring

I. Im Vorwort heißt es: „Das Repertorium, das den Nachlass Jaspers’ im Deutschen Literaturarchiv Marbach erschließt, verzeichnet etwa 8.000 Korrespondenten, insgesamt dürften etwa 35.000 Briefe von und an Jaspers überliefert sein. Die vorliegende Edition kann davon nur eine Auswahl bieten. Sie orientiert sich an der thematischen Relevanz der Briefe sowie am intellektuellen Rang und der Wirkungsmächtigkeit der Korrespondenzpartner […] Eine vollständige Edition der Jaspers’schen Korrespondenz ist im Rahmen der von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften betreuten Gesamtausgabe geplant“ (8 f.). Bereits veröffentlichte Briefe und Briefwechsel – etwa mit Max Weber, Heidegger oder Hannah Arendt – wurden nicht aufgenommen und es fehlt eine ungefähre Übersicht über die herausgelassenen Korrespondenzen. Die ist nur über das DLA-Marbach zu finden. Anfang der 1930er kontrastierte Jaspers seine dreibändige Metaphysik der „Existenzerhellung“ mit einer sozialphilosophischen Kritik der „geistigen Situation der Zeit“. Die vorzügliche, eingehend kommentierte dreibändige Auswahl der Korrespondenzen steht nun vollgültig als Beispiel wahrhaftiger „Kommunikation“ neben dem dreibändigen Hauptwerk. Sie ist von großer universitäts- und philosophiegeschichtlicher Bedeutung. Jaspers’ Philosophie wird nicht zuletzt durch diese Korrespondenzen weiter wirken. Lange bekannt sind bereits die Briefwechsel von Jaspers mit Heidegger und Arendt. Im Vergleich der Korrespondenzen von Arendt mit Jaspers und Heidegger war bereits klar: Jaspers Korrespondenzen sind dialogisch explizit. Hier wird authentisch und redlich, offen und tolerant ausgesprochen, was andere geziert beschweigen oder verschweigen. Schon bei flüchtiger Durchsicht der Bände beeindruckt die Spannweite, Pluralität und Polyperspektivität der Themen und * Zugleich Besprechung von: Karl Jaspers: Korrespondenzen: Politik, Universität. Herausgegeben von Carsten Dutt und Eike Wolgast. Wallstein, Göttingen 2016, 860 S.; Karl Jaspers: Korrespondenzen: Philosophie. Herausgegeben von Dominic Kaegi und Reiner Wiehl. Wallstein, Göttingen 2016, 722 S.

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Gesprächspartner. Jaspers hört nicht nur genau zu, sondern er nimmt dezidiert Stellung und widerspricht auch deutlich, ohne dem Korrespondenzpartner je den persönlichen Respekt und die eigene Position zu versagen. Der Ton ist nicht konfrontativ, sondern argumentativ und klärend. Seine Liberalität besteht nicht in Konzilianz und Indifferenz, sondern in ernster Toleranz. Jaspers’ Philosophie stellt ein reiches und überreiches Vokabular zur Beschreibung solcher „existentieller“ Kommunikation zur Verfügung. Die Bände sind nicht durchnummeriert. Jaspers begann als Arzt und Psychiater, wechselte in die Philosophie und äußerte sich nach 1945 verstärkt politisch. Deshalb liegen die medizinisch-psychologischen Korrespondenzen meist zeitlich früher, die fachphilosophischen folgen und die politischen betreffen mehr das Spätwerk. Es ist nicht leicht, die polyperspektivische Korrespondenz an einem Faden zu besprechen. Jeder einzelne Briefwechsel verdient in bestimmten Zusammenhängen besondere Beachtung. Es ist dabei eine ironische Pointe, dass der Politik-Band, alphabetisch nach Gesprächspartnern geordnet, mit Adenauer beginnt und mit Ulbricht endet. Jaspers hält zu diesen Politikern kluge Distanz. Korrespondenzen mit Zeitschriften-Herausgebern und Redakteuren zeigen den erzieherischen Wirkungswillen des öffentlichen Intellektuellen. Die großen zeithistorischen Fragen der Nachkriegszeit – Entnazifizierung, Wiedervereinigung, Demokratisierung –, zu denen Jaspers vielfach Stellung nahm, sind im persönlichen Spiegel geradezu unerbittlich verhandelt. Jaspers stellt Peter R. Hofstätter etwa für Äußerungen zum Holocaust zur Rede, Emil Julius Gumbel versucht er in einer Entschädigungsfrage zu helfen. Wer die Geschichte der Max WeberForschung studieren möchte, für den sind die Korrespondenzen mit Gustav Radbruch, Theodor Heuss oder Karl Löwenstein eine zentrale Quelle. Wer die publizistische Lage der Nachkriegszeit erforscht, muss die umfangreiche Korrespondenz mit Dolf Sternberger zur Kenntnis nehmen. Sehr umfangreich ist auch der Briefwechsel mit Golo Mann, der 1932 bei Jaspers promovierte. Korrespondenz ist Distanzkommunikation: Wer nebenan wohnt, schreibt selten Briefe. Interne und intime Fragen werden oft nicht schriftlich erörtert. So ist die schmale Korrespondenz mit Walter Jellinek etwa für die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 nicht sonderlich ergiebig. Dennoch sind die Briefwechsel – so etwa mit dem Historiker Fritz Ernst – für die Heidelberger Universitätsgeschichte interessant. Wichtiger aber noch sind sie für die Geschichte der deutschen Universitätsphilosophie. Die folgende Besprechung konzentriert sich auf diese fachphilosophische Bedeutung und stellt dabei die Kommunikation mit den Heidegger-Schülern ins Zentrum.1

1  Dieser Aspekt ergänzt meine Heidegger-Forschungen in Mehring, 2016, und Mehring, 2018b.

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II. Philosophiegeschichtsschreibung erfolgt meist präsentistisch unter fachphilosophischen Fragestellungen. Die Fachphilosophie ist historisch-biographisch meist nicht sonderlich interessiert. Es gibt deshalb nur wenige vergleichbare Editionen. Jaspers hatte im Fach eine fast einzigartige Stellung. Er war jederzeit im Gespräch und repräsentiert eine relative Kontinuität des Gesprächsbandes über die Zäsuren hinweg. Allenfalls Spranger, Hartmann oder Scholz haben über die Umbrüche von 1918, 1933 und 1945 hinweg ähnlich ausgreifende Korrespondenzen geführt, die aber nicht ediert sind. Jaspers arbeitete seit 1909 in der Heidelberger Psychiatrie. 1916 wurde er Extraordinarius für Psychologie, 1920 wechselte er in die Philosophie und wurde 1922 Ordinarius. 1937 wurde er als Gegner des Nationalsozialismus zwangsemeritiert. Er war mit einer Jüdin verheiratet und rechnete jederzeit mit Deportation und Suizid. 1948 wechselte er nach Basel. In der Heidelberger Philosophie lehrte er insbesondere neben den Ordinarien Heinrich Rickert (1863 – 1936) und Ernst Hoffmann (1880 – 1952). Kurze Zeit kam Erich Frank (1883 – 1949) als Privatdozent und Extraordinarius dazu, mit dem Jaspers befreundet war. Frank wechselte dann als Nachfolger Heideggers nach Marburg und emigrierte später in die USA. Dazu sind interessante Briefe erhalten. Während keine Briefe mit Hoffmann übermittelt sind, zeigt die relativ schmale Korrespondenz mit Rickert ein sehr distanziertes Verhältnis. Das wird auch in der Antwort auf eine Anfrage Arnold Gehlens deutlich, für die „Blätter für Deutsche Philosophie“ einen Artikel zu Rickerts 70. Geburtstag zu schreiben. Jaspers erklärt dazu am 20. November 1932, was Gehlen eigentlich wissen konnte: „Dass die Frage Rickert betreffend durch Sie persönlich an mich kommt, ist mir erwünscht. Denn ich darf Ihnen offen sagen, dass meine Stellung zu Rickerts Philosophie in einem Grunde kritisch ist, der es ausschliesst, dass ich ihm mit einem Aufsatz zum 70. Geburtstag eine Freude machen könnte. Meinem persönlichen Fakultätskollegen aber bei dieser Gelegenheit eine Missstimmung zu verursachen, würde dem Sinne keines der Beteiligten entsprechen“ (357).

Dieses offene Geheimnis kollegialer Distanz war gewiss so publik, dass Gehlens Anfrage eigentlich verwundert. Jaspers hätte wohl auch nicht für die nationalistischen „Blätter“ geschrieben. Den Grenzgang, zugleich Position zu beziehen und Missstimmungen kollegial zu vermeiden, beherrschte er aber meisterlich. Eine volle Übersicht über die Heidelberger Verhältnisse im Fach geben die Briefwechsel nicht. Dazu ist private Korrespondenz oft nicht der Rahmen und es fehlen nähere Zeugnisse von Rickert und Hoffmann. Der Qualifikationsbetrieb – mit den Habilitationen von August Faust, Franz Böhm, Raymond Klibansky und Franz Josef Brecht – ist nur sporadisch ein Thema. Immerhin wird deutlich, dass Jaspers den Grundsatz der Trennung zwischen Dissertation und Habilitation

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Reinhard Mehring

vertrat: Wer in Heidelberg promoviert hatte, sollte sich woanders habilitieren. Deshalb wohl kam der Heidegger-Schüler Franz Josef Brecht (1899 – 1982) nach Heidelberg und der Jaspers-Schüler Werner Brock (1901 – 1974) wechselte 1931 nach einem scheiternden Göttinger Zwischenspiel als Assistent zu Heidegger nach Freiburg. Während die Korrespondenz mit Brecht ziemlich distanziert ist, pflegte Jaspers einen relativ engen und langen Briefwechsel mit Brock, der 1933 nach England emigrierte. Brock war für die Heidegger-Forschung bisher nur eine Nebenfigur: Er diente hier vor allem als Beleg dafür, dass Heidegger 1933 einigen jüdischen Schülern half. Das wird nun aus den Briefen erstmals deutlicher. Brock wurde im Frühjahr 1933 als Assistent sogleich gekündigt und schreibt Jaspers dazu am 8. Mai hellsichtig: „Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Möglichkeit eines fruchtbaren philosophischen Wirkens für mich in Deutschland zu Ende ist. Von der allgemeinen Lage abgesehen, habe ich den Wunsch, Herrn Heidegger als Nationalsozialisten und Rektor sobald wie möglich zu entlasten“ (171).

Heidegger ist damals erst wenige Tage im Amt, Brock erfasst aber sofort die veränderte Lage. Dennoch ermutigt er Jaspers im August 1933 noch, mit eigenen Hochschulplänen an Heidegger, Baeumler und Krieck heranzutreten. Dazu schreibt er am 28. August 1933: „Ich war vorgestern für ein paar Stunden bei ihm [Heidegger] auf der Hütte, und er war weniger verkrampft und zugänglicher als das ganze Semester hindurch. In meinen Angelegenheiten, wegen deren ich ihn besucht hatte, hat er einiges getan, sodass hinsichtlich M(ailand)s von neuem eine gewisse Hoffnung besteht“ (175).

Damals wechselt Brock vorerst nach England. Dazu schreibt er am 22. Oktober bereits aus England: „Ich bin skeptisch, ob hier etwas gelingt. 1) Prof. MacMurray ist zwar Vertrauensdozent des Assistance Council, aber hat darin keinen Sitz und Stimme und vor allem auch keinen Einfluss auf den Finanzausschuss. 2) Cassirer, der starke Ressentiments gegen Heidegger hat und ihn während der Hauptzeit meines Besuchs scharf und ungerecht angriff, sodass ich 2-mal genötigt war, ihn nachdrücklich menschlich und philosophisch zu decken, steht mir gleichgültig gegenüber und wird mich nicht unterstützen. Dabei besteht starker Andrang, auch von Philosophiedozenten. Klibansky aus Heidelberg und mancher Andere sucht eine Position zu gewinnen und hat zweifellos bessere Chancen. 3) Im Assistance Council herrschen – wie es begreiflich und billig ist – die jüdischen, orthodox religiös und politisch zionistisch orientierten Interessen vor“ (177).

Es herrscht also Konkurrenz um knappe Ressourcen. Brock berichtet Jaspers eingehend von seiner Lage. Im Januar 1934 vermeldet er eine Mailänder Alternative, die Heidegger vermittelte, und bittet um Rat. In England kann er neben emphatischen Gutachten von Jaspers auch positive Gutachten von Heidegger, Moritz Geiger, Georg Misch und Hermann Schmalenbach vorweisen. Obwohl die Stelle unsicher bleibt, entscheidet er sich – vermutlich wohl richtig – für den Ver-

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bleib in England. Trotz eines neuerlichen Gutachtens von Jaspers scheitert 1937 aber der Wechsel auf eine feste Stelle in der Literaturgeschichte. Brock bleibt, wie viele andere, von der Hilfsorganisation (AAC/SPSL) abhängig, die beispielsweise auch Arthur Liebert2 über die Kriegsjahre rettete. Nach Kriegsende liefen diese Hilfen aus und Brocks akademische Lage war wieder katastrophal. 1948 berichtet er von einer Wiederbegegnung auf einem Symposion in Freiburg, bei der Heidegger sich offenbar einen Persilschein ausstellte: „Verhalten mir gegenüber: Summa cum laude. […] Vergeben Sie ihm bitte, mein lieber Herr Professor Jaspers, er wusste nicht, was er tat, als er, uneigentlich wie er war, nach ‚Eigentlichkeit’ sich sehnte“ (207).

Brock begab sich damals einige Zeit in klinische Behandlung. Von einer Wiedergutmachungskommission erhielt er ein Extraordinariat in Freiburg, lehrte dort aber nicht mehr regelmäßig. Die längeren Ausführungen zu Brock zeigen am Beispiel, wie einschlägig die Korrespondenzen gerade für die Heidegger-Forschung sind. Sie bestätigen eine gewisse Unterstützungsbereitschaft, machen aber auch klar, dass Brock seine Rettung in die Emigration keineswegs Heidegger allein verdankte und die Verbindung mit Heidegger seine Stellung in England mitunter geradezu schwächte. Die energische Unterstützung durch Jaspers war hier vermutlich wirksamer. Letztlich aber bedurfte es beim AAC vielleicht keiner starken Fürsprache. Die Hilfsorganisation suchte viele etablierte Hochschullehrer zu retten, ohne weiter nach Ruhm und Rang zu fragen, vergab aber nur sehr schmale Stipendien und vorläufige akademische Anbindungen. Die Empfänger lebten in starken Abhängigkeiten ohne echte Aussichten und kehrten deshalb auch wieder nach Deutschland zurück. Brock war für Jaspers ein echter Schüler, Opfer des Nationalsozialismus und Kronzeuge gegen Heidegger. Es ist ein Kunststück der Heideggerianer, daraus einen Entlastungszeugen zu machen. Sein akademisches Schicksal verdiente endlich eine eingehendere Darstellung. Die Akten der Hilfsorganisation AAC/SPSL (Society for the Protection of Science and Learning) sind in der Bodleian Library der Universität Oxford sehr umfassend erhalten. III. Heidegger hatte die Verbindung mit Jaspers in den frühen 1920er Jahren als „Kampfgemeinschaft“3 aufgefasst. Jaspers stellte dazu 1931 klar, sie sei kein „Kompagniegeschäft“.4 Durch diese spannungsvolle Verknüpfung ergaben sich viele Kontakte mit Heidegger-Schülern: Jaspers korrespondierte u. a. mit Oskar Becker, Julius Ebbinghaus, Gadamer, Löwith und Gerhard Krüger. Deshalb 2 

Dazu Mehring, 2018c. Dazu Heidegger/Jaspers, 1990: 29. 4  Ebd.: 149. 3 

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Reinhard Mehring

finden sich viele interessante Äußerungen über Heidegger und es gehört zu den wichtigsten Aspekten des Briefbandes, näher zu beobachten, wie die Schüler diesen Seiltanz zwischen Heidegger und Jaspers bestanden. Die Korrespondenzen mit Ebbinghaus, Gadamer, Löwith und Krüger beginnen früh. Der Kontakt mit dem fast gleichaltrigen Julius Ebbinghaus (1885 – 1981) ist dabei lange sehr respektvoll, bricht aber 1957 über philosophische Differenzen schroff ab. Mit Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) gibt es zwar niemals größere philosophische Nähen, Jaspers vertraut ihm aber und macht gute kollegiale Erfahrungen gerade bei der Förderung seines Schülers Kampffmeyer (1908 – 1942). Gadamer beteiligt sich an einer informellen Festschrift zum 60. Geburtstag. Er schreibt Jaspers dann offen im Mai 1946 mit der Bitte um berufungspolitische Unterstützungen an; er ist damals Rektor in Leipzig, möchte aber in den Westen. Als sich ein Wechsel nach Basel abzeichnet, empfiehlt Jaspers der Heidelberger Universität die Berufung von Krüger und Gadamer (337) als Nachfolger. Als Gadamer damals aber, noch in Frankfurt, um einen Beitrag zur Heidegger-Festschrift bittet, kommt es zu wichtigen brieflichen Klarstellungen: Jaspers lehnt einen Festschriftbeitrag für Heidegger mit eingehendem Schreiben vom 20. Februar 1949 ab. Es geht ihm dabei auch um das öffentliche Zeichen und die Umgebung: „Ich würde gern mit Krüger und Guardini zusammen sein, schon wenig(er) gern mit Löwith, sehr ungern oder gar nicht mit anderen“ (340). Gadamer fragt dazu nach und stellt klar: „Krüger sagte mir, wenn er nicht Schüler Heideggers gewesen wäre, käme er gar nicht in einen Konflikt, denn die philosophischen Anliegen Heideggers lägen ihm heute ganz fern. (Und das gleiche gilt wohl für Guardini.) Für mich aber sieht das anders aus. Auch ich kann nicht übersehen, dass Heideggers Philosophie mit seinem politischen Verhalten 1933 innerlich zusammenhängt, und die Erfahrung, die Heideggers Verhalten 1933 für mich darstellte, empfinde ich, wie damals, auch heute noch als Aufgabe meines Philosophierens. Aber meine eigenen Denkversuche treten deshalb nicht aus dem heraus, was mir Heideggers Philosophieren zur Zeit meiner Schülerschaft bedeutete“ (342).

So deutlich äußerte sich Gadamer später in den öffentlichen Heidegger-Kontroversen kaum noch. Gadamer erscheint im Briefwechsel als der einzige Schüler, der sich zu Heidegger bekennt. Er stellte allerdings von „Seinsverständnis“ auf „Selbstverständnis“ um, weshalb Heidegger Gadamers Transformation seines „Denkens“ auch nicht anerkannte und sich weiter als solitär verstand. Es ist höchst beachtlich, dass kein einziger enger Schüler Heideggers dessen Werk im „ontologischen“ Selbstverständnis fortzusetzen trachtete. Krüger, Löwith und Brock sind am Werk nach 1933 sachlich kaum noch interessiert. Jaspers meint dazu: „Niemanden natürlich kann ich als meinen ‚Schüler‘ ansehen. Wenn man diese Kategorie anwendet, erzähle ich gern ein Gespräch mit Rickert, etwa 1923. Rickert: Sie haben zwar viele Hörer, aber doch gar keine Schüler. Ich: In der Tat, so ist es, Sie haben

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viele Schüler, sie alle reden Ihnen nach, ich weiss nicht, ob Sie das freut. Ich habe keine Schüler, denn jeder meiner Schüler ist er selbst und kein Schüler“ (351).

Jaspers schreibt Gadamer nun offen, dass er Gerhard Krüger (1902 – 1972) als Nachfolger präferierte. Das ist im Briefwechsel mit Krüger auch deutlich: Jaspers schätzt Krügers Arbeiten, insbesondere das Platon-Buch und eine unveröffentlichte Nietzsche-Studie, und engagiert sich nach 1945 für Berufungen nach Frankfurt, Tübingen und Heidelberg. Schon 1946 schreibt er: „Für später hoffe ich Sie für Heidelberg zu gewinnen“ (437). Tatsächlich wird Krüger 1948 nach Heidelberg berufen. Am 23. März 1949 schreibt er aber überraschend: „Ich habe etwas sehr Befremdliches getan. Nachdem die Wohnung endlich gesichert war, habe ich am Sonntag vor acht Tagen den Ruf angenommen. Aber vorgestern habe ich diese Zusage wieder zurückgenommen“ (452).

Krüger bleibt in Tübingen, wechselt später nach Frankfurt. Jaspers reagiert wohlwollend und besonnen und das Verhältnis bleibt freundschaftlich. Krüger verbindet mit Jaspers – anders als Gadamer oder Löwith – die positive Bejahung des Christentums. Anlässlich eines Festschriftbeitrags schreibt Jaspers denn auch: „Auf weiten Strecken gehen wir gemeinsam“ (481 f.). Krüger ist dann nach einem Schlaganfall gesundheitlich stark geschwächt. Jaspers widmet seinen Festschriftbeitrag der Gestalt des „Hiob“. Schon durch diesen Beitrag ist Krüger unter den Heidegger-Schülern hervorgehoben. Der Kontakt mit Karl Löwith (1897 – 1973) ist dagegen durch die Emigration loser. Dabei lernt Jaspers Löwith schon vor 1933 kennen und schreibt ihm 1934 auch ein Gutachten für die Rockefeller Stiftung. Löwith berichtet 1936 aus Rom vom Vortrag Heideggers: „Sein Hölderlin-Vortrag war kunstvoll und schön aufgebaut – was freilich das Wesen dieser Dichtung mit dem H.-kreuz zu tun hat, das er im Knopfloch trägt, ist schwer zu verstehen“ (503).

Ob Heidegger in Rom das Parteiabzeichen getragen hat, ist in der Heidegger-Forschung umstritten. Aber warum sollte die unmittelbare briefliche Erinnerung irren? Der Kontakt bricht mit Löwiths Emigration nach Japan und in die USA für 10 Jahre ab. Löwith findet 1947 dann ein persönliches Band über den Tod des gemeinsamen Freundes Erich Frank. Er kommt aber erst 1952 nach Heidelberg, als Jaspers schon in Basel ist. Man korrespondiert zwar gelegentlich noch über berufungspolitische Fragen und trifft sich zum Gespräch; 1961 lehrt Löwith auch ein Semester vertretungsweise auf Jaspers’ einstigem Lehrstuhl (535); dass er dessen Schüler Rossmann nicht nach Heidelberg holt, sondern Habermas vorzieht, verstimmt Jaspers aber deutlich. Vielleicht lag es gerade an den verbindenden Forschungsthemen – u. a. Max Weber, Nietzsche und Geschichtsphilosophie –, dass beide sachlich stets getrennt waren. Es lag gewiss nicht am mangelnden „Sinn für ‚Transzendenz‘“ (539) allein, den Löwith leicht ironisch nennt. Wie

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Jaspers schon an Gadamer schrieb, stand ihm Löwith unter den Heidegger-Schülern vergleichsweise fern. So lehnte er Löwith als Festredner für die Heidelberger Weber-Säkularfeier 1964 ab. Dem damaligen Rektor Fritz Ernst schrieb er: „Löwith hat über Max Weber geschrieben, immer intelligent, immer mit guten Zitaten, immer leicht fasslich, aber, wie ich meine, ahnungslos. Das wäre keine Max Weber-Feier“ (166).

IV. Es gibt im Philosophen-Briefband noch manches zu entdecken. Nicht uninteressant ist etwa die Korrespondenz mit jüngeren Schülern: Johannes Kampffmeyer (1908 – 1942), der 1942 als Soldat verstarb, ist heute als enger Jaspers-Schüler vergessen. Jaspers empfahl ihn nachdrücklich an Gadamer nach Leipzig und wollte 1944 noch dessen Dissertation postum veröffentlichen. Die Korrespondenz mit Liselotte Richter (1906 – 1968), die 1947 in Berlin auf dem KPD-Parteiticket berufen wurde, ist dagegen nur als Überlebensgeschichte aus dem zerbombten Berlin interessant. Jaspers korrespondierte auch mit prononcierten Nazis wie Ernst Krieck (1882 – 1947), Arnold Gehlen (1904 – 1976) und Heinz Heimsoeth (1886 – 1975). Mit Gehlen brach er den Kontakt bald ab, Heimsoeth verweigerte er ein entlastendes Gutachten, erklärte seine Haltung aber eingehend. Ein zentraler Streitpunkt war hier der nazifizierende Umgang mit Nietzsche. Im Falle Ernst Krieck trennte Jaspers zwischen nationalsozialistischer Ideologie und amtlich korrektem Umgang: Er konzedierte der Tochter, stets um Fairness bemüht, dass Krieck ihn nicht persönlich diffamiert und verfolgt habe. Die schwierige Lebenslage im Nationalsozialismus kommt im längeren Briefwechsel mit dem Germanisten Ernst Beutler (1885 – 1960) deutlich zur Sprache, dem Direktor des Freien Deutschen Hochschulstifts und Goethe-Museums in Frankfurt. Beutler lud Jaspers trotz seiner Zwangspensionierung 1937 zum Vortrag und organisierte ihm 1947 den Goethe-Preis. An Jaspers’ Rede „Unsere Zukunft und Goethe“, zunächst in der Zeitschrift „Die Wandlung“ publiziert, schieden sich dann die Geister. Ernst Robert Curtius (1886 – 1956) beispielsweise, Jaspers lange verbunden, lehnte sie energisch ab. Die vergangenheitspolitische Nachkriegsfrage nach Traditionsverlust, -umbruch und Traditionsbewahrung, in Gadamers „Wahrheit und Methode“ später (1960) abgeklärt erörtert, wurde damals nicht zuletzt an Goethe verhandelt: Galt der Weimarer Neuhumanismus nach der „deutschen Katastrophe“ noch? Oder war Goethe abgelebtes „bürgerliches“ 19. Jahrhundert? Curtius war ein Gegner des Nationalsozialismus gewesen und hatte alle philosophischen Aspirationen begraben. Er stellte mit allerhöchstem philologischen Rangund Klassikerbewusstsein auf den „Thesaurus“ abendländischer Topoi um5 und 5 

Dazu Mehring, 2018a: 209 – 220.

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bestritt Jaspers nicht nur die philologische Autorität und Kompetenz, die „Abkanzelung Goethes“, sondern explizit auch den „Posten eines praeceptor Germaniae“. Sein Artikel „Goethe oder Jaspers?“ entzündete eine heftige Kontroverse u. a. in der Heidelberger Lokalpresse, die im Politik-Band (494 ff.) erfreulich umfassend – mit Abdruck der einschlägigen Artikel – dokumentiert ist. Einige Heidelberger Kollegen intervenierten damals in einem offenen Brief für Jaspers, woraufhin Curtius seinen Einspruch gegen die Rolle des „Volkserziehers“ erneuerte. Den Streit um die nomothetische Rolle und Berufung der Philosophie zur Volkspädagogik gibt es seit Empedokles und Platon. Was bei Jaspers stets kritisch gesehen wurde und dessen politische Publizistik nach 1945 begleitete, wurde Habermas später selbstverständlicher konzediert. Die Frage wird immer neu diskutiert. Geert Keil6 stellte sie in der FAZ jüngst unter die ironische Überschrift „Mehr Habermas wagen“ und verteidigte die Universitätsphilosophie gegen den altüberlieferten Griff ins „große Ganze“. Zum „Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation“ meinte er: „Es ist nicht zu sehen, warum Philosophieprofessoren sich von anderen Berufsgruppen durch eine besondere politische Urteilskraft auszeichnen sollten.“ Curtius’ Einspruch gegen Jaspers markiert eine frühe Etappe in der bundesrepublikanischen Entwicklung des Problems. Es ist hier nicht zu klären, weshalb genau Jaspers nach 1945 von Heidelberg nach Basel wechselte. Gute Gründe gab es genug und einiges kommt in den Korrespondenzbänden zur Sprache. Jaspers rechtfertigte seinen Wechsel auch in der Lokalpresse, was im Politik-Band ebenfalls abgedruckt ist (495 ff.). Seine spätere Baseler Lage ist etwa in den Korrespondenzen mit Heinrich Barth und Karl Barth thematisch. V. Die Besprechung der dreibändigen Briefauswahl stellte einen Nebenaspekt ins Zentrum, der die heutige Philosophiegeschichtsschreibung besonders interessiert: das Verhältnis der Heidegger-Schüler zu Jaspers. Damit ist nicht bestritten, dass Jaspers eine eigene und gewichtige Stimme hat und philosophisch nicht minder interessant ist. So sahen es viele Zeitgenossen, die die „Existenzphilosophie“ summarisch betrachteten, und es zeichnet sich seit einigen Jahren auch ein erneutes Interesse an Jaspers’ Philosophie ab. Die dreibändige Auswahledition der Briefkorrespondenzen ist ein Auftakt zur entstehenden Gesamtausgabe, einem großangelegten Akademieprojekt, das bei der heutigen Lage des Faches fast verwundert. Es steht noch aus, ob diese Akademieausgabe ein Begräbnis erster Klasse wird oder eine nachhaltige Belebung von Jaspers’ Philosophie bringen kann. Mancher Band dieser Gesamtausgabe wird in den Regalen voraussichtlich verstauben. Dieses Schicksal wird die dreibändige Briefauswahl aber schwerlich erleiden: Sie ist eine universitäts- und philosophiegeschichtliche Quelle ersten Ranges. 6  Keil,

2018.

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Literatur Heidegger, Martin/Jaspers, Karl (1990): Briefwechsel 1920 – 1963. Herausgegeben von Walter Biemel und Hans Saner. München/Zürich: Pieper. Jaspers, Karl (2016a): Korrespondenzen: Philosophie. Herausgegeben von Dominic Kaegi und Reiner Wiehl. Göttingen: Wallstein. Jaspers, Karl (2016b): Korrespondenzen: Politik, Universität. Herausgegeben von Carsten Dutt und Eike Wolgast. Göttingen: Wallstein. Keil, Geert (2018): Philosophie in der Kritik: Wittgensteins Großneffe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. März 2018. Mehring, Reinhard (2016): Heideggers „große Politik“: Die semantische Revolution der Gesamtausgabe. Tübingen: Mohr Siebeck. Mehring, Reinhard (2018a): Die Erfindung der Freiheit: Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik. Würzburg: Könighausen & Neumann. Mehring, Reinhard (2018b): Heidegger und die „konservative Revolution“. Freiburg: Karl Alber. Mehring, Reinhard (2018c): Philosophie im Exil: Emil Utitz, Arthur Liebert und die Exilzeitschrift Philosophia: Dokumentation zum Schicksal zweier Holocaust-Opfer. Würzburg: Könighausen & Neumann.

Thomas Meyer: Zu neuerer Literatur über Leo Strauss

Zu neuerer Literatur über Leo Strauss1 Von Thomas Meyer Zu neuerer Literatur über Leo Strauss Thomas Meyer

I. Autoren fühlen sich nahezu immer von ihren Kritikern missverstanden. Das liegt nicht nur in der (hermeneutischen) Natur der Sache, sondern auch an Dispositionen. Leo Strauss etwa konnte sich furchtbar über aus seiner Sicht ungerechtfertigte Kritik aufregen. Sein engster Freund Jakob Klein schreibt ihm in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren denn auch die Eigenschaft zu, auf Einwürfe beleidigt und gar cholerisch reagiert zu haben. Solche Reaktionsweisen waren zumindest aus der akademisch-ökonomischen Sicht mehr als menschlich – und somit verständlich. Natürlich kannte Strauss Max Webers Analysen in „Wissenschaft als Beruf“, nicht minder Karl Mannheims Buch „Ideologie und Utopie“ und vor allem die beruflichen Aussichten insbesondere jüdischer Akademiker in der Spätphase der Weimarer Republik bestens, so dass die Illusionslosigkeit leicht in scharfe Kritik an den Etablierten münden konnte. Was sie im Falle von Strauss denn auch tat. So wandte sich Strauss in den für ihn finanziell äußerst prekären frühen dreißiger Jahren an seinen Vorgesetzten an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums Julius Guttmann mit der Bitte, die Besprechung seines SpinozaBuches nicht an einen Autor zu vergeben, den er, Strauss, Jahre zuvor selbst sehr scharf attackiert hatte.2 Auch in späteren Jahren, als er längst ein etablierter und von einem großen Schülerkreis verehrter Professor an der University of Chicago war, reagierte er auf Kritik oder auf Entwicklungen in den Wissenschaften, die nach seiner Meinung gegen ihn und sein Fach – die „Politische Philosophie“ – gerichtet waren.3 1  Ältere Literatur, die man hier womöglich vermisst, wurde vom Autor unter dem Titel „Neuere Literatur zu Leo Strauss“ in der Philosophischen Rundschau besprochen (Meyer, 2009). 2  Es handelt sich um Albert Lewkowitz (1883 – 1954), dessen Buch „Religiöse Denker der Gegenwart“ (1923) er im darauf folgenden Jahr in Bubers Zeitschrift „Der Jude“ verrissen hatte. Lewkowitz hat dann äußerst fair Strauss’ Spinoza-Buch in der „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ besprochen (Lewkowitz, 1930). 3  Wie sich Strauss das dachte, dokumentiert der offiziell von Herbert J. Storing herausgegebene, 333 Seiten starke Band „Essays on the Scientific Study of Politics“ (Storing,

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Strauss wäre aber völlig falsch situiert, wollte man diese „Motive“ in irgendeiner Weise als maßgeblich für ihn im Umgang mit Kritik ansehen. Denn anders als alle anderen bedeutenden Denker des 20. Jahrhunderts erzeugte er gezielt eine kritische Öffentlichkeit für seine Überlegungen. Insbesondere die als Gipfelgespräch mit Alexandre Kojève – weitaus weniger gelang dies mit Eric Voegelin – inszenierte Auseinandersetzung im Anschluss an seine Studie „On Tyranny“ (1948) anlässlich der Übersetzung ins Französische, steht exemplarisch für diese Haltung. Die im Herbst 1954 veröffentlichte Version, nahezu zeitgleich mit der im Mai des gleichen Jahres publizierten französischen Fassung von „Natural Right and History“, war durch eine Replik von Kojève und eine Duplik von Strauss ergänzt worden. Diese Edition fand dann auch den Weg zurück ins Englische, schließlich 1963 ins Deutsche und kann als Höhepunkt von Strauss’ Versuchen gelten, seine Themen diskutierend bekanntmachen zu wollen. Ob Strauss das Unternehmen selbst als gelungen betrachtete, ist nicht bekannt. Der erratische Briefwechsel mit Kojève gibt darüber keine direkten Auskünfte. Will man den gegenwärtigen Stand der Literatur zu Leo Strauss aus Sicht von jüngeren Straussians kennenlernen, so greift man am besten zu dem von Timothy W. Burns und Bryan-Paul Frost herausgegebenen Band zur Debatte zwischen Strauss und Kojève.4 Damit wird an die mehrfach erweiterte Edition der „On ­Tyranny“-Debatte direkt angeknüpft, die der Strauss-Schüler Victor Gourevitch und Michael S. Roth zusammen mit der ins Englische übersetzten Korrespondenz zwischen Strauss und Kojève erstmals 1991 verantwortet hatten. Die ausschließlich männlichen Autoren des Sammelbandes sind zum Teil seit Jahrzehnten mit den Texten vertraut (so der Alan Bloom-Schüler und erste Übersetzer von Kojèves ursprünglich auf Französisch verfasster Replik James H. Nichols, jr., sowie Richard L. Velkley5), so dass hier eine geradezu idealtypische Deutung der Debatte vorliegt. Ergänzt werden die Beiträge durch das von Emmanuel Patard ins Englische übersetzte Original von Kojèves Replik. Wer also die exoterischen und esoterischen Interpretationsmöglichkeiten anhand der Strauss’schen Tiefenhermeneutik an Texten von Strauss selbst (und natürlich von Kojève, der seinen Deutungen andere Prämissen zugrundelegte) kennenlernen möchte, der greife zu diesem Sammelband. Zu diesem Sammelband sollte auch greifen, wer die 1963), der aus Texten von Strauss, Walter Berns, Storing, Leo Weinstein und Robert Horwitz besteht. Eingebunden waren zudem Martin Diamond, Marvin Zetterbaum und Harry V. Jaffa. Was hier allgemein angedeutet wird, wird ausführlich und mit Belegen in meiner in Vorbereitung befindlichen Biographie von Leo Strauss dargestellt werden. 4  Burns/Frost, 2016. 5  Velkley hatte 2011 eine Studie zu „Heidegger, Strauss, and the Premises of Philosophy“ bei der University of Chicago Press vorgelegt, die ebenso behutsam, wie streng an den Vorgaben der von Strauss vorgegebenen textimmanenten Deutung dessen Wertschätzung und Vorbehalte gegenüber dem Seinsdenker darlegt.

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postheideggeranischen Metaphysik-Diskussionen im Bezug auf die miteinander unversöhnlichen Alternativen der „Alten“ und der „Neuen“ aus zwei radikalen, nicht minder in schärfster Opposition stehenden Perspektiven rezipieren möchte. Denn eines dürfte klar sein, vor allem dann, wenn man die Originalmaterialien zur Hand nimmt: Strauss und Kojève konnten miteinander philosophisch kommunizieren, gerade weil sie philosophisch nichts außer dem emphatisch verteidigten Primat der Philosophie teilten. II. Treten wir einen Schritt zurück, bevor die nächsten Bücher besprochen werden. Die Rezeptionsgeschichte der Schriften von Leo Strauss beginnt mit seinem ersten veröffentlichen Buch aus dem Jahr 1930. Es gelang ihm sogar, die Wahrnehmung seines Erstlings über die „Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft“ teilweise zu steuern. Denn Strauss konnte den aus Marburger Zeiten gut bekannten Gerhard Krüger (1902 – 1972) davon überzeugen, in der „Deutschen Literaturzeitung“ nicht nur zu schreiben, sondern das „Problem der Aufklärung überhaupt“ in den Blick zu nehmen.6 Der Erstling zog aber auch das Interesse von so illustren und sehr verschiedenen Persönlichkeiten wie Aron Gurwitsch, Jacob-Peter Mayer, Albert Lewkowitz, Isaak Heinemann, Ferdinand Tönnies, Carl Schmitt, Werner Jaeger und den Breslauer Jesuiten Stanislaus von Dunin-Borkowski auf sich. Strauss war mit einem Male als Philosoph etabliert, wenn auch ohne jede berufliche Perspektive, die sich erst mit dem Rockefeller-Stipendium einstellte, das er im Oktober 1932 in Paris antrat. Auch mit „Philosophie und Gesetz“ (1935) und der Hobbes-Studie (1936) fand er die richtigen und wichtigen Kritiker, wie ein genauerer Blick zeigt. Mit dem Strauss womöglich zu dieser Zeit bereits persönlich bekannten Rezensenten von „Philosophie und Gesetz“, Shlomo Pines, sollte er 1963 die maßgebliche englischsprachige Edition von Maimonides’ „More Newuchim“ herausgeben und einleiten. Michael Oakeshott wiederum sorgte als Hobbes-Instanz, zur gleichen Zeit der junge, an der Harvard University lehrende Carl Joachim Friedrich, für die günstige Aufnahme in Großbritannien bzw. den USA von „The Political Philosophy of Hobbes“. Ebenfalls bedeutsam war, dass der Historiker Salo Wittmayer-Baron durch Guttmann und den Schwager, den Arabisten Paul Kraus, auf Strauss in diesen Jahren aufmerksam wurde und ihn zunächst mit einem Stipendium für ein Jahr an die Columbia University rettete, bevor er, wiederum zunächst nur für ein 6  Nahezu alle publizierten und unpublizierten Schriften von Leo Strauss bis zu seiner endgültigen Übersiedelung in die USA im Jahr 1938 liegen in drei, immer wieder ergänzten Bänden vor, dazu ausgewählte Briefwechsel mit Jacob Klein, Gerhard Krüger, Karl Löwith und Gershom Scholem. Herausgeber ist Heinrich Meier (teilweise mit Wiebke Meier), erschienen sind sie im Verlag Metzler, Stuttgart. Hier wird auf sie mit GS I – III und Seitenzahl verwiesen. Zu dem Zitat siehe GS III, 392.

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Jahr, 1938 an die New School for Social Research gelangte. Mit der bereits erwähnten, nur Dank privater finanzieller Unterstützung erschienenen Studie „On Tyranny“ gelangte zum ersten und einzigen Male während seiner Lebenszeit ein Buch von Strauss, wenn auch sehr kritisch besprochen, in die „New York Times“. In den späteren vierziger Jahren, nunmehr Full Professor an der „New School“, war Strauss selbst wieder als (gefürchteter) Rezensent tätig. In der Hauszeitschrift „Social Research“ publizierte er zahlreiche, zum Teil vernichtende Kritiken, die sich mal gegen Aktualisierungen der antiken Philosophie, mal gegen kulturphilosophische Überlegungen richteten.7 Die Rezeptionsgeschichte seiner amerikanischen Bücher ist kompliziert, kann aber grob in zwei Richtungen unterschieden werden: zum einen zeigte man in den Fachzeitschriften Strauss ein dank der Themenwahl zunächst wohlwollendes Interesse, das jedoch immer dann in Befremden, scharfe Kritik oder gar harsche Ablehnung umschlug, wenn es um die „Botschaft“ oder die selbst für viele der professionellen Leser nur schwer verständlichen Eigentümlichkeiten der Studien ging. „Thoughts on Machiavelli“ von 1958 ist das Musterbeispiel für die immerhin noch zwiespältige Aufnahme eines Werkes. Späterhin steigerte sich die Rezeption bis hin zur Aversion oder gar zu einer Art Feindschaft, die sich in dem bloßen Unwillen äußerte, den Politischen Philosophen überhaupt ernst zu nehmen.8 Die Studien zu Aristophanes, Xenophon und die von Strauss noch abgeschlossene Studie zu Platons „Nomoi“ und den von ihm noch konzipierten Sammelband „Studies in Classical Political Philosophy“, letztere postum publiziert, lösten bestenfalls Kopfschütteln aus – sieht man von den Schülern ab, die Strauss und sich gegenseitig Deckung gaben.9 Mit den Geschwistern Gertrude und Milton Himmelfarb, sowie Arnaldo Momigliano, um diese drei zu nennen, hat Strauss früh ebenso unabhängige wie klarsichtige Köpfe auf seine Seite ziehen können, ohne dass diese ihre intellektuelle Eigenständigkeit gegenüber seiner Politischen Philosophie einschränkten. Gertrude Himmelfarbs Sammelbesprechung von 1951 im „Commentary“10 und 7  Einen

allerersten Einblick in Strauss’ Rezensentenstrategien bieten die im Anhang von „What is Political Philosophy? And other Studies“ abgedruckten Besprechungen (Strauss, 1988). 8  Das mag aber auch daran liegen, dass es, anders als es gerne dargestellt wird, seit den frühen sechziger Jahren eine klar konturierte Wahrnehmung der Straussians gab, die auch häufig als solche auftraten. Peter Gay jedenfalls ist nur einer von vielen Autoren, die das „reading between the lines“ oder die Unterscheidung von exoterischem und esoterischem Lesen als zur „cottage industry“ geworden bezeichnen (Gay, 1974: 15). 9  Insbesondere Seth Benardete und der bereits genannte Gourevitch veröffentlichten Darstellungen von Strauss, die aus intimster Werkkenntnis Strauss’ Denken für andere Richtungen „attraktiv“ machen wollten. 10  Himmelfarb, 1951.

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Momiglianos Rezension von „Socrates and Aristophanes“11 1967 in der gleichen Zeitschrift gehören bis heute zum Klügsten, was über die „Sphinx without a Secret“12 geschrieben wurde. An diese knappe Rezeptionsgeschichte wurde erinnert, weil sie innerhalb der kaum noch überschaubaren Literatur zu Strauss, schon gar nicht in der von Straussianern, keine Rolle spielt. Dabei könnte man allein anhand der 935 Seiten zählenden Bibliographie von John A. Murley aus dem Jahr 2005 eine Geschichte der Rezeption schreiben, ohne auch nur einen Text gelesen zu haben. Es würden mit einem Male Themen- und Sachschwerpunkte ebenso hervortreten, wie Filiationen und Netzwerke von Straussians klar würden – man müsste also nicht die wenig ergiebigen, dafür umso mehr „Skandal“ versprechenden Spuren in die amerikanische Politik verfolgen, wollte man das „Geheimnis“ und vor allem die in früheren Zeiten bis in die Archivpolitik hineinreichende „Geheimniskrämerei“ verstehen. Blickt man von dieser Feststellung auf die neuere Literatur zu Strauss, dann tut zum einen die Unaufgeregtheit gut, mit der das vermeintliche Mastermind der „Neocons“ analysiert wird. Andererseits sind die Studien noch immer Mangelware, die vergleichend oder analytisch-kritisch ihren Weg mit oder gegen Strauss gehen.13 III. Eine umfassende internationale Rezeption von Strauss war nicht zuletzt deshalb möglich geworden, weil deutsche Texte ins Englische übertragen wurden. Gleich zweimal wurde „Philosophie und Gesetz“ übersetzt, Michael Zank brachte dann eine Auswahl von frühen philosophischen und zionistischen Abhandlungen heraus, bis schließlich nach und nach die in den drei Bänden der „Gesammelten Schriften“ publizierten Texte auf Englisch vorlagen. Insbesondere der von Martin D. Yaffe verantwortete Band „Leo Strauss on Moses Mendelssohn“, in dessen Zentrum die zehn Einleitungen zu Schriften Moses Mendelssohns stehen, welche Strauss als Mitarbeiter an der sogenannten „Jubiläumsausgabe“ seit 1929 schrieb, verdient besondere Aufmerksamkeit.14 Nicht nur wegen der Qualität der Übersetzung, die auch kleinere Texte umfasst, die zum Umfeld der Beschäftigung 11 

Momigliano, 1967. der legendär gewordene, von einer Geschichte Oscar Wildes entlehnte Titel des Textes von Myles Burnyeats kunstvollem Verriss von Strauss’ Ansatz in der New York Review of Books (Burnyeat, 1985). 13  Erste Provokationen in dieser Richtung kommen nicht grundlos von Wissenschaftlerinnen, die sich mit Hannah Arendt auseinandergesetzt haben: So die scharfe und klug argumentierende Polemik von Widmaier, 2012, und die weitaus nüchternere Arbeit von Keedus, 2015. 14  Yaffe, 2012. 12  So

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mit Mendelssohn gehören und die ein Schlaglicht auf Strauss’ weiterhin wenig beleuchtetes Interesse an Lessing werfen, sondern auch wegen des exemplarisch geratenen, 100 Seiten umfassenden Essays von Yaffe. Darin kontrastiert der Herausgeber Strauss’ Intention mit der von Alexander Altmann (1906 – 1987), dem Mendelssohn-Biographen und Wiederbeleber der „Jubiläumsausgabe“ in den späten sechziger Jahren. Nach Yaffe ist Mendelssohn ein Modellfall, dessen Bedeutung für theologisch-politische Fragestellungen der Herausgeber herausstellen möchte, während Altmann auf werkimmanente Probleme abzielt. Auch wenn Yaffe die neueren und neuesten Forschungen zu dem von Strauss ausführlich behandelten „Pantheismus“-Streit allesamt ignoriert, ist aus seiner sorgfältigen und äußerst klar geschriebenen Rekonstruktion Vieles darüber zu lernen, wie Strauss „las“. So werden die offengelegten Bezüge zu Spinoza, Rousseau oder Nietzsche lediglich in einem „Epilogue“ deutend mit Strauss’ späteren Schriften verbunden. Die rätselhafte Prämisse vom Verstehenwollen eines Autors, wie er sich selbst verstanden hat, findet bei Yaffe eine plausible Umsetzung: Bescheidenheit – keine häufige Eigenschaft bei Straussians oder ihren Gegnern. Unter dem Aspekt des sorgfältigen Lesens einerseits, der Veröffentlichung von Nachlass-Materialien andererseits, kann ein Band ohne jede Einschränkung empfohlen werden, bei dem Yaffe eine wesentliche Rolle spielt. In „Reorientation: Leo Strauss in the 1930s“, den Yaffe zusammen mit Richard S. Ruderman herausgegeben hat, finden sich neben elf Aufsätzen von Spezialisten zu dem heftig debattierten Thema der vermeintlichen „Entdeckung“ der Exoterik-Esoterik-Unterscheidung bei Strauss und ihrer Bedeutung in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, insgesamt acht bislang unübersetzte bzw. unpublizierte Texte von Strauss.15 Für die Beschäftigung mit der für viele an Strauss Interessierte wesentlichen Frage nach dem Zustandekommen seiner Politischen Philosophie und des sie tragenden Konzepts16 ist der Band gemeinsam mit der Zusammenstellung und Deutung der Texte zu Mendelssohn eine der ganz wenigen Publikationen, die man zur Kenntnis genommen haben muss, wenn man über den noch immer unterschätzten Denker Leo Strauss nachdenken möchte. Denn die Beiträge lassen sich hier direkt mit Strauss’ Schriften abgleichen, bleiben insofern den Prämissen des Meisters treu, ohne dabei bloß zu wiederholen, was von ihm bereits gesagt wurde. Zudem sei insbesondere auf die Qualität der Übersetzungen und vor allem auf Hannes Kerbers aufschlussreiche Editionen von „Exoteric Teaching“ bzw. „Notes for ‚Persecution and the Art of Writing‘“ (beide von 1939) verwiesen. Während die Ausdeutungsarbeit am Problem des Exoterischen-Esoterischen intensiv weitergeht,17 konnte man das Gefühl haben, dass es zwar eine kaum zu 15 

Yaffe/Ruderman, 2014. wenig die Rede einer „Methode“ in diesem Zusammenhang gerechtfertigt ist, zeigen die Beiträge eindrücklich. 16  Wie

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übersehende Anzahl von Studien im Geiste von Strauss vor allem zu Sokrates, Platon, Aristoteles und Xenophon gibt, doch fehlte ein Buch, das seinen Umgang mit diesen und anderen antiken Autoren eingehend untersucht. Mit dem von Timothy W. Burns herausgegebenen „Brill’s Companion to Leo Strauss’ Writings on Classical Political Thought“ liegt nun ein solcher Versuch vor.18 Auch er wird ganz und gar von Straussians bestritten, auch in diesem Falle wurden ausschließlich Fachleute gewonnen, die teilweise seit Jahrzehnten sich mit einem oder mehreren der genannten antiken Autoren beschäftigen, und dabei ein immenses Maß an Vertrautheit mit Strauss’ Texten erreicht haben. Allerdings wird, das hat sich offensichtlich in diesen Kreisen als pädagogisch-exoterisches Stilelement etabliert, unglaublich viel von Strauss zitiert – und bis zur Erschöpfung des Lesers paraphrasiert. Etwaige Ablenkung durch die Einbeziehung von Sekundärliteratur findet nicht statt, es sei denn aus dem eigenen Kreis. Diese Hermetik fördert einerseits die Konzentration auf die Texte, andererseits sind gerade – sieht man von den äußerst lebendigen Diskussionen um Strauss’ Beiträge zu Maimonides einmal ab – die Debatten um das eigenwillige Spätwerk des Politischen Philosophen, insbesondere die Beschäftigung mit Xenophon,19 in den letzten knapp zehn Jahren so aktiv anregend geworden, dass die Abschottungen gegenüber diesen Forschungen immer absurder, ja eigentlich peinlich wirken. Zumal die Probleme oder offenen Fragen, die Strauss’ Schriften hinterlassen, zumeist bloß und nicht selten eigenwillig repetiert werden. Diese Form des steten Neuerzählens vom selbst und einfach Nachlesbaren beginnt bereits im ersten, „Natural Right and History“ gewidmeten Beitrag (Gregory A. McBrayer), findet sich aber auch in zahlreichen anderen Artikeln, deren Informationsgehalt gar nicht bestritten werden soll.20 Natürlich ist das alles äußerst genau ausformuliert, darf man nochmals die Fragen und Antworten, Probleme und Lösungen akzentuiert mit nachvollziehen, die Strauss formulierte. Und jeder wird nach der Lektüre des Handbuches erneut die Studien des Meisters in die Hand nehmen und sie dieses Mal, womöglich zum ersten Mal, mit großem Gewinn lesen. Manchem der Beiträger – am eindrücklichsten vielleicht im Falle von Clifford Orwins Lektüre des Thukydi17

17  Melzer,

2014. Das in den USA ausführlich diskutierte Buch ist in erster Linie eine Sammlung von Belegen, die die These von der vergessenen Geschichte einerseits untermauern, andererseits durch die Materialien als der Forschung entgangenes Terrain aufzeigen möchte. Das Buch ist als Bestätigung für die These vieler Straussianer gedacht, Strauss habe die Unterscheidung von Exoterischem und Esoterischem wiederbelebt. 18  Burns, 2015. 19  Man könnte die Monographie von Fussi, 2011 und die entsprechenden Artikel in Gray, 2010 als den Beginn einer umfassenden, immer größere Bedeutung gewinnenden Auseinandersetzung mit Strauss’ Schriften zu Xenophon werten. Dass sich die Straussians mit den zahlreichen Denk- und Gesprächsangeboten nicht auseinandersetzen – und das zu ihrem Nachteil, sei ausdrücklich vermerkt. 20  Siehe dazu die Besprechung von Bloxham, 2016.

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des gewidmeten Kapitels in „The City and Man“ – gelingt es geradezu spielend darzustellen, warum er sein Denken und Schreiben an Strauss und den von ihm analysierten Autoren ausrichtet. Wer aber soll damit gewonnen werden? Welche Brücken bauen die nach ständigen und in nahezu gleichen Formulierungen vorgetragenen Behauptungen, dass „der“ Historismus (und in der Folge „der“ Nihilismus) der Moderne die „Classical Political Philosophy“ zerstört habe, Strauss der „einzige“ gewesen sei, der die klassische Politische Philosophie revitalisiert und auf diese Weise jedwede Rekonstruktions-„Leistung“ sich in den Dienst jener auch in diesem Band äußerst unklar bleibenden „Classical Political Philosophy“ stellt und damit, so wird man wohl schließen dürfen, in den Dienst einer guten Sache stellt. Im Prinzip ist die, wie bereits mehrfach betont, als wissenschaftlicher Beitrag für das (bessere) Verständnis von Strauss’ Denken sehr wichtige Publikation, nicht zuletzt ein ideologisches Konstrukt par excellence. Und somit eines, das, bloß auf andere Weise, zutiefst historistisch ist – und damit dem Sinnen und Trachten des Meisters zutiefst zuwiderläuft.21 IV. Wie sehr man mit Strauss weiterdenken kann, ohne alle Prämissen dieses bedeutenden Philosophen ständig (mit-)teilen zu müssen, stattdessen die gebotenen Interpretamente als Grundlage für eine begründete Ausfaltung seiner Überlegungen nutzen kann, zeigen zwei Bücher exemplarisch. Jeffrey A. Bernsteins „Leo Strauss. On the Borders of Judaism, Philosophy, and History“22 und die im Dezember 2016 erschienene Studie von Svetozar Y. Minkov „Leo Strauss on Science. Thoughts on the Relation between Natural Science and Political Philosophy“ sind sowohl methodisch als auch von ihrem Erklärungsanspruch sehr unterschiedlich, finden sich aber in einem für eine mögliche künftige Strauss-Forschung entscheidenden Punkt auf einer Seite wieder: für sie sind Strauss’ Texte in einem hermeneutisch komplexen Sinne zugänglich. Sie erschließen sich ihnen sozusagen durch genaue Lektüre, ohne daraus schon ein Ereignis zu machen. Bernstein und Minkov deuten Befunde aus, ohne ihnen Singularitätspathos anzukleben; sie achten auf das Kleine, scheinbar Nebensächliche und können so Strauss’ Sorgfalt im Umgang mit Texten belegen, ohne in jeder Zeile die Einmaligkeit des Gefundenen herausheben zu müssen. Dass es einen Strauss geben kann, der produktiv gelesen werden und kritisch fortgeführt werden kann, das konnte man bislang fast nur bei Stanley Rosen und Catherine Zuckert erfahren. 21  Wie es auch anders geht, das hat etwa die liberale Straussianerin Catherine Zuckert gleich zweimal in beeindruckenden Monographien belegt: Vgl. Zuckert, 2017, sowie Zuckert, 2009. 22  Bernstein, 2015.

Zu neuerer Literatur über Leo Strauss

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Die Generation der 40- bis 60-jährigen Straussians hat sich zunehmend für Gesprächsverweigerung entschieden – mit Bernstein und Minkov sind zwei bereits vielfach um Strauss verdiente Autoren mit Monographien hervorgetreten, denen man eine breite Rezeption bei jenen wünscht, denen Strauss durch die Straussians vergällt wurde. Strauss’ Eigensinn und seine Eigenheiten konzentriert zur Sprache zu bringen, die Konzeption seiner Politischen Philosophie im Spannungsfeld von „Athen und Jerusalem“, einer neuartigen Auseinandersetzung der „Alten“ mit den „Neuen“ zu situieren und zu konturieren, ist leider noch immer ein allzu seltenes Unterfangen. Dabei stehen die Möglichkeiten, den „ganzen“ Strauss und sein großes Vorhaben besser zu verstehen, günstiger denn je. Der Nachlass steht in Chicago jedem offen, die Vorlesungen werden anhand von Aufzeichnungen neuediert und lassen die unterschiedlichen Niveaus erkennen, auf denen Strauss unterrichtete.23 Zudem liefern sie in den günstigen Fällen Materialien, die publizierte Texte aussparen oder füllen Lücken in der angestrebten Rekonstruktion der klassischen Politischen Philosophie. Weitaus erfreulicher als das Gesamtbild der Literatur zu Strauss ist jenes, das Studien bieten, die seinen Prämissen folgen. Zu diesem weiten Feld ist allerdings ein weiterer Literaturbericht notwendig.24 Literatur Bernstein, Jeffrey A. (2015): Leo Strauss: On the Borders of Judaism, Philosophy, and History. Albany: State University of New York Press. Bloxham, John (2016): Timothy W. Burns (Hrsg.), Brill’s Companion to Leo Strauss’ Writings on Classical Political Thought. Brill’s companions to Classical Reception, 4. Leiden; Boston: Brill, 2015. Pp. xiii, 480. ISBN 9789004243354. $218.00. In: Bryn Mawr Classical Review. http://bmcr.brynmawr.edu/2016/2016 – 11 – 37.html, zuletzt abgerufen am 8. 4. 2018. Burns, Timothy (Hrsg.) (2015): Brill’s Companion to Leo Strauss’ Writings on Classical Political Thought. Leiden/Boston: Brill. Burns, Timothy/Frost, Bryan-Paul (Hrsg.) (2016): Philosophy, History, and Tyranny: Reexamining the Debate between Leo Strauss and Alexandre Kojève. Albany: State University of New York Press. Burnyeat, Myles F. (1985): Sphinx Without a Secret. In: The New York Review of Books, 32 (9), 1985, 30 – 36. 23  Nachdem Strauss zu Lebzeiten davon überzeugt werden konnte, seine – unter den publizierten mit weitem Abstand beste – Vorlesung über Platons „Symposion“ vorzulegen, schloss er sogar einen Vertrag über sechs weitere Vorlesungspublikationen ab, die allesamt nicht zustande kamen. 24  Die Schriften von Heinrich Meier zu Strauss bzw. seine Auseinandersetzungen mit Friedrich Nietzsche werden Gegenstand eines eigenen Beitrages werden.

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Fussi, Alessandra (2011): La città nell’anima: Leo Strauss lettore di Platone e Senofonte. Pisa: ETS. Gay, Peter (1974): Style in History. New York: Norton. Gray, Vivienne J. (Hrsg.) (2010): Oxford Readings in Classical Studies. Oxford: Oxford University Press. Himmelfarb, Gertrud (1951): Political Thinking: Ancients vs. Moderns: The New Battle of the Books. In: Commentary, 12, 1951, 76 – 83. Keedus, Liisi (2015): The Crisis of German Historicism: the Early Political Thought of Hannah Arendt and Leo Strauss. Cambridge: Cambridge University Press. Lewkowitz, Albert (1923): Religiöse Denker der Gegenwart: Vom Wandel der modernen Lebensanschauung. Berlin: Philo-Verlag. – (1930): Neuerscheinungen zur Geschichte der Philosophie der Neuzeit. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 74 (1), 1930, 1 – 10. Meier, Heinrich (Hrsg.): Leo Strauss: Gesammelte Schriften. Stuttgart: J. B. Metzler. Melzer, Arthur M. (2014): Philosophy Between the Lines: The Lost History of Esoteric Writing. Chicago: University of Chicago Press. Meyer, Thomas (2009): Neuere Literatur zu Leo Strauss. In: Philosophische Rundschau, 55, 2009, 168 – 186. Minkov, Svetozar Y. (2016): Leo Strauss on Science. Thoughts on the Relation between Natural Science and Political Philosophy, Albany: State University of New York Press. Momigliano, Arnaldo (1967): Rez. Socrates and Aristophanes. In: Commentary, 44, 1967, 102 – 104. Rosen, Stanley (1968): Plato’s Symposium. New Haven (CO): Yale University Press. Storing, Herbert J. (Hrsg.) (1963): Essays on the Scientific Study of Politics. New York: Holt, Rinehart & Winston. Strauss, Leo (1988): What is Political Philosophy? And other Studies. [1959]. Chicago: University of Chicago Press. Velkley, Richard L. (2011): Heidegger, Strauss, and the Premises of Philosophy on Original Forgetting. Chicago: University of Chicago Press. Widmaier, Carole (2012): Fin de la philosophie politique? Hannah Arendt contre Leo Strauss. Paris: CNRS editions. Yaffe, Martin D. (2012): Leo Strauss on Moses Mendelssohn: Translated, Edited, and with an Interpretive Essay by Martin D. Yaffe. Chicago: University of Chicago Press. Yaffe, Martin D./Ruderman, Richard S. (Hrsg.) (2014): Reorientation: Leo Strauss in the 1930s. New York: Palgrave Macmillan. Zuckert, Catherine (2009): Plato’s Philosophers: The Coherence of the Dialogues. Chicago: University of Chicago Press. – (2017): Machiavelli’s Politics. Chicago: University of Chicago Press.

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Rezensionen Rezensionen Peter Nitschke: Quentin Skinner: Thomas Hobbes und die Person des Staates

Quentin Skinner: Thomas Hobbes und die Person des Staates. Aus dem Englischen übersetzt v. Christian Neumeier. Duncker & Humblot (Carl-­SchmittVorlesungen, Bd. 2), Berlin 2017, 67 S. Der ehemals in Cambridge lehrende Historiker Quentin Skinner ist sicherlich einer der wichtigsten Vertreter der so genannten „Cambridge School“, einer Gruppierung, die sich mehr oder weniger dadurch auszeichnet, dass die Theorien bzw. Theoreme in der Politischen Ideengeschichte von einer Kontextualisierung aus interpretiert werden sollen. Im Zentrum seiner meist auf spätmittelalterliche oder prämoderne Autoren abzielenden, sehr systematischen Interpretationen steht immer wieder die Auseinandersetzung mit der Theorie von Thomas Hobbes, der gleichsam als Schaltstelle für einen grundsätzlichen Transformationsprozess zum modernen politischen Denken hin begriffen werden kann. Es hat eine Zeit gedauert, bis Skinners meist sehr pointierte Analysen auch in der deutschsprachigen Hobbesforschung in der Rezeption ihre Aufmerksamkeit bekommen haben. Um so erfreulicher ist, dass nach der Publikation seiner Frankfurter Adorno-Vorlesung von 2005 (Skinner 2008) und der Sammlung verschiedener ideenhistorischer Beiträge (Skinner 2009) nun mit der Vorlesung aus der Carl-Schmitt-Vorlesungsreihe in Berlin 2015 eine weitere, originelle Interpretation zu Hobbes in deutscher Sprache vorliegt. Skinner widmet sich hierin einer Zentralproblematik der Hobbes‘schen Theorie, nämlich der „Person des Staates“. Er geht hierbei von der klassischen, eigentlich prämodernen Perspektive aus, Staat und Regierung nicht als eine identitäre Einheit zu denken, sondern hierbei zu differenzieren. Skinners Auffassung zufolge hat sich im Verlauf der Moderne, spätestens seit dem 19. Jahrhundert, eine konzeptionelle Synthesefigur in der Ansicht über den modernen Staat herausgebildet, bei der a) unter Staat mehr und mehr lediglich die apparative Figuration in Form der Regierung und ihrer administeriellen Teile bzw. Untergliederungen gemeint wird – und damit b) zugleich das ursprüngliche Konzept, den Staat als Repräsentationsfigur für das (ganze) Volk zu lesen, vergessen worden sei. Er konzediert dies zumindest für die englische Auffassung von Staatlichkeit und schreibt hierbei dem Utilitarismus wesentliche Transformationsleistungen zu, weil das funktionale Verständnis die Komplexität der Apparate betont und damit die Person des Staates als Ganzes vernachlässigt wird. Vor diesem Hintergrund erscheint ihm dann die neoliberale Auslegung, die den Staat nur noch als eine zu vernachlässigende Größe unter anderen Bezugsgrößen für die Politik subsumiert, sachlogisch. Aber diese Logik, und dies ist der heuristische Ansatzpunkt für die Beschäftigung mit Hobbes, ist weder angemessen, noch richtig. Die postmodernen Dekonstruktionen des Konzepts des Staates laufen in ein Nirgendwo, während auf der anderen Seite, d. h. in der realen Welt, gerade der Staat in der Gegenwart ein bemerkenswertes Comeback vorweisen kann. Aber die Frage ist, welcher Staat? – Der Staat der Apparate, die Regierungshandeln

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abarbeiten, oder der Staat, der als Ganzes betrachtet werden muss, weil er für die Vereinigung aller Kontraktteilnehmer steht? In diesem Sinnkontext setzt sich Skinner in seiner Berliner Vorlesung eindringlich mit der Hobbes‘schen Lesart vom Staat als einer „Person“ auseinander. Die Relektüre vor allem des 17. Kapitels des „Leviathan“ ist in der Tat lohnend, denn sie verweist auf das Repräsentanzproblem. Im Rahmen des kontextuellen Ansatzes, den Skinner vertritt, zeigt er subtil auf, wie sehr Hobbes bei seiner Argumentation auf die Gegenseite in der seinerzeit aktuellen Debatte eingeht. Die Gegenseite, das sind die Vertreter des parlamentarischen Lagers, die vor dem Hintergrund eines Diskurses seit den 1560er Jahren den Standpunkt vertreten, dass eine Zustimmung des Parlaments wie eine Zustimmung von Jedermann zu gelten habe. Hiervon macht insbesondere Henry Parker (1642) Gebrauch, indem die zu Repräsentierenden mit der Form der Repräsentation als eine identitäre Einheit begriffen werden. Das führt dann dazu, dass der „real body of the people“ gleichgeschaltet wird mit „the whole body of the state“. Im Kontext dieser Argumentation wird deutlich, warum Hobbes demgegenüber im „Leviathan“ ausdrücklich betont, dass der „body politic“ (des Staates) nur eine künstliche Figur in Form einer Person sei, dass diese Figuration gerade wegen ihrer Künstlichkeit auch jederzeit wieder auseinanderbrechen kann. Das Volk als die Summe aller Teilnehmer am Verfassungszustand ist nicht identisch mit der Figur des Staates. Die Person des Staates ist etwas anderes als nur die Summe seiner Teilnehmer. Im Grunde folgt Hobbes damit versteckt einer Argumentation des Aristoteles (was Skinner jedoch übersieht), demzufolge „das Ganze mehr als nur die Summe seiner Teile“ sei. Diese nominalistisch ebenso wie metaphysisch inkludierte Argumentation führt dann bei Hobbes in eine Analogie, deren Effekt darin besteht, dass sie etwas optisch anzeigen kann, nämlich den Staat in Form einer Person, für den es ansonsten immer nur Regierungskreise oder eben parlamentarische Foren geben würde, die man materiell hier wahrnehmen kann. Erst aufgrund einer solchen essentiellen Analogie lässt sich auch das von Hobbes vorgebrachte Argument substantiell vertreten, dass der Staat (eben aufgrund seiner eigenen Form) etwas anderes darstellt, nämlich eine rechtliche Person, die zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Repräsentanz und den zu Repräsentierenden ausdifferenziert behandelt werden kann. Der „Leviathan“ als Ganzes ist damit auch mehr als nur die Frage nach der Autorität an der Spitze (der Exekutive wie Legislative). Zentral ist auch bei dieser Festlegung auf die Logik der Repräsentation, dass Hobbes hierbei das voluntative Element stark macht. Nur wenn die vielen Einzelnen dies wollen, kommt der Vertrag (und damit auch der Souverän) und letztlich eben der Staat als Person zustande. Interessanterweise rückt Skinner die Hobbes’sche Argumentation in die Nähe von Thomas Goodwin, der (1642) mit dem Motiv der paradigmatischen Botschaft von Jesus Christus die Repräsentation als einen Akt der verkörperlichten

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Personifizierung begreift, bei dem der hierdurch Personifizierte den Part eines anderen übernimmt. In gewisser Weise, darauf legt auch Hobbes wert, sei die Repräsentanzfrage wie bei einem Akteur auf der Bühne eines Theaters zu sehen. Der Schauspieler personifiziert im Grunde künstlich etwas, was er physisch sui generis gar nicht ist. Die Frage ist jedoch, ob hier die Analogie ausreichend ist. Denn gerade durch die Kreierung eines (zunächst immer nur künstlichen) Körpers werden letztlich eben doch materielle Institutionen und Leistungen erschaffen. Insofern hat auch die Hobbes‘sche Argumentationsstrategie das Problem, das sie zwar demonstrieren kann, wie dynamisch die Person des Regenten als Souverän ist, wobei gleichzeitig hier auch das Volk in seinen dynamischen Möglichkeiten begriffen werden kann, demgegenüber aber die Person des Staates quasi als eine statische Dimension vorgestellt wird. Eben deshalb erscheint sie hier als künstlich. Man muss dieser Interpretation nicht in allen Punkten folgen, zumal Skinner selbst in ein paar Exkursen zur Rezeption des „Leviathan“ (hier über Pufendorf, Vattel und eben den Utilitarismus) aufzeigt, wie Veränderungen in der Deutung grundsätzlich an der Tagesordnung waren (und sind). Leider fehlt bei den gegenüber Hobbes kritischen Diagnosen wieder einmal Leibniz, obwohl doch gerade die neuere Leibnizforschung darauf hingewiesen hat, wie heuristisch gewinnbringend die Leibniz‘sche Position hierzu ist. Es fehlt auch die Auseinandersetzung mit anderen prämodernen Verständnisweisen, die sich eben nicht in den englischen Debatten zur Frage der Repräsentation widerspiegeln, auf die sehr eindrucksvoll Guiseppe Duso bereits 2006 eingegangen ist. In der Summe ist jedoch das kleine Buch zur Vorlesung von Skinner eine wichtige Verteidigung der Theorie von der Repräsentation des Volkes durch den Staat: Denn der Staat als Person ist, „zu guter Letzt, nichts anderes als wir selbst“ (60). Peter Nitschke, Vechta Rezensionen Rezensionen Frank-Lothar Kroll: Jan Christoph Elfert: Konzeptionen eines „dritten Reiches“: Staat und Wirtschaft im jungkonservativen Denken 1918 – 1933

Jan Christoph Elfert: Konzeptionen eines „dritten Reiches“: Staat und Wirtschaft im jungkonservativen Denken 1918 – 1933. Duncker & Humblot, Berlin 2018, 438 S. In den Jahren der Weimarer Republik, zwischen 1918 und 1933, dominierten im Lager der politischen Rechten die Vertreter der als „Konservative Revolution“ umschriebenen Ideenströmung, und hier besonders Repräsentanten der „jungkonservativen“ Gruppierungen, die über gute Beziehungen zur zeitgenössischen Intellektuellenwelt verfügten und weitreichende Kontakte zur Politik, zur Wirtschaft und zum akademisch-universitären Leben pflegten. Sie wollten allesamt einen „modernen“, weltanschaulich geschlossenen Konservativismus begründen, der ausdrücklich die nachrevolutionären Gegebenheiten anerkannte und dessen Fluchtpunkt auf die Etablierung einer „neuen“ konservativen Gemeinschaftsorga-

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nisation hinauslief, die zu den Traditionen des Kaiserreichs eine bewusste Distanz hielt. Das Nachdenken über Staat und Wirtschaft bildete dabei – nach der Überzeugung des Verfassers – „den Kern jungkonservativen Denkens“ (14), und so soll in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, „wie sich dieses Denken vor dem Kontext der Weimarer Republik und der jungkonservativen Bewegung sowohl in theoretischen Grundlagenüberlegungen als auch in der Konzeption von konkreten Ausarbeitungen zum Staats- und Wirtschaftsausbau ausdrückte“ (ebd.). Jan Christoph Elferts Arbeit zeichnet sich durch ein hohes Methodenbewusstsein aus. Sie reiht nicht nur Positionen und Personen in mehr oder weniger überzeugender Ordnung chronologisch aneinander, sondern verbindet Diskurs- und Netzwerkanalyse mit ideengeschichtlich-theoretischer Rekonstruktionsarbeit und dem – insgesamt geglückten – Bemühen, die präsentierten Konzepte in den politisch-gesellschaftlichen Kontext ihrer Entstehungszeit einzubinden. Dabei widmet sich der Verfasser weniger den „großen Namen“ der „Konservativen Revolution“, als vielmehr weithin unbekannten und von der Forschung bisher kaum beachteten Personen. Er betreibt keine „Höhenkamm-Forschung“ (25), sondern untersucht das Œuvre von Figuren aus der zweiten bzw. dritten Reihe: „Das jungkonservative Denken soll damit genau als das dargestellt werden, was es war: Als ein Denken, das sich vor dem historischen Kontext der Weimarer Republik und den jungkonservativen Organisationen und Institutionen stetig wandelte, welches in den Jahren 1918 – 1933 höchst heterogene Denkfiguren vereinte und dennoch eine gewisse Kohärenz besaß.“ (25 f.) Elfert strukturiert sein außerordentlich umfangreiches Quellenmaterial in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive und gelangt dabei – nach knappen Darlegungen zu den ideengeschichtlichen „Vorläufern“ und Referenzgrößen jungkonservativen Denkens (Oswald Spengler, Otmar Spann, Carl Schmitt, 27 – 44) und einem Seitenblick auf das Werk des maßgeblichen Impulsgebers Arthur Moeller van den Bruck (45 – 48) – zu einer Drei-Phasen-Gliederung der jungkonservativen Denkbewegung nach 1918. Die erste Phase, zeitlich umgrenzt durch die Eckdaten 1918 und 1920 (49 – 96), wird vom Verfasser als „konservativ-sozialrevolutionäre“ Periode jungkonservativen Staats- und Wirtschaftsdenkens identifiziert. Sie war geprägt von den Schlagwörtern „Sozialisierung“, „Staatssozialismus“ und „nationaler Sozialismus“ als Alternativangeboten zum blutigen Terrorwesen des Bolschewismus, organisatorisch gebündelt in der „Anti-bolschewistischen Liga“, der „Vereinigung für nationale und soziale Solidarität (Solidarier)“, und personell vor allem vertreten durch Eduard Stadtler und Max Hildebert Boehm. Im Mittelpunkt dieser ersten Phase stand – unter ausdrücklicher Anerkennung der durch die Revolution von 1918 geschaffenen Tatsachen – das Bestreben, die Arbeiterschaft in das gesellschaftliche Ganze der Nation zu integrieren und einen „solidarischen“ Neubau von Staat und Gesellschaft zu errichten („Deutscher Volksstaat“, „Volkssozi-

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alismus“). Die damit verbundenen Vorstellungen reichten bis zum Aufgreifen des Rätegedankens im Rahmen einer von starken antikapitalistischen (und zugleich antiliberalen) Ressentiments getragenen Grundhaltung. In der zweiten Phase jungkonservativen Denkens, zwischen 1920 und 1925 (97 – 216), dominierten berufsständische Modelle zur Organisation von Staat und Gesellschaft. Hier sollte „nicht die Gleichheit aller Individuen […] gelten, sondern die hierarchische Gliederung […] durch genossenschaftliche Selbstverwaltungskörperschaften, welche […] ihre eigenen Rechte und Pflichten erhalten sollten“ (99). Diese Phase war geprägt durch die Aktivitäten des „Juni-Clubs“ mit seiner Zeitschrift „Das Gewissen“. Als ihre publizistischen Hauptvertreter wirkten Heinrich Herrfahrdt, Reinhold Georg Quaatz, Heinz Brauweiler und erneut Max Hildebert Boehm. Während Herrfahrdt und Quaatz noch auf dem Boden des Weimarer Systems argumentierten und die Etablierung einer berufsständisch zusammengesetzten Zweiten Kammer neben den weiterbestehenden parlamentarischen Vertretungen favorisierten, gewannen bei Boehm zunehmend antiparlamentarische Überlegungen an Gewicht, die einen kooperativ verfassten Ständestaat als Alternative zum „Parteienstaat“ vorsahen. Eine Stärkung der Autorität des Staates als Ordnungsmacht und schiedsrichterliche Gewalt lag auch in der Konsequenz von Brauweilers Denken – hier jedoch verbunden mit der Idee wirtschaftlicher Selbstverwaltung, die durch Werks- und Betriebsgemeinschaften in den Fabriken, durch Gewinnbeteiligung und erweiterte Mitbestimmungsrechte für die Belegschaften einen harmonischen Ausgleich zwischen Unternehmer- und Arbeiterinteressen ermöglichen sollte. Die dritte Phase jungkonservativen Denkens, zwischen 1925 und 1933, stand, Elfert folgend, gänzlich unter dem Primat autoritär-staatlicher Konfigurationen und Modelle (217 – 344), die allesamt auf die in der Endphase der Weimarer Republik tatsächlich realisierten Präsidialkabinette vorauswiesen. Allerdings kann Elfert hier erstaunliche und von der Forschung bisher so nicht gesehene Binnendifferenzen zwischen den einzelnen Konzeptionen herausarbeiten. Die im (schon 1924 gegründeten) „Deutschen Herrenclub“ um Walther Schotte, Heinrich von Gleichen und dessen Zeitschrift „Der Ring“ versammelte Gruppe verfocht die Idee eines elitären Obrigkeitsstaates („Hoheitsstaat“), orientiert an den Leitwörtern „Herrschaft“ und „Führung“, in dessen Einzugsfeld es keine Parteigegensätze, keinen Dualismus zwischen Regierung und Opposition mehr geben sollte, sondern eine den Interessenpluralismus sistierende neue Wertegemeinschaft, gelenkt von einem neo-aristokratischen Staatsstand (Edgar Julius Jungs „Herrschaft der Wenigen“). Hingegen setzte die andere der beiden jungkonservativen Gruppierungen am Ende der Weimarer Republik, der an Hans Zehrer und dessen 1929 gegründeter Zeitschrift „Die Tat“ (Ferdinand Fried, Ernst Wilhelm Eschmann) orientierte Kreis, stärker auf eine Aktivierung der Arbeiterschaft im Rahmen des bereits bekannten Modells eines „nationalen Sozialismus“. Hier wollte man die

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Autorität des Staates nicht an eine elitär-aristokratische Führungsschicht binden, sondern an den national-sozialen „Volkswillen“ knüpfen und dabei, im Gegensatz zum „Ring“-Kreis, der auf einen staatlich dirigierten Unternehmer-Kapitalismus setzte, einer Einhegung der Privatwirtschaft zum Wohl der Gemeinschaft das Wort reden. Es lag in der Logik solcher Differenzen, dass sich beiden Gruppierungen am Ende der Weimarer Republik unterschiedliche Machtoptionen boten: dem „Ring“-Kreis durch das „Kabinett der Barone“ unter Franz von Papen, dem „Tat“-Kreis durch das allerdings sehr kurzlebige Kabinett des „sozialen“ Reichswehrgenerals Kurt von Schleicher. Beide jungkonservative Gruppierungen unterlagen schließlich dem nationalsozialistischen Totalitarismus. „Ihre Nichtbeachtung der Gefahr, welche mit dem Nationalsozialismus für ganz Europa aufkam“, – so das Fazit des Verfassers – „und der Versuch, aufgrund ihrer Geltungssucht mit der NSDAP zu paktieren, wiegt aus heutiger Sicht besonders schwer auf dem Jungkonservatismus der frühen 30er-Jahre und diskreditiert das jungkonservative Denken dauerhaft“ (339). Der mit alledem vom Verfasser erzielte inhaltliche Ertrag seiner Untersuchungen ist, aufs Ganze gesehen, beachtlich. Ihm gelingt – eigentlich erstmals – der Nachweis, wie heterogen und variabel das zumeist als monolithischer Block gesehene Staats- und Wirtschaftsdenken des Jungkonservativismus zwischen 1918 und 1933 gewesen ist. Es besaß eine erhebliche Entwicklungsdynamik und bot Raum für durchaus uneinheitliche ideologische Aufladungen, Wandlungen und Veränderungen. Gemeinsam war allen von Elfert ausführlich zu Wort gebrachten jungkonservativen Positionen in erster Linie nicht deren strikte Gegnerschaft zur republikanischen Ordnung von Weimar, sondern vor allem ihre vehemente Ablehnung der als überholt und erloschen angesehenen altkonservativen Ordnung des Deutsches Kaiserreichs. Man suchte nach konservativen Antworten auf die Moderne und auf die neuen, sich seit 1918 stellenden Fragen der Nachkriegsära. Aber man erstrebte zu keiner Zeit einen schlichten „Schritt zurück“ in die vorrevolutionäre wilhelminische Ordnung vor 1914. Frank-Lothar Kroll, Chemnitz Rezensionen Rezensionen Hans-Christof Kraus: Thomas Arne Winter: Traditionstheorie. Eine philosophische Grundlegung

Thomas Arne Winter: Traditionstheorie. Eine philosophische Grundlegung. Mohr Siebeck (Philosophische Untersuchungen, 42), Tübingen 2017, 327 S. Eine sehr gediegene Arbeit ist anzuzeigen, die nicht nur dem Philosophen etwas zu sagen hat, sondern ebenfalls dem Soziologen, Historiker und Politologen Anregung liefern kann, auch wenn der Gang der Untersuchung – immerhin eine philosophische Dissertation – nach Methode und Fragestellung den Gepflogenheiten der eigenen Disziplin folgt und folgen muss. Es sei erstaunlich, heißt es bereits in der Einleitung, dass angesichts der eminenten Bedeutung des Themas „Tradition“ eben dieser Gegenstand bisher seitens der reflexiven Wissenschaften

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keinesfalls die Aufmerksamkeit gefunden habe, die er verdiene. Die Befürchtung des Autors, er könne vielleicht schon wegen seines Interesses am Thema „in die falsche Ecke des Traditionalismus gestellt […] werden“ (VII), ist, wie er ebenfalls mitteilt, am Ende widerlegt worden – doch dass er überhaupt auf diese Idee kommen konnte, mag als durchaus bezeichnend für das geistige Klima im akademischen Bereich der Gegenwart angesehen werden. Und ebenfalls gleich zu Beginn werden die „gängigsten Vorurteile“ einer Inanspruchnahme des Traditionsbegriffs durch den politischen Konservatismus deutlich zurückgewiesen. Diese Vorurteile sind: Tradition sei irrational und stehe im Widerspruch zur Moderne, Tradition sei rückständig und verhindere Innovation und Fortschritt, Tradition gehöre zum konservativen und rechten politischen Spektrum, und: Tradition sei als solche ausschließlich historisch zu erklären, gewissermaßen nur als Summe bestimmter geschichtlich entstandener Einzeltraditionen. Von Auffassungen und Interpretationen dieser Art grenzt sich der Verfasser also strikt ab. Ihm geht es, wie er herausstellt, um so etwas wie eine Generaltheorie der Tradition, oder, wie er es im Anschluss an Noam Chomsky formuliert, um die Herausarbeitung einer „Universalgrammatik“ des traditionalen Phänomens (15), also einer „Grundstruktur“ von Tradition, die weder zeit- noch ortsgebunden und schon gar nicht von „Eurozentrismus und Nostrozentrismus“ (16) geprägt ist, sondern, im Gegenteil, den Rang einer allgemeingültigen Theorie beanspruchen kann. Dass man ohne die Dimension des Historischen gleichwohl nicht völlig auskommen kann, wenn man sich um eine Traditionstheorie bemüht, gibt der Verfasser indessen unumwunden zu, wenn er ebenfalls am Beginn seiner Untersuchung feststellt, dass erst durch „traditionale Akkumulationen […] eine kulturelle Geschichte“ und damit „Kultur überhaupt“ entstehe und in der Folge schließlich zur „zweiten Natur“ (3) des Menschen werden könne. Bedauerlich nur, dass Winter, der hier Arnold Gehlen zitiert, gerade dessen sehr erhellende Untersuchungen zur Dialektik „Tradition-Fortschritt“ (in der Gehlen-Gesamtausgabe, Bd. 6, 2004, 410 ff.) leider nicht berücksichtigt. Zwei Teile umfasst die eigentliche Untersuchung: Im ersten Teil (§§ 2 – 10) analysiert der Autor im Sinne einer Klärung des Ausgangshorizonts seiner Überlegungen den Traditionsbegriff der hermeneutischen Philosophie, wobei er sich in erster Linie auf die in dieser Hinsicht ohne Zweifel ergiebigsten Denker bezieht, Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Dem Verfasser geht es jedoch nicht darum, seine eigene Theorie direkt an die spezifische Hermeneutik jener beiden philosophischen Klassiker anzuschließen, sondern in Auseinandersetzung mit deren bis heute sehr einflussreichen Thesen eine eigene Position und ebenfalls Leitbegriffe für die eigene systematische Untersuchung zu gewinnen. Diese wiederum findet sich im zweiten Hauptteil der Arbeit (§§ 11 – 19), die der Grundlegung einer allgemeinen Traditionstheorie gewidmet ist, stets in doppelter Auseinandersetzung mit Tradition als geschichtlichem Phänomen und mit dem

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von Heidegger und Gadamer begründeten spezifisch hermeneutischen Zugriff auf dieses Phänomen. Die (hier nicht im Einzelnen zu referierenden) ausführlichen und detaillierten philosophischen Untersuchungen setzen sich außerdem mit Positionen von Aleida Assmann, Karsten Dittmann, Edmund Husserl, Josef Pieper, Karl Popper u. a. kritisch auseinander. Tatsächlich ist Tradition – so das Hauptresultat der Untersuchung – ein philosophischer Begriff aus eigenem Recht, und er wird dies durchaus nicht erst aus seiner Verbindung mit anderen philosophischen Begriffen. Traditionen verwirklichen sich, so der Autor, in der Form bestimmter „traditionaler Muster“, die als solche wiederum als „Sinnträger“ fungieren, d. h. die gegebene, dem Menschen erfahrbare Wirklichkeit sinnhaft strukturieren, stets bezogen auf die für den Verfasser zentralen drei Kategorien von Zeit, Raum und „Sozietät“, die in diesem Sinne zu einem „Orientierungsrahmen des Lebens“ werden. Traditionen vermögen also, so die Hauptthese Winters, „einen Sinn zu geben, durch den Zeit, Raum und Gesellschaft strukturiert und durch diese Strukturierung in Geschichte, Lebensorte und Gemeinschaften transformiert werden. Auf diese Weise gelingt es Traditionen, dem Leben selbst einen Sinn zu geben, denn die einzelnen Individuen werden aufgenommen in mehrschichtige Zusammenhänge, welche ihrer Lebensbewegtheit als solcher vielfache, aber zusammenhängende und signifikante Orientierungsrichtungen ermöglichen“ (287). Und der Sinn dieser „Sinngabe“ besteht wiederum in deren anthropologischer Grundfunktion, denn Tradition ist in letzter Konsequenz nichts anderes als eine „Antwort auf ein Grundproblem des Menschseins“ – nämlich auf „das Grundproblem der menschlichen Endlichkeit“ (289). So hält es der Verfasser in seiner anregenden und auch dort, wo man gelegentlich widersprechen möchte, im besten Sinne belehrenden und zum Weiterdenken hinführenden Untersuchung am Ende eben doch mit dem im Buch am häufigsten erwähnten und zitierten Denker, mit Heidegger und mit dessen Idee einer Durchbrechung der „Alltäglichkeit des Daseins“ durch das „Sein zum Tode“ (Sein und Zeit, § 51), und durchaus nicht mit Marx, der in der „Tradition aller toten Geschlechter“ bekanntlich nur den „Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte) erkennen zu können meinte. Hans-Christof Kraus, Passau Rezensionen Rezensionen Michael Holldorf: Martin Schwarz/Karl-Heinz Breier/Peter Nitschke: Grundbegriffe der Politik. 33 zentrale Politikbegriffe zum Einstieg

Martin Schwarz/Karl-Heinz Breier/Peter Nitschke: Grundbegriffe der Politik. 33 zentrale Politikbegriffe zum Einstieg. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Nomos, Baden-Baden 2017, 246 S. „Grundbegriffe sind so etwas wie die Richtschnur des Denkens, in und mit der sich eine Wissenschaft selbst darstellt und vermitteln lässt“ (9). Mit dieser ersten Annäherung beginnt die Einleitung zu dem nun in zweiter Auflage erschienenen

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„Grundbegriffe der Politik. 33 zentrale Politikbegriffe zum Einstieg“ von Martin Schwarz, Karl-Heinz Breier und Peter Nitschke. Grundbegriffe machen den Kern einer Wissenschaft aus, sie umfassen das Wesen eines Fachs, beschreiben die Charakteristik einer Disziplin. Der Titel des vorliegenden Bandes – Grundbegriffe der Politik – verrät, dass diese grundlegende Eigenschaft der Begriffe nicht allein der Wissenschaft, sondern (zumindest in diesem Fall) auch ihrem Gegenstand gilt. Die 33 vorgestellten Begriffe sind nicht ausschließlich für die Politikwissenschaft grundlegend, sondern in gleicher Weise für die Politik. Politik bezeichnet seit Aristoteles – und dies lässt sich auch anhand des entsprechenden Eintrags in den „Grundbegriffen“ nachvollziehen (151 ff.) – das die Stadt, die griechische Polis, Betreffende. Die Polis ist „kategorialer Herkunftsort der Politik“ (152). Und wenn Aristoteles festhält, dass die Polis „eine Gemeinschaft […] von Staatsbürgern ist“,1 dann bringt er zum Ausdruck, dass die Polis „mit der Bürgerschaft selber vollkommen identisch ist“.2 Als dasjenige, das die Bürgerschaft angeht, bezieht Politik sich nicht auf spezifische Bereiche der menschlichen Lebenswelt oder ihrer unterschiedlichen Ausdrucksformen – seien sie kultureller, sozialer oder ökonomischer Art. Politik ist umfassend, meint das Allgemeine, das generell alle Mitglieder der Bürgerschaft betrifft und das im Kern durch Bürgerinnen und Bürger bestimmt wird, die „das eigene Leben und Zusammenleben mit anderen gestalten“ (153). In der Gestaltung der gemeinsamen Lebenswelt machen die Bürgerinnen und Bürger die Erfahrung, dass sie in der Politik nie allein sind. Sie treten im politischen Raum immer im Plural auf, und diese Pluralität ist entscheidend für die Bestimmung der Politik. Die gemeinsame Ausgestaltung des Zusammenlebens vollzieht sich in einem „Beziehungsgeflecht“ (152) zwischen den Bürgerinnen und Bürgern, innerhalb dessen unterschiedliche Perspektiven auf dieses Zusammenleben eingenommen werden: „Nicht die eine Wahrheit […] macht die Substanz von Politik aus, sondern es sind gerade die unzähligen Hinsichten, die vielfältigen Interessen, die vieldeutigen Meinungen, die den […] Spielraum der Politik eröffnen“ (152 f.). Dieser Spielraum markiert als politische Öffentlichkeit den in der antiken Polis noch konkreten und heute massenmedial vermittelten Ort, an dem über Fragen und Phänomene des Zusammenlebens gestritten und argumentativ gerungen wird. Die öffentliche politische Auseinandersetzung lässt die Grundbegriffe der Politik nicht unberührt. Politik und Politikwissenschaft sind kontrovers und ihre 1  Nach

philologischer Zählung 1276 b 1. Zitiert nach: Aristoteles (1998): Politik: Übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon. 8. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag: 107. 2  Dolf Sternberger (1978): Drei Wurzeln der Politik. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 102 f.

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gemeinsamen Grundbegriffe sind es auch. Grundbegriffe der Politik sind keine eindeutigen Begriffe mit klar umrissenem Wortkörper, vielmehr sind sie normative und damit umstrittene, teils umkämpfte Begriffe. Vor diesem Hintergrund ist das Verständnis der Grundbegriffe in ihrer Kontroversität und Multiperspektivität essentielle Voraussetzung, um Politik zu verstehen. Und eine einführende Darstellung der Grundbegriffe scheint den Autoren des vorliegenden Buches besonders angezeigt, da sie eben diese „Darstellung und Verarbeitung der zentralen Begrifflichkeiten als das große hermeneutische Problem“ (5) insbesondere in Einführungsveranstaltungen ausgemacht haben. Der Band richtet sich somit vornehmlich an junge Semester der Politikwissenschaft, um ihnen die begrifflichen Grundlagen des Faches zu vermitteln. Angesicht des einführenden Charakters des Buches und seiner Zielgruppe beanspruchen die drei an der Universität Vechta lehrenden Autoren nicht, die ausgewählten Begriffe umfassend zu analysieren und in allen Facetten darzustellen. Ihr „Einstieg“ in die begrifflichen Grundlagen umfasst aber weit mehr als nur lexikalische Definitionen. In dieser reduzierten Form wäre eine Darstellung und Vermittlung, die der Kontroversität der Grundbegriffe gerecht würde, auch nicht möglich. Weiterhin machen die Autoren gegen eine solche „lexikalische Reduzierung“ berechtigterweise geltend, dass sie zum einen „auf Dauer durch die Online-Medien konterkariert“ wird. Zum anderen haben die realpolitischen Umwälzungen der letzten drei Dekaden zu einer Zerfaserung der Politikwissenschaft als Fachdisziplin geführt, die als eine Konsequenz mit sich bringt, dass die Grundbegriffe sich „immer weniger als lexikalisch auflistbare Definitionen mit zwingend eindeutigem Gehalt erschließen und vermitteln lassen“, vielmehr erst dann verstehbar werden, „wenn sie in ihrem jeweiligen Kontext betrachtet werden und aus diesem heraus in ihren unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen erkennbar und sinnvoll erschlossen werden“ (15). Um der doppelten Herausforderung einer sowohl der jeweiligen Begriffskomplexität angemessenen als auch einer für die Zielgruppe adäquaten Darstellung gerecht zu werden, nehmen die Autoren zwei wesentliche Begrenzungen vor. Zum einen haben sie die behandelten Begriffe stark reduziert, so dass sich in der um die Begriffe „Bürger“, „Political Correctness“ und „Sicherheit“ erweiterten zweiten Auflage 33 Grundbegriffe der Politik finden. Zum anderen umfasst jeder Beitrag sechs Seiten. Damit ist das Einführungsbuch zwischen den epischen „Geschichtlichen Grundbegriffen“3 und einer Vielzahl an sehr komprimierten lexikalischen Begriffsübersichten und Wörterbüchern zu verorten. Dieser Ansatz ist am ehesten 3 Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.) (1972  – 97): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 9 Bände. Stuttgart: Klett-Cotta.

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mit der Begriffsdarstellung von Göhler, Iser und Kerner vergleichbar, wobei deren Einführung anhand von 25 Begriffen sich auf die „Politische Theorie“4 bezieht. Ein weiterer Unterschied zu diesem Band besteht darin, dass Schwarz, Breier und Nitschke in ihren Darstellungen und Interpretationen der einzelnen Grundbegriffe einem einheitlichen Schema folgen. Dem Dreischritt von Definition (a), historischer Entwicklung (b) und aktueller Dimension des Begriffs (c) folgt ein kurzes Verzeichnis weiterführender Literatur (d), wobei letzteres mit der zweiten Auflage aktualisiert wurde. Dieses Schema ist der einführenden Anlage des Buches überaus zuträglich und ist zugleich „den immanenten Sachzusammenhängen zwischen den einzelnen Grundbegriffen der Politik verpflichtet“ (5). Innerhalb der Beiträge werden diese immanenten Sachzusammenhänge durch Querverweise auf verwandte Begriffe angezeigt, beispielsweise verweist die Definition von „Öffentlichkeit“ auf die Einträge zu „Staat“, „Gerechtigkeit“, „Politik“, „Demokratie“, „Bürger“, „Sicherheit“, „Terror“ und „Gesellschaftsvertrag“. In dieser Weise soll „ein relationales Gesamtgefüge von begrifflichen Zugängen, Zusammenhängen und Überlappungen“ deutlich werden, durch das sich „Politik besser verstehen und auch nachvollziehen lässt“ (16). Dieser Ansatz geht auf, wenngleich angemerkt werden muss, dass in wenigen Fällen ein allzu offensiver Einsatz der Querverweise die wesentlichen begrifflichen Relationen verdeckt. Auch die durch die Eigenlogik der Politik gebotene multiperspektivische und kontroverse Darstellung der Grundbegriffe wird von den Autoren eingehalten. So werden in der aktuellen Einordnung des Bürgerbegriffs Dahrendorfs „Bürgergesellschaft“ und Habermas‘ „Zivilgesellschaft“ gegenübergestellt und anschließend als deutsche Perspektive gemeinsam mit der in angelsächsischer Tradition stehenden Sichtweise Benjamin Barbers kontrastiert; oder im Beitrag zur „Globalisierung“ die vielstimmige Kritik an den Globalisierungsprozessen sowohl „aus dem Innern der westlichen Gesellschaft heraus“ (beispielsweise durch Nichtregierungsorganisationen) als auch „von Seiten konkurrierender Zivilisiationssysteme“ (66) (beispielsweise durch autokratische Regime) thematisiert. In wenigen anderen Beiträgen – wie beispielsweise zu dem weltanschaulich hochgradig aufgeladenen und umkämpften Begriff der „Gerechtigkeit“ – hätte der Kontroversität mehr Platz eingeräumt werden können. Für eine mögliche dritte Auflage sollten die Autoren in Erwägung ziehen, die unterschiedlichen Perspektiven auf die Begriffe und vor allem die Debatten um sie noch stärker durch die Nennung kontroverser Autoren zu ergänzen. In dieser Weise würde es den Leserinnen und Lesern erleichtert, die Debatten durch eigene Lektüre nachzuvollziehen. Dies könnte, wie vereinzelt auch bereits geschehen, innerhalb des letzten Abschnitts

4  Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hrsg.) (2012): Politische Theorie: 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung. 2. Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

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zur aktuellen Dimension des Begriffs oder in einem eigenen Abschnitt zu weiterführender Literatur integriert werden. Grundbegriffe sind nicht nur umstrittene Begriffe in Hinblick auf die Kon­ troversität ihres Gegenstandsbereichs, sondern auch die Auswahl der „zentralen Politikbegriffe“ für ein solches Einführungsbuch ist kontrovers. Ob beispielsweise die fehlenden Begriffe „Parlament“, „Partei“ oder auch „Diskurs“ unter Umständen für einen Einstieg in die begrifflichen Grundlagen des Faches besser geeignet wären als die behandelten „Integration“, „Interesse“ und „Korruption“, ließe sich auch an diesem Band diskutieren. Darauf soll an dieser Stelle allerdings verzichtet werden, vielmehr kann den Autoren zugestimmt werden, wenn sie festhalten: „Nach Einschätzung der Verfasser lassen sich bei den hier präsentierten Grundbegriffen sehr weitreichende Parameter von Politik, sowohl hinsichtlich der historischen Perspektive wie auch in Bezug auf die aktuelle Dimension, darstellen“ (16). Auch als Einstieg in die Politikwissenschaft sind die Grundbegriffe ausgesprochen geeignet, dies gilt für die Auswahl, insbesondere aber für ihre Darstellung und Interpretation. Michael Holldorf, Kiel

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Dr. Martin Beckstein, Postdoktorand am Philosophischen Seminar, Universität Zürich. Dr. Hauke Behrendt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie, Univer­ sität Stuttgart. Hans-Ludwig Buchholz, Doktorand am Centre for Modern Thought, University of Aber­ deen. Prof. em. Dr. Giuseppe Duso, Professor für Politische Philosophie, Universität Padua, und Direktor des Centro Interuniversitario di Ricerca sul Lessico Politico e Giuridico ­Europeo (CIRLPGE). Prof. em. Dr. Dres. h. c. Hasso Hofmann, Professor für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie, Humboldt-Universität zu Berlin. Michael Holldorf, Referent für Partizipation und Digitales beim Landesbeauftragten für politische Bildung in Schleswig-Holstein. Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahr­ hunderts, Technische Universität Chemnitz. Prof. Dr. Reinhard Mehring, Professor für Politikwissenschaft und deren Didaktik, Päda­ gogische Hochschule Heidelberg. PD Dr. Thomas Meyer, Vertretung der Professur für Wissenschaftsphilosophie, Univer­ sität Kiel. Prof. em. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock, Professor für Englische Philologie, Georg-­ August-Universität Göttingen. Prof. Dr. Peter Nitschke, Professor für die Wissenschaft von der Politik, Universität Vech­ ta. Prof. em. Dr. Richard Saage, Professor für Politikwissenschaft, Martin-Luther-Universi­ tät Halle-Wittenberg und Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Dr. Igor Pavlovitsch Smirnov, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ökonomischen Fakultät, Lomonosov-Universität Moskau. Prof. em. Dr. Rüdiger Voigt, Professor für Verwaltungswissenschaft, Universität der Bun­ deswehr München. Samuel Garrett Zeitlin, Harper Fellow und Collegiate Assistant Professor, University of Chicago.