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German Pages 258 Year 2006
POLITISCHES DENKEN JAHRBUCH 2005
Herausgegeben von K. Graf Ballestrem, V. Gerhardt, H. Ottmann, M. P. Thompson, B. Zehnpfennig u Joachim J. Krause: Der Bund im Alten Testament und bei Hobbes u Marco Haase: Der Wille des Volkes und das Problem der Repräsentation u Georg Cavallar: Gerechte Kriege, die Golfkriege 1991 und 2003 und das philosophische Völkerrecht u Michael Opielka: Der Sozialstaat als wahrer Staat? u Raimund Ottow: John Millars emanzipatorische Politik: schottische Aufklärung und ,Radicalism‘ u Birgit Enzmann: Zwischen den Stühlen u Jörg Pannier: Das Geheimnis des zweiten Zusatzes u Jan-Werner Müller: Theorie und Temperament
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Duncker & Humblot
Politisches Denken · Jahrbuch 2005
In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens Redaktionsanschriften: Prof. Dr. Karl Graf Ballestrem Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät Katholische Universität Eichstätt Universitätsallee 1, 85071 Eichstätt Prof. Dr. Volker Gerhardt, Institut für Philosophie, Humboldt Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. Dr. Henning Ottmann Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Universität München, Oettingenstr. 67, 80539 München Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig Politische Theorie und Ideengeschichte Universität Passau, 94030 Passau
Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), Maurice Cranston (London) (y), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher (Frankfurt), Klaus Hartmann (Tübingen) (y), Wilhem Hennis (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard (Gießen), Kenneth Minogue (London), Michael Oakeshott (London) (y), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)
Politisches Denken Jahrbuch 2005 Herausgegeben von Karl Graf Ballestrem, Volker Gerhardt, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson und Barbara Zehnpfennig
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 3-428-12131-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis I. Aufsätze Der Bund im Alten Testament und bei Hobbes. Eine Perspektive auf den Leviathan Von Joachim J. Krause. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Wille des Volkes und das Problem der Repräsentation Von Marco Haase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Gerechte Kriege, die Golfkriege 1991 und 2003 und das philosophische Völkerrecht Von Georg Cavallar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Der Sozialstaat als wahrer Staat? Hegels Beitrag zur politischen Soziologie Von Michael Opielka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 John Millars emanzipatorische Politik: schottische Aufklärung und ‚Radicalism‘ Von Raimund Ottow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Zwischen den Stühlen. Die prozeduralen Theorien des demokratischen Rechtsstaats von Maus und Habermas Von Birgit Enzmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Das Geheimnis des zweiten Zusatzes. Ein historisch-kritischer Beitrag zu Kants Friedensschrift Von Jörg Pannier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Theorie und Temperament: Was bleibt vom politischen Denken Isaiah Berlins? Von Jan-Werner Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
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Inhaltsverzeichnis II. Rezensionen
Sophie van Bijsterveld, The Empty Throne. Democracy and the Rule of Law in Transition Von Birgit Enzmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Friedrich von Halem, Recht oder Gerechtigkeit? Rechtsmodelle in Ost und West von der Antike bis zur Moderne. Eine Aufsatzsammlung Von Nikolaus Lobkowicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten Von Volker Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg Von Lothar R. Waas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
I. Aufsätze
Der Bund im Alten Testament und bei Hobbes Eine Perspektive auf den Leviathan* Von Joachim J. Krause I. Einleitung Aus der blanken Notwendigkeit, sich nicht mehr gegenseitig töten zu müssen, um das eigene Leben zu verteidigen, kommen Menschen zusammen. In bilateralen Abkommen, mutual covenants one with another, beschließen sie, jeder für sich und alle gemeinsam, ihr Recht, für sich selbst zu reden und zu handeln, zu übertragen auf eine allgewaltige Ordnungsmacht. „This is the generation of that great Leviathan, or rather, to speak more reverently, of that mortal god“1 (EW III 158).2 Der Entwurf eines Gesellschaftsvertrages, den Thomas Hobbes in seinem Buch „Leviathan“ konzipiert, gilt als Meilenstein politischen Denkens. Hobbes’ Idee eines Gemeinwesens, das weder natürlich existiert noch göttlich gestiftet wurde, sondern von autonomen Individuen künstlich errichtet werden muss, wird zur Grundlage der politischen Philosophie der Neuzeit – und der vielleicht wichtigsten Triebkraft ihrer Geschichte. Von diesem altbekannten Gegenstand der politischen Philosophie redet die Disziplin mit Hilfe des Begriffs social contract, Gesellschaftsvertrag. Diese Bezeichnung entspricht allerdings nicht dem Sprachgebrauch des Autors. Anders als die späteren Kontraktualisten Locke und Rousseau bezeichnet Hobbes seinen Entwurf nicht als contract oder Contrat social. Stattdessen entscheidet er sich nach einer Differenzierung zweier Formen rechtlicher Abkommen, „contract“ und „covenant“, von den bilateralen Ab* Für das kontinuierliche Interesse an einer ungewöhnlichen Fragestellung danke ich Prof. Gerhard Göhler (Berlin), für kritische Lektüre einer frühen Fassung des vorliegenden Aufsatzes Prof. Erhard Blum (Tübingen). 1 Hobbes schreibt „mortall god“. Den Blick in die von C. B. Macpherson neu edierte Originalausgabe von 1651 lohnt der Eindruck von der Sprache, in der Hobbes zuhause ist. 2 Seiten- und Kapitelangaben beziehen sich im Folgenden auf die Ausgabe des „Leviathan“ in den English Works (EW III) und Opera Philosophica (OL III).
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kommen bei der Errichtung seines fiktiven Gemeinwesens zu reden mittels des Begriffes „pact, or covenant“ (EW III 121). Damit nennt Hobbes seinen Entwurf beim Namen mit einer der prominentesten Vokabeln des Alten Testaments. Mit dem Wort covenant übersetzt die King James Version das hebr. berith, dt. seit Luther „Bund“.3 Im profanen Sprachgebrauch Bezeichnung für eine rechtliche Übereinkunft, entwickelt sich die berith in der alttestamentlichen Literatur sukzessive zu einer der wirkmächtigsten Beschreibungen für Israels Gottesverhältnis und Selbstverständnis überhaupt. Es ist der Bundesschluss am Sinai, durch den Israel zum auserwählten Volk seines Gottes JHWH wird. „Now therefore, if ye will obey my voice indeed, and keep my covenant, then ye shall be a peculiar treasure unto me above all people: for all the earth is mine“ (Ex. 19,5). Hobbes’ Gebrauch einer geläufigen englischen Vokabel kann nicht nachträglich erklärt werden durch ihre Verwendung in einer englischen Bibelübersetzung. Fest steht allerdings, dass er das Wort nicht in den Mund nimmt, ohne sich der besonderen biblischen Bedeutung bewusst zu sein. Der „Weise von Malmesbury“ muss als einer der bibelfestesten Männer seiner Zeit bezeichnet werden. Zielsicher und mit großem Überblick zitiert er in seinem philosophischen Werk aus Neuem und Altem Testament.4 Hobbes weiß wohl um die Geister, die er gegen Ende seiner staatstheoretischen Argumentation ruft. Angesichts der hypothetischen Möglichkeit, seine Überlegungen erwiesen sich nicht als „principles of reason“, beruft er sich darauf, zumindest seien sie „principles from authority of Scripture“ – „as I shall make it appear, when I shall come to speak of the kingdom of God, administered by Moses, over the Jews, his peculiar people by covenant“ (EW III 325). Rückgriffe auf die authority of Scripture, die Hobbes hier wie anderswo in seinem Werk vornimmt, werden kontrovers diskutiert. Die dabei vorgeschlagenen Erklärungen für Hobbes’ Rekurs auf die Bibel5 lassen sich 3 Der bequemen Lesbarkeit halber transkribiere ich im Folgenden hebr. Begriffe nach ihrem Lautwert bei der Aussprache. 4 Anders als viele Zeitgenossen reflektiert Hobbes den Umgang mit biblischer Literatur kritisch. Mit seiner exegetischen Maxime, die Schriften nicht nur in ihrem Zusammenhang zu lesen, sondern auch die Absicht ihres jeweiligen Verfassers in die Bewertung einzubeziehen, setzt er dabei Maßstäbe (cf. c. 43). Sein skeptischer Blick auf die Texte antizipiert einige zentrale Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese, insbesondere auf den Feldern der Pentateuch- und Kanonkritik. Als einer der ersten europäischen Intellektuellen macht Hobbes Zweifel geltend an einer für den gesamten Pentateuch postulierten mosaischen Verfasserschaft (s. seine Diskussion der Frage in c. 33). 5 Cf. die Übersicht bei Großheim, Religion und Politik, S. 283; s. Cooke, Hobbes and Christianity, S. 17 ff.
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einteilen in biographisch-psychologische Erwägungen6 und Begründungen, die die Funktion solcher Schriftreferenz im Kontext der Zeitgeschichte7 untersuchen. Dabei reichen die Vorschläge von einer reductio ad absurdum der Bibel, die Hobbes im Sinn habe, bis zu einer new theory of Christianity. In der vorliegenden Untersuchung halte ich mich an Hobbes’ eigene Definition seines Feldes als „the doctrine of the politics“ (EW III 700) und schließe mich Großheims Mahnung an: „[Hobbes’] Ziel ist ausdrücklich eine Lehre von der Politik . . . Diesen Umstand muß man bei der Interpretation der theologischen Ausführungen stets im Auge behalten.“8 Vor diesem Hintergrund gilt es zu fragen, was Hobbes meint mit der Ankündigung, seine staatstheoretische Konstruktion als sinnvoll und vernünftig zu erweisen durch Rekurs auf „the kingdom of God, administered by Moses, over the Jews, his peculiar people by covenant“ (EW III 325). Während die gängige Ansicht darin lediglich eine den Bedürfnissen der Zeit verpflichtete Kolorierung der Argumentation sieht, vertrete ich mit dem vorliegenden Aufsatz die These: Hobbes konstruiert seinen Gesellschaftsvertrag in Analogie zur alttestamentlichen Tradition vom Bundesschluss JHWHs mit dem Volk Israel. Durch Adaption dieser literarischen Tradition parallelisiert Hobbes den sovereign-making covenant9 im „Leviathan“ und die berith am Sinai, um die von ihm behauptete Übereinstimmung, das sich entsprechende Verhältnis der jeweiligen Elemente beider Konstruktionen zu betonen. Dies tut er mit der Absicht, seine eigene abstrakte Konstruktion mit Hilfe eines konkreten, literarisch bezeugten und als historisch erinnerten Analogons zu plausibilisieren und zu begründen.10 6 Die hier diskutierten Begründungen sind ziemlich spekulativer Natur, und ihre Verfechter scheinen nicht selten persönlich Anteil zu nehmen am Weltbild des umstrittenen Philosophen. 7 Zur politischen Zeitgeschichte s. Anm. 48. Das intellektuelle Klima, in dem im England des 17. Jahrhunderts politische Ideen entwickelt und diskutiert werden, beleuchtet Oz-Salzberger, The Jewish Roots, S. 95, durch ein eindrückliches Beispiel: Der Staatsrechtler John Selden, der sein Hauptwerk De jure naturali & Gentium juxta Disciplinam Ebraeorum 1640 veröffentlicht, wird ob seines Anspruchs, die Gesetze des Pentateuch (einschließlich ihrer Interpretation in rabbinischer Literatur und durch Maimonides) als historischen Kern eines universalen Naturrechts zu erweisen, von Zeitgenossen gepriesen; Hugo Grotius nennt Selden „the glory of England“. S. außerdem Reventlow, Die Bibel in England, S. 31 ff., aber cf. Skinner, The Ideological Context. 8 Großheim, Religion und Politik, S. 284. 9 Vom sog. Gesellschaftsvertrag spreche ich im Folgenden mit einem von A. P. Martinich geprägten Begriff als sovereign-making covenant (s. dazu unten; cf. Martinich, The Two Gods). 10 Diese durch den Vergleich des sovereign-making covenant im „Leviathan“ mit der berith am Sinai gewonnene Erkenntnis lässt offen, ob Hobbes die berith als inspirierendes Vorbild vor Augen steht (diese Deutung legt Martinich, The Two Gods,
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Aus dieser These ergeben sich Methode, Vorgehen und leitende Fragen der vorliegenden Untersuchung: Durch konzise Erörterungen des Hobbes’schen sovereign-making covenant und der berith arbeite ich zunächst fünf Themenkreise heraus, in denen sich Hobbes die alttestamentliche Tradition in konstruktivem Interesse aneignet. Aus der dabei gewonnenen Erkenntnis, dass Hobbes die beiden Konstruktionen parallelisiert, erwachsen dann die Fragen, mit welcher Absicht er das im Einzelnen tut, inwiefern er dabei den gewünschten Erfolg erzielt – und wo er sich im Gegenteil mit der hergestellten Analogie schwerwiegende Probleme einhandelt.11 Der Vergleich mit der Bundestheologie wirft damit neues Licht auf altbekannte Probleme des Leviathan.12
S. 161 nahe, indem er vom „model“ biblischer covenants redet), oder ob er im Sinaibund lediglich ein besonders passendes Beispiel für seine Konstruktion findet (in diesem Sinne Palaver, Politik und Religion, S. 172). Da ich diese Frage in hermeneutisch-methodischer Hinsicht für nicht mit befriedigender Sicherheit zu klären halte, spreche ich von einer Analogie zwischen der berith und dem Hobbes’schen sovereign-making covenant. Im Sinne des griech. Wortes analogûa (Übereinstimmung, Gleichung, Verhältnis) halte ich damit den eröffneten Deutungsspielraum bewusst offen. 11 Im „Leviathan“ diskutiert Hobbes das Verhältnis von Religion und Politik umfassend. Entsprechend seiner Grundmotivation, mit einer neuen Lehre von der Politik Krieg und Bürgerkrieg zu vermeiden, kann sein zentrales Anliegen beschrieben werden als Entschärfung konfessioneller Konflikte durch eine radikale Reduktion der Bekenntnisanforderungen auf ein unum necessarium: „Jesus is the Christ“ (cf. c. 43). Religion soll politische Herrschaft nicht in Frage stellen, sondern stützen. Fragen nach der Stiftung einer „Zivilreligion“ oder der Prophetie einer „politischen Theologie“, die er damit aufwirft, stehen hier nicht zur Debatte. In der vorliegenden Arbeit untersuche ich einen formalen literarischen Einflussfaktor bei der Hobbes’schen Theoriebildung. 12 Mit dem skizzierten Unternehmen betrete ich ein Feld, das bislang im Abseits der Hobbes-Forschung lokalisiert wird. So vertritt Kersting, Vertrag, S. 920 in einem ideengeschichtlichen Standardlexikon die Ansicht, es sei „[d]eutlich“, dass für Hobbes die „föderaltheologischen Implikationen“ des Begriffs covenant keine Rolle spielten. Obwohl Hobbes auf den Bundesschluss am Sinai mit deutlichem Abstand vor anderen Themata am häufigsten zu sprechen kommt, nimmt sich die Zahl der Veröffentlichungen, die die Verwendung bundestheologischer Tradition im „Leviathan“ zumindest ansprechen, bescheiden aus. Ausnahmen stellen die Untersuchungen von Martinich und Palaver dar. Beide arbeiten mit einem Ansatz, der es streckenweise möglich macht, die erzielten Ergebnisse mit denen des vorliegenden Aufsatzes zu vergleichen. K.-M. Kodalles Buch zum Thema bietet mir dagegen aufgrund seiner spezifischen Perspektive keine Anschlussmöglichkeit bei meinem Vorgehen (s. dazu Anm. 49).
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II. Die berith am Sinai Berith (Septuaginta: diaqh·kh, Vulgata: pactum oder foedus) meint im Alten Testament sowohl „eine Abmachung, die durch eine feierliche Zeremonie einen besonders eindringlichen und verpflichtenden Charakter bekommt“ (ein typisches Beispiel einer solchen profanrechtlichen Abmachung findet sich in Gen. 31,43 ff.) wie auch als Metapher „in der religiösen Sprache: die Berith, die Gott mit einzelnen Menschen oder mit Israel schließt, was entweder bedeutet, daß er ihnen eine Verpflichtung auferlegt, oder daß er sich selbst verpflichtet, oder beides zusammen“13. Grundlegend entfaltet wird die alttestamentliche Theologie des Bundes JHWHs mit seinem Volk Israel in der Sinaitradition des Pentateuch, die mit ihren Themen – Bund, Gesetz, Kult – das religiöse und soziale Selbstverständnis des nachmaligen Israel begründet und entscheidend prägt.14 Bei synchroner Lesung der in Ex. 19 ff. vorliegenden Überlieferung berichtet die Bibel Folgendes von den Ereignissen am Sinai: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein aus allen Völkern“, verkündet JHWH Mose, der auf den Gottesberg steigt (Ex. 19,5). In einer Theophanie erscheint die Gottheit dann auch den Israeliten und gebietet den Dekalog (Ex. 20). Angesichts solcher Gottesgegenwart beauftragt das Volk Mose, als Repräsentant mit JHWH zu reden. In dieser Funktion des Bundesmittlers verkündet Mose die sozialrechtlichen Bestimmungen des Bundesbuches (Ex. 20 – 23), bevor es zum eigentlichen Bundesschluss kommt: das Volk verpflichtet sich, die von Mose übermittelten Satzungen zu halten. Ein Opfer mit Blutritus bekräftigt den Bundesschluss (Ex. 24).
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Nach Gesenius/Buhl, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch. Die Literarkritik unterscheidet im vorliegenden Bericht von den Ereignissen am Sinai (Ex. 19 – Num. 10,10) die der sog. priesterschriftlichen Pentateuchtradition P zugeschriebene Überlieferung in Ex. 19,1; Ex. 24,15-31; Ex. 35 – Num. 10,10 von einer überwiegend früheren Überlieferungssträngen zugeordneten Perikope in Ex. 19* – 24*; Ex. 32 – 34. Während sich die P-Überlieferung als ätiologische Kultlegende liest, die den JHWH-Kult durch Projektion in die klassische Heilszeit als sakrosankt sicherstellt, einen Bundesschluss am Sinai dagegen gar nicht zu kennen scheint, ist die berith das beherrschende Thema der vorpriesterschriftlichen Sinaiperikope. – Fachspezifische Problemkomplexe dieser Art können im Rahmen dieser Untersuchung lediglich an einigen Stellen angedeutet werden. Eine erste Orientierung über Problem und Diskussionsstand bieten im Bedarfsfall die einschlägigen Hilfsmittel, besonders Kommentarliteratur und Einleitungen. Mit Blick auf die Aufgabenstellung im vorliegenden Aufsatz gilt es allerdings ein Doppeltes zu bedenken: Hobbes liest die Bibel mit bemerkenswerter Hellsicht, jedoch vor der Entwicklung der historischen Bibelkritik. Für seine konstruktive Verwendung einer literarischen Tradition ist die diachrone Frage der historisch-kritischen Exegese aber ohnehin von nachrangiger Bedeutung. 14
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Die Deutung dieses Textbefundes wird in der Forschung kontrovers diskutiert zwischen den Anhängern einer Spätdatierung der Bundesvorstellung als theologischer Idee und einer Frühdatierung als sozialer Institution.15 Julius Wellhausen formuliert die These, die Bundesidee sei als späte religiöse Reflexionsstufe entstanden und habe als theologisches Konzept im Prozess der Redaktion des Pentateuch ihren zentralen Platz gefunden.16 Den Durchbruch zur Überwindung des „Wellhausen-Paradigmas“ erzielt Max Weber, indem er die Frage nach der gesellschaftlichen Konstituierung Israels zusammenführt mit der Frage nach der Bindung Israels an JHWH. Durch die Frühdatierung als soziale Institution begreift Weber den Bundesschluss zwischen JHWH und Israel als Konstituierung Israels als „Eidgenossenschaft“. Mit Webers Worten: „Praktisch wichtig war nun aber vor allem, daß Jahwe wenigstens für das alte Israel . . . auch ein sozialer Verbandsgott wurde und blieb. . . . Er war, wie wir annehmen müssen: seit Mose, der Bundesgott des israelitischen Bundes . . . Durch einen Bundesvertrag ist er dazu geworden. Und dieser Vertrag mußte außer unter den Bundesgliedern auch mit ihm selbst abgeschlossen werden deshalb, weil er . . . ein bisher fremder Gott war und ein ‚Gott aus der Ferne‘ blieb. Dies war das Entscheidende der Beziehungen. Jahwe war ein Wahlgott. Durch berith mit ihm hat sich ihn das Bundesvolk erwählt“.17 Vor dem Hintergrund der skizzierten Diskussion18 zeichnen sich drei zentrale Themenkreise ab, die Hobbes’ Interesse an der berith erklären und die 15
Cf. den Forschungsbericht bei Otto, Die Ursprünge, S. 2 ff. Diesem Ansatz eines genuin theologischen movens entsprechend zeigt die Tendenz zu einer Spätdatierung der Bundesidee in der Nachfolge Wellhausens eine deutliche Affinität zu einer endogenen, inneralttestamentlichen Rekonstruktion der Religionsgeschichte Israels, die kulturellen Einflüssen aus der altorientalischen Umwelt Israels vergleichsweise geringe Bedeutung für die Entwicklung der Bundesvorstellung zumisst. 17 Weber, Das Antike Judentum, S. 140. Von Weber großartig angeregt, beginnt die Forschung, die berith in der eröffneten gesellschaftshistorischen Perspektive unter Berücksichtigung der exogenen Aspekte sozialrechtlicher Konzepte der altorientalischen Umwelt zu erörtern. So entdeckt man die strukturelle Verwandtschaft der Sinaiperikope Ex. 19 ff. mit althettitischen Staats- und assyrischen Vasallenverträgen. 18 Mit den grundlegenden Positionen Wellhausens und Webers ist das Feld abgesteckt, auf dem sich die Forschungsdiskussion im 20. Jahrhundert entwickelt. Durch seine Idee einer israelitischen Eidgenossenschaft leistet Weber wichtige Vorarbeit für eine der einflussreichsten Hypothesen der alttestamentlichen Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Bei der Formulierung seiner sog. Amphiktyonie-Hypothese stützt sich Martin Noth auch auf Webers Ansatz (s. dazu Noth, Das System, S. 47 und 90 f.; cf. id., Geschichte Israels). Mit dieser These löst Noth eine wahre Inflation des Bundesbegriffes aus, die in weit ausladenden Theorien große Komplexe des Alten Testaments im Licht der berith, den Bund als Wesenskern der Religion Israels schlechthin deutet. Jäher Einhalt wird dieser „Bundeseuphorie“ durch Perlitts Studie 16
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mich interessieren bei meinem Unterfangen, Hobbes’ Verwendung der Tradition zu kritisieren. (1) Max Weber katalysiert eine berith-Forschung in gesellschaftshistorischer Perspektive. In Folge dieses Wechsels der Blickrichtung wird sich die alttestamentliche Wissenschaft von neuem der Tatsache bewusst, dass das Theologumenon der berith religiöse und soziale Bedeutung besitzt. So bezeichnet ein Lexikonartikel von 1957 Bundesschlüsse im Alten Orient als „das Mittel“, eine „wirkliche Gemeinschaft“ zu bilden, in der Friede und Sicherheit gewährleistet und eine Schädigung des Partners oder ein Anschlag auf sein Leben ausgeschlossen sind. Ursprünglich unabhängig voneinander lebende Menschen oder Gruppen bilden durch Bundesschluss eine neue Rechtsgemeinschaft, deren Zweck die gemeinsame Verteidigung nach außen und Sicherheit (insbesondere Rechtssicherheit) nach innen darstellen.19 Diese Funktion sozialer Integration schreibt Albertz auch der Tradition von der Theophanie am Sinai nach Ex. 19 ff. zu, durch die JHWH zum „sakralen Integrationssymbol der Großgruppe“ werde.20 Neben der Verbindung zwischen Gottheit und Menschengruppe sieht er die zweite Funktion des Kultes am Sinai in der Stärkung des „sozialen Zusammenhalt[s] der Gruppe selber“.21 Diese Überlegung stützt der Textbefund, nach dem die Perikope in der vorliegenden Form auf die Vermittlung von Geboten und Gesetzen für ein gesellschaftliches Zusammenleben zielt (cf. Dekalog Ex. 20,1-17; Bundesbuch Ex. 20,22 – 23,19; „kultischer Dekalog“ Ex. 34,11-26).22 Auf den Spuren Webers entdeckt die Forschung die Funktion der berith mit der Gottheit im Prozess der Soziogenese. (2) Unmittelbar verbunden mit dieser sozialintegrativen Funktion der berith erscheint die Rolle des Mose als deren Mittler. Seine beispiellose Sonderstellung zu begründen, ist ein offensichtliches Anliegen der vorliegenden Überlieferung; cf. Ex. 19,20 ff.; 20,18 f.; 34,27. Die Stellen zeigen exemplarisch die Bedeutung Moses als Repräsentant des Volkes vor der geboten. Mittels literarhistorischer Analysen weist Perlitt die Bundestheologie als späte Frucht der deuteronomisch-deuteronomistischen Theologie des 6. Jahrhundert aus und wendet damit den Blick der alttestamentlichen Wissenschaft mit Macht zurück zu Wellhausen. Einen ersten Überblick über Fortgang und Stand der Diskussion verschaffen Mendenhall/Herion, Covenant und Zenger, Die Bundestheologie. 19 Hempel, Bund, Sp. 1514. 20 Albertz, Religionsgeschichte Israels, S. 89. 21 Ibid., S. 95; Albertz weiter: „Man darf vermuten, daß erst durch ihn [sc. den Sinaikult] aus dem heterogenen Flüchtlingshaufen ein fest organisierter Stamm wurde.“ – Dies gilt jedenfalls für die literarische Tradition; die historische Frage ist für diese Funktion ebenso nebensächlich wie für Hobbes bei seiner Adaption des literarischen Produktes. 22 Ibid. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, S. 164 deutet den „Zuwachs an Gesetzessammlungen“ ähnlich.
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Gottheit, der dargestellt wird als unbedingt notwendiger, „nicht wegzudenkender Mittler des Jahweorakels“.23 Die Notwendigkeit eines Bundesmittlers erklärt Albertz mit „hochkomplizierten Kommunikationsprozessen“ einer Großgruppe, und folglich hält er „religiöse Repräsentation“ für ein konstitutives Strukturmerkmal der Gottesbeziehung solcher Gruppen.24 Mit der Rolle des Bundesmittlers wächst Mose allerdings nicht allein eine kultische Funktion zu. Vielmehr stellen die Berichte von den Sinaiereignissen und der anschließenden Wüstenwanderung Mose als geistliches Oberhaupt und politischen Führer der Israeliten in Personalunion dar (cf. Num. 16 f.).25 Festzuhalten gilt: nach dem in der Sinaiperikope vorliegenden Konzept der berith bedarf das Volk der Repräsentation vor JHWH, und der für diese Aufgabe prädestinierte Repräsentant in der klassischen Heilszeit heißt Mose. (3) Entscheidend für die Theologie des Alten Testaments wie für Hobbes’ Adaption der Sinaiperikope sind schließlich die Fragen nach dem Ablauf des Bundesschlusses und den daraus resultierenden Verpflichtungen der Bundespartner. Nach Ex. 19,5 ist es JHWH, der mit seinem Angebot den Bundesschluss initiiert. Zwar ist dazu die Zustimmung des Volkes erforderlich (Ex. 19,8; cf. Ex. 24,3.7). Doch die theonome Struktur der Sinaiperikope lässt keinen Zweifel daran, dass die berith durch JHWH gestiftet wird.26 Die so entfaltete Konzeption der berith stellt sich dar als begriffliche, quasi institutionelle Profilierung einer Vorstellung von der Beziehung zwischen JHWH und Israel, die bereits die sog. Bundesformel zum Ausdruck bringt: JHWH ist Israels Gott – Israel ist JHWHs Volk.27 Wie das Volk der Treue JHWHs durch ein an seinen Geboten orientiertes Leben zu 23
Albertz, Religionsgeschichte Israels, S. 79. Ibid. 25 Eine solche Beschreibung der Funktionen Moses bedient sich insofern anachronistischer Begriffe, als sie nachträglich die Vorstellung eines „mosaischen Amtes“ befördert. Die biblische Überlieferung sieht Moses Sonderstellung dagegen in seiner Person und beispiellosen Gottesbeziehung begründet. 26 Diese Erkenntnis bestätigt sich bei philologischer Untersuchung der verwendeten Terminologie; s. dazu Weinfeld, berith [hebr.], Sp. 787 ff. Zur Sache s. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, S. 162 und cf. Kutschs Begriff vom „Subjekt“ des Bundesschlusses (Kutsch, berith [hebr.], Sp. 342). Stärker noch betont die Asymmetrie zwischen den Partnern beim Bundesschluss Begrich, der die berith bezeichnet als „ein Verhältnis, in welches ein Mächtiger einen minder Mächtigen zu sich setzt“. Der minder mächtige Partner, „Empfänger“ der berith genannt, spiele dabei keine aktive Rolle (Begrich, Berit, S. 4); cf. dazu auch Weinfeld, berith [hebr.], der im Licht der assyrischen Vasallenverträge „die Idee des Auferlegens“ als für die berith wesentlich hervorhebt. 27 Cf. Ex. 6,7. Breite Aufnahme findet dieser formelhafte Ausdruck des besonderen Verhältnisses zwischen JHWH und Israel im Deuteronomium und in der deuteronomistischen Literatur. 24
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entsprechen verspricht, so verpflichtet sich JHWH zur Sorge für und zum Schutz des Volkes.28 III. Hobbes’ sovereign-making covenant Mit der berith am Sinai steht die literarische Tradition vor Augen, der Hobbes als Analogon des sovereign-making covenant eine begründende Funktion im Rahmen seiner eigenen staatstheoretischen Konstruktion zuweist. Um die Verwendung dieser Tradition im Kontext des Buches zu erörtern, skizziere ich zunächst mit raschen Strichen Hobbes’ Anthropologie und Staatstheorie im „Leviathan“ und stelle dann Überlegungen zum Verhältnis der vier Teile des Buches an. „[T]here is no such finis ultimus . . . nor summum bonum . . . as is spoken of in the books of the old moral philosophers“ (EW III 85) verkündet Hobbes im ersten Teil des „Leviathan“ – und zielt damit insbesondere auf Aristoteles. Dessen Mensch findet als „Gemeinschaftstier“ Ziel und Erfüllung seiner Existenz in der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Hobbes dagegen sieht als „general inclination“ jedes Menschen „a perpetual and restless desire of power after power, that ceaseth only in death“ (EW III 85 f.). Im Naturzustand, den Hobbes als polemisches Gegenstück zu dem des Aristoteles entwirft, leben Menschen deshalb in Ermangelung einer „common power to keep them all in awe“ (EW III 113) in ständiger Konkurrenz auf Leben und Tod: in einem „war, as of every man, against every man“ (ibid.). Zum Zweck der Selbsterhaltung besitzt jeder Mensch „a right to every thing; even to one another’s body“ (EW III 117), und cum grano salis sind alle Menschen gleich stark, sodass selbst der Schwächste noch den Stärksten töten kann.29 In diesem Zustand lebt jeder in „continual fear“ (EW III 113). Hobbes charakterisiert dieses Leben mit den berühmten fünf Attributen „solitary, poor, nasty, brutish, and short“ (ibid.). Es ist die permanente Angst vor einem „violent death“ (EW III 113), die die Menschen zur Einsicht in die Maxime des exeundum e statu naturali nötigt. Wie es gelingen kann, dem unsäglichen bellum omnium contra omnes Einhalt zu gebieten, will Hobbes im „Leviathan“ erklären. Sein Anspruch ist es, dies mittels exakter Regeln zu tun, „as doth arithmetic and 28 Diese Annahme einer wechselseitigen Verpflichtung beider Bundespartner durch die berith ist in der Forschung allerdings nicht unumstritten; cf. die unterschiedlichen Positionen bei Hempel, Bund, Sp. 1516 und Zenger, Die Bundestheologie sowie den Begriff der „Selbstverpflichtung“ des Subjekts der berith bei Kutsch, berith [hebr.], Sp. 342; s. auch id., Verheißung und Gesetz. 29 Carl Schmitt kommentiert ironisch: „Insofern herrscht ‚Demokratie‘.“ (Schmitt, Der Leviathan, S. 47).
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geometry“ (EW III 195).30 Ausgangspunkt dabei ist das seine Lage nüchtern und vernünftig einschätzende Individuum, das by reason auf das „fundamental law of nature“ schließt; „which is, to seek peace“ (EW III 117). Aus diesem grundlegenden law of nature folgt logisch ein zweites: „that a man be willing, when others are so too, as far-forth, as for peace, and defence of himself he shall think it necessary, to lay down this right to all things; and be contented with so much liberty against other men, as he would allow other men against himself“ (EW III 118). Zum Zweck solcher Abkommen führt Hobbes die rechtliche Figur des „contract“ (Vertrag) ein in seine Argumentation und definiert sie als „mutual transferring of right“ (EW III 120). Dabei differenziert er Abkommen, in denen beide Parteien ihre Vertragsschulden sofort einlösen (contracts) von solchen, in denen eine Partei dies erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft tun muss. Hobbes führt trust und faith als Bedingungen der Möglichkeit solcher Verträge ein, die er als „pact, or covenant“ bezeichnet (EW III 121).31 Gerade aber faith und trust sind Mangelware in Hobbes Naturzustand,32 eine existentiell bedrohliche Aufgabe von Rechten erscheint utopisch in einer Situation, in der gilt: „covenants, without the sword, are but words“ (EW III 154). Wo Worte wenig gelten, bedürfen Abkommen zwischen Menschen einer unwiderstehlichen „Vertragsgarantiemacht“.33 Carl Schmitt schildert das Ziel der Hobbes’schen Konstruktion emphatisch: „Atomisierte Einzelne finden sich in ihrer Angst zusammen, bis das Licht des Verstandes aufleuchtet und ein auf die allgemeine und unbedingte Unterwerfung unter die stärkste Macht gerichteter Konsens zustande kommt.“34 Hobbes selbst sagt zu Beginn seines zweiten Teils Of Commonwealth: „The only way to erect such a common power, as may be able . . . to secure them . . . is, to confer all their power and strength upon one man, or upon one assembly of men, that may reduce all their wills, by plurality of voices, unto one will“ (EW III 157). In einem „covenant of every man with every man“ wird eine solche „real unity of them all“ erreicht durch die Übertragung der individuellen Rechte an eine dritte Partei mittels folgenden Sprechaktes: „I authorise and give up my right of governing myself, to this man, 30 Der Versuch, das politische Denken derart zu begründen, ist von einer Begeisterung für die „Elemente“ Euklids motiviert. Wie dieser in der Geometrie will Hobbes allgemeingültige Aussagen in der politischen Theorie treffen (s. dazu unten). 31 Hobbes’ Gesellschaftsvertrag ist offensichtlich ein Abkommen, dessen Inhalt die Zukunft betrifft. Folglich endet die kurze Karriere des Begriffes contract bereits nach wenigen Zeilen, Hobbes spricht im „Leviathan“ von einem covenant. 32 Das Verhältnis der Menschen zueinender im Naturzustand charakterisiert Hobbes’ bekanntes Diktum homo homini lupus. 33 Kersting, Vertrag, S. 919; cf. id., Die politische Philosophie. 34 Schmitt, Der Leviathan, S. 51.
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or to this assembly of men, on this condition, that thou give up thy right to him, and authorize all his actions in like manner“ (EW III 158).35 Das Produkt dieses gemeinsamen Sprechaktes ist – der Staat. Entsprechend definiert Hobbes sein Commonwealth als „one person, of whose acts a great multitude, by mutual covenants one with another, have made themselves every one the author, to the end he may use the strength and means of them all, as he shall think expedient, for their peace and common defence“ (ibid.).36 Diese Formel enthält bereits den Zweck, zu dem das Commonwealth konstituiert wird: Friede und Sicherheit, gewährleistet durch ein Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit, um mit Max Webers Worten zu sprechen.37 Da die Individuen nur mutual covenants one with another schließen, nicht aber mit der Partei, die sie zum „sovereign“ bestimmen, ist dieser Souverän keine Vertragspartei und folglich auch nicht rechtlich durch den Vertrag gebunden (EW III 161 ff.).38 Der Souverän, der als body politic (EW III 210) die übereinkommenden Individuen verkörpert,39 entsteht viel35 Seine Theorie der Autorisierung entwickelt Hobbes in c. 16. Dabei unterscheidet er die Begriffe person/actor und author. Die Person definiert er klarer noch als im Englischen in der lat. Fassung des „Leviathan“ als „qui suo vel alieno nomine res agit“ (OL III 123). Individuen, als Herren (Autoren) ihrer eigenen Worte und Taten, erfüllen also eigentlich beide Rollen gleichzeitig. Doch kann das Recht am eigenen Reden und Handeln übertragen werden auf einen Repräsentanten, der kraft der ihm verliehenen Autorität stellvertretend für das Individuum als Person agiert. Hinsichtlich eines von einem solchen autorisierten actor geschlossenen Abkommens gilt folglich, „that when the actor maketh a covenant by authority, he bindeth thereby the author“ (EW III 148). 36 Dass Hobbes an dieser Stelle eine argumentative Lücke durch eine Überlegung füllt, die in latenter Spannung zur Hauptlinie seiner Argumentation steht (oder zu einer kompletten Relecture der Hobbes’schen Philosophie nötigt), sei hier nur kurz angemerkt: Wenn Worte wenig gelten im Naturzustand – was sollen dann die Worte des sovereign-making covenant zur Staatsgründung wert sein? In c. 14 schreibt Hobbes, „that before the time of civil society . . . there is nothing can strengthen a covenant of peace agreed on . . . but the fear of that invisible power, which they every one worship as God“ (EW III 129). S. dazu die Anmerkungen zu der Debatte um theologische oder naturrechtliche Ansätze zur Interpretation Hobbes’ im Schlussteil der vorliegenden Arbeit. 37 Noch einmal C. Schmitt: „Was dem Bürgerkrieg kein Ende macht, ist kein Staat.“ (Schmitt, Der Leviathan, S. 72). 38 Wäre der Souverän vertraglich gebunden, so beeinträchtigte dies entscheidend seine Möglichkeiten, den Zweck der Rechtsübertragung zu erfüllen. Ergo wäre der Vertragsabschluss nicht rational für die auf ihre persönlichen Sicherheitsinteressen bedachten Individuen. Auf diesen Zweck allerdings ist der Souverän verpflichtet, gibt Münkler zu bedenken, um mit diesem Argument das Problem des „letzten Wolfes“ zu entschärfen (cf. Münkler, Thomas Hobbes, S. 124). 39 Dieser Sachverhalt wird in sprechender Bildhaftigkeit zum Ausdruck gebracht durch das Titelkupfer der Originalausgabe des „Leviathan“ von 1651: Der Schup-
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mehr erst durch den Akt der Rechtsübertragung. Mit dem Begriff des „sovereign-making covenant“ lässt sich deshalb treffend Hobbes’ Konstruktion bezeichnen, die er selbst auf folgenden Punkt bringt: „This is the generation of that great Leviathan, or rather, to speak more reverently, of that mortal god, to which we owe under the immortal God, our peace and defence.“ (EW III 158). Als deus mortalis besitzt der Leviathan unbeschränkte Macht: Non est potestas super terram quae comparetur ei (Job XLI 24).40 Die skizzierte Konstruktion legt Hobbes vollständig in den ersten beiden Buchteilen dar. Spätestens aber wenn er im zwölften Kapitel des ersten Teils Of Man schreibt: „God is king of all the earth by his power: but of his chosen people, he is king by covenant“ (EW III 105), stellt er seinen Leser vor die Aufgabe, die vier Teile des „Leviathan“ in einen stringenten Zusammenhang zu bringen: Wie verhalten sich die in den Teilen I und II entfalteten theoretischen Grundlagen seiner Anthropologie und Staatstheorie zu einem Christian Commonwealth (III) und dem Kingdom of Darkness (IV)? Einen entscheidenden Hinweis hierauf gibt Hobbes gegen Ende des zweiten Teils. In c. 31 erläutert er, Gott herrsche als König über „a twofold kingdom“ (EW III 345), als dessen zwei Dimensionen er ein natürliches von einem prophetischen Reich differenziert. In seinem natürlichen Reich herrscht Gott über die gemeine Menschheit kraft „natural dictates of right reason“, im prophetischen Reich aber über „one peculiar nation, the Jews“, und zwar „not only by natural reason, but by positive laws“, die er ihnen durch seine Propheten verkünden lässt (ibid.). Allzu rasch sind viele Interpreten geneigt, das prophetische Reich als zeitbedingten Anachronismus des Hobbes’schen Denkens zu überfliegen,41 um Hobbes’ eigentliche Intention im natürlichen Reich zu suchen. Damit aber macht man sich die Sache zu einfach. Mit Blick auf die „natural dictapenpanzer des Leviathan besteht aus Individuen, die, indem sie zum Leviathan aufschauen, erkennen lassen, dass sie ihn, das Produkt ihres sovereign-making covenant, als autorisierten Repräsentanten anerkennen. 40 Was Hobbes’ Gesellschaftsvertrag für das politische Denken der Neuzeit bedeutet, sei hier mit einem Einwurf zumindest angedeutet: Indem Hobbes nicht von einer natürlich-präexistenten Harmonie der Menschen ausgeht, sondern von radikal vereinzelten Individuen, bricht er mit einer der einflussreichsten Traditionen des politischen Denkens überhaupt. Nicht die Natur stellt die gesellschaftliche Lebensordnung bereit, der vernünftige Mensch selbst (ažtüò) schafft sich eine solche Ordnung (nümoò). Gesellschaft wird auf den Egoismus der Individuen gegründet. – Das lat. individuum, das Unteilbare, ist eine Lehnbildung zum griech. åtomoò. Im Wissen um diese Herkunft erscheint der Antagonismus zwischen dem Hobbes’schen Begriff des Individuums und der dezidiert anti-atomistischen Anthropologie des Aristoteles umso schärfer konturiert. 41 Mit derartigen Überlegungen muss man wohl den Entschluss erklären, in eine populäre deutsche Ausgabe des „Leviathan“ nur die Teile I und II aufzunehmen.
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tes of right reason“ als Gesetze des natürlichen Reiches gilt es nämlich, an das Dilemma des Naturzustandes zu erinnern: eben weil sich die der Vernunft intelligible lex naturalis, Frieden zu suchen, ohne Zwang nicht in Einklang bringen lässt mit dem ius naturale, das jedem Individuum alle Mittel zur Selbsterhaltung gewährt (EW III 116 f.), kommt es zum zerstörerischen bellum. Als legitimen Autor positiver Gesetze konzipiert Hobbes den Leviathan ja gerade als Ausweg aus diesem Dilemma. Durch Hobbes’ vehementes Plädoyer für die Einheit von geistlicher und weltlicher Obrigkeit42 wird der Leviathan zum Propheten, der kraft dazu notwendiger Autorität in der Lage ist, positive Gesetze zu erlassen – „authoritas [sic], non veritas, facit legem“ (OL III 202) – und so im wahren Wortsinn Ordnung zu schaffen. Vor diesem Hintergrund muss die Überschrift für Teil III Of a Christian Commonwealth als Bezeichnung für die konkrete Gesellschaftsordnung gedeutet werden, die im Abendland eigentlich bereits seit Constantins Bekehrung gelten sollte (c. 42 und passim)43 und die Hobbes jetzt um des Friedens willen endlich faktisch realisiert wissen will – freilich nach seiner Façon. Hobbes’ Staat ist der christliche Staat, dessen „supreme pastor“ (EW III 540) der weltliche Souverän. Nach diesen Überlegungen nehme ich Hobbes beim Wort, wenn er in c. 30 schreibt: „supposing that these of mine are not such principles of reason; yet I am sure they are principles from authority of Scripture“ (EW III 325). Den Staat, dessen Konstruktion er in den Teilen I und II theoretisch vorbereitet hat, führt Hobbes seinem Leser im Teil III des „Leviathan“ konkret vor Augen.44 Der Leviathan die Theorie – der weltliche Souverän im christlichen Staat die Praxis.45 Durch die Konkretisierung dieser programmatischen Ankündigung, seine Ausführungen als „principles from authority of Scripture“ erweisen zu wollen, führt Hobbes die berith expressis verbis als Analogon seines sovereignmaking covenant ein: „I shall make it appear, when I shall come to speak 42 Dazu ausführlich unten; cf. c. 18, 29, 42 und passim sowie die Symbolik des Titelkupfers. 43 Hobbes teilt die Zeit nach Christi Himmelfahrt in zwei Perioden ein, die geschieden werden durch die legendäre erste Bekehrung eines weltlichen Souveräns – des römischen Kaisers Constantin (cf. c. 42). Mit dieser Einteilung geschichtlicher Epochen stellt sich Hobbes in eine Tradition, die Euseb von Caesarea, der zu Unrecht als Hoftheologe Constantins geschmähte Historiograph der Alten Kirche im Osten, in seiner Vita des Kaisers begründet. 44 Bibeltreuen Briten seine Argumentation schmackhaft zu machen, ist dabei ein willkommener Gratiseffekt. 45 Dass Hobbes gerade in der zweiten Hälfte des „Leviathan“ die aktuelle politische Situation in den Blick nimmt, bestätigt schließlich Teil IV Of the Kingdom of Darkness. Mit der römischen Kurie führt Hobbes die Perversion eines christlichen Staates vor – nämlich einen geistlich dominierten christlichen Staat (cf. c. 47).
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of the kingdom of God, administered by Moses, over the Jews, his peculiar people by covenant“ (EW III 325).46 In fünf Punkten zeige ich im Folgenden, welche Elemente seiner Konstruktion Hobbes durch die Adaption der literarischen Tradition tatsächlich mit entsprechenden Elementen der berith parallelisiert. (1) Indem Individuen durch den sovereign-making covenant „aid by society“ (EW III 88) suchen, entsteht mit dem body politic des Leviathan (EW III 210) „a real unity of them all“ (EW III 158). Eine solche sozialintegrative Funktion findet Hobbes auch am Sinai, wo mit der berith nicht nur das Verhalten Israels gegen Gott, sondern insbesondere auch das Verhalten eines Israeliten gegen den anderen geregelt wird (cf. EW III 403; s. den Dekalog und besonders die sozialrechtlichen Bestimmungen des Bundesbuches in Ex. 20 – 23). Am Sinai und im Leviathan wird gesellschaftliches Zusammenleben fundiert. (2) Der einzige Weg jedoch, eine solche real unity durch Einsetzung einer unabhängigen Zwangsgewalt wie des Leviathan herzustellen, ist nach Hobbes die autonome Initiative eines jeden (EW III 157). Allein die Autorisierung des body politic durch die Individuen als seine Integrale gewährt dem Leviathan seine Gewalt (EW III 158). Diesen legitimationstheoretischen Ansatz beim Einzelnen meint Hobbes auch in der Sinaiperikope finden zu können. Angesichts der Theophanie JHWHs entschließt sich das Volk, Mose als Repräsentanten zu autorisieren und folglich in Zukunft ihm Gehorsam zu leisten (Ex. 20,18 f.). Genau diese Stelle paraphrasiert Hobbes im wichtigen c. 26 Of Civil Laws, um dann festzustellen, jeglicher Gehorsam des Volkes gegen Mose entspringe allein dieser „submission of their own“ (EW III 274; cf. EW III 464 und c. 35). (3) Durch ihre Autorisierung des Leviathan mittels des dargestellten Sprechaktes übertragen Individuen als Autoren ihrer eigenen Worte und Taten das Recht am eigenen Reden und Handeln an eine dritte Partei. Dieser Repräsentant agiert kraft der ihm durch diese Rechtsübertragung verliehenen Autorität stellvertretend für die Individuen (EW III 148.158). In diesem Sinne liest Hobbes Ex. 20,18 f., und mit expliziter Bezugnahme auf diese Stelle macht er sich die alttestamentliche Stilisierung des Mose zum klassischen Repräsentanten des Volkes Israel zu eigen (EW III 191 und passim). (4) Auf maximale Handlungsfreiheit seines Souveräns ist Hobbes bedacht, wenn er sich gegen die getrennte Ausübung von weltlicher und geistlicher Gewalt ausspricht; „a kingdom divided in itself cannot stand“ (EW 46 Auf dieser Grundlage behauptet Martinich in der Einleitung zu dem Kapitel seiner Hobbes-Diskussion, in dem er den Begriff des sovereign-making covenant einführt und entwickelt: „the model for these sovereign-making covenants comes from the biblical idea of a covenant“ (Martinich, The Two Gods, S. 161).
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III 168; cf. c. 29). Die souveräne Gewalt in weltlichen wie geistlichen Dingen „must be one; or else there must needs follow faction and civil war“ (EW III 460). Im Angesicht des Schreckgespenstes Bürgerkrieg legt Hobbes denn auch großen Wert auf bestimmte Zusammenhänge der alttestamentlichen Überlieferung, die sich im Sinne einer Einheit der Gewalten lesen lassen (locus classicus Num. 16 f.). In nachgerade redundant anmutender Manier betont Hobbes ein ums andere Mal die mosaische Personalunion als geistliches Oberhaupt und politischer Führer Israels (cf. EW III 435) und nennt gar in polemischer Abwandlung eines geläufigen Bildes den Thron weltlicher Obrigkeit „Moses’ chair“ (EW III 480 und passim). Wie der Leviathan des Titelkupfers hält auch Hobbes’ Mose Schwert und Bischofsstab fest in den Händen. (5) Um den Zweck des sovereign-making covenant zu erfüllen, hat der Souverän schließlich nicht nur die Aufgabe, die Ordnung der Gesellschaft durchzusetzen. Er muss diese Ordnung bei Bedarf auch als legislatives Organ entwickeln und gestalten (s. OL III 202 und cf. c. 26 im Ganzen). Im Sinne dieser Aufgabe positiver Legislation stilisiert Hobbes auch seinen Mose als Gesetzgeber. Diese Interpretation steht zwar in latenter Spannung zur theonomen Struktur der Sinaiperikope, die Mose deutlich genug als Mittler göttlicher Gebote, nicht aber als eigenständigen Legislator vorstellt (s. Ex. 21,1; 24,3-4.12; cf. dagegen Ex. 20,1).47 Doch wenn Hobbes eben im 26. Kapitel argumentiert, ein Mensch könne kraft übernatürlicher Offenbarung Gottes Gesetze verkünden, und dies umgehend auf Mose bezieht (EW III 272 ff.), deutet er diese Mittlerfunktion Moses in seinem Sinne aus. Hobbes’ Mose jedenfalls wird porträtiert im Besitz der Autorität, kraft der auch der Leviathan positives Recht imponiert. IV. Absicht und Erfolg der Analogie Der Vergleich der berith am Sinai mit dem sovereign-making covenant entdeckt, dass Hobbes zentrale Elemente beider Konstruktionen parallelisiert. Mit dieser Erkenntnis erwachsen weitere Fragen: Mit welcher Absicht verwendet Hobbes die berith als Analogon, inwiefern erzielt er dabei den gewünschten Erfolg – und wo handelt er sich im Gegenteil mit der hergestellten Analogie schwerwiegende Probleme ein? Der Vergleich von alttestamentlicher Bundestheologie und dem Gesellschaftsvertrag eröffnet eine Perspektive, in der die Hobbes’sche Konstruktion selbst Gegenstand der Kritik wird. 47 Trotzdem befindet sich Hobbes mit seiner Interpretation in guter Gesellschaft. Bereits Philo stellt in De Vita Mosis einen antiken Gesetzgeber vor, ein Motiv, das noch Th. Mann zu einer Novelle inspiriert (Das Gesetz).
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Absicht und Erfolg von Hobbes’ Verwendung der literarischen Tradition lassen sich grundsätzlich mit zwei unterschiedlichen Ansätzen erklären: Zweifellos ist Hobbes’ Referenz auf die Bundestheologie durch die politischen und religiösen Kontroversen seiner Zeit motiviert.48 Darüber hinaus aber zeigt die explizite Parallelisierung von sovereign-making covenant und berith, dass sich Hobbes mit einem konstruktiven Interesse an der formalen Struktur des Theologumenons, in dem er zentrale Elemente seiner eigenen Konstruktion entwickelt zu finden meint, der berith zuwendet.49 Er 48 Diese Auffassung findet sich in der Literatur sehr häufig, meist verbunden mit der Annahme, dies sei der einzige Grund für die Behandlung des Themas durch Hobbes; cf. exemplarisch Großheim, Religion und Politik, S. 290 ff. In der vorliegenden Untersuchung hat eine eigenständige Erörterung zeitgeschichtlicher Ursachen für Hobbes’ Auseinandersetzung mit dem Thema keinen Platz. Die Literatur zum Thema (zur ersten Information s. Kersting, Vertrag und cf. Weir, The Origins) lässt aber leicht erkennen, dass Hobbes im Theologumenon der berith Potential für umstürzlerische Tendenzen und den gefürchteten Bürgerkrieg sehen muss. Im Zuge der Reformation drückt eine sich immer mächtiger entwickelnde covenant theology (auch federal theology) der theologischen Diskussion in England ihren Stempel auf. Derart inspiriert begreifen revolutionäre englische Kreise die Geschichte Israels vor der Königswahl Sauls (1. Sam. 8 ff.) als Geschichte der Freiheit, an die anzuknüpfen England als Gottes neues Volk, „people elect“ (auch „elect nation“) berufen sei, und die sog. „Scottish Covenanters“ begründen politische Opposition mit einem „National Covenant“ Schottlands mit Gott, den sie geschlossen haben wollen. Es schwingt Verachtung mit, wenn Hobbes im „Leviathan“ kommentiert: „this pretence of covenant with God, is . . . evident a lie, even in the pretenders’ own consciences“ (EW III 161). Zweifellos ist es Hobbes’ Anliegen, die Diskussion durch seine Deutung der Texte in seinem Sinne zu prägen. Wenn Martinich, The Two Gods, S. 149 deshalb feststellt, Hobbes verwende die Bundesidee, obwohl er den „political use“, den die Schotten von ihr machen, verdammt – schlage ich vor, die Konjunktion auszutauschen: weil seine Gegner mit der Bundestheologie argumentieren, muss auch Hobbes dies tun. Unbeschadet aber der Erkenntnis, dass er einen zentralen Streitbegriff seiner streitbaren Zeit besetzt: Hobbes’ maßgebliches Interesse gilt der berith selbst. 49 Eine solche Ansicht wird in der Forschung kaum vertreten. – K.-M. Kodalle, der sich umfassend mit Hobbes’ Bundestheologie beschäftigt hat, nähert sich in seinem Buch zum Thema und in der Zusammenfassung der Überlegungen in einem Aufsatz der Sache von einer ganz anderen Seite als die vorliegende Untersuchung. Im Bundesgedanken erkennt Kodalle die geistige Grundlage des Gesellschaftsvertrages, die „religiösen, kultischen Fundamente“, die im Menschen mit der Erinnerung an ein „geschichtliches Versprechen“ auch die Fähigkeit des Versprechens „wachhalten“ und so den Bundesschluss als ein Versprechen im Naturzustand erst ermöglichen (Kodalle, Thomas Hobbes, S. 77). Dass Hobbes selbst diese Fähigkeit ganz anders erklärt, übersieht Kodalle keineswegs. Dessen Aussage, „that before the time of civil society . . . there is nothing can strengthen a covenant of peace agreed on . . . but the fear of that invisible power, which they every one worship as God“ (EW III 129), kommentiert Kodalle mit der Überlegung, ein Gott des Zornes treibe Menschen lediglich in die Resignation, anstatt ihnen Kraft zur Vertragstreue zu verleihen. Nur der Gott des „Heil[s]“ bzw. der „Erlösung“ (ibid., S. 89 f.) könne deshalb
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tut dies mit der erklärten Absicht, seinen sovereign-making covenant zu plausibilisieren und zu begründen (EW III 325). In überzeugender Weise gelingt ihm dies bei zwei zentralen Elementen seiner Konstruktion: (1) die im sovereign-making covenant autorisierte Person des Souveräns gewinnt eindeutig an autoritärem Profil durch die Illustration am Analogon des Mose, und (2) seine Betonung der Einheit weltlicher und geistlicher Gewalt in der Person Moses dient Hobbes zur Begründung der absoluten Macht des Leviathan. Es klingt wie ein Motto zu diesem Unterfangen, wenn Hobbes schreibt, es ergebe sich „both from reason, and Scripture“, dass die souveräne Gewalt so groß sei „as possibly men can be imagined to make it“ (EW III 194 f.). (1) Kein Mensch wird im „Leviathan“ öfter beim Namen genannt als Mose.50 Palaver ist der Meinung, diese quantitative Häufung entspreche dem „systematischen Stellenwert“ Moses in Hobbes’ Konstruktion und formuliert die These: „Mose ist ein typisches Beispiel für den Souverän im Sinne von Hobbes’ eigener Staatstheorie.“51 In eine ähnliche Richtung zielt Martinich, der argumentiert „that the paradigm of Hobbes’s idea of sovereignty is biblical.“52 Zum Dreh- und Angelpunkt seiner Darstellung des souveränen Moses als absoluter Souverän wählt Hobbes mit Ex. 20,19 eine Kernstelle der Sinaiperikope: Nach JHWHs Theophanie mit Blitz und Donner sprechen die Israeliten zu Mose: „Rede du mit uns, wir wollen hören; aber lass Gott nicht mit uns reden, wir könnten sonst sterben.“ Hobbes’ einen Ausweg weisen. Indem der covenant „faith“ und „truth“ zur menschlichen Disposition stellt, so Kodalle, fungiert er als Ermöglichungsgrund des menschlichen Überlebens in Gemeinschaft (Kodalle, Covenant, S. 227). In antagonistischen historischen Situationen, aus denen kraft Vernunft kein Ausweg gefunden werden kann, wird „a new start toward healing disrupted reality“ (ibid., S. 225) möglich durch die im covenant angelegte „practice of reconciliation“ (ibid., S. 227). Kodalle zielt mit seiner Interpretation des sovereign-making covenant auf Versöhnung zwischen Menschen. Diesen Versuch wehrt Großheim ab unter Rekurs auf F. Tönnies’ Differenzierung von Gesellschaft als künstlicher Einheit Einzelner und Gemeinschaft als „Hort von Treue und Vertrauen“. Kodalles Ansatz interpretiere ich als Begründung von Gemeinschaft im Sinne Tönnies, und Großheim ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass von solcher Gemeinschaft bei Hobbes keine Rede sein kann (Großheim, Religion und Politik, S. 311). Mit meiner These von einer strukturellen Analogie zwischen berith und sovereign-making covenant gehe ich, anders als Kodalle, nicht davon aus, Hobbes wolle durch seine Aufnahme des Bundesthemas eine „transzendente Wahrheitsebene“ einführen, um in dieser der politischen Ordnung erst den „entscheidenden Halt“ zu verleihen (so Münkler, Thomas Hobbes, S. 17 zu Kodalles Interpretation). Stattdessen beobachte ich Hobbes’ konstruktives Interesse an der formalen Struktur der berith. 50 Häufiger noch als von Mose spricht Hobbes lediglich von Jesus Christus – allerdings eben so: unter Verwendung des christologischen Titels. 51 Palaver, Politik und Religion, S. 142 f. 52 Martinich, The Two Gods, S. 181.
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Auslegung der Stelle ist bündig und bezeichnend: „This is absolute obedience to Moses.“ (EW III 191). Bereits in c. 20 also bereitet Hobbes seinen Mose vor auf die Ausübung absoluter Gewalt an Stelle Gottes. Diese Rolle als allmächtiger „Stellvertreter Gottes auf Erden“ (so Hobbes in seiner Conclusio, EW III 707; dt. von W. Euchner) erläutert Hobbes dann folgendermaßen: Nachdem das Volk am Fuß des Sinai Gott zu seinem König gemacht hat, delegiert dieser seine Macht umgehend an seinen „lieutenant“ Mose. „[God] ruled them by Moses only; for he only spake with God“ (EW III 363). Den bloßen Mittler des Bundes macht Hobbes so unter der Hand zum mortal god. Dies kann ihm gelingen, weil er mit Gott den eigentlichen „king“ dem menschlichen Verstand so weit entzieht, dass er kaum mehr fassbar ist. Mittels der Frage „How God speaketh to a man“ (EW III 361) stellt er für die englische Gegenwart im 17. Jahrhundert n. Chr. lapidar fest: „Seeing therefore miracles now cease, we have no sign left, whereby to acknowledge the pretended revelations or inspirations of any private man“ (EW III 365). Bereits für das Volk Israel galt außerdem, dass mit Gottes Statthalter der Souverän entscheidet über die Authentizität von Wundern (die das probate Mittel sind, göttliche Offenbarung als wahr auszuweisen; c. 37: Of Miracles, and their Use). Glover bemerkt treffend zu Hobbes’ Taktik: „his emphasis on the incomprehensibility of God served him well in polemics.“53 Von dieser Taktik macht Hobbes hier Gebrauch, um Mose zum mortal god unter dem immortal God und damit zum Analogon des Leviathan zu erheben.54 Mit der Stilisierung Moses zum mortal god erreicht Hobbes sein Ziel. Die „absolute obedience“ (EW III 191), die Israel Mose schuldet, schulden die Individuen, die im sovereign-making covenant übereinkommen, dem Leviathan. Indem er die gesamte erste Tafel des Dekalogs auslegt im Sinne des Gehorsams gegen die Herrschaft Moses (EW III 513 f.), werden auch die Untertanen im christlichen Staat verpflichtet zum Gehorsam gegen den Leviathan.55 Die Analogie mit der berith leistet Hobbes gute Dienste bei der Begründung der absoluten Macht seines Souveräns. (2) Hobbes’ Leviathan gebietet kraft weltlicher Souveränität in weltlichen Belangen (EW III 480). Da er aber gleichzeitig auch als Priester fungiert, und zwar als einziger „by immediate authority from God“, ist er im 53
Glover, God and Thomas Hobbes, S. 277. Da auch die alttestamentliche Überlieferung streng darauf bedacht ist, JHWHs Transzendenz zu wahren (cf. Ex. 24,10), findet Hobbes bei dieser Stilisierung Moses zum sterblichen Gott durch Verschleierung des Unsterblichen durchaus auch gewissen Anhalt am Textbefund. 55 Diese Parallelisierung von Dekalog und „Untertanenpflichten“ beobachtet auch Münkler, Thomas Hobbes, S. 135. 54
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Unterschied zu den gemeinen Geistlichen, die „jure [sic] civili“ mittelbar autorisiert sind, „supreme pastor jure divino“ (EW III 540).56 Mit einem Wort: Hobbes plädiert für die Einheit beider Gewalten, „for the government of men’s external actions, both in policy and religion“ durch die Person des Souveräns – „for both State and Church are the same men“ (EW III 546). Werden weltliche und geistliche Gewalt stattdessen getrennt voneinander ausgeübt, „there must needs follow faction and civil war“ (EW III 460), denn „a kingdom divided in itself cannot stand“ (EW III 168; cf. c. 29). Die souveräne Gewalt in weltlichen wie geistlichen Dingen „must be one“ (EW III 460), daran lässt der Titelkupfer der Originalausgabe des „Leviathan“ keinen Zweifel.57 Bei dem Unterfangen, den weltlichen Souverän als „the head of the Church“ (EW III 435) in Personalunion auszuweisen, erweist sich die Überlieferung der Sinaiereignisse erneut als hilfreiche Referenz. In c. 40 schreibt Hobbes: „the Scriptures, since God now speaketh in them, are the Mount Sinai; the bounds whereof are the laws of them that represent God’s person on earth“ (EW III 467). Mit der Metapher vom Sinai und seinen Grenzen spielt Hobbes auf Bibelstellen an, die er im selben Kapitel auslegt: Ex. 24,1 f. (EW III 465) und besonders Ex. 19,12 und 19,21 (EW III 467). Ex. 24,2 berichtet, dass Mose allein sich JHWH auf den Sinai naht, das Volk aber nicht heraufkommen und selbst die Ältesten Israels nur „von ferne“ anbeten sollen. Schärfer noch fassen diese Überordnung Moses die Verse aus Ex. 19. JHWH befiehlt Mose: „Zieh eine Grenze um das Volk und sprich zu ihnen: Hütet euch, auf den Berg zu steigen oder seinen Fuß anzurühren; denn wer den Berg anrührt, der soll des Todes sterben.“ (Ex. 19,12). Durch die allegorische Identifizierung des Berges samt seinen Grenzen mit der Heiligen Schrift kann Hobbes schließen, der weltliche Souverän sei der einzige legitime Interpret derselben. Gemeinen Sterblichen dagegen ist es bei Todesstrafe verboten „to transgress the bounds God hath set us, and 56 In der Forschung wird in diesem Zusammenhang auch vom Leviathan als „pontifex maximus“ gesprochen. Einen derartigen Anachronismus leistet Hobbes sich nicht; cf. OL III 398: „Pastores omnes, præter supremum, jure civili ista faciunt; sed rex, et quicunque summam habet potestatem, eadem faciunt authoritate Dei, sive, ut loquuntur, jure divino.“ S. auch OL III 488. 57 In seinem Contrat social kommentiert Rousseau diese Absicht seines kontraktualistischen Vorläufers mit folgenden Worten: „Von allen christlichen Autoren ist der Philosoph Hobbes der einzige, der das Übel und das Gegenmittel klar erkannt und den Vorschlag gewagt hat, die beiden Köpfe des Adlers wieder zu vereinen und alles in eine politische Einheit zurückzuführen“ (Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 179). Eine solche Einheit der „ultimate authority in both religious and nonreligious matters“ betrachtet auch Martinich, The Two Gods, S. 288 als „major point that Hobbes wants to make“; „Thus Moses alone exercises authority over the Israelites.“
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to gaze upon God irreverently“ (EW III 467). Mit dem Gotteskontakt durch Schriftauslegung bleibt das höchste Amt des Priesters in Hobbes’ Staat dem weltlichen Herrscher vorbehalten.58 Die mittels allegorischer Exegese gewonnene biblische Begründung dieses Privilegs übt – wie jede Allegorie – zwar lediglich subjektive Imaginationskraft aus.59 Doch mit dem hinter ihr stehenden Anliegen, eine Einheit von weltlicher und geistlicher Gewalt zu begründen, beruft sich Hobbes keineswegs zu Unrecht auf den zitierten Überlieferungsstrang im Bericht von der berith am Sinai (der weitere Kontext stützt diese Interpretation, cf. Num. 16; EW III 460). Erneut gelingt es ihm, durch die Betonung der Analogie seines sovereign-making covenant mit der berith das Profil des Leviathan zu schärfen. Mit seiner derart stilisierten Gestalt des Mose setzt Hobbes erfolgreich Maßstäbe für den Souverän seiner eigenen Konstruktion, und Moses absolutes Regiment über das Volk Israel gerät zum Bild für die Einheit der Gewalten. Zwar ist Hobbes’ konstruktives Interesse an der berith damit keineswegs erschöpft; die weitere Verwendung des Analogons steht besonders im Zeichen der Absicht, sein Konzept der Repräsentation mit Hilfe der Sinaiereignisse zu erläutern. Doch bei diesem Versuch handelt Hobbes sich schwerwiegende Probleme ein. V. Inkonsistenzen und Probleme der Analogie Durch die Parallelisierung seines sovereign-making covenant mit der berith entstehen Hobbes Probleme dreierlei Art: Erstens steht die Verwendung des Analogons in latenter Spannung zu seinen erklärten methodologischen Ansprüchen. Zweitens verkürzt Hobbes im Sinne seiner argumentativen Absicht alttestamentliche Textzeugnisse zum Teil elementar und öffnet so ein Einfallstor für Kritik und gegenläufige Textauslegungen. Am gravierendsten aber wirkt sich schließlich aus, dass es ihm misslingt, zentrale Elemente des sovereign-making covenant und der berith logisch konsistent als analog zu erweisen. Mit der berith wandern deshalb strukturelle Probleme in Hobbes’ Konstruktion ein. Im Sinne seiner Methode, die eigene Argumentation more geometrico aufzubauen, nimmt Hobbes für sich in Anspruch, als erster politischer Denker theoretisch über Politik zu philosophieren. Mittels exakter Regeln, „as doth arithmetic and geometry“ (EW III 195), will er allgemeingültige Aus58 Mit eben dieser Argumentation beschließt auch Spinoza, Tractatus sein wichtiges c. 17. 59 Zur Kritik der allegorischen Exegese, entwickelt in der Homer-Auslegung der klassischen Antike und als elementarer Bestandteil der exegetischen Programme in der Alten Kirche mit Meisterschaft gehandhabt, s. Holl, Luthers Bedeutung, S. 544 ff.
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sagen in der politischen Theorie treffen. Münkler beschreibt Hobbes’ Methode more geometrico als „Verfahren historischer wie geographischer Dekontextualisierung“ mit dem Ziel, politische Erkenntnis von der kontingenten Entwicklung der Geschichte zu abstrahieren.60 Sein Werk nennt Hobbes jedoch keineswegs nach seiner methodologischen Inspiration durch Euklid „Elemente der Politik“. Stattdessen, und diese Paradoxie hat besonders Carl Schmitt herausgearbeitet,61 steht mit dem mythischen Seeungeheuer Leviathan die personifizierte Chaosmacht Pate.62 Mehr noch aber als mit diesem Titel nimmt die „Kontingenz der Geschichte“ durch die literarische Adaption eines als historisch erinnerten Ereignisses Anteil an der Grundlegung der Hobbes’schen Staatstheorie. Der Rekurs auf das Analogon der berith am Sinai steht in latenter Spannung zu Hobbes’ erklärten methodologischen Ansprüchen.63 Ganz im Zeichen seiner Absicht, durch die hergestellte Analogie die eigene Konstruktion zu begründen, steht nicht nur Hobbes’ Auslegung alttestamentlicher Texte, sondern auch deren Auswahl. An einigen Stellen verkürzt er das biblische Zeugnis dabei aber so elementar, dass seine Argumentation von gegenläufigen Textauslegungen empfindlich getroffen werden kann. Dies will ich exemplarisch zeigen am wichtigsten Fall: an Hobbes’ Mose-Bild. Der Mose des Alten Testaments ist eine Figur mit unterschiedlichsten Facetten. Die Vielzahl seiner Rollen und Funktionen in der Literatur über die Frühgeschichte der nachmaligen Israeliten64 erklärt die Überlieferungskritik literarhistorisch: „Der Mann Mose“ (S. Freud) wurde für die Literatur Israels zum Kristallationspunkt verschiedener Überlieferungsstränge, so besonders für zwei der drei großen Ursprungstraditionen, Exodus und Sinaiereignisse. Im Sinne seiner argumentativen Absicht setzt Hobbes sein Mose-Bild dagegen in einen ziemlich schmalen Rahmen 60
Cf. Münkler, Thomas Hobbes, S. 18. „Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols“ untertitelt Schmitt seine Interpretation des „Leviathan“. 62 Es erstaunt nicht allein Jacob Taubes, „wie selten die Interpreten und Exegeten von Hobbes auf jene Kapitel des Hiob-Buches zurückgegriffen haben, denen er die mythischen Titel seiner Werke entlehnt“ (Taubes, Leviathan als sterblicher Gott, S. 11). 63 Im Sinne ihrer Deutung der Philosophie Hobbes’ (s. dazu unten) lokalisieren Bermbach und Kodalle jenseits des „a-historischen Vernunftsystem der neuen Politik“ die „wissenschaftlich nicht verfügbaren historischen Rahmenbedingungen der Akzeptanz des Systems insgesamt“ (Bermbach/Kodalle, Einleitung zu Furcht und Freiheit). 64 Wer war Mose? Generationen von Forschern machen eine Vielzahl tlw. durchaus kurioser Vorschläge, sie reichen vom ägyptischen Kupferschmied bis zum depotenzierten Mondgott. Die Übersicht bei Donner, Geschichte des Volkes Israel, S. 126 ff. hat Unterhaltungswert. 61
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– der lediglich Teile einer der großen Traditionen umfasst, in denen Mose literarisch beheimatet ist: die berith am Sinai. Das beste Beispiel für Momente des biblischen Mose, die Hobbes bewusst aus seinem Rahmen fallen lässt, findet sich in Ex. 1 – 15, in unmittelbarer Nähe zur Sinaiperikope. Mit kaum einem Wort erwähnt Hobbes die Rolle als Führer aus ägyptischer Sklaverei, die Mose in diesen Kapiteln spielt.65 Albertz hält die Erfahrung „geschichtlich politischer Befreiung“ durch den Exodus für das maßgebliche Theologumenon des Alten Testaments,66 und die englischen Revolutionäre, die sich auf die Freiheit des Volkes Israels vor der Königswahl Sauls beriefen, müssen das ähnlich gesehen haben.67 Dass Hobbes dagegen den Befreier Mose, der einen erfolgreichen Aufstand gegen die pharaonische Staatsgewalt anführt, nicht in seinen Rahmen aufnehmen kann, leuchtet ein.68 Neben den dargestellten methodologischen und exegetischen Problemen bei der Adaption einer alttestamentlichen Tradition handelt Hobbes sich schließlich mit der Analogie zwischen berith und sovereign-making covenant auch strukturelle Inkonsistenzen in seiner eigenen Konstruktion ein. Nicht an allen Stellen gelingt es ihm bruchlos, die jeweiligen Elemente als analog auszuweisen. Eine Kritik der Verwendung der berith als Analogon des sovereign-making covenant wirft deshalb auch neues Licht auf immanente Probleme der Konstruktion des Gesellschaftsvertrages. Drei zentrale Problemkreise bedingen sich wechselseitig: (1) der legitimationstheoretische Ansatz bei der Autorisierung des Souveräns durch die Individuen, (2) die Frage nach Vertragspartnerschaft und Verpflichtung des Souveräns und (3) das Konzept autorisierter Repräsentation. (1) Es bedarf der autonomen Initiative eines jeden beteiligten Individuums, mit dem Leviathan ein Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit im Naturzustand aufzurichten (EW III 157 f.). Um diesen legitimationstheoretischen Ansatz beim Individuum mit Hilfe der hergestellten Analogie zu begründen, bemüht Hobbes bestimmte Stränge der Überlieferung von der berith am Sinai. Aus Ex. 20,18 f. folgert er, jeglicher Gehorsam des Volkes gegen Mose entspringe allein dieser „submission of their own“ (EW III 65
Auf diese absichtliche Reduktion Moses macht Palaver, Politik und Religion, S. 149 f. aufmerksam. Zur Gestalt des Mose im politischen Denken der Zeit cf. auch Münkler, Moses. 66 Albertz, Religionsgeschichte Israels, S. 78. 67 In diesem Sinne auch Walzer, Exodus and Revolution, S. 7 und passim. 68 Palaver, Politik und Religion, S. 149 zeigt Hobbes’ schwierige Lage durch die Überlegung auf, ein Mose nach Hobbes’ Geschmack hätte die Gewalt des Pharaos unter allen Umständen verteidigen müssen. S. auch Wildavsky, Moses, S. 70 ff., der von einem revolutionären Regimewechsel „From Slavery to Anarchy“ spricht.
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274). „[Moses’] authority therefore, as the authority of all other princes, must be grounded on the consent of the people“ (EW III 464). Ex. 19,5 zitiert Hobbes aus „the English translation, made in the beginning of the reign of King James“ (EW III 398 f.). Der Vers lautet dort: „Now therefore, if ye will obey my voice indeed, and keep my covenant, then ye shall be a peculiar treasure unto me above all people: for all the earth is mine.“ Hobbes legt aus, Israel sei Gottes Volk „in a special manner“ und paraphrasiert: „for they [sc. the nations of the world] are all mine, by reason of my power; but you shall be mine, by your own consent, and covenant“ (EW III 399). Hobbes präsentiert den Bundesschluss am Sinai in lupenreiner Analogie zu seiner Autorisierung des Leviathan. Damit aber wird er dem gewählten Analogon nicht gerecht. Zwar ist nach Ex. 19,8 und 24,3.7 die Zustimmung des Volkes erforderlich zum Bundesschluss. Doch die von Hobbes zitierte Stelle Ex. 19,5 liest sich viel treffender im Sinne einer dem Volk durch JHWH auferlegten Verpflichtung.69 Von autonomer Initiative der Individuen ist in der Sinaiperikope jedenfalls nicht die Rede. Um wie Max Weber die gesellschaftlichen Dimensionen der Ereignisse in den Blick zu bekommen, muss man gelegentlich einen Schritt zurücktreten vom überlieferten Textzeugnis. Wenn Hobbes dagegen seinen sovereign-making covenant aus dem Text lesen will, steht er einem Konsens der Exegeten gegenüber: Nicht das Volk, – JHWH stiftet die berith.70 Die theonome Struktur der Sinaiperikope sperrt sich hier gegen die Anforderungen der Hobbes’schen Konstruktion. (2) Mit dieser Erkenntnis stellt sich die Frage nach den Partnern, die den Bund schließen und den Verpflichtungen, die sie dabei eingehen. Weil Hobbes’ Leviathan erst entsteht als Produkt eines sovereign-making covenant, den every man with every man schließt, gilt: „he which is made sovereign maketh no covenant with his subjects“ (EW III 161). Der Souverän ist keine Vertragspartei und somit durch den sovereign-making covenant nicht rechtlich gebunden. Nur so hat er die notwendige Handlungsfreiheit,71 um 69
Dies ist in der Tat auch die klassische Interpretation, zumal in jüdischem Denken. 70 Zur Sache s. oben. Von Rad verleiht dem Konsens Ausdruck durch seine Beschreibung des Bundesschlusses als „Erwählung und . . . Beschlagnahme Israels durch Jahwe und seinen Rechstwillen“ (von Rad, Theologie, S. 221). Hempel, Bund, Sp. 1515 weist außerdem unter Verweis auf Ex. 23,32 darauf hin, dass beim Bundesschluss mit Pseudogöttern die Initiative beim Volk liegt. – Die Erkenntnis, dass „Volk“ (hebr. ’am) im Alten Testament wie in seiner altorientalischen Umwelt keinesfalls eine Gruppe autonomer Individuen meint, unterminiert Hobbes’ Deutung für heutige Leser zusätzlich. 71 Martinich, The Two Gods, S. 173 spricht von einer „carte blanche“, die Hobbes dem Souverän ausstellen wolle.
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dem Zweck des Abkommens entsprechend Ordnung zu schaffen und Frieden zu sichern. Diese zentrale Absicht und Pointe der Hobbes’schen Konstruktion lässt sich mit der Sinaiperikope nicht begründen. Durch seine Funktion als Initiator des Bundesschlusses wird JHWH zum Partner der berith,72 und im Sinne der wechselseitigen Struktur dieses Verhältnisses übernimmt er damit eine Verpflichtung gegenüber dem Volk.73 Hobbes ist sich dieses Problems durchaus bewusst. Anders als bei den übrigen zentralen Elementen seiner Konstruktion versucht er in diesem Punkt nicht, eine Analogie mit der berith herzustellen. Stattdessen betont er in kritischen Zusammenhängen die Rolle Moses als tatsächlich handelnder Souverän (cf. EW III 363),74 der als autorisierter Repräsentant des Volkes durch die berith ebenso wenig gebunden ist wie der Leviathan durch den sovereign-making covenant. (3) Damit rückt Hobbes’ Konzept autorisierter Repräsentation ins Blickfeld. Durch ihren Sprechakt zur Autorisierung des Leviathan75 übertragen Individuen als Autoren ihrer eigenen Worte und Taten das Recht am eigenen Reden und Handeln an einen Repräsentanten. Kraft der ihm verliehenen Autorität agiert dieser stellvertretend im Interesse der Individuen (EW III 72 Dazu das Notwendige bei Kutsch, berith [hebr.], Sp. 350: Unbeschadet der Tatsache, dass Gottheit und Volk nicht gleichberechtigt sind – als „Subjekt“ der berith ist JHWH Partner. Zur Sache s. oben. 73 Zur Sache s. oben. Die Frage, ob die Erfüllung von Bundespflichten durch Gott matter of justice (meritum condigni) oder aber als „gift“ aus „free grace“ (meritum congrui) geschieht (EW III 122 ff.), wird unter covenant theologians der Zeit kontrovers diskutiert. Hobbes, der Brisanz der Frage bewusst, ergreift Partei und plädiert für eine Lösung, die Luther an anderem Ort auf die Formel sola gratia gebracht hat (cf. auch EW III 476). 74 „For they had made God their king . . .; who ruled them by Moses only; for he only spake with God“ (EW III 363). Niemand anders als Mose verkörpert die entscheidende Instanz der Machtausübung. 75 Martinich, The Two Gods, S. 167 ff. unterzieht die beiden Varianten dieses Sprechaktes, die sich in EW III 158 (Original) und EW III 204 (Paraphrase) finden, einer ausführlichen formallogischen Untersuchung in vergleichender Perspektive. In den zwei Verbalformen des Originals: „I authorise and give up my right of governing myself“ sieht Martinich zwei miteinander unvereinbare Handlungen, da Hobbes selbst die Übertragung eines Rechtes als Wahrung desselben durch Repräsentation konzipiert und so von einer Rechtsaufgabe abgrenzt (cf. EW III 120). Den Grund für die widersprüchliche Formulierung findet Martinich in den konkurrierenden Zielen eines legitimationstheoretischen Ansatzes beim Individuum und politischer Stabilität. Unter Verzicht auf eine Formel der Rechtsaufgabe bringt die Paraphrase dann das legitimationstheoretische Anliegen logisch konsistent zum Ausdruck: „I authorize, or take upon me, all his [sc. the sovereign’s] actions.“ Martinich schließt aus seiner Untersuchung: „Hobbes has a theory of authorization and a theory of authority; and they are incompatible.“ Cf. dazu die Überlegungen im Schlussteil der vorliegenden Arbeit.
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148.158). Martinich ist der Meinung, Hobbes übernehme diese Idee einer „representative person“ aus der Bundestheologie,76 und Palaver sagt über die Autorisierung Moses durch das Volk in Ex. 20,18 f.: „Diese Schriftstelle ist ein biblisches Beispiel für den Hobbes’schen Gesellschaftsvertrag, nach dem der Friede in einer Gesellschaft dadurch hergestellt wird, daß alle ihre Macht und Stärke auf einen Menschen übertragen.“77 Tatsächlich verwendet Hobbes selbst eben diese Stelle zur Einsetzung des Mose als Repräsentant in Vertretung Israels (EW III 191 und passim) und begründet so sein im „Leviathan“ entwickeltes Konzept autorisierter Repräsentation. Darüber hinaus allerdings sieht Hobbes für seinen Mose noch eine weitere Repräsentationsaufgabe vor. Während er sonst in Analogie zu den Individuen, die der Leviathan repräsentiert, vom Volk spricht, das durch Mose vertreten wird, schreibt Hobbes in c. 16: „The true God may be personated. As he was; first, by Moses“ (EW III 150; kein Kursivsatz im Original). Offensichtlich fungiert Hobbes’ Mose nicht nur als Repräsentant des Volkes vor JHWH, sondern auch umgekehrt als Vertreter der Gottheit gegenüber dem Volk. Diese Vermutung bestätigt der weitere Textzusammenhang: „[Mose] governed the Israelites . . . not in his own name, with hoc dicit Moses; but in God’s name, with hoc dicit Dominus“78 (ibid.; cf. auch EW III 707). Diese zusätzliche Repräsentationsaufgabe des Mose aber lässt sich nicht bruchlos parallelisieren mit den Funktionen des Souveräns der Hobbes’schen Konstruktion. Der Leviathan soll weder in seinem eigenen noch in Gottes Namen reden und handeln – sondern im Namen jedes Einzelnen, der dem sovereign-making covenant beitritt. Nichts anderes nämlich meint Hobbes, wenn er anlässlich der „generation“ des Leviathan von diesem sagt: „he . . . beareth their person“ (EW III 157 f.). Die theonome Struktur der Sinaiperikope, in der ein true God den Bundesschluss initiiert, zwingt Hobbes, mit seinem Mose auch den mortal god Leviathan mit einer zusätzlichen Repräsentationsaufgabe zu betrauen. Als Konzession an die zwischen sovereign-making covenant und berith hergestellte Analogie muss der Souverän, der als mortal god unter dem immortal God regiert, diesen repräsentieren. Damit übernimmt er allerdings auch dessen Pflichten. Der more geometrico konstruierte Leviathan dagegen entsteht erst zu dem Zweck, die im sovereign-making covenant übereinkommenden Individuen zu repräsentieren – und ist deshalb weder Partner noch 76 Ibid., S. 165. Cf. Albertz’ „religiöse Repräsentation“ als konstitutives Strukturmerkmal der Gottesbeziehung von „Großgruppen“ (Albertz, Religionsgeschichte Israels, S. 79; zur Sache s. oben). 77 Palaver, Politik und Religion, S. 172. 78 Hobbes verwendet eine lat. Fassung der sog. Botenspruchformel, mit der JHWHs Propheten im Alten Testament ihre Sprüche als göttlich geboten ausweisen.
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rechtlich gebunden. Die beiden Repräsentationsaufgaben spiegeln zwei Ansätze, die in diesem Punkt inkompatibel sind. Hobbes steht damit vor der Entscheidung, dem gewählten Analogon der berith auch hier zu entsprechen und die Funktion der Gottheit in seiner eigenen Konstruktion klar zu definieren und adäquat zu besetzen. Ein so konzipierter immortal God wäre als Partner des Bundes rechtlich gebunden und würde diese Verpflichtung auch seinem sterblichen Repräsentanten, dem Leviathan, übertragen. Die Alternative dazu lautet, ein System zu konstruieren, das ohne die Rolle eines true God funktioniert. Ein solches „deistisches“ System lässt sich allerdings nicht in logisch konsistenter Weise als Analogon der berith am Sinai beschreiben. Dass Hobbes keine Entscheidung zwischen den zwei Ansätzen trifft und stattdessen beide im „Leviathan“ je nach Bedarf verwendet, hat weitreichende Folgen für den Entwurf seines Gesellschaftsvertrages. Dessen Pointe ist die Feststellung, dass der Souverän als Produkt des sovereign-making covenant kein rechtlich gebundener Partner ist. Indem Hobbes seine abstrakte Konstruktion begründet mit Hilfe eines konkreten Analogons, das das Gegenteil aussagt, zieht er diese Pointe in Zweifel. VI. Fazit Die Kritik der Hobbes’schen Adaption einer literarischen Tradition führt zur Kritik der Hobbes’schen Konstruktion im Ganzen. Indem die gewählte Perspektive auf den sovereign-making covenant diesen Gegenstand von einer anderen Seite als üblich beleuchtet, wird die Diskussion umstrittener Fragen der Hobbes-Forschung um neue Aspekte erweitert. In diesem Sinne bündele ich abschließend die Bedeutung, die die im „Leviathan“ hergestellte Analogie mit der berith für Hobbes’ sovereign-making covenant hat, in Überlegungen zu zwei solchen Fragen, die bislang nicht hinreichend geklärt erscheinen; zwei Fragen, von denen ich im Sinne des gewählten Ansatzes eine lediglich stelle, während ich auf die zweite auch eine Antwort versuche. Durch die Parallelisierung seines sovereign-making covenant mit einer Konstruktion, in der ein true God eine schwerlich zu leugnende und schlechthin entscheidende Rolle spielt, setzt sich Hobbes der Frage aus, ob und wie diese Funktion in seiner staatstheoretischen Konstruktion more geometrico besetzt ist. A. E. Taylor formuliert mit seiner berühmten Taylor Thesis eine mögliche Antwort: „A certain kind of theism is absolutely necessary to make the theory work.“79 Mit der „moralischen Kompetenz“, 79
Taylor, The Ethical Doctrine, S. 50.
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einen covenant überhaupt zu schließen, bleibe die „Faktizität des Funktionierens . . . system-extern“, meinen auch Bermbach und Kodalle.80 Hobbes selbst lädt geradezu ein zu solchen Deutungen durch Aussagen, die in latenter Spannung zur Hauptlinie seiner Argumentation stehen. So räumt er in c. 14 ein, „that before the time of civil society . . . there is nothing can strengthen a covenant of peace agreed on . . . but the fear of that invisible power, which they every one worship as God“ (EW III 129).81 Indem ich argumentiere, dass Hobbes das Analogon der berith aus konstruktivem Interesse an dessen formaler Struktur wählt, plädiere ich jedenfalls nicht dafür, den sovereign-making covenant im „Leviathan“ aufgrund solcher theistic suggestions theologisch oder naturrechtlich – und damit, wie ich finde – gegen den Strich zu bürsten. Um diese für das Verständnis der Sache entscheidende Frage in der ihr angemessenen Weise zu diskutieren, bietet die hier vorgenommene Untersuchung auch nicht den geeigneten Ansatz. Diskussionsbedarf jedoch besteht.82 Zum zweiten: Gerne wird Hobbes als Begründer liberalen Individualismus’ für die Neuzeit in Anspruch genommen. Im Licht, das das alttestamentliche Analogon auf die Staatstheorie im „Leviathan“ wirft, stellt sich jedoch erneut die Frage, ob nicht vielmehr einer absoluten Staatsgewalt das Wort geredet wird. Hobbes’ wichtigste Absicht mit der Parallelisierung von berith und sovereign-making covenant scheint zu sein, den Leviathan so mächtig wie nur möglich zu konzipieren. Tatsächlich gelingt es ihm durch die Adaption der literarischen Tradition, das autoritäre Profil seines Souveräns zu schärfen und ungeteilte, absolute Herrschaft zu begründen. Probleme handelt er sich mit der Analogie dagegen besonders dort ein, wo sein moderner legitimationstheoretischer Ansatz beim Einzelnen und die Idee von einem allein auf dem Willen der Individuen errichteten Gemeinwesen zur Debatte stehen. In seiner eigenen Conclusio fasst Hobbes beide Seiten dieser Medaille in einen paradoxen Satz: Das Volk Israel ist dadurch ausgezeichnet, dass es sich seine Regierung selbst erwählt hat – und Mose herrscht über das Volk als Gottes Stellvertreter auf Erden (EW III 707). Man kann den Eindruck gewinnen, Hobbes nehme den Widerspruch zwischen einer selbstbestimmten Regierungsform und der Herrschaft eines Stellvertreters Gottes bewusst in Kauf, provoziere ihn gar. Martinich sieht im legitimationstheoretischen 80
Bermbach/Kodalle, Einleitung zu Furcht und Freiheit, S. 16. Weitere klassische Beispiele finden sich in c. 15, wo Hobbes von den laws of nature ausdrücklich sagt, dass sie obligatorisch binden; cf. EW III 130, 145 und passim. 82 Zur Einführung in die Debatte um Theologie und Naturrecht in Hobbes’ Werk s. Warrender, The Political Philosophy, Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 172 ff. und State, Thomas Hobbes. 81
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Ansatz beim Individuum und „political stability“ konkurrierende Ziele Hobbes’,83 und Münkler schließt aus der von ihm beobachteten Parallelisierung von Dekalog und „Untertanenpflichten“, Hobbes wolle „den durch den Vertrag eines Jeden mit Jedem bewirkten politischen Individualisierungsschub . . . in Grenzen halten“.84 Diese Deutung eines einzelnen Aspektes in der Hobbes’schen Relecture der Sinaiperikope leuchtet ein. Angesichts der spezifischen Nuancierung, die Hobbes seinem Gesellschaftsvertrag durch die Verwendung der Bundestheologie in ihrer Breite verleiht, stellt sich allerdings die Frage, ob man in diese Richtung nicht noch mindestens einen Schritt weiter gehen muss. Hobbes, der die Idee eines individuell legitimierten Gemeinwesens in die Diskussion bringt, setzt einen mortal god als Statthalter Gottes auf Erden an dessen Spitze. Mose regiert die Israeliten als Repräsentant JHWHs mit hoc dicit Dominus (EW III 150). Mit seiner Analogie kommt Hobbes dem Konzept einer Herrschaft von Gottes Gnaden bedrohlich nahe – näher vermutlich, als ihm selber lieb sein kann. Textausgaben Biblia Hebraica Stuttgartensia, ed. Schenker, Adrian, 5. Aufl., Stuttgart 1997. Biblia Sacra. Iuxta Vulgatam Versionem, ed. Weber, Robert, 3. Aufl., Stuttgart 1984. Hobbes, Thomas: Leviathan. Sive de Materia, Forma, et Potestate Civitatis Ecclesiasticae et Civilis, Malmesburiensis Opera Philosophica quae Latine scripsit Omnia. In unum Corpus Nunc Primum Collecta Studio et Labore Gulielmi Molesworth, Bd. 3, Aalen 1961 [Nachdruck der Ausgabe von 1839]. – Leviathan or, The Matter, Form, and Power of a Commonwealth, Ecclesiastical and Civil, The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury; now first collected and edited by Sir William Molesworth, Bart., Bd. 3, Aalen 1962 [Nachdruck der Ausgabe von 1839]. – Leviathan. Or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, edited with an Introduction by C. B. Macpherson, London 1968 [photomechanische Reproduktion der Originalausgabe von 1651]. Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, ed. Rahlfs, Alfred, Stuttgart 1935/1979.
83 84
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Der Wille des Volkes und das Problem der Repräsentation Von Marco Haase In einem demokratischen Staat scheint heute Repräsentation eine selbstverständliche Technik der politischen Willensbildung zu sein. Gleichwohl nimmt der Begriff der Repräsentation in den Diskussionen der politischen Theorie und der Staatsrechtslehre einen zentralen Platz ein.1 Denn politische Repräsentation ist problematisch. Wer untersucht, auf welche Weise die Repräsentanten des Volkes dessen Willen bilden, wird vor die Frage gestellt, in welchem Verhältnis das Wollen des Repräsentanten zum repräsentierten Willen steht. Ist das besondere Wollen des Repräsentanten stets nur unvollkommenes ‚Abbild‘2 des repräsentierten, allgemeinen Willens und verfälscht der Repräsentant deshalb den repräsentierten Willen? Oder täuscht gar das Wollen des Repräsentanten die unabhängige Existenz eines repräsentierten Willens nur vor? Dieses Problem der politischen Repräsentation wird in verwandter Form auch in der Erkenntnistheorie und in der Kunstphilosophie thematisiert. Bei den Vorstellungen eines Betrachters von der Welt, bei ‚mentalen Repräsentationen‘3, und bei den Darstellungen der Welt in einem Kunstwerk, bei ‚künstlerischen Repräsentationen‘4, ist ebenfalls fraglich, inwiefern das Repräsentierende das Repräsentierte widerspiegelt, inwiefern die Vorstellung des Betrachters das Betrachtete wiedergeben oder das Kunstwerk Darstellung einer Wirklichkeit außerhalb des Werkes sein kann. Denn die Vorstellung des Betrachters kann so wenig der Gesamtheit der äußeren Welt gerecht werden wie die Darstellung des Künstlers; stets kann das Repräsentierende nur einzelne Vorkommnisse und Aspekte aufnehmen und verarbeiten. Wie bei der politischen Repräsentation besteht deshalb der Verdacht, daß entweder das Repräsentierte eine bloße Fiktion, nicht jedoch Maßstab für die 1 Vgl. z. B. Hofmann (2003); Pitkin (1967); Böckenförder (1983); Grimm (1988); Birch (1993), 69 ff.; Dworkin (1998); Duso (2003). 2 Zur politischen Repräsentation als Urbild-Abbild-Verhältnis vgl. Hofmann (2003), 23 f.; Duso (2000). 3 Zum Begriff der mentalen Repräsentation vgl. Scheerer (2003). 4 Zum Problem der Repräsentation in der Kunst vgl. z. B. Werber (2003).
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Richtigkeit des Repräsentierenden sei oder aber daß sich das Repräsentierende zu Unrecht anmaßt, die Welt zu repräsentieren, wie sie an sich ist.5 Demgegenüber soll hier durch Vergleich des Vorgangs politischer Repräsentation mit der Struktur mentaler Vorstellungen, künstlerischer Darstellungen und lebendiger Organisationen deutlich werden, daß Repräsentation nicht verfälschendes Abbild eines vorgegebenen Urbildes bedeutet, sondern endliche Verwirklichung eines intelligiblen Ideals. Der Begriff der Repräsentation verweist damit auf eine der grundlegenden Fragen der Philosophie, auf die Frage, wie das Intelligible und das Sinnliche, die Idee und die Erscheinungen, das Sollen und das Sein, das Allgemeingültige und das Besondere, die Form und der Inhalt, die Einheit und die Vielheit zugleich unterschieden und vereint sein können. Mit dieser Einbettung des Problems der Repräsentation in die Grundfragen der Philosophie wird zugleich ein Zweifel an prozeduralen Demokratietheorien angemeldet, die substantielle Wertfragen, die Fragen nach dem richtigen Leben, ausklammern. Im Mittelpunkt steht freilich hier die Entfaltung der Implikationen, die im Begriff der Repräsentation enthalten sind, nicht so sehr die Frage, welche konkurrierenden Demokratiemodelle bestehen. Zunächst soll das Problem politischer Repräsentation dargestellt werden. Dabei wird sich zeigen, daß Repräsentation nicht nur ein Problem des Parlamentarismus ist, sondern alle Staatsgewalten betrifft, ja, jeder Verband zur Willensbildung der Repräsentation bedarf (Teil 1). Anschließend ist der Vorgang der politischen Repräsentation mit der mentalen Vorstellung eines Individuums (Teil 2), mit der künstlerischen Darstellung einer ästhetischen Idee (Teil 3) und mit dem Organismus eines Lebewesens (Teil 4) zu vergleichen. Jeder Vergleich soll dabei einen besonderen Aspekt des Problems beleuchten: der Vergleich mit mentalen Repräsentationen den intelligiblen Charakter des repräsentierten Willens, der Vergleich mit der künstlerischen Darstellung die Bedeutung der vernünftigen Konstruktion im Vorgang der Willensbildung und der Vergleich mit der Selbstorganisation eines Lebewesens die institutionelle Ausdifferenzierung der repräsentativen Willensbildung in der Gewaltengliederung. Da der Vergleich dazu dient, die Struktur politischer Repräsentation zu erhellen, kann hier darauf verzichtet werden, die Unterschiede zwischen diesen vier Phänomenen hervorzuheben. Anschließend soll der Ertrag dieses Vergleichs für den Begriff der politischen Repräsentation zusammengefaßt werden (5). Kants Philosophie soll bei dieser Untersuchung den wichtigsten Orientierungspunkt bilden, ohne daß versucht werden soll, eine hermeneutisch genaue Kant-Exegese zu liefern.6 5 Zur Problematik des Begriffs der Repräsentation als eines Abbildungsverhältnisses vgl. Sandkühler (2003).
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I. Das Problem Demokratie verlangt, daß alle Gewalt vom Volk ausgehe, daß Rechtssetzung und Machtausübung sich durch den allgemeinen Willen des Volkes legitimiere. Tatsächlich allerdings sind es einzelne Menschen, die bestimmen, was als Recht zu gelten habe, und die die Befolgung des Rechts durch Zwang sichern. Nicht das Volk scheint also zu herrschen, sondern die einzelnen Abgeordneten, die ein Gesetz beschließen, die Richter, die ein Urteil fällen, die Beamten, die eine Baugenehmigung erteilen, die Polizisten, die einen Menschen festnehmen. Nicht unabhängig vom besonderen Wollen bestimmter Menschen tritt der allgemeine Wille des Volkes als Herrschaftsmacht in Erscheinung; vielmehr scheint nur das Handeln und Entscheiden einzelner Repräsentanten wirklich zu sein. Die Repräsentanten aber sind besondere Menschen mit einer bestimmten sozialen, regionalen, kulturellen Herkunft, mit besonderen Erfahrungen, unterschiedlichem Wissen, individuellen familiären, freundschaftlichen, beruflichen Kontakten, mit eigentümlichen Interessen. Die Repräsentanten sind eingebunden in Parteien und Verbände, in Glaubens-, Weltanschauungs- und Interessengemeinschaften, die ihr Wissen und Wollen prägen. Verzerrt diese Partikularität der einzelnen Repräsentanten den allgemeinen Willen des Volkes? Führt also Repräsentation zur Entstellung des eigentlichen Volkswillens? Ja, ist Repräsentation nur ein Mittel, um an die Stelle des allgemeinen Willens das besondere Wollen einzelner Menschen, einzelner Klassen oder einzelner Gruppen zu setzen? Ist die Behauptung, die Repräsentanten repräsentierten den allgemeinen Willen, eine bloße Fiktion zur Herrschaftslegitimation? Verlangt umgekehrt ein demokratisches Verständnis der Repräsentation, daß der Repräsentant nur das will, was das Volk ihm aufträgt, daß der Repräsentant in seinem Wollen den Willen des Volkes abbildet? Kann also auf Repräsentation verzichtet werden, wenn ein unmittelbarer Zugang zum Willen des Volkes gefunden wird, sei es durch Volksabstimmungen, sei es durch Meinungsumfragen? Ist Repräsentation, wie Montesquieu erwägt7, nur ein Notbehelf in großen Flächenstaaten, in denen die unmittelbare Kommunikation aller Angehörigen eines Volkes in einer Versammlung unmöglich ist? Und erlauben daher die Kommunikationsmittel unserer Zeit, auf Repräsentation zu verzichten? Doch gibt es überhaupt einen ‚allgemeinen Willen‘ des Volkes, dem die Repräsentanten verpflichtet sein könnten? Politische Repräsentation soll in einer Demokratie dem Volk ermöglichen, einen Willen hervorzubringen, 6 Zum Zusammenhang von Kants politischer Philosophie und seiner Erkenntnistheorie sowie seiner Kunst- und Naturphilosophie vgl. Haase (2004), S. 71 ff. 7 Montesquieu (1748/1951), Buch XI, Kapitel 6, 399.
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um handlungsfähig zu werden. Repräsentation als Vorgang der Willensbildung heißt aber, daß ohne das Wollen der Repräsentanten der Wille des Volkes in einem gewissen Sinne nicht existiert. Ist deshalb die Willensbildung durch Repräsentation eine willkürliche Konstruktion, ist alles, was die Repräsentanten wollen, zugleich der Wille des Volkes? Ist bereits die Annahme, ein ‚allgemeiner Wille‘ existiere unabhängig vom Wollen der Repräsentanten, eine bloße Fiktion?8 Wenn der Wille des Volkes eine bloße Fiktion wäre, fragt sich, ob die repräsentative Willensbildung fehlerhaft sein kann. Denn damit die Bildung des Willens richtig oder falsch zu sein vermag, bedarf es einer Sollensvorgabe, die zu erfüllen oder zu verfehlen dem Repräsentanten möglich ist. Kann aber der Wille des Volkes, der sich ja erst durch das Wollen der Repräsentanten bildet, der also ohne Repräsentation in einem gewissen Sinne unwirklich ist, dennoch diese Vorgabe sein? Kann also der Wille des Volkes als Maßstab für das Wollen der Repräsentanten dienen, obwohl erst durch die Repräsentation der Wille des Volkes gebildet wird? Den allgemeinen Willen des Volkes zu repräsentieren heißt nämlich zugleich, das Ziel des allgemeinen Willens zu verwirklichen. Das Ziel des allgemeinen Willens aber ist das ‚Gemeinwohl‘.9 Der Repräsentant, der den allgemeinen Willen repräsentiert, hat nicht eigene oder fremde Partikularinteressen zu verfolgen, sondern ist dem Interesse des Ganzen verpflichtet.10 Allerdings ist zweifelhaft, ob es überhaupt ein ‚Gemeinwohl‘ gibt und ob nicht vielmehr allein die besonderen Bedürfnisse und Interessen der einzelnen Menschen existieren, ob das ‚Gemeinwohl‘ nicht ebenso wie der ‚Wille des Volkes‘ eine bloße Fiktion ist.11
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Vgl. Kelsen (1920), 10, 14; derselbe (1926), 8; derselbe (1928), 237 ff. Zum Begriff des Gemeinwohls vgl. Schultze (1995); Münkler/Bluhm (2001); Seubert (2004). 10 Die Theoretiker der Repräsentation haben deshalb stets die Bindung des Repräsentanten an das ‚commun good‘, das ‚commun interest‘ oder die ‚intérêts de la nation‘ hervorgehoben, vgl. Burke (1774/1975), 159 ff.; Madison (1787/88/1982), 50 ff.; Sieyes (1789/1994), 173. 11 Insbesondere der rational-choice-Ansatz geht in der Theorie kollektiver Entscheidungen davon aus, daß das Gemeinwohl allein aus den Präferenzen der Individuen abgeleitet werde dürfte, die individuellen Präferenzordnungen also zu einer kollektiven Präferenzordnung aggregiert werden müßten. Nach Arrows Unmöglichkeitstheorem ist es jedoch ausgeschlossen, einen Aggregationsmechanismus zu finden, der vernünftige Mindestbedingungen erfüllt und zugleich erlaubt, individuelle Präferenzordnungen in einer kollektiven Präferenzordnung abzubilden. Daraus folgt für die rational-choice-Theorie, daß es keine kollektive Präferenzordnung gebe, die Annahme des Gemeinwohls deshalb eine bloße Fiktion sein müsse. Vgl. dazu NidaRümelin (2000), 166 ff.; Laux (1999). 9
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Das Problem der Repräsentation darf dabei nicht auf den Parlamentarismus verengt werden; es ist vielmehr ein Problem, das die Willensbildung aller Gewalten eines Staates betrifft. Bei der Stellung des Abgeordneten eines Parlaments wird das Problem freilich besonders deutlich, so daß vielfach Repräsentation und Parlamentarismus gleichgesetzt werden.12 Der einzelne Abgeordnete hat nicht die Aufgabe, das Wollen seiner Wähler oder auch nur seines Wahlkreises auszuführen, er hat kein imperatives Mandat, ist nicht weisungsgebundener Vertreter einzelner Interessen, sondern ist Repräsentant des gesamten Volkes und dabei lediglich seinem Gewissen verantwortlich.13 Doch der Abgeordnete ist faktisch abhängig von den Wählern seines Wahlkreises, die nur einen kleinen Bruchteil der Angehörigen eines Volkes ausmachen, von der jeweiligen Partei, die ihm sein Mandat verschafft hat,14 von Verbänden und Gruppen, die ihre wirtschaftlichen, ideellen oder sozialen Interessen durch Beeinflussung der Abgeordneten durchsetzen wollen15. Dennoch soll der Abgeordnete den Willen des ganzen Volkes aussprechen, einen Wille, der erst durch ihn gebildet wird. Diese begriffliche und praktische Schwierigkeit ist ein Grund – neben anderen – für die Kritik am Parlamentarismus und die Bevorzugung von Formen der direkten Demokratie oder von Formen der Räte- oder Ständevertretung. Nicht allein der Parlamentarismus beruht freilich auf dem Prinzip der Repräsentation. Auch die übrigen Staatsorgane, die Regierungsmitglieder und Beamten sind Repräsentanten des Volkswillens; auch ein Staatspräsident, der vom Volk gewählt wird, ist – selbst gegen das Wollen großer Teile der Bevölkerung – der Repräsentant des ganzen Volkes, artikuliert dessen Willen und ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Ebenso sprechen die Richter ‚im Namen des Volkes‘ Recht und können Verfassungsgerichte gar ‚im Namen 12 So unterscheidet Leibholz beispielsweise zwischen dem plebiszitären und dem repräsentativ-parlamentarischen Demokratietypus, vgl. Leibholz (1951). Ebenso differenziert Fraenkel zwischen dem ‚repräsentativen‘ und dem ‚plebiszitären‘ Prinzip und rechnet jenem den Parlamentarismus, diesem hingegen das Präsidialsystem zu, vgl. Fraenkel (1964), 113 ff. 13 So heißt es beispielsweise in Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: „Sie [die Abgeordneten des Deutschen Bundestages] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ 14 Leibholz spricht deshalb der parteienstaatlichen Massendemokratie den repräsentativen Charakter ab und rechnet sie dem plebiszitären Typus zu, Leibholz (1951); derselbe (1966). 15 Zum Einfluß der wirtschaftlichen Verbände auf die staatliche Willensbildung vgl. z. B. Grimm (1991). Zur Funktion nicht-wirtschaftlicher Vereinigungen der ‚Zivilgesellschaft‘ im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Interessengruppen der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ vgl. Habermas (1992), 435 ff. Zum Begriff der ‚civil society‘ und zur Bedeutung vermittelnder Instanzen zwischen Individuum und Staat vgl. Taylor (1995).
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des Volkes‘ Gesetzesbeschlüsse eines Parlamentes oder Maßnahmen der Regierung für nichtig erklären. Wenn Richter ‚im Namen des Volkes‘ entscheiden, sind sie Repräsentanten des Volkes, die an der Bildung des allgemeinen Willens Anteil haben.16 Doch welchem Willen sind die Regierung, die Verwaltung oder die Gerichte verpflichtet, wenn sie doch selbst den Willen des Volkes erst bilden? Damit führt der Begriff der Repräsentation zum Problem der Gewaltenteilung. Denn wenn in allen Gewalten die Repräsentanten den allgemeinen Willen des Volkes repräsentieren, fragt sich, warum es überhaupt verschiedene Gewalten gibt und warum in bestimmten Fällen diese Repräsentanten, in anderen jedoch jene entscheiden sollen. Wieso soll es gerade durch die Verteilung verschiedener Repräsentanten auf unterschiedliche Gewalten möglich sein, vielfältige Partikularinteressen zu einem Ganzen zu integrieren? Ja, wie kann es überhaupt gelingen, daß eine Vielzahl von Repräsentanten in unterschiedlich strukturierten Institutionen einen einheitlichen Willen bildet? Denn ist der allgemeine Wille des Volkes wie das Gemeinwohl eine bloße Fiktion, wird zweifelhaft, was die Einheit eines Staates oder eines Volkes begründet. Gegeben sind allein die vielfältigen Gerichtsurteile, Parlamentsabstimmungen und Verwaltungsmaßnahmen verschiedener Repräsentanten. Was macht aber die Einheit der mannigfaltigen Entscheidungen aus, wenn es keinen allgemeinen, einheitlichen Willen gibt, dem sie entspringen? Wie können die mannigfaltigen Entscheidungen der verschiedenen Repräsentanten, die von heterogenen Partikularinteressen bestimmt werden, ein Ganzes ergeben, wenn es kein Gemeinwohl gibt, das festlegte, was das Ganze sein soll? Freilich hilft es nicht, angesichts dieses Problems der Repräsentation die unmittelbare Demokratie zu fordern, um durch Volksabstimmung ohne Umweg über Repräsentanten direkt den Willen des Volkes zu ermitteln. Auch die Volksabstimmung kann auf Repräsentation nicht verzichten. Die auf Rousseau zurückgehende Gegenüberstellung von repräsentativer und plebiszitärer, von mittelbarer und unmittelbarer Demokratie ist deshalb fragwürdig. Sollen nämlich in einer Volksabstimmung Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden, so wird vorausgesetzt, daß sich im Wollen der Mehrheit der Abstimmenden nicht allein das Wollen der Mehrheit, sondern zugleich der Wille des Volkes zeigt. Das Mehrheitsprinzip besagt mithin, daß das übereinstimmende Wollen des überwiegenden Teils den Willen des Ganzen repräsentiert, daß die Mehrheit der Abstimmenden selbst gegen das Wollen einer großen Minderheit den Willen des Volkes artikuliert.17 Auch diejenigen, die gegen den Beschluß gestimmt haben, sind 16 Zum Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung vgl. Steffani (1980); Habermas (1992), 292 ff.; Dworkin (1994).
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an ihn gebunden; denn die Mehrheit hat nicht allein ihr eigenes Wollen ausgesprochen, sondern den verbindlichen Willen des Volkes. Umgekehrt folgt aus diesem repräsentativen Charakter des Mehrheitsprinzips, daß die Mehrheit nicht allein die eigenen Interessen zu verwirklichen strebt, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet ist.18 Das Mehrheitsprinzip ist also nur eine Regel, die bestimmt, wer Repräsentant des Ganzen ist. Aber selbst wenn in einer Volksabstimmung ein Beschluß nur einstimmig gefaßt werden soll, kann Repräsentation nicht vermieden werden. Denn bei einer einstimmigen Beschlußfassung zählt nur das Wollen der Abstimmenden im Zeitpunkt der Abstimmung; das abweichende Wollen vor oder nach der Beschlußfassung hingegen ist irrelevant. Nur im Zeitpunkt der Abstimmung sind die Abstimmenden Repräsentanten des Volkes, nur in dem einstimmigen Beschluß artikulieren sie den allgemeinen Willen. Selbst bei Beachtung des Einstimmigkeitsprinzips erlaubt das plebiszitäre Prinzip der Volksabstimmung deshalb keinen unmittelbaren Zugang zum Willen des Volkes, sondern ist nur eine Möglichkeit neben anderen, zu bestimmen, wer Repräsentant des allgemeinen Willens ist. Das Problem der Repräsentation geht freilich nicht nur über den Parlamentarismus hinaus, sondern auch über die Willensbildung in einem Staat. Denn dem Problem der demokratischen Willensbildung ist das Problem der Willensbildung in einem Verband vorgelagert. Nicht allein die Bildung des allgemeinen Willens eines Volkes bedarf der Repräsentation, sondern auch die Bildung des Willens einer Kapitalgesellschaft, einer Universität oder einer Gemeinde. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft beispielsweise ist der Repräsentant des allgemeinen Interesses des Unternehmens und hat in dieser Funktion in eigener Verantwortung den Willen dieses Verbandes zu bilden. Sowenig der allgemeine Wille des Volkes eine bloße Widerspiegelung des Wollens der Angehörigen eines Volkes ist, so wenig ist das Interesse des Unternehmens ein bloßes Abbild der Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer, der Kunden, der Gläubiger, der Gemeinde oder des Staates; vielmehr ist das Unternehmensinteresse als überindividueller Maßstab dem Wollen des Vorstandes vorgegeben. So problematisch freilich der Begriff eines allgemeinen Volkswillens ist, so problematisch ist der Begriff 17
Vgl. Gierke (1915). Zur Gegenüberstellung von unmittelbarer und mittelbarer Demokratie gehört spätestens seit Carl Schmitt auch die Gegenüberstellung von Voluntarismus und Legalismus, Egalitarismus (‚Homogenität‘) und Liberalismus, von Identität und Repräsentation, vgl. Schmitt (1929/ 81989), 204 ff., derselbe (1923/ 81996); vgl. auch Mantl (1975), 121 ff. In dem Maße freilich, in dem der Wille des Volkes normativ verstanden wird, verschwindet der Gegensatz als prinzipieller Unterschied und wird zu einem Unterschied verschiedener Verfahren der Willensbildung. Zu den normativen Vorgaben der demokratischen Willensbildung vgl. z. B. Habermas (1994). 18
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eines allgemeinen, überindividuellen Verbandswillens, der durch den Repräsentanten artikuliert werden soll; wie der Begriff des Gemeinwohls so steht auch der Begriff eines überindividuellen Verbandsinteresses im Verdacht, eine bloße Fiktion zu sein. Andererseits ist das Problem der Repräsentation vom Begriff demokratischer Willensbildung auch deshalb unabhängig, weil es nicht auf die Willensbildung in dem Staat eines partikularen Volkes beschränkt ist. Auch eine Weltregierung in einem Staat der Menschheit bedürfte der Repräsentation. Wie der Wille eines Volkes könnte der Wille und das Wohl der Menschheit nur durch das Wollen einzelner Menschen, durch die Handlungen einzelner Repräsentanten Gestalt und Durchsetzungskraft gewinnen. Das Problem der Repräsentation betrifft deshalb gleichermaßen die Willensbildung in einer Demokratie wie in einer Aktiengesellschaft oder einem Weltstaat; es besteht unabhängig von der Frage, was das Soziale vom Politischen und ein Volk von der Menschheit unterscheidet, was das Interesse eines Unternehmens vom Gemeinwohl eines Volkes und das Gemeinwohl eines Volkes vom höchsten Gut der Menschheit trennt. Das Problem der Repräsentation, das sich bei der Willensbildung eines jeden menschlichen Verbandes zeigt, besteht also darin, daß Repräsentation einerseits voraussetzt, das Wollen des Repräsentanten entspringe dem Willen des Verbandes, andererseits aber verlangt, daß jenes Wollen diesen Verbandswillen erst hervorbringe. Damit aber nicht genug: Repräsentation bedeutet zugleich, daß dem Repräsentanten zum einen das Wohl des Verbandes als Maßstab vorgegeben ist, zum anderen aber sein Wollen erst bestimmt, was dieses überindividuelle Gut ist. Gerade in dieser Doppelung des Problems zeigt sich das Paradox der Repräsentation: Denn der vorgegebene Wille soll zugleich Ursprung und Ziel, Anfang und Ende, tatsächliche Quelle und normative Vorgabe sein. Dieses Paradox soll nun durch den Vergleich des Vorgangs politischer Repräsentation mit der Struktur mentaler Vorstellungen, künstlerischer Darstellungen und lebendiger Organisationen näher untersucht werden. II. Politische und mentale Repräsentation Kant übersetzt im Zusammenhang mit seiner Erkenntnistheorie den lateinischen Ausdruck ‚repraesentatio‘ mit dem Wort ‚Vorstellung‘19; umgekehrt spricht er von ‚Vorstellung‘, wenn wir gewohnt sind von Repräsentation im politischen Sinne zu sprechen: So nennt Kant den Monarchen, der den Souverän repräsentiert, die „physische Person . . ., welche die höchste Staats19
Kant KdrV, 249.
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gewalt vorstellt“20. Diese Austauschbarkeit der Ausdrücke ‚repräsentieren‘ und ‚vorstellen‘ für mentale und politische Vorgänge verweist auf eine Strukturverwandtschaft zwischen mentaler und politischer Repräsentation. In beiden Fällen setzt Repräsentation einen intelligiblen Zurechnungspunkt voraus, der zugleich als tatsächliche Kraft und normative Vorgabe verstanden wird. Dieser Zurechnungspunkt, der zugleich Wirkursache und Sollensvorgabe ist, ist bei der mentalen Repräsentation das ‚Ich denke‘, bei der politischen der ‚Wille des Volkes‘. Bei der mentalen Repräsentation sind die verschiedenen Momente des empirischen Ich, das sich in jedem Moment etwas Bestimmtes vorstellt, die Repräsentanten des intelligiblen Ich, während bei der politischen Repräsentation der empirische Mensch, der in seinem Wollen den allgemeinen Willen des Volkes zu einer bestimmten Handlung konkretisiert, Repräsentant des allgemeinen Willens ist.21 1. Die intelligible Einheit des ‚Ich denke‘ Wenn Kant schreibt: „Das ‚Ich denke‘ muß alle meine Vorstellungen begleiten können“22, so ist das denkende Ich der Zurechnungspunkt, der vorausgesetzt werden muß, wenn mannigfaltige Vorstellungen als eine Einheit, als Einheit eines denkenden Individuums gedacht werden sollen. Ohne diesen Einheitspunkt stünden die vielfältigen Vorstellungen zusammenhangslos nebeneinander. Erst die Zurechnung der unterschiedlichen Repräsentationen zu einem denkenden Ich begründet die Einheit dieser Vorstellungen als die Vorstellungen des einen Ich. Das Verhältnis zwischen dem denkenden Ich und den mannigfaltigen Vorstellungen ist aber von besonderer Art; denn das denkende Ich und die mannigfaltigen Vorstellungen stehen nicht auf derselben Ebene. Kants Metapher der ‚Begleitung‘ ist nicht wörtlich zu nehmen. Das ‚Ich denke‘ kann keine Vorstellung begleiten, wie ein Mensch einen anderen Menschen, wie die Erde die Sonne begleitet. Das ‚Ich denke‘ ist keine empirische Vorstellung, die neben anderen empirischen Vorstellungen steht oder sich bewegt; es ist ein überempirischer, intelligibler Zurechnungspunkt, ein ‚transzendentaler‘ Einheitspunkt. Nur weil der Zurechnungspunkt kein raum-zeitlicher Punkt ist, der neben anderen raum-zeitlichen Punkten stünde, sondern zu20
Kant MdS, 338. Mentale Repräsentation sind z. B. deskriptive Vorstellungen von der Welt. Freilich können auch Willensakte als mentale Repräsentationen verstanden werden, jedoch nicht als deskriptive, sondern als normative Vorstellungen. Das besondere Wollen des Repräsentanten, das den allgemeinen Willen des Volkes konkretisiert, ist dann eine normative mentale Repräsentation des allgemeinen Willens. Zum Begriff einer normativen mentalen Repräsentation vgl. Mohr (2003). 22 Kant KdrV, 108. 21
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gleich in allen mannigfaltigen, empirischen Vorstellungen wirksam ist, kann er als Zurechnungspunkt dienen. Das ‚Ich denke‘ ist aber nicht nur ein äußerer Zurechnungspunkt, sondern zugleich das Subjekt der Zurechnung, die Wirkkraft, die die mannigfaltigen Vorstellungen zu einer Einheit zusammenfaßt und auf diese Weise die mannigfaltigen Vorstellungen zu seiner Vorstellung macht. Nicht wir, die Betrachter, ordnen einem denkenden Ich mannigfaltige Vorstellungen zu, sondern das denkende Ich bezieht spontan, aus eigenem Antrieb, mannigfaltige Vorstellungen als die seinigen auf sich, indem es sie zu einem Ganzen, zu einem Gegenstand, zusammenfügt. Das ‚Ich denke‘ ist aber nicht nur Zurechnungspunkt und Wirkkraft, sondern zugleich Sollensvorgabe. Das ‚Ich denke‘, das der Einheitspunkt für die Einheit mannigfaltiger Vorstellungen ist, ist in gewissem Sinne unwirklich, nur potentiell. Das ‚Ich denke‘ ist nicht fertig da; an das denkende Ich können die mannigfaltigen Vorstellungen nicht wie an einen Haken angehängt werden; vielmehr bringt sich das ‚Ich denke‘ durch die Verknüpfung der mannigfaltigen Vorstellung zur Einheit eines Gegenstandes erst hervor. Das ‚Ich denke‘ ist, wenn man so will, eine Fiktion, aber keine Fiktion des Betrachters, sondern eine Fiktion des denkenden Ich. Erst durch die Konstruktion der Einheit des Gegenstandes, verwirklicht das Ich die eigene Einheit, die zugleich Voraussetzung für ihr Konstruieren ist. Erst indem das denkende Ich mannigfaltige Vorstellungen zu einer Einheit, zu einem Gegenstand, ordnet, bildet sich auch die Einheit des ‚Ich denke‘. Die Einheit des denkenden Ich ist deshalb nur die ‚regulative Idee‘ von einer ‚einfachen, selbständigen Intelligenz‘23. Hier zeigt sich die Paradoxie, die den intelligiblen Charakter des denkenden Ich auszeichnet. Das ‚Ich denke‘ kann nur Zurechnungspunkt sein, weil es keine bestimmte empirische Vorstellung ist, sondern als synthetisierende Kraft in allen Vorstellungen wirkt. Zugleich aber ist die Einheit des denkenden Ich nicht nur anfängliche Wirkursache, sondern zugleich abschließendes Ziel. 2. Die intelligible Einheit des ‚allgemeinen Willens‘ Diese paradoxe Einheit von Zurechnungspunkt, Wirkursache und Sollensvorgabe macht auch den ‚Willen des Volkes‘ aus. Der ‚Wille des Volkes‘ kann wie das ‚Ich denke‘ als Zurechnungspunkt verstanden werden. Betrachten wir die staatliche Wirklichkeit, so sehen wir mannigfaltige Handlungen einzelner Menschen, die Abstimmung des Abgeordneten, die Ur23
Kant KdrV, 450.
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teilsverkündung des Richters, die Verfügung des Beamten, die Maßnahme des Polizisten. Diese mannigfaltigen Handlungen rechnen wir jedoch nicht allein den einzelnen Menschen zu, sondern einem umfassenderen Gebilde, dem Staat. Die mannigfaltigen Entscheidungen und Handlungen können aber nur zu einer Einheit zusammengefaßt werden, indem sie auf einen Einheitspunkt bezogen werden. Dieser Zurechnungspunkt ist bei einem demokratischen Staat der ‚Wille des Volkes‘. Wie das ‚Ich denke‘ als Einheitspunkt vorausgesetzt werden muß, um mannigfaltige Vorstellungen als die Vorstellungen eines Ich begreifen zu können, muß der ‚Wille des Volkes‘ vorausgesetzt werden, um mannigfaltige Handlungen einer Einheit zurechnen zu können. Gleich dem ‚Ich denke‘ kommt auch dem ‚Willen des Volkes‘ ein intelligibler Charakter zu. Der ‚Wille des Volkes‘ steht nicht auf derselben Ebene wie die Willensäußerung des Abgeordneten, wenn dieser über eine Beschlußvorlage abstimmt, oder des Richters, der ein Urteil fällt. Er kann nur deshalb als Zurechnungspunkt für mannigfaltige Handlungen dienen, weil er mit keiner besonderen Willensäußerung identisch ist. Während die Willensäußerungen der Repräsentanten, deren Entscheidungen und Handlungen, in Raum und Zeit nebeneinanderstehen, ist der ‚Wille des Volkes‘ wie das ‚Ich denke‘ als Zurechnungspunkt überräumlich und überzeitlich, ein intelligibler Punkt. Kant nennt diesen ‚Willen des Volkes‘ die ‚reine Idee von einem Staatsoberhaupt‘24, Fraenkel spricht von dem ‚hypothetischen Volkswillen‘25. Dieser intelligible, allgemeine Wille kann niemals mit dem empirischen, besonderen Wollen eines einzelnen Menschen identisch sein; das tatsächliche Wollen eines Menschen vermag daher nicht Zurechnungspunkt für die mannigfaltigen Willenäußerungen eines Staates zu sein. Ebensowenig aber ist der intelligible Volkeswille identisch mit dem – sei es auch – einstimmigen Wollen der Teilnehmer einer Volksversammlung. Der intelligible Wille des Volkes ist – mit Rousseau gesprochen – die ‚volonté générale‘ und nicht die ‚volonté de tous‘. Die ‚volonté de tous‘, das Wollen aller, ist eine empirische Erscheinung, nicht aber die ‚volonté générale‘, der allgemeine Wille. Denn auch wenn alle lebenden Angehörigen eines Volkes sich zu einer Volksversammlung träfen, wären sie nur Repräsentanten des intelligiblen Volkswillens. Der ‚Wille des Volkes‘ ist aber wie das ‚Ich denke‘ nicht nur ein äußerer Zurechnungspunkt, den wir, die Betrachter, voraussetzen, um mannigfaltige Handlungen und Entscheidungen zu einer Einheit zusammenzufassen; vielmehr ist der Wille des Volkes nur deshalb Zurechnungspunkt, weil er die tatsächliche Ursache für die mannigfaltigen Entscheidungen und Handlun24 25
Kant MdS, 338. Fraenkel (1964), 113.
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gen der Repräsentanten ist, weil die mannigfaltigen Willensäußerungen tatsächlich Äußerungen des intelligiblen Willens des Volkes sind, weil die ‚reine Idee von einem Staatsoberhaupt‘, wie Kant sagt, ‚praktische Realität‘ und ‚Wirksamkeit‘ hat26. Die Idee eines allgemeinen Willens hat aber Wirksamkeit durch die ‚physische Person‘, die diesen Willen repräsentiert. Der Wille des Volkes ist Ursache der mannigfaltigen Entscheidungen und Handlungen der Repräsentanten, indem er im Wollen der Repräsentanten wirkt. Repräsentanten handeln und entscheiden nicht als einzelne Menschen, sondern als Repräsentanten, sie wollen nicht nur ihr eigenes Wollen verwirklichen, sondern zugleich den Willen des Volkes. Das partikulare Wollen der Repräsentanten will selbst allgemeiner Wille des Volkes sein. Die Zurechnung der mannigfaltigen Entscheidungen und Handlungen zur Einheit des Staates erfolgt deshalb nicht allein durch einen äußeren Betrachter. Die Repräsentanten selbst rechnen ihr Handeln – mehr oder minder bewußt – dem Willen des Volkes zu. Jeder repräsentative Akt setzt voraus, daß sich der Repräsentant für zuständig erachtet, daß er sein eigenes Entscheiden und Handeln als Äußerung des allgemeinen Willens verstehen will. Wie das denkende Ich sich selbst mannigfaltige Vorstellungen zurechnet, so bezieht der allgemeine Wille des Volkes im besonderen Wollen der Repräsentanten deren mannigfaltige Entscheidungen auf sich selbst. Schließlich ist der ‚Wille des Volkes‘ wie das ‚Ich denke‘ nicht nur Wirkkraft, sondern auch regulative Idee. Für die Repräsentanten mit ihrem besonderen Wissen und partikularen Interessen ist die Verwirklichung des allgemeinen Willens Sollensvorgabe. Während die ‚volonté de tous‘ nur die empirisch-faktische Summe des partikularen Wollens ist, ist die ‚volonté générale‘ ein normativer Wille, der den Maßstab gerade für das besondere Wollen darstellt. Der Volkswille als ‚volonté générale‘, als allgemeiner Wille, will nicht die Partikularinteressen, sondern das Allgemeininteresse, das ‚Gemeinwohl‘, das ‚bien commun‘27, die ‚salus reipublicae‘28. Die ‚volonté générale‘ ergibt sich nicht aus den zufälligen Interessen der Menschen, aus deren Willkür, sondern ist, wie Kant sagt, ein ‚a priori aus der Vernunft abstammender Wille‘29. Der allgemeine Wille des Volkes ist nichts anderes als praktische Vernunft. Die Repräsentanten sollen vernünftig handeln, indem sie ihr besonderes Wollen zur ‚volonté générale‘ wandeln und das Allgemeininteresse zu ihrem Partikularinteresse machen. Die Repräsentanten, die den Willen des Volkes bilden, haben deshalb den intelligiblen Willen des Volkes, den vernünftigen Volkswillen als Maßstab für ihre 26
Kant MdS, 338. Zu Kants Theorie der politischen Repräsentation vgl. Haller (1987), 150 ff.; Dreier (1988); Gerhardt (1995), 89 f.; Thiele (2003). 27 Rousseau (1762/1964), Contract social II. Buch, 1. Kapitel. 28 Kant MdS, 318. 29 Kant MdS, 338.
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Entscheidungen. Nicht alles Handeln und Entscheiden der Repräsentanten ist Ausdruck des Willens des Volkes, vielmehr ist die Verwirklichung dieses allgemeinen Willens gerade Aufgabe, die auch verfehlt werden kann. III. Politische und künstlerische Repräsentation Das Verhältnis zwischen dem Willen des Volkes und den Entscheidungen der Repräsentanten kann durch einen Vergleich mit der Struktur künstlerischer Darstellungen verdeutlich werden. Insbesondere kann die Analyse der künstlerischen Gestaltung erhellen, was Willensbildung im Vorgang der Repräsentation bedeutet. Denn wie die Gestaltung eines Kunstwerks ist die Willensbildung ein Akt der Konstruktion. Die künstlerische Konstruktion ist aber mit Kant als ein exemplarischer Fall vernünftiger Gestaltung zu verstehen, einer Konkretisierung, in der Allgemeingültiges und Partikulares zu einem Ganzen verschmelzen. Das Werk der schönen Kunst ist nach Kant ‚Ausdruck‘ einer ‚ästhetischen Idee‘.30 ‚Ausdruck‘ ist aber bei Kant als Synonym zu ‚Repräsentation‘ zu verstehen. So verwendet bereits Leibniz die Wörter ‚expression‘ (‚Ausdruck‘) und ‚représentation‘ gleichbedeutend.31 Kant benutzt statt des Wortes ‚Ausdruck‘ auch die Wörter ‚Darstellung‘32 und ‚Vorstellung‘33, also die deutsche Übersetzung für das lateinische ‚repraesentatio‘. Auch hier mag der Wortgebrauch auf eine Strukturverwandtschaft zwischen künstlerischen und politischen Phänomenen verweisen. 1. Die Konkretisierung der ‚ästhetischen Idee‘ Wenn ein Handwerker ein beliebiges Artefakt, zum Beispiel eine Handmühle, herstellt, verwirklicht er einen bestimmten Zweck, einen Bauplan oder Entwurf. Dieser Zweck begründet die Einheit und die Ordnung des Gegenstandes. Nach Kant versucht auch der Künstler, einen Zweck zu verwirklichen. Er will anderen Menschen eine ‚ästhetische Idee‘ mitteilen, indem er diese in einem Kunstwerk ‚ausdrückt‘ und dem Betrachter ‚vorstellt‘. So, wie der Handwerker seinen Entwurf in der Handmühle verwirklicht, stellt der Künstler im Kunstwerk seine ästhetische Idee dar, um sie dem Betrachter zu zeigen. 30 Kant KdU, 320. Zum Begriff ‚Ausdruck‘ vgl. Gumbrecht (2000); Taylor (1989), 368 ff. 31 Vgl. z. B. Leibniz (1714/1985), 62. 32 Zu den Begriffen ‚Darstellung‘, ‚Repräsentation‘, ‚Mimesis‘ und ‚Hypotypose‘ vgl. Hafner (1974); Gasché (1994); Schlenstedt (2000). 33 Kant KdU, 311, 312.
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Der Entwurf für eine Handmühle ist nur ein unwirkliches Gedankengebilde im Kopf des Handwerkers; ebenso ist die ästhetische Idee lediglich ein freies Spiel der Vorstellungen in der Phantasie des Künstlers, ein ‚übersinnliches Substrat‘, ein intelligibler Einheitspunkt. Erst durch die Darstellung im Kunstwerk, durch die Repräsentation, gewinnt die ästhetische Idee eine raum-zeitliche Gestalt, gewinnt das übersinnliche Substrat eine sinnlich-wahrnehmbare Kontur. Die Verwirklichung, die Äußerung der ästhetischen Idee im raum-zeitlichen Kunstwerk fixiert die ästhetische Idee zu einem bestimmten Gebilde. Das Verhältnis von ästhetischer Idee und raumzeitlicher Gestalt ist aber für Kant kein bloßes Urbild-Abbild-Verhältnis wie bei Platon. Nach Platon stellt das Kunstwerk die Idee als das Urbild in raumzeitlicher, endlicher Gestalt dar.34 Je ähnlicher das Kunstwerk dem Urbild ist, desto besser ist es. Doch da das sinnliche Kunstwerk dieser Aufgabe niemals gerecht werden kann, also in der raumzeitlichen Darstellung die Idee verzerrt und entstellt wird, ist das Kunstwerk, das Abbild, für Platon stets mangelhaft.35 Kants Kunsttheorie hingegen versucht, sich von diesem mimetischen Verhältnis zwischen ästhetischer Idee und raumzeitlichem Kunstwerk zu lösen, wiewohl auch bei Kant das platonische Verständnis durchaus noch wirksam ist.36 Die Ablösung Kants von einem mimetischen Kunstverständnis läßt sich am besten am Begriffspaar ‚Nachfolge‘ und ‚Nachahmung‘ verdeutlichen. Kant verwendet diese Begriffe zum einen, um in der querelle des anciens et des modernes37 über die Frage, ob die Antike Vorbild für die Moderne sei, eine vermittelnde Lösung zu finden, zum anderen, um das Verhältnis der Kunst zur Natur zu bestimmen. Beide Fragen sind miteinander verbunden; denn da nach Platon und Aristoteles das Prinzip der Kunst die ‚Nachahmung der Natur‘38 ist, ist jeder Streit über die Nachahmung der antiken Kunst zugleich ein Streit darüber, ob die Kunst die Natur nachzuahmen habe. Nach Kant nun haben die Kunstwerke der Antike zwar für die Moderne exemplarischen Charakter, sollen aber nicht nachgeahmt werden. Nur wer in der ‚Nachfolge‘ steht, vermag es, Kunstwerke hervorzubringen. Ebenso ist im Verhältnis zur Natur die bloße ‚Nachahmung‘ unzulässig: Die 34 Genauer gesagt, ist für Platon das Kunstwerk nur ein Abbild des raum-zeitlichen Gegenstandes, der selbst ein Abbild der Idee ist, vgl. Platon: Politeia X, 596 a ff. 35 Allerdings ist der platonische Mimesis-Begriff nicht allein auf Abbildung zu reduzieren. Zur Vielschichtigkeit des Mimesis-Begriffes vgl. Koller (1954); Kardaun (1993). 36 Vgl. Kant KdU, 322. 37 Zu der „querelle des anciens et des modernes“ vgl. Gebauer/Wulf (1992), 147 ff. 38 Zum Begriff „Nachahmung der Natur“ vgl. Blumenberg (1957).
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getreue Imitation der Natur genügt nicht, ein Werk der schönen Kunst zu schaffen; vielmehr muß sich auch hier der Künstler in die ‚Nachfolge‘ der Natur stellen.39 Was unterscheidet aber ‚Nachfolge‘ von ‚Nachahmung‘? Nachfolge heißt, daß der Künstler nicht äußerlich die Werke der Vergangenheit kopieren darf, sondern daß er die ‚ästhetische Idee‘ des exemplarischen Kunstwerkes übernimmt und mit seinen eigenen Mitteln und Formen ausdrückt; daß er nicht die äußere Gestalt der Natur, die natura naturata, abbildet, sondern sich die Schöpfungskraft der Natur, die natura naturans, zum Vorbild für die eigene künstlerische Originalität nimmt. Nachfolge verlangt, die Werke der Alten nicht äußerlich zu kopieren, sondern das Prinzip der antiken Kunst aufzunehmen. Das Prinzip der antiken Kunst, die ‚Nachahmung der Natur‘, darf wiederum nicht so verstanden werden, daß der Künstler äußere Gestalten der Natur imitieren müßte, sondern so, daß er die ‚bildende Kraft‘40 der Natur, die in diesen Gestalten wirkt, darstellen soll. Nachfolge bedeutet mithin, daß der Künstler nicht ein exemplarisches Kunstwerk als Urbild detailgetreu abzubilden sucht, sondern daß er den Gehalt des Urbildes, die ästhetische Idee, das übersinnliche Substrat, aufnimmt und mit seinen eigenen Mitteln, für seine eigene Zeit, für seine eigene Welt neu gestaltet. Die Güte eines Kunstwerkes zeigt sich nicht in der Ähnlichkeit mit der äußeren Gestalt eines Vorbildes, sondern darin, daß es dieselbe Idee in einer neuen Situation angemessen darstellt. Die ästhetische Idee, die noch nicht in Raum und Zeit gestaltet ist, die lediglich als intelligibler Einheitspunkt dem sinnlichen Kunstwerk zugrunde liegt, ist dann allerdings in gewissem Sinne unvollständig. Erst durch die Gestaltung in Raum und Zeit, die die ästhetische Idee in eine bestimmte individuelle und gesellschaftliche Welt einpaßt und dadurch zu einer endlichen Gestalt bildet, gewinnt die Idee an Ausdruckskraft. Die Gestaltung in Raum und Zeit, die die ästhetische Idee verendlicht, ist deshalb kein Mangel, sondern im Gegenteil eine Steigerung, Vervollständigung der ästhetischen Idee. Die Bildung der ästhetischen Idee zu einer raumzeitlichen Gestalt, ist keine bloße Abbildung, sondern ein konstruktiver Akt der Verwirklichung, ein Akt, der gerade in der Verendlichung der Forderung der ästhetischen Idee gerecht wird. Was aber ist der Inhalt der ‚ästhetischen Idee‘, die der Künstler im Kunstwerk darzustellen hat? Das exemplarische Gebilde, in dessen Nachfolge der Künstler steht, ist nach Kant das ‚Ideal der Schönheit‘. Dieses 39
Zur Geschichte des Begriffs der künstlerischen Nachahmung, insbesondere der Naturnachahmung, und der Krise des Begriffs im 18. Jahrhundert vgl. Petersen (2000). 40 Kant KdU, 374.
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Ideal ist aber der „sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen“41. Die ästhetische Idee, die der Künstler ausdrücken will, ist daher nach Kant eine „Verbindung“ zwischen der sinnlichen Welt der Erfahrung und dem „Sittlich-Guten in der Idee der höchsten Zweckmäßigkeit“42. Diese ‚Idee der höchsten Zweckmäßigkeit‘ ist nun nichts anderes als das ‚Reich der Zwecke‘. Der ästhetischen Idee, dem übersinnlichen Substrat des raum-zeitlichen Kunstwerkes, liegt deshalb wiederum ein übersinnliches Substrat als intelligibler Einheitspunkt und normative Vorgabe zugrunde, die Idee einer zweckmäßigen, vernünftigen Ordnung. Das Kunstwerk hat deshalb dieses ‚Reich der Zwecke‘ auszudrücken, indem es darstellt, wie der sittliche, der freie Mensch in der Welt wirkt. Der Inhalt der ästhetischen Idee ist insofern die Einheit von aŁsqhsiò und ùdÍa, von der sinnlichen Partikularität und der allgemeingültigen Bestimmung des Menschen zur Freiheit, von den besonderen, zufälligen sinnlichen Bedürfnissen und dem universalen, denknotwendigen Interesse der Vernunft, von sinnlicher und intelligibler Welt. Diesen wandelbar-unwandelbaren Gehalt hat der Künstler dem Betrachter im Kunstwerk zu zeigen. Kants Kunsttheorie darf deshalb nicht als Formalästhetik gedeutet werden, der zufolge sich die ästhetische Qualität in der Form des Kunstwerkes erschöpfte, sondern muß als Inhaltsästhetik verstanden werden, die vom Kunstwerk die Darstellung sittlicher Ideen verlangt. Ausdruck dieser harmonischen Verschränkung von Idealität und Realität ist freilich die schöne äußere Form des Kunstwerkes, das freie Spiel von Regel und sinnlicher Mannigfaltigkeit.43 Der Künstler wird dieser Aufgabe der Kunst nicht gerecht, wenn er die ‚Idee der höchsten Zweckmäßigkeit‘ in ihrer Reinheit darzustellen sucht, wenn er – Platon folgend – die Vernunftideen von aller Sinnlichkeit reinigte, sondern wenn er die Idee eines ‚Reiches der Zwecke‘ in sinnlicher, das heißt eigentümlicher und endlicher Gestalt darstellt. Der Künstler versinnlicht die ‚Idee der höchsten Zweckmäßigkeit‘, er entwickelt die Vernunftidee zur ästhetischen Idee, indem er die allgemeingültige Vernunftidee der Freiheit mit seiner eigenen Besonderheit, mit seinen persönlichen Interessen und Erfahrungen, mit seiner besonderen Gemütsverfassung, verbindet. Die ästhetische Idee zeigt dann, was die ‚Idee der höchsten Zweckmäßigkeit‘ für den Künstler bedeutet, wie sich die allgemeingültige Vernunftidee in seinen besonderen Interessen und Strebungen ausdrückt. Die Konkretisierung der Vernunftidee zur ästhetischen Idee verlangt darüber hinaus, daß die ästhetische Idee der Besonderheit der historisch-gesell41
Kant KdU, 235. Kant KdU, 235. 43 Zur Spannung zwischen ‚Formalismus‘ und ‚Expressionismus‘ in Kants Ästhetik vgl. Guyer (1977); Allison (2001), 288 ff. 42
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schaftlichen Situation, in der der Künstler lebt, gerecht wird. Die ästhetische Idee muß zeigen, wie unter den besonderen Umständen der Zeit und der Gesellschaft die Idee des ‚Reiches der Zwecke‘ vorgestellt werden kann, was die Vernunftidee der Freiheit für die Zeitgenossen des Künstlers, denen er diese Idee zeigen will, bedeutet. Die ästhetische Idee entdeckt im Stoff der geschichtlich-sozialen-politischen Welt, in den Ereignissen, Verstrickungen, Konflikten und Wirrnissen, die Vernunftidee der Freiheit. Freilich beschreibt der Künstler in der ästhetischen Idee nicht lediglich die Welt, die ihn umgibt; vielmehr muß er aus dem Geschehen auswählen und den gegebenen Stoff umbilden, um die Wirklichkeit der Vernunftidee aufzeigen zu können. Schließlich macht der Künstler die Vernunftidee zur ästhetischen Idee, indem er seine Idee dem Material, dem Holz, dem Marmor, den Farben, den Tönen, der Sprache, nicht aufdrängt, sondern indem er die Idee im Material selbst sucht. Während der Handwerker seinen Zweck dem Material aufzwingt, bildet der Künstler erst in Auseinandersetzung mit dem Material die ästhetische Idee. Der Künstler sucht im Marmor selbst die ästhetische Idee, die er im Kunstwerk darstellen will. Er will im Material nur die Idee freilegen, die dort bereits angelegt ist. Deshalb aber scheint das Kunstwerk zugleich Natur zu sein44, deshalb scheint die Originalität des Künstlers der Originalität der Natur nachzufolgen. Diese dreifache Verschränkung des Allgemeinen mit dem Besonderen, die Verbindung der Vernunftidee der Freiheit mit der eigentümlichen Gemütsverfassung des Künstlers, mit der Besonderheit seiner politisch-sozialen-kulturellen Situation und mit der Partikularität des Materials, erlaubt den Ausdruck des Reiches der Zwecke im endlichen Kunstwerk. Auf diese Weise verlangt die Bildung eines Werkes der schönen Kunst die harmonische Verbindung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen der unwandelbaren Idee der höchsten Zweckmäßigkeit und der zufälligen, sinnlichen, partikularen, einmaligen Mannigfaltigkeit. Der Bildungsakt des Künstlers ist deshalb nicht nur ein Beispiel, wie sich in der endlichen Darstellung der intelligible Gehalt eines Kunstwerks verwirklicht, sondern zugleich Paradigma, wie sich in einem vernünftigen Gebilde Allgemeininteresse und Partikularinteresse verschränken. Diese Verschränkung von Allgemeinem und Besonderem im Werk der schönen Kunst zeigt aber ebenfalls die paradoxale Struktur im Vorgang der Repräsentation. Das Allgemeine kann sich nur selbst verwirklichen, indem es zu etwas Besonderem wird und dadurch seine Allgemeinheit aufhebt. Umgekehrt ist das besondere Kunstwerk Ausdruck des Allgemeinen, ohne je das Allgemeine in Gänze darstellen zu können. 44
Kant KdU, 306.
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2. Die Konkretisierung des ‚allgemeinen Willens‘ Wie das Kunstwerk eine ‚ästhetische Idee‘ verwirklicht, so verwirklichen auch die Willensäußerungen des Repräsentanten im Vorgang der politischen Repräsentation ein ‚übersinnliches Substrat‘, den ‚Willen des Volkes‘. Repräsentation ist also kein bloßer mimetischer Abbildungsvorgang, sondern ein konstruktiver Bildungsvorgang. Die Repräsentanten sind nicht das Sprachrohr eines fertigen Willens, nicht die Boten, die den artikulierten Willen des Volkes nur übermittelten, nicht die weisungsabhängigen Vertreter partikularer Interessengruppen; vielmehr bilden die Repräsentanten den ‚Willen des Volkes‘, indem sie bei der Entscheidung einer Frage in ihrem eigenen Denken den allgemeinen, vernünftigen Willen auf die besonderen Umstände, auf die Besonderheit des Falles ausbilden. Die Repräsentanten haben also nicht den vermeintlich fertigen und artikulierten Willen des Volkes nachzuahmen, sondern stehen in der Nachfolge anderer endlicher Entscheidungen, indem sie jede Entscheidung als Ausdruck des allgemeinen Willens verstehen. Jede Nachahmung scheidet aus, gerade weil der Wille des Volkes nur ein intelligibles Gedankengebilde, ein übersinnliches Substrat ist, das erst Wirklichkeit gewinnt, indem es sich in Auseinandersetzung mit einer bestimmten Frage in einer besonderen Entscheidungssituation konkretisiert. Erst wenn der Abgeordnete vor der Entscheidung steht, ob er dem vorgelegten Gesetzesvorschlag zustimmt, erst wenn der Richter beurteilen muß, ob er diesen Menschen wegen einer bestimmten Tat verurteilt, erst wenn der Polizist vor der Frage steht, welche Maßnahmen er in einer vorliegenden Gefahrensituation treffen soll, kann sich der intelligible Wille des Volkes zu einer bestimmten Willensäußerung verendlichen. Diese Willensäußerung ist aber kein Abbild des intelligiblen Willens, sondern dessen Verwirklichung. Ebenso, wie die ästhetische Idee als normative Vorgabe zugleich der Maßstab für die Bildung des Kunstwerkes ist, ist auch der Wille des Volkes die Norm, der der Repräsentant zu folgen hat. Was aber ist der Inhalt des Volkswillens, der dem Repräsentanten als Maßstab für sein eigenes Wollen vorausliegt? Wie der Inhalt der ästhetischen Idee für Kant Darstellung der ‚Idee der höchsten Zweckmäßigkeit‘ ist, ist letzter oder höchster Inhalt des allgemeinen Willens die Freiheit des Menschen, seine intelligible Vernunftnatur. Wie die Originalität des Künstlers sich nicht im Ausdruck der eigenen Partikularität erschöpft, sondern die Versinnlichung sittlicher Ideen verlangt, zeigt sich die Freiheit des Menschen nicht im beliebigen Wollen, sondern in der Pflicht, die vernünftige Freiheit des Menschen zu verwirklichen.45 Ist 45 Zum Unterschied zwischen negativer und positiver Freiheit vgl. Berlin (1958/1969); Taylor (1985).
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dem Kunstwerk das Ideal der Schönheit als Maßstab vorgegeben, so kommt dem Wollen des Menschen ein vernünftiges Ziel zu, die Vernunft, die eigene Selbständigkeit und Selbstverantwortung. Sowenig Kants Kunsttheorie als bloße Formalästhetik gelesen werden darf, so wenig ist Kants politische Philosophie als eine lediglich prozedurale Theorie des Rechts zu verstehen.46 Denn der freie Wille bestimmt sich nicht allein durch seine Verallgemeinerbarkeit, durch seine Form, sondern zugleich durch seinen Inhalt, die Freiheit der Vernunft. Also zielt der allgemeine Wille des Volkes, der ‚a priori aus der Vernunft abstammende Wille‘ darauf, die Vernunftnatur des Menschen zu verwirklichen. Die Vernunftnatur des Menschen ist freilich nach Kant nicht losgelöst von anderen Menschen zu erlangen, sondern ist allein in der Gesellschaft mit anderen möglich; sie verlangt deshalb eine freiheitliche Gesellschaftsordnung. Maßstab für diese freiheitliche Ordnung ist die ‚respublica noumenon‘47, das ‚Reich der Zwecke‘. Dieses Reich der Zwecke bestimmt Kant als eine „systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“48. Nicht jede gesetzmäßige Ordnung bildet jedoch einen derartigen Idealstaat, sondern allein eine Ordnung, in der vernünftige Gesetze sicherstellen, daß jedes Glied zugleich Mittel und Zweck ist. Nun ist ein Mensch nach Kant in einer gesellschaftlichen Ordnung zugleich Mittel und Zweck, wenn ihm eine ‚Stelle und Funktion‘49 in dieser Ordnung zukommt und er als vernünftiges Wesen an der Verwirklichung dieser vernünftigen Welt mitwirken kann. Dem Repräsentanten obliegt es deshalb, mit jeder Entscheidung diese freiheitliche Ordnung als das Gemeinwohl, als die ‚salus reipublicae‘ zu befördern. Wie der Künstler durch die endliche Gestalt eines Kunstwerkes dem Betrachter die ‚Idee der höchsten Zweckmäßigkeit‘ zeigt, hat der Repräsentant mit jeder Entscheidung das ‚Reich der Zwecke‘ als gesellschaftliche Ordnung zu verwirklichen. Während der Künstler, um ein Werk der schönen Kunst zu schaffen, die abstrakte ästhetische Idee in die Besonderheit seiner Welt einpassen und zu einer besonderen Gestalt konkretisieren muß, kommt dem Repräsentanten die Aufgabe zu, den abstrakten Begriff des allgemeinen Willens, der die Verwirklichung der Vernunftnatur des Menschen zu seinem Gegenstand hat, in den eigentümlichen Umständen, der besonderen Entscheidungssituation zu verwirklichen. Jede Entscheidung eines Abgeordneten, jedes Urteils eines Richters, jede Verfügung eines Beamten, jede Maßnahme eines Polizisten ist dann nichts anderes als die 46 47 48 49
So z. B. Kersting (1994), 180 ff. Kant SdF, 91. Kant GzMdS, 433. Kant KdU, 375 Fn.
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Konkretisierung dieses allgemeinen, vernünftigen Willens in einer besonderen Situation. Die Bildung des staatlichen Willens verlangt also die vernünftige Entscheidung des Repräsentanten. Aufgabe und Vorgang dieser vernünftigen Entscheidungsfindung ist jedoch weder als rationale Wahl im Sinne der Entscheidungstheorie50 noch als dezisionistischer Akt zu verstehen. Nach der Entscheidungstheorie steht der Handelnde vor der Frage, welche Mittel er angesichts knapper Ressourcen ergreifen muß, um seine Zwecke zu erreichen und seinen Nutzen zu optimieren. Die Entscheidungstheorie geht davon aus, daß der Handelnde bereits bestimmte Präferenzen über den Zustand der Welt hat. Auf der Grundlage dieser vorgegebenen Präferenzordnung sucht der Handelnde zweckrationale Entscheidungen zu treffen; die Präferenzordnung jedoch entzieht sich der rationalen Begründung. Die vernünftige Willensbildung im Rahmen politischer Repräsentation verlangt hingegen, daß der Repräsentant seine Präferenzen vernünftig begründet. Grundfrage ist demnach, welchen Zweck menschliches Handeln verfolgen soll, welche Präferenzen vernünftiger sind, welche Ziele die vernünftige Freiheit des Menschen mehr befördern. Eine Theorie vernünftiger Willensbildung versucht nicht wie die Entscheidungstheorie, die Mittel aufzuzeigen, die ergriffen werden müssen, um einen vorgegebenen Zweck zu verwirklichen; vielmehr geht sie davon aus, daß eine vernünftige Entscheidung davon abhängt, was in der konkreten Situation Freiheit bedeutet. Der Akt der Entscheidungsfindung verlangt eine Interpretation des Freiheitsbegriffes angesichts der Besonderheit der Umstände der Situation. Wie der Künstler bei der Versinnlichung der ‚Idee der höchsten Zweckmäßigkeit‘ die Idee angesichts der Besonderheit des mannigfaltigen Stoffes konkretisieren muß, muß der Repräsentant Freiheit, das Ziel vernünftigen Handeln, aus der besonderen Entscheidungssituation deuten und auf diese Weise die Handlungsmöglichkeiten bewerten. Die vernünftige Entscheidung, die auf diesem Wege Freiheit konkretisiert und verwirklicht, ist selbst bereits Verwirklichung des höchsten Zweckes in konkreter Gestalt. Sie ist nicht nur, wie die Entscheidungstheorie meint, die Wahl eines Mittels für einen durch die Präferenzen vorgegebenen Zweck, sondern zugleich die Verwirklichung des freien, vernünftigen Willens. Der Richter beispielsweise, der entscheiden soll, ob der Kläger von einem Beklagten aus einem Vertrag die Zahlung einer Geldsumme verlangen kann, steht vor der Frage, ob unter den besonderen Umständen des Falles die vertragliche Bindung Ausdruck der selbstverantwortlichen Freiheit der Parteien ist. Der Richter hat also zu ermitteln, was die Freiheit der Parteien in der 50 Zur Entscheidungstheorie Hargreaves Heap (1992), 3–25; Braun (1999), 17–52; Nida-Rümelin (2000), 13 ff.
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besonderen Situation bedeutet. Zugleich aber ist diese unparteiische, vernünftige Entscheidung des Richters eine Verwirklichung der Freiheit in konkreter Gestalt. Die freie Entscheidung des Richters ist dann nicht nur Mittel für die Verwirklichung einer vernünftigen Welt, sondern hat bereits Anteil am Reich der Zwecke. Sowenig die vernünftige Willensbildung als rationale Wahl beschrieben werden kann, so wenig ist sie auf eine irrationale Dezision gegründet. Der Dezisionismus kann als Komplement zur Theorie rationaler Entscheidungen verstanden werden; denn schrumpft Rationalität zur Zweckrationalität, werden alle Entscheidungen über Endzwecke und Werte zu irrationalen Dezisionen. Die Präferenzen, die die Entscheidungstheorie als gegeben voraussetzt und die sich der zweckrationalen Wahl entziehen, scheinen dann einem unbegründbaren Glaubensakt, einer vorrationalen Entscheidung, dem eigentümlichen Charakter des einzelnen Menschen zu entspringen. Max Weber51, Carl Schmitt52 und Hans Kelsen53 gründen deshalb alle Normativität letztlich auf eine irrationale Dezision. Bei der vernünftigen Willensbildung hingegen ist eine Begründung der Präferenzen möglich, indem die vernünftige Willensbildung sich selbst zum Ziel des Handelns erklärt. Um den besonderen Fall im Lichte dieses Sinnes menschlicher Existenz würdigen zu können, muß sich der allgemeine Wille allerdings konkretisieren. Diese Konkretisierung des Willens verlangt keine lediglich zweckrationale Entscheidung und keine irrationale Dezision, sondern Urteilskraft, Abwägung, Deliberation. Der Repräsentant fällt freilich seine Entscheidungen nicht ohne einen vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmen aus seiner eigenen Vernunft, sondern trifft seine Entscheidungen in einem institutionellen Gefüge54. Wie der Künstler in einer bestimmten Zeit und einer bestimmen Kultur lebt, spricht der Richter Recht im Rahmen der Institution eines Gerichtes, beschließt der Abgeordnete über Gesetze im Rahmen der Institution eines Parlaments; wie diese besondere geschichtlich-soziale Welt den Künstler prägt, leiten die Institutionen die Entscheidungsfindung der Repräsentanten. Da Institutionen aus Personal, aus Regeln und aus einem äußeren Apparat bestehen55, werden Entscheidungen, die in einem institutionellen Rahmen getroffen werden, durch die Auswahl der Repräsentanten, durch Entscheidungsverfahren, durch explizite Handlungsanweisungen und stillschweiWeber (1904/ 71988); derselbe (1918/ 71988). Schmitt (1922/ 61993), 23 ff. 53 Kelsen (1934), 97 f. 54 Zum sozialwissenschaftlichen Institutionsbegriff vgl. Gukenbiehl (2002); March/Olsen (1989); Czada (1995); Göhler (2004). 55 Vgl. Malinowski (1944), 52 ff. 51 52
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gende Gewohnheiten, durch den Ort der Entscheidung, durch Sitzordnungen, durch Kleidung und durch Sprachformeln wie durch Werkzeuge und Sachmittel geprägt. Dieses Ordnungsgefüge einer Institution lenkt die Willensbildung. Die Auswahl der Repräsentanten bestimmt, welche Erfahrungen, welche Ausbildung, welche Kenntnisse, welche Erziehung auf die Entscheidungsfindung Einfluß haben sollen. Die Entscheidungsverfahren öffnen die Repräsentanten zu bestimmten Einflüssen, Informationen, Kontakten, Interessen und schließen sie von anderen ab. Die äußere Erscheinung der Institution, der materielle Apparat, führt den Anspruch der Institution vor Augen und prägt das Amtsethos der Repräsentanten. Der Auswahl der Repräsentanten, den Verfahrens- und Entscheidungsregeln sowie dem materiellen Apparat liegt dabei ein Ordnungsprinzip zugrunde. Dieses Ordnungsprinzip folgt aus der besonderen Aufgabe, die die jeweilige Institution zu erfüllen hat. Die Aufgabe der Repräsentanten, den allgemeinen Willen des Volkes zu verwirklichen, verendlicht sich zu der besonderen Aufgabe, die der Institution als Ordnungsprinzip, als Leitidee, als ‚idée directrice‘56, zugrunde liegt. Dieses Ordnungsprinzip einer Institution ist der intelligible Zurechnungspunkt, der die Einheit der Institution ausmacht, der bestimmt, welche Entscheidungen, welche Repräsentanten, welche Verfahren und Regeln, welcher materielle Apparat zu einer Institution gehört. Zugleich aber ist es die Sollensvorgabe, an der die Ordnung der Institution zu messen ist. Wie die Idee des allgemeinen Willens der Maßstab für die besonderen Leitideen der verschiedenen Institutionen ist, ist die Leitidee einer Institution der Maßstab für die Auswahl der Repräsentanten, für die Entscheidungs- und Verfahrensregeln, für die äußere Erscheinung der Institution. Freilich kann weder die Idee der Institution noch das aus ihr abgeleitete Ordnungsgefüge ohne das endliche Wissen und Wollen des Repräsentanten Wirklichkeit erlangen. Nur sofern die Repräsentanten mehr oder minder bewußt die Regeln der Institution und deren zugrundeliegende Idee befolgen, hat die Institution Entscheidungsmacht und Durchsetzungskraft. Wiewohl die Entscheidung des Repräsentanten durch den institutionellen Rahmen geprägt wird, ist es doch zugleich die Entscheidung des Repräsentanten. Trotz der lenkenden Kraft der Institution ist deshalb der Repräsentant für seine Entscheidungen verantwortlich. Denn um in dem Regelgefüge der Institution zu einer vernünftigen Entscheidung zu gelangen, muß der Repräsentant die Regeln der Institution im Lichte der ‚idée directrice‘ der Institution und diese Leitidee im Lichte der Idee des allgemeinen freien Willens verstehen. 56 Hauriou (1925/1965), 36. Malinowski spricht hingegen von der ‚chart‘, die die Elemente ‚Personal‘, ‚Regeln‘ und ‚materieller Apparat zu einer Institution verbindet. Diese ‚chart‘ bezeichnet er als ‚Idee der Institution‘, Malinowski (1944), 48.
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Mehr noch, da das Regelgefüge einer Institution von deren Leitidee und die Leitidee von der Idee eines allgemeinen, vernünftigen Willens abweichen kann, muß der Repräsentant sich Rechenschaft geben, ob er in seiner Entscheidung die Regeln der Institution oder gar deren Leitidee zugunsten des vernünftigen Willens des Volkes verletzt.57 Denn wie sich die Originalität des Künstlers gerade darin zeigt, daß er in der Besonderheit seiner Welt das Allgemeingültige freilegt, ist der Repräsentant dafür verantwortlich, im vorgegebenen Rahmen zu einer vernünftigen Entscheidung zu gelangen. IV. Politische Repräsentation und lebendige Organisation Die Verwirklichung des allgemeinen Willens zu einer freiheitlichen Ordnung verlangt, daß die vielfältigen Entscheidungen verschiedener Repräsentanten in unterschiedlichen Institutionen nicht unverbunden nebeneinanderstehen, sondern ein Ganzes bilden. Wie diese Einheit, diese Integration möglich ist, wird durch den Vergleich der politischen Repräsentation mit der Organisation eines Lebewesens deutlich. Auch Kant sieht eine Analogie zwischen dem vernünftigen Staat und einem Lebewesen, wenn er einen monarchischen Staat, der ‚nach inneren Volksgesetzen‘ beherrscht wird, mit einem ‚beseelten Körper‘ vergleicht, einen Staat hingegen, den ein einzelner absoluter Wille beherrscht, mit einer ‚Maschine‘, einer ‚Handmühle‘.58 Kant erläutert an anderer Stelle mit Blick auf die Neuorganisation des französischen Staates diese Analogie wie folgt: „So hat man sich bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat des Wortes Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stelle und Funktion nach bestimmt sein.“59 Die einzelnen Institutionen sind demnach Glieder in der Organisation des Staates und zugleich wiederum besondere Organisationen, in denen die Repräsentanten als ‚Organe‘60 gemäß ihrer ‚Stelle und Funktion‘ im Ganzen an der Verwirklichung der ‚salus reipublicae‘ mitwirken. 57
Deshalb sind individualistische Handlungstheorien, denen zufolge sich gesellschaftliche Gebilde auf die ‚sozialen Handlungen‘ (Max Weber) verantwortlicher Individuen zurückführen lassen, und holistische Systemtheorien, nach denen sich der Sinn des ‚fait social‘ (Durkeim) nicht im Sinn der einzelnen Handlung erschöpft, zusammenzudenken. Zum Verhältnis von Institution und Individuum vgl. Schelsky (1970); Gerhardt (1999). 58 Kant KdU, 352. 59 Kant KdU, 375 Fn. 60 Kant MdS, 319.
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Die Strukturverwandtschaft zwischen politischer Repräsentation und lebendiger Organisation, auf die es hier ankommt, ist im Begriff der Gliederung, genauer: im Begriff der Selbstorganisation begründet. Der allgemeine Willen des Volkes verwirklicht sich, indem er sich nicht nur in den Entscheidungen einzelner Repräsentanten konkretisiert, sondern sich zugleich zu einem Ganzen, zu einem System der Entscheidungen organisiert. Diese Selbstorganisation des Volkes bedeutet, daß die Repräsentanten ihre Entscheidungen in bestimmten Staatsgewalten fällen, deren Zusammenwirken das Ganze bildet. Dieses sich selbst organisierende Zusammenspiel der Repräsentanten in den verschiedenen Institutionen macht die Gewaltengliederung aus. 1. Die Gliederung des Organismus Für Kant ist die Selbstorganisation das Wesensmerkmal des lebendigen Organismus.61 Was aber kennzeichnet Selbstorganisation? Zunächst, daß das Sich-Organisierende, der Organismus, ein Ganzes ist, das sich von seiner Umwelt abschließt. Die Vorgänge in einem Organismus sind nicht allein Ereignisse in einer unendlichen, kausalen Folge, bei denen ein Phänomen dem anderen in der Zeit nachfolgt. Sie bilden vielmehr die Einheit mannigfaltiger Teile, die sich von den Vorgängen und Phänomenen außerhalb dieser Ordnung unterscheiden. Das Selbst ist die ‚Idee des Ganzen‘ und damit der Zurechnungspunkt der Einheit; nur was dem Selbst zugerechnet werden kann, gehört zum Organismus. Als Zurechungspunkt aber ist das Selbst wie das ‚Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muß‘ oder die ‚ästhetische Idee‘, die die Bedeutung des Kunstwerkes ausmacht, ein intelligibler, unräumlicher und unzeitlicher Punkt. Wegen dieses intelligiblen Charakters mag das Selbst auch ‚Seele‘ genannt werden und der Organismus mit Aristoteles ein ‚beseelter Körper‘.62 Mit dem Begriff der Ganzheit ist aber der Begriff des Organismus noch nicht erschöpft. Auch die Handmühle ist ein Ganzes, ohne daß sie sich selbst organisierte. Sie bildet nämlich nur deshalb eine Einheit, weil der 61
Kant KdU, 374. Die Biologie unserer Zeit spricht nicht von ‚Seele‘, sondern von dem ‚Genotyp‘, der der Erscheinung des Lebewesens, dem ‚Phänotyp‘, zugrunde liege. Der Genotyp ist wiederum bestimmt durch die DNS, die die ‚Erbinformation‘ trägt und die Entwicklung des Phänotyps programmiert. Was Aristoteles als eŁdoò eines Lebewesens bezeichne, könne deshalb – so z. B. Mayr – mit ‚genetischem Programm‘ übersetzt werden, vgl. Mayr (1997). Dann ist freilich nicht die materielle DNS der Einheitspunkt eines Lebewesens, sondern die ‚Information‘, die die DNS repräsentiert. Die ‚Information‘ freilich ist keine sinnliche Erscheinung, sondern dessen intelligibles Substrat, d.h. – wenn man so will – dessen formgebende ‚Seele‘. 62
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Handwerker die Teile gemäß seinem Zweck und seinem Bauplan in eine bestimmte Ordnung gestellt und dadurch zu einer Einheit verbunden hat; die ‚Idee des Ganzen‘, der Zurechnungspunkt ist der äußere Zweck des Erzeugers. Die Handmühle bildet ein Ganzes, das von anderen Vorgängen und Phänomenen unterschieden ist, weil der Handwerker das Holz, den Mahlstein und die Kurbel gemäß seinem Entwurf zu einer Einheit zusammengesetzt hat. Der lebendige Organismus hingegen bedarf keines äußeren Erzeugers, er erzeugt sich selbst. Der Antrieb, die Macht, die ‚bildenden Kraft‘63, die die Ordnung des Organismus begründet und die die Teile zu einem Ganzen zusammenfügt, liegt in dem Organismus selbst. Das Selbst eines Organismus ist aber nicht nur Antrieb für die Organisation mannigfaltiger Vorgänge, sondern zugleich dessen Ziel. Was ist aber das Ziel des Lebens eines Organismus? Welches Selbst versucht der Organismus zu verwirklichen? Zunächst ist der Zweck des Organismus, sich selbst zu erhalten. Um freilich zu bestimmen, was das Selbst ist, das der Organismus erhalten soll, muß auf den Zweck des Organismus in der ihn umfassenden Ordnung abgestellt werden. Hat aber die Selbsterhaltung des Organismus einen derartigen Zweck? Für Kant ist eine empirisch-fundierte Aussage hier nicht möglich. Wenn wir aber voraussetzen, daß an sich der Mensch ein vernünftiges, freies Wesen ist, dann ist Ziel und Zweck menschlichen Lebens die Verwirklichung der vernünftigen Freiheit des Menschen. Zumindest für den menschlichen Organismus können wir annehmen – wenn auch nicht empirisch beweisen –, daß die Selbstorganisation auf die Verwirklichung des Selbst des Menschen, auf die Verwirklichung seiner Vernunft zielt.64 Diese Verwirklichung der Vernunft erfolgt im Organismus durch dessen Gliederung. Die Gesamtordnung differenziert sich zu Teilordnungen aus, die sich selbst wiederum in Teilordnungen zerlegen. Selbstorganisation heißt dann nicht nur, daß der Organismus ein Ganzes ist, sondern auch, daß jeder Teil des Organismus ein Ganzes bildet, eine in sich abgeschlossene Einheit, eine sich selbst organisierende Ordnung, zugleich aber der Teil Teil des Ganzen bleibt. Die Teilordnungen bilden eine Einheit durch den besonderen Zweck, der ihnen jeweils zugrunde liegt. Der Gesamtzweck des Organismus verendlicht sich also zu besonderen Zwecken, die selbst wiederum Mittel für den Gesamtzweck sind. Der Gesamtzweck des menschlichen Organismus, Vernunft zu verwirklichen, verendlicht sich zu besonderen Bedürfnissen, Interessen und Strebungen, die sich in Teilordnungen organisieren. Jede diese Teilordnung hat dann eine besondere Aufgabe im Ganzen, die sich aus der ‚Stelle und Funktion‘ im Gesamtorganismus ergibt. 63 64
Kant KdU, 293. Kant KdU, 434 ff.
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Diese jeweils spezifischen Aufgaben der Teilordnungen sind freilich Besonderungen und Beschränkungen der allgemeinen Aufgabe des Organismus, sein eigenes Selbst zu verwirklichen. Doch diese Konkretisierung des allgemeinen Zwecks ist kein Mangel, sondern Ausdifferenzierung des eigenen Selbst im Mannigfaltigen, Konkretisierungen in einer besonderen Situation. Da das Ganze sich gerade in den Teilordnungen verwirklicht, sind die Teilordnungen nicht allein Mittel zur Erhaltung des Ganzen, sondern zugleich Zweck des Ganzen. Die Teilordnungen erhalten wie die besonderen Zwecke und Bedürfnisse ihr eigenes Recht und ihren eigentümlichen Wert. So wird der Organismus zu einer Organisation der Organisationen, in dem jedes Glied besonderer Zweck und zugleich Mittel für die Verwirklichung des Ganzen ist. Aber auch dieser Vorgang der Selbstorganisation ist paradoxal. Denn Selbstorganisation heißt, daß die Wirkung zugleich die Ursache des Vorgangs der Organisation ist. Das Selbst kann nur dann zugleich Ursache und Ziel der Organisation der mannigfaltigen Teile sein, wenn es mit keinem Teil identisch ist. Dieses Verhältnis von intelligiblem Selbst und sinnlichen Teilen und damit den Vorgang der Selbstorganisation können Kants Verstandeskategorien der Relation, also Ursache – Wirkung, Substanz – Akzidens oder Wechselwirkung, nicht fassen. Kant nennt denn auch die Besonderheit eines Organismus, „sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung [zu] verhalten“, einen „etwas uneigentlichen und unbestimmten Ausdruck“65. Denn der Begriff der Selbstorganisation ist kein Verstandesbegriff, sondern die Idee des ‚Reiches der Zwecke‘, in dem jedes Glied zugleich Mittel und Zweck, Ursache und Wirkung, Anfang und Ende ist. 2. Die Gliederung der Willensbildung Wie die Organisation eines Lebewesens kann auch der Vorgang der politischen Willensbildung durch Repräsentation als Vorgang der Selbstorganisation verstanden werden. Das Selbst eines demokratischen Staates, die ‚Seele‘ des ‚beseelten Körpers‘, ist der intelligible Wille des Volkes. Die Repräsentanten sind hingegen die Organe, die durch ihr Handeln und durch ihre Entscheidungen das Selbst des Ganzen, den Willen des Volkes, ‚verkörpern‘. Aus dem Begriff der Selbstorganisation folgt, daß der intelligible Wille des Volkes und das Wollen der Repräsentanten nicht unverbunden nebeneinanderstehen. Während bei einer Handmühle der Handwerker, der die einheitsbegründende Ordnung erzeugt, außerhalb der Ordnung steht, bildet das 65
Kant KdU, 372.
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Selbst des Organismus den Antrieb. Das Selbst aber steht nicht neben den mannigfaltigen Vorgängen und Teilen, sondern wirkt in diesen. Ebenso ist der intelligible Wille des Volkes keine Macht, die außerhalb der einzelnen Menschen stünde; vielmehr wirkt sie im Wissen und Wollen der Repräsentanten. Das empirische Wollen der Repräsentanten ist nur die Verwirklichung des intelligiblen Substrates. Wie die Selbstorganisation des Lebewesens verlangt Willensbildung durch Repräsentation wesentlich Gliederung. Während der Organismus aus selbständig wirkenden Gliedern besteht, erfolgt die Willensbildung in den besonderen Institutionen und Gewalten, den ‚Magistraturen‘ und ‚Organisationen‘, von denen Kant spricht. Das Zusammenspiel der Entscheidungsfindung der Repräsentanten in diesen Institutionen der politischen Willensbildung macht die Gewaltengliederung eines Staates aus. Jeder Gewalt kommt eine bestimmte Leitidee, eine besondere Aufgabe zu, die sich aus der allgemeinen Idee, eine freiheitliche Ordnung zu verwirklichen, ausdifferenziert. Kant unterscheidet wie die traditionelle Gewaltenteilungslehre seit Montesquieu und angelehnt an die französische Revolutionsverfassungen von 1791 und 1795 zwischen den ‚Funktionen‘66 der Gesetzgebung, der Gesetzesausführung und der Rechtsprechung und ordnet diesen institutionellen Leitideen jeweils bestimmte Repräsentanten und bestimmte Entscheidungsverfahren zu. Die Gesetzgebung soll durch die Deputierten im Parlament erfolgen67, die Ausführung durch den Regenten des Staates, sei es ein Monarch, sei es ein ‚Direktorium‘68, und die Rechtsprechung durch Richter, die vom Volk gewählt werden69. Parlament, Regierung und Gerichte sollen dabei nur für die jeweilige Funktion verantwortlich sein, nicht jedoch an der Aufgabe der anderen Einrichtungen teilhaben. Kants Gewaltenteilungslehre verlangt deshalb eine strikte Gewaltentrennung. Indem jede Gewalt ihre Aufgabe erfüllt, soll der Staat das Gemeinwohl verwirklichen und sich selbst zu einer freiheitlichen Ordnung organisieren.70 Der Begriff der freien Selbstorganisation eines Volkes verlangt jedoch, über Kants schematische Gewaltentrennung hinauszugehen und das Zusammenwirken der Institutionen bei der Bildung des allgemeinen Willens als Gewaltengliederung zu verstehen. Entscheidend ist dann, daß der jeweilige institutionelle Rahmen die Erfüllung der jeweiligen Aufgaben erlaubt. Die Institutionen der Legislative müssen also eine vernünftige Gesetzgebung ermöglichen. Doch was bedeutet Gesetzgebung? Kant versteht unter Gesetz66 67 68 69 70
Kant Kant Kant Kant Kant
MdS, MdS, MdS, MdS, MdS,
316. 341. 316. 317. 318. Zu Kants Gewaltenteilungslehre vgl. Kersting (2004), 134 ff.
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gebung nicht Rechtssetzung, sondern die Positivierung des a priori gegebenen Vernunftrechtes. Diese Aufgabe erfordert nach Kant nicht die Teilhabe aller Staatsangehörigen oder aller Betroffenen an der Gesetzgebung in allgemeinen Abstimmungen, sondern die Entscheidung eines Parlamentes, in dem die Abgeordneten nicht durch eine allgemeine Wahl, sondern durch die Wahl der wirtschaftlich Selbständigen erfolgt.71 Durch diesen institutionellen Rahmen will Kant sicherstellen, daß nur Repräsentanten zur Gesetzgebung berufen sind, die vernünftige Entscheidungen treffen und vernünftige Gesetze beschließen. Doch wenn Gesetzgebung lediglich in der Positivierung des Vernunftrechts bestünde, wäre es fraglich, warum die Repräsentanten des Volkes in einem gewählten Parlament diese Aufgabe besser erfüllen können als eine Staatsbürokratie mit fachlich geschulten Philosophen und Juristen. Gesetzgebung ist jedoch keine bloße Positivierung des Vernunftrechtes, sondern verlangt, kunstvoll die besonderen, zufälligen, willkürlichen Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Gewohnheiten der Bürger mit den Vernunftprinzipien zu verbinden oder umgekehrt die Vernunftprinzipien angesichts der Partikularinteressen zu konkretisieren. Gesetzgebung verlangt deshalb, daß die Repräsentanten des allgemeinen Willens ihre Entscheidungen in einem institutionellen Rahmen treffen, der die Abwägung der Partikularinteressen im Lichte der Vernunftprinzipien, der eine Konkretisierung der Idee der Freiheit angesichts bestimmter Partikularinteressen erlaubt. Diese Vermittlung zwischen der Idee der Freiheit und den Besonderheiten der Interessenlage in der Gesetzgebung soll die Entscheidung durch das Parlament sichern. Der parlamentarische Entscheidungsprozeß ist freilich nicht allein durch die Rekrutierung der Abgeordneten durch die Wahl bestimmt, sondern zugleich durch die parlamentarische Diskussion, durch den Kontakt zu den Wählern des jeweiligen Wahlkreises und zu den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, durch die Stellungnahme und Kritik von Wissenschaft und Öffentlichkeit, durch die Vorbereitung und Ausarbeitung der Gesetze durch die Regierung und – zumindest seit dem 20. Jahrhundert – durch die Einbindung der Abgeordneten in die internen Strukturen politischer Parteien sowie die Kontrolle der Gesetze durch unabhängige Gerichte. Dieser institutionelle Rahmen soll den Repräsentanten ermöglichen, die relevanten Partikularinteressen zu berücksichtigen, richtig zu gewichten und in dieser Interessenlage das Gemeinwohl zu konkretisieren. Ebenso bedeutsam ist der institutionelle Rahmen für die Gesetzesausführung durch die Regierung und die Rechtsprechung. Wie bei der gesetzgebenden Gewalt muß auch hier über Kants schematische Darstellung hinausgegangen werden. Kant behauptet, die Regierung und Rechtsprechung 71
Kant MdS, 314.
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habe die Subsumtion des besonderen Falles unter das Gesetz zur Aufgabe.72 Dann ist allerdings zweifelhaft, warum nach Kant die Richter gewählt werden sollten. Genügte für die Rechtsprechung die Technik der Subsumtion, bedürfte es keiner Richterwahl; in der Technik des Subsumierens geschulte Juristen wären allemal besser dazu in der Lage. Allein, auch die Anwendung des Gesetzes ist – wie bereits die Gesetzgebung – ein Akt der Konkretisierung. Die Einzelfallentscheidungen verlangen eine Deutung des Gesetzes und eine eigenständige Wertung des Lebenssachverhaltes.73 Beides ist aber nur möglich, wenn das Gesetz als Ausdruck der Idee des freien, allgemeinen Willens verstanden wird und der allgemeine Wille angesichts der Besonderheit des Lebenssachverhaltes ausgelegt wird. Bei dieser Deutung sind die Repräsentanten in Regierung und Rechtsprechung einer Vielzahl von Faktoren ausgesetzt, die vom jeweiligen institutionellen Rahmen, in dem sie ihre Entscheidung fällen, bestimmt werden. Die Bindung an die parlamentarischen Gesetze ist hier nur ein Moment. Ebenso kommen die öffentliche Meinung, die fachliche Kompetenz der Repräsentanten, die in einer Institution übliche Praxis der Informationsgewinnung und -verarbeitung oder das von den Institutionen geförderte und geforderte Berufs- und Amtsethos74 ins Spiel. Der institutionelle Rahmen muß deshalb sicherstellen, daß die Repräsentanten das Gesetz und die Wirklichkeit vernünftig deuten und auf diese Weise den allgemeinen Willen verwirklichen können. Für Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung können hier verschiedene Rekrutierungs- und Entscheidungsverfahren geboten sein. Um eine vernünftige Rechtsprechung zu sichern, kann z. B. bei der Bestellung der Richter nicht die Volkswahl, sondern die Auswahl aufgrund bestimmter Examina geboten sein, die den Erwerb eines Fachwissens und die Ausbildung eines Ethos des Gesetzesgehorsams attestieren. Ebenso setzt Rechtsprechung ein besonderes Verfahren für eine vernünftige Entscheidungsfindung voraus, beispielsweise die Abschirmung vom Druck anderer staatlicher Einrichtungen oder der öffentlichen Meinung, die Öffnung für die Diskussion mit einer kleinen universitären Fachöffentlichkeit, die öffentliche Verhandlung und die geheime Beratung. Gewaltengliederung hat somit nicht allein die Aufgabe, die Macht einzelner Repräsentanten zu beschränken, sondern zugleich die verschiedenen Aufgaben derjenigen Institution zuzuordnen, in deren Rahmen die Repräsentanten die Aufgabe am vernünftigsten lösen können.75 Nicht alle Auf72
Vgl. Kant MdS, 313, 317. Vgl. z. B. Hassemer, Winfried: Juristische Hermeneutik, in: ARSP 72 (1986), 195 ff. 74 Zur Bedeutung des Amtsbegriffs für die repräsentative Demokratie vgl. Hennis (1962). 75 Vgl. dazu Di Fabio (2004), § 27 Rn. 10. 73
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gaben verlangen gleichermaßen die Berücksichtigung willkürlicher Partikularinteressen; deshalb müssen nicht alle Entscheidungen in Institutionen gefällt werden, deren Entscheidungs- und Rekrutierungsverfahren auf eine Beachtung der Partikularinteressen angelegt sind.76 Den verschiedenen Institutionen der Willensbildung kommt deshalb ein jeweiliges Eigenrecht zu. Keine Institution kann den Anspruch erheben, per se den Willen des Volkes besser auszusprechen. Vielmehr kann die Frage allein lauten, für welchen Entscheidungstyp eine Institution besser geeignet ist.77 Den verschiedenen Teilordnungen mit ihren unterschiedlichen Verfahren und Prinzipien der Rekrutierung und der Entscheidungsfindung dürfen jeweils nur die Aufgaben zugeordnet sein, die von den Repräsentanten in diesem institutionellen Rahmen vernünftig gelöst werden können. Das Entscheidungsgefüge eines Staates gerät hingegen aus dem Gleichgewicht, wenn Repräsentanten Entscheidungen treffen müssen, für die sie aufgrund ihrer Vorbildung, ihrer Informationsquellen, ihrer Interessenbindung, ihrer Arbeitsweise und anderer institutioneller Faktoren nicht geeignet sind. Selbstorganisation heißt aber nicht allein, daß sich die Aufgaben und Institutionen der Willensbildung ausdifferenzieren, sondern zugleich, daß die Teilordnungen ein Ganzes ergeben. Das verlangt aber nicht allein die Trennung der Gewalten, sondern zugleich deren Zusammenwirken. Die Einheit der Willensbildung gründet allerdings nicht allein in der Legitimationskette vom Wähler über die Gesetze des Parlamentes zu den Entscheidungen der Verwaltung und der Rechtsprechung. Denn die Vielzahl der Wähler kann nicht die Einheit der Willensbildung begründen. Diese Einheit ist vielmehr allein möglich, wenn die Wähler Repräsentanten des allgemeinen Willens sind, die durch ihre Mehrheitsentscheidungen den allgemeinen Willen artikulieren. Ebensowenig sind die Abgeordneten im Parlament durch ihre jeweiligen Wähler gebunden, sondern sind Vertreter des ganzen Volkes; sie haben nicht das Wollen der Wähler nachzuahmen, sondern sich in deren Nachfolge zu stellen. Schließlich ist auch für die Entscheidungen der Ver76 Ebenso geht Dworkin davon aus, daß politische Institutionen und Verfahren die Richtigkeit (‚accuracy‘) der Entscheidungen sicherstellen sollen und rechtfertigt damit, daß Entscheidungen, die ‚choice-insensitive‘ Fragen betreffen, bei denen also die Richtigkeit der Entscheidungen nicht von den Partikularinteressen abhängt, anderen Institutionen übertragen werden als die Entscheidungen, deren Richtigkeit maßgeblich von den Wünschen der Betroffenen abhängt, vgl. Dworkin (1987). 77 Nach Hanna Pitkin hängt der Begriff der politischen Repräsentation und damit die Aufgabe, die einem Repräsentanten zugesprochen wird, davon ab, ob über subjektive Wünsche oder objektive Interessen entschieden werde soll, welche Fähigkeit die Wähler und Repräsentanten haben, ob die Lösung einer Aufgabe eine rationale Entscheidung erlaubt, vgl. Pitkin (1967), 209 ff. Die Antworten auf diese Fragen bestimmen freilich zugleich, welcher institutionelle Rahmen erforderlich ist, damit Repräsentanten vernünftige Entscheidungen treffen können.
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waltung und der Rechtsprechung der Zurechnungspunkt der intelligible Wille des Volkes, da sie sich nicht als bloße Subsumtion unter das parlamentarische Gesetz erklären lassen, sondern eine eigenständige und eigenverantwortliche Entscheidung verlangen. Die Einheit der Willensbildung verlangt deshalb, daß alle Entscheidungen auf einen intelligiblen Einheitspunkt bezogen werden können, auf den Willen des Volkes. Kein Repräsentant und keine Institution verkörpert demnach allein die Einheit, sondern stets nur die Einheit in besonderer Gestalt. Welche Institutionen für die Bildung des politischen Willens geeignet sind, läßt sich allerdings nicht losgelöst von der gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit eines Staates begründen. Die Besonderheit der jeweiligen klimatischen und geographischen Erfordernisse, der Familienstrukturen, der Wirtschafts- und Kommunikationsformen, der technischen Möglichkeiten, der Wertungen in Kultur, Tradition, Weltanschauung und Religion, der Grad der Diversität der Lebensentwürfe und Interessengegensätze sowie die Gewohnheiten und Üblichkeiten führen zu jeweils verschiedenen Aufgaben, vor die ein Staat gestellt ist, und verlangen zugleich für die vernünftige Willensbildung, daß die Repräsentanten ihre Entscheidungen in Institutionen treffen, die der gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit und den daraus sich ergebenden Aufgaben angemessen sind. Damit Gewaltengliederung die freiheitliche Selbstorganisation eines Volkes ermöglicht, muß die Idee der Gewaltengliederung der Besonderheit der Wirklichkeit Rechnung tragen. Der allgemeine Wille als materieller Maßstab einer sich ausdifferenzierenden, freiheitlichen Ordnung kann erst in Auseinandersetzung mit der jeweiligen historischen, politischen, sozialen und kulturellen Wirklichkeit eine konkrete Gestalt gewinnen. Die Idee der Selbstorganisation eines Volkes muß sich in einer bestimmten Situation zu einer bestimmten Gestalt der Gewaltengliederung konkretisieren. Auch hier tritt die Paradoxie politischer Willensbildung zutage: Der Maßstab für die Bewertung und Gestaltung der Wirklichkeit muß in der Wirklichkeit selbst gefunden werden.
V. Die Lösung Zu den Schwierigkeiten im Begriff der politischen wie der mentalen und der ästhetischen Repräsentation kommt es, wenn Repräsentation als Abbildung vielfältiger Erscheinungen in einem Repräsentanten gedacht wird, wenn das Repräsentierende das Mannigfaltige repräsentieren soll, das Wollen des Abgeordneten das vielfältige Wollen der Angehörigen eines Volkes, die Vorstellung des Betrachters oder die Darstellung des Kunstwerkes die vielen Vorkommnisse in der Welt. Denn der Begriff der Abbildung impliziert, daß das Urbild dem Abbild ähnlich sein soll und gerade in der Ähn-
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lichkeit des Abbildes dessen Qualität liegt. Unverzerrt soll das Abbild das Urbild widerspiegeln. Je ähnlicher das Repräsentierende dem Repräsentierten ist, als desto richtiger gilt die Repräsentation. Wenn ein Repräsentant das Mannigfaltige wiedergeben soll, ist jedoch der Vorgang der Repräsentation notwendigerweise verfälschend, denn das Eine kann die Vielfalt nicht ohne Veränderung kopieren. Da die Repräsentation des Vielen durch Eines den Ausschluß, die Begrenzung, die Umbildung, die Verarbeitung erfordert, verändert die Repräsentation das Repräsentierte, so daß das Repräsentierende dem Repräsentierten unähnlich wird und die Repräsentation das Repräsentierte entstellt. Wenn jede Repräsentation eine Beschränkung und Verarbeitung des Vielen bedeutet, kann das Viele keinen Maßstab für die Repräsentation, kein Kriterium für die Auswahl und Gewichtung des Vielen liefern. Wie eine Repräsentation vielfältige Erscheinungen abbilden kann, wird dann zweifelhaft. Das repräsentative Abbild ist dann entweder eine Entstellung des Urbildes, oder aber die Annahme eines Urbildes unabhängig vom Abbild ist eine bloße Fiktion. Der Vergleich der politischen Repräsentation mit der Struktur mentaler Vorstellungen, künstlerischer Darstellungen und lebendiger Organisationen hat nun jedoch folgendes gezeigt: Wie dem ‚Ich denke‘, das alle meine Vorstellungen begleiten können muß, kommt dem ‚Willen des Volkes‘ ein intelligibler Charakter zu, so daß er zugleich Zurechungspunkt, Wirkursache und Sollensvorgabe ist. Der intelligible Wille des Volkes und das empirische Wollen der Repräsentanten liegen deshalb auf verschiedenen Ebenen. Denn das besondere Wollen ist eine Verwirklichung des intelligiblen Willens. Wie die Darstellung des Kunstwerkes kein lediglich mimetisches Abbild des Ideals der Schönheit ist, sondern Darstellung des Allgemeingültigen in partikularer Gestalt, so ist auch der Vorgang der Repräsentation kein mimetischer Vorgang, bei dem der Repräsentant das fertige Wollen der Angehörigen eines Volkes widerspiegeln soll, sondern ein Vorgang der vernünftigen Willensbildung, bei dem der jeweilige Repräsentant den allgemeinen Willen in einer besonderen Situation zu einer bestimmten, vernünftigen Entscheidung konkretisiert. Diese Konkretisierung des allgemeinen Willens ist aber stets dessen Verendlichung. Dennoch bildet das endliche Wollen eine Einheit, weil sich die vielfältigen Entscheidungen zu einem Ganzen fügen. Das besondere Wollen kann sich aber nur zu einer Einheit bilden, weil es selbst bereits Ausdruck des Ganzen ist. Wie das Lebewesen sich zu einer Organisation der Organisationen ausdifferenziert, in der jede Teilordnung eine Teilfunktion im Ganzen übernimmt, verlangt auch die vernünftige Willensbildung durch Repräsentation, daß sich die Verfahren der Willensbildungen in bestimmten institutionellen Ordnungen verendlichen, die in ihrem Zusammenspiel eine Einheit ergeben.
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Nicht das Eine soll also das Viele repräsentiert, sondern das Viele das Eine. Repräsentation bedeutet deshalb nicht Abbildung des Vielen in Einem, sondern Darstellung des Einen im Vielen. Repräsentation heißt also, daß sich im Repräsentierenden das Eine in einer besonderen Gestalt verwirklicht. Repräsentiert wird nicht das Mannigfaltige, sondern im Mannigfaltigen repräsentiert sich die Vernunft. Ausgangspunkt ist also das Allgemeine, Apriorische, die Idee, die Norm, das Überzeitliche und Übergeschichtliche. Repräsentation verlangt dann nicht Verallgemeinerung des sinnlich Mannigfaltigen, sondern Versinnlichung dieses Allgemeinen in der besonderen Gestalt des Repräsentierenden. Demokratie heißt nicht Herrschaft der Mehrheit der Wähler, sondern Herrschaft des Volkes.78 Dieses idealistische Verständnis der Repräsentation trägt jedoch die Gefahr in sich, einseitig die Herrschaft des Allgemeinen zu legitimieren und die Unterdrückung des Besonderen zu rechtfertigen. Platons Philosophenherrschaft, Rousseaus Erziehungsdiktatur des Volkes oder Carl Schmitts autoritäres Einheitsdenken zeugen von dieser Gefahr. Die Sphäre des Sinnlichen wird abgewertet, das ‚System der Bedürfnisse‘ verachtet. Der Handwerker, der Banause, hat nach Platon so wenig am Reich der Ideen Anteil wie nach Rousseau der selbstsüchtige Bourgeois an der ‚volonté générale‘. Wenn Carl Schmitt politische Repräsentation von zivilrechtlicher oder körperschaftlicher Vertretung abscheidet und nur von der politischen Repräsentation behauptet, daß hier Ideelles zu Erscheinung gelange79, so liegt dem die Annahme zugrunde, daß in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, des Wirtschaftlebens und der Privatautonomie, nichts Ideelles erscheinen könnte. Ein Recht des Partikulären, am Allgemeinen teilzuhaben, scheint dann nicht zu bestehen. Auch Kants Denken steht in dieser Gefahr, die sinnliche Mannigfaltigkeit zu entwerten, solange es die moralische Welt und die Sinnenwelt, den homo noumenon und den homo phaenomenon, den allgemeinen apriorischen Willen der Vernunft und das empirische Wollen der einzelnen Menschen, das Ding an sich und die Erscheinung ohne Übergang nebeneinanderstellt. Freilich versucht Kant insbesondere in der Kritik der Urteilskraft, diese zwei Welten zusammenzudenken und in der Sinnenwelt die Erscheinung der Vernunft zu suchen. Damit ist eine Aufwertung des Sinnlichen, 78 Dworkin unterscheidet deshalb zwischen dem Begriff einer ‚statistischen‘ und dem einer ‚gemeinschaftlichen‘ Demokratie. Nach dem ersteren sind politische Entscheidungen aus einer Funktion der individuellen Entscheidungen der Angehörigen des Volkes, insbesondere aus dem mehrheitlichen Wollen, abzuleiten; nach dem zweiten, den Dworkin favorisiert, sind hingegen politische Entscheidungen Entscheidungen eines ‚Volkes‘, das eine ‚eigenständige Einheit der Verantwortung‘ konstituiert, vgl. Dworkin (1994). 79 Schmitt (1928/ 81989), 208 ff.; derselbe (1923/ 22002), 30 ff.
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eine Rechtfertigung der individuellen Handlungsfreiheit, eine Legitimierung der vielfältigen Bedürfnisse und Interessen der Menschen verbunden.80 Die Idee ist in ihrer Reinheit unvollkommen und bedarf der Verendlichung in der Sinnenwelt; umgekehrt ist die Sinnenwelt Ausdruck des Ideellen und verlangt daher Achtung und Beachtung. Gelingt dieser Brückenschlag zwischen intelligibler Welt und sinnlicher Welt, heißt Repräsentation zwar Verendlichung des Einen im Vielen, zugleich aber dessen Konkretisierung und Verwirklichung. Die endliche Gestalt ist dann kein minderwertiges Abbild, sondern dessen Realisation. Der allgemeine Wille zeigt sich im besonderen Wollen der Repräsentanten und in den besonderen partikularen Bedürfnissen und Interessen der Angehörigen eines Volkes. Der allgemeine Wille erscheint nicht allein in den Hauptund Staatsaktionen, sondern auch im partikulären Streben des Banausen und des Bourgeois. Gerade der Verendlichung und Versinnlichung kommt dann ein eigener Wert zu. Für die politische Repräsentation folgt aus diesem Verständnis, daß zwischen dem allgemeinen Willen des Volkes und dem besonderen Wollen der Repräsentanten kein statisches Urbild-Abbild-Verhältnis besteht, in dem der Wille des Volkes das Urbild und das Wollen der Repräsentanten das verzerrte, unscharfe Abbild wäre. Vielmehr ist Repräsentation der Vorgang der Verwirklichung des allgemeinen Willens durch Verendlichung, der Vorgang der Willensbildung. Zugleich folgt aus der Aufwertung des Sinnlichen, daß diese Willensbildung des Staates vom partikularen Wollen der Menschen ausgehen kann und muß, weil an sich das partikulare Wollen vernünftig ist. Im Vorgang der Bildung des allgemeinen Willens ist diese Vernunft freizulegen. Politische Willensbildung ist dann weder beliebige Konstruktion eines fiktionalen Gemeinwillens noch bloße Aggregation des vorhandenen vielfältigen Wollens, sondern ein Bildungsvorgang der Vernunft. Vernünftige Willensbildung muß dem besonderen Wollen, den zufälligen Vorlieben und Neigungen der Menschen, Rechnung tragen und es zu befriedigen suchen, es dabei jedoch in den Gesamtzusammenhang der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz einordnen und dadurch abwägen, werten und gewichten. Ein unmittelbarer Zugang zum Willen des Volkes ist deshalb nicht möglich; vielmehr kann der intelligible Wille allein durch das endliche Wollen der Repräsentanten in Erscheinung treten. Selbst in der Volksabstimmung bilden die Stimmberechtigten den allgemeinen Willen des Volkes nur als die Repräsentanten des intelligiblen Willens. Da aber Repräsentanten stets besondere Menschen mit besonderen Interessen sind, kommt es für die ver80
Zur Aufwertung des Alltaglebens in der Neuzeit vgl. Taylor (1989), 211 ff.
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nünftige Entscheidungsfindung darauf an, daß die richtigen Repräsentanten in einem richtigen Verfahren nach richtigen Regeln Entscheidungen fällen. Der institutionelle Rahmen, in dem Entscheidungen getroffen werden, hat daher durch die Rekrutierungs-, Entscheidungs- und Verfahrensregeln sicherzustellen, daß die Partikularinteressen richtig gewichtet, das Gemeinwohl verwirklicht und vernünftige Entscheidungen erzielt werden können. Welche Institutionen den Repräsentanten die vernünftige Entscheidungsfindung erlauben, hängt jedoch von der Besonderheit des Entscheidungstyps, der geschichtlichen Situation, den Fähigkeiten der Repräsentanten ab. Weder die Volksversammlung noch das Parlament, weder das Gericht noch die Regierung kann für sich in Anspruch nehmen, allein den vernünftigen Willen des Volkes zu artikulieren. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft kann erst im Zusammenspiel der Gewalten der allgemeine Wille in Erscheinung treten. Die Analogien zwischen politischer Repräsentation, mentaler Vorstellung, künstlerischer Darstellung und lebendiger Organisation ist jedoch mehr als eine bloße Strukturverwandtschaft. Das Ich erkennt nämlich in den verwandten Strukturen der Politik, der Kunst und des Lebens sich selbst. Die Vorstellung des denkenden Ich von der politischen Willensbildung, von der künstlerischen Darstellung und von der lebendigen Organisation sind nicht bloße Repräsentationen der vielfältigen Welt, sondern Repräsentationen, Erscheinungen, des denkenden Ich. Das Ich erkennt die paradoxale Struktur des eigenen Denkens in seinen Gegenständen wieder, weil es die eigene Denkstruktur in seine Gegenstände projiziert. Diese Projektion ist freilich so wenig wie die künstlerische Darstellung und die politische Willensbildung eine bloße Fiktion; vielmehr legt die Selbsterkenntnis des denkenden Ich gleich der vernünftigen Willensbildung und der künstlerischen Darstellung im Mannigfaltigen nur frei, was dort bereits angelegt ist. Dieser Begriff der Repräsentation weist freilich über Kant hinaus, denn Kant ist davor zurückgeschreckt, die Paradoxie einer sich selbst organisierenden Einheit, die Paradoxie der Identität von Identität und Differenz, als konstitutiv für das Denken selbst zu begreifen. Literaturverzeichnis Allison, Henry E. (2001): Kant’s Theory of Taste – A Reading of the Critique of Aesthetic Judgement, Cambridge. Berlin, Isaiah (1958/1969): Two concepts of liberty, in: derselbe: Four essays on liberty, Oxford, 118–172. Birch, Anthony H. (1993): The Concepts and Theories of Modern Democracy, London/New York.
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Gerechte Kriege, die Golfkriege 1991 und 2003 und das philosophische Völkerrecht Von Georg Cavallar Für Hans-Dieter Klein in Dankbarkeit
I. Einleitung In gewisser Weise antizipierte wohl der Streit um die rechtliche und moralische Legitimität der von den USA initiierten UN-Aktion gegen den Irak 1991 (der erste Golfkrieg) das, was später, nämlich 2003 folgen sollte: „no blood for oil“ oder „Nie wieder München“ (natürlich in Anspielung auf das Münchner Abkommen 1938) lauteten damals die eher propagandistischen Parolen. Auf einer etwas anspruchsvolleren Ebene wurde vor dem 15. Jänner 1991 (dem Beginn der Kampfhandlungen) etwa behauptet, „it is unlikely that this battle can be contained in either scope, intensity, or time“1, während Befürworter der UN-Aktion Michael Walzer zustimmten, es sei „very bad to make a deal with an aggressor at the expense of his victim“, denn das bedeute: „we make ourselves complicitous in the aggression.“2 Die Prophezeiungen der Kriegsgegner, es sei unmöglich, den Krieg räumlich, zeitlich und qualitativ begrenzt zu führen, wurden durch die Ereignisse widerlegt. Der rasche Sieg der Alliierten und die relativ geringen Verluste auf beiden Seiten schienen viele moralische Bedenken der Kritiker hinfällig zu machen. 1 Message from Thirty-Two Church Leaders to President Bush, zitiert in: Mark R. Amstutz, International Ethics. Concepts, Theories, and Cases in Global Politics (Lanham et al.: Rowman and Littlefield 1999), 106. 2 Michael Walzer, Perplexed, The New Republic, January 28, 1991, 13, zitiert in Amstutz, International Ethics, 107. Neben Amstutz, International Ethics, 103–8 bieten unter anderem Jean Bethke Elshtain und David E. Decosse, Hrsg., But Was it Just? Reflections on the Morality of the Persian Gulf War (New York: Doubleday 1992), James Turner Johnson und George Weigel, Hrsg., Just War and the Gulf War (Washington, D. C.: Ethics and Public Policy Center 1991), Gert Krell, Hrsg., Krieg und Frieden am Golf: Ursachen und Perspektiven (Frankfurt am Main: Fischer 1991) und Christopher Norris, Uncritical theory: postmodernism, intellectuals, and the Gulf War (London: Lawrence & Wishart 1992) Einführungen in die damalige Debatte.
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Vor allem vor und während des zweiten Golfkrieges (Frühjahr 2003) wurde erneut eine moralische Debatte geführt; diesmal machten sich stärker als 1991 transatlantische Differenzen bemerkbar (was oft dazu führte, die Differenzen innerhalb der Vereinigten Staaten und Europas zu übersehen). Als symptomatisch kann das Manifest von US-Intellektuellen (Februar 2002) und die Reaktionen darauf gelten. Das Manifest wurde fünf Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, nach dem faktischen Abschluss der US-Intervention in Afghanistan und zu einer Zeit veröffentlicht, als Politiker bereits über einen neuen Golfkrieg gegen den Irak sprachen. Unter anderen unterzeichneten Amitai Etzioni, Francis Fukuyama, Samuel Huntington und Michael Walzer das Manifest. Es beruft sich auf die Theorie des gerechten Krieges, um den „war on terrorism“ als „morally necessary“ darzustellen.3 Scharfe Kritik gab es nicht nur, aber vor allem aus Europa: Deutsche Intellektuelle verfassten eine Art Gegenmanifest, in dem sie sich von der bellum justum-Lehre distanzierten, der Regierung Bush Massenmord in Afghanistan, Hegemoniebestrebungen und selektiven Gebrauch moralischer Normen vorwarfen.4 Während die Unterzeichnenden einen offenen Dialog wünschten, stellte Gert Raeithel in einem Kurzkommentar fest, aufgrund der „patriotischen Taubheit“, der „historischen Uninformiertheit“ und wegen des „intellektuelle[n] Defizit[s] der Verfasser“ sei mit den US-Intellektuellen von vornherein ein „produktiver Dialog nicht möglich“.5 Polemiken dieser Art sind selbst wenig produktiv. Die Verweigerung des Diskurses läuft auf Arroganz und Besserwisserei hinaus. Wichtige Rückfragen können so erst gar nicht gestellt werden, etwa, worin denn die vorgebliche „historische Uninformiertheit“ liege. Ich werde in meinem Aufsatz versuchen, möglichst sachlich, d. h. philosophisch-prinzipiell zu argumentieren und „beide Seiten“ – besser: alle Seiten – zu Wort kommen zu lassen. Ich beginne mit einer Diskussion der Theorie des gerechten Krieges, beziehe sie dann auf die beiden Golfkriege, debattiere ihre Probleme und Spannungen und schließe mit kantischen Perspektiven. Dabei werde ich vor allem Walzer und Kant miteinander vergleichen und einige Übereinstimmungen, aber auch gravierende Differenzen feststellen, die mir symptomatisch für die transatlantischen Spannungen scheinen.
3 What We’re Fighting For, abgedruckt in Karl Graf Ballestrem, Volker Gerhardt, Henning Ottmann und Martyn P. Thompson, Hrsg., Politisches Denken Jahrbuch 2003 (Stuttgart, Weimar: Metzler), 223–40, das Zitat 228. 4 Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6 (2002), 763–8. 5 Gert Raeithel, Kurzkommentar, in: Politisches Denken Jahrbuch 2003, 248.
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II. Die Theorie des gerechten Krieges Wie erwähnt beruft sich das Manifest der US-Intellektuellen vom Februar 2002 auf die Lehre vom gerechten Krieg. Sie geht in Europa bzw. im Westen bekanntlich auf die heidnische (Cicero) und christliche (Augustinus) Antike zurück, wurde von der Theologie des europäischen Mittelalters weiterentwickelt (wichtig: Thomas von Aquin) und fand über die Spätscholastik (Francisco de Vitoria) den Eingang in das Naturrecht (etwa: Hugo Grotius) und in die politische Philosophie (etwa: John Locke) der (Frühen) Neuzeit. Der Zweck der Theorie ist umstritten; wir können vermuten, dass es ihren Vertretern primär um die Eindämmung und/oder Begrenzung von Kriegen ging und nicht um deren Rechtfertigung. In den Worten von Mark Amstutz: „The aim of the theory is not to justify war but to bring international relations under the control of morality so that, if moral norms were followed faithfully and consistently by the disputing parties, it would reduce the risk of war.“6 Missbrauch war natürlich nie ausgeschlossen: jede Theorie lässt sich von der politischen Praxis für partikuläre Zwecke (nämlich die versuchte Rechtfertigung des beabsichtigten Krieges) instrumentalisieren. Dieser Missbrauch sollte uns jedoch nicht den Blick auf die meiner Einschätzung nach meist vorhandene ethische bzw. pazifistische Gesinnung der Theoretiker verstellen. Grotius ist hier ein gutes Beispiel: noch vor seiner Modifikation der bellum-iustum-Theorie formuliert er in der Einleitung zu seinem Hauptwerk – und unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges – Entsetzen über und Abscheu vor der Leichtfertigkeit, mit der Kriege begonnen und dann extrem grausam geführt werden. „Ich sah in den christlichen Ländern eine entartete Kriegführung, deren sich selbst rohe Völker geschämt hätten. Man greift aus unbedeutenden oder gar keinen Gründen zu den Waffen, und hat man sie einmal ergriffen, so wird weder das göttliche noch das menschliche Recht geachtet, gleichsam als ob auf Befehl die Wut zu allen Verbrechen losgelassen worden wäre.“7 6 Amstutz, International Ethics, 100. Die Literatur zur Thematik ist umfassend; hier eine kleine Auswahl: Jean Bethke Elshtain, Hrsg., Just War Theory (Oxford: Blackwell 1992), Ralf Bredel, Systematisch-normative Begriffe des völkerrechtlichen Friedens in der neuzeitlichen Philosophie des Rechts (Frankfurt am Main et al.: Lang 2002), Dieter Janssen/Michael Quante, Hrsg., Gerechter Krieg. Ideengeschichtliche, rechtsphilosophische und ethische Beiträge (Paderborn: Mentis 2003), James Turner Johnson, Just War Tradition and the Restraint of War: A Moral and Historical Inquiry (Princeton: Princeton University Press 1981), Terry Nardin, The Ethics of War and Peace. Religious and Secular Perspectives (Princeton: Princeton University Press 1996). Siehe auch die Literaturhinweise in What We’re Fighting For, 236. 7 „Videbam per Christianum orbem, vel barbaris gentibus pudendam bellandi licentiam: levibus aut nullis de causis ad arma procurri, quibus semel sumtis nullam jam divini, nullam humani juris reverentiam, plane quasi uno edicto ad omnia sce-
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Es ist sinnvoll, innerhalb der Tradition des gerechten Krieges zwischen der traditionellen Lehre des jus ad bellum (im Folgenden moralistisches Paradigma genannt) und Michael Walzers so genanntem „legalistischen Paradigma“ zu unterscheiden.8 Nach dem moralistischen Paradigma gibt es sechs Normen des gerechten Krieges: den gerechten Kriegsgrund, die legitime Autorität, die richtige Absicht, eine begrenzte Zielsetzung bzw. das Kriterium der Proportionalität, der Krieg als letzte Zuflucht und die Wahrscheinlichkeit des Erfolges.9 Das legalistische Paradigma unterscheidet sich hier vor allem durch die Eliminierung des dritten Elementes, nämlich das Ausblenden der Gesinnungsdimension, durch die Präzisierung des ersten Elementes (was ist ein gerechter Grund?) und durch die Kontextualisierung: das Paradigma wird auf die moderne Staatenwelt (die so genannte „Westphalian order“) bezogen. Das legalistische Paradigma enthält sechs Thesen: 1. Es gibt eine internationale Gemeinschaft unabhängiger Staaten. 2. Das Recht dieser Gemeinschaft garantiert bestimmte Rechte der Staaten, vor allem territoriale Integrität und politische Souveränität. 3. Die Anwendung von Gewalt oder ihre unmittelbare Androhung eines Staates gegen die genannten Rechte eines anderen ist eine Aggression und ein krimineller Akt. 4. Diese Aggression legitimiert zwei Arten von Gegengewalt: die Selbstverteidigung des Opfers und einen Krieg des „law enforcement“ der internationalen Gemeinschaft. lera emisso furore“, Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libri Tres [1625] (Oxford: Clarendon Press 1925; reprint New York: Oceana Publications 1964), prol. 28, 20; deutscher Text von Walter Schätzel (Tübingen: Mohr 1950), 37. Als Einführung in Grotius siehe Hedley Bull, Benedict Kingsbury/Adam Roberts Hrsg., Hugo Grotius and International Relations (Oxford: Clarendon Press 1990) sowie Georg Cavallar, The Rights of Strangers: Theories of international hospitality, the global community, and political justice since Vitoria (Aldershot: Ashgate 2002), Kap. 3 und speziell zur Thematik des gerechten Krieges Peter Haggenmacher, Grotius et la doctrine de la guerre juste (Paris: Presses Universitaires de France 1983) und Yasuaki, Onuma, Hrsg., A Normative Approach to War: Peace, War, and Justice in Hugo Grotius (Oxford: Clarendon Press 1993). 8 Michael Walzer, Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations (New York: Basic Books 1977, 2. Aufl. 1992, 58–64. Ich zitiere nach der 2. Auflage. 9 Thomas von Aquin, Summa theologica (Heidelberg et al: Kerle und Styria 1966), Bd. 17 B, 2, 2, qu. 40 De bello, 82–7 nennt drei Kriterien: die Vollmacht des Fürsten (auctoritas principis), den gerechten Grund (causa justa) und die rechte Absicht (intentio recta). Siehe Amstutz, International Ethics, 101–3 und Brian Orend, Kant’s Just War Theory, Journal of the History of Philosophy 37 (1999), 323–53, hier 343–6.
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5. Nur Aggression kann einen Krieg legitimieren. 6. Wurde der Angreiferstaat zurückgeschlagen, darf er auch bestraft werden.10 Das legalistische Paradigma kommt teilweise in den Bestimmungen der UN-Charta zum Ausdruck, in die Elemente des neuzeitlichen Natur- und Völkerrechts eingeflossen sind (etwa Recht auf Notwehr, System der kollektiven Sicherheit). Das Paradigma macht eine wichtige Voraussetzung, auf die ich noch später zu sprechen kommen werde. Es basiert nämlich auf der domestic analogy: der Annahme, Staaten könnten mit Individuen verglichen werden. Die meiner Ansicht nach anspruchsvollste zeitgenössische Theorie des gerechten Krieges stammt von Michael Walzer, der sich selbst als Fortsetzer dieser Tradition sieht. Er formuliert in „Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations“ (1977, 2. Aufl. 1992): „I want to recapture the just war for political and moral theory.“11 Walzer demonstrierte als Student gegen den Vietnamkrieg, hielt aber den Krieg der Alliierten gegen Hitler und Israels Sechstagekrieg für moralisch gerechtfertigt und fand deshalb sowohl den Pazifismus als auch den politischen Realismus philosophisch nicht überzeugend.12
10 Walzer, Just and Unjust Wars, 61–2. Siehe auch die Diskussion in Brian Orend, Michael Walzer on War and Justice (Cardiff: University of Wales Press 2000), Kap. 4 und Mervyn Frost, Ethics in international relations. A constitutive theory (Cambridge: Cambridge University Press 1996), 132–6. Themen, die ich hier aus Platzgründen ausblenden muss, sind unter anderem: das Problem atomarer Abschreckung, das Problem des ethischen Skeptizismus bzw. Nihilismus, also die Frage nach Existenz, Inhalt und Legitimität von Normen oder das Kriterium bzw. die Definition der Aggression. 11 Walzer, Just and Unjust Wars, xxviii. Siehe auch Orend, Michael Walzer, 3. John Rawls, Das Recht der Völker [1999]. Übersetzt von Wilfried Hinsch (Berlin, New York: Walter de Gruyter 2002) halte ich im Vergleich zu Walzer für eine enttäuschende Arbeit. Vgl. die Kritik von Fernando R. Tesón, A Philosophy of International Law (Boulder, Colorado: Westview Press 1998), Kap. 4. 12 Walzer, Just and Unjust Wars, Kap. 1, 80–5, 96–101 und 111–17. Zum politischen Realismus siehe einführend Jack Donnelly, Realism and International Relations (Cambridge: Cambridge University Press 2000), Sonja Laubach-Hintermeier, Kritik des Realismus, in: Christine Chwaszcza/Wolfgang Kersting, Hrsg., Politische Philosophie der Internationalen Beziehungen (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998), 73–95 mit weiterer Literatur.
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III. Erster und zweiter Golfkrieg Walzer war ein leidenschaftlicher Befürworter und Verteidiger des Krieges gegen den Irak von 1991.13 Er argumentierte mit Hilfe seines legalistischen Paradigmas, und seine Argumente sind überzeugend. Oder besser formuliert: die Anwendung seiner Kriterien eines gerechten Krieges auf diesen konkreten Fall ist plausibel. Es handelte sich bei der Invasion Kuwaits durch den Irak (2. August 1990) beispielsweise eindeutig um einen völkerrechtswidrigen Akt der Aggression. Ein ähnliches Ergebnis bringt die Beurteilung der von den USA initiierten UN-Aktion gegen den Irak mit Hilfe der Kriterien des traditionellen moralistischen Paradigmas. Das Kriterium der legitimen Autorität war etwa deshalb erfüllt, weil der Angriff vom UN Security Council autorisiert worden war (Resolution 678: „use all necessary means“).14 Ein völlig anderes Bild bietet sich uns hinsichtlich des zweiten Golfkrieges von 2003.15 Wie bereits erwähnt wurde das Manifest der US-Intellektuellen auch von Michael Walzer unterschrieben; weiters beruft es sich auf die Theorie des gerechten Krieges. „There are times when waging war is not only morally permitted, but morally necessary, as a response to calamitous acts of violence, hatred, and injustice. This is one of those times.“16 Es wird explizit auf das Kriterium des gerechten Kriegsgrundes Bezug genommen: „At times it becomes necessary for a nation to defend itself through force of arms“ und „The primary moral justification for war is to protect the innocent from certain harm.“17 Das erste Zitat beschwört die Theorie des legitimen Verteidigungskrieges und den Rechtsgrundsatz vis vim repellere licet. Das zweite Zitat beruft sich auf Aurelius Augustinus. Entscheidend ist, dass in der Argumentation das moralistische und nicht das legalistische Paradigma dominiert. In letzterem ist das Kriterium der 13
Siehe besonders Michael Walzer, Justice and Injustice in the Gulf War, in: Elshtain und Decosse, Reflections, 2–25 und ders., Just and Unjust Wars, xii-xxi. Zum Krieg selbst siehe u. a. Wolfgang F. Danspeckgruber, Hrsg., The Iraqi aggression against Kuwait (Boulder, Colorado: Westview Press 1996) und Lawrence Freedman und Efraim Karsh, The Gulf conflict 1990–1991 (London: Faber and Faber 1994). 14 Zu den einzelnen Kriterien siehe die detaillierten Ausführungen bei Amstutz, International Ethics, 104–6 und Orend, Michael Walzer, 86–101. 15 An Literatur wäre etwa zu nennen: Herfried Münkler, Der neue Golfkrieg (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003), William Rivers Pitt und Scott Ritter, Krieg gegen den Irak (Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003) und Hans von Sponeck und Andreas Zumach, Irak – Chronik eines gewollten Krieges (Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003). 16 What We’re Fighting For, 228. 17 Ibid., 223 und 228.
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Aggression recht genau definiert. Walzer schreibt: „Every violation of the territorial integrity or political sovereignty of an independent state is called aggression.“18 Walzer setzt dabei voraus, dass es sich um Rechtsverletzungen „between nations“ handelt. Im moralistischen Paradigma fehlt diese Präzisierung; es ist etwa ganz vage vom „Schutz der Unschuldigen“ die Rede. Diese mangelnde Klarheit im Manifest hat natürlich Methode. Zwischen dem ersten und dem zweiten Golfkrieg gibt es einen prinzipiellen Unterschied, der sich mit dem Stichwort „Reprivatisierung des Krieges“ am besten beschreiben lässt. Die bellum-justum Theorie seit Hobbes und Pufendorf19 bis Walzer ist geprägt vom Verständnis des Krieges als Konflikt zwischen (mehr oder weniger souveränen) Staaten. Darin spiegelt sich die allmähliche, faktische Verstaatlichung des Krieges mit der Errichtung eines Gewaltmonopols nach innen und außen seit dem Beginn der europäischen Neuzeit.20 Schon in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden immer mehr Kriege nicht als zwischenstaatliche Kriege, sondern als Bürgerkriege geführt. Mit dem 11. September 2001 ist diese partielle und meist einseitige Reprivatisierung bzw. Entstaatlichung des Krieges offenkundig geworden. Das Manifest der US-Intellektuellen wirkt in dieser Hinsicht anachronistisch und vermittelt eine gewisse Hilflosigkeit: ersteres deshalb, weil es in Diktion und Terminologie ganz an die – fast möchte ich sagen „gute alte Zeit“ der – zwischenstaatlichen Konflikte erinnert. Zweiteres deshalb, weil ich den Eindruck habe, dass die Autorinnen und Autoren sich der Unzeitgemäßheit ihrer herkömmlichen Argumentationsformen zumindest ansatzweise bewusst waren. Der vor allem von Geheimdiensten getragene Kampf gegen Terrororganisationen einerseits und der konventionelle Krieg gegen einen anderen Staat, der beschuldigt wird, diesen Organisationen Unterschlupf zu gewähren andererseits, sind nun einmal zwei völlig verschiedene Dinge. Zu diesem prinzipiellen Unterschied zwischen 1991 und 2003 kommt noch ein anderer, völkerrechtlicher: der zweite Golfkrieg wurde vom UN 18
Walzer, Just and Unjust Wars, 52. Das folgende Zitat ebd. Siehe hierzu ausführlicher Jan Schröder, Die Entstehung des modernen Völkerrechtsbegriffs im Naturrecht der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 47–72, ders., Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500–1850) (München: Beck 2001), §§ 1–3 und vom Verfasser, Cosmopolis. Supranationales und kosmopolitisches Denken von Vitoria bis Smith, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, (2004). 20 Herfried Münkler, Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken (Frankfurt am Main, Fischer 1992), ders., Die neuen Kriege (Reinbeck: Rowohlt Verlag 2002), besonders 13–130. 19
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Security Council nicht autorisiert, es fehlte also die Erfüllung des Kriteriums der legitimen Autorität, das im Zeitalter der UN im moralistischen Paradigma enthalten sein sollte. Das zweite Hauptargument gegen den Krieg: die Bedrohung, die angeblich vom Irak ausging, war unklar und nicht nachweisbar. Es lag offensichtlich keine eindeutige Bedrohung des Weltfriedens seitens des Irak vor. Die zwei stärksten Argumente zugunsten der US-Intervention: erstens der Hinweis auf die innenpolitische Situation im Irak. In Saddam Husseins „Republik der Angst“ sind nach Schätzungen in den letzten dreißig Jahren mehr als eine halbe Million Menschen ermordet oder hingerichtet worden (die Toten der Golfkriege und der Sanktionen sind nicht eingerechnet). So sprachen sich Dissidenten wie Kanan Makiya für eine Intervention aus humanitären Gründen aus: Makiya etwa meinte: „When you look at this coming war from the point of view of the people who are going to pay the greatest price – the people of Iraq – they overwhelmingly want it.“21 Das zweite Argument: Saddam wurde in den letzten zehn Jahren mit 17 Resolutionen des Sicherheitsrates zur Kooperation mit den UN aufgefordert, in einer wurde auch der Gebrauch militärischer Gewalt gegen den Irak als Mittel gebilligt (Resolution 678).22 Insgesamt glaube ich, dass die genannten Argumente gegen eine Intervention schwerer wiegen. Zurück zum Manifest, das sicherlich auf mehreren Ebenen angreifbar ist. So erhebt Thomas McCarthy den Vorwurf, es propagiere einen kulturellen Imperialismus. Denn der Appell an die Menschenrechte sei selektiv und heuchlerisch, eine „self-serving invocation of universal values that earned them a bad name under classical imperialism.“23 Ein anderer Vorwurf lautet, die von der Theorie des gerechten Krieges intendierte Begrenzung von Kriegen werde in ihr Gegenteil verkehrt: durch politische Instrumentalisierung werde daraus praktisch ein Beitrag zur „moralischen Aufrüstung“.24 Auf diese und ähnliche Argumente möchte ich nicht näher eingehen. Es ist Zeit für eine kurze Zwischenbilanz: meine bisherigen Ausführungen legen nahe, dass, was Kriege zwischen Staaten betrifft, die moderni21 Zitiert in Michael Massing, The Moral Quandary, in: The Nation, 6. Jänner 2003. Kanan Makiya ist der Autor der Bücher Republic of Fear. The Politics of modern Iraq (Berkeley: University of California Press 1998) und Cruelty and Silence (New York: Norton 1993). 22 Bernd Schilcher, Völkerrecht und das Recht des Stärkeren, in: Die Presse, 25. März 2003. 23 Thomas McCarthy, Is That Really What We’re Fighting For?, in: Politisches Denken Jahrbuch 2003, 241–3, hier 241. 24 Eine Welt der Gerechtigkeit, 763–8 und Herfried Münkler, Die Wiederkehr des gerechten Krieges, Politisches Denken Jahrbuch 2003, 244–7.
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sierte Theorie des gerechten Krieges bis heute ihre Gültigkeit behält. Andererseits werde sie problematisch, wenn sie versucht, nach der partiellen Reprivatisierung des Krieges die neuen asymmetrischen Kriege normativ zu erfassen. In einem nächsten Schritt werde ich zu zeigen versuchen, dass selbst in einem so klaren Fall wie dem ersten Golfkrieg die Theorie des gerechten Krieges sozusagen in beiden Fassungen mit Problemen und Spannungen konfrontiert ist. IV. Probleme und Spannungen der Theorie des gerechten Krieges Probleme ergeben sich vor allem aus der schon erwähnten domestic analogy, der Parallelisierung von Individuum und Staat. Die Analogie ist im Naturrecht und in der politischen Philosophie der europäischen Neuzeit weit verbreitet. Hobbes betont beispielsweise die Parallelität von innen- und zwischenstaatlichen Rechtssphären: „And the Elements of natural law and natural right which we have been teaching may, when transferred to whole commonwealths and nations, be regarded as the Elements of the laws and of the right of Nations.“25 Nun gibt es allerdings Unterschiede zwischen inner- und zwischenstaatlicher Sphäre in moralischer Hinsicht, da Drittparteien involviert sind. Das unterminiert wiederum die moralische Gewissheit, die auf der intrapersonalen Ebene gegeben ist.26 Ein Beispiel kann das illustrieren: In einem Park bricht ein Kampf zwischen Jugendlichen aus. Ein Mann beobachtet den Vorfall und merkt, dass der schwächere der beiden Halbwüchsigen einem unprovozierten Angriff (möglicherweise mit dem Zweck des Diebstahls) zum Opfer gefallen ist. Der Mann ist stärker als die Jugendlichen, relativ unparteiisch, könnte wirksam eingreifen, das Opfer verteidigen und mögliche Verletzungen verhindern. Er tut aber nichts (er ruft auch nicht die Polizei) und entfernt sich, um nicht involviert zu werden.27 Die meisten von uns würden das Verhalten des Mannes wohl als unmoralisch kritisieren. 25
Thomas Hobbes, On the citizen [1641], edited and translated by Richard Tuck and Michael Silverthorne (Cambridge, New York: Cambridge University Press 1998), Kapitel 14, Abschnitt 4, S. 156. Siehe auch Hidemi Suganami, The domestic analogy and world order proposals (Cambridge: Cambridge University Press 1989), Francis Cheneval, Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung (Basel: Schwabe 2002), passim und Cavallar, Rights of Strangers, 179–89. 26 Siehe Gordon Graham, Morality, international relations and the domestic analogy, in: Moorhead Wright, Hrsg., Morality and International Relations. Concepts and Issues (Aldershot et al.: Avebury 1996), 5–16. 27 Ich folge dem Beispiel in Graham, Morality, 5.
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Ein anderes Bild bieten intrastaatliche Kriege, wo eine Gefahr der Instrumentalisierung von Menschen besteht. Kant war sich dieses Problems bewusst, als er im § 55 der „Rechtslehre“ schrieb: „Welches Recht hat der Staat gegen seine eigene Unterthanen sie zum Kriege gegen andere Staaten zu brauchen, ihre Güter, ja ihr Leben dabei aufzuwenden, oder aufs Spiel zu setzen: so dass es nicht von dieser ihrem eigenen Urtheil abhängt, ob sie in den Krieg ziehen wollen oder nicht, sondern der Oberbefehl des Souveräns sie hineinschicken darf?“28 Der kategorische Imperativ formuliert das Grundprinzip des normativen Individualismus, dass Menschen nicht als Mittel zum Zweck missbraucht werden dürfen, selbst dann, wenn dieser Zweck ein moralischer sein sollte. Die Spannung zwischen normativem Individualismus und der Politik von Regierungen gilt es zu lösen oder zumindest zu entschärfen: „In the international case, [. . .] where states and governments are involved, gaps open up between decisions, actions and cost, such that the scope of obligation and the lines of responsibility are blurred.“29 Der radikale Pazifismus zieht aus diesem Dilemma eine radikale Konsequenz: Kriege werden prinzipiell abgelehnt. Die Tradition des gerechten Krieges ist gemäßigter, sie spricht von tragischen Situationen, die aber moralisch unvermeidbar wären. Zur Illustration der genannten Problematik noch ein harmloses Beispiel: als der italienische Tourismus-Staatssekretär Stefano Stefani im Sommer 2003 die deutschen Touristen als „supernationalistische Blonde“ bezeichnete, die im Urlaub „lautstark unsere Strände bevölkern, besoffen von aufgeblasener Selbstsicherheit“, warnte der EU-Abgeordnete Martin Schulz (SPD) davor, „ein ganzes Volk zu bestrafen, nur weil einige Politiker ausflippen“. Er sprach sich damit gegen eine kollektive „Bestrafung“ der Italiener aus, nämlich indem die Deutschen ein anderes Urlaubsland wählen. Schulz blickte also in erster Linie auf die Menschen, die den italienischen Staat bilden, und nicht auf den Staat selbst bzw. seine Regierung, die diese Bürger (mehr oder weniger) repräsentieren. Es gibt also eine prinzipielle Differenz zwischen individueller und kollektiver Ebene. Die Spannung ist auch bei Walzer virulent. Am Anfang steht ein Bekenntnis zum normativen Individualismus: die Rechte der Staaten „derive ultimately from the rights of individuals, and from them they take their force.“30 In der Diskussion konkreter Beispiele – etwa dem Finnisch-russischen Krieg 28 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsgeg. von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Berlin, Leipzig: de Gruyter, 1900 ff.), VI, 344 (auf die Angabe des Bandes (römische Ziffern) folgt die Seite, eventuell die Zeilen). 29 Graham, Morality, 11.
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von 1939–40 – versucht Walzer dann, eine mittlere Position zwischen normativen Individualismus und den Rechten der politischen Gemeinschaften (Recht auf Selbstbestimmung, auf territoriale Integrität, auf Selbstverteidigung) zu finden. Bewundernswert ist Walzers ehrliches Eingeständnis im Fall Finnland: „I don’t know how one strikes the balance.“31 Walzers Unvermögen, zu einem klaren Ergebnis zu kommen gründet in einer prinzipiellen Schwierigkeit unseres Denkens im Rahmen der domestic analogy. Die zwei Ebenen eines Krieges, die individuelle und die kollektive bzw. (zwischen)staatliche, sind nämlich nicht aufeinander reduzierbar. Walzer schließt sich der seit Rousseau verbreiteten Definition von Kriegen als Relationen zwischen Staaten an: „[T]he war itself isn’t a relation between persons but between political entities and their human instruments.“32 Kriege können aber nicht auf die Beziehungen zwischen Staaten reduziert werden; sie sind auch und gleichzeitig Beziehungen zwischen Individuen und außerdem Relationen zwischen Individuen und Staaten bzw. Regierungen. Dies wird am Beispiel des Aggressorstaates deutlich: als fiktives Rechtssubjekt kann er bestimmte Rechte verlieren, woraus aber nicht folgt, dass seine Soldaten deshalb ebenfalls bestimmte Rechte (wie das Recht auf Leben) verlieren. David Rodin, der eine scharfsinnige Studie über das Recht auf nationale Selbstverteidigung vorgelegt hat, formuliert: „how can a forfeiture [Verlust] of sovereign rights on the part of a state explain the forfeiture on the part of its soldiers of their right to life? There is a gap in the moral explanation between a right to act against an aggressive state, and the right to act against the persons who are its soldiery – a conceptual lacuna [Lücke] between the two levels of war.“33 Die Differenz zwischen individueller und kollektiver Ebene macht auch folgende Überlegung deutlich: wird nationale Verteidigung als individuelles Recht vieler Menschen verstanden, dann sind Situationen in diesem Verteidigungskrieg denkbar, wo diese Menschen als Soldaten Handlungen setzen, die über Selbstverteidigung hinausgehen.34 Sie werden vielleicht eine Versorgungseinheit überfallen und dabei Köche, Mechaniker oder Kraftfahrer töten, die für den Kampf weder genügend ausgebildet noch ausgerüstet sind. Vielleicht verlieren bei einem Luftangriff – ohne dass das beabsichtigt war – Zivilisten des Angreiferstaates ihr Leben. 30 Walzer, Just and Unjust Wars, 53. Siehe auch ebd. 54 und 57 sowie Frost, Ethics in international relations, 133–5. 31 Walzer, Just and Unjust Wars, 71. 32 Walzer, Just and Unjust Wars, 36. Zum Folgenden siehe die Analyse von David Rodin, War and Self-Defense (Oxford: Clarendon Press 2002), 122–7 und 196 f. 33 Rodin, War and Self-Defense, 164. 34 Ibid., 127 f.
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Die Theorie des gerechten Krieges stößt also selbst bei relativ wenig komplexen Normen wie dem Recht auf nationale Verteidigung auf Grenzen (das Recht wird bekanntlich auch im Artikel 51 der UN-Charta bekräftigt: „the inherent right of individual or collective self-defence if an armed attack occurs“). Die angeführten Überlegungen „funktionieren“ natürlich nur dann, wenn wir den normativen Individualismus nicht aufgeben, sondern konsequent durchhalten. Die analysierten Dilemmata der bellum-justum-Lehre legen es nahe, nach alternativen Lösungen zu suchen. Hier bieten sich zwei Möglichkeiten an: erstens der radikale bzw. unbedingte Pazifismus, der unter dem Motto „Frieden um jeden Preis“ versucht, Kriege unter allen Umständen zu vermeiden und der – auf theoretischer Ebene – Krieg prinzipiell für moralisch ungerechtfertigt hält.35 (Ein gemäßigter Pazifismus, der den Frieden dem Krieg vorzieht, aber Kriege nicht prinzipiell für unmoralisch oder unrecht hält, rückt in die Nähe der bellum-justum-Lehre; Naturrechtler wie Grotius wären Beispiele). Die zweite, überzeugendere Möglichkeit ist der kontraktualistische Kosmopolitismus. Wenn heute von Kosmopolitismus die Rede ist, wird meist auf seine politische Variante Bezug genommen, der für eine bestimmte Art von globaler Rechtsordnung plädiert, etwa für einen Weltstaat.36 Wird bei der Begründung vertragstheoretisch argumentiert, kann auch von einem kontraktualistischen Kosmopolitismus gesprochen werden. Christian Wolff, teilweise Rousseau und Kant haben als erste die kosmopolitischen Implikationen des Kontraktualismus und des normativen Individualismus ausformuliert. Das Hauptargument gegen den unbedingten Pazifismus hat Michael Walzer formuliert und vom „Münchner Prinzip“ gesprochen: er weicht, um Menschenleben und den Frieden zu retten, der Gewalt und dem Unrecht und akzeptiert das „(Un)recht des Stärkeren“. Wie Walzer in Auseinandersetzung mit einem wenig bekannten englischen Autor ausführt, läuft der unbedingte Pazifismus auf eine Appeasementpolitik hinaus (dies ist auch der Hintergrund der Arbeit von Gerald Vann aus dem Jahr 1939), die de facto vor „the rule of violence“ kapituliert.37 Der unbedingte Pazifismus führt 35
Vgl. Robert L Holmes, On War and Morality (Princeton: Princeton University Press 1989), Jenny Teichman, Pacifism and the Just War (Oxford: Basil Blackwell 1986), Orend, Just War Theory, 338–9 und Orend, Michael Walzer, 69. 36 Vgl. Cavallar, Rights of Strangers, 60, ders., Cosmopolis, und Pauline Kleingeld, Six Varieties of Cosmopolitanism in Late Eighteenth-Century Germany, in: Journal of the History of Ideas 60 (1999), 505–24, hier 509 und 513. Cheneval, Philosophie, 24–6 bietet einen Überblick über zeitgenössische philosophische Publikationen zum Thema, angefangen mit Charles Beitz (1979). 37 Gerald Vann, Morality and War (London 1939), zitiert nach Walzer, Just and Unjust Wars, 68. Siehe die Diskussion ebd., 67–73 und Orend, Michael Walzer,
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also trotz seiner moralischen Intentionen in der modernen Staatenwelt zu moralisch nicht akzeptablen Konsequenzen. V. Kantische Perspektiven: kontraktualistischer Kosmopolitismus Es bleibt also der kontraktualistische Kosmopolitismus: die Wege der modernen politischen Philosophie internationaler Beziehungen führen uns nach Königsberg (und nach Halle, wo Christian Wolff lehrte), weg von der bellum-justum-Lehre, vom radikalen Pazifismus, aber auch vom politischen Realismus, sozusagen weg von Locke und Vattel, weg von Erasmus und weg von Hobbes. Das gilt nicht nur in philosophisch-prinzipieller Hinsicht, sondern auch teilweise für neuere Trends in der sog. „politischen Philosophie der internationalen Beziehungen“. Kant ist dort geradezu ein Star geworden. Als aktuelles Beispiel sei der schon erwähnte englische Philosoph David Rodin genannt, der in Anschluss an Kant für einen minimalen Weltstaat plädiert.38 Das Grundprinzip des Kantischen Kosmopolitismus lautet „Frieden durch Recht“, präziser die „Verrechtlichung aller konfliktträchtigen Beziehungen in der Welt der äußeren Freiheit“.39 Dieses Grundprinzip führt im philosophischen Völkerrecht zu einem Paradigmenwechsel in drei Bereichen. Kants Völkerrecht markiert den Übergang vom Kriegs- zum Friedensrecht. 69–76 und 190. Zum Thema Kant und der Pazifismus siehe Georg Cavallar, Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs „Zum ewigen Frieden“ (1795) von Immanuel Kant (Wien, Köln, Weimar: Böhlau-Verlag 1992), 197 und 383–92 sowie ders., Kant and the Theory and Practice of International Right (Cardiff: University of Wales Press 1999), 64 und 74. Orend, Just War Theory, 339 resümiert: „Kant cannot be a pacifist“. 38 David Rodin, War and Self-Defense (Oxford: Clarendon Press 2002). Weitere enthusiastische Stimmen sind angeführt in: Cavallar, Kant and the Theory and Practice, 146–53. Siehe auch Orend, Just War Theory, 324 (Kant als „one of the true giants“ der politischen Philosophie). Bedenken gegen diesen Enthusiasmus meldet an: Antonio Franceschet, Kant and Liberal Internationalism. Sovereignty, Justice, and Global Reform (New York et al: Macmillan 2002), besonders 1–8. 39 Wolfgang Kersting, Philosophische Friedenstheorie und internationale Friedensordnung, in: Chwaszcza und Kersting, Politische Philosophie der Internationalen Beziehungen, 523–54, hier 534. An (neueren) Arbeiten wären, abgesehen von meinen eigenen Büchern (Pax Kantiana und Kant and the Theory and Practice), zu nennen: Charles Covell, Kant and the Law of Peace. A Study in the Philosophy of International Law and International Relations (New York: St. Martin’s Press 1998), Volker Marcus Hackel, Kants Friedensschrift und das Völkerrecht (Duncker und Humblot: Berlin 2000), mit Literaturhinweisen 262 ff., Dieter Hüning/Burkhard Tuschling, Hrsg., Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant. Marburger Tagung zu Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (Duncker und Humblot: Berlin 1998).
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Er übernimmt den Begriff der Souveränität aus dem Staats- und Völkerrecht seiner Zeit, versteht ihn aber im Sinne der Volkssouveränität. Drittens erweitert Kant das klassische Völkerrecht als Staatenrecht durch das Weltbürgerrecht.40 Das 18. Jahrhundert begriff unter Völkerrecht das normative System der Beziehungen zwischen souveränen Staaten, die einander nicht als Verbrecher, sondern als justi hostes, d. h. als gleichberechtigte Feinde ansahen.41 Schon damals hatte man mit der Theorie des gerechten Krieges seine Probleme: wegen der Vielfalt, Komplexität und der unsicheren Rechtsgrundlage alter Ansprüche, die fast jedes Herrscherhaus erheben konnte, wegen der Unsicherheit, wer nun als Aggressor und wer als Kläger zu gelten habe, der sich nur holte, was ihm zustand. Die Lösung war die Konzeption des Krieges als Duell, als guerre en forme.42 Die Frage der Gerechtigkeit des jeweiligen Kriegsgrundes wurde relativiert zugunsten der Forderung, jeder Krieg müsse bestimmten formale Kriterien genügen, wie etwa der Kriegserklärung und dem Kriegsrecht. Kant intendiert eine Veränderung der rechtlichen Struktur internationaler Beziehungen.43 Die Veränderung der Struktur ist in der Theorie ein Paradigmenwechsel und lässt sich auf die bekannte Hobbessche Formel des exeundum e statu naturali bringen. Kant stellt zunächst fest, Staaten befänden sich untereinander in einem „nicht-rechtlichen Zustande“, der gleichzeitig ein permanenter Kriegszustand sei.44 Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, zeigt in Wirklichkeit Kants Differenz zu seinen Zeitgenossen auf. Während diese meist Hobbes’ Gleichsetzung von geltendem Völkerrecht und Naturrecht und die daraus folgende Leugnung einer verbindlichen Völ40 Zum Weltbürgerrecht Kants siehe einführend Pauline Kleingeld, Kant’s Cosmopolitan Law: World Citizenship for a Global Order, in: Kantian Review, 2 (1998), 72–90 und Cavallar, Rights of Strangers, 359–68. 41 Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1984), 245–7 und 410–20, Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 3. Aufl. (Berlin: Duncker & Humblot 1988), 91 f., 106, 112–9 und 136–40. 42 Emer de Vattel, Le Droit de Gens [1758] (Tübingen: Mohr 1959), Buch III, Kap. XII, § 190, 468 f. Vgl. Grewe, Epochen 247–9. Zu Vattel siehe besonders Emmanuelle Jouannet, Emer de Vattel et l’mergence doctrinale du droit international classique (Paris: Pedone 1998). 43 „What is at stake for Kant, is not the elimination of a natural disposition in man to quarrel, but the elimination of possible juridical grounds for it“, eine Formulierung von Georg Geismann, On the Philosophically Unique Realism of Kant’s Doctrine of Eternal Peace, in: Hoke Robinson, Hrsg., Proceedings of the Eighth International Kant Congress (Milwaukee: Marquette University Press 1995), Vol. I, 1, 273–89, hier 282. 44 Vgl. Kant, Werke, VI, 344, 6–10 und VIII, 354 f.
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kerrechtsordnung als extrem oder pessimistisch ablehnten, folgt Kant zunächst einmal Hobbes in der Analyse des Ist-Zustandes. Staaten befinden sich tatsächlich untereinander im Naturzustand, daran kann nichts beschönigt werden. Kant unterscheidet sich aber von Hobbes dadurch, dass er eine natur- bzw. vernunftrechtliche Verpflichtung postuliert, diesen Naturzustand auch im zwischenstaatlichen Bereich zu verlassen.45 Mit dieser exeundum-Forderung ist gleichzeitig die Differenz zu Kants Vorgängern im philosophischen Völkerrecht angezeigt (Wolff und teilweise Rousseau bilden eine Ausnahme). Werden die zwischenstaatlichen Beziehungen strukturell nicht als „Naturzustand“ angesehen, wird die Staatenanarchie – oft in Abgrenzung zu Hobbes – tendentiell verharmlost oder eher als positiv bewertet, wird die „Hegung“, d. h. die Begrenzung und Humanisierung des Krieges der Hauptzweck des Völkerrechts.46 Dem Völkerrecht fehlt dann – ähnlich wie der bellum-justum-Lehre – jede idealistisch-antizipatorische Dimension wie bei Kant. Kants politische Philosophie ist antizipatorisch in dem Sinn, dass sie sich auf das real Mögliche bezieht, nicht auf ein utopia oder „Nirgendwo“, sie ist problemorientiert und berücksichtigt die Realität (etwa der Tatsache der Staatenanarchie).47 Kant verbindet die Völkerrechtslehre mit den Forderungen der Friedenspublizistik des 18. Jhdts. Denn auch die Völkerrechtslehre benötigt „Phantasten der Vernunft“ wie Saint-Pierre und Rousseau, ohne die „niemals . . . in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden“ sei.48 Kants Übertragung der Hobbeschen exeundum-Forderung auf den zwischenstaatlichen Bereich war zu seiner Zeit keineswegs revolutionär. Die Entstehung des kosmopolitischen Kontraktualismus war eine in doppelter Hinsicht säkulare Neuorientierung des politischen Denkens, vor allem des 18. Jahrhunderts: seit Hobbes zeichnete sich allmählich bei Völkerrechtsautoren wie Pufendorf oder Friedenspublizisten wie Saint-Pierre, aber auch bei weniger bekannten Autoren wie Heumann eine „kosmopolitische Wende“ ab, um bei Wolff, Rousseau und Kant zur Vollendung zu gelangen. 45 Vgl. ebd., VI, 344, 13 f.; VI, 350, 6–8; VIII, 354, 3–8. Siehe auch Cavallar, Kant and the Theory and Practice, 46 und 54 f. sowie Karlfriedrich Herb und Bernd Ludwig, Naturzustand, Eigentum und Staat – Immanuel Kants Relativierung des „Ideal des Hobbes“, in: Kant-Studien 84 (1993), 283–316. 46 Vgl. Schmitt, Nomos der Erde, 43 f. und 113–5. 47 Vgl. Roland Wittmann, Kants Friedensentwurf – Antizipation oder Utopie?, in: Reinhard Merkel/Roland Wittmann, Hrsg., „Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996), 142–53, hier 150–2; ähnlich argumentiert Otfried Höffe, Eine Weltrepublik als Minimalstaat. Zur Theorie internationaler politischer Gerechtigkeit, in: ebd., 154–71, hier 170. 48 Kant, Werke, XV, 210 und II, 267; vgl. auch Cavallar, Pax Kantiana, 33–8.
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„Diese Autoren sahen ein, dass nicht eine Theorie, die den Einzelstaat, sondern nur eine Theorie, welche die Überwindung des internationalen Naturzustands begründet, den impliziten und expliziten Voraussetzungen des kontraktualistischen und positivistischen Ansatzes entspricht.“49 Diese kosmopolitische Wende des exeundum-Prinzips fehlt nicht nur in den traditionellen Fassungen der bellum-justum-Lehre; auch Walzer und das Manifest der US-Intellektuellen verzichten bewusst darauf, mit Argumenten, die nicht überzeugen. Die Legitimierung militärischer Maßnahmen durch die Vereinten Nationen als „recognized international body“ lehnen sie mit den folgenden drei Argumenten ab: [H]istorically, approval by an international body has not been viewed by just war theorists as a just cause requirement. Second, it is quite debatable whether an international body such as the U. N. is in a position to be the best final judge of when, and under what conditions, a particular resort to arms is justified. Dann wird ein Autor zitiert, der vermutet, die von manchen vorgeschlagene Verwandlung der UN in eine Art Überstaat könnte sich als „suicidal embrace“ erweisen.50 Das erste, historische Argument überzeugt am wenigsten. Natürlich konnten Vertreter der bellum-justum-Theorie, die vor 1919 oder 1945 schrieben, die Autorisierung durch eine internationale Organisation wie die UN nicht in ihre Lehren integrieren; wie gerade dargestellt entfaltete sich der kontraktualistische Kosmopolitismus erst seit Hobbes. All das ist aber kein prinzipieller Einwand gegen die Einbeziehung des Kriteriums „Autorisierung durch die UN“ in eine moderne Lehre vom gerechten Krieg. Schließlich hatte sich auch diese Lehre seit der Antike weiterentwickelt: frühe Autoren sprachen sich etwa für die Versklavung von Kriegsgefangenen aus – weil das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht die Tötung von Gefangenen erlaubte und diese Autoren die Versklavung als geringeres Übel sahen. Mit der Änderung der völkerrechtlichen Praxis etwa im Europa der Frühen Neuzeit wandelte sich auch die Lehre; von einer Versklavung der Kriegsgefangenen war nicht mehr die Rede. Eine Aktualisierung der bellum-justumLehre im Zeitalter der UN ist also naheliegend. Nun zum zweiten Argument, eine Organisation wie die UN wäre vielleicht nicht kompetent zu beurteilen, ob militärische Gewaltanwendung berechtigt sei. Hier wird offenbar eine Grundeinsicht nicht nur Kants, nicht 49
Cheneval, Philosophie, 224. Der ausgezeichnete zweite Teil dieser Arbeit (217–399) zeichnet diese intellektuelle Entwicklung von Hobbes bis Kant nach. 50 What We’re Fighting For, 237. Zitiert wird dort aus Giandomenico Picco, The U. N. and the Use of Force, in: Foreign Affairs 73 (1994), 15.
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nur des politischen Kosmopolitismus, sondern auch der modernen politischen Philosophie ignoriert: denn Kant (und mit ihm Hobbes, Locke und fast alle anderen „Klassiker“) charakterisieren den Naturzustand gerade dadurch, dass in ihm jeder – einzelne oder auch Staaten – „seinem eigenen Kopfe folgt“ und „aus . . . eigenen Recht“ tut „was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen“ nicht abhängt.51 Im Naturzustand sind wir Gesetzgeber, Richter und Exekutor in eigener Sache, da es in diesem Zustand der Rechtlosigkeit zwar ein Naturgesetz, aber keinen kompetenten Richter oder eine öffentliche Gewalt gibt. Was für die UN spricht ist also gerade die Delegierung des Privaturteils an eine öffentliche, supranationale Instanz. Was ist nun von Kritikern zu halten, die einwenden, die derzeitige UN sei weit entfernt von jener „öffentlich gesetzlichen Gewalt“, die einen echten Rechtszustand zwischen Staaten stiften könnte? Kant würde wohl antworten, dass „irgend eine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar keine.“52 Im Kontext argumentiert Kant gegen ein Widerstandsrecht und für die provisorische Legitimität der Monarchien des aufgeklärten Absolutismus: die Idee des allgemeinen Rechtsprinzips sei in ihnen wenigstens in Ansätzen verwirklicht. Dieses Ausmaß an Rechtmäßigkeit sei zu respektieren (der Staat ist damit eine persona moralis, die nicht vernichtet werden darf).53 Analog (hier bemühe ich also wieder die domestic analogy) würde Kant wohl die UN als Annäherung an das Ideal eines zwischenstaatlichen Rechtszustandes schätzen. Noch ein drittes Argument klingt an: wenn das Manifest die mögliche Verwandlung der UN in einen Weltstaat als „suicidal embrace“ bezeichnet, so wird damit ein sehr altes Argument gegen den Weltstaat wiederholt (es ist in der europäischen Frühen Neuzeit als Kritik an Dantes De Monarchia präsent, natürlich auch bei Kant): der Weltstaat könne sich in einen Despotismus verwandeln.54 Nun wird dieses Problem in einer immer umfassender werdenden Literatur seit Jahren diskutiert, beispielsweise von Otfried Höffe.55 Die naheliegende Lösung: die UN müssten so reformiert werden, 51
Kant, Rechtslehre § 44, in: Werke, VI, 312. Das folgende Zitat ebd. Kant, Werke, VIII, 373, 27–31. 53 Siehe Cavallar, Kant and the Theory and Practice, Kap. 1: Kant’s Judgement on Frederick’s Enlightened Absolutism. Eine vergleichbare Kritik am Manifest übt auch Karl Graf Ballestrem, Eine Theorie des gerechten Krieges ist unverzichtbar, in: Politisches Denken Jahrbuch 2003, 249–53, hier 253 und McCarthy, Is That Really, 242. 54 Vgl. Cavallar, Pax Kantiana, 179–83 und ders., Rights of Strangers, 253–60. 55 Ältere Literatur ist teilweise in Cavallar, Kant and the Theory and Practice, Kap. 8 angeführt; siehe etwa Otfried Höffe, Für und Wider eine Weltrepublik, in Chwaszcza und Kersting, Politische Philosophie, 204–22 und ders., Eine Weltrepublik? über Recht, Demokratie und Frieden im Zeitalter der Globalisierung (Frankfurt 52
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dass ein republikanischer und extrem schlanker, d. h. „ultraminimalistischer“ Weltstaat dabei herauskäme. VI. Vom gerechten Krieg zur provisorischen Befugnis Kant ist konsequent genug, die Lehre vom bellum iustum aufzugeben. Bei einem Recht zum Kriege lasse sich „eigentlich gar nichts denken“56 der gerechte Krieg sei eine contradictio in adjecto, denn der Rechtszustand ersetzt den Krieg durch den Prozess, durch gewaltfreie Rechtsmittel, während der Krieg ein untaugliches Mittel ist, die Rechtmäßigkeit einer Forderung festzustellen. In einem Krieg wird – strukturell wie im Naturzustand – „nach einseitigen Maximen durch Gewalt“ bestimmt „was Recht sei“.57 Ein kriegführender Staat vereint wiederum Jurisdiktion und Exekutive in einer „Person“. Staaten lädieren einander schon dadurch, dass sie in diesem nicht-rechtlichen Zustand verharren; Kant spricht von einer laesio per statum.58 Benachbarte Staaten sind deshalb verpflichtet, aus diesem Zustand herauszutreten, der „an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist“.59 Ist nun Kant wirklich so konsequent, die Lehre vom gerechten Krieg aufzugeben, oder lässt er sie durch die „Hintertüre“ wieder in die Völkerrechtstheorie hinein? Zwei Paragraphen in der „Rechtslehre“, jener über das „Recht zum Kriege“ und der andere über den „ungerechten Feind“ widersprechen offenbar dem neuen Paradigma des Rechtsfriedens. Hat Fernando Tesón recht, der Kant als Befürworter einer Form des „extremen Pazifismus“ sieht, oder Brian Orend, der Kant als bellum justum-Theoretiker bezeichnet?60 Steht Kant auf der Seite derer, die das deutsche Manifest unterschrieben oder auf der Seite der US-Intellektuellen und ihres Manifestes? Was das Recht zum Krieg betrifft, muss auf Kants Definition desselben geachtet werden. Es ist im Naturzustand „die erlaubte Art, wodurch ein Staat sein Recht gegen einen anderen Staat verfolgt“, von dem er sich lädiert glaubt.61 Solange der herrschende Naturzustand also nicht überwunden am Main: Suhrkamp 1999) oder auch den oben erwähnten Rodin, War and Self-Defense, 179–88. 56 Kant, Werke, VIII, 356, 36. Vgl. Cavallar, Kant and the Theory and Practice, 55–6. 57 Kant, Werke, VIII, 357, 1. 58 Kant, Werke, XIX, Refl. 7647. Vgl. Cavallar, Kant and the Theory and Practice, 99 und 102. 59 Kant, Rechtslehre § 54, in: ders., Werke, VI, 344. 60 Fernando R. Tesón, The Kantian Theory of International Law, Columbia Law Review, 92 (1992), 53–102, hier 90 und Orend, Just War Theory, 324, 326 und 339. 61 Kant, Werke, VI, 346, 10 f.
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ist, hat jeder Staat die provisorische Befugnis bzw. die Erlaubnis zur Notwehr, d. h. darf sich als Rechtssubjekt erhalten.62 Carl Schmitt warf Kant wegen seines Paragraphen über den „ungerechten Feind“ Kreuzzugsmentalität, eine Unterminierung des klassischen Völkerrechts und von dessen Versuch der „Hegung“ des Krieges vor.63 Dieses Urteil geht an den Intentionen Kants vorbei. Das macht wiederum die Definition selbst schon deutlich. Der ungerechte Feind ist „derjenige, dessen öffentlich . . . geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden müsste.“64 An die Stelle der Befugnis, andere Staaten in einen Rechtszustand zu zwingen, tritt die Erlaubnis für die Staatengemeinschaft, sich gegen denjenigen zu verbünden, der selbst das provisorische Privatrecht im Naturzustand permanent verletzt und damit jenes naturrechtliche Minimum, das die Grundlage eines zukünftigen Rechtszustandes darstellt, unterminiert. Wenn Kant seine Vorgänger im (naturrechtlichen) Völkerrecht als „leidige Tröster“ abqualifiziert65 – wobei „leidig“ soviel wie „beschwerlich“ bzw. „unangenehm“ bedeutet – so richtet sich dieses Urteil erstens gegen deren Beschönigung der internationalen Staatenanarchie, zusätzlich aber auch gegen deren Beibehaltung der klassischen Lehre vom gerechten Krieg. Selbst Vattel, der Kant vermutlich am nachhaltigsten beeinflusst hat, kann sich von dieser Doktrin nicht trennen. Der Krieg ist bei ihm ein legitimes Mittel der Rechtsdurchsetzung „wenn es sich um eine offensichtlich gerechte Sache“ handelt, und die gerechten Gründe des Krieges, die Vattel in einem eigenen Kapitel abhandelt,66 sind schließlich so zahlreich, dass sie sich in den Worten Kants ohne größere Schwierigkeit „zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs“ benutzen lassen.67 Die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg wird durch Kant also „aufgehoben“: sie wird erstens negiert 62 Vgl. XIX, 482, 28–31; Kant, Rechtslehre § 56, in: ders., Werke VI, 346; zu den Erlaubnisgesetzen siehe Reinhard Brandt, Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants, in: Otfried Höffe, Hrsg, Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Klassiker Auslegen (Berlin: Akademie Verlag 1995), 69–86; zum Staat als „moralische Person“ Sharon Byrd, The State as a „Moral Person“, in: Robinson, Proceedings Bd. I, 1, 171–89. 63 Vgl. Schmitt, Nomos der Erde, 140–3. 64 Kant, Rechtslehre § 60, in: ders., Werke VI, 349, 22–5. Siehe ausführlicher Cavallar, Kant and the Theory and Practice, Kap. 7 über den ungerechten Feind. 65 Kant, Werke VIII, 355, 10. Siehe hierzu ausführlicher vom Verfasser: „Lauter ‚leidige Tröster‘? Kants Urteil über die Völkerrechtslehren von Grotius, Pufendorf und Vattel“, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (im Erscheinen). 66 Vattel, Droit de Gens, Buch III, Kap. III, § 37, 385; vgl. ebd., Buch III, Kap. III, 379–94. 67 Kant, Werke VIII, 355, 13 f.
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(Recht und Krieg widersprechen einander) und zweitens in einem neuen völkerrechtlichen System in modifizierter Form bewahrt, nämlich als zu überwindendes Provisorium. Kant erreicht mit seiner Differenzierung zwischen „gerecht“ und „erlaubt“ und der „Aufhebung“ der Lehre vom gerechten Krieg ein systematisches Niveau, das nicht nur über Walzer oder das Manifest der US-Intellektuellen, sondern auch über unsere Gegenwart hinausweist. Kants „Aufhebung“ der Lehre vom gerechten Krieg umfasst folgende Elemente: 1. ein Krieg im Naturzustand der Staaten kann im eigentlichen Sinn nicht gerecht sein, bestenfalls ein erlaubtes Provisorium.68 2. Kant konzipiert mit dem zentralen Begriff der Läsion das ius ad bellum extrem restriktiv; Vattel etwa neigt dazu, unter dem Titel der „Freiheit der Staaten“ zu viele Kriegsgründe als gerecht anzusehen. 3. traditionelle Lehren des gerechten Krieges kennen nicht Kants demokratische Forderung, jeder Staatsbürger müsse das Recht haben, „zum Kriegführen nicht allein überhaupt, sondern auch zu jeder besondern Kriegserklärung vermittelst seiner Repräsentanten seine freie Beistimmung“ zu geben.69 4. Kants Völkerrecht betont nicht das jus ad bellum, sondern das jus post bellum,70 d. h. die Frage, wie internationale Beziehungen nach Kriegen reformiert und dem Rechtszustand angenähert werden können (gemeint sind hier die Präliminar- und Definitivartikel von „Zum ewigen Frieden“). VII. Abschließende Bemerkungen Es ist bei Polemiken üblich, der Gegenseite jede Vernunft abzusprechen. Ich halte es für sinnvoller, Kant und anderen Aufklärern zu folgen und Elemente der Vernünftigkeit in allen dargestellten Positionen wahrzunehmen und anzuerkennen.71 Viele Differenzen sind nicht Differenzen in den Prin68
Insofern halte ich es für problematisch, wie Orend Kant als Vertreter der „just war theory“ zu bezeichnen. 69 Kant, Werke VI, 345 f. Das ist Kants „democratic peace proposition“, die sich in wesentlichen Punkten von Doyle und anderen unterscheidet; siehe Georg Cavallar, Kantian Perspectives on Democratic Peace: Alternatives to Doyle, Review of International Studies, 27 (2001), 229–48. 70 So die treffende Charakterisierung von Orend, Just War Theory, 350–2. 71 Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart (Freiburg i. B., München: Alber 1980), 31–66.
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zipien, sondern Differenzen im konkreten Urteilen bei unklaren Tatbeständen und Differenzen in der Gewichtung der verschiedenen Argumente. Unterzeichner des US-Manifests haben es sich nicht leicht gemacht, wie das Beispiel Michael Walzer zeigt. Walzer sprach sich gegen den zweiten Golfkrieg aus, kritisierte aber auch die Friedensbewegung, da sie Saddam Hussein nicht als Massenmörder anprangerte. Er sprach sich für „coercive measures short of war“72 aus, da er ein Nachgeben gegenüber Saddam für unmoralisch und kontraproduktiv hielt. „The way to avoid a big war is to intensify the little war that the United States is already fighting. It is using force against Iraq every day – to protect the no-flight zones and to stop and search ships heading for Iraqi ports. Only the American threat to use force makes the inspections possible – and possibly effective.“73 Walzer hielt diesen „kleinen Krieg“ zur Durchsetzung der Sanktionen für angemessener, praktikabler und moralisch legitimer als den später tatsächlich geführten „großen Krieg“, den zweiten Golfkrieg. Walzer war realistisch, was Inspektionen ermöglichte: die Androhung von Gewalt war unumgänglich. Damit denkt er wie viele US-Amerikaner, für die Gewalt als Mittel der Politik keine Grundsatzfrage ist, im Gegensatz zu den Europäern, die viel stärker in Richtung Pazifismus tendieren. Robert Kagan hat die transatlantischen Differenzen so beschrieben: „Europa wendet sich ab von der Macht, [. . .] betritt eine in sich geschlossene Welt von Gesetzen und Regeln, transnationalen Verhandlungen und internationaler Kooperation, ein posthistorisches Paradies von Frieden und relativem Wohlstand, das der Verwirklichung von Kants ‚Ewigem Frieden‘ gleichkommt. Dagegen bleiben die Vereinigten Staaten der Geschichte verhaftet und üben Macht in einer anarchischen Hobbesschen Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlass ist und in der wahre Sicherheit sowie die Verteidigung und Förderung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängen.“74 Das Bild ist sicher überzeichnet, trifft aber einen wahren Kern. US-Intellektuelle sind viel eher als Europäer von der Theorie des gerechten Krieges überzeugt; Walzer, aber auch Rawls sind gute Beispiele. Walzer betont, dass es tatsächlich gerechte Kriege gegeben habe, etwa den Krieg gegen 72
Michael Walzer, Against the War, in: Global Viewpoint, 29. Jänner 2003. Ders., What a Little War in Iraq Could Do, New York Times, 7. März 2003. 74 Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Berlin: Siedler 2003, 7. Siehe auch Ballestrem, Eine Theorie des gerechten Krieges, passim. 73
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das Dritte Reich.75 Symptomatisch für die europäische Haltung ist wohl das Gegenmanifest deutscher Intellektuellen und ihre Feststellung, „gerechter Krieg“ sei ein „unglückseliger historischer Begriff, den wir nicht akzeptieren“.76 US-Amerikaner sind viel eher bereit, Elemente des politischen Realismus oder den Pragmatismus in ihre Theorien zu integrieren. So kennen sowohl Rawls als auch Walzer Notlagen, in denen eine „dirty hands“-Politik legitimiert wird.77 Walzer – und auch das scheint mir typisch – gehört zu jenen US-amerikanischen Autoren, die voller Skepsis gegenüber der „global governance“ der UN sind und an einer Reform der internationalen Beziehungen im Sinne von Kants exeundum-Forderung offensichtlich wenig Interesse haben.78 Stehen sich also, wie das Robert Kagan nahelegt, auf beiden Seiten des Atlantiks ein Kantisches und ein Hobbessches „Modell“ internationaler Beziehungen gegenüber? Ich würde meinen, dass weniger Hobbes als vielmehr Autoren wie John Locke genannt werden sollten: Locke sieht nämlich internationale Beziehungen nicht als völlig anarchisch, er kennt gerechte Kriege, aber kein exeundum der Staaten.79 Damit können sich viele US-Intellektuelle anfreunden; Europäer haben sich seit 1914 wohl stärker von Locke, Vattel und den anderen (angeblichen) „leidigen Tröstern“ ab- und Kant zugewandt.
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Siehe Orend, Michael Walzer, 101 f. und 104 mit Belegen. Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens, 764. Vgl. Ballestrem, Eine Theorie des gerechten Krieges, 249: „Der ‚gerechte Krieg‘ hat einen schlechten Ruf in Deutschland“. 77 Rawls, Das Recht der Völker § 14.3 und Orend, Michael Walzer, 127–34. 78 Belege in Orend, Michael Walzer, 154 f., 168–179, 195. 79 Als Einführung siehe Howard Williams, John Locke and International Politics, in: ders., International Relations and the Limits of Political Theory (Houndmills et al.: Macmillan Press 1996), 90–109. 76
Der Sozialstaat als wahrer Staat? Hegels Beitrag zur politischen Soziologie Von Michael Opielka „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“ Margarete zu Faust. Goethe, Faust I, Vers 3415 „Damit aber ihr nicht mit mir zürnt . . ., muss ich euch um eines bitten: Lasst uns, auf beiden Seiten, jede Überheblichkeit ablegen. Lasst uns auf keiner Seite behaupten, wir hätten die Wahrheit schon gefunden. Lasst sie uns gemeinsam suchen, als etwas, das keiner von uns kennt.“ Augustinus, In Contra Epistulam Manichaei, (Kap. 3)1
Wahrheit, Metaphysik und Religion sind enge Verwandte und dem politischen Denken der Gegenwart schon deshalb verdächtig. Ein „wahrer“ Staat scheint der wissenschaftlichen Reflexion des Nachdenkens nicht mehr wert. Glauben und Wissen gelten als grundlegend verschiedene Erkenntnismodalitäten. Neuerdings wird dieser Zentraldualismus der Moderne wieder als das betrachtet, was er wohl ist: Eine dialektische Relation, eingebettet in weitere, zutiefst komplexe Systembeziehungen. Besonders Jürgen Habermas hat sich seitens des Modernitätsdenkens um das Gespräch mit jenen Vertre1 Was Augustinus nicht von einer klaren Parteinahme zugunsten der Zwei-Reiche-Lehre abhielt, einer Betonung der eschatologischen Botschaft des Christentums als Kritik der drei überlieferten Theologien, der mythischen, physischen und politischen (genus mythicon, physicon, civile), die Hans Maier als „Exorzismus am Staat“ pointierte (Hans Maier, 2003, Politische Theologie – neu besehen (Augustinus, De civitate Die VI, 5–12), in: Zeitschrift für Politik, 50 (2003), 4, S. 364). Hegel überwand den Augustinus-Maierschen Dualismus, so in § 552 der Encyclopädie: „Es ist nicht genug, daß in der Religion geboten ist: Gebt dem Kayser, was des Kaysers ist, und Gott, was Gottes ist; denn es handelt sich eben darum, zu bestimmen, was des Kaysers ist, d.i. was dem weltlichen Regimente gehöre; und es ist bekannt genug, was auch das weltliche Regiment in Willkühr sich alles angemaßt hat, wie seinerseits das geistliche Regiment. Der göttliche Geist muß das Weltliche immanent durchdringen (. . .).“ (Georg W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hauptwerke in 6 Bänden, Band 6, Hamburg 1999, S. 535).
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tern des von ihm selbst gern als „archaisch“ bezeichneten Lagers bemüht, zuletzt in einem öffentlichkeitswirksamen Dialog mit Joseph Ratzinger, vor dessen Wahl zum Papst. Zwar hat sich auch schon vor Habermas die Philosophie „zu einer Selbstreflexion auf ihre eigenen religiös-metaphysischen Ursprünge bewegen und gelegentlich in Gespräche mit einer Theologie verwickeln lassen, die ihrerseits Anschluss an philosophische Versuche einer nachhegelschen Selbstreflexion der Vernunft gesucht hat“.2 Einen Unterschied machen seine neueren, „nach“-nachmetaphysischen Schriften durch eine bislang nicht gekannte Demut: „Die Philosophie hat Gründe, sich gegenüber religiösen Überlieferungen lernbereit zu verhalten“3 – was eine Mentalität voraussetzt, „die in den säkularisierten Gesellschaften alles andere als selbstverständlich ist“,4 nämlich gegenüber der Religion „lernbereit und agnostisch zugleich“5 zu sein. Diese Perspektive einer die deutsche politische Philosophie und Soziologie revitalisierenden Hegelrezeption wirft zugleich einen frischen Blick auf alte Polaritäten. Habermas setzte sich in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung (1961) kritisch mit Joachim Ritters These der „Entzweiung“ von „Herkunft“ und „Zukunft“ auseinander,6 wonach Hegel zeitlebens die Notwendigkeit der Französischen Revolution bejaht habe, Philosophie und Staat zum Hüter der Entzweiung, der Nichtidentität erkläre und darin die moderne, bürgerliche Welt affirmiere.7 Dass Ritter als Philosoph der Bürgerlichkeit zum bürgerlichen Philosophen degradiert wurde und mit Hegel einige Jahrzehnte für kritisches Denken als nicht satisfaktionsfähig galt, 2 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: Ders./Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005, S. 28. Er meint dabei unter anderen Schleiermacher, Feuerbach oder Marx. Deren Versuche seien „immer noch sympathischer als jener Nietzscheanismus, der sich die christlichen Konnotationen von Hören und Vernehmen, Andacht und Gnadenerwartung, Ankunft und Ereignis bloß ausleiht, um ein propositional entkerntes Denken hinter Christus und Sokrates ins unbestimmt Archaische zurückzurufen“ (ebd., S. 30). 3 Ebd. 4 Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2005, S. 145. 5 Ebd., S. 149 6 Dazu Odo Marquardt, Nachwort: Positivierte Entzweiung. Joachim Ritters Philosophie der bürgerlichen Welt, in: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/M. 2003, S. 454. 7 Odo Marquardt resümiert die Einigkeit von Hegel und Ritter: „ ‚Entzweiung‘ ist das letzte Wort über die moderne, die bürgerliche Welt, ein positives Wort. Das ist weniger als die Weltverbesserer fordern, es ist mehr, als die Kassandren fürchten: Die moderne – bürgerliche – Welt ist weder Paradies noch Inferno, sondern geschichtliche Wirklichkeit. Sie ist nicht der Himmel auf Erden und nicht die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden.“ (ebd., S. 450).
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sollte erinnert werden, um die Tiefenschicht der Metaphysik- und Religionsdestruktion nicht zu vergessen. Was könnte die politische Soziologie heute gewinnen, wenn sie Hegels religiöse Begründung des „wahren Staates“ zur Kenntnis nimmt?8 In der Begründung des modernen Staates scheint gegen den mainstream einer materialistischen und verkürzt rationalistischen Hegelkritik Hegels ursprüngliche Intention wesentlich: Der „wahre Staat“ als das Reich bzw. die Idee der Freiheit. Aus der Rehabilitierung des Hegel’schen Wahrheitsbegriffs und dem daraus resultierenden, geisteswissenschaftlich erweiterten Staatskonzept kann ein Beitrag zu einer sozialphilosophisch fundierten Theorie der Sozialpolitik folgen. Hegel hat sich in seiner systemtheoretisch angelegten Gesellschaftstheorie mit den drei bis heute zentralen Dimensionen der Sozialpolitik beschäftigt: Familie, Arbeit (als Konstituens der „bürgerlichen Gesellschaft“) und Staat. Die These lautet, dass Hegel methodologisch grundlegend ist für eine moderne Gesellschaftstheorie und damit eine Theorie der Sozialpolitik. Eine moderne Auffassung von Gerechtigkeit und Verteilung darf hinter Hegels rekonstruktiven Pragmatismus nicht zurückfallen. I. Die Wirklichkeit des Geistigen Jede Gesellschaftstheorie steht vor dem Problem, die Legitimierung der Gesellschaft durch die Gesellschaft begrifflich zu fassen. Sie wird deshalb auch den Legitimierungsstrategien einen systematischen Ort zuweisen müssen, deren Bezugssystem außerhalb der Gesellschaft liegt. Denn neben einer rein gesellschaftsimmanenten Begründung letzter Werte – ein Beispiel dafür ist die gemeinschaftliche oder „kommunitäre Religion“ des Konfuzianismus – sind drei weitere Begründungsformen denkbar, die gleichfalls als „Religionen“ (im Sinne von Rück-Bindung – religio – an Letztwerte) bezeichnet werden können:9 die „materialistische Religion“, deren Bezugssystem die 8 Nur selten wurde Hegel in die eigentliche soziologische Tradition eingeordnet, beispielsweise bei Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie 1, 2. Aufl., Opladen 1981, S. 144 ff. oder in einem weiteren Sinne von Soziologie als „Gesellschaftslehre“ bei Eckart Pankoke, Gesellschaftslehre, Frankfurt/M. 1991, S. 1046 ff. Demgegenüber wird Hegel durchaus in die Klassiker der politischen Wissenschaften gereiht. Dafür spricht, dass Hegels Begriff von Sozialität mit demjenigen des (politisch definierten) Rechts konvergiert, manche sprechen übertreibend gar von „Ineinssetzung“ (z. B. Johannes Heinrichs, Reflexion als soziales System. Zu einer Reflexions-Systemtheorie der Gesellschaft, Bonn 1976, S. 142). Ausführlicher zum Folgenden vgl. Michael Opielka, Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons, Wiesbaden 2004, v. a. S. 378 ff. 9 Dazu v. a. § 554 der Encyclopädie: „Die Religion, wie diese höchste Sphäre im Allgemeinen bezeichnet werden kann, ist eben so sehr als vom Subjecte ausgehend und in demselben sich befindend als objectiv von dem absoluten Geiste ausgehend
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sinnlich-empirische Welt ist, die „psychologische“ oder „subjektive Religion“, die das Subjekt zum Bezugssystem wählt, und schließlich die „spirituelle Religion“, die von einer – wie es Talcott Parsons formulierte – „ultimate reality“ ausgeht, einer Wirklichkeit des Geistigen.10 Insoweit die Soziologie, wie jede Wissenschaft, eine Phänomenologie ihres Gegenstandes zu entwickeln hat, kommt sie nicht umhin, zugleich dessen Logik zu rekonstruieren, damit auch kategoriale Aussagen zu formulieren. Während die drei erstgenannten Religionstypen – die materialistische, die psychologische und die kommunitäre – hinsichtlich ihres Gegenstandes dem common sense der zeitgenössischen Sozialwissenschaften geläufig scheinen und im „methodologischen Agnostizismus“11 der modernen Religionssoziologie zunehmend als „Religionen“ untersucht werden, ist dies mit der Religion, die diesen Begriff üblicherweise erhält, keineswegs der Fall. Die hier als „spirituelle Religion“ bezeichnete Legitimierungsstrategie der Gesellschaft – man könnte sie auch als „metaphysische Religion“ benennen – gilt im nachmetaphysischen Zeitalter als überkommen. In seinem 1802 in Jena verfassten Text „Glauben und Wissen“ hat Hegel die Unzugänglichkeit des theologischen Gegenstandes – „das Unendliche“, „Gott“, „höchste Idee“ – für die Philosophie der Aufklärung, namentlich für Kant und Fichte problematisiert.12 Dieser Philosophie bleibe, sofern sie zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist.“ (Hegel, Anm. 1, S. 542) Zu diesem zugleich konstruktiven (vom Subjekt ausgehenden) wie rekonstruktiven (vom „absoluten Geist“ ausgehenden) Religionskonzept vgl. auch Hans Friedrich Fulda, G. W. F. Hegel, München 2003, S. 249. 10 Vgl. Michael Opielka, Religion vs. Kultur. Soziologische Analysen zu modernen Wertkonflikten, Bielefeld 2006. Zum Zusammenhang von Gesellschaft und (gesellschaftsexternem) Kultursystem vgl. Talcott Parsons, Introduction (Part Four – Culture and the Social System), in: Ders. et al. (eds.), Theories of Society. Foundations of Modern Sociological Theory, New York/London 1961, S. 963–993. 11 Vgl. Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin/New York 1999, S. 14. 12 Der dritte Adressat seiner Kritik ist die „Jacobische Philosophie“: „sie verlegt den Gegensatz und das absolut postulirte Identischseyn in die Subjectivität des Gefühls, als einer unendlichen Sehnsucht und eines unheilbaren Schmerzens.“ (Georg W. F. Hegel, Glauben und Wissen. Oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: Ders., Hauptwerke in 6 Bänden. Band 1, Hamburg 1999, S., S. 321). Der zu Hegels Zeit bedeutsame Friedrich Heinrich Jacobi war lange als „Glaubensphilosoph“ vergessen, erst neuerdings wird seine Rolle in der idealistischen Philosophie wieder gewürdigt, z. B. bei Birgit Sandkaulen, Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000. Der Gedanke des „Sprunges“, des in seinen Spinozabriefen „Salto Mortale“ genannten „Umschwung in der Luft“ – von der wissenschaftlichen Philosophie zum Glauben –, markiert zugleich eine uns Heutigen allzu subjektive Denkbewegung: „Der Unterschied zwischen Hegel und mir bestehet darin, daß er über den Spinozismus (. . .), (der) auch ihm das letzte, wahrhafte Resultat des Denkens ist, auf welches jedes consequente Philosophiren führen muß, hi-
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die Sphäre des Glaubens nicht ohnehin als irreal verwirft, keine Möglichkeit des Erkennens, „so daß (. . .) dieser unendliche Raum des Wissens nur mit der Subjectivität des Sehnens und Ahndens erfüllt werden kann; und was sonst für den Tod der Philosophie galt, daß die Vernunft auf ihr Seyn im Absoluten Verzicht thun sollte, sich schlechthin daraus ausschlösse und nur negativ dagegen verhielte, wurde nunmehr der höchste Punct der Philosophie“.13 So bliebe ein „unerkennbarer Gott, der jenseits der Grenzpfähle der Vernunft liegt“.14 Konzentriert man das Theodizee-, Wahrheits- und Sozialbegründungsproblem auf die Frage nach der wirklichen Existenz des Geistigen, so lassen sich drei Antwortstrategien beobachten. Die erste, „konservative“ Deutung besteht in einer Metaphysierung des Sozialen und insbesondere des Staates. Faktisch handelt es sich um eine Verlängerung des platonischen Idealismus, die Hegel in eine politische Theologie integriert, beispielsweise bei Eric Voegelin, Carl Schmitt oder Leo Strauss. Inwieweit auch der Linkshegelianismus einer Art materialistischer Theodizee anhängt und eine innerweltliche Metaphysik verfolgt, ist immer wieder diskutiert worden. Wichtig an der Strategie der Metaphysierung des Sozialen dürfte ihr kollektivistischer Bias sein, ihr Problem, die Freiheit des Subjekts mit der Entwicklung des sozialen Geistes dialektisch zu denken, damit ihre Anfälligkeit für totalitaristische Staatsvergötzung.15 Eine entgegengesetzte, vor allem an Kant anschließende Deutungsstrategie ist die Semantisierung des Geistes. In seiner sich an Hegels teils polemischen Äußerungen befriedigenden Antrittsvorlesung in Berlin hat Herbert Schnädelbach deren Ausgangspunkt prototypisch markiert: „Hegels Lehre nauskommt zu einem System der Freiheit, auf einem nur noch höheren, aber gleichwohl demselben (also im Grunde auch nicht höheren) Wege des Gedankens – ohne Sprung; ich aber nur mittelst eines Sprunges“ (Jacobi, Briefwechsel 1825–1827, zit. in ebd., S. 14). 13 Hegel (Anm. 12), S. 316. 14 Ebd., S. 319. 15 Allein in Bezug auf diese Deutungsstrategie ist die in der geistigen Linie Poppers stehende, Hegel-feindliche Studie von Topitsch erhellend, vgl. Ernst Topitsch, Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, 2. Aufl., München 1981. Elmar Holenstein hat in der Ergänzung von Hans-Georg Gadamers Laudatio zur Verleihung des Hegel-Preises 1982 an Roman Jakobson eine erhellende Konfrontation des (sprach-)analytischen Wiener Kreises (zu dem Popper rechnet) und des auf Hegel setzenden Prager Kreises (um Jakobson) skizziert: „Das Ideal einer universalen Einheitswissenschaft versuchten die Wiener durch eine Reduktion der kulturellen, psychologischen und biologischen Phänomene auf deren physikalisches Substrat zu erreichen. Den Pragern war die Autonomie der einzelnen Schichten ebenso teuer wie deren Integration in eine Hierarchie von aufeinander fundierten Gesetzmäßigkeiten.“ (Elmar Holenstein, „Die russische ideologische Tradition“ und die deutsche Romantik, in: Roman Jakobson/Hans-Georg Gadamer/Ders., Das Erbe Hegels II, Frankfurt/M. 1984, S. 118).
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von der Wahrheit ist in ihrem Kern spekulative Theologie als intellektueller Gottesdienst; sie gehört in die Geschichte des Christentums.“16 Was für Theologen als Kompliment gelten könnte, ist hier als Fundamentalkritik gedacht: „Wir müssen erkennen, daß Hegels Lehre von der Wahrheit ein intellektueller Traum ist, der dort, wo er immer noch geträumt wird, den philosophischen Alptraum einer sich selbst dementierenden Vernunft mit sich führt.“ Richtig wäre deshalb, so Schnädelbach, ein „Abschied vom Idealismus“, denn: „Die Realität aber ist die Endlichkeit der Vernunft, an die die träumende Vernunft erinnert werden muß.“17 Es handele sich um eine „gottverlassene Welt“, aber philosophisch sei ein „Äquivalent“ in Sicht, nämlich die „kommunikative Einheit der Vernunft“.18 Schnädelbach schließt unmittelbar an Apel und Habermas an und damit an einen Strom des „nachmetaphysischen“ Denkens, der insoweit noch innerhalb der hier behandelten Deutungen steht, als er das Problem des Geistes sieht. Die Antwort der Semantisierung will das Geistige als Endliches denken, belässt es mit einer semiotischen oder ästhetischen Überwölbung zumindest einer vagen, insoweit unscharfen Unendlichkeitsoption.19 Explizit spricht Habermas in seinem Hauptwerk von der „Versprachlichung des Sakralen“,20 die er definiert als „die Umstellung der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation von Grundlagen des Sakralen auf sprachliche Kommunikation und verständigungsorientiertes Handeln“.21 An die Stelle der Autorität des Heiligen tritt diejenige des Konsenses: „Die Aura des Entzückens und Erschreckens, die vom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und veralltäglicht.“22 Das Geistige scheint in dieser Sicht in die Sprache eingewandert – gleichwohl unvollständig. Ende 2001 deutete Habermas in einer weit beachteten Schrift mit dem Hegel’schen Titel „Glauben und Wissen“ an, dass seine „Nachmetaphysik“ unter dem Vorbehalt des in Hegels Sinne Unwissenschaftlichen stehen könnte, wenn es 16 Herbert Schnädelbach, Hegels Lehre von der Wahrheit. Antrittsvorlesung Humboldt-Universität zu Berlin, Ms. 1993, S. 16. 17 Ebd., S. 20. 18 Ebd., S. 21 f. 19 Besonders deutlich beispielsweise bei Axel Honneth, der zwar den „ontologischen Begriff des Geistes“ für „völlig unverständlich“ hält (Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegel’schen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001, S. 12), sich dann aber mit einer „rationalen Rekonstruktion des ‚objektiven Geistes‘“ (ebd., S. 16) begnügt, ein Vorhaben, das das Thema des „absoluten Geistes“, also des Religiösen, nicht einmal semantisiert, sondern schlicht umgeht. 20 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, Frankfurt 1981, S. 118. 21 Ebd., S. 163. 22 Ebd., S. 119
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um Sinn und um das Menschsein selbst geht: „Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann.“23 Ob der Verweis auf die religiöse „Intuition“ des „methodischen Atheisten“ mehr als vage Semantik bietet, ist noch offen. Die dritte Antwort auf die Existenz des Geistigen gab Hegel selbst. Man könnte sie in heutigen Begriffen als Sozialisierung des Geistigen fassen, als ein Hereinziehen des Geistigen in die sozialen Prozesse selbst. Hegels Antwort findet sich zunächst in der „Phänomenologie des Geistes“ aus dem Jahr 1807, deren Intention er bis zuletzt verteidigte.24 Material und zugleich methodisch weist die „Phänomenologie des Geistes“ auf Intersubjektivität und freie Andersheit, zunächst als gegenseitige Negation zweier Freiheiten (Herr-Knecht-Verhältnis), also nicht als ursprünglich positive Andersheit: „Am Schluss der logisch-phänomenologischen Entwicklung steht jedoch die verzeihende Versöhnung, somit die Positivität von Freiheiten füreinander und ihre Vermittlung in der Einheit des Begriffs. Die positive Unmittelbarkeit der Freiheit erscheint also als eine höhere und höchste Vermittlungsstufe ursprünglich negativer Andersheit.“25 Die Konkretisierung der Dialektik im Intersubjektiven sozialisiert die Bewegung des Geistes in der Sphäre der Objektivität. Auch deshalb ist die „Kritik an dem angeblich bloß monologischen Vernunftbegriff bei Hegel unhaltbar“,26 ist die „Form der Ver23 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt/M. 2001, S. 30. Charles Taylor erinnert in Auseinandersetzung mit William James daran, dass die religiöse Erfahrung am Beginn der Religion stehe, ihre soziale Institutionalisierung sei sekundär, vgl. Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt/M. 2002. Ohne ein gewisses „Virtuosentum“ wäre eine Kommunikation über Religion nicht möglich. Jacobis „Sprung“, auf den weiter oben Bezug genommen wurde, meint etwa diesen Vorgang, vgl. Sandkaulen (Anm. 12), S. 23 ff. 24 Die Behauptung von Habermas, der „späte Hegel“ habe „die Hoffnung auf die konkrete Allgemeinheit jener öffentlichen Religion (. . .) aufgegeben“ (Jürgen Habermas, Zu Max Horkheimers Satz: „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt/M. 1991, S. 129) entkräftet dies nicht, unabhängig von ihrer Richtigkeit. 25 Johannes Heinrichs, Die Logik der ‚Phänomenologie des Geistes‘, 2. Aufl., Bonn 1983, S. 524. Dies lässt sich auch in der symbolischen Repräsentation des absoluten Geistes lesen, die Hegel vor allem in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ erörtert, und zwar in den Kulten und Ritualen der Religionen, die in ihrer äußeren Handlungsform soziale Praxis bilden, vgl. Günther Dellbrügger, Gemeinschaft Gottes mit den Menschen. Hegels Theorie des Kultus, Würzburg 1998. Ähnlich argumentierend, dass „Intersubjektivität und Reflexion zusammengedacht werden“ müssen, vgl. Vittorio Hösle, Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2. erw. Aufl., Hamburg 1998, S. 264. 26 Pirmin Stekeler-Weithofer, Verstand und Vernunft. Zu den Grundbegriffen der Hegelschen Logik, in: Christoph Demmerling/Friedrich Kambartel (Hrsg.), Ver-
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nunft (. . .) freie Intersubjektivität“.27 Das Hegel’sche Projekt einer „neuen Religion“, einer „Vernunftreligion“, die das Unendliche auf den Begriff bringt, könnte mit der Deutung einer Sozialisierung des Geistes insoweit aktualisiert werden, als es die Eingangsüberlegung verschiedener berechtigter Religionstypen einschließt. Die Differenz zum unendlichen Weltgrund drückt sich auch darin aus, dass er mit bedingt und nicht nur Intersubjektivität und Historizität.28 Man könnte auch von einer Durchgeistigung des Sozialen sprechen – und dabei an den Pragmatisten John Dewey erinnern, der Säkularisierungstendenzen nicht als Verfallsgeschichte deutete, sondern als Universalisierung christlicher Impulse, und das „demokratische Ideal“ als „spirituelles Ideal“ las.29 Schließlich bietet sich noch eine vordergründig unsoziologische Lesart dieser dritten Bewegung der „Sozialisierung des Geistigen“. Sie nimmt ihren Ausgang am Leitbegriff der Moderne, der „Subjektivität“ in ihrer für Hegel doppelten Bedeutung: als Für-Sich-Sein im Wissen, als Selbstbewusstsein, wie als Selbstbestimmung, „und zwar nicht nur im subjektiven Willen, sondern als der formale Prozeß, in den ein Einiges sich aus sich selbst heraus entfaltet und das, was es ausmacht, bis zur vollständigen Konkretion aus sich heraus setzt“, so Dieter Henrich in seiner Dankesrede zur Verleihung des Hegel-Preises 2003, doch weiter: „Indem die Kontemplation des Ewigen nunmehr die Selbstbestimmung der Subjektivität in sich einbegreift, ist das Ewige dem Zeitlichen nicht mehr entrückt und entgegengestellt“.30 Der Welteinzug des Ewigen hat soziologische Relevanz, auf die nunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik, Frankfurt/M. 1992, S. 142. 27 Ebd., S. 183. 28 Wenn Wolfgang Welsch in seiner Jenaer Antrittsvorlesung eine Konvergenz der modernen analytischen Philosophie mit Hegel ausmacht, dann zunächst um den Preis einer Verschiebung dieses Streits um die Wirklichkeit des Geistigen, vgl. Wolfgang Welsch, Hegel und die analytische Philosophie. Über einige Kongruenzen in Grundfragen der Philosophie, in: Kritisches Jahrbuch der Philosophie, 8 (2003), S. 11–73. 29 Vgl. John Dewey, A Common Faith (1934), New Haven/London 1976, S. 84. Hans Joas kritisiert, unter Berufung auf Charles Taylor, den „gemeinsamen Glauben der Menschheit“ des Atheisten Dewey, dessen „Spiritualisierung der Demokratie“ als „leeren Universalismus des Demokratischen, dessen Motivationskraft unerfindlich bleibt“ (Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1997, S. 193). Entgegen der Annahme von Joas dürfte diese nur formale geistige Intersubjektivität bei Dewey mit dessen Abwendung von Hegel in engster Verbindung stehen: „Dewey had become convinced that both the Christian religion and Hegel’s philosophy were tainted with a preference for eternity over time – a preference which, like Marx, he thought inimical to social progress“, so Richard Rorty, Some American Uses of Hegel, in: Wolfgang Welsch/Klaus Vieweg (Hrsg.), Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht, München 2003, S. 35.
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– in seiner Laudatio auf Henrich – Volker Gerhardt aufmerksam macht: „Das Selbstbewusstsein ist nämlich in seinen eigenen Vollzügen auf eine Ordnung angewiesen, die es mit den Dingen, ihren wechselseitigen Relationen und dem Selbstbewusstsein der anderen teilt. Die so genannte Innenwelt der Subjektivität befindet sich nicht nur in einer Strukturanalogie zur so genannten äußeren Welt, sie teilt sich mit ihr vielmehr das, was ihr selber wesentlich ist, nämlich ihre ‚Verkörperung‘ “.31 Am Ende des ersten und zugleich komplexesten Phänomenbereichs, der Frage nach der Wirklichkeit des Geistigen und so der Frage, wie das heutige Denken – als Religions- und Wissenssoziologie wie als Gesellschaftstheorie – eine geistige Wirklichkeit als Bezugssystem von Letztwertbegründungen auf den Begriff bringen kann, stießen wir auch innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses auf eine dialektische Bewegung: Metaphysierung des Sozialen, Semantisierung des Geistigen und Sozialisierung des Geistigen. Eine allgemeine soziologische Position kann sich nicht nur auf eine der Deutungen beziehen. Empfehlenswert erscheint vielmehr eine methodische Perspektive, die die verschiedenen Deutungen letzten Sinns beziehungsweise letzter Werte als Deutungen des Religiösen berücksichtigen kann.
30 Dieter Henrich, Kontemplation und Erkenntnis. Dankesrede, gehalten anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.11.2003, S. 41. 31 Volker Gerhardt, Das Subjekt ist die Substanz. Laudatio auf Dieter Henrich. Zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart am 26. November 2003, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52 (2004), 1, S. 55. Mit dem Begriff „Verkörperung“ zitiert Gerhardt Henrich. Angesichts dieser gegenüber Hegel emphatischen Laudatio bedauert man, dass in Gerhardts jüngeren Büchern zu „Selbstbestimmung“ (1999) und „Individualität“ (2000) auf Hegel kein Bezug genommen wird. Dass die Emphase freilich gebrochen einkommt, macht Henrich im eröffnenden Beitrag eines der Aktualität Hegels gewidmeten Jenaer Bandes sichtbar: Ein Text, der – in nach meiner Auffassung bislang unübertroffenen Weise – Hegels Konzept des all-einen Absoluten rekonstruiert – um am Ende fast furchtsam gegenüber dem nun dargestellten großen Denken zu wirken, fürchtend es könnte sich um eine „bloße Projektion im Denken“ handeln, „wieso sie uns Unbedingtes als wirklich erschließen kann“ – was es freilich für eine Wissenschaft schwer machen würde, „die zu den entwickelten Wissenschaften der Zeit den Anschluß halten und die deshalb an deren ausgenüchterter Einstellung teilhaben will.“ (Dieter Henrich, Erkundung im Zugzwang. Ursprung, Leistung und Grenzen von Hegels Denken des Absoluten, in: Welsch/Vieweg (Anm. 29), S. 30, 31). Warum aber erscheint „Ausnüchterung“ erforderlich? Warum diese implizite Verbeugung vor den Hegelverächtern, die als „Gedankenpoesie“ denunzieren, was sie als Rhetorik nicht dechiffrieren können – und vielleicht, aus Ressentiment oder Furchtsamkeit gegenüber dem Tiefengrund des Religiösen, nicht wollen?
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II. Der wahre Staat Neben seiner geisteswissenschaftlichen Wahrheitstheorie ist Hegels Staatstheorie nach wie vor der zweite Rubikon eines Denkens nach ihm. Ohne Nachvollzug der dialektischen Theorie des Geistes bleiben zentrale Sätze mystisch: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee (. . .) An der Sitte hat er seine unmittelbare, und an dem Selbstbewusstsein des Einzelnen, dem Wissen und der Tätigkeit desselben seine vermittelte Existenz, sowie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat.“32 Im Nachvollzug freilich gewinnt Hegels Theorie des Staates eine geradezu atemberaubende Modernität. Was soll der Staat? In der Einleitung zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ erklärt Hegel dessen Begründung als Reich der Freiheit: „Dies, dass ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee.“33 Ein „wahrer Staat“ ist derjenige, der dieser Bestimmung folgt: „Dahingegen besteht die Wahrheit im tieferen Sinn darin, daß die Objektivität mit dem Begriff identisch ist. Dieser tiefere Sinn der Wahrheit ist es, um den es sich handelt, wenn z. B. von einem wahren Staat oder von einem wahren Kunstwerk die Rede ist. Diese Gegenstände sind wahr, wenn sie das sind, was sie sein sollen, d.h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. So aufgefaßt ist das Unwahre dasselbe, was sonst auch das Schlechte genannt wird.“34 Bevor der Versuch für ein Verständnis der Hegel’schen Staatstheorie an diesem Kern unternommen werden kann, gilt es auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Argument zu entkräften, bereits dieser Versuch erfolge „nur um den Preis der Unterbietung unserer nachmetaphysischen Rationalitätsstandards“. So lautet jedenfalls das Honneth’sche Verdikt gegen einen Versuch, die Rechtsphilosophie „gemäß ihrer eigenen methodischen Standards zu aktualisieren und dabei zugleich den Hegel’schen Staatsbegriff zu rehabilitieren“. Honneth begnügt sich „nachmetaphysisch“ und insoweit als Schüler von Habermas mit einem „bescheidenerem Ziel“, für das „weder der substantialistische Staatsbegriff noch die operativen Anweisungen der ‚Logik‘ eine erklärende Rolle spielen“.35 Denn „weder der Staatsbegriff Hegels noch sein ontologischer Begriff des Geistes scheinen mir heute noch in irgendeiner Weise rehabilitierbar zu sein“.36 Nun mag mancher angesichts 32
Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Hauptwerke in 6 Bänden, Band 5, Hamburg 1999, S. 207 f. (§ 257). 33 Ebd., S. 45 (§ 29). 34 Georg W. F. Hegel, Werke in 20 Bänden. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1970, S. 369 (Zusatz zu § 213 der Encyclopädie, in Hegel, Anm. 1, S. 215 f. nicht enthalten). 35 Honneth (Anm. 19), S. 13.
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einer verzerrten und hoch kontroversen Hegel-Rezeption37 einen Rehabilitations-Impuls verspüren. Hegel-gemäßer erscheint der nüchterne Blick auf den Wahrheits- oder zumindest evaluativen Gehalt jener auch von Honneth diskreditierten Annahmen. Immerhin sieht selbst Honneth als „Gefahr“ seines Aktualisierungsversuches, „die eigentliche Substanz des Werkes aus den Augen zu verlieren“.38 Demgegenüber legte Karl-Heinz Ilting die wohl subtilste Analyse von Hegels Staats- und Rechtstheorie vor.39 Während die antike Polistheorie nicht mit dem Grundsatz begann, das Individuum als Träger von Rechten zu begreifen, sondern als gemeinschaftsgebundenes Wesen, dessen Gemeinschaft nicht als den Ansprüchen des Individuums entgegengesetzt aufgefasst werden dürfe, müssen in der Moderne beide Grundsätze vereinbart werden können. Die platonische „Idee des Guten“ als vorindividualistisches, gleichwohl republikanisches Gemeinschaftsdenken erscheint Hegel letztlich harmonistisch und obsolet. Das mag als eine wohlwollende Deutung zurückgewiesen werden, zumal seine Idee der „Sittlichkeit“ durchaus mit einer Idealisierung des antiken politischen Lebens einher kommt. Doch das Wohlwollen findet seinen Halt, wenn wir Hegels Theorie als Suche lesen nach „einer Antwort auf die Frage, wie sich unter den Bedingungen der Moderne die sozialmoralischen Grundlagen einer Republik reproduzieren lassen.“40 36
Ebd., S. 14. Zum aktuellen Überblick Fulda (Anm. 9), S. 305 ff. und Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Weimar 2003, S. 501 ff. 38 Honneth (Anm. 19), S. 14. 39 Karl-Heinz Ilting, Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Manfred Riedel (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Band 2, Frankfurt/M. 1975, S. 52–78. Zu einer ausführlicheren Diskussion im Anschluss an Ilting vgl. Michael Opielka, Glauben und Wissen in der Politik. Zu einigen Folgen Hegels in der politischen Soziologie moderner Wohlfahrtsstaaten, in: Andreas Arndt u. a. (Hrsg.), Hegel Jahrbuch 2005. Glauben und Wissen – Dritter Teil, Berlin 2005, S. 42 ff. 40 Karsten Fischer, Die Tugend, das Interesse und der Weltlauf. Hegel jenseits des Etatismus, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2002, S. 117. Ilting fragt, warum sich Hegel in der „Rechtsphilosophie“ nicht Rousseaus Überwindung der liberalistischen Staatsauffassung und sein Ideal eines demokratischen Staates zu eigen macht. Neben möglichen opportunistischen Erwägungen betrifft „Hegels ausdrücklich erhobener Einwand gegen Rousseaus Staatsauffassung (. . .) indes die Radikalität, mit der in Rousseaus demokratischem Staat alle sozialen und politischen Verhältnisse auf politische Entscheidungen zurückgeführt werden sollen. (. . .) Dieser Auslöschung des Individuums in der radikalen Demokratie stellt Hegel das Postulat entgegen, die Freiheit des Individuums mit der Kraft der Gemeinschaft zu verbinden. (. . .) Der Staat soll zwar den Sphären des Privatrechts und des Privatwohls, der Familie und der Bürgerlichen Gesellschaft Grenzen setzen; aber grundsätzlich soll er in diese Sphären nicht hineinwirken und sie den autonomen Individuen überlassen. Hegels Staat soll also, im Gegensatz zu Rousseaus radikaldemokratischer Demokratie, nicht totalitär sein.“ (Ilting, Anm. 39, S. 66 f.). 37
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Subjektivität und „Substanzialität“ (die Idee der Gemeinschaft) sollen für Hegel im modernen Staat so vereinigt werden, dass beide voll zur Geltung kommen und einander ergänzen. Das ist für Ilting der „Kern der Hegel’schen politischen Philosophie“.41 Wer Hegel eine „Vergöttlichung des Staates“ vorhält, müsste ihm zugleich eine „Vergöttlichung des Individuums“ vorhalten. III. Die Wahrheit des Sozialstaats Der moderne Staat ist ein Sozialstaat. Ist dieser Sozialstaat in unserer Epoche ein „wahrer Staat“, der die Zeit der Idee des Staates folgend auf den Begriff bringt? Man wird dies mit Hegel und seinem Verzicht auf idealstaatliche Utopien, von denen er als Chimären und Hirngespinsten spricht, so sehen können. Insbesondere in seiner politischen Ökonomie wird der Zusammenhang von Wirtschaftsleben und staatlicher Ordnung als sittlicher und insoweit auf eine die Freiheit des Subjekts zu zielender formuliert, dessen Verwirklichung die logische Eigenständigkeit des Staates – man könnte sagen: gerade auch als Sozialstaat – gegenüber der vertragstheoretisch begründeten bürgerlichen Gesellschaft als Sphäre des wirtschaftlichen Egoismus fordert.42 Gleichwohl konnte Hegel eine Theorie des Sozialstaats noch nicht gelingen. Der Grund dafür liegt zum einen in der Damaligkeit seiner Analysen, denen staatliche Interventionen in den Wirtschaftsprozess mit sozialpolitischen Zielsetzungen kaum bekannt waren. In den §§ 240–245 der Rechtsphilosophie skizziert er diese Möglichkeiten entlang der Frage der Zwangsintervention in die Familie (§ 240), der Armutsbekämpfung (§§ 240 f.) und der Heranziehung der „reicheren Klasse“ zugunsten der „der Armut zugehenden Masse“ (§ 245). Hier freilich kann sich Hegel eine sozialpolitische Umverteilung mangels Masse noch nicht vorstellen: „Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermasse des Reichtums die bürgerliche Gesell41
Ebd., S. 67 f. Vgl. Manfred Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1970, S. 75 ff.; Gerhard Göhler, Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Schriften. Kommentar und Analyse, in: Georg W. F. Hegel, Frühe politische Systeme, Berlin 1974, S. 337–610. In der Tradition der marxistischen Kritik des Privateigentums hält Stepina gegen Hegel an, dass dieser zwei Begriffe von Eigentum konfundiere, den Begriff des durch selbständige, letztlich ideell definierte Arbeit definierten Eigentumsbegriff an sich und den letztlich egoistischen Begriff des Privateigentums für sich, der auch die Aneignung der Leistung fremder Arbeit einschließt (vgl. Clemens Stepina, Handlung als Prinzip der Moderne, Wien 2000, Kap. III). In der Tat opfert Hegel die auf Gleichheit zielenden normativen Grundsätze seiner Rechtsphilosophie zunächst dem rekonstruktiven Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft als Sphäre der Egoität. 42
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schaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermasse der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“43 Allerdings macht er auch sittliche – die Konstruktionslogik der „bürgerlichen Gesellschaft“ betreffende – Einwände geltend. Denn würden die Armen öffentlich unterhalten, „so würde die Subsistenz der Bedürftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre wäre.“44 Ein zweiter Grund für die Hegel’sche Zurückhaltung dürfte darin zu sehen sein, dass die staatliche Regulierung der Wohlfahrtsproduktion auch im gemeinschaftlichen System der Gesellschaft, vor allem der Familie, zu jener Zeit noch nicht einmal angedacht war. Noch bis in die jüngste Zeit schien der moderne Sozialstaat vor allem durch zwei eng verbundene funktionale Zusammenhänge bestimmt: einerseits durch seine Funktion, die „Verlohnarbeiterung“ (Claus Offe) sicherzustellen und zugleich durch „Dekommodifizierung“ der Arbeitskraft, also durch die Minderung der Marktabhängigkeit der auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft Angewiesenen mittels sozialpolitischer Leistungssysteme, dem Marktprozess eine soziale Demokratie einzuschreiben; anderseits durch seine Herstellung von „Massenloyalität“, also durch die staatliche Sicherung arbeitsmarktexterner Existenzsicherungsoptionen, zugleich die Sphäre des Politischen zu befrieden wie sie kontinuierlich im Innern der Gesellschaft zu befestigen.45 Seit den 1980er Jahren zeichnet sich nun ab, dass neben den Zusammenhang von Wirtschaft und Sozialstaat ein zweiter Begründungszusammenhang tritt: Demographische Trends – die Zunahme der Älteren und Pflegebedürftigen und die Abnahme der Geburtenraten – sowie die Tatsache, dass die so genannte reproduktive Leistung der Familie nicht mehr umstandslos vorausgesetzt werden kann, haben in den modernen Sozialstaaten zu neuen Akzentsetzungen geführt, die von vielen Beobachtern als Boten eines erweiterten Sozialpolitikverständnisses gedeutet werden. Die Familie und überhaupt die Förderung von voluntaristischen Gemeinschaften, von bürgerschaftlichem Engagement, werden neben der Sicherung lohnarbeitsbezogener Risiken zu neuen Politikfeldern. Man spricht von der Pflege des „sozialen Kapitals“, von Vertrauen, 43
Hegel (Anm. 32), S. 201. Ebd. 45 In vergleichender Hinsicht wird die komplexe „sittliche“ Voraussetzung dieser Funktion evident, beispielsweise im europäischen Einigungsprozess: Die sozialpolitischen Leistungsstrukturen bedürfen einer komplexen sozialkulturellen Wertsituation, vgl. Michael Opielka, Soziale Verfassungswerte. Die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates als Projekt Europas, in: Helmut Heit (Hrsg.), Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU?, Münster/Hamburg 2006 (i. E.). 44
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Moral, kurz von dem, was bei Hegel mit dem Begriff der „Sittlichkeit“ gefasst wird. Am Beginn des 21. Jahrhunderts werden die drei für Hegel zentralen Sphären – Familie, Bürgerliche Gesellschaft und Staat – wenngleich in modifizierter Form zu sozialpolitischen Arenen.46 Bereits Hegel führte und die heutige Globalisierung der Wirtschaft führt es nachdrücklich vor Augen, dass die soziale Ungleichheit der Personen das konstitutive Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft ist: „Es ist Aufgabe des Staates, für das erforderliche Maß an Gleichheit zu sorgen, das jedoch bei Hegel nicht näher bestimmt wird“, wie Kaufmann zutreffend erinnert.47 Mehr als der eher topographische Blick der modernen systemtheoretischen Soziologie dürfte hier Hegels wahrheitstheoretische Perspektive als ethische Reflexionshilfe dienen. Ob man hier Luhmann folgen muss: „Für einen Soziologen ist das dünne, zu dünne Luft.“48? Freilich, wenn Soziologie tatsächlich eine Theorie der modernen Gesellschaft anstrebt, muss man Luhmanns Seufzer zustimmen: „das müsste man können“49 – und daraus Konsequenzen ziehen. 46
Es sind damit jene drei von Hegel differenzierten Sphären, die in der gegenwärtigen Sozialstaatstheorie zur Geltung kommen, beispielsweise bei Claus Offe und Rolf G. Heinze mit den Steuerungsprinzipien „Markt“, „Staat“ und „Gemeinschaft“, vgl. Claus Offe/Rolf G. Heinze, Am Arbeitsmarkt vorbei. Überlegungen zur Neubestimmung „haushaltlicher“ Wohlfahrtsproduktion in ihrem Verhältnis zu Markt und Staat, in: Leviathan, 14 (1986), 4, S. 471–495. In unserer Sicht würde man als viertes Prinzip das der „Legitimation“ (bzw. Ethik oder Gerechtigkeit) hinzustellen, insoweit Werte selbst – auch über ihre Institutionalisierung in Wissenschaft und vor allem Religion – einen Beitrag zur Wohlfahrtsproduktion leisten, vgl. Opielka (Anm. 8 und 10). 47 Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitik zwischen Gemeinwohl und Solidarität, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), 2002, Gemeinwohl und Gemeinsinn. Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung, Berlin 2002, S. 22. 48 Niklas Luhmann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989, Frankfurt/M. 1990, S. 47 f. Zu einem überzeugend-kritischen, allerdings synthesefreien Vergleich von Luhmann und Hegel vgl. Lutz Ellrich, Entgeistertes Beobachten. Desinformierende Mitteilungen über Luhmanns allzu verständliche Kommunikation mit Hegel, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Gerhard Wagner (Hrsg.), Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns, Konstanz 2000, S. 73–126. 49 Luhmann (Anm. 46), S. 48. Wie im ersten Abschnitt diskutiert „kann“ eine kantianische Wertbegründung, wie von Habermas vorgeschlagen, das keineswegs, handelt es sich bei ihr, wie Georg Vobruba zurecht kritisiert, doch um eine Raumfreigabe für „posttraditionale Ontologien“ (Georg Vobruba, Gesellschaftsinterne Gesellschaftskritik. Eine Positionsbestimmung, in: Dialektik, 2001/2, S. 7) ohne dies selbst zu erkennen. Soziologische Theorie auf der nötigen Höhe müsste der philosophischen Forderung genügen, zugleich kohärente Wertbegründungen wie ihre faktische Anerkennung in einer konkreten, zugleich immer auch diffusen Gemeinschaft zu reflektieren (vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer, Normative Kulturentwicklung oder evolutiver Zivilisationsprozeß? Eine Verteidigung der Vernunftphilosophie Kants
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Die Frage, inwieweit der Sozialstaat als „wahrer“ Staat im Sinne Hegels gelten könne, kann von uns Heutigen bejaht werden. Hegel selbst war diesbezüglich nur für seine Epoche pessimistisch. In einer der seltenen Untersuchungen von Hegels Analyse der Armut im Kontext seiner sozialphilosophischen Gerechtigkeitstheorie kommt Michael Hardimon zur Einschätzung, „es wäre ein Fehler daraus zu schließen, dass Hegel die Auffassung vertrete, es könne keine Lösung des Armutsproblems geben“.50 Während Hegel Armut als Bestandteil einer unperfekten Welt akzeptiert, insoweit von „einem Moment der Melancholie“51 umflort scheint, erlaubt die Rekonstruktion seiner Staats- und Rechtstheorie aus ihren logischen Grundlagen einen weiter gespannten, perspektivischen Blick über seine Zeit hinaus: „Nicht zufrieden, daß vernünftige Rechte, Freiheit der Person und des Eigentums gelten, (. . .) setzt der Liberalismus allem diesen das Prinzip der Atome, der Einzelwillen entgegen: alles soll durch ihre ausdrückliche Macht und ausdrückliche Einwilligung geschehen. Mit diesem Formellen der Freiheit, mit dieser Abstraktion lassen sie nichts Festes von Organisation aufkommen. Den besonderen Verfügungen der Regierung stellt sich sogleich die Freiheit entgegen, denn sie sind besonderer Wille, also Willkür. (. . .) Diese Kollision, dieser Knoten, dieses Problem ist es, an dem die Geschichte steht und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat.“52 Für Hans Friedrich Fulda wäre es unter Hegels Prinzipien der Sittlichkeit nicht nur „möglich, genauso genommen sogar erforderlich gewesen“, gegen diese unerwünschten Folgen der Atomisierung die „Sozialrechte der Einzelnen“ zu postulieren.53 Erst dann, mag man Hegel (mit Fulda) weiter lesen, wäre der Staat ein „wahrer“ Staat, der „Knoten“ gelöst – eine Andeutung davon findet sich in § 537 der Encyclopädie, seinem Spätwerk: „Das Wesen des Staates ist das an und für sich Allgemeine (. . .). Sein Werk überhaupt besteht in Beziehung auf (. . .) und Hegels, in: Nikos Psarros/Ders./Georg Vobruba (Hrsg.), Die Entwicklung sozialer Wirklichkeit. Auseinandersetzungen mit der historisch-genetischen Theorie der Gesellschaft, Weilerswist 2003, S. 34–57). Der von Honneth in Hegels Jenenser Frühschriften gelesene „Kampf um Anerkennung“ als sittlicher Bildungsprozess des Geistes (vgl. Axel Honneth, Moralische Entwicklung und sozialer Kampf. Sozialphilosophische Lehren aus dem Frühwerk Hegels, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt/M. 1989, S. 549–573) bleibt soziologisch noch zu reflektieren. 50 Michael O. Hardimon, Hegel’s Social Philosophy. The Project of Reconciliation, Cambridge 1994, S. 244 (Übers. M. O.). Hardimon ist sich dabei unsicher, ob Hegel das Problem der Armut als Problem der „Entfremdung“ analysiert – wenn wir dies heute so sehen (und viele diese Sicht schon bei Hegel verorten), dann geschehe dies im Lichte der Marx’schen Analysen (ebd., S. 246 f.). 51 Ebd., S. 250 (Übers. M. O.). 52 Georg W. F. Hegel, Werke in 20 Bänden. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1970, S. 534 f. 53 Vgl. Fulda (Anm. 9), S. 259.
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(die) Individuen in dem gedoppelten, einmal sie als Personen zu erhalten, somit das Recht zur nothwendigen Wirklichkeit zu machen, und dann ihr Wohl, das zunächst jeder für sich besorgt, das aber schlechthin eine allgemeine Seite hat, zu befördern, die Familie zu schützen und die bürgerliche Gesellschaft zu leiten (. . .)“.54 Zwei aktuelle Probleme sollen abschließend zumindest angesprochen werden. Sie betreffen zum einen das Verhältnis von Staat und Ökonomie, zum zweiten das Verhältnis von Staat und Familie bzw. gemeinschaftlichen Beziehungen. In den letzten Jahren wird diskutiert, ob in Ausweitung vorhandener Mindestsicherungssysteme ein voraussetzungsloses Grundeinkommen etabliert werden solle. Die gesellschaftstheoretische Pointe dieser Pläne kann darin gesehen werden, dass der Sozialstaat zwar noch vordergründig subsidiär gegenüber dem individuellen privaten Einkommenserwerb tätig wird, faktisch jedoch eröffnen solche Modelle eigenständige, allein am politischen Bürgerstatus anknüpfende Existenzpfade.55 Die Diskussion ist keineswegs hypothetisch. Bereits jetzt sind für einen relevanten Teil der Bevölkerung in den westlichen Wohlfahrtsstaaten längere biographische Phasen sozialpolitisch finanziert, vor allem die Altersphase, mit der Ausweitung des Familienlastenausgleichs (Kindergeld, Erziehungs- bzw. Familiengeld) wird auch die Kindheitsphase zunehmend sozialpolitisch gesichert und reguliert. Was aber bedeutet diese Entwicklung für das Verhältnis von Staat und – nehmen wir den alten Begriff – „bürgerlicher Gesellschaft“? Steht damit zu befürchten, dass ihre für Hegel ganz fraglose Begründung in der produktiven Arbeit erodiert und damit ihre freiheitskonstitutive Wirkung auf die Gesellschaft insgesamt? Oder reflektierte ein Grundeinkommen schlicht den Wandel der Formbeziehung von Politik und Wirtschaft, vor allem aber der Verwirklichung der Idee der Menschenrechte auch als Sozialrechte, als Organisation von „Anerkennung“ innerhalb der Staats- und Rechtssphäre? Eine weitere Entwicklung findet sich im Verhältnis von Staat und Familie bzw. anderen Formen voluntaristischer Gemeinschaftsbildung. Auf der einen Seite zeichnet sich ein zunehmender Rückzug des Staates aus der Formierung der Familie ab, beispielsweise in der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als eheähnlich. Anderseits beobachten wir eine kontroverse Debatte um die Frage, welche Aufgabe dem Sozialstaat bei der Förderung bürgerschaftlichen Engagements im weitesten Sinne zukommen soll. Hier findet sich eine klassisch liberalistische Position, die auf einen Rückzug des Staates setzt und daraus – dank Steuersenkungen 54
Hegel (Anm. 1), S. 508. Vgl. dazu Michael Opielka, Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven, Reinbek 2004. 55
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und Deregulierung von Bildungs- und Wohlfahrtssystem – auf ein Wachstum freier Initiativen hofft. Wir sehen zweitens eine, man könnte sagen: aristotelisch-kommunitaristische Option, die in der Frage der Staatstätigkeit unentschieden scheint. Als dritte kann man eine hegelianisch inspirierte Option beobachten, die recht eindeutig die regulierenden Leistungen eines das Gemeinwohl wahrenden Staates auch und gerade in Bezug auf gemeinschaftliche Wohlfahrtsproduktion einklagt.56 Jede dieser Optionen hat offensichtlich weitreichende Folgen für das Verhältnis von Staat und Familie bzw. voluntaristischer Gemeinschaftsbildung. Die Darstellung und Diskussion des Hegel’schen Beitrags zur politischen Soziologie des Sozialstaats hat wohl zeigen können, dass die hier vorgelegte Begründung von Staatlichkeit im Telos der Freiheit des Individuums die je historische Gemeinschaftsbildung als Sittlichkeit material und methodisch einbezieht. Hegels ontologischer, metaphysischer Duktus, sein Insistieren auf der „Wahrheit“ des Staates hat ihm viel Kritik eingetragen. „Kein anderes philosophisches System hat so viel zur Vorbereitung des Fascismus und Imperialismus getan, als Hegels Lehre vom Staate“57 – Ernst Cassirer ergänzte sein 1945 im amerikanischen Exil verfasstes Verdikt freilich um „einen Punkt, in welchem der Unterschied zwischen Hegels Lehre und modernen Theorien vom totalitären Staat offenkundig wird“: Kunst, Religion und Philosophie, diese „drei höchsten kulturellen Güter“ seien „Zwecke in sich selbst“, eine „höhere Sphäre, die über dem objektiven im Staat verkörperten Geist steht“58. Cassirer stand wie alle Kantianer skeptisch und ein wenig staunend vor Hegels Systementwurf, der sich nicht scheute, Moral, Ethik und Recht im Ganzen der Welt zu erklären.59 Es sei der Gedanke erlaubt, dass die Forderung Hegels, die Vernünftigkeit der Welt zu entdecken, um darin das Wahre zu tun, eine zugleich inspirierende wie anspruchsvolle Programmatik anbietet. Sie verweist auf die Historizität unseres Handelns. Zugleich nötigt sie zu Respekt gegenüber der Wirklichkeit, die zu erkennen die Aufgabe der Wissenschaft bleibt.
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Vgl. ausführlich Fischer (Anm. 40). Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates, Hamburg 2002, S. 356. 58 Ebd., S. 357 f. 59 Warum Cassirer keine Theorie der Ethik wie des Rechts und damit keine positive Theorie des Staates ausgearbeitet hat, wird überzeugend untersucht von Birgit Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosopie der symbolischen Formen, Berlin 2004. Cassirers Hegelskepsis, seine „Kritik am demoralisierenden Effekt des geschichtsphilosophischen Denkens Hegels“ (ebd. S. 190), übersieht aber den moralisierenden Effekt dort, wo es verstanden, also kritisch angeeignet wird. 57
John Millars emanzipatorische Politik: schottische Aufklärung und ‚Radicalism‘ Von Raimund Ottow I. Interpretationsrahmen: ‚Radicalism‘ Die schottische Aufklärungsbewegung1 ist in verschiedenen Interpretationsrahmen analysiert worden. Man hat sie als Beginn von Sozialwissenschaft, Soziologie und politischer Ökonomie verstanden,2 und in dieser Hinsicht wurde sie politisch-ideologisch einerseits von Liberalen reklamiert, die auf die Grundlegung der Theorie des Marktes verwiesen, während andererseits Marxisten hier eine Vorwegnahme einer quasi-materialistischen Deutung europäischer Gesellschaftsentwicklung sahen: die so genannte ‚four-stages-theory of society‘, die Gesellschaftsentwicklung analytisch auf 1 Hugh Trevor-Roper, The Scottish Enlightenment, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, LVIII (1967), S. 1635–58; Nicholas Phillipson/Rosalind Mitchison (Hg.), Scotland in the Age of Improvement. Essays in Scottish history in the eighteenth century (Edinburgh 1970); Nicholas Phillipson, Towards a definition of the scottish enlightenment, in: P. Fritz/D. Williams (Hg.), City and Society in the Eighteenth Century (Toronto 1973); idem, Culture and society in the eighteenth century province: The case of Edinburgh and the Scottish enlightenment, in: Lawrence Stone (Hg.), The University in Society (Princeton 1974), Bd. 2; idem, The Scottish Enlightenment, in: Roy Porter/Miklus Teich (Hg.), The enlightenment in national context (Cambridge 1981); Beiträge von Peter Jones und John Dwyer, in: John Dwyer et al. (Hg.), New Perspectives on the Politics and Culture of Early Modern Scotland (Edinburgh 1982); Roy H. Campbell/Andrew Skinner (Hg.), The Origins and Nature of the Scottish Enlightenment (Edinburgh 1982); Istvan Hont/Michael Ignatieff (Hg.), Wealth and Virtue. The Shaping of Political Economy in the Scottish Enlightenment (Cambridge 1983); Richard B. Sher, Church and University in the Scottish Enlightenment. The Moderate Literati of Edinburgh (Edinburgh 1985); David Daiches, The Scottish Enlightenment (Edinburgh 1986); Beiträge von Paul Wood und John Robertson, in: Wood (Hg.), The Scottish Enlightenment. Essays in Reinterpretation (Rochester 2000). 2 Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie (Reinbek 1976), Bd. 1; Alan Swingewood, The Origins of sociology: The case of the Scottish enlightenment, British Journal of Sociology, XXI (1970), S. 164–80; John G. A. Pocock, The mobility of property and the rise of eighteenth century sociology, in: idem, Virtue, Commerce, and History. Essays on political thought and history, chiefly in the eighteenth century (Cambridge 1985), Kap. 6; Björn Eriksson, The first formulation of sociology, Archives Européennes de Sociologie, XXXIV (1993), S. 251–76.
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eine Abfolge verschiedener Produktionsweisen abstützte.3 Mit der Entwicklung der Diskurstheorie der so genannten ‚Cambridge School‘ wurde diese 3 Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith (Göttingen 1973); Ronald L. Meek, Der schottische Beitrag zur marxistischen Soziologie, in: idem, Ökonomie und Ideologie. Studien zur Entwicklung der Wirtschaftstheorie (Frankfurt/M. 1973), S. 50–72; idem, Smith, Marx and after. Ten Essays in the Development of Economic Thought (London 1977); Andrew S. Skinner, Adam Smith: an economic interpretation of history, in: idem/T. Wilson (Hg.), Essays on Adam Smith (Oxford 1975), S. 154–78; idem, A System of Social Science. Papers relating to Adam Smith (Oxford 1979), Kap. 4, 6; idem, A Scottish contribution to marxist sociology?, in: I. Bradley/M. Howard (Hg.), Classical and Marxian political economy. FS R. L. Meek (London/Basingstoke 1982), Kap. 2; Peter Stein, Adam Smith’s Theory of Law and Society, in: R. R. Bolgar (Hg.), Classical Influences on Western Thought A.D. 1650–1870 (Cambridge 1977); idem, Legal Evolution. The History of an Idea (Cambridge 1980); idem, From Pufendorf to Adam Smith, in: N. Horn (Hg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, FS H. Coing (München 1982), Bd. 1, S. 667–79; idem, The Character and Influence of the Roman Civil Law. Historical Essays (London/Ronceverte 1988), Kap. 20, 22; idem, Law and society in eighteenth century Scottish thought, in: Phillipson/Mitchison: Scotland in the Age of Improvement, S. 148–68; Beiträge von Neil McCormick, Duncan Forbes und Knud Haakonssen, in: Campbell/Skinner (Hg.), Origins and Nature; Peter Burke, Scottish historians and the feudal system: the conceptualisation of social change, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, CXCI (1980), S. 537–9; Paul Bowles, Adam Smith and the ‚Natural Progress of Opulence‘, Economica, LII (1984), S. 109–18; idem, The Origin of Property and the Development of Scottish Historical Science, Journal of the History of Ideas, XLVI (1985), S. 197–209; Istvan Hont, The language of sociability and commerce: Samuel Pufendorf and the theoretical foundations of the ‚Four-Stages Theory‘, in: A. Pagden (Hg.), The Languages of Political Theory in early-modern Europe (Cambridge 1987), S. 253–76; T. Tsunoda, Adam Smith’s Jurisprudence and Scottish legal Tradition: Concerning their Ways of treating the Scottish and English Law, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, LXXIII (1987), BH 30, S. 177–84; Knud Haakonssen, The Science of a Legislator. The Natural Jurisprudence of David Hume and Adam Smith (Cambridge 1989), Kap. 7, 8; Günter Nonnenmacher, Die Ordnung der Gesellschaft. Mangel und Herrschaft in der politischen Philosophie der Neuzeit: Hobbes, Locke, Adam Smith, Rousseau (Weinheim 1989), Teil D; J. W. Danford, Hume’s History and the Parameters of Economic Development, in: N. Capaldi/D. W. Livingston (Hg.), Liberty in Hume’s ‚History of England‘ (Dordrecht 1990), S. 155–94; Jürgen Osterhammel, Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie, Historische Zeitschrift, CCLIV (1992), S. 281–340; John Salter, Adam Smith on Feudalism, Commerce and Slavery, History of Political Thought, XIII (1992), S. 219–41; Hans Erich Bödeker/Istvan Hont, Naturrecht, Politische Ökonomie und Geschichte der Menschheit. Der Diskurs über Politik und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, in: O. Dann/D. Klippel (Hg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution (Hamburg 1995), S. 80–9; Matthias Bohlender, ‚Government‘, ‚Commerce‘ und ‚Civil Society‘. Zur Genealogie der schottischen Politischen Ökonomie, in: H. Kaelble/J. Schriewer (Hg.), Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften (Bern etc. 1998), S. 115–47, verkennt inso-
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Differenz ersetzt durch konkurrierende Interpretationen der schottischen Aufklärung als fortgeschrittene Variante von Naturrechtstheorie oder als Fortschreibung des so genannten ‚Bürgerhumanismus‘ der Renaissance, der klassisch-republikanische Motive transportiert. Die methodologische Rechtfertigung für diese Transformation liegt in dem richtigen Anspruch der Diskurstheorie, soziales und politisches Denken nicht anachronistisch nach dem Bild und entsprechend dem Legitimationsbedürfnis späterer Ideologien zu interpretieren, sondern im Rahmen zeitgenössischer, dem Material inhärenter Formate. Nachdem diese Debatte für einige Zeit ohne Konsens geführt worden ist und zunehmend steril erscheint, könnte es an der Zeit sein, die Dichotomie von Naturrecht versus Bürgerhumanismus durch die Einführung zusätzlicher Interpretationsreferenzen aufzulockern.4 Und die These dieses Aufsatzes ist, dass die Beziehung der Schotten zu jener ideologischen Bewegung nicht hinreichend gewürdigt wird, die von der Forschung als ‚Radicalism‘ bezeichnet wird – politische Strömungen, die sich in England seit etwa 1760 bemerkbar machten und das politische Feld in den folgenden Jahrzehnten stark prägten. Genauer werde ich, unter Rekurs auf ungedrucktes Material, argumentieren, dass jedenfalls John Millar deutliche Verbindungen zum ‚Radikalismus‘ aufweist und politisch als moderater Radikaler verstanden werden kann, der die Theorien der schottischen Aufklärung für die Entwicklung einer theoretisch reflektierteren Variante von Radikalismus nutzte. Was ist ‚Radicalism‘?5 Mit einer gewissen Simplifizierung kann gesagt werden, dass Naturrechtstheorien zentral ‚negative Freiheit‘ thematisieren,6 weit die Einheit der schottischen Aufklärung; Edward J. Harpham, Economics and History: Book II and III of the ‚Wealth of Nations‘, History of Political Thought, XX (1999), S. 438–55. 4 Gregory Claeys, The origins of the Rights of Labor: Republicanism, Commerce, and the Construction of Modern Social Theory in Britain, 1796–1805, Journal of Modern History, LXVI (1994), S. 249–90; Harry T. Dickinson, The Rise and Fall of the Theory of Natural Rights in late Eighteenth and early Nineteenth Century Britain, in: Dann/Klippel (Hg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, S. 23–47. 5 Caroline Robbins, The Eighteenth century Commonwealthman. Studies in the transmission, development and circumstance of English liberal thought from the restoration of Charles II until the war with the thirteen colonies (Cambridge/Mass. 1959), Kap. 9; Robert R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. A political History of Europe and America, 1760–1800 (Princeton, 2 Bde., 1989); H. T. Dickinson, Liberty and Property. Political Ideology in Eighteenth-Century Britain (London 1977), Teil 3; John Brewer, English Radicalism in the Age of George III, in: John G. A. Pocock (Hg.), Three British Revolutions: 1641–1688–1776 (Princeton 1980), Kap. 10; idem, The Wilkites and the Law, 1763–74: A study of radical notions of governance, in: idem/J. Styles (Hg.), An ungovernable People. The English and their law in the seventeenth and eighteenth centuries (London etc. 1983),
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d.h. im Kern die Freiheit von Individuen, mit sich, ihrem Körper und ihrem Eigentum zu tun, was sie wollen, ohne von anderen oder vom Staat daran gehindert zu werden. Gesellschaft ist dann letztlich zu verstehen als ein Netzwerk von freiwilligen und wechselseitigen Obligationen, konzeptuell in der Figur des Vertrages zusammengefasst. Auch die politische Macht, der Staat, wird in diesem Rahmen auf mehr oder weniger verfeinerte Modelle von politischen Verträgen basiert und generell auf Funktionen der Garantie negativer Freiheit reduziert. Wenn für ‚Bürgerhumanismus‘ oder klassischen Republikanismus Politik als ein Feld der Bewährung von Tugenden und als ethische Erfüllung gilt (‚vivere civile/politico‘), so ist für Naturrechtstheorien politische Aktivität, Partizipation, weder ein zentrales Thema noch ethisch sonderlich erstrebenswert. Aber auch im klassischen Republikanismus ist das politische Leben nicht die Sache von jedermann, sondern nur für eine Elite, die durch Tugend, Adel und/oder Eigentum definiert wird; in diesem Sinne erweist er sich als ‚aristokratisch‘ (d.h. Herrschaft der aristoi, der Besten). Der britische Radikalismus, der mindestens bis auf die englische Revolution, und dort prominent die ‚Levellers‘, zurückgeführt werden kann, akzeptiert gewisse Züge des Naturrechtsdenkens, besonders die Notwendigkeit des Schutzes individueller, persönlicher Freiheit durch die Limitierung politischer Macht, und er ist nicht-aristokratisch, d.h., er glaubt nicht daran, dass diejenigen, die in politische Machtpositionen gelangen, generell die ‚Besten‘ sind, sondern geht von dem generalisierten Verdacht aus, dass sie, ob inhärent oder erst durch die Versuchungen der Macht, anfällig für Korruption sein werden, usw. Und das bedeutet, dass das Volk die Regierenden genau und sorgfältig kontrollieren muss, wenn es seine Freiheiten bewahren will. Obwohl also die Bürger generell nicht amtsmäßig mit Politik befasst sind, ist es notwendig, dass sie sich doch dauerhaft mit Politik befassen, und zwar nicht nur eine Elite (oder Oppositionselite, die selbst an die Macht will), sondern tatsächlich breite Schichten des Volkes. Man kann daher mit Recht sagen, dass ‚Radicalism‘ eine starke Portion Republikanismus S. 128–71; John A. W. Gunn, Beyond Liberty and Property. The Process of Self-Recognition in Eighteenth-Century Political Thought (Kingston/Montreal 1983); John G. A.Pocock, The varieties of whiggism from exclusion to reform: a history of ideology and discourse, in: idem, Virtue, Commerce, and History, Kap. 11; Isaac Kramnick, Republicanism and Bourgeois Radicalism. Political Ideology in late Eighteenth-Century England and America (Ithaca/London 1990); Iain HampsherMonk, Radicalism or Radicalisms? Radical Ideas of Property in eighteenth-century Britain, in: G. Lottes (Hg. ), Der Eigentumsbegriff im englischen politischen Denken (Bochum 1995), S. 137–68. 6 Siehe Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty (Oxford/NY 1988); kritisch Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (Frankfurt/M. 1988).
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impliziert, der nicht der klassische Republikanismus ist, aber nur bei genauer Betrachtung der Kontexte von diesem unterscheidbar wird. An diesen positiven Anschlüssen radikalen Denkens sowohl an Naturrechtstopoi als auch an alte republikanische Topoi mag es liegen, dass er allzu selten als eigenständiger Diskurs identifiziert wird. Charakteristisch für ihn sind Egalitarismus (gegen klassischen Republikanismus und andere Formen des Aristokratismus) und politischer Aktivismus (gegen ältere Naturrechtstheorien), und in beidem verweist er auf die moderne Demokratie. Ältere Naturrechtstheorien waren nicht spezifisch demokratisch; es mag zwar demokratische Varianten geben (Spinoza), die aber durch autoritäre (Hobbes, Pufendorf) überschattet wurden. Demokratismus kann daher als differentia specifica radikaler Politik verstanden werden. Wenn ich mich nun Millar (1735–1801) zuwende, der seit 1761 als Jurist an der Universität Glasgow lehrte, in diesem Rahmen aber auch ‚Lectures on Government‘ abhielt,7 werde ich mich auf jene thematischen Felder konzentrieren, die seine Verbindung zu radikalem Denken deutlich machen, und ich werde zu zeigen versuchen, wie er seine Positionen ausgehend von Theoremen älterer Repräsentanten der schottischen Aufklärung entwickelt und ihnen eine radikale Wendung gibt.8
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Leslie Stephen, Millar, John, DNB; William C. Lehmann, John Millar of Glasgow. 1735–1801. His Life and Thought and his contributions to sociological analysis (Cambridge 1960); idem, John Millar, Professor of Civil Law at Glasgow (1761–1801), The Juridical Review, VI (1961), S. 218–33; idem, Some observations on the law lectures of professor Millar at the University of Glasgow (1761–1801), The Juridical Review, XV (1970), S. 56–77; Knud Haakonssen, John Millar and the science of a legislator, The Juridical Review, XXX (1985), S. 41–68, überarbeitet in idem, Natural Law and Moral Philosophy. From Grotius to the Scottish Enlightenment (Cambridge 1996); in einem weiteren Kontext idem, Moral Philosophy and Natural Law: From the Cambridge Platonists to the Scottish Enlightenment, Political Science, XL (1988), S. 97–110; siehe für Hintergründe an der Universität die Beiträge von Roger L. Emerson und John W. Cairns, in: Andrew Hook/Richard B. Sher (Hg.), The Glasgow Enlightenment (East Linton 1995). 8 Eine neuere Interpretation der politischen Position Millars ist Ingmar Westerman, Authority and Utility. John Millar, James Mill and the Politics of History, c. 1770–1836 (Amsterdam 1999), der bestreitet, dass Millar ein Radikaler war und ihn stattdessen als ‚Patriot Whig‘ bezeichnet. Das Problem mit dieser Interpretation ist, dass die Bolingbroke-Tradition, auf die sich diese Qualifizierung bezieht, für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum relevant ist, und dass die sehr klare Distinktion zwischen ‚Whigs‘ und Radikalen, die Westerman vornimmt, politisch-diskursiv kaum haltbar ist.
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II. Markt-Gesellschaft und Emanzipation Millars Beitrag zur Theorie der Sozialevolution findet sich in seinem ersten Buch, den Observations concerning the Distinctions of Ranks in Society von 1771, später umbenannt in: The Origin of the Distinction of Ranks, untertitelt: An Inquiry into the Circumstances which give rise to Influence and Authority in the Different Members of Society.9 Offensichtlich beschäftigt ihn hier das Problem sozialer Herrschaft, wobei er zu zeigen sucht, dass und warum der Prozess der Zivilisation emanzipative Ergebnisse hatte und vermutlich auch in Zukunft haben wird. Er beginnt mit dem von anderen Autoren vernachlässigten10 Thema der Herrschaft von Männern über Frauen, der frühesten und grundlegendsten Herrschaftsrelation.11 Auf einem bestimmten Stadium gesellschaftlicher Entwicklung, das durch beginnende Arbeitsteilung und soziale Differenzierung gekennzeichnet ist, wird das Privateigentum eingeführt, was wiederum die Entwicklung entsprechender Formen des Rechts und der politischen Autorität bedingt, welche diesem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen vermag. Die moderne (vom Standpunkt des 18. Jahrhunderts) Marktgesellschaft vertieft die Arbeitsteilung, der sich ausdifferenzierende Handel wird zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig, die gesellschaftliche Kommunikation intensiviert sich, gesellschaftliche Schranken zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten werden durchlässig und auch die Geschlechter können freier miteinander verkehren. Anstatt billige Arbeitskraft im Oikos zu sein oder romantisiertes Gegenbild einer Kriegerschicht, wie in der mittelalterlichen Minne, werden Frauen zu Partnern und Gefährten der Männer. In romanischen Gesellschaften (Frankreich, Italien) erreichen sie nach Millar eventuell kulturell führende Positionen in den Sa-
9 Millar, The Origin of the Distinction of Ranks (4. Aufl., 1806, repr. Aalen, 1986); cf. William C. Lehmann, Einführung, in: Millar, Vom Ursprung des Unterschieds in den Rangordnungen und Ständen der Gesellschaft (Frankfurt/M., 1985); idem, John Millar, historical sociologist: some remarkable anticipations of modern sociology, British Journal of Sociology, III (1952), S. 30–46; Paul Bowles, John Millar’s Science of Society, PhD-Thesis (London School of Economics, 1984); idem, John Millar, the legislator and the mode of subsistence, History of European Ideas, VII (1986), S. 237–51; siehe generell Hideo Tanaka, Liberty and Equality: Liberal Democratic Ideas in John Millar, in: Tatsuya Sakamoto/Hideo Tanaka (Hg.), The Rise of Political Economy in the Scottish Enlightenment (London, 2003), Kap. 11, S. 163–78. 10 Siehe jedoch Henry Home-Lord Kames, Sketches of the History of Man (4 Bde., Edinburgh, 2. Aufl, 1778), Bd. 2, Sketch 6; W. C. Lehmann, Henry Home, Lord Kames, and the Scottish Enlightenment: A Study in National Character and in the History of Ideas (Den Haag 1971), Kap. 15. 11 Paul Bowles, John Millar, the four–stages theory, and women’s position in society, History of Political Economy, XVI (1984), S. 619–38.
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lons, was nicht zutreffe für die mehr praktisch orientierten Gesellschaften Englands oder Deutschlands.12 Aber nicht nur für Frauen bedeutet die moderne Marktgesellschaft ein höheres Maß persönlicher Freiheit. Die Schotten rezipierten die These von James Harrington aus dem 17. Jahrhundert, dass ‚power follows property‘,13 aber ihre Herrschaftstheorie ist evolutionstheoretisch elaboriert und komplexer. Adam Smith, Millars hauptsächlicher Referenzautor in dieser Hinsicht, benannte vier Quellen legitimer (also nicht auf direkten Zwang angewiesener) Herrschaft: erstens persönliche Qualitäten, wie Körperstärke, Schönheit, Wendigkeit, Klugheit, Tapferkeit usw., zweitens Alter, drittens Besitz, Reichtum, viertens Geburtsadel, der in den anderen Faktoren gründet und dann durch Dauer und Tradierung zur Nobilitierung führt, also nicht eigentlich ein eigenständiger Faktor ist.14 Soziale Evolution nun verschiebt die Bedeutung dieser Faktoren: Während in primitiven Gesellschaften die persönlichen Vorzüge entscheidend sind, wird später der Besitz entscheidend, dessen Bedeutung Smith zufolge am stärksten ist in der „second period of society, that of shephards“, die „admits of very great inequalities of fortune, and there is no period in which the superiority of fortune gives so great authority to those who possess it.“15 Die moderne Marktgesellschaft dagegen schwächt diese Ableitung von sozialer Herrschaft aus Besitz wieder ab, weil die Ausdifferenzierung von Eigentumsarten und die Intensivierung sozialer Mobilität eine stärkere Differenzierung von sozialer und politischer Autorität bewirkt und die Verknüpfungen bestimmter Sozialsegmente mit der politischen Macht lockert. Auch Millar glaubte, dass Besitz die stärkste Herrschaftslegitimierung in jener gesellschaftlichen Entwicklungsstufe entfaltet, die zwischen der primitiven und der modernen Gesellschaft liegt.16 Er folgte jedoch Henry Home-Lord Kames in der These, dass diese Wirkung ihr Maximum nicht bereits in Hirtengesellschaften, sondern erst in Ackerbaugesellschaften ent12 Millar, Origin, S. 86, 88 f., 100 f.; Catherine Larrère: Women, Republicanism and the Growth of Commerce, in: M. van Gelderen/Q. Skinner (Hg.): Republicanism. A shared European Heritage (2 Bde., Cambridge 2002), Bd. 2, Text 8. 13 John G. A. Pocock: Authority and Property. The question of liberal origins, in: idem, Virtue, Commerce, and History, Text 3; Raimund Ottow, ‚Power follows Property‘. Zu einem Topos der britischen politischen Herrschaftssoziologie im 17./ 18. Jahrhundert, Archives Européennes de Sociologie, XXXIV (1993), S. 277–306. 14 Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations (WN) (hg. v. Ronald H. Campbell/Andrew S. Skinner, 2 Bde., Indianapolis 1981), Bd. 1, S. 11 ff., Bd. 2, Buch 5, Kap. 1, Teil 2; Smith, Lectures on Jurisprudence (LJ) (hg. v. Ronald L. Meek et al., Indianapolis, 1982), S. 102, 202, 215, 401 f. 15 Smith, WN, Bd. 2, S. 713. 16 Millar, Origin, S. 151–3.
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faltet, denn erst hier wird das Institut des Privateigentums vollends etabliert.17 Soziale und politische Autorität sind ursprünglich nicht differenziert, oder genauer: distinkt politische Autorität ist schwach, bestehend aus temporärer Führerschaft in Kriegszügen oder Versammlungen von Familienund Klanoberhäuptern, deren Entscheidungen nur eingeschränkt auf Gehorsamsbereitschaft rechnen können und daher konsensual angelegt sind. Kriegsführer mögen allmählich zu Königen werden, und es mag sich eine Aristokratie bilden, die die Beratungen monopolisiert. In diesem Sinne glaubten die Schotten an eine ursprüngliche Stammesdemokratie, nicht aber an den Mythos ihrer Kontinuität, der im 16. und 17. Jahrhundert, durch die Lektüre von Caesar und Tacitus beflügelt, in der These einer angeblichen ‚ancient constitution‘ ideologischen Ausdruck fand und noch im 18. Jahrhundert auch in radikalen Kreisen fortlebte.18 Erst die Entwicklung feudaler Gesellschaftsstrukturen sicherte der Aristokratie ihre Position als Herrschaftsschicht in Europa. War der König zunächst nicht mehr als der Primus dieser Herrenschicht, verselbständigte sich die Krone später gegenüber dem Adel als eigenständiges Machtzentrum, von dem aus der Adel domestiziert wurde. Dieser Punkt der Zentralisierung der politischen Macht in der Krone war den Schotten zufolge in England nach den Rosenkriegen, zur Zeit Henrys VII, erreicht.19 Die Krone war nunmehr in der Lage, Freiheit und Eigentum der Gemeinen gegen Herrschaftsansprüche des Adels zu schützen, und das war die entscheidende politik-strukturelle Bedingung des Aufbruchs in die moderne Marktgesellschaft.20 Dies, zusammen mit einem wachsenden Konsum von Luxusgütern, führte zur Transformation gesellschaftlicher Normen, der Verabschiedung der Krieger- und Ritterethik, in der Militärorganisation zur Ersetzung feudaler Gefolgschaften durch professionelle Söldnerarmeen, die entweder von 17 Kames (anon.), Essais historiques sur les Loix (trad. M. Bouchaud, Paris 1766), S. 128 f., 177, 185; idem, Principles of Equity (Edinburgh, 2. Aufl., 1767), S. 16. 18 Millar, Origin, S. 172–4, 184–8; Kames, Sketches, Bd. 2, S. 223; John G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English historical Thought in the Seventeenth Century. A Reissue with a Retrospect (Cambridge 1990); Glenn Burgess, The Politics of the Ancient Constitution. An Introduction to English Political Thought, 1603–1642 (Pennsylvania State UP 1993); Ellis Sandoz (Hg.), The Roots of Liberty. Magna Carta, Ancient Constitution, and the AngloAmerican Tradition of Rule of Law (Columbia/London 1993); Westerman, Authority and Utility, S. 31–4. 19 Hume, The History of England, from the Invasion of Julius Caesar to the Revolution in 1688 (HE) (6 Bde., Indianapolis 1983–85), Bd. 3, S. 81 f.; J. Y. T. Greig (Hg.), The Letters of David Hume (repr., 2 Bde., NY/London 1983), Bd. 1, Nr. 132, an Andrew Millar, 20.5.1757, S. 249. 20 Millar, Origin, S. 208–12; Kames, Principles of Equity, S. 15 f.
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Condottieri oder direkt von Beauftragten der Krone geführt werden. Geld wird nun zum alles entscheidenden nervus bellum, was die Krone zum Umund Ausbau und zur Verstetigung ihrer Finanzierungsquellen zwingt: die Erhebung von Abgaben wird kontinuierlich. Dies ist der Punkt, an dem monarchischer Absolutismus möglich und in diversen europäischen Ländern real wird. Die Schotten analysierten aber auch Gegentendenzen, die ich unter dem Titel ‚Konsumverschiebungsthese‘ zusammenfasse.21 Sie beruht auf der Beobachtung, dass die Reichen seit dem Mittelalter einen stetig wachsenden Teil ihres Surplus für Luxusprodukte und persönliche Dienstleistungen ausgeben konnten und tatsächlich ausgaben, während der Anteil für die Unterhaltung einer unproduktiven Gefolgschaft schrumpfte.22 Die Triebkraft dieser Transformation war, nach Smith, Egoismus, insofern der Reichtum auf persönliche Genüsse und Prestigegewinne konzentriert wird,23 sie führte aber langfristig zur Abdankung des Adels als Herrschaftsschicht, denn die Relation eines modernen Reichen zu den Produzenten von hochwertigen Gütern und Dienstleistungen ist durch den Markt mediatisiert und anonymisiert und entspricht nicht mehr der persönlichen Abhängigkeit zwischen Feudalherr und Gefolgsmann. Die sich entwickelnde Konkurrenz des Adels in ‚conspicuous consumption‘,24 die auf Sozialprestige zielte, hatte sodann aber die Verarmung des Adels (oder eines Teiles davon) zur Folge, während Raum für den sozialen Aufstieg von Bürgerlichen geschaffen wurde. „The habits of luxury“, schrieb David Hume, „dissipated the immense fortunes of the ancient barons, and as the new methods of expence gave subsistence to mechanics and merchants, who lived in an independent manner on the fruits 21 John Dalrymple, An Essay towards a General History of Feudal Property in Great Britain (London 1757), S. 36; Hume, HE, Bd. 3, S. 76 f., 80, Bd. 4, S. 384, Bd. 5, S. 134; Smith, LJ, S. 50, 215 ff., 261 f., 410, 420; John Millar, A Historical View of the English Government (HV) (4 Bde., London, 4. Aufl., 1818), Bd. 3, S. 106 f.; cf. Georg W. F. Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift (hg. v. Dieter Henrich, Frankfurt/M. 1983), S. 160 f.; Werner Sombart, Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung (Berlin 1986). 22 Zu Zeiten des so genannten ‚Bastardfeudalismus‘, der eine späte Verfallsform repräsentiert, nannte man diese Leute ‚Retainers‘, und das ist die Bezeichnung in den Texten der Schotten, siehe Ernest F. Jacob, The Fifteenth Century, 1399–1485 (The Oxford History of England, Bd. 6, Neudruck, Oxford 1992), S. 338 ff.; Christine Carpenter, The Wars of the Roses. Politics and the Constitution in England, c. 1437–1509 (Cambridge 1997), S. 16–8, 49 ff.; Geoffrey R. Elton, England unter den Tudors (München 1983), S. 12–4. 23 Smith, WN, Bd. 1, S. 418. 24 Dieser Begriff stammt aus Thorstein B. Veblens Theory of the Leisure Class, 1899, dtsch.: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen (München 1981).
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of their own industry, a nobleman, instead of that unlimited ascendant, which he was wont to assume over those who were maintained at his board, . . . retained only that moderate influence, which customers have over tradesmen, and which can never be dangerous to civil government.“25 In diesem Sinne lehrte auch Smith, dass jene „tradesmen“, deren Dienste der Reiche in Anspruch nimmt, „do not think themselves any way indebted to him; they have given him their time and labour equivalent to what they have received of him . . . This manner of laying out ones money is the chief cause that the balance of property conferrs so small a superiority of power in modern times.“26 Denn der einzelne Kunde, der seine Nachfrage auf viele Anbieter verteilt, „contributes . . . but a very small proportion to [the maintenance] of each“, und der einzelne „tradesman or artificer derives his subsistence from the employment, not of one, but of a hundred or a thousand different customers“ und ist daher „not absolutely dependent upon any one of them.“27 Damit ist eine emanzipatorische Tendenz angezeigt, denn, wie Smith sagte, nichts „tends so much to corrupt and enervate and debase the mind as dependency, and nothing gives such noble and generous notions of probity as freedom and independency.“28 Millar denkt diese Theorie einen Schritt weiter, indem er sie mit dem verbindet, was gelegentlich als ‚Buddenbrook-Dynamik‘ bezeichnet wird: Wenn der Kaufmann oder erfolgreiche Produzent reich wird, wird er danach streben, in die Gentry aufzusteigen, ein Landgut erwerben und sich den entsprechenden Lebensstil aneignen, und die zweite oder dritte Generation, die in diesen Umständen aufwächst, wird eventuell nicht mehr über die Eigenschaften verfügen – Fleiß, Sparsamkeit, Geschäftssinn –, die die erste reich machte, und wird eventuell wieder absteigen. Im Ganzen glaubte Millar an die Fluktuation und Dissemination des Reichtums in der Marktgesellschaft. In Vorlesungen aus den späten 1780er Jahren erklärte er seinen Studenten, dass „in the most commercial nations of Europe at present a great part of the labouring people are not only exempted from domestick slavery, but are placed in the condition of artificiers, which renders them almost entirely independent – In Britain at present the number of tradesmen and artificiers appear to exceed very much that of the servants. And they may be looked upon as the great body of the people.“29 Das war allerdings nicht die Meinung von Smith, der festgestellt hatte, dass „In all arts and manufactures 25
Hume, HE, Bd. 4, S. 384. Smith, LJ, S. 50. 27 Smith, WN, Bd. 1, S. 420, Text umgestellt. 28 Smith, WN, Bd. 1, S. 411 f.; LJ, S. 333; Donald Winch, Adam Smith’s Politics. An Essay in Historiographic Revision (Cambridge 1978), S. 79; idem, Adam Smith als politischer Theoretiker, in: F. X. Kaufmann/H. G. Krüsselberg (Hg.), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith (Frankfurt/M./NY 1984), S. 106. 26
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the greater part of the workmen stand in need of a master to advance them the materials of their work, and their wages and maintenance till it be compleated“, so dass „in every part of Europe, twenty workmen serve under a master for one that is independent.“ Es scheint daher, dass Smith weniger optimistisch über die Ausgleichungswirkungen der Verteilungsprozesse in Marktgesellschaften war und die Tendenz der Warenproduktion, zu größeren Einheiten konzentriert und kapitalistisch organisiert zu werden, klarer wahrnahm. Er warnte daher vor einer Überschätzung der emanzipatorischen Potenziale von Marktgesellschaften, denn „The authority of fortune . . . is very great even in an opulent and civilized society.“30 Millar kann dagegen als Protagonist der unabhängigen kleinen Warenproduktion betrachtet werden, und politisch als Repräsentant kleinbürgerlicher Produzenten-Demokratie.31 Letztlich glaubte er daran, dass „The advancement of commerce and manufactures produces a spirit of independence in the people“, wodurch die traditionale Mentalität fragloser Anerkennung der aristokratischen und Besitzeliten als natürliche Führer der Gesellschaft untergraben wird, an deren Stelle eventuell ein plebeisches Unabhängigkeits-, Gleichheits- und Freiheitsbewusstsein tritt, das sich gegen elitäre Herrschaftsanmaßungen und Privilegien wendet und gleiche politische Rechte einklagt.32 Obgleich Millar insofern als Anhänger der Marktgesellschaft gelten kann, war er kein bedingungsloser Befürworter des Freihandels. Er unterstützte die Smith’sche Kritik von Handelskartellen,33 kritisierte aber in einem Brief an David Hume nach dem Erscheinen von Smith’ Wealth of Nations dessen „great leading opinion concerning the unbounded freedom of trade.“ Zwar sei es richtig, dass die Regierung in der Regulierung der Ökonomie zurückhaltend sein muss, „because those who direct the administration are com29 Millar, Notes on Roman Law (1788/89, Robert Ferguson, 5 Bde., Glasgow University, MS Murray 78–82) Bd. 3, S. 96 f.; idem, Lectures on the Institutions of the Civil Law (1794, George Joseph Bell, 2 Bde., Edinburgh University, DC.2.45/46), Bd. 1, S. 57: „In the commercial states of europe the great body of the people are not even in the state of servants, but have become artificiers, who labour at their own hazard, depending only on their industry and dexterity in their professions.“ 30 Smith, WN, Bd. 1, S. 83, Bd. 2, S. 712. 31 Hans Medick/Annette Leppert–Foegen, Frühe Sozialwissenschaft als Ideologie des kleinen Bürgertums: John Millar of Glasgow, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Sozialgeschichte heute. FS Hans Rosenberg (Göttingen 1974); die Kritik von Haakonssen, Natural Law and Moral Philosophy, S. 173–7, geht an der Sache vorbei. 32 Millar, Origin, Kap. 5, Abschn. 2; Millar, Lectures on Government (1792, James Millar, 3 Bde., Glasgow University, MS Gen.289), Bd. 1, S. 101; dieses Ms. verdient bes. Beachtung, weil es vermutlich John Millars Sohn James gehörte. Cf. Michael Ignatieff, John Millar and individualism, in: Hont/Ignatieff (Hg.), Wealth and Virtue, S. 317–43. 33 Millar, Lectures on Government (James Millar), Bd. 2, S. 179.
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monly bad judges of those matters“, und die Durchsetzung ökonomischer Regulierungen sei schwierig und oft kostspielig, „But still . . . may there not be cases where a regulation of trade is proper? . . . We may suppose that mercantile people will generally understand their own interest: and if their private interest always coincides with that of the public, they may be safely left to trade as they please.“ Er glaubte jedoch, dass es wirtschaftliche Aktivitäten gibt, die zwar profitabel für das Privatunternehmen sind, aber „hurtful to the public“, oder dass jedenfalls bestimmte Aktivitäten nützlicher für die Allgemeinheit sind als andere, so dass „a regulation of trade must often be highly expedient.“34 Darin stand er nicht allein; Kames etwa, ebenso ein genereller Marktbefürworter, setzte sich, vermutlich durch James Steuart beeinflusst, für Außenhandelsregulationen zum temporären Schutz neuer Industriezweige ein.35 Angesichts der modernen Emanzipationstendenz beobachtete Millar die Ausdehnung der Sklaverei in den amerikanischen Kolonien Englands mit großem Unbehagen,36 gegen die er einerseits an das Eigeninteresse der Sklavenhalter appellierte, denn wie Smith glaubte er an die Überlegenheit der freien Arbeit auf lange Sicht, wies aber auch auf die negativen moralischen Konsequenzen der Sklaverei hin und auf den manifesten Widerspruch zur Freiheitsrhetorik der nordamerikanischen Kolonisten.37 Mit Befriedigung notierte er in der dritten Auflage der Distinctions of Ranks, 1779, Urteile von britischen Gerichten, die Sklaverei auf britischem Boden verboten hatten, und in einer Vorlesung aus den späten 1780er Jahren erklärte er, dass „in the consideration of public utility . . . every species of that institution [Sklaverei] ought to be exploded“, denn „it appears inconsistent with the interests of mankind, both as individuals, and as united in civil society.“38 John Craig, Millars Neffe und literarischer Testamentsvollstrecker, berichtete, dass sich Millar später aktiv in der Anti-Sklaverei-Bewegung unter Führung von William Wilberforce engagierte.39
34 J. H. Burton (Hg.), Letters from eminent Persons addressed to David Hume (1849, repr., Bristol 1989), Nr. 51. 35 Kames, Sketches, Bd. 2, S. 426; Steuart, An Inquiry into the Principles of Political Oeconomy (hg. v. Andrew S. Skinner, 2 Bde., Chicago 1966), Bd. 1, Kap. 19, und Skinners Einführung, ibid., S. 76. 36 Vgl. Smith, LJ, S. 185; WN, Bd. 1, S. 388 f.; M. Perelman, Adam Smith and dependent social relations, History of Political Economy, XXI (1989), S. 503–20; Salter, Adam Smith on Feudalism, a. a. O. 37 Millar, Origin, S. 280–95; ähnlich Josiah Tucker, A Treatise concerning Civil Government (1781, repr., NY 1967), S. 184. 38 Millar, Origin, S. 295 f.; Millar, Notes on Roman Law (Ferguson), Bd. 3, S. 103 f.; Alec Samuels, What did Lord Mansfield actually say?, The Law Quarterly Review, CXVIII (2002), S. 379–81.
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III. Absolutismus in England: Millars Kritik von Humes History Hume zufolge war das Übergewicht der Krone über den Adel der entscheidende Faktor zur Überwindung des Feudalismus,40 die Stärkung der Krone also ein progressiver historischer Faktor, was ihn zur Ablehnung des Whig-Mythos der ‚Ancient Constitution‘ führte.41 Die historische Dialektik, die er beschrieb, bestand im ersten Schritt in der Unterwerfung des Adels durch die Krone, während der zweite Schritt nach der Eliminierung der Vermittlungsrolle des Adels zwischen Krone und Volk (die etwa Montesquieu als notwendig für den Erhalt der Monarchie betrachtete)42 im Angriff des Volkes auf die Krone bestand. Der ‚absolutististische Moment‘, die Occasione für die Errichtung eines Absolutismus in dieser historischen Dialektik lag in der Periode, als der Hochadel bereits stark geschwächt war, während das Volk noch nicht stark genug war für eine politische Führungsrolle.43 Ähnliche Modelle zur Erklärung des Absolutismus formulierten auch Montesquieu und Smith,44 und für Millar war Frankreich das historische Paradigma dieses Entwicklungsweges.45 Auch in England hatte die wechselseitige Neutralisierung von Adel und Volk, die ein Macht-Vakuum für die Krone öffnete, nach Hume zur Folge, dass „in the interval between the fall of the nobles and the rise of this order [Commons], the sovereign took advantage of the present situation, and assumed an authority almost absolute.“46 Bedingung für einen erfolgreichen Absolutismus war aber die Verfügung der Krone über hinreichende eigene Machtmittel, in erster Linie ein stehendes Heer. „In most nations“, schrieb Hume, „the kings, finding arms to be 39 Craig, Account of the Life and Writings of John Millar, in: Millar, Origin, S. 112; Lehman, John Millar, S. 50. 40 Hume, HE, Bd. 2, S. 525. 41 Haakonssen, Natural Law and Moral Philosophy, S. 122. 42 Charles de Montesquieu, De L’Esprit des Lois (2 Bde., Paris 1979), Bd. 1, Buch 2, Kap. 4; Francis Bacon, Of Nobility, in: idem, Essays (Ware 1997). 43 Vgl. Perry Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates (Frankfurt/M. 1979). 44 Charles de Montesquieu, Vom glücklichen und weisen Leben (Zürich 1990), S. 150; Smith, LJ, S. 262 ff., 420; Winch, Adam Smith’s Politics, S. 95; Überlegungen zur Figur des ‚Tertius gaudens‘ finden sich bei Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (hg. v. Otthein Rammstedt, Gesamtausgabe, Bd. 11, Frankfurt/M. 1992), Kap. 2, S. 134 ff. 45 Millar, HV, Bd. 3, S. 117 ff.; idem, Lectures on Government (1771–2, George Skene, 2 Bde., Mitchell-Library, Glasgow, MS 99), Bd. 1, S. 38, 130; idem, Lectures on Government (1783 [vermutlich 1785], Alexander Campbell, Glasgow University, MS Gen.179), S. 69 f. 46 Hume, HE, Bd. 4, S. 384.
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dropped by the barons, who could no longer endure their former rude manner of life, established standing armies, and subdued the liberties of their kingdoms.“ Aber dies erschien ihm immer noch als Fortschritt, denn „the people, from the depression of the petty tyrants, by whom they had formerly been oppressed, rather than governed, received great improvement, and they acquired, if not entire liberty, at least the most considerable advantages of it“, nämlich Rechtssicherheit, ‚Rule of Law‘.47 In England nun fehlte diese Bedingung für erfolgreichen Absolutismus, und diese Schwäche wurde der Monarchie unter den Stuarts zum Verhängnis, denn die ‚Commons‘ (also die im englischen Unterhaus vertretenen Schichten, Bürgertum und ‚Gentry‘) „little dreaded the menaces of a prince, who was unsupported by military force“, und während „James [I] was vaunting his divine vicegerency, and boasting of his high prerogative, he possessed not so much as a single regiment of guards to maintain his extensive claims.“ Hätte Charles I „possessed any military force, on which he could rely, it is not improbable, that he had at once taken off the mask, and governed without any regard to parliamentary privileges. . . But his army was new levied, ill paid, and worse disciplined; no–wise superior to the militia, who were much more numerous, and who were in a great measure under the influence of the country–gentlemen.“48 Daher erkläre sich das Scheitern eines englischen Absolutismus. In seinen Lectures on Government gliederte Millar die politische Geschichte Westeuropas in drei Stadien, deren letzte sich in Absolutismus und Demokratie verzweigt: „The period of the feudal aristocracy when the great lords were allodial proprietors – the feudal monarchy, when the king was the only allodial proprietor by all the great lords becoming his vassals – and lastly the commercial government by the introduction of arts and standing armys, which in some countries tended to establish a despotical and in others a democratical form of government.“49 Aus einer anderen Vorlesung notierte ein Student, dass Millar zufolge „Commerce renders the lower people independent so that they are enabled to crush the power of the sovereign. – It introduces also a standing army by which the monarch may be enabled to crush the rising spirit of Liberty in the People. These cannot both take place, and it must often depend on accident, which of them shall 47 Hume, HE, Bd. 3, S. 80; cf. David Hume, Essays – Moral, Political and Literary (hg. v. Eugene F. Miller, Indianapolis 1987), S. 505; Smith, LJ, S. 165 f., 264. 48 Hume, HE, Bd. 5, S. 91, 128, 140, 175, 558 f.; cf. John Robertson, The Scottish Enlightenment and the Militia Issue (Edinburgh 1985), Kap. 3. 49 Millar, Lectures on Government (Campbell), S. 38 f.; Millar, Origin, Kap. 5, Abschn. 3; siehe über Millar als Historiker John G. A. Pocock, The varieties of Whiggism from Exclusion to Reform, in: idem, Virtue, Commerce, and History, S. 298 ff.
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in the end prevail. – In small states the people will most likely prevail.“50 Großbritannien war aber kein Kleinstaat, und sein Weg zu einer freiheitlichen Regierungsform war daher erklärungsbedürftig. Einen der Gründe identifizierten Hume, Smith und Millar in der Insellage,51 die den Unterhalt eines stehenden Heeres militärisch überflüssig gemacht hatte, während die ständige Kriegführung auf dem Kontinent stehende Heere erzwungen hatte, die aus Berufssoldaten bestanden, deren Ethos sie von den Bürgern trennte und der Loyalität zum Monarchen verpflichtete. Während Hume jedoch die Tudor-Herrschaft als eine Art konsensualen Absolutismus interpretierte, sah Millar hier eine Allianz zwischen Krone und Volk gegen den Adel52 und bezeichnete daher als „a gross error to suppose, that the English Government was rendered absolute in the reign of Henry VII.“ Er akzeptierte Humes These, dass die Macht der Krone unter den Tudors anwuchs, verteidigte aber Elizabeth I gegen den Vorwurf des Absolutismus53 und verschob den ‚absolutistischen Moment‘ von den Tudors zu den frühen Stuarts.54 Insoweit Humes Interpretation eine Apologie der Stuarts implizierte, indem in seiner Interpretation der Angriff auf die überlieferte Verfassungsbalance vom Unterhaus ausging,55 konzedierte Millar zwar, dass der Konflikt zum Teil aus gesteigerten Herrschaftsansprüchen der ‚Commons‘ resultierte,56 hielt aber insoweit an der ‚Whig‘-Interpretation der Vorgänge fest, als er in erster Linie die absolutistischen Bestrebungen der Stuarts für die Zuspitzung des Konflikts verantwortlich machte. „The conduct of James [I]“, schrieb Millar, „was an uniform system of tyranny.“ Wenn Elizabeth Parlamentsmitglieder verhaften ließ, so „because they proposed to abridge those powers which the crown indisputably possessed“, während James I einer „fixed resolution to overturn the constitution“ folgte. Die Tragik der Hinrichtung Charles’ I verdankte sich „in a great measure, owing to his crimes. Disregarding the ancient constitution of the kingdom, he formed the design of establishing an absolute power in the crown; and this design he incessantly prosecuted.“ Wenn man ihn daher als 50
Millar, Lectures on Government (Skene), Bd. 1, S. 37, 130. Hume, Essays, S. 505; Smith, LJ, S. 265, 421. 52 Millar, HV, Bd. 2, S. 393, 396; Westerman, Authority and Utility, S. 81–4. 53 Millar, HV, Bd. 2, S. 423, 446; Origin, S. 208; Lectures on Government (Campbell), S. 179 ff.; nach Smith war Humes Interpretation allgemein akzeptiert: „The Tudors are now universally allowed to have been absolute princes“, LJ, S. 264. 54 Millar, Origin, S. 239 f.; HV, Bd. 3, Einführung, Buch 3, Kap. 2; Lectures on Government (Campbell), S. 193 ff. 55 Hume, HE, Bd. 5, S. 297, 355 f., 381 f., Bd. 6, S. 530 ff.; Essays, S. 505. 56 James Steuart schrieb, dass Charles I war „obliged to submit to the power of a small part of the House of Commons, only from the superior influence of their wealth“, Principles, Bd. 1, S. 210, Note d. Hg., cf. S. 213, Note 7. 51
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gewöhnlichen Menschen betrachte und sein Verhalten wie das eines gewöhnlichen Straftäters beurteile, gebe es keinen Zweifel „that he merited the highest punishment“57, womit Millar die Hinrichtung legitimierte. Und ohne Hume beim Namen zu nennen, kritisierte er „one of the first philosophers of the present age, whose favourite object seems to have been to pull down the prevailing doctrines of the whigs, and to represent the peculiar opinions of the two great political parties into which the nation is divided, as equally erroneous.“ Zwar sei Humes Verteidigung Charles’ I auf Tatsachen gegründet, die jedoch so selektiert und dargestellt werden, dass sie ausschließlich seine These unterstützen und „mislead an incautious and superficial observer.“58 Wenn Millar also grundlegend dem Modell von Humes AbsolutismusAnalyse folgte, baute er es jedoch so um, dass es für die radikale WhigHistoriographie der Zeit annehmbar war. Dies ist sicher die zentrale Intention in Millars Historical View of the English Government – ein nur teilweise zu Lebzeiten (1787) publiziertes Werk, das Millar Charles James Fox widmete, dem Führer des linken Flügels der Whigs. Gleichzeitig bewahrte die schottische Evolutionstheorie Millar vor einigen Irrtümern des vulgären ‚Whiggismus‘ der Zeit, insbesonders hinsichtlich der Zurückweisung des Mythos der ‚Ancient Constitution‘,59 und dies war einer der Gründe für Duncan Forbes Formel vom schottischen ‚scientific whiggism‘.60 IV. Der nordamerikanische Krieg Im Laufe des 18. Jahrhunderts wuchsen die Probleme Englands mit seinen nordamerikanischen Kolonien, was eine sich intensivierende Debatte auslöste.61 In seinem Universal Dictionary of Trade and Commerce explorierte Malachi Postlethwayt Wege zu einer „happy and lasting commercial union between Great Britain and her american colonies at this critical 57
Millar, HV, Bd. 3, S. 176 ff., 312, 323. Millar, HV, Bd. 3, S. 313 f; cf. Craig, Account, in: Millar, Origin, S. 131; siehe für französische Debatten über Humes Darstellung der Stuarts Laurence L. Bongie, David Hume: Prophet of the Counter-Revolution (zuerst 1965, Indianapolis 2000). 59 Millar, HV, Bd. 1, S. 60 f. 60 Forbes, Scientific Whiggism: Adam Smith and John Millar, Cambridge Journal, VII (1954), S. 643–70. 61 Siehe Hermann Wellenreuther, Der Aufstieg des ersten britischen Weltreiches. England und seine nordamerikanischen Kolonien. 1660–1763 (Düsseldorf 1987); P. J. Cain/A. G. Hopkins, British Imperialism. Innovation and Expansion. 1688–1914 (London/NY 1994); John G. A. Pocock, 1776. The Revolution against Parliament, in: idem, Virtue, Commerce, and History, Text 4. 58
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juncture.“62 Er sah die Gefahr, dass die Amerikaner ihre eigenen Manufakturen aufbauen und sich aus der ökonomischen Abhängigkeit vom Mutterland befreien. Da aber nicht Zwang, sondern nur „mutual interest can knit and cement mankind together in society“, propagierte er eine asymetrische Arbeitsteilung, die die Industrieproduktion im Mutterland konzentriert, aber den Kolonisten hinreichende Vorteile bietet, etwa durch die Ermäßigung der Abgabenlast durch die britische Krone.63 Thomas Pownall, der Gouverneur in Massachusetts gewesen war, propagierte gleichfalls eine asymtrische Arbeitsteilung, in der allerdings „all the profits of the produce and manufactures of these colonies center finally in the mother country“, und verband dies mit dem Programm einer verstärkten Kontrolle des amerikanischen Handels.64 Die Gegenposition wurde von Adam Smith eingenommen, denn „to prohibit a great people from making all they can of every part of their own produce, or from employing their stock and industry in the way that they judge most advantageous to themselves, is a manifest violation of the most sacred rights of mankind.“ Er fügte aber hinzu, dass Großbritannien in dieser Hinsicht liberaler war, als andere Länder, und dass die bestehenden Handelsbeschränkungen den Kolonien tatsächlich keinen großen Schaden zugefügt hätten. Im Übrigen hielt er den ökonomischen Wert der Kolonien für überschätzt.65 Letztlich zielte er auf die Gleichbehandlung aller Teile des Reiches als Bedingung ihrer Integration, was ein Repräsentationsrecht der Kolonisten im britischen Parlament implizierte, das eventuell in der Zukunft, wenn die amerikanische Bevölkerung jene der britischen Inseln überflügeln würde, nach Amerika zu verlegen wäre.66 Aber diese Vorschläge kamen zu spät und fanden auf keiner Seite des Atlantik stärkere Resonanz.67 Auch Kames betrachtete die Handelsbeschränkungen als „not only unjust but impolitic“, denn „by it the interest of a whole nation, is sacrificed to that of a few 62 Postlethwayt, The Universal Dictionary of Trade and Commerce, with large additions and improvements, adapting the same to the present state of British affairs in America (4. Aufl., 1774, repr., NY, 2 Bde., 1971), Bd. 1, S.V; vgl. Terence W. Hutchison, Before Adam Smith. The Emergence of Political Economy, 1662–1776 (Oxford 1988), Kap. 13. 63 Postlethwayt, Universal Dictionary of Trade and Commerce, Bd. 1, S. 22, 30 f. 64 Pownall, The Administration of the Colonies (2. Aufl., London 1765), S. 27. 65 Smith, WN, Bd. 2, S. 582; Buch 4, Kap. 7, Teil 3; Buch 5, Kap. 3, S. 944 ff.; The Correspondence of Adam Smith (hg. v. Ernest C. Mossner/Ian S. Ross, Indianapolis 1987), App. B.; Andrew S. Skinner, Mercantilist Policy: The American Colonies, in: idem, A System of Social Science. 66 Smith, WN, Bd. 2, S. 625 f. 67 David Stevens, Adam Smith and the Colonial Disturbances, in: Skinner/Wilson (Hg.), Essays on Adam Smith, S. 202–17, hier S. 217.
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London merchants“, und Millar teilte diese Auffassung.68 Divergenzen gab es unter den Schotten vor allem hinsichtlich der aktuellen politischen Konsequenzen, also vor allem über die Legitimität des britischen Unterwerfungskrieges gegen die nordamerikanischen Kolonisten.69 Hume hatte das prinzipielle antiimperialistische Argument entwickelt, dass Imperien durch Überdehnung instabil werden, weil sie die inneren Ordnungsbalancen erodieren, so dass die für die Expansionsanstrengungen mobilisierten Kräfte nicht mehr kontrollierbar sind und sich eventuell nach innen wenden. Rom in der Periode von Marius bis Caesar war das klassische Exempel.70 Unter modernen Bedingungen konzentrierte sich Hume auf die politischen Gefahren, die aus der rasch wachsenden Staatsschuld resultierten, denn dies bedeutete, dem Finanzkapital (dem ‚moneyed interest‘, wie man zeitgenössisch formulierte) einen überproportionalen und nicht legitimierten Einfluss auf die Staatsangelegenheiten einzuräumen, von dem nicht anzunehmen sei, dass die Finanziers davon verantwortlichen Gebrauch machen. Und im Verhältnis von Krone und Parlament erweiterte der Staatskredit die Handlungsmöglichkeiten der Krone auf Kosten des Parlaments, was, wenn die Krone diese Abkoppelung vom parlamentarischen Steuerbewilligungsrecht missbrauchte, Gefahren der Delegitimierung der Regierung und autoritäre Versuchungen mit sich brachte.71 Da Kriegführung das Hauptmotiv für die Ausweitung der Staatschuld war – weshalb nach Postlethwayt die Finanziers generell Kriegsbefürworter waren –,72 war Hume ein Gegner imperialistischer Politik und konkret des amerikanischen Krieges, der seiner Meinung nach ohnehin nicht zu gewinnen war,73 woran auch Smith zweifelte.74 68 Kames, Sketches, Bd. 2, S. 433, Note; Millar, HV, Bd. 4, S. 52; s. a. idem, Lectures on Government (James Millar), Bd. 2, S. 179. 69 D. I. Fagerstrom, Scottish opinion and the American revolution, William and Mary Quarterly, XI (1954), S. 252–75; Palmer, The Age of the Democratic Revolution. 70 Hume, Essays, S. 340 f.; cf. John Robertson, Universal monarchy and the liberties of Europe: David Hume’s critique of an English Whig doctrine, in: Phillipson/Skinner (Hg.), Political Discourse in Early Modern Britain, S. 349–373; für Kontexte David Armitage, Empire and Liberty: A Republican Dilemma, in: van Gelderen/Skinner (Hg.), Republicanism, Bd. 2, Text 2. 71 Hume, ‚Of Credit‘, Essays; cf. Eugene Rotwein, Einführung, in: David Hume, Writings on Economics, (hg. v. Rotwein, Edinburgh 1955), Kap. 3; Istvan Hont, The rhapsody of public debt: David Hume and voluntary state bankruptcy, in: Phillipson/Skinner (Hg.), Political Discourse, Kap. 15. 72 Postlethwayt, Universal Dictionary of Trade and Commerce, s. v. ‚Monied Interest‘. 73 Greig (Hg.), Letters of David Hume, Bd. 2, an William Strahan, Nr. 434, 25.10.1769, Nr. 454, 11.3.1771, Nr. 509, 26.10.1775; cf. John G. A. Pocock, Hume and the American Revolution: The dying Thoughts of a North Briton, in: D. F. Nor-
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Einige der von Richard Sher so genannten ‚moderate Literati‘ von Edinburgh waren dagegen Bellizisten.75 Adam Ferguson, der Mitglied einer letztlich erfolglosen britischen Verhandlungsdelegation in Nordamerika war, publizierte 1776 ein Pamphlet gegen Richard Price, der als ‚rational dissenter‘ zum Aufklärungsflügel des englischen Radikalismus zählte und konkret den Unabhängigkeitskampf der Nordamerikaner als einen Kampf für Freiheit und Fortschritt unterstützte.76 Gegen diesen Fortschrittsglauben richtete sich Fergusons Polemik, gegen die „fashion . . . with some writers, to give high expectations of the great perfection to which human nature is tending, especially in America.“ Das Experiment einer Republik in einem ausgedehnten Territorium konnte nicht gelingen, wie die englische Republik des 17. Jahrhunderts demonstriert hatte. Und die realen Ursachen des Krieges waren nicht die hehren Prinzipien der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, sondern schlichte Interessengegensätze, die im Prinzip verhandelbar sein müssten. Ferguson nahm aber zur Kenntnis, dass die Amerikaner mittlerweile „intoxicated with the idea of separation and independence“ und entschlossen waren, „not to grant supplies in any mode or in any proportion whatever. And if this be their resolution, I am afraid the sword must strike as well as be raised“, denn das Besteuerungsrecht des Mutterlandes musste verteidigt werden. „Trade is the child of interest, and will follow where its parent leads. But the right of sovereignty must be maintained by authority, and sometimes by force. . . . If any part of the monarchy withdraw its allegiance, the remainder must repel such an insult with their blood.“77 Im gleichen Sinne hatte Ferguson 1775 in einer Parlamentsrede zwischen pragmatischen Fragen der Besteuerung und der prinzipiellen Frage der Behauptung der britischen Souveränität über die Kolonien unterschieden, und wenn kein ton et al. (Hg.), McGill Hume Studies (San Diego 1979), S. 325–43; eine anti-imperialistische Haltung nimmt auch Tucker ein, Treatise concerning Civil Government, S. 232 f.; cf. John G. A. Pocock, Josiah Tucker on Burke, Locke, and Price, in: idem, Virtue, Commerce, and History, Kap. 9. 74 Smith, Correspondence, S. 384 f. 75 Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society (hg. v. Duncan Forbes, Edinburgh 1978), S. 272; Alexander Carlyle, The Justice and Necessity of the War with our American Colonies examined (Edinburgh 1777), S. 35. 76 Adam Ferguson, Remarks on a Pamphlet lately published by Dr. Price, intitled, Observations on the Nature of Civil Liberty (London 1776); Richard Price, Political Writings (hg. v. David O. Thomas, Cambridge, 1991); siehe für Hintergründe Gregory Claeys, Virtuous Commerce and Free Theology: Political Economy and the Dissenting Academies, 1750–1800, History of Political Thought, XX (1999), S. 141–72; Dickinson, Liberty and Property, S. 217; Albert Goodwin, The Friends of Liberty. The English Democratic Movement in the Age of the French Revolution (Cambridge/Mass. 1979), Kap. 2; Kramnick, Republicanism and Bourgeois Radicalism. 77 Ferguson, Remarks, S. 22 f., 32 f., 46.
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Spielraum für pragmatische Kompromisse mehr existierte, sondern die Alternative war, die Kolonien aufzugeben oder die britische Souveränität mit militärischen Mitteln aufrechtzuerhalten, dann war die richtige Wahl der Krieg, den die Briten nach Fergusons Überzeugung gewinnen konnten.78 Auch Alexander Carlyle und John Home unterstützten den amerikanischen Krieg, und Kames wies jedenfalls den Anspruch der Kolonisten zurück, im britischen Parlament vertreten zu sein.79 Millar knüpfte in seinen Lectures on Government an Humes kritische Überlegungen zur Staatsschuld an, wobei er, wenn der mitschreibende Student ihn richtig verstanden hat, vor allem auf die unkontrollierte Machtsteigerung der Regierung hinwies, die, indem sie den Finanziers sichere Anlagenmöglichkeiten bietet, „influence among the more wealthy men of the state“ erwirbt, und um diesen Einfluss aufrechtzuerhalten, „they protract a war which affords them a pretence for thus borrowing money.“80 Ob man den Einfluss der Finanziers auf die Regierung verurteilt, oder den der Regierung auf die Finanziers, gemeinsam ist der Kritik von Hume und Millar die These einer für die Nation verderblichen Interessenallianz zwischen diesen, die sich in den Kriegen ausdrückt. Konkrete Aussagen zum amerikanischen Krieg sind von Millar nicht überliefert, wir haben aber das glaubwürdige Zeugnis von Craig, dass Millar den Krieg offen ablehnte und „explicitly avowed his wishes for a total separation, rather than a conquest“, denn „the subjugation of America would have been the triumph of injustice, and was likely, by increasing the ministerial influence, and putting under the command of the crown a large army accustomed to act against the people, to be as fatal to the liberties of the conquerors, as to those of the conquered.“ Argumente wie diese mussten in Glasgow, das stark vom Nordamerika-Handel abhing, unpopulär sein.81 Hume, Smith und Millar scheinen jedenfalls die Anti-Kriegs-Fraktion unter der schottischen Intelligenzia gebildet zu haben. V. Republikanismus Vor der Gründung der Vereinigten Staaten und der Französischen Revolution glaubten die meisten politischen Denker, dass eine Republik nur in 78 Willi P. Adams/Angela M. Adams (Hg.), Die Amerikanische Revolution in Augenzeugenberichten (München 1976), S. 165 ff. 79 Carlyle, The Justice and Necessity of the War; Humes Brief an John Home, 8.2.1776, in: Raymond Klibansky/Ernest S. Mossner (Hg.), New Letters of David Hume (Oxford 1954), Nr. 119; Sher, Church and University, S. 208, 262–76; Kames, Sketches, Bd. 2, S. 357. 80 Millar, Lectures on Government (Campbell), S. 395. 81 Craig, Account, in: Millar, Origin, S. 107 f.
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einem kleinen Staat errichtet und stabilisiert werden kann. Die historische Ausnahme, die späte römische Republik, bestätigte diese Regel, denn sie war in das Kaisertum eingemündet.82 In seinem Essay über die Idea of a Perfect Commonwealth experimentierte Hume mit föderalen Strukturen und bezog sich dazu auf das Commonwealth of Oceana (1656) von Harrington als „the only valuable model of a commonwealth, that has ever yet been offered to the public.“83 Daneben war sein Modell realgeschichtlich inspiriert durch die Niederlande und möglicherweise durch Montesquieus Analyse dieses Regimes als eine ‚société de sociétés‘.84 In der europäischen Machtkonkurrenz konnte sich jedenfalls eine kleine Republik nicht behaupten, und Föderalismus erschien als eine mögliche Lösung, die freiheitliche Politik einer Republik mit den Notwendigkeiten der Behauptung unter den europäischen Territorialstaaten zu verbinden: „A small commonwealth is the happiest government in the world within itself“, schrieb Hume, „But it may be subdued by great force from without“, während eine Föderation „seems to have all the advantages both of a great and a little commonwealth.“85 Dieser Essay Humes ist aber nicht mehr als ein Gedankenexperiment, an dessen Realisierung er nicht glaubte. Bei Millar finden wir Echos von Harrington und Hume: Einer undatierten Vorlesungsmitschrift seiner Lectures on the Publick Law of Great Britain86 zufolge verwies er auf Harrington und sprach von einer „subordination of assemblies composed of representatives“, nämlich „representatives of provinces“, einen „great council of representatives“ und einen „little council or senate.“ Die Kombination einer großen Repräsentativversammlung, die Beschlüsse fasst, die von einem kleineren Senat vorbereitet werden, ist ein Charakteristikum des Harrington’schen Systems. Das föderale Element wird von Millar unter Hinweis auf die Niederlande eingeführt und damit begründet, dass, wenn „a nation becomes too extensive to be united in this system of subordination, the distant parts may be connected by a federal union under one chief magistrate and with certain common regulations.“ Dieses Staatsoberhaupt muss kein König sein, es kann ein venezianischer Doge oder ein ‚Lord Protector‘ wie zur Zeit Harringtons sein, so wie es später 82 Siehe Fergusons Analyse, The History of the Progress and Termination of the Roman Republic (Basel 1791). 83 Hume, Essays, S. 514. James Harrington, Oceana (hg. v. Hermann Klenner/ Klaus U. Szudra, Leipzig 1991). 84 Montesquieu, Esprit des Lois, Bd. 1, Buch 9, Kap. 1–3; cf. Hume, Essays, S. 526; Sheila Mason, Montesquieu and the Dutch as a maritime nation, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, CCXCII (1991), S. 169–86; cf. John G. A. Pocock, The Politics of Extent and the Problem of Freedom (Colorado Springs 1988). 85 Hume, Essays, S. 525. 86 Glasgow University, MS Gen. 203, S. 29.
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einen amerikanischen Präsidenten gab. Föderalismus meint, dass die „different states so united have all the liberty and spirit of a republic and all the safety of a great empire.“ Angesichts dieser Übereinstimmung erscheint es bemerkenswert, dass sich Hume im Dezember 1775 verpflichtet fühlte, seinen Neffen, der als Student in Millars Haushalt lebte, gegen Millars Republikanismus zu imprägnieren. Er stimme mit Millar darin überein, schrieb er, dass theoretisch „the Republican Form of Government is by far the best.“ Aber welche praktischen Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Abgesehen davon, dass „an established Government cannot without the most criminal Imputation, be disjointed from any Speculation; Republicanism is only fitted for a small State: And any attempt towards it can in our Country, produce only Anarchy, which is the immediate Forerunner of Despotism.“87 Demnach scheint es, dass er Millar verdächtigte, Republikanismus seinen Studenten als ernsthafte Perspektive nahe zu legen. Dass Millar diesen Ruf erwarb, geht aus seinem Brief vom August 1784 an Edmund Burke hervor, der zu dieser Zeit Rektor der Universität von Glasgow war. Offensichtlich hatte es Anschuldigungen gegen Millar wegen politischer Indoktrination seiner Studenten gegeben, und Millar räumte ein, dass, „by lecturing upon public law, I certainly am guilty of endeavouring to explain the principles of our own government. I know that I have been accused of inculcating Republican doctrines“, fährt er fort, er sei sich aber nicht bewusst „of having given any just ground for such an imputation. It has always been my endeavour to recommend that system of limited monarchy which was introduced at the revolution [1688], an acquaintance with which I conceived to be as useful to young men of fortune as many other branches of science. I should think it petulance, if, in the capacity of a publick lecturer, I were to meddle with the local and partial politicks of the day.“88 Hierin war er nicht ganz aufrichtig, denn wie zu zeigen ist, befasste er sich in seinen Vorlesungen mit der Französischen Revolution von ihren Anfängen an. VI. Repräsentative Demokratie Smith hatte seinen Studenten gesagt, dass es vermutlich eine primitive Stammesdemokratie in der Frühzeit menschlicher Zivilisation gab, die dann durch Adelsherrschaft und Monarchie ersetzt wurde.89 Mit der Entwicklung des Instituts des Eigentums und der Schaffung komplexerer politischer Institutionen, mit Arbeitsteilung und einer frühen Entfaltung von Kultur unter 87 88 89
Greig (Hg.), Letters of David Hume, Bd. 2, Nr. 512, 8.12.1775, S. 306. Glasgow-University, MS Gen. 502/36. Ich folge hier Smith, LJ, S. 200 ff.
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den spezifischen Bedingungen mediterraner Gesellschaften fand eine Erneuerung von Demokratie statt, die nicht mehr auf gentilistischer und Stammesbasis, sondern auf einer genuin politischen Basis ruhte. Die Geschichte Griechenlands und Roms hatte aber gezeigt, dass der wachsende Reichtum und Luxus dieser Gesellschaften zu ihrer Degeneration führten und sie zur Beute junger, aggressiver Barbarenvölker machten. Nach dem Zusammenbruch des (west-)römischen Reiches wiederholte sich dieser Zyklus, indem eine primitive Stammesdemokratie durch Adelsherrschaft und Monarchie abgelöst wird, die dann in die moderne Gesellschaft einmünden, z. T. republikanisch, überwiegend aber monarchisch und absolutistisch regiert. England war zwar eine Monarchie, die sich aber nicht zu einem Absolutismus ausbilden konnte, und das Resultat war ein distinktes ‚system of liberty‘, das sich gegen Anfechtungen behauptet hat, so dass das britische Regierungssystem „now supposes a system of liberty as a foundation.“90 Unter den Institutionen, die diese Freiheit beschützen, nennt Smith prominent „The frequency of the elections . . ., as the representative must be carefull to serve his country, at least his constituents, otherwise he will be in danger of losing his place at the next election“, wobei er aber auch auf den ‚Septannial Act‘ von 1715 hinweist, der „diminishes the democratical part of the government.“91 Trotzdem glaubte er, dass die britische Politik „more than ever democraticall“ ist, ablesbar im Besonderen an der Freiheit politischer Diskussion.92 Gleichwohl existierte seiner Ansicht nach weiterhin eine absolutistische Bedrohung, die aus der auch in Großbritannien bestehenden Tendenz zum Aufbau eines stehenden Heeres und der expansiven Finanzmacht der Krone aufgrund der Staatsschuld resultierte.93 Mit Blick auf die Antike existierte auch die Sorge, dass moderne Gesellschaften, wie die antiken Republiken, durch wachsenden Reichtum korrumpieren. Berufsarmeen mochten das adäquate moderne Instrument sein, externe Aggression zurückzuweisen, waren aber deshalb gefährlich für die Freiheit, weil sie ein von der Bürgerschaft abgehobenes Ethos und eventuell einen eigenen esprit de corps entwickeln. Ferguson analysierte später den Aufstieg Napoleons zur Macht in diesem Sinne als Militärherrschaft.94 90
Smith, LJ, S. 271. Smith, LJ, S. 273. Dieses Gesetz hatte die Wahlperiode von 3 auf 7 Jahre verlängert. 92 Smith, LJ, S. 303. 93 Smith, WN, Buch 5, Kap. 3. 94 The Correspondence of Adam Ferguson (hg. v. Vincenzo Merolle, London, 2 Bde., 1995), Bd. 2, Nr. 331, an John MacPherson, 26.9.1797; Nr. 357, an Alexander Carlyle, 10.2.1800. 91
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Millar nun schloss von der emanzipatorischen Tendenz moderner Gesellschaften auf eine begleitende Tendenz zur Demokratie, denn sobald das Volk die Regierung kritisch-rational zu beurteilen beginnt, „they must feel a bias in favour of that system, which tends to the equalization of ranks, and the diffusion of popular privileges.“95 Die quasi-erbliche Führungsrolle von Adelsfamilien verliert an Bedeutung und „Political power is apt to be acquired by the great body of the people, who are by their condition enabled to acquire wealth and who are, at any rate placed in independent circumstances.“96 Die Erinnerung an die Freiheitskämpfe des 17. Jahrhunderts hält die Freiheitsliebe wach und beschützt ein System repräsentativer Demokratie, das vielleicht in einem großen Territorialstaat das beste Instrument zur Bewahrung der Freiheit ist.97 Über die zeitgenössischen Deutungen Großbritanniens als ‚Mischverfassung‘ ging er hinaus, indem er sich von der Prädominanz der Demokratie überzeugt zeigte, d.h., dass das Unterhaus die entscheidende Stelle im politischen System einnahm oder jedenfalls einnehmen sollte. Es scheint also, dass sich Millar pragmatisch nicht sehr stark an Humes Modell einer Föderativrepublik orientierte, sondern im Rahmen der gegeben Verhältnisse mehr Wert legte auf die Stärkung der demokratischen Komponenten der Verfassung als Gegengewicht zur Krone. Wie analysierte Millar die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in England?98 Wie üblich beginnt er mit Überlegungen zu sozialevolutionären Umwälzungen und der Tendenz zur Emanzipation. Demnach begann zur Zeit James’ I das „commercial government of England“, denn durch den „progress of commerce and manufactures had . . . begun to change the manners and political state of the inhabitants. Different arrangements of property had contributed to emancipate the people of inferior condition, and to undermine the authority of the superior ranks.“ Während nun „the independence and opulence acquired by the lower classes of the people . . . tended to produce a popular government“, führte die „introduction of mercenary armies“ andererseits zu einer Ausdehnung der Macht der Krone. „This gave rise, unavoidably, to a contest between the king and the people.“ Eine Besonderheit Englands lag aber in der Konzentration seiner Militärkraft auf die Marine, und während die „soldiers of a land army have usually no other employment, . . . the sailors of the royal navy are usually drawn . . . from the merchant service“, was bedeutet, dass sie nicht im glei95
Millar, Origin, Kap. 5, Abschn. 2; HV, Bd. 4, S. 307. Millar, Lectures on Government (James Millar), Bd. 1, S. 104, Note. 97 Millar, Origin, S. 240. 98 Siehe im Kontext Mark Francis/John Morrow, After the Ancient Constitution: Political Theory and English Constitutional Writings, 1765–1832, History of Political Thought, IX (1988), S. 283–302. 96
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chen Maße zur Ausbildung eines militärischen Korpsgeist neigen werden und nicht im gleichen Maße als Instrument zur Unterdrückung der Volksfreiheit geeignet sind. Im Laufe der Revolution spaltete sich sodann die Revolutionspartei in die Presbyterianer, die eine ‚limited monarchy‘ anstrebten, und die Independenten, die, als Republikaner, auf eine „democratical constitution“ zielten. Harrington würdigt Millar hier wegen seiner „most liberal views with respect to government“ und seiner „thorough acquaintance with the true principles of democracy“, angewandt auf die englischen Bedingungen der Zeit. Die Revolution von 1688 stellte dann eine entscheidende Beschneidung absolutistischer Potentiale dar. Ihre Rechtfertigung lag darin, dass, wenn „a sovereign has violated the fundamental laws of the constitution, and shewn a deliberate purpose of persevering in acts of tyranny and oppression, there cannot be a doubt but that the people are entitled to resist his encroachments, and to adopt such precautions as are found requisite for the preservation of their liberty.“99 Während die Revolution der 1640er Jahre in eine Militärdiktatur ausgeartet war, gelang nach 1688 eine nachhaltige Sicherung der Freiheit, indem zuallererst die Exekutive der Legislative untergeordnet wurde, „which is agreeable to the natural order of things; and without which there can be no free government.“ Parlamentarische Ministerverantwortlichkeit verminderte die persönliche Macht des Monarchen, und die Legislative wurde auch gestärkt durch die wachsende Notwendigkeit einer aktiven Gesetzgebungstätigkeit unter modernen Bedingungen.100 Die Freiheit des Volkes musste aber auch gegen Willkür und Machtmissbrauch des Parlaments gesichert werden,101 wozu häufige Wahlen beitragen, die im Rahmen einer als legitim anerkannten Parteienkonkurrenz für einen Wechsel des politischen Führungspersonals den Wünschen des Volkes entsprechend sorgen. Dieses System vereinigt nach Millar die Vorteile von Monarchie und Republik, „by uniting the dignity and authority of an hereditary monarch, calculated to repress insurrection and disorder, with the joint deliberation of several chief executive officers, and a frequent rotation of their offices, tending to guard against the tyranny of a single person.“102 Einer Vorlesungsmitschrift aus den frühen 1770er Jahren zufolge, zeigte sich Millar zu dieser Zeit zufrieden mit der britischen Demokratie, denn während auf einer abstrakten Ebene gelte, dass „each person must certainly 99
Millar, HV, Bd. 3, S. 1, 117 f., 120 f., 141, 285 f., 298, 438. Millar, HV, Bd. 4, S. 70, 78. 101 Millar, HV, Bd. 3, S. 466; die Evidenz, dass Millar dies Problem bedachte, wird völlig übersehen von Westerman, Authority and Utility, siehe etwa S. 63. 102 Millar, HV, Bd. 4, S. 74 ff.; Lectures on Government (Campbell), S. 446 ff.; Lectures on Government (James Millar), Bd. 3, S. 40 f. 100
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take the best care of his own interest“, so dass „it were to be wished that everyone could be admitted into the national assembly“ – direkte Demokratie –, ist dies tatsächlich „inconsistent with good order and dispatch of business“, so dass als zweitbeste Lösung zu gelten hat, dass „the whole body should have a share in the selection of their representatives“ – repräsentative Demokratie, die in England „is perhaps as democraticall as can subsist in a Nation of its extent“, denn „as they are chosen pretty frequently it must be said that the National assembly depends sufficiently upon the people.“103 Die Parlamentsauflösung im Jahre 1784 scheint jedoch für Millar anhaltende absolutistische Gefahren aufgezeigt zu haben, weil die seinerzeitige Regierung des jüngeren William Pitt, die keine parlamentarische Mehrheit hatte, im Vertrauen auf die Wirkungen der Patronage der Krone und ihre Möglichkeiten zur Steuerung der öffentlichen Meinung eines folgebereiten Parlaments nach Neuwahlen sicher sein konnte. „After this leading experiment, it became now evident to all the world, that a reform in the mode of electing the national representatives was indispensably requisite, for counteracting the effects of that great influence acquired by Ministers.“104 Die Kronpatronage musste durch eine Stärkung der demokratischen Komponente der Verfassung ausbalanciert werden, und ungefähr von diesem Zeitpunkt ab scheint Millar die Bewegung zu einer demokratischen Wahlreform, die sich in England seit den 1770er Jahren entwickelt hatte, unterstützt zu haben.105 In einer Vorlesungsmitschrift aus den 1780er Jahren postulierte Millar, dass ein Repräsentativsystem nur gut funktioniert, wenn „the representatives are under the influence and controul of the people“,106 wozu es zunächst vor allem zwei Mittel gibt: das imperative Mandat und häufige Wahlen. Da Millar das offensichtliche Argument gegen das imperative Mandat akzeptiert, dass Abgeordnete nicht nur ihren jeweiligen Wahlkreis vertreten sollen, sondern im öffentlichen Interesse zu handeln haben, befürwortet er häufige Wahlen. In der Frage des Wahlrechts diskutiert er sodann die Alternative einer Eigentumsqualifikation („proportioned to wealth“) versus „equal suffrage.“ Das erstere „seems to ensure stability, as it makes power correspond with natural influence“, impliziert jedoch auch „a gradual change towards aristocracy – the effect of natural influence being continually superadded to power“, während „An equal suffrage to every individual is more consistent with natural equity“, denn „property is not the sole, nor 103
Millar, Lectures on Government (Skene), Bd. 2, S. 247 f. John Millar (?, anon.), Letters of Crito, on the Causes, Objects, and Consequences of the present War (2. Aufl., Edinburgh 1796), S. 104. 105 Haakonssen, Natural Law and Moral Philosophy, S. 166 f. 106 Millar, Lectures on Government (Campbell), S. 362 ff. 104
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the chief interest in a community – in regard to personal safety, and liberty which are more to be valued, and of much greater importance – all men are equal.“107 Daraus ergibt sich die klare Schlussfolgerung, dass in Wahlen, „to be most consistent with the freedom and liberties of the people, every proper person ought to have a vote.“108 Mit einer derartigen Aussage, mit der Millar unter den Schotten alleine dasteht, war er nicht nur dem existierenden Wahlrecht weit voraus, sondern er zeigt sich auch klar als Radikaler. Allerdings ist zu notieren, dass Millar diese radikale These aus pragmatischen Gründen einschränkt, indem er bezweifelt, dass „persons of extreme indigence and among the lowest rank of the people . . . could be proper judges of the qualifications of the members for whom they vote to be their representative. Besides, the greatest bribery would be practised by ambitious men among these indigent persons whom we cannot suppose to possess such a public spirit as that they would resist this temptation.“109 Dies ist eine realistische Einschätzung angesichts der existierenden Käuflichkeit insbesondere kleiner Wahlkreise.110 Es kann aber kein Zweifel sein über Millars generelle Stellungnahme für das allgemeine und gleiche Wahlrecht, in das wohl auch Frauen (da ‚proper persons‘) eingeschlossen sind. Wenn er also seinen Studenten erklärte, das britische Repräsentativsystem sei „as free as is compatible with good order“, so unter Hinzufügung des Monitums, zu verwirklichen bleibe noch „a more equal representation.“111 VII. Die Französische Revolution Abgesehen von James Mackintosh, der später seine Meinung änderte und ohnehin eine späte Figur in einer sich auflösenden schottischen Aufklärungsbwegung ist,112 war Millar der einzige schottische Aufklärer, der die Französische Revolution begrüßte und unterstützte. Hume und Kames waren vorher verstorben, Smith erlebte nur die Anfänge, ohne sich dazu zu äußern, und die anderen sind mehr oder weniger klare Gegner.113 107
Millar, Lectures on Government (James Millar), Bd. 3, S. 12 ff., 16 f. Millar, Lectures on Government (Campbell), S. 364. 109 Millar, Lectures on Government (Campbell), S. 373 f. 110 Nach Paul Langford waren Parlamentssitze im späten 18. Jahrhundert „subject to market economics“, A Polite and Commercial People. England, 1727–1783 (Oxford 1990), S. 597. 111 Millar, Lectures on Government (James Millar), Bd. 3, S. 44. 112 Jakob Mackintosh, Verteidigung der französischen Revolution und ihrer Bewunderer in England, gegen die Anschuldigungen des Herrn Burke; nebst abgerissenen Bemerkungen über das letzte Werk des Herrn von Calonne [Vindiciae Gallicae] (Hamburg 1793); Haakonssen, Natural Law and Moral Philosophy, Text 8; Donald Winch in Stefan Collini et al., That noble Science of Politics. A study in nineteenthcentury intellectual history (Cambridge 1987), S. 45–7 u.pass. 108
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Nach einer kurzen Zeit neugieriger Offenheit, die zwischen Zustimmung und Skepsis schwankte, gab es in Großbritannien eine scharfe Reaktion gegen die Revolution. Die Radikalen, wie Thomas Paine, waren enthusiastisch, wurden aber alsbald Opfer einer Regierungsrepression unbekannten Ausmaßes.114 Glasgow war eine Hochburg des Radikalismus, aber es war in Schottland, wo der schottische Radikale Thomas Muir 1793 wegen Aufruhr verurteilt wurde, so wie ein weiterer Schotte und zwei englische Radikale im folgenden Jahr. Wer die Revolution verteidigen wollte, musste vorsichtig sein, und dies könnte erklären, dass Millar (wenn er denn der Autor war, wie überwiegend angenommen wird) seine Letters of Crito, on the Causes, Objects, and Consequences of the present War im ‚Scots Chronicle‘ 1796 unter Pseudonym publizierte.115 Die ‚Whigs‘ spalteten sich über die Frage der englischen Politik gegenüber der Französischen Revolution, die von Edmund Burke scharf verurteilt wurde, während Millar sich an jenem Flügel unter der Führung von Fox orientierte, der verhältnismäßig konsequent gegen die Beteiligung Englands am konterrevolutionären Krieg opponierte.116 Craig zufolge machte Millar 1792 die Bekanntschaft von Fox, „whose talents he admired, whose steady patriotism . . . was the object of his highest veneration.“117 Zu dieser Zeit beteiligte er sich zusammen mit seinem ehemaligen Studenten Muir an der Gründung der Glasgow-Sektion der von Reform-Whigs organisierten ‚Society of the Friends of the People‘, die im Spektrum der Bewegungen für eine demokratische Wahlrechtsreform den moderaten Flügel repräsentierte.118 Die früheste Quelle für Millars Reaktion auf die Revolution findet sich im zweiten Band einer Vorlesungsmitschrift seiner Lectures on Government 113 Siehe z. B. Hugh Blair, Sermons (Bury St. Edmunds, 3 Bde., 1820), Bd. 3, Predigt 18: On the love of our country, 18 April 1793. 114 Goodwin, Friends of Liberty; H. T. Dickinson, British Radicalism and the French Revolution. 1789–1815 (Oxford 1988); T. P. Schofield, Conservative Political Thought in Britain in response to the French Revolution, The Historical Journal, XXIX (1986), S. 601–22. 115 Ich bin skeptisch hinsichtlich Millar als Verfasser der gleichfalls pseudonymen ‚Letters of Sidney‘, die ebenfalls 1796 im ‚Scots Chronicle‘ erschienen. Ein Grund für meinen Zweifel resultiert aus einer Fußnote im 9. Brief: „These observations on the right of property are merely a very slight sketch of the admirable discussion, respecting the origin and history of property, introduced by Professor Millar, of Glasgow, in his lectures on Civil law.“ Es ist kaum wahrscheinlich, dass Millar in einer anonymen Artikelserie derart auf sich selbst verweisen würde; vgl. Haakonssen, Natural Law and Moral Philosophy, S. 155, und Westerman, Authority and Utility, S. 106–8, die John Craig als Autor annehmen. 116 Charles J. Fox, Speeches during the French Revolution (London/NY 1924). 117 Craig, Account, in: Millar, Origin, S. 91 f. 118 Craig, Account, in: Millar, Origin, S. 115; Goodwin, Friends of Liberty, S. 203–7 u. pass.; Dickinson, British Radicalism, S. 8.
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von 1789,119 in den ein kurzer Text unter dem Titel: „Late Revolution in France“ interpoliert wurde, datiert vom 28 Januar 1790.120 Darin wird die Revolution als „extraordinary event“ beschrieben, denn das französische ancien régime könne als der „mildest and best regulated despotism of which there is any example“ betrachtet werden, und es habe keine „recent oppression to inflame the people“ gegeben. Während die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts durch tyrannische Akte der Krone veranlasst waren, und während die Nordamerikaner durch exzessive Besteuerung in die Revolte getrieben worden waren, gab es in Frankreich „no subject of complaint . . ., unless the weight of taxes, common to all the great European nations.“ Daraus schließt Millar, dass die Gründe der Revolution in einem allgemeinen Prozess zivilisatorischen Fortschritts und von Aufklärung zu suchen sind: „The real cause – advancement of philosophy, and emancipation from ancient prejudices upon political subjects.“ Ein „general spirit of Liberty by the mere progress of philosophy“, lehrte Millar, wurde „diffused over all men of a liberal education; and thence to have been communicated in some measure to persons of inferior rank.“ Zusätzlich gab es spezielle Faktoren, wie die Armut des niederen Klerus (der sich mit dem dritten Stand solidarisierte), und die Adelsrevolte (der Widerstand des Pariser Parlement gegen die Krone), die in gewisser Weise die Revolution auslöste. Aber die allgemeine Motivierung der Revolution durch Fortschritte von Zivilisation und Aufklärung dient Millar als Anhaltspunkt für die These eines weit reichenden emanzipatorischen Potentials der Revolution, die zur Abschaffung von vielen alten Missständen führen kann. Darüber hinaus weist er auf die Signalwirkung für ganz Europa hin: „France will lead the fashion in point of government – civil and religious liberty will consequently be extended to [the] rest of Europe“, vergleichbar mit den internationalen Wirkungen der Reformation im 16. Jahrhundert. Zweitens haben wir einen Brief von Millar an seinen ehemaligen Schüler Samuel Rose vom Februar 1790,121 in dem Millar sich zum Konflikt zwischen Burke und Fox äußert und für den letzteren Partei ergreift. Und er äußert seine Erwartung, dass die Revolution das politische Klima für Reformen des englischen politischen Systems positiv beeinflussen wird, so dass, in einem bemerkenswerten Kreislauf, freiheitliche Ideen, die ursprünglich aus England kamen und dann in Nordamerika wuchsen, von wo aus sie Frankreich erreichten, nunmehr nach England zurückkehren – aber in fortentwickelter, potenzierter Gestalt. Die Aufgabe der Demokratisierung des 119 Millar, Lectures on Government (1789, William Rae, 3 Bde., Glasgow-University, MS Gen. 180/1–3). 120 Zwischen den Seiten 256 und 257. 121 Haakonssen, Natural Law and Moral Philosophy, S. 167, Note 46; Westerman, Authority and Utility, S. 110.
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englischen Wahlsystems wird jedoch nicht einfach sein, denn „There is a great pecuniary interest that must lead many powerful individuals to oppose it, and it must require some length of time before the voice of the community at large is able to silence the opposition arising from private views.“ Auch in den Letters of Crito unterstützte Millar die Gruppe um Fox und ihre Politik. So wenn er im Vorwort des Traktats, der Fox gewidmet ist, spricht von der „mad prosecution of this war of ministers“, der also weder ein Krieg mit Unterstützung des Volkes noch in seinem Interesse sei. Gleichzeitig aber kritisiert er die Führer der Französischen Revolution, deren Politik zu radikal war, etwa in der Abschaffung des Adels, und kommentiert die „frivolous minuteness . . . of the leaders and directors of this great transaction, the affectation of philosophic accuracy with which they entered upon many abstract and useless questions, and the pomp of systematic regularity with which they endeavoured to exhibit and to adorn their new political system“, die mehr den „juvenile efforts of raw and speculative politicians“ glichen, denn „solid productions of experienced and profound statesmen.“ Auch hier lokalisiert er die Antriebskräfte der Revolution in allgemeinen zivilisatorisch-aufklärerischen Prozessen und konstatiert eine Tendenz der Ersetzung traditionaler Legitimationsformen durch rationale. Rationale politische Herrschaft „supposes information and reflection, and may be expected to become the prevailing principle, in proportion as the understanding is cultivated, and as reason triumphs over ancient prejudices.“ Aufklärung „has diffused itself over all the part of the society exempted from bodily labour“ und „could hardly fail to shed its rays upon the subject of government, and in that quarter, as well as in others, to enlighten the great body of the people.“ Reformerische Lösungen des Widerspruchs zwischen Aufklärung und traditionaler Herrschaft waren jedoch durch das ancien régime blockiert, so dass die zu präferierende Form gesellschaftlichen Fortschritts, „slowly and gradually, so as not to endanger the public tranquillity, by counteracting old habits, and losing all sight of the former usages“, nicht gelingen konnte. Die Fortschrittskräfte fanden sich in der Lage, einen „great change“ bewerkstelligen zu müssen, „to be extorted in opposition to the constituted authorities“, was in einem Schlage, revolutionär, erfolgen muss, indem „the machine of administration . . . be brought into the hands of the reformers; and precautions must be taken too for preventing the partizans of the old system from producing a counter-revolution.“122 Sehr klar wird hier der Krieg gegen die französische Republik verurteilt, denn niemand „animated by the least spark of justice or humanity“ könne „reflect, for a moment, without indignation and horror, upon a combination 122
Alles in den ersten beiden Briefen.
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. . . against the liberties of mankind, by which a set of absolute Princes, not contented with enslaving their own subjects, resolved to maintain by force a system of slavery in other countries; arrogated the power of dictating a form of government to a foreign independent state.“123 In den englischen Parlamentsdebatten war die Frage der Kriegsziele zentral, weil die englische Regierung nicht – oder jedenfalls nicht offen – jene der ‚Heiligen Allianz‘, oder gar jene der französischen Emigrées, d.h. die Rückkehr zum status quo ante, übernehmen konnte, so wenig sie auch interessiert war, eigene Kriegsziele zu formulieren, die die anti-französische Koalition eventuell gesprengt hätten. William Pitt, der führende Minister, wich daher diesen Fragen von Fox systematisch aus und baute darauf, dass die Exzesse der Revolution ihm eine hinreichende interne Unterstützung sicherten.124 Tatsächlich, fand auch Crito, war der Terreur nicht zu legitimieren, er sollte aber in die rechte Perspektive gerückt werden, denn wenn Robespierre „shed without mercy the blood of every person who opposed his designs“, dann weil „an absolute submission to the executive government was become indispensably necessary. Had an opposite party to that which was uppermost been suffered to raise his head, it would immediately have been joined and supported by the foreign powers, and this would have produced such internal commotion, as would have prevented the extraordinary exertions which the preservation of the constitution required. It is not my intention to vindicate these violent measures, but to point out the persons at whose door the principal guilt must lie.“ Wenn man die Franzosen nicht bedroht hätte, sondern ihnen überlassen hätte, „to settle their own government according to their own ideas of expediency, . . . Had they not been terrified, and reduced to despair, by an invasion . . . there is no ground to believe that those tragical and shocking events, so inconsistent with the character of a polished nation, would ever have appeared.“ Anstatt die Revolution einzudämmen, war der konterrevolutionäre Krieg demnach verantwortlich für ihre Radikalisierung. Die tatsächlichen Motive für die englische Kriegsbeteiligung sollten denn auch im Interesse des englischen Establishments gesucht werden, die internen Reformbewegungen niederzuhalten, denn „Men of great fortunes, the nobility and gentry, who have acquired the nomination of Members of Parliament, and who by that means are enabled to gratify their ambition and to promote their own emolument,“ schrieb Crito, „have a great interest in retaining the present corrupted system, and may be supposed ready to employ every pretext whatever for warding off the intended reformation.“ Mit der 123
Millar (?), Letters of Crito, S. 20. William Pitt, Orations on the French War, to the Peace of Amiens (London/ NY, n.d.). 124
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erklärten Regierungspolitik, die Ausbreitung von ‚French opinions‘ in England zu verhindern, war eine grotesk-hysterische Verzerrung der Bestrebungen der englischen Reformbewegungen verknüpft, denen nicht nur die Absicht der Abschaffung der Monarchie und ihre Ersetzung durch „a democratical government“, sondern auch jene einer „complete equalization of rank and property“ unterstellt werde. Diese alarmistische Propaganda der Verteidigung von ‚King and Church‘ sei wesentlich aus der Furcht vor sozialer Gleichmacherei gespeist. Trotzdem glaubt Millar an die Fortschritte der Aufklärung, daran, dass „an attention to the general principles of government, and a disposition to rescue mankind from slavery and oppression“ durch die Französische Revolution einen Schub erhalten haben und à la longue nicht zu stoppen seien.125 „Is our limited monarchy“, fragt er, „so ill adapted to the state of the community, that we dare not bring it to the test of reason?“, und er verurteilt die anti-rationalistischen Tiraden von Burke, „the fanciful admirer of the age of chivalry, who appears to have formerly displayed the gilded colours of liberty as a mere light horseman of aristocracy, . . . was glad to retire upon a most extravagant pension, and had the effrontery to laugh at his former professions.“126 Millar selbst hatte, Craig zufolge, die Ernennung zu einer lukrativen Regierungsposition abgelehnt, weil er füchtete, seine regierungskritischen Positionen damit zu kompromittieren.127 Millars letzter Kommentar zur Französischen Revolution entstammt dem vierten und letzten Band seines Historical View, der posthum von Craig publiziert wurde und nicht mehr ist als eine Sammlung von Essays unklarer Entstehungszeit. Ausgangspunkt ist erneut der Fortschritt der Aufklärung, der wohl temporär aufgehalten, aber nicht gestoppt werden konnte bis schließlich „the light of science . . . discovered the rights of man, and the true principles of government.“ Die Franzosen „awoke, as from a dream of horror and distress“, und ihr „enthusiasm in correcting abuses and in propagating the new system, rose to a height proportioned to the danger which they had escaped, and the obstacles which they had to surmount.“ Unglücklicher Weise jedoch überschritten sie dabei „those banks and landmarks, which, while they defended the civil rights of the inhabitants, might have contributed to direct and regulate the new establishment.“128 Dies könnte ein Hinweis auf die Enttäuschung der Revolutionsanhänger durch die napoleonische Herrschaft sein. 125
Millar (?), Letters of Crito, S. 27 f., 44, 74, 14 f., 36, 75. Millar (?), Letters of Crito, S. 32, 39; cf. HV, Bd. 4, S. 307. 127 Craig, Account, in: Millar, Origin, S. 98. 128 Millar, HV, Bd. 3, S. 439; Bd. 4, S. 308. Cf. Craig: Account, in: Millar, Origin, S. 112–6. 126
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VIII. Von ‚Authority‘ zu ‚Utility‘ Wie verschiedentlich angeklungen ist, beobachtete Millar vor dem Hintergrund der Fortschritte von Zivilisation und Aufklärung auch eine Verdrängung von traditonalen Legitimationsformen politischer Herrschaft durch rationale. Hume hatte Politik grundsätzlich als ein Spannungsfeld von ‚Authority‘ und ‚Liberty‘ analysiert,129 während Smith und Millar das Begriffspaar ‚Authority‘ und ‚Utility‘ vorzogen.130 ‚Utility‘ hat starke rationalistische Konnotationen, die auf Interessen verweisen, im Kontext politischer Legitimation jedoch nicht nur, und nicht primär, auf Privatinteressen, sondern auf allgemeine oder ‚öffentliche‘ Interessen,131 während ‚Authority‘ nicht-rationale Legitimität konnotiert, die auf schierer Gewalt oder auf traditionalen Legitimationsformen beruht. Wenn ‚Utility‘ eine rationale Legitimierung durch den Nachweis von Vorteilen für die Regierten verlangte, so dass Regierungsformen, die diesen Test bestehen, sich zuverlässig auf die Zustimmung der Regierten stützen können, die darin eher ‚Bürger‘ denn ‚Untertanen‘ sind, implizierte dies jedoch keine Vertragstheorie, die die Schotten wegen ihres fiktionalen und ihres ultra-rationalen Charakters ablehnten. Indem Smith politischen Gehorsam auf zwei Grundprinzipien gründete, „the principle of authority, and . . . the principle of common or generall interest“, implizierte er, dass generell beide Prinzipien wirksam sind, allerdings nicht, dass sie stets im gleichen Mischungsverhältnis wirksam sind, denn eines von ihnen sei „generally predominant.“ Modo grosso wurde Monarchie mit ‚Authority‘ identifiziert und Republik mit ‚Utility‘.132 In einer Mischverfassung wie der britischen finden diese Prinzipien ihre politische Entsprechung in den beiden großen Parteien von Tories und Whigs. Ohne Autorität konnte es nach Hume keine Freiheit geben, während dort, wo Autorität die Freiheit erstickte, Zivilisation und Kultur sich nicht entfalten konnten. Die richtige Maxime politischer Klugheit wäre also: so viel Frei129 Hume, Essays, S. 40 f.; cf. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Stuttgart 1983), S. 340 ff. Gute allgemeine Diskussionen finden sich in Duncan Forbes, Hume’s Philosophical Politics (Cambridge 1986); Haakonssen, The Science of a Legislator; Donald W. Livingston, Hume’s Philosophy of Common Life (Chicago/London 1985); Udo Bermbach, Einführung, in: David Hume, Politische und ökonomische Essays (hg. v. Bermbach, Hamburg, 2 Bde., 1988). 130 Smith, LJ, S. 318 f., 321 f., 401 f.; Millar, Lectures on the Publick Law of Great Britain, S. 3; Craig, Account, in: Millar, Origin, S. 49 f.; Louis Schneider, Tension in the thought of John Millar, Studies in Burke and his Time, XIII (1971/72), S. 2083–98, hier S. 2096. 131 Smith, LJ, S. 402: „It is the sense of public utility, more than of private, which influences men to obedience.“ 132 Smith, LJ, S. 318 f.
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heit wie möglich, so viel Autorität wie nötig. Aber gilt etwas Analoges auch für das Begriffspaar ‚Authority/Utility‘? Ist traditionale Legitimität unverzichtbar? Hume glaubte, dass sich politische Systeme durch Versuch und Irrtum hindurch entwickeln und nicht als rational durchkonstruiert verstanden werden können, und das war ein Hauptargument gegen die Vertragstheorien.133 Und die historisch-evolutionär wachsende Komplexität politischer Systeme – eine von Millar geteilte Vorstellung –134 bildet ein weiteres Hindernis für Versuche rationaler Konstruktion und Radikalreform auf rationalistischen Linien. Dies aber bedeutet auch, dass die Rationalität politischer Systeme nicht wirklich transparent ist, indem seine Leistungen nur in der eventuell verzerrten individuellen Erfahrung wahrgenommen und beurteilt werden, ohne dass die Ursachen eines scheinbaren Versagens des Systems hinreichend klar wären, und ohne dass sicher wäre, ob eine andere Politik Besseres zu leisten vermöchte. Der Glaube an den Nutzen oder das Versagen eines politischen Systems ist letztlich nur ein Glaube: ‚Opinion‘. Um diese systematische und unvermeidliche Legitimiationsschwäche moderner Politik zu kompensieren, kann nach Hume auch moderne Politik nicht auf traditionale Faktoren verzichten, namentlich auf die politische Sozialisation in und Anhänglichkeit von Bürgern an ein bestimmtes politisches System, welche gewohnheitsmäßige Folgebereitschaft nur im Falle schweren und manifesten Versagens des Systems erschüttert wird. Millar folgte Smith in der Identifizierung von ‚Authority‘ und ‚Utility‘ als Grundprinzipien von Regierung, wobei erstere eine traditional stabilisierte Legitimierung meint, indem die „original circumstances, from which authority is derived, are gradually confirmed and strengthened by their having long continued to flow in the same channel.“ Und diese Kraft der Gewohnheit, „the great controuler and governor of our actions, is in nothing 133 David Hume, A Treatise of Human Nature (hg. v. L. A. Sellby-Bigge, Oxford, 2. Aufl., 1992), Buch 3, Teil 2, Abschn. 2; idem, Essays: Of the Origin of Government; Of the Original Contract; Udo Bermbach, David Hume, in: I. Fetscher/H. Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der Politischen Ideen (5 Bde., München/Zürich), Bd. 3, 1985, S. 410–18; Annette Baier, Hume’s account of social artifice – its origins and originality, Ethics, XCVIII (1987/88), S. 757–78; Stephen Buckle/Dario Castiglione, Hume’s Critique of the Contract Theory, History of Political Thought, XII (1991), S. 457–80; Castiglione: History, reason and experience: Hume’s arguments against contract theories, in: David Boucher/Paul Kelly (Hg.), The Social Contract from Hobbes to Rawls (London/NY 1994), S. 95–114; David Gauthier, David Hume, contractarian, in: David Boucher/Paul Kelly (Hg.), Social Justice, from Hume to Walzer (London/NY 1998), Text 1; Armin Engländer, Die neuen Vertragstheorien im Licht der Kontraktualismuskritik von David Hume, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, LXXXVI (2000), S. 2–28. 134 Millar, HV, Bd. 3, S. 2, 108 f.
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more remarkable than in promoting the respect and submission claimed by our superiors.“ Dieser traditionalen Autorität stellt er jedoch normativ Naturrechte gegenüber, „which belong to mankind antecedent to the formation of civil society“ und „are not lost . . . when we enter into society. A part of them, doubtless, must be resigned for the sake of those advantages to be derived from the social state. But the rights which we resign, ought, in all these cases, to be compensated by the advantages obtained; and the restraints of burdens imposed, ought neither to be greater, nor more numerous, than are necessary for the general prosperity and happiness.“135 Ein vergleichbarer Rekurs auf normative Naturrechte findet sich weder bei Hume noch bei Smith. Er impliziert, dass ‚Authority‘ und ‚Utility‘ kein gleichgewichtiges Begriffspaar sind, weil sich Autorität stets vor dem Forum rationaler Erwartungen an das politische System zu legitimieren hat. Und dieses Postulat integrierte Millar in seine Theorie gesellschaftlicher Evolution als Fortschritt von Zivilisation, Emanzipation und Aufklärung, der sich auch in einer Verdrängung traditionaler, nicht-rationaler Legitimationsformen durch rationale ausdrücken sollte: von ‚Authority‘ zu ‚Utility‘.136 Um diese These zu erhärten, musste er beweisen, dass gesteigerte Rationalität integraler Bestandteil gesellschaftlicher Evolution ist. Insoweit die Gesellschaftsanalyse der Schotten ‚materialistisch‘ war, war sie moralisch skeptisch, indem die menschliche Natur inklusive ihrer moralischen Anteile (Affekte, Emotionen, die durchschnittliche Verteilung von Charakterstrukturen und dergleichen) im Wesentlichen als konstant gilt und Sozialevolution daher aus der Reaktion im Wesentlichen gleichartiger Menschen auf veränderte äußere Umstände erklärt wird. Die Schotten waren keine Anhänger eines Glaubens an einen autonomen moralischen Fortschritt des Menschen, wie man ihn bei französischen Lumières und bei englischen ‚Rational Dissenter‘ wie Price und Joseph Priestley findet.137 ‚Fortschritte‘ waren ‚unintended consequences‘ des eigensüchtigen, machthungrigen, lustbesetzten, nach Sozialprestige strebenden, usw., jedenfalls nicht sonderlich moralischen und aufgeklärten Verhaltens von Indidivuen und Gruppen in der Gesellschaft. Vernunft wirkt in der Geschichte nicht direkt, sondern allenfalls indirekt, hinter dem Rücken der Beteiligten. Daher stammen die Analogien zwischen Smiths Figur der ‚invisible hand‘ und Hegels ‚List der Vernunft‘.138 Diese moralische Skepsis ist ein gesundes Element, es ver135
Millar, HV, Bd. 4, Essay 7, S. 286–95; cf. Letters of Crito, S. 3. Eine nahe liegende Parallele ist Sir Henry Maine, Ancient Law (London/NY 1954), wo eine Fortschritt von ‚Status‘ zu ‚Contract‘ festgestellt wird. 137 Joseph Priestley, Political Writings (hg. v. Peter N. Miller, Cambridge 1993). 138 Alec L. MacFie, The invisible hand in the ‚Theory of Moral Sentiments‘, in: idem, The Individual in Society. Papers on Adam Smith (London 1967), S. 101–25; J. B. Davis, Adam Smith on the providential reconciliation of individual and social 136
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schließt aber die Möglichkeit, kulturelle Lernprozesse, die tatsächlich stattfinden, hinreichend in Rechnung zu stellen. Und Millar ist derjenige unter den Schotten, der derartigen Prozessen kollektiven Lernens, die sich auch als Anhebung moralischer Standards und als Humanisierung darstellen, das größte Gewicht gibt – ohne dabei den Boden der schottischen Theorie der Sozialevolution zu verlassen, weil er diese Prozesse nicht voluntaristisch betrachtet, sondern an allgemeine Zivilisationsbedingungen knüpft: Unabhängigkeit, allgemeiner Wohlstand, Bildungsmöglichkeiten, freier Gedankenaustausch und dergleichen. Als Beispiele für Fortschritte der Vernunft gelten ihm die Überwindung patriarchaler Herrschaft über Frauen und der liberalere, weniger autoritäre Umgang mit Kindern, die erwähnten Gerichtsurteile gegen die Sklaverei und die Überwindung des Prinzips der Rache und seine Ersetzung durch Nützlichkeitsüberlegungen im Strafrecht.139 Auch die Reformation erklärt er aus Aufklärungsprozessen, die wiederum in Gesellschaftsentwicklungen gründen, denn „those countries, which made the quickest progress in trade and manufactures, would be the first to dispute and reject the papal authority. The improvement of arts, and the consequent diffusion of knowledge, contributed, on the one hand, to dispel the mist of superstition, [to relax the bands of ecclesiastical authority, and greatly to diminish that influence over the laity which churchmen had formerly maintained,] and, on the other, to place the bulk of a people in situations which inspired them with sentiments of liberty.“140 Theorien eines göttlichen Rechts der Könige sind ebenso wie die patriarchalen Thesen von Robert Filmer nicht mehr Gegenstand ernsthafter Widerlegung.141 Kurz, die „fashion of scrutinizing public measures, according to the standard of their utility, has now become very universal; it pervades the literary circles, together with a great part of the middling ranks, and is visibly descending to the lower orders of people.“ Auch die Tories sehen sich genötigt, in diesem rationalen Modus zu argumentieren und die monarchische Gewalt allenfalls nicht durch Geburtsrechte des Souinterests: is man led by an invisible hand or misled by a sleight of hand?, Journal of the History of Ideas, LI (1990), S. 341–52; Syed Ahmad, Adam Smith’s four invisible hands, History of Political Economy, XXII (1990), S. 137–44; Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Stuttgart 1980), S. 78; J. B. Davis: Smith’s Invisible Hand and Hegel’s Cunning of Reason, International Journal of Social Economics, XVI (1989), S. 50–66. 139 Millar, Origin, S. 137, S. 254. Für letzteres ist vermutlich Cesare Beccarias Delle delitti e delle pene, 1764 (Über Verbrechen und Strafen, hg. v. W. Ahlff, Frankfurt/M. 1988) die Inspiration. 140 Millar, HV, Bd. 2, S. 434, Bd. 3, S. 213, Text umgestellt. 141 Millar, Origin, S. 138; Robert Filmer, Patriarcha and Other Writings (hg. v. J. P. Sommerville, Cambridge 1991); John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (hg. v. W. Euchner, Frankfurt/M. 1977).
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veräns zu legitimieren, sondern als „necessary for the suppression of tumult and disorder.“142 Die Französische Revolution war für Millar das beste Beispiel für langfristige Aufklärungsprozesse, weil sie eben nicht aus konkreten Übergriffen, konkretem Machtmissbrauch der Krone erklärbar war. Dennoch war Millar pragmatisch kein Rationalist französischen Stils, denn wie den anderen Schotten galt ihm die Bewegungsform schrittweiser Reform als beste Methode gesellschaftlichen Fortschritts, hielt er nichts von Utopien als konstruktivistischem ‚Blueprint‘ einer idealen Gesellschaft und glaubte er nicht an ihre Deduktion aus angeblichen ‚ersten Prinzipien‘. „Sovereigns must take mankind as they find them“, hatte Hume geschrieben, „and cannot pretend to introduce any violent change in their principles and ways of thinking. . . It is his best policy to comply with the common bent of mankind, and give it all the improvements of which it is susceptible.“143 Ihm folgend notierte Millar, dass „the authority of every government is founded in opinion“, und ein Reformer, der „frames a political constitution upon a model of ideal perfection, and attempts to introduce it into any country, without consulting the inclinations of the inhabitants, is a most pernicious projector, who, instead of being applauded as a Lycurgus, ought to be chained and confined as a madman.“144 Das aber bedeutet auch, dass es nicht eine intellektuelle Avantgarde ist, die das Tempo gesellschaftlichen Fortschritts angibt, sondern die Masse des Volkes, dass nachhaltige gesellschaftliche Reformen nicht als Elitenprojekte zu denken sind, sondern als Ergebnis des Prozesses der Demokratie. IX. Schluss Ich resümiere, dass Millar im Ausgang von Theorien älterer Repräsentanten der schottischen Aufklärung im Laufe der Jahre verstärkt Problemstellungen mit zeitgenössischen Radikalen teilte, die er innovativ bearbeitete.145 Er engagierte sich sodann auch praktisch-politisch und nutzte das Forum seiner Lehrtätigkeit für die Verbreitung kritischer, reformerischer Ideen, was Duncan Forbes zu der Aussage geführt hat, dass „Millar’s whiggism, unlike that of Adam Smith, was militant.“146 Ein anonymer Rezensent der 142
Millar, HV, Bd. 4, S. 305 ff. Hume, Essays, S. 260; cf. Montesquieu, Esprit des Lois, Bd. 1, Buch 1, Kap. 3: „. . . le gouvernement le plus conformé à la nature est celui dont la disposition particulière se rapporte mieux a la disposition du peuple pour lequel il est établi.“ 144 Millar, HV, Bd. 3, S. 329. 145 Siehe für die Adaptation schottischer Topoi durch einen führenden englischen Radikalen Ian Hampsher-Monk, John Thelwall and the Eighteenth-Century Radical Response to Political Economy, The Historical Journal, XXXIV (1991), S. 1–20. 143
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Edinburgh Review beschrieb Millar nach dessen Tod als „decided whig“, der „did not perhaps bear any great antipathy to the name of a republican“,147 was hier nicht klassischen Republikanismus meint, sondern im Kern Demokratismus. Politisch ist Millar als ‚Reform-Whig‘ und als moderater Radikaler zu betrachten,148 der Theoreme der schottischen Aufklärung zur Entwicklung eines durchaus konsistenten Programms emanzipatorischer Politik nutzte.
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Forbes, Scientific Whiggism, S. 668. Anonymus (? Francis Jeffrey), Review: John Millar, An Historical View of the English Government, The Edinburgh Review, or Critical Journal, III (1803/4), No. 5, Art. 13, S. 158; s. a. Westerman, Authority and Utility, S. 173 f.; siehe für posthume Bezüge auf Millar: Biancamaria Fontana, Rethinking the politics of commercial society: the ‚Edinburgh Review‘ 1802–1832 (Cambridge 1985); Collini et al., That noble science of politics; John W. Burrow, Whigs and Liberals. Continuity and Change in English Political Thought (Oxford 1988). 148 Fay Ann Sullivan, s. v.: Millar, John, Biographical Dictionary of Modern British Radicals, Bd. 1, 1770–1830 (hg. v. J. O. Baylen/N. J. Gossman, Sussex/NY 1979). 147
Zwischen den Stühlen Die prozeduralen Theorien des demokratischen Rechtsstaats von Maus und Habermas Von Birgit Enzmann Volkssouveränität versus Menschenrecht, Recht versus Moral, Naturrechtslehre versus Rechtspositivismus: im Rahmen solcher Gegenüberstellungen bewegt sich der Streit um die Frage, ob es legitimes Recht jenseits moralischer Richtigkeit geben kann. Gustav Radbruch antwortete darauf 1946 mit der bekannten Formel: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“1 Die Moral übernimmt in diesem Modell eine Ausfallbürgschaft für Fehler einer im Großen und Ganzen zuverlässig arbeitenden Gesetzgebung. Einer solchen Lösung könnten auch Vertreter so genannter prozeduraler Theorien zustimmen, wäre da nicht das Folgeproblem, wer dieses „unerträgliche Maß“ an Gerechtigkeitsverletzung festzustellen habe. Denn diese Befugnis bedeutet nichts weniger als die Möglichkeit, sich als einziger Akteur innerhalb eines Staates über die wohlüberlegten Schranken des Rechts hinwegsetzen zu können. Prozeduralisten fordern aber, an dem Grundsatz einer „Herrschaft des Rechts nicht der Menschen“ festzuhalten und lehnen jegliche Ausnahme von der strikten Rechtsbindung ab. Sie streben stattdessen die Vereinbarkeit von Recht und Moral durch speziell konstituierte Verfahren an, in die sich Moralität gewissermaßen eingießen lässt und die dadurch ein hohes Maß an Richtigkeitsgewähr bieten. Eine nachträgliche, selbst nicht mehr kontrollierbare inhaltliche Kontrolle des Gesetzgebers soll dadurch unnötig werden. Prozedurale Theorien nehmen insofern eine Mittelstellung zwischen Naturrechtstheorie und Rechtspositivismus ein. Ihre Überzeugungskraft steht und fällt jedoch mit einem geeigneten Vorschlag für ein solches Gesetzgebungsverfahren. Der große Wurf scheint da1 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: ders.: Rechtsphilosophie, 1973, S. 339–350, hier S. 345.
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bei noch nicht gelungen. Vielmehr zeichnen sich in der deutschen Debatte zwei Richtungen ab, die hier vergleichend dargestellt werden sollen: Ingeborg Maus vertritt ein radikaldemokratisches, auf der klassischen Volkssouveränitätsdoktrin aufbauendes Modell, während Jürgen Habermas ein an der Sprachphilosophie orientiertes Konzept diskursiver oder deliberativer Demokratie präsentiert. I. Radikaldemokratische Trennung von Recht und Moral Ingeborg Maus verwirft die Radbruchsche Formel als ein Rezept für vordemokratische Zeiten. Weil in nicht demokratischen Staaten die Bevölkerung keine eigenen institutionellen Möglichkeiten besitzt, ihre Freiheit gegen die Staatsmacht zu verteidigen, übernähmen Gerichte mit starker, von gesetztem Recht unabhängiger Legitimation diese Aufgabe. Durch direkten Zugriff auf moralische Normen aktivierten sie stellvertretend gesellschaftliche Gegenmacht. Die fehlende Kontrolle „von unten“ werde durch wechselseitige Kontrolle staatlicher Akteure gemildert. In einer Demokratie übernehmen die zum Rechtssubjekt Volk verbundenen Bürger die Verteidigung ihrer Freiheit durch die Verfassungs- und Gesetzgebung selbst. Beließe man hier weiterhin die Verfügung über moralische Einwände in den Händen eines staatlichen Organs, gefährde das die bürgerliche Freiheit. Denn es ermögliche die Unterwanderung der gesetzlichen Beschränkung des Staates. Da man andererseits auch bei demokratischer Gesetzgebung Fehler nicht ausschließen könne, müsse Moral als ein Korrektiv durchaus wirksam bleiben. Aber nun sei sie ein Mittel der Bürger, die sich damit gegen eine Freiheitsgefährdung, sogar gegen das demokratisch legitimierte Parlament wehren könnten. „Als selbständige Perspektive bildet sie [die Moral, B.E.] dagegen ein gesellschaftliches Widerstandspotential, das dem staatlichen Rechtssetzungsprozeß um so notwendiger entgegengesetzt werden muß, als dessen Verfahren auch durch gerechteste Strukturen niemals automatisch gerechte Ergebnisse garantieren. Diese Endkontrolle kann aber in einem demokratischen System nicht wiederum bei einem Staatsapparat wie einem höchsten Gericht, sondern nur an der gesellschaftlichen Basis liegen, die sich gegen jede Verstaatlichung des moralischen Diskurses wehren muß. Insofern setzt die moralische Kritisierbarkeit demokratisch gesetzten Rechts die Trennung von Recht und Moral gerade voraus.“2 Für völlig falsch hält Ingeborg Maus daher die Hoffnung, eine „Remoralisierung des Rechts“ oder Belebung der Naturrechtsidee könne ein Korrek2 Ingeborg Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begründung des Rechts, in: Rechtstheorie 20 (1998), S. 191–210, hier S. 210. Dies., Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt am Main 1992, S. 174 ff.
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tiv gegen das Verantwortungs- und Kontrolldefizit des politischen Mehrebenensystems sein und zu mehr individueller Freiheit führen. Moral trägt keinen Herkunftsstempel. Was persönliche Vorstellungen über Moral sind und was weithin gesellschaftlich anerkannte Moral ist, lässt sich nur schwer voneinander trennen. Maus verweist daher auf die Instrumentalisierbarkeit moralischer Argumente zu anderen Zwecken. Zudem würdige ein Politiker oder Richter, der für sich in Anspruch nehme, die Moral der Gemeinschaft zu interpretieren, das empirische Moralempfinden der Mitglieder als irrelevant herab.3 Entscheidend ist für Maus aber, dass diese überpositiven Normen und Werte keinen unmittelbaren Durchgriff auf den Bürger als Bourgeois haben dürfen, sondern den verallgemeinernden Filter institutionalisierter demokratischer Verfahren durchlaufen haben müssen. Nur solche moralischen Bewertungskriterien sind zulässig, die selbst in positives Recht übersetzt sind.4 So bleiben beispielsweise die Gerichte zur Urteilsbegründung auf den begrenzten Fundus positiven Verfassungs- und Gesetzesrechts angewiesen. Könnten sie alternativ aber auch direkt auf die eher unbestimmte und situativ auslegbare Moral zurückgreifen, wäre der Allgemeinheitsgrundsatz gesetzten Rechts zugunsten moralischer Einzelfallregelungen umgehbar. Der staatliche Aktionsradius könnte sich durch eine Moralisierung der Rechtsprechung in bisher rechtsfreie Räume und weit ins Private erweitern und hier mit Sanktionsgewalt beliebige Moralstandards durchsetzen. Wesentlichstes Argument gegen eine moralische, statt nur positivrechtliche Begründung staatlichen Handelns bleibt für Maus aber, dass damit die streng institutionalisierten Wege einer rechtlichen Begründung umgangen und damit die demokratische Kontrolle ausgeschaltet werde. Denn die Legitimationswirkung der Moral sei von faktischer Partizipation unabhängig. „Die Entdifferenzierung von demokratischer Legitimation und moralischer Begründung des Rechts bedeutet die Usurpation einer gesellschaftlichen Kontrollfunktion durch die politischen Entscheidungsinstanzen. Sie führt dazu, daß der mögliche Konflikt zwischen demokratischer und moralischer Rechtfertigung von Rechtsentscheidungen innerhalb der Staatsapparate ausgetragen wird, die ohnehin dazu tendieren, sich von empirischer Konsensbeschaffung zu entlasten. Das moralische Argument kann dann leicht als Demokratieersatz mißbraucht werden. Auf diese Weise sind Rechtsentschei3 Ingeborg Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, München 1976, S. 11 f. Dies., Trennung, hier mit Bezug auf Ronald Dworkin, S. 193–210. 4 Vgl. Ingeborg Maus, Zum Verhältnis von Recht und Moral aus demokratietheoretischer Sicht, in: Kurt Bayertz (Hg.), Politik und Ethik, Stuttgart 1996, S. 194–228, hier S. 195 f. Maus, Zur Aufklärung, S. 174 f. Vgl. Peter Niesen, Legitimität ohne Moralität. Habermas und Maus über das Verhältnis zwischen Recht und Moral, in: René von Schomberg/Peter Niesen (Hg.), Zwischen Recht und Moral. Neuere Ansätze der Rechts- und Demokratietheorie, Münster 2002, S. 16–60.
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dungsstäbe zur Selbstlegitimation imstande. Sie produzieren selbst die Rechtfertigungsgründe, auf die sie ihre Entscheidungen stützen.“5 Eine unmittelbare Geltung moralischer Normen zerstört damit alle Sicherungen des demokratischen Verfassungsstaates, so die Bilanz. Maus stellt dem eine prozedurale Theorie des demokratischen Rechtsstaats entgegen, deren komplexe Aufgabenstellung lautet, „eine bestimmte, sich antidemokratisch auswirkende Moralkonkurrenz abzuwehren, gleichzeitig die Moralverträglichkeit der demokratischen Gesetzgebung jedoch nicht zu gefährden.“6 Als normativen Bezugspunkt ihrer Theorie wählt Ingeborg Maus das Konzept der Volkssouveränität. Aus ihm übernimmt sie die Idee der natürlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen, was zunächst nichts anderes meint, als dass es kein natürliches Recht der Gesetzgebung oder Herrschaft über andere gibt, sondern es künstlich geschaffen werden muss. Im Gegenschluss ergibt sich daraus nach Kant das einzige tatsächliche natürliche Recht, frei von der Willkür anderer über sich selbst zu bestimmen und nur den Gesetzen zu gehorchen, zu denen man selbst seine Zustimmung gegeben hat. „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch Unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt . . . Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“7 Da sich menschliche Handlungen in ihren Folgen nicht mit Sicherheit auf die eigene Person beschränken lassen, ist das Selbstbestimmungsrecht auf „ebendasselbe“ beschränkt. Die Freiheit des Einzelnen reduziert sich auf ein Maß, das „mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“8. Maus folgert daraus wiederum unter Berufung auf Kant, dass angesichts der einzigen naturrechtlichen Bezugspunkte Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung, die Richtigkeit von Recht mithin allein darin bestehen könne, dass es diesem Verallgemeinerungstest standhält.9 Ihn durchzuführen ist konstitutives Element individueller Freiheit, die sich in verschiedenen Lebensbereichen allerdings unterschiedlich realisiert: 5
Maus, Trennung, S. 192 f., 200 f. Niesen, Legitimität, S. 26, 25 f. 7 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), in: Werkausgabe hg. von Wilhelm Weischedel, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1982, Bd. VIII, S. 309–634, hier S. 432, Hervorhebung im Original. 8 Kant, MdS, S. 345. 9 Maus, Zur Aufklärung, S. 278 f. 6
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Im Privaten gewinnt der Einzelne sittliche Freiheit durch die Unterwerfung unter moralische Normen, die er durch den Verallgemeinerungstest im inneren Monolog als richtig erkannt hat und sich damit selbst zu entsprechendem Handeln verpflichtet. Im öffentlichen Bereich gewinnt er Handlungsfreiheit durch die Unterwerfung unter Rechtsnormen. Weil diese aber nicht nur ihn, sondern auch alle anderen verpflichten sollen, müssen sie einen öffentlichen Verallgemeinerungstest durchlaufen. Dieser Test konkretisiert sich als demokratische Gesetzgebung. Das natürliche Recht der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung zeitigt also gleichursprünglich eine sittliche, private Autonomie und eine öffentliche Autonomie, d.h. das Teilhaberecht an der gemeinsamen Selbstbestimmung. „Die demokratische Selbstgesetzgebung des Volkes hat als Organisationsprinzip die gleiche Struktur wie moralische Autonomie. Wenngleich weder rechtsbegründende Volkssouveränität noch moralische Selbstgesetzgebung in der Welt der Erscheinungen gerechte Ergebnisse umstandslos garantieren können, so sind sie doch als Prinzipien gleichursprüngliche Versionen des Gesetzes der Freiheit.“10 Doch die Legitimität des Gesetzgebers allein reicht für legitimes Recht noch nicht aus. Volkssouveränität, wie prozedurale Theorien im Allgemeinen, unterscheidet sich im Selbstanspruch von reinem Rechtspositivismus ja gerade dadurch, neben der Legalität durch das demokratische Verfahren der Gesetzgebung auch die Richtigkeit des Rechts garantieren zu wollen. Rousseau differenzierte daher zwischen der volonté de tous beliebigen Inhalts und der volonté générale, dem von allen Wünschbaren, die allein gesetzgebend sein könne. Im Unterschied zu dieser klassischen Konzeption bezieht Maus das aber nicht auf den Output, der dann wiederum an externen Maßstäben von jemandem gemessen werden könnte. Die normative Richtigkeit liegt vielmehr im Verfahren selbst, das schon allein durch sein Stattfinden das natürliche Recht der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung realisiert. Nehmen wir als Beispiel eine geheime Abstimmung nach Mehrheitsprinzip und mit allgemeinem gleichen Stimmrecht: Keiner der Einzelnen kann aufgrund des quantitativ gleichen und geringen Gewichts seiner Stimme auf die Durchsetzung seiner Einzelmeinung hoffen. Auch sein sozialer Einfluss kann bei einer geheimen Wahl kein Drohpotential entwickeln. So kann er sich als freier und gleicher Partner im Abstimmungsprozess verstehen und eine Chance erkennen, andere durch gute Argumente von seiner Position zu überzeugen. Gelingt dies nicht, besteht für ihn kein Anreiz, sich einem anderen als dem besten Argument anzuschließen und entsprechend abzustimmen. Ein Gesetz hat bei strikter Einhaltung der demokratischen Verfahrensregeln daher ein hohes Maß an Richtigkeitsvermutung für sich. „[G]erade indem die apriorische Idee des Rechts die Faktizität der 10
Maus, Zur Aufklärung, S. 87, 171–173, 299.
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Beteiligung aller Rechtsunterworfenen an der Rechtssetzung verlangt, macht sie nicht etwa die Richtigkeit des Rechts von zufälligen empirischen Bewußtseinsinhalten der Abstimmenden abhängig, sondern eliminiert das bloß Zufällige durch die Struktur des Verfahrens, in dem die Beteiligten zur Konsensbildung, oder doch wenigstens zur Objektivierung subjektiver Interessen, durch argumentative Anstrengungen gezwungen sind“.11 Große Hoffnung setzt Maus dabei in deutlicher Abweichung von Rousseaus Ideal einer homogenen Gesellschaft auf die erkenntnisfördernde Leistung der Heterogenität: Gerade weil moderne Gesellschaften heterogen sind, kann das, was mehrheitliche Zustimmung findet, als richtig gelten.12 Die Konstruktion des Volkes, wie sie der Volkssouveränität als selbstbestimmter Rechtsgemeinschaft zugrunde liege, gehe eben gerade nicht von durch Kultur, Ethnie oder ähnlich natürlich konstituierten Gemeinschaften aus, sondern von den durch vertraglichen Willensakt verbundenen Citoyens, über die man im Einzelnen gar nichts weiter zu wissen brauche. Statt auf inhaltlichen Konsens setze die Volkssouveränität nur auf die Einigung auf „das demokratische Procedere der Kompatibilisierung des je Besonderen“ und damit auf das Einzige, worauf eine pluralistische und multikulturelle Gesellschaft sich überhaupt noch einigen könne.13 Letzte Gewissheit für richtiges Recht könne es dabei auch in der Demokratie nicht geben, aber die Alternative wäre, sich der Fehlbarkeit eines Autokraten auszuliefern. Immerhin habe der Volkssouverän aufgrund der naturrechtlich begründeten Autonomie der Bürger als einzige Instanz überhaupt ein Recht zum Irrtum, meint Maus.14 II. Begegnung von Recht und Moral im Diskurs Niklas Luhmann bezeichnet prozedurale, auf materiell-naturrechtliche, sittliche und moralische Vorgaben verzichtende Modelle als „Systeme mit selbsterzeugter Ungewißheit“. Sie hätten alle Bindungen zur Vergangenheit gekappt und sich einer für alle Mitdiskutierenden unbekannten Zukunft aus11
Maus, Zur Aufklärung, S. 156. Maus, Zur Aufklärung, S. 172 f. 13 Ingeborg Maus, Volkssouveränität versus Konstitutionalismus. Zum Begriff einer demokratischen Verfassung, in: Günter Frankenberg (Hg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt am Main 1994, S. 73–83, hier S. 82, 79 ff. 14 Maus, Zur Aufklärung, S. 157 f. Vgl. dagegen Michael Becker, Grundrechte versus Volkssouveränität. Zur Achillesferse des demokratischen Prozeduralismus, in: ders., Hans Joachim Lauth/Gert Pickel (Hg.), Rechtsstaat und Demokratie, Theoretische und empirische Studien zum Recht in der Demokratie. Wiesbaden 2001, S. 45–69, hier S. 53. Maus vertrete die Ansicht, der Souverän könne nicht irren und könne daher auf unverfügbare Grundrechte verzichten. 12
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geliefert. Diese selbst erzeugte Ungewissheit des Ausgangs demokratischer Verfahren fördere sowohl die Anerkennung allgemeiner Urteilsgesichtspunkte als auch die mehr oder weniger illusionäre Hoffnung, durch Beteiligung etwas gewinnen zu können. So versteht Luhmann auch den Entwurf einer prozeduralen Theorie des demokratischen Rechtsstaats bei Jürgen Habermas.15 Doch der stellt an seine Konzeption einen deutlich höheren Anspruch. Ihm reicht es nicht, wenn Recht lediglich in keinem Widerspruch zur Moral steht und genug rechtsfreie Räume verbleiben, in denen sich die Moral als Mittel informeller Selbstregulierung der Gesellschaft und notfalls als Trumpf gegen staatlichen Machtmissbrauch entfalten kann. So etwa könnte man die Zielvorstellung von Ingeborg Maus zum Verhältnis von Recht und Moral beschreiben. Habermas erhofft sich vielmehr von der inhaltlichen Übereinstimmung des Rechts mit Moralvorstellungen eine Milderung des von Ernst-Wolfgang Böckenförde populär formulierten Problems, dass der demokratische Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht herstellen könne.16 Der Zweifel an der Selbstregeneration des demokratischen Verfassungsstaates richte sich, so Habermas, zum einen darauf, ob es angesichts der Entwertung religiöser und metaphysischer Gewissheiten und den modernen, weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften überhaupt noch möglich sei, eine politische Ordnung allgemeingültig zu legitimieren. Zweifelhaft sei zum anderen, ob eventuelle Legitimationsgründe auch gleichzeitig das notwendige Maß an Solidarität und Bürgersinn hervorrufen könnten, das eine lebendige demokratische Kultur erfordert.17 Keine Gesellschaft könne nur über bloße Verhaltenskontrolle und Zwang die Grundlagen kollektiven Handelns erzeugen. Sie brauche vielmehr stets auch die Überzeugungskraft, die von Normen durchaus belegbar ausgehe, wenn sie, versehen mit Begründungen in die öffentliche Diskussion eingebracht würden. Allerdings seien dafür die überkommenen metaphysisch-religiösen Begründungen von Moral, Recht und Staat nicht mehr geeignet. Obwohl ihre Substanz in den westlichen Staaten noch weit verbreitet sei, würden die damit verbundenen religiösen Begründungen, insbesondere die Erlösungsversprechen nicht mehr 15
So Niklas Luhmann, Quod omnes tangit. Anmerkungen zur Rechtstheorie von Jürgen Habermas, in: Rechtshistorisches Journal 12 (1993), S. 36–56, hier S. 40, 47 f. 16 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 92 ff., hier S. 112. 17 Jürgen Habermas, Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates. Stellungnahme zur Diskussion mit Kardinal Ratzinger vom 19.01.2004, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 34 (2004), Heft 1, S. 2–4, hier S. 2.
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von allen Rechtsadressaten geglaubt. Damit fehle aber der einst starke Anreiz, die Einsicht in das moralisch Richtige auch in eigenes gutes Handeln sowohl im Privaten wie im Öffentlichen umzusetzen. Habermas bezeichnet diese neuen geistigen Grundlagen zusammenfassend als nachmetaphysisches Denken. Um die Verbindung zwischen Einsicht und Handeln, zwischen Legitimation und Motivation wieder herzustellen, bedürfe es einer Kombination von legal gesetztem, zwangsbewehrtem Recht einerseits und legitimierenden Gründen andererseits. Diese Gründe dürften nicht in Widerspruch zu den gesellschaftlich verankerten Vorstellungen von Moral, Recht und Ethik stehen, müssten aber auch für Menschen aus anderen Kulturkreisen und mit anderen Weltanschauungen verständlich und akzeptierbar sein. Normen müssten auf ihren „kognitiven Gehalt“ zurückgeführt werden. Prüfkriterium ist, wie schon bei Maus gesehen, die Verallgemeinerbarkeit oder „rationale Akzeptabilität“: Eine Norm gilt dann als moralisch gültig, wenn sie aus der Perspektive eines jeden von allen akzeptiert werden kann.18 Für wahrscheinlich hält Habermas eine sichere Verbindung zwischen Recht, Vernunft und Moral deshalb, weil sie sich im öffentlichen Raum, d.h. den vielfältigen Kommunikationsprozessen innerhalb einer Gesellschaft begegnen. Hatten Kant und auch Ingeborg Maus zwischen der Begründung moralischer und rechtlicher Normen dahingehend unterschieden, dass moralische Normen im Kopf des Einzelnen geprüft, Rechtsnormen aber in einem öffentlichen Verfahren gesetzt werden, hält Habermas für beide Normsysteme einen öffentlichen Verallgemeinerungstest für erforderlich. Unter den Bedingungen heterogener Lebensumstände und divergierender Interessen führe ein innerer Monolog nur zu einer Selbstbindung aufgrund zufälliger Präferenzen und vielleicht intersubjektiv geteilter Traditionen, aber eben nicht zu strikt moralischen Überlegungen, die einen universellen Geltungsanspruch erheben könnten. Habermas bezweifelt zudem grundsätzlich, dass Vernunft und Objektivität tatsächlich vom Einzelnen erreicht werden können, solange er nicht durch ein Gegenüber gezwungen und in die Lage versetzt ist, die Ansichten anderer zu kennen und zu berücksichtigen. Vernunft und moralisches Bewusstsein sind ihm nicht eingeboren.19 Der Einzelne erwirbt die Fähigkeit zu Vernunft und moralischen Erwägungen erst durch das Hineinwachsen in eine Kultur und das dadurch erworbene, vortheoretische Wissen über gut und böse, richtig und falsch. Habermas spricht von einer Verortung des Einzelnen in einer Lebenswelt mit gemeinsamem Hintergrundwissen zu unstrittigen Überzeugungen, das im Zuge sprachlicher 18 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1999, S. 13–15, 46, 343. 19 Habermas, Einbeziehung, S. 22–23, 38–49.
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Verständigung, „kommunikativem Handeln“ erzeugt und weitergegeben wird. Sogar die Identität des Einzelnen sei als ein kommunikativ erzeugtes Phänomen zu betrachten und die Gesellschaft als nur zum Teil durch Institutionen, vor allem aber als durch ein Netz an Kommunikation geschaffenes Ganzes zu sehen.20 Weil aber die moralischen Überzeugungen der Menschen in Form der Alltagssprache formuliert und konserviert werden, sind sie auch über das Medium der Sprache einer Begründung oder Veränderung zugänglich. Dies geschieht im öffentlichen Diskurs, in den die Beteiligten den Fundus lebensweltlichen, intersubjektiven Wissens, pragmatische Überlegungen und ethische Überzeugungen einspeisen. Moralische Normen werden im Diskurs dann aber nicht auf dem Reißbrett neu konstruiert, sondern aufgedeckt und rational rekonstruiert.21 Ihre Prüfregel ist das Diskursprinzip „D“: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“22 Hervorzuheben ist der Konjunktiv im Diskursprinzip, der daran erinnert, dass über Moral nicht in institutionalisierter Form beraten, oder gar abgestimmt wird. Bewertungsmaßstab ist daher die Zustimmungswürdigkeit, nicht die faktische Zustimmung.23 Anderes gilt für Rechtsnormen. Auch sie müssen, um angesichts der Intersubjektivität der Vernunft überhaupt eine Richtigkeitsvermutung für sich zu haben, im öffentlichen Diskurs beraten, aber diesmal zusätzlich durch ein institutionalisiertes Verfahren positiviert werden. Gemeint ist damit freilich 20 Habermas, Einbeziehung, S. 39. Ders., Faktizität und Geltung (1992), Frankfurt am Main 1998, S. 107. Zum Begriff der Lebenswelt Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2 (1981), Frankfurt am Main 1995, S. 179 ff., S. 223. Vgl. Walter Reese Schäfer, Jürgen Habermas. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2001, S. 70–74. 21 Vgl. Klaus Günther, Diskurstheorie des Rechts oder liberales Naturrecht im diskurstheoretischen Gewande, in: Kritische Justiz 27 (1994), S. 470–487, hier S. 485. 22 Habermas, Faktizität, 138, 138 ff.; ders., Einbeziehung, S. 61 f. Für die Rechtfertigung moralischer Normen empfiehlt Habermas darüber hinaus eine sorgfältige Folgeabschätzung der Regeln mithilfe des Universalisierungsgrundsatzes „U“. Er besagt, „dass eine Norm genau dann gültig ist, wenn die voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos akzeptiert werden könnten.“ Diese erhöhte Anforderung erhebt er jedoch für rechtssetzende Diskurse nicht, sodass ich es bei diesem Hinweis belasse. 23 Diese hypothetische Form gilt auch für die meisten prozeduralen Gerechtigkeitstheorien. Vgl. Axel Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit. Rationales Entscheiden, Diskursethik und prozedurales Recht. Baden-Baden 2000, S. 132.
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nicht, dass das Recht lediglich eine Umsetzung oder ein Ausführungsorgan der Moral wäre. Beide Normsysteme stehen für Habermas in einem Ergänzungsverhältnis zueinander, überschneiden sich in ihren Anwendungsbereichen, ohne deckungsgleich zu sein. Daher müssen sie als zu unterscheidende Sorte von Handlungsnormen verstanden und theoretisch getrennt werden.24 Habermas unterstreicht dies mit dem Hinweis, dass die Einführung eines Rechtssystems kein Automatismus sei. Es stünde jeder Gesellschaft frei, sich statt über gesetztes Recht nur über geschöpfte moralische Normen zu regulieren. Da eine rational begründete Moral jedoch anders als eine religiös begründete keine äußeren Sanktionsmöglichkeiten enthält, ist eine Ergänzung um positives, dass heißt sanktionsbewehrtes Recht angeraten.25 Soweit diese Entscheidung für die Rechtsform aber getroffen wird, übernimmt die Gesellschaft automatisch die Implikationen, die mit dem Rechtsbegriff verbunden sind. Dazu gehört nicht nur der schon erwähnte Vorteil der sanktionierten Durchsetzung. Das Recht besitzt schon im alltagssprach24 Vgl. Habermas, Einbeziehung, S. 295–297, S. 51 FN 50; sowie ders., Faktizität, S. 135–151 und noch einmal zusammenfassend S. 665–669. Zu den Unterschieden zwischen Recht und Moral zählt ihre Verpflichtungsweise als äußerliche, zwangsbewehrte beziehungsweise als innere Verpflichtung. Recht hat daher eine vorhersehbarere soziale Integrationswirkung. Dabei stellt das Recht die Gründe seiner Befolgung anheim, während die Moral verlangt, ein Gebot aus dem damit verbundenen moralischen Grund zu erfüllen. Ein weiterer wichtiger Komplex von Unterscheidungsmerkmalen betrifft die Reichweite von Moral und Recht. Sie weisen zwar einige Überschneidungen der von ihnen regulierten Bereiche auf, sind aber darin nicht deckungsgleich. Außerdem belässt das Recht zwangsläufig immer nicht regulierte und damit der Willkür des Einzelnen überlassenen Räume; die Moral kann durch ihren Allgemeinheitsgrad auch auf neue Sachverhalte angewandt werden und ist zudem auf unterschiedliche Situationen höchst flexibel anwendbar. Das Recht dagegen muss einen klar definierten Zusammenhang zwischen Tatbestand und Sanktion herstellen. Auch die zeitliche Reichweite von Recht und Moral ist unterschiedlich. Dem Rückwirkungsverbot für Rechtsnormen steht die Anwendbarkeit der Moral auch auf Vergangenes gegenüber. Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht in der Verfügbarkeit: Moralische Gründe werden im Wesentlichen geschöpft oder rekonstruiert, Recht dagegen gilt Prozeduralisten als reines Konstrukt. Vgl. Maus, Trennung, S. 204 f. Dies., Volkssouveränität, S. 74–83. Vgl. die Zusammenstellung bei Peter Niesen, Legitimität, S. 16–60, S. 19–22, 24 f., 41 f. 25 Habermas behauptet sogar, dass eine Gesellschaft die gezielte Entscheidung für die Einführung des Rechts nur dann treffen wird, wenn in ihr eine vernünftige Meinungs- und Willensbildung überhaupt möglich ist. Habermas, Faktizität, S. 141 f. und vgl. Günther, Diskurstheorie, S. 478 mit FN 16: „Selbstverständlich ist dieser Entschluß nur aus diskurstheoretischer Sicht kontingent. Unbestritten bleibt, daß er historisch (und gesellschaftlich) von sehr komplexen und unwahrscheinlichen Voraussetzungen bedingt ist. So muß sich z. B. zuerst ein postkonventionelles Moralbewußtsein historisch etabliert haben, vor dessen Hintergrund das moderne Recht seine spezifischen (die Moral funktional ergänzenden) Formeigenschaften erhält, die den Entschluß, das Zusammenleben rechtsförmig zu regeln, faktisch motivieren können.“
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lichen Verständnis als Abgrenzungskriterium von bloßem Befehl einen Doppelcharakter: Durch Zwang kann es sich allgemein durchsetzen, stellt aber auch ein Mittel der Freiheit dar, soweit es durch diesen Zwang für wertvoll erachtete Handlungsfreiheiten schützt. Recht überlässt dadurch dem Einzelnen die Wahl, es aus Angst oder aus freier Überzeugung zu befolgen, sich nur als Adressat oder zugleich als Autor seiner Handlungen zu verstehen. Nur soweit diese Wahl besteht, ist Recht kein bloßer Befehl.26 Diese Form der Freiheit, die für die gesamte liberale politische Theorie prägend ist, reicht Habermas aber noch nicht aus. Er fordert zudem die Gesetzgebung durch demokratische Verfahren. „Selbst wenn jedes Rechtssubjekt in der Rolle einer moralischen Person einsieht, daß es sich bestimmte juridische Gesetze selber hätte geben können, beseitigt diese nachträglich und jeweils privatim vorgenommene moralische Ratifikation keineswegs den Paternalismus einer ‚Herrschaft der Gesetze‘, der politisch heteronome Rechtssubjekte insgesamt unterworfen bleiben. Nur die politisch autonome Rechtssetzung ermöglicht auch den Autoren des Rechts ein richtiges Verständnis der Rechtsordnung im ganzen, Denn legitimes Recht ist nur mit einem Modus von Rechtszwang vereinbar, der die rationalen Motive für Rechtsgenossen nicht zerstört. Das zwingende Recht darf seine Adressaten nicht dazu nötigen, es muß ihnen freistellen, von Fall zu Fall auf die Ausübung ihrer kommunikativen Freiheit und auf die Stellungnahme zum Legitimitätsanspruch des Rechts zu verzichten, d.h. im Einzelfall die performative Einstellung eines nutzenkalkulierenden und willkürlichen Aktors aufzugeben. Rechtsnormen müssen aus Einsicht befolgt werden können“27 – aber eben nicht müssen. Zum freiheitlichen Charakter des Rechts gehört auch, dass die späteren Adressaten das Recht nicht nur deshalb als legitim empfinden können, weil es sich mit ihren Moralvorstellungen deckt. Das wäre schon deshalb ungenügend, da nicht jedes positive Recht, wie gesagt, auf eine moralische Norm zurückführbar ist. Rechtssetzung kann daher nicht einfach als eine Umsetzung diskursiv begründeter moralischer Normen in positives Recht verstanden werden, die man getrost den Juristen überlassen könnte. Vielmehr müssen Bürger laut Habermas selbst darüber entscheiden, auf welche Art sie sich als Autor des Rechts betätigen wollen, ob als Einzelner durch innere Zustimmung oder als Teilnehmer im öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess, in dem entschieden wird, welche Art von Freiheiten eine zwangsweise Sicherung auch rechtfertigen würden. Recht kann deshalb nur auf ganz ähnliche Weise entstehen, wie moralische Normen: durch Diskurs, an dem jeder teilnehmen oder sich enthalten kann. Begriff26 27
Vgl. Habermas, Faktizität, S. 153 f. Habermas, Faktizität, S. 154.
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lich bringt Habermas dies durch die uns schon von Maus bekannte Unterscheidung zwischen privater Autonomie und öffentlicher Autonomie des Einzelnen zum Ausdruck.28 Auch für Habermas sind beide gleichursprünglich, ergeben sich aber nicht, wie bei Maus aus einer naturrechtlichen Autonomie des Individuums, sondern aus dem reinen Begriff des Rechts. Das ist insofern mehr als eine Frage der Semantik, als Habermas ausdrücklich die Freiwilligkeit der Entscheidung für eine rechtliche Gestaltung hervorhebt. Weder die private noch die öffentliche Autonomie besitzt also einen naturrechtlichen Rang. Im Unterschied zu Maus und vielleicht gelegentlich entgegen seiner eigenen Aussagen, spielt bei Habermas das klassische Konzept der Volkssouveränität keine Rolle mehr. Problemlos kann er sie zwischen Medien, Öffentlichkeit, Parlament und anderen gesellschaftlichen Akteuren als eine nunmehr in den Kommunikationskreisläufen „verflüssigte Souveränität“ betrachten, weil die naturrechtliche Basis durch eine Kombination aus soziologischer und sprachphilosophischer Herleitung der exklusiven Rechtssetzungsbefugnis abgelöst ist. Sie resultiert aus der Beobachtung der kommunikativen Bedingungen der Vergesellschaftung und den sprachphilosophischen Implikationen des Begriffs „Recht“.29 Eine Folge des zentralen Unterschiedes zwischen den Konzepten von Maus und Habermas zum Verhältnis von Recht und Moral ist, dass Habermas durch die Begegnung der beiden Normsysteme im öffentlichen Diskurs eine viel weiter gehende Hoffnung in die Erkenntnisleistung der Demokratie hat. Diese Hoffnung gründet sich darauf, dass konkrete Regeln nur soweit Legitimität durch Legalität erlangen können, wie sie widerspruchsfrei in die Rechtsordnung als Ganzes oder grundlegende Rechtsprinzipien eingebettet werden können. Diese allgemeinen Grundlagen aber sind in Lebenswelt, Rechtsempfinden und moralischer Basis der Gesellschaft sicher verankert.30 Eine Verselbständigung hält Habermas für unmöglich, weil im öffentlichen Diskurs gleichermaßen moralische, pragmatische, ethisch-politische und juristische Argumente vorgebracht werden, vor denen der Gesetzgeber sich rechtfertigen muss. Diskursarten, die sich analytisch trennen lassen, verschränken sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit miteinander.31 Dies ge28
Habermas, Faktizität, S. 112 ff., v. a. S. 153 f. Zur Idee der kommunikativ verflüssigten Souveränität siehe Habermas, Faktizität, S. 170, 228. 30 Vgl. Habermas, Faktizität, S. 247 f., 551 f., wobei Habermas die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien von Ronald Dworkin übernimmt, ohne den naturrechtlichen Bezug. Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt am Main 1984. 31 Vgl. Habermas, Faktizität, S. 203 ff., mit ausdrücklicher Korrektur S. 667 FN 3. 29
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schieht laut Habermas sogar in einer geordneten Reihenfolge. Er rechnet damit, dass der Diskurs auf der Suche nach konsensfähigen Ergebnissen zwangsläufig von pragmatischen zu ethischen zu moralischen Argumenten führt und so die angestrebte universelle Akzeptanz des Ergebnisses erreicht wird.32 Gleichzeitig aber bedeutet der „Umweg“ über pragmatische und ethische Argumente den Bürgern schrittweise moralisches Entscheiden anzutragen und vorhandene Sittlichkeit zu mobilisieren. „Das Recht ist kein narzißtisch in sich abgeschlossenes System, sondern zehrt von der ‚demokratischen Sittlichkeit‘ der Staatsbürger und dem Entgegenkommen einer liberalen politischen Kultur. Das zeigt sich, wenn man den paradoxen Umstand zu erklären versucht, wie legitimes Recht aus bloßer Legitimität entstehen kann. Das demokratische Rechtsetzungsverfahren ist darauf angelegt, daß die Staatsbürger von ihren Kommunikations- und Teilhaberechten auch einen gemeinwohlorientierten Gebrauch machen, der politisch zwar angesonnen, aber rechtlich nicht erzwungen werden kann. (. . .) Insofern ist der demokratische Rechtsstaat auf Motive einer an Freiheit gewöhnten Bevölkerung angewiesen, die sich rechtlich-administrativen Zugriffen entziehen.“33 Während Maus in ihrem Konzept der strikten Trennung von Recht und Moral mit einem „Volk von Teufeln“ zurechtkommt und sich für Motive und Sittlichkeit der Bürger nicht weiter interessieren will, hält Habermas diese Moral für eine unverzichtbare Ergänzung zur Schaffung richtigen Rechts. Die institutionalisierten demokratischen Verfahren übernehmen allerdings eine Ausfallbürgschaft. III. Stellenwert von Grundrechten und Verfassung Virulent werden die beiden zentralen Unterschiede, die naturrechtliche versus analytische Begründung der Demokratie, subjektiver versus öffentlicher Charakter der Moral, in den Grundrechten, die in liberalen Theorien als Positivierung moralischer und naturrechtlicher Normen gelten. Auch Maus betrachtet Grundrechte unter anderem in diesem Sinn, während Habermas sie in einer viel diskutierten Passage diskurstheoretisch deduziert. Trotz unterschiedlicher Ausgangsbasis und einigen Missverständnissen gelangen Maus und Habermas letzten Endes zum gleichen Ergebnis: auch Grundrechte sind demokratisch gesetztes positives Recht und damit änderbar. Habermas erläutert die Notwendigkeit von Grundrechten im Rahmen einer diskurstheoretischen Rekonstruktion aller wesentlichen Elemente des demokratischen Rechtsstaates. Er setzt bei der willentlichen Entscheidung 32 33
Habermas, Faktizität, S. 344, 206 f., 221 f. Habermas, Faktizität, S. 678.
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der Gesellschaftsmitglieder für eine positivrechtliche Regulierung der gemeinsamen Angelegenheiten an. Damit übernehmen sie auch die Pflicht, die Voraussetzungen für die Rolle des Bürgers als Adressat und potentieller Autor, für private und öffentliche Autonomie von Grund auf zu schaffen. Da das Recht Zwangscharakter hat, müssen auch seine Entstehungsbedingungen durch Zwang gesichert sein. Sie müssen also Rechtsform haben, damit die Möglichkeit legitimer Rechtserzeugung auf Dauer gewährleistet ist. Habermas formuliert aus reiner Forscherperspektive, wie er betont, fünf abstrakte „Rechtsprinzipien, an denen sich der Verfassungsgesetzgeber orientieren müsste, um einen demokratischen Verfassungsstaat zu ermöglichen“34: „(1) Grundrechte, die sich aus der politisch autonomen Ausgestaltung des Rechts auf das größtmögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten ergeben. Diese Rechte fordern als notwendige Korrelate: (2) Grundrechte, die sich aus der politisch autonomen Ausgestaltung des Status eines Mitgliedes in einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen ergeben; (3) Grundrechte, die sich unmittelbar aus der Einklagbarkeit von Rechten und der politisch autonomen Ausgestaltung des individuellen Rechtsschutzes ergeben. (. . .) (4) Grundrechte auf die chancengleiche Teilnahme an Prozessen der Meinungs- und Willensbildung, worin Bürger ihre politische Autonomie ausüben und wodurch sie legitimes Recht setzen. (. . .) (5) Grundrechte auf die Gewährung von Lebensbedingungen, die in dem Maße sozial, technisch und ökologisch gesichert sind, wie dies für eine chancengleiche Nutzung der (1) bis (4) genannten bürgerlichen Rechte unter gegebenen Verhältnissen jeweils notwendig ist.“35 Die erste Trias der sich aus der Forscherperspektive empfehlenden Grundrechte ermöglichen es dem Einzelnen, als gleichwertiger Partner an einem Diskurs teilzunehmen. Sie schützen seine private Autonomie und folgen als Prinzipien unmittelbar aus der Absicht zur rechtsförmigen Regulierung des Zusammenlebens.36 Welche konkrete Gestalt sie in einer bestimmten politischen Ordnung haben sollen, kann aber gemäß des Postulats intersubjektiver 34 Habermas, Faktizität, S. 160. Die Beschränkung auf diese Formulierung hätte helfen können, manches Missverständnis zu vermeiden, meint auch Günther, Diskurstheorie, S. 483. 35 Habermas, Faktizität, S. 155–157. S. 306 und verdeutlichend im Nachwort S. 673. 36 Habermas, Faktizität, S. 155 f., 157–160.
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Vernunft und Moral erst im Zuge einer Verfassung- und Gesetzgebung anhand der konkreten Vorstellungen der Teilnehmer festgelegt werden. Hierfür muss jeder Rechts- oder Verfassungsstaat denknotwendig jedem Einzelnen ein viertes Grundrecht einräumen, nämlich das Recht auf chancengleiche politische Teilhabe. Es begründet den Status freier und gleicher Bürger und überträgt damit die Diskursvoraussetzung von Gleichberechtigung und Inklusion in die Sphäre genuin politischer Meinungs- und Willensbildung. Die hiermit begründete öffentliche Autonomie ist aber nur als Recht, nicht als Pflicht zu verstehen: Weder könne man jemanden zwingen, sich am Diskurs zu beteiligen, noch dazu, dies in moralischer Weise zu tun.37 Als fünftes soll ein mit dem Sozial- und Nachhaltigkeitsprinzip vergleichbarer Komplex von Grundrechten über die formale Rechtsgleichheit hinaus auch die allgemeine gleiche Realisierbarkeit der Rechte sichern. Im Zuge der konkreten Ausgestaltung dieser Grundrechte in der Verfassung wandelt sich das bisher nicht institutionalisierte Diskursprinzip in ein Demokratieprinzip und das Rechtsprinzip zu einem bestimmten Rechtssystem, dem Rechtsstaat. Habermas versteht dies als einen fortgesetzten Kreisprozess, in dem sich Rechtsstaat und Demokratie wechselseitig hervorbringen und stabilisieren und der nicht sinnvoll von einem Punkt aus, sondern nur als Ganzes betrachtet werden kann. Die konkreten Rechte und ihre Durchsetzungsmittel sichern die private und öffentliche Autonomie der Bürger und die Bürger bringen unter dieser Voraussetzung die sie ermöglichenden legitimen Rechte hervor. Private und öffentliche Autonomie sind also nicht nur gleichursprünglich, sie sind auch zu ihrer Realisierung auf eine fortgesetzte wechselseitige Erzeugung und Stabilisierung durch ihre Umsetzungsmittel Rechtsstaat und Demokratie angewiesen.38 „Mithin besteht der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten darin, dass das System der Rechte genau die Bedingungen angibt, unter denen die für eine politisch autonome Rechtsetzung notwendigen Kommunikationsformen ihrerseits rechtlich institutionalisiert werden können. Das System der Rechte lässt sich weder auf eine moralische Lesart der Menschenrechte noch auf eine ethische Lesart der Volkssouveränität zurückführen, weil die private Autonomie der Bürger ihrer politischen Autonomie weder über- noch untergeordnet werden darf. Die normativen Intuitionen, die wir mit Menschenrechten und Volkssouveränität verbinden, kommen im System der Rechte erst dann unverkürzt zur Geltung, wenn wir davon ausgehen, daß das Recht auf gleiche subjektive Handlungsfreiheiten weder als moralisches Recht dem souveränen Gesetz37
Habermas, Faktizität, S. 164. Habermas, Faktizität, S. 161–165. Die Unmöglichkeit, diesen Kreisprozess an einer Stelle anzuhalten, betont Günther, Diskurstheorie, S. 470 f. 38
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geber als äußere Schranke bloß auferlegt noch als funktionales Requisit für dessen Zwecke instrumentalisiert werden darf. Die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie zeigt sich erst, wenn wir die Denkfigur der Selbstgesetzgebung, wonach die Adressaten zugleich die Urheber ihrer Rechte sind, diskurstheoretisch entschlüsseln. Die Substanz der Menschenrechte steckt dann in den formalen Bedingungen für die rechtliche Institutionalisierung jener Art diskursiver Meinungs- und Willensbildung, in der die Souveränität des Volkes rechtliche Gestalt annimmt.“39 Die Begriffswahl „Grundrechte“ hinterließ bei vielen Kritikern dennoch den Eindruck, Habermas präsentiere einen vorstaatliche Geltung beanspruchenden Katalog konkreter Grundrechte. Gemäßigte Prozeduralisten beklagten mindestens eine „Begründungslücke“ zwischen einem konkreten Grundrechtskatalog und dem Diskursprinzip, das so konkrete Ableitungen gar nicht zulasse.40 Verfechter radikaler Volkssouveränität warfen ihm vor, letztlich doch nur eine diskurstheoretisch maskierte liberale Naturrechtstheorie zu präsentieren. Habermas entziehe dem demokratischen Diskurs genau die klassischen liberalen Abwehrrechte und lasse so eine substantielle Selbstbestimmung der Bürger nicht mehr zu.41 Durch die genannte Differenzierung zwischen Forscherperspektive und konkretem Verfassungsprozess versucht Habermas dem Vorwurf eines paternalistischen oder naturrechtlichen Vorgriffs zu entgehen. „Ex post enthüllt sich auch ‚unsere‘ theoretische Einführung von Grundrechten in abstracto als ein Kunstgriff.“42 Aus der Position des Theoretikers habe er das Diskursprinzip an die Rechtsform gleichsam von außen herangetragen und den Bürgern gesagt, welche Rechte sie sich, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollten, gegenseitig zuerkennen müssten. Es handelt sich also keinesfalls um konkrete Grundrechte, die das Prinzip des Rechts und das Diskursprinzip den Bürgern vorgibt, sondern lediglich um abstrakte „Rechtsprinzipien, an denen sich der Verfassungsgesetzgeber orientiert“43. Grundrechte, so wird hier ganz deutlich, sind keine vorpositiven Rechte bei Habermas, sondern Resultat willentlicher Satzung, die sich idealerweise an den Funktionsvoraussetzungen der eigenen Entstehung orientiert. Einzige Gewähr bietet das demokratische Verfahren der Verfassungsgebung, in dem 39
Habermas, Faktizität, S. 134 f. Vgl. Tschentscher, Prozedurale Theorien, S. 295–301 sowie seine eigene, doch recht ähnliche Deduktion von Rechten S. 317–332. 41 Vgl. hierzu und zum Folgenden die Verteidigung der Theorie bei Günther, Diskurstheorie. 42 Habermas, Faktizität, S. 163. 43 Habermas, Faktizität, S. 160, S. 306 und verdeutlichend im Nachwort S. 673. Die Beschränkung auf diese Formulierung hätte manches Missverständnis vermeiden helfen meint auch Günther, Diskurstheorie, S. 483. 40
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sich Bürger anders als im Hobbes’schen Begünstigungsvertrag, so hofft man, kaum die eigene Autonomie zerstören werden. Ingeborg Maus versteht Grundrechte dagegen nicht nur pragmatisch als die Funktionsvoraussetzungen nützlicher Demokratie. Sie betrachtet sie auch als die Positivierung des einzigen naturrechtlich begründeten Rechts auf Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung. „Die Freiheitsrechte der Bürger sind nicht eine staatlich verliehene Kompetenz oder ein ‚politisches Mandat‘, sondern die positivrechtliche Anerkennung eines vorpositiven, präexistenten Rechts auf Freiheitsgebrauch“.44 Insofern hätten Grundrechte im Unterschied zum positiven Recht für die Bürger einen eigentümlichen Doppelcharakter: Sie hätten für den Bürger vorstaatlichen Charakter, weil sie legitimer positiver Gesetzgebung als deren Voraussetzungen logisch vorgehen. Sie hätten aber zugleich den Charakter positiven Rechts, wenn sie als konkrete Ausgestaltung in einer Verfassung kodifiziert seien und so ihren vorstaatlichen Gehalt sicherten. Naturrecht höre also als positiviertes nicht auf, Naturrecht zu sein. In der Verfassung könnten diesen Freiräumen zwar institutionalisierte Ausdrucksformen gegeben werden, etwa als staatlich konstituierte Beteiligungsrechte, konkrete Wahl- und Abstimmungsmöglichkeiten. Dies impliziere aber nicht, dass damit alle anderen Möglichkeiten der nicht institutionalisierten Freiheitsausübung, d.h. Nutzung der vorstaatlichen Grundrechte aufgehoben wäre. Sie bestünden weiterhin als Kontrolle der Gesetzgebung „von unten“, wie Maus es im Hinblick auf die Moral schon erläutert hatte. Anders sieht dies für die Bedeutung der Grundrechte gegenüber dem Staat aus. Gerade weil sie für den Bürger auch vorpositiven Gehalt haben, sind sie dem Zugriff aller staatlichen Akteure entzogen. Er darf über ihren mutmaßlichen vorstaatlichen Gehalt nicht spekulieren, sondern hat sie detailgetreu umzusetzen und sich jeder weitreichenden Interpretation zu enthalten. „Jeder Aktivismus der Grundrechtsinterpretation durch die Staatsapparate verwandelte den vorstaatlichen apriorischen Charakter der Freiheitsrechte, den diese aus der Perspektive souveräner Citoyens außerdem noch haben und verminderte sie zu von oben zugeteilten und staatlich definierten Gütern.“45 Daraus ergibt sich einerseits der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz und damit die strikte Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung. Alle staatlichen Akteure haben Grundrechte und Verfassung als oberste positive Rechtsgrundlage zu achten, die sie ihrem Wortlaut entsprechend anzuwenden haben. Sie haben keinen „Durchgriff“ durch die konkreten Ver44 45
Maus, Zur Aufklärung, S. 299. Maus, Volkssouveränität, S. 78; Maus, Zur Aufklärung, S. 300–304.
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fassungsformulierungen auf die zugrunde liegenden Rechtsprinzipien im Sinne von Habermas oder die natürlichen Rechte im Sinne von Maus. Diese vorpositiven Grundlagen zu konkretisieren ist dem Verfassungsgeber vorbehalten. Insofern spricht Habermas von einem rein „rechtstechnischen Vorrang der Verfassung vor den einfachen Gesetzen“, der zur Systematik rechtsstaatlicher Prinzipien gehöre, aber nur eine relative Fixierung des Gehalts von Verfassungsnormen bedeute.46 Und auch Maus konstatiert, trotz des vorpositiven Charakters der Grundrechte für die Bürger, dass sie eben nur eine willkürliche Umsetzung des natürlichen Freiheitsrechts sind und daher in ihrer konkreten Form keinen Bestandsschutz vor dem Volkswillen haben können. Die Rechtsprinzipien sind es letztlich nur, die die Prozeduralisten bereit sind, unter dauerhaften Schutz zu stellen. Hierzu gehören sowohl für Habermas als auch für Maus aber letzten Endes nur zwei: das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip, oder mit den Worten von Ingeborg Maus, das „Prinzip der Herrschaft des Gesetzes“ und „die Prinzipien und Bedingungen des unaufhebbaren demokratischen Gesetzgebungsprozesses.“47 Auffallend ist, dass Maus nicht einmal das Recht der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung als materielles Grundrecht mit „Ewigkeitsgarantie“ im Sinne der Revisionssperrklauseln des Artikels 79 Absatz 3 des Grundgesetzes fordert, obwohl sie es im Sinne der Volkssouveränitätslehre als naturrechtlich begründet verstanden hatte. Es soll, ganz im Sinne der prozeduralen Logik nur indirekt durch die Festschreibung des demokratischen Verfahrens gesichert werden. Maus versteht Naturrecht konsequent nicht material, sondern nur noch prozedural. Habermas scheint hier angesichts seiner Vorschlagsliste eher bereit zu sein, auch den Wesensgehalt klassischer Grundrechte, wie den Gleichheitsgrundsatz, gleiche Handlungsfreiheit etc. unter Ewigkeitsgarantie zu stellen. Michael Becker identifiziert bei Ingeborg Maus daher eine radikale und bei Jürgen Habermas eine moderate prozedurale Position, gemessen an der Akzeptanz von Grundrechtsschranken, die nicht für die unmittelbare Sicherung der demokratischen Gesetzgebung unverzichtbar sind.48 Für diese Einschätzung sprechen – neben der 46
Habermas, Faktizität, S. 163. Maus, Zur Aufklärung, S. 282, 281 ff. Bei Habermas heißt es: „Weder ist der Spielraum der politischen Autonomie der Bürger durch natürliche oder moralische Rechte, die nur darauf warten, in Kraft gesetzt zu werden, eingeschränkt, noch wird die private Autonomie des Einzelnen für Zwecke einer souveränen Gesetzgebung bloß instrumentalisiert. Der Selbstbestimmungspraxis der Bürger ist nichts vorgegeben außer dem Diskursprinzip, das in Bedingungen kommunikativer Vergesellschaftung überhaupt angelegt ist, auf der einen und dem Rechtsmedium auf der anderen Seite.“ Habermas, Faktizität, S. 161 f. Wobei sich die Vorgabe des Mediums Recht unmittelbar aus der gesellschaftlichen Entscheidung für eine Selbstregulierung durch positives Recht, statt nur durch Moral, Sitte usw. ergibt. 48 Becker, Volkssouveränität. 47
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Grundrechteliste – bei Habermas Aussagen, dass Grundrechte zur Realisierung privater und öffentlicher Autonomie nicht als eine Einschränkung der Selbstbestimmung der Bürger verstanden werden könnten, weil sie ja nur dazu dienten, die Ausübung der politischen Autonomie zu ermöglichen. Ermöglichende Bedingungen erlegten dem, was sie konstituieren, keine Beschränkungen auf. Auch erklärt der Diskurstheoretiker, dass die Mehrheit schon deshalb nicht das Recht hätte, die Grundrechte ganz oder teilweise abzuschaffen, weil sie damit den sie selbst legitimierenden Status freier und gleicher Rechtssubjekte zerstören würden. Eine Abschaffung der diesen Status ausformulierenden Grundrechte würde die Mehrheit der eigenen Legislativbefugnis berauben.49 Dennoch darf auch Jürgen Habermas nicht so verstanden werden, als ob damit konkrete Grundrechte oder auch nur die in ihnen zum Ausdruck gebrachten normativen Vorstellungen einer Änderung ein für alle Mal entzogen werden dürften. Sie müssen einer Überprüfung im gesellschaftlichen Diskurs zugänglich bleiben. Jeden Versuch, die Inhalte privater Autonomie a priori unabhängig von den Ansichten aller Betroffenen festzulegen, hält Habermas für unzulässig. Das zerstöre nicht nur die öffentliche, sondern auch die private Autonomie ganzer Bevölkerungsgruppen: „Letztlich können nämlich die privaten Rechtssubjekte nicht einmal in den Genuß gleicher subjektiver Freiheiten gelangen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klarwerden und auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen jeweils Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll.“50 Habermas erläutert dies am augenfälligen Beispiel der feministischen Diskussion um eine Dekonstruktion vorherrschender Geschlechterrollen. Deren Ziel ist es, Frauen an der öffentlichen politischen Diskussion zu Geschlechterrollen und Gleichstellungsfragen gleichberechtigt zu beteiligen und ihnen so die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Bedürfnisse selbst zu artikulieren, statt wie bisher in buchstäblicher sozialstaatlich-paternalistischer Manier ungefragt mit wohlmeinenden, aber bisher häufig kontraproduktiven gleichstellungspolitischen Maßnahmen überzogen zu werden. Ganz in diesem Sinn erklärt Habermas, dass die subjektiven Rechte, die Frauen eine privatautonome Lebensgestaltung gewährleisten sollen, gar nicht angemessen formuliert werden könnten, wenn nicht zuvor die Betroffenen selbst in öffentlichen Diskussionen die jeweils relevanten Hinsichten für die Gleich- und Ungleichbehandlung typischer Fälle artikulieren und begründen. „Die private Autonomie gleichberechtigter Bürger 49
Vgl. Günther, Diskurstheorie, S. 480 f.; Habermas, Faktizität, S. 306. Jürgen Habermas, Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: Ulrich K. Preuß (Hg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Frankfurt am Main 1994, S. 83–94, hier S. 93. 50
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kann nur im Gleichschritt mit der Aktivierung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie gesichert werden“.51 Obwohl einiges dafür spricht, dass Habermas für viele der klassischen Grundrechte, auch für die, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang zur Demokratie stehen, hohe Revisionsschranken mit seiner Theorie für vereinbar hielte, mehr wäre es sicher nicht. Im Prozeduralismus kann es Bestandsschutz erstens nur für diejenigen Bestimmungen einer Verfassung geben, die die Prinzipien und Bedingungen für demokratische Rechtsetzung sichern und zweitens nur im Sinn einer Wesensgehaltsgarantie, nicht als Gewähr für eine konkrete Formulierung. Entsprechend gilt für die Verfassung als Ganzes, dass sie, von den o. g. Wesensgehalten abgesehen, jederzeit änderbar ist. IV. Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung Diese grundsätzliche Änderbarkeit der Verfassung bereitet dem auf Volkssouveränität basierenden Ansatz von Maus kaum, dem diskurstheoretischen Modell von Habermas aber erhebliche Probleme. Weil er die Funktionsvoraussetzungen des demokratischen Diskurses nicht vorgeben und nicht gegen jeden Zugriff sperren kann, ist sein anspruchsvolles erkenntnistheoretisches Ziel gefährdet. Der Diskurstheoretiker versucht daher eine Reihe funktionaler Äquivalente für die fehlenden verfassungsförmigen Garantien der Funktionsvoraussetzungen der Demokratie zu integrieren. Er weist der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Gewaltenteilung, aber auch den Bürgern eine stärkere Rolle zu als Maus. Die Änderbarkeit der Verfassung ist bei Ingeborg Maus den normativen Gehalten der Volkssouveränität geschuldet: Um den natürlichen Rechten der Freiheit und Gleichheit gerecht zu werden, dürfen nachfolgende Generationen keinen Beschränkungen unterliegen die nicht bereits für die Gründer gelten. Weiterhin mahnt die Einsicht in die Fehlbarkeit menschlicher Entscheidungen, selbst die Funktionsvoraussetzungen legitimer Rechtsetzung nicht in eine unveränderliche Form einzugießen. Da es sich bei der Verfassung um eine Satzung aus freiem Willen, gegebenenfalls auch um einen Kompromiss innerhalb der beratenden Versammlungen oder Gremien handelt, ist nicht auszuschließen, dass diese Verfassung nicht ganz kohärent ist, einzelne Punkte verbesserungsfähig sind. Nach dem radikalen prozeduralistischen Verständnis von Ingeborg Maus ist das kein Problem, denn die Verfassung gilt als ein Projekt, an dem man, um es auf dem neuesten Stand und funktionstüchtig zu halten, immer wieder arbeiten muss und kann.52 51 52
Habermas, Über den internen Zusammenhang S. 94, 93 f. Maus, Zur Aufklärung, S. 244 f.
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In einem solchen Verfassungsverständnis hat ein Verfassungsgericht eine durchaus wichtige, aber stark reglementierte Funktion. Ihm obliegt die unbestechliche Kontrolle der Einhaltung der Verfassung durch alle staatlichen Organe, auch der Gesetzgebung. Wichtigste Funktion ist aus prozeduraler Sicht die Behandlung von Verfassungsbeschwerden. Organstreitverfahren gelten eher als eine übertragene Aufgabe, in der das Verfassungsgericht als zentraler Schiedsrichter oder Vermittler zwischen anderen staatlichen Akteuren fungiert.53 Auch die Normenkontrolle, egal ob als konkrete oder abstrakte, stellt für den Prozeduralismus kein Problem dar, solange es sich um eine reine Konformitätskontrolle einfacher Gesetze mit dem Verfassungstext handelt. Damit enden für Maus die Kompetenzen des Verfassungsgerichts jedoch. Sie warnt, wie schon geschildert, insbesondere davor, das Verfassungsgericht als den eigentlichen Hüter der Verfassung anzusehen und ihm das den Bürgern vorbehaltene Vorrecht des unmittelbaren Zugriffs auf moralische Gründe und vorpositive Normen einzuräumen.54 Die gegenwärtige starke Rolle des Bundesverfassungsgerichts geißelt sie als eine „Verselbständigung justizförmiger Moral“, als „Gerechtigkeitsexpertokratie“, die im Gewand der Verfassungsinterpretation auftrete. „Dieser institutionalisierten Moralverwaltung ist eine auch in Schön-Wetter-Zeiten politischer Systeme stets latente Fehlbarkeit deshalb einprogrammiert, weil diese Art der Kontrolle bekanntlich ihrerseits nicht mehr kontrolliert werden kann“. Absurd scheint Maus der Hinweis auf eine Selbstbeschränkung des Verfassungsgerichts. Selbstbeschränkung sei eine absolutistische, mit dem Rechts- und Verfassungsstaat unvereinbare Kategorie.55 Stattdessen muss sich das Verfassungsgericht dem unbedingten Prinzip der Rechtsstaatlichkeit,56 d.h. der Unterwerfung aller staatlichen Organe unter positives Recht fügen und sich in die der Volkssouveränität eigene Logik einer zugleich hierarchischen und funktionsspezifischen Gewaltenteilung einordnen. Sie basiert zunächst auf der Unterscheidung zwischen verfassungsgebender und verfassten Gewalten. Erstere steht ausschließlich dem „Volk“ selbst zu und die Bürger bleiben auch im Staat die eigentlichen Wächter des Verfassungsprojekts. Die eigentlichen Staatsaufgaben werden aber im Rahmen einer Verfassung konkreten Organen übertragen. Damit wird eine hierarchische Gewaltenteilung installiert, die eine Unterordnung von Verwaltungshandeln unter die Gesetze und der Gesetze unter die Ver53
Vgl. Habermas, Faktizität, S. 294. Zu der heftigen Kritik von Ingeborg Maus an der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts siehe v. a. Maus, Trennung, S. 199–207. 55 Maus, Zur Aufklärung, S. 174 f. 56 Auf die Instrumente formaler Rechtsstaatlichkeit wie Allgemeinheit des Gesetzes, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rechtsweggarantie etc. gehe ich nicht weiter ein. Sie sind in prozeduralen Theorien in vollem Umfang als unverzichtbar anerkannt. 54
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fassung bewirkt. Ziel ist es, dass kein staatliches Organ sich unter Umgehung der Verfassungsvorgaben selbst programmieren kann. Das Verfassungsgericht überwacht die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung, so wie die Verwaltungsgerichte die Bindung der Verwaltung an das Gesetz sichern. Die hierarchische Gewaltenteilung zieht damit eine funktionsspezifische Differenzierung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative nach sich. Da alle drei Gewalten auf die gleiche Legitimationsbasis, die Verfassung, zurückgehen, ist die Frage, wie sie aufeinander einwirken können, bereits autoritär geregelt. Sie haben darüber hinaus keine wechselseitigen Kontrollaufgaben. Außerdem ist ihr Verhältnis nicht das eines Kräftegleichgewichts, sondern schreibt eine Höherrangigkeit der Legislative fest. Verfassungs- und Gesetzesbindung ermöglichen in Zusammenhang mit der hierarchischen Gewaltenteilung erst die Wirksamkeit demokratischer Kontrolle. Ohne sie, so betont Maus, laufe das Demokratieprinzip leer.57 Das gesamte Rechts- und Demokratiekonzept von Ingeborg Maus basiert damit auf der Logik einer Einbahnstraße der Legitimation und Kontrolle. Für Jürgen Habermas dagegen spielt der Kontrollbegriff eine eher untergeordnete Rolle. Während Maus die Aufgabe des demokratischen Verfassungsstaates darin sieht, durch Beschränkung der als existent vorausgesetzten staatlichen Gewalt die individuelle Autonomie im privaten und öffentlichen Bereich zu sichern, geht es Habermas um eine rationale Form der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten. Gesellschaft und Staat stehen nicht in einem konkurrierenden, sondern ergänzenden, arbeitsteiligen Verhältnis zueinander.58 Dieses Moment zieht sich durch seine gesamte Rekonstruktion des demokratischen Verfassungsstaats. So betont Habermas zum einen das für die Gewaltenteilung im Volkssouveränitätskonzept zentrale Verbot einer Selbstprogrammierung staatlicher Organe; gleichzeitig lobt er die Möglichkeiten des konkurrierenden Checks and Balances-Modells, bei dem unabhängig voneinander legitimierte staatliche Organe mit sich überschneidenden Aufgabenbereichen sich wechselseitig kontrollieren. Er gelangt zu einem diskurstheoretisch begründeten Modell, in dem staatliche Macht gleichgewichtig auf die Organe verteilt und die Rationalität ihrer Entscheidungen sowohl durch Rückbindung an den öffentlichen Diskurs als auch durch die Zusammenarbeit verschiedener Akteure an einer Aufgabe gesichert sein soll. Grundlage ist die Unterscheidung der Argumentationslogik von Normbegründungen und Normanwendungen. In Normbegründungsdiskursen stehen sich die Gesprächspartner als Freie 57
Vgl. Maus, Zur Aufklärung, S. 142 ff., 228–233, 289 f. Erneut in dies., Freiheitsrechte und Volkssouveränität. Zu Jürgen Habermas’ Rekonstruktion des Systems der Rechte, in: Rechtstheorie 26 (1995), S. 507–562, hier S. 535 f. 58 Vgl. die Zielbestimmung des Staates bei Habermas, Faktizität, S. 217.
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und Gleiche gegenüber, damit jenseits der sozialen Machtverhältnisse ein vernünftiges Ergebnis erzielt werden kann. Ihre Legitimität gewinnen sie aus der Zustimmung der Beteiligten. Anwendungsdiskurse werden dagegen aus der Perspektive eines neutralen Dritten oder unabhängigen Richters geführt, dessen Rechtfertigung darauf beruht, eine Norm vernünftig und der Situation angemessenen anzuwenden. Die Kriterien der Vernunft und Angemessenheit schafft er aber nicht selbst, sondern orientiert sich an den vom Gesetzgeber mitgelieferten Zielen und Gründen. Die verschiedenen Rollen schließen sich aber gegenseitig aus. Denn der Richter, der über die Mittel zur sanktionsbewährten Durchsetzung einer Norm verfügt, kann nicht gleichzeitig an einer Diskussion Freier und Gleicher beteiligt sein, ohne durch sein Machtpotential die Freiheit und Gleichheit der anderen zu zerstören und damit der Zustimmung ihre Legitimationskraft zu rauben.59 Habermas’ Schlussfolgerung ist aber nicht, dass Rechtsetzung und Rechtsanwendung bei verschiedenen Organen liegen müssen, sondern dass Organe, die Normbegründungsdiskurse führen, dafür die nötige Rückbindung an den demokratischen Diskurs brauchen. Für das Bundesverfassungsgericht erwägt er, neben oder statt einer Demokratisierung der Richterbestellung sogar, die „zusätzliche Legitimationsbürde könnte durch Rechtfertigungszwänge vor einem erweiterten justizkritischen Forum abgegolten werden“60. Als praktischen Bewertungsmaßstab für die Legitimität des Aufgabenzuschnitts eines staatlichen Organs empfiehlt Habermas das Verhältnis von demokratischer Legitimation und Einfluss auf das Rechtsystem: Je größer der Einfluss ist, desto direkter muss die Legitimation und die Rückbindung an die kommunikative Macht sein.61 Ziel der Gewaltenteilung bei Habermas ist offensichtlich nicht ein hierarchisches, sondern ein symmetrisches Kräfteverhältnis. Wenn an Legitimation und Durchsetzung einer Entscheidung immer mindestens zwei Instanzen beteiligt sein müssen, weil keine von ihnen allein über die Vollmacht zur Rechtssetzung und die Macht zur Durchsetzung verfügt, findet zwischen ihnen zwangsläufig ein Diskurs statt, in dem sie sich wechselseitig von der Rationalität der beabsichtigten Maßnahme und der dazu gehörigen Umsetzungsmittel überzeugen müssen, könnte man die Gewaltenverschränkung diskurstheoretisch erklären. Alles „naturwüchsige“ und rein willensmäßige Handeln soll so nach Habermas beseitigt und durch rational-gesetzmäßiges ersetzt werden. Diese Rationalisierung und nicht etwa die Idee einer wechselseitigen Beschränkung sei der Sinn des klassischen checks and balances-Arguments.62 59 Habermas, Faktizität, S. 212–215, 267. Die Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs ist von Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit, Frankfurt am Main 1988, S. 257 ff. 60 Habermas, Faktizität, S. 530, 529 f., 319. 61 Habermas, Faktizität, S. 236 f. mit FN 62.
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Verstärkt wird dieses Rationalisierungselement noch durch ein Plädoyer für ein System nachsorgender Kontrolle. Dazu gehören nicht nur die für jedes Rechtsstaatsmodell wichtige und unproblematische parlamentarische Verwaltungskontrolle, der Aufbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde.63 Habermas gesteht dem Verfassungsgericht – unter der o. g. Bedingung einer besseren Legitimation und Kontrolle, auch im Bereich der Normenkontrolle größere Kompetenzen zu als Maus. Zunächst kritisiert er zwar die eigene „Wertordnungslehre“ des Bundesverfassungsgerichts, anhand derer es eine „schöpferische Rechtsfortschreibung“ betreibe. Damit verstoße das Gericht nicht nur gegen die Logik der Gewaltenteilung, sondern vor allem gegen das in Zeiten nachmetaphysischen Denkens geltende Verbot einer Assimilierung von rational begründbarem Recht an kulturabhängige Sitten und Werte.64 Auch könne ein Verfassungsgericht keine Deutungsgewalt über das haben, was vermeintlich eingelebte Sitten und Werte sind und was daher vom Gesetzgeber zu berücksichtigen wäre. Das legitime Recht dürfe sich nur aus der aktuellen demokratischen Willensbildung und dem in diesem Verlauf sich durchsetzenden besseren Argumentes ergeben.65 Letztlich aber lasse sich die Diskussion über Aktivismus oder Selbstbescheidung des Verfassungsgerichtes nicht in abstracto führen. Wo es um die Durchsetzung des demokratischen Verfahrens und der deliberativen Form politischer Meinungs- und Willensbildung gehe, könne eine offensive Verfassungsrechtsprechung nicht schaden, sondern sei sogar normativ gefordert. Hüter des materiellen Gehalts der Verfassung blieben zwar die Bürger selbst; das Verfassungsgericht sei kein Regent, der an die Stelle des unmündigen Thronfolgers trete. Aber es könne immerhin ein Tutor sein.66 Beispielsweise könne das Gericht den Gesetzgeber im Zuge abstrakter Normenkontrolle auf Versäumnisse bei der Berücksichtigung des öffentlichen Diskurses hinweisen. Es könne anhand von Minderheitenstimmen zeigen, dass keine vernünftige oder vollständige Analyse der regelungsbedürftigen Materie erfolgt ist. Habermas erachtet das in einem weiteren Sinn noch als eine rein formale Überprüfung des Zustandekommens einer Norm, nicht um eine inhaltliche Prüfung.67 Der Frankfurter Politologin Maus geht sowohl das Gewaltenteilungsmodell als auch die Verfassungsgerichtsaufgaben bei Habermas viel zu weit. Sie wirft ihm vor, einem „Verfassungsekklektizismus“ das Wort zu reden, 62 63 64 65 66 67
Habermas, Habermas, Habermas, Habermas, Habermas, Habermas,
Faktizität, Faktizität, Faktizität, Faktizität, Faktizität, Faktizität,
S. S. S. S. S. S.
229–231. 212–214, 229–237. 309–324. 336–340. 340. 320–324, 333–336.
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im Zuge dessen im 20. Jahrhundert immer mehr Elemente des US-amerikanischen Verfassungsstaatsmodells in das kontinentaleuropäische eingebracht wurden. Damit werde die Eigengesetzlichkeit des letzteren, auf hierarchischer und funktionsspezifischer Gewaltenteilung, Parlamentarismus und Volkssouveränität beruhenden Modells aber zerstört. Habermas’ Betonung eines Gleichgewichts, einer Symmetrie der staatlichen Gewalten weise ebenso in diese Richtung, wie die Bereitwilligkeit gegenüber einer nachsorgenden Normenkontrolle.68 Tatsachlich kann man sagen, dass Habermas’ Vorstellungen von Gewaltenteilung, Verfassung, und Verfassungsgerichtsbarkeit die bestehende Institutionenordnung etwa in Deutschland bestätigen, während bei Maus die Kritik, insbesondere an der starken Rolle des Verfassungsgerichts und dem Bedeutungsverlust des Parlaments überwiegen. V. Demokratische Verfahren als Garanten richtigen Rechts Prozedurale Theorien des demokratischen Rechtsstaats laden die Bürde für die Garantie richtigen Rechts den institutionalisierten demokratischen Verfahren auf. Auch wenn einige Vertreter, wie Habermas, starke konstitutionelle Ergänzungen bis hin zu Formen nachträglicher Kontrolle vorsehen, fehlt eine letztentscheidende Möglichkeit, dem empirischen Volkswillen inhaltliche Vorgaben zu machen und durchzusetzen. Alle prozeduralen Theorien haben daher eine Konstruktion demokratischer Verfahren zu liefern, die die versprochene Richtigkeitsvermutung plausibel macht. Darin liegt aber auch die entscheidende Schwachstelle. Ingeborg Maus, die sowohl eine gegenseitige Kontrolle der staatlichen Instanzen ablehnt als auch eine inhaltliche gerichtliche Normenkontrolle, müsste an sich eine besonders überzeugende Demokratiekonzeption liefern. Sie belässt es aber bei wenigen allgemeinen Bemerkungen. Dabei plädiert sie für eine Kombination aus parlamentarischer, direktdemokratischer und dezentraler Gesetzgebung, wobei darüber, welche Regelungsbefugnisse welcher Instanz zustehen, selbst erst demokratisch entschieden werden müsste. Maßstab soll dabei sein, dass je spezieller der Regelungsbereich und/oder je kleiner die Zahl der Rechtsadressaten, desto dezentraler die Entscheidungsinstanz. Unbedingt zentral vom Parlament müssten aber die Verfahrensnormen festgelegt werden, nach denen dezentrale und plebiszitäre Regelungen getroffen werden dürfen. Nur so könnten fallweise Veränderungen der Verfahrensnormen zugunsten spezifischer Machtverteilung und Interessenlage verhindert werden. Zentral und in Unkenntnis der potentiellen Fälle gesetzte Verfahrensregeln, so die Idee, gewährleisten die Symmetrie der Verhandlungspositionen trotz asymmetrischer gesellschaftlicher Machtverteilung. Wichtig ist Maus daher, dass De68
Maus, Freiheitsrechte, S. 551–560.
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mokratie die institutionalisierte Partizipation nicht zugunsten bloßen „Einflusses“ aufgeben darf.69 Insgesamt bleibt die Skizze für eine Bewertung zu ungenau. Maus müsste bei aller Zurückhaltung, dem demokratischen Diskurs nicht vorgreifen zu wollen, zumindest generelle Fragen klären. Dazu gehört m. E. das Problem multipler Gruppenzugehörigkeiten und konkurrierender Regelungsbefugnisse etwa zwischen regionalen und ökonomischen Selbstverwaltungsbereichen, aber auch direktdemokratischen und parlamentarischen Kompetenzen, die Frage der Legitimation nicht politischer Mitspracherechte, der Umgang mit den gerade bei alternativen Beteilungsformen sehr ungleich nutzbaren Partizipationschancen, die Anschlussfähigkeit an europäische und globale Politik, um nur wenige Beispiele zu nennen. Deutlich wird zumindest, dass Maus wohl keine über das blanke Mehrheitsprinzip hinausgehenden speziellen Verfahrensvorkehrungen plant, sondern es bei der Hoffnung auf eine die heterogenen Interessen zu einem guten Ergebnis führenden invisible hand belässt.70 Für Jürgen Habermas gestaltet sich die Aufgabe eines Umsetzungsvorschlags für einen geeigneten demokratischen Diskurs ohnehin schwieriger, da er nicht nur geeignete Entscheidungsinstanzen, sondern auch die Foren des unverzichtbaren Diskurses aufzeigen muss. Eine direkte Demokratie, bei der die Bürger anonym und ohne Aussprache mehrheitlich entscheiden, ist dafür keine geeignete Lösung. Ebenso verbietet sich eine herkömmliche parlamentarische Demokratie, in der die Bürger weitgehend nur als Publikum fungieren können. Habermas kündigt seinen Lesern eine „Radikaldemokratie“, „Fundamentaldemokratie“ oder „deliberative Demokratie“ an. Doch das in einem Aufsatz von 1988 vorgeschlagene „Belagerungsmodell“ und das 1992 formulierte „Schleusenmodell“ gehen über herkömmliche repräsentativ-demokratische Verfahren kaum hinaus.71 Habermas schlägt vor, 69 Maus, Zur Aufklärung, S. 225; ebenso dies., Sinn und Bedeutung von Volkssouveränität in der modernen Gesellschaft, in: Kritische Justiz Bd. 24/2 (1991), S. 137–150, hier S. 148 f. 70 Manfred G. Schmidt vermutet eine zu pauschale Auseinandersetzung mit fremden Entwürfen, um daraus ein zeitgemäßes eigenes Modell gewinnen zu können. Manfred G. Schmidt, Rezension zu: Ingeborg Maus. Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt am Main 1992, in: Neue Politische Literatur 3/38 (1993), S. 483–485. 71 Zur Behauptung einer Theorie radikaler oder fundamentaler Demokratie siehe Habermas, Volkssouveränität (1988), in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Die Ideen von 1789, Frankfurt am Main 1989, S. 7–36. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Habermas, Faktizität, S. 600–631, hier S. 628. Zur Benennung der beiden Modelle siehe das Interview: Ein Gespräch über Fragen der politischen Theorie, in: Jürgen Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische Schriften VIII, Frankfurt am Main 1995, S. 135–164, hier S. 140.
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dass die politische Macht der Bürger sich in verschiedene Formen und Verfahren ausdifferenzieren müsse: in einen von Entscheidungen entlasteten, aber dadurch auch freien und unverfälschten Bereich des öffentlichen Diskurses und einen strikt rechtlich verfassten Bereich staatlicher Entscheidung. Im freien öffentlichen Diskurs bilden die Bürger die mit der Vermutung der Vernunft ausgestattete kommunikative Macht, gleichbedeutend mit einem gemeinsamen Willen der Bürger. Er hat keine unmittelbar entscheidende, sondern eine autorisierende Macht, indem er anzeigt, welche Begründungen für ein politisches Programm oder Gesetz auf allgemeine Akzeptanz hoffen könnten. Diese kommunikative Macht wird in administrative Macht transformiert, wenn der Gesetzgeber unter Bezug auf diese Begründung ein Gesetz erlässt, das staatliches Handeln erlaubt. Das Recht ist mithin „das Medium . . ., über das sich kommunikative Macht in administrative umsetzt“.72 1988 sieht Habermas die konkreten Einflussmöglichkeiten der Bürger darin, ihre kommunikative Macht durch „Belagerung“ des administrativen Systems auszuüben. Sie können einzelne Gründe, mit denen die administrativen Entscheidungen legitimiert werden sollen, akzeptieren, andere entwerten und die damit verbundenen Programme unhaltbar machen.73 Während sich die Bürger in diesem Modell damit begnügen müssen, auf die Versuche der Legitimationsbeschaffung von oben zu reagieren, impliziert das „Schleusenmodell“ von 1992 Chancen der Eigeninitiative. Die Bürger könnten einen „Gegenkreislauf“ der kommunikativen Macht initiieren, wenn erheblicher Problemdruck die Zivilgesellschaft veranlasst, intensiv nach eigenen Lösungen zu suchen. Der Karriereprozess von Themen und Argumenten beginnt dann in der „Peripherie“ der Gesellschaft, in der privaten und kleinräumigen Kommunikation. Bürger sprechen hier über ihre Erfahrungen mit den Alltagsfolgen politischer Entscheidungen und es treten umso mehr Partner in diese Sprechsituation ein, je größer der Kreis der Betroffenen und der Leidensdruck ist. Themen und Argumente werden von weiteren Personen aufgegriffen, gelangen vom privaten in den öffentlichen Raum, werden gebündelt und strukturiert und so schrittweise von Akteuren der Zivilgesellschaft, wie Parteimitgliedern, Verbandsfunktionären, Medien, Intellektuellen etc. von der Peripherie immer weiter in Richtung des politischen Zentrums getragen. Auf seinem Karriereweg muss ein Thema bildlich gesprochen also eine Reihe von Schleusen passieren, d.h., es muss sowohl vom Publikum goutiert als auch von Amtsträgern in die zuständigen Institutionen eingebracht werden. Findet ein Thema oder Argument keinen Anklang, besteht für die Akteure der nächst höheren Stufe kein Anreiz, es wei72 73
Habermas, Faktizität, S. 187, 169 f., 180–186, 211. Habermas, Volkssouveränität, S. 620–627.
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ter zu verwenden. Denn am Ende gilt es nicht nur, den anderen Redner zu überzeugen, sondern Wählerstimmen zu gewinnen. Wesentlich für die Karriere eines Themas oder Arguments ist dabei nicht nur dessen Qualität, sondern auch das gesellschaftliche Ansehen und der Einfluss dessen, der es aufgreift.74 Den möglichen Vorwurf, die kommunikative Macht falle in der deliberativen Demokratie unweigerlich den Intellektuellen oder der meinungsbildenden Avantgarde in die Hände, weist Habermas zurück. Denn die kommunikative Macht führe nicht direkt, sondern erst über die Stufe des Parlaments zur Entscheidung und das werde schließlich über allgemeine Wahlen gewählt. Außerdem könne sich unter der Voraussetzung einer freien und erst damit Legitimität stiftenden Öffentlichkeit jeder zu Wort melden. Sein Modell sieht er zudem als einen Anreiz für die Bürger, eigenes Expertenwissen zu generieren, um Gegenkreisläufe initiieren zu können. Immerhin räumt der Autor ein, dass sich eine „egalitäre Massenkultur“, wie sie einer freien öffentlichen Kultur zugrunde liegen muss, mit einem privilegierten Einfluss Intellektueller schwer tut und daher das Nachwachsen oder Fortbestehen der Fähigkeit zu anspruchsvollem Diskurs behindert, auf das sie eigentlich angewiesen ist. Stachel, die die öffentliche Kommunikation vor „Verflachung“ bewahren, sind eine Zivilreligion, der Wahrheitsanspruch selbst in der Alltagskommunikation, die Aufnahme identitätsbildender religiöser Überlieferungen in die Lebenswelt oder das beständig zweiflerische Potential der Avantgarde, die immer weiter zur Überprüfung der allgemein akzeptierten Maßstäbe und Zustände auffordert.75 Der elitistische Zug der deliberativen Demokratie bei Habermas ist unverkennbar. Vertiefung wird hier zwar nicht auf Kosten aber doch ohne weitere Berücksichtigung der Verbreiterung der Demokratie gedacht. Niklas Luhmann wirft Habermas daher auch vor, die Ungleichverteilung von Partizipationsbereitschaft und -fähigkeit zu ignorieren und durch eine Verabsolutierung der ratio das Volk zu vergessen. „Die Vernünftigen, die darüber beraten, mögen betroffen sein, auf Abhilfe sinnen und über Hilfsmaßnahmen vernünftigen Konsens erreichen. Aber auch die Vernunft ist nur eine Form mit einer anderen Seite. Sie schließt die Uneinsichtigen und die Unvernünftigen aus oder jedenfalls das, was aus ihrer Perspektive so aufgefaßt werden muß. Aber könnte es nicht sein, daß damit das Volk ausgeschlossen wird, in dessen Namen die Inszenierung der Vernunft unternommen war?“76 Da den Rechtsadressaten die Gründe ihrer Zustimmung freistehen, also auch moralische oder emotionale Gründe möglich wären, entsteht durch 74 75 76
Habermas, Faktizität, S. 432–451; 459–462. Habermas, Volkssouveränität, S. 629–631. Luhmann, Quod omnes tangit, S. 53.
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diese „Ausgeschlossenen“ nicht unmittelbar ein Legitimationsproblem. Ingeborg Maus kritisiert aber zu Recht, dass die Forderung nach moralischem Gebrauch der Freiheitsrechte an die Bürger inkonsequent sei. Wenn Habermas dem Bürger die Gründe für die Partizipation freistelle, könne er nicht in einem zweiten Schritt moralischen Gebrauch verlangen. Doch auch Maus räumt ein, dass ihr eigener „Volk von Teufeln-Entwurf“, der ganz ohne Erwartungen an die Moral der Bürger auskommen soll, an der heutigen Unsicherheit rechtsstaatlicher Garantien zu scheitern droht.77 Habermas selbst beschwichtigt: Die politische Moral der Bürger werde „nur in kleiner Münze erhoben“, weil das Repräsentativsystem eine Ausfallbürgschaft übernimmt. Es erzwingt eine wechselseitige Abhängigkeit von Abgeordneten und Wählern: Die, die wieder gewählt werden wollen, können die Diskursergebnisse nicht ignorieren und die Wähler können nicht strikt egoistisch wählen, weil sie nur zwischen generalisierten Wahlprogrammen entscheiden können.78 Fakt bleibt, dass die eigentliche Bürde eines nicht nur formal, sondern auch inhaltlich gültigen Rechts nicht etwa das institutionalisierte demokratische System, sondern die Bürger tragen sollen. Interessanter als die alte Frage, ob sie dafür die notwendige Moral und Vernunft besitzen, scheint mir, ob sie diese Ressourcen dank ihrer „Entscheidungsentlastung“ mobilisieren werden. Habermas hält es für eine wichtige Sicherheitsvorkehrung, dass die Bürger nicht unmittelbar entscheiden, sondern nur beraten. Nehme man den Bürgern die unmittelbare Entscheidungsgewalt, sei der Anreiz, die Öffentlichkeit zu vermachten, zu instrumentalisieren und zu manipulieren gering.79 Der vielstufige Prozess macht es für den Einzelnen aber undurchschaubar, ob die kommunikative Macht die administrative überhaupt nennenswert beeinflussen konnte. In diesem Klima gedeiht keine lebendige demokratische Kultur. Das Diskursmodell muss m. E. auch neue Formen institutionalisierter Beteiligung integrieren. VI. Ausblick Durch den auf unterschiedlichen Wegen geführten Nachweis der Gleichursprünglichkeit von öffentlicher und privater Autonomie haben Ingeborg Maus und Jürgen Habermas einen zentralen Beitrag für eine Theorie des demokratischen Rechtsstaats geleistet. Sie räumen auch mit einem verbreiteten Vorurteil auf, wonach „Demokratie“ die Unverzichtbarkeit der auf Ge77
Maus, Freiheitsrechte und Volkssouveränität, S. 560–562. Habermas, Volkssouveränität, S. 620–627. 79 Habermas, Faktizität, S. 184; zur Hoffnung, dass eine nicht vermachtete Zivilgesellschaft die Erkenntnisleistung des Diskurses erbringen kann vgl. auch das Nachwort zur vierten Auflage von ders., Faktizität, S. 667 f. 78
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waltenteilung, Verantwortlichkeit und Rechtssicherheit beruhenden Herrschaft des Rechts bestreitet. Jenseits dieser Verdienste lag der Fokus des vorliegenden Vergleichs auf der Plausibilität des prozeduralen Paradigmas, durch demokratische Verfahren richtiges Recht garantieren zu können. Konkrete Umsetzungsvorschläge bleiben die große Aufgabe, aber auch die bisherige große Schwäche prozeduraler Theorien. Der Vergleich hat gezeigt, dass auch in Zukunft ein gemeinsames Modell nicht zu erwarten ist. Hinter ähnlichen Begriffen – wie Trennung von Recht und Moral, Herrschaft des Rechts, Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie, Ablehnung einer Wertjudikatur bis hin zum Bekenntnis zur Volkssouveränität – verbergen sich andere Prämissen, andere Zielsetzungen und daher auch andere institutionelle Designs. Das Label „Prozeduralismus“ sollte nicht darüber hinwegtäuschen. Interessanterweise entwirft Ingeborg Maus trotz ihres naturrechtlichen Ausgangspunktes ein rechtspositivistisches Modell, während Habermas sich trotz seiner empirisch-analytischen Prämissen Berührungspunkte mit der modernen Naturrechtstheorie erhält. Im weiteren Verlauf der Debatte wird sich dieser Abstand zwischen den prozeduralen Modellen des demokratischen Rechtsstaats von Maus und Habermas noch weiter verstärken. Trotz ihrer Zurückhaltung gegenüber Plebisziten auf Bundesebene erwarte ich von Maus eine Annäherung an die Referendumsdemokratie, die es ihr, zum Beispiel mit Blick auf die direktdemokratischen Instrumente im geplanten EU-Verfassungsvertrag, erlauben würden, die nationalstaatliche Fixierung ihres Modells zu lockern. Für Habermas bleibt angesichts seiner erkenntnistheoretischen Erwartungen an den Diskurs eine Referendumsdemokratie uninteressant. Sie basiert auf reinem Mehrheitsprinzip, nicht auf Konsens und kann daher auf einen breiten öffentlichen Diskurs verzichten, solange nur die Abstimmungsalternativen öffentlich dargelegt sind. Insofern ist von Habermas eher eine Weiterarbeit an einer auf die europäische und globale Ebene bezogenen Theorie deliberativer Demokratie zu erwarten. Sie kann noch weniger als auf nationaler Ebene von Diskursen der Bevölkerung ausgehen, so dass der Elitendiskurs und die „entscheidungsentlastete“ Bürgerbeteiligung hier noch mehr Bedeutung gewinnen werden.
Das Geheimnis des zweiten Zusatzes Ein historisch-kritischer Beitrag zu Kants Friedensschrift Von Jörg Pannier „Mein lieber Watson, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass das, was übrig bleibt, wenn Sie das Unmögliche ausgeschlossen haben, und mag es noch so unwahrscheinlich sein, die Wahrheit sein muss!“ Arthur Conan Doyle, „Im Zeichen der Vier“.
Eine der bekanntesten Stellen aus Kants Traktat ‚Zum ewigen Frieden‘ ist die Absage an das Philosophenkönigtum: „Dass Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“1 Platon wird hier zwar nicht ausdrücklich genannt, doch kann Kant sich im einkalkulierten Leserwissen auf den antiken Philosophen beziehen, hatte er doch, wie ein Interpret meint,2 in der ‚Politeia‘ gelesen: „Wenn nicht [. . .] entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber sich wahrhaft und gründlich mit Philosophie befassen, und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und Philosophie, [. . .] eher gibt es kein Ende von dem Übel für die Staaten, [. . .] und für das menschliche Geschlecht“ (473c–d).3 Dies ist jedoch die Übersetzung Schleiermachers von 1804,4 dem Todesjahr Kants. Somit lag sie zur Zeit der Abfassung der Friedensschrift (1795/96) 1 Kant, Zum ewigen Frieden, Akademieausgabe Bd. 8, S. 368 f. (abgek. AA 8/368 f.). 2 Vgl. R. Brandt, Historisch-kritische Betrachtungen zu Kants Friedensschrift, in: Jahrbuch politisches Denken 4/1994, S. 75; s. a. die überarbeitete Fassung desselben Aufsatzes in R. Merkel/R. Wittmann (Hg.), „Zum ewigen Frieden“, Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von I. Kant, Frankf. a. M. 1996, S. 31–66. 3 Kants Kritik an Platons Philosophenkönigssatz ist nicht neu. Schon Aristoteles hatte ganz ähnliche Einwände erhoben: „Philosophie zu treiben ist für einen König nicht nur nicht notwendig, sondern sogar hinderlich; dagegen soll er auf wirkliche Philosophen hören und ihnen folgen.“ Aristoteles Frag. 647, Themist. or. 8, 128 (übers. v. W. Nestle, Aristoteles Hauptwerke, Leipzig 1934, S. 76). 4 Vgl. Überwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, hg. v. K. Praechter, Bd. 1, Darmstadt 1967, S. 191–194; im Folgenden abgekürzt: Überweg.
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noch nicht vor. Da andere Übersetzungen ins Deutsche zum fraglichen Zeitpunkt rar waren5 und Kant nicht in der Lage war, den platonischen Originaltext zu lesen, stellt sich die Frage nach Kants Textkenntnis. Obwohl es bereits seit 1484 durch Marsilio Ficinos Übersetzung der ‚Politeia‘ ins Lateinische möglich war, den Text ohne Griechischkenntnisse in seinem Zusammenhang zu lesen, beginnt erst nach 1800 eine Renaissance der Werkrezeption durch Übersetzungen ins Deutsche:6 Seit der Jahrhundertwende wandelte sich das Verständnis für die griechische Antike, viele Klassiker wie Homer, Hesiod, die Tragödiendichter und vor allem die Dialoge Platons wurden übersetzt. Dies führte zur weiteren Verbreitung des antiken Gedankengutes und dessen Aneignung durch breitere Schichten. Gleichzeitig entstanden neue philologische Maßstäbe und Wissenschaftsstandards im Umgang mit antiken Texten. Kants Platonverständnis ist geprägt durch das damals verbreitete Lehrbuch zur Philosophiegeschichte, Johann Jacob Bruckers ‚Historia Critica Philosophiae‘.7 Die ‚Politeia‘, die Brucker für eine Ausgeburt politischer Schwärmerei hält, findet hier kaum eine Würdigung; als paradigmatischer Nachweis des Utopismus wird lediglich der Philosophenkönigssatz in einer knappen Übersetzung präsentiert.8 Eine systematische Einordnung, eine Darstellung des Gedankengangs in seinem Zusammenhang oder eine kritische Würdigung erfolgen nicht. Dass Kant weitgehend nicht das platonische Werk selbst, sondern Brucker als Quelle für seine Platonrezeption benutzt hat, ist bereits minutiös nachgewiesen worden.9 5
Vor Schleiermachers Übersetzung gab es lediglich eine deutsche Politeia-Ausgabe von F. K. Wolff (Altona 1799) sowie eine ungesicherte Ausgabe von Kleuker (Lüneburg 1780, belegt ist Wien, Prag 1805).Vgl. Überweg, a. a. O., S. 191–194; s. a. U. Zimbrich, Bibliographie zu Platons Staat. Die Rezeption der Politeia im deutschsprachigen Raum von 1800 bis 1970, Frankf. a. M. 1994. 6 Vgl. A. B. Neschke-Hentschke, Vorwort zu U. Zimbrich, Bibliographie zu Platons Staat, a. a. O., S. 5 ff. 7 Vgl. Iacobi Bruckeri, Historia Critica Philosophiae, Tomus primus, Lipsiae 1742, p. 727 (Platonis Politica); s. a. A. B. Neschke, Le degré de la philosophie de Platon: Platon dans l’Historia critica philosophiae de J. J. Brucker (1742), dans: Revue de Metaphysique et Morale, 3/1992, S. 377–400. 8 „Numquam a malis liberabitur humanum genus, nisi aut philosophi regent, aut qui regnant, divina quadam sorte philosophentur“ Brucker, Historia, a. a. O., S. 727. 9 Vgl. G. Mollowitz, Kants Platoauffassung, Kant-Studien 40/1935, S. 13 ff. Mollowitz versucht einen lückenlosen Nachweis darüber zu führen, dass Kant seine gesamte Platonauffassung aus Bruckers ‚Historia‘ entnommen hat (vgl. ibd., S. 17). In dieser Hinsicht etwas zurückhaltender ist H. Heimsoeth in seinem Aufsatz „Kant und Plato“, Kant-Studien 56/1965–66, S. 349 ff., doch hält auch er Brucker für die Hauptquelle von Kants Platonkenntnissen, zumal Kant kaum Platon-Texte vorlagen, auch wenn bereits in den 80er Jahren die Bipontiner Ausgabe samt Analysen Tiedemanns erschienen war (vgl. ibd., S. 349, 368 f.).
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Trotzdem wäre es eine voreilige Unterschätzung Kants, wollte man glauben, er habe Bruckers Platonbild gänzlich unreflektiert übernommen. Bereits in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ zeigt er sich gegenüber Brucker durchaus kritisch. Die ‚Politeia‘ bezeichnet Kant zwar noch als ein „vermeintlich auffallendes Beispiel von erträumter Vollkommenheit, die nur im Gehirn des müßigen Denkers ihren Sitz haben kann“ (KrV B 372, A 316) und der Philosophenkönigssatz wird gar zu einem „Sprichwort“, doch tadelt er, dass Brucker die These Platons lächerlich fände, derzufolge niemals ein Fürst wohl regieren würde, der nicht der Ideen teilhaftig wäre. „Allein man würde besser daran thun, diesem Gedanken mehr nachzugehen und ihn (wo der treffliche Mann [Platon] uns ohne Hülfe lässt) durch neue Bemühungen in Licht zu stellen, als ihn unter dem sehr elenden und schädlichen Vorwande der Unthunlichkeit als unnütz bei Seite zu setzen“ (KrV B 372, A 316). Diese neuen Bemühungen sieht Kant in einer noch zu entwickelnden Rechtsphilosophie, die jene „ächten Ideen“ einer Staatsverfassung zu berücksichtigen habe: „Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann“ (KrV B 372, A 316). Kant entwickelt demnach bereits 1781 jene Konstruktion der Rechtslehre, derzufolge Rechtspflichten durch willkürliches Handeln entstehen, indem eine vernünftige Einschränkung der Willkürfreiheit von Subjekten zum Schutz der Möglichkeit willkürlichen Handelns aller vereinbart wird. Dabei kommt er schon hier vom königlichen Philosophen zum späteren Projekt der königlichen Völker, der Republik. Kants Auseinandersetzung mit Bruckers Darstellung der platonischen Lehre zeigt, dass Kant im ‚Ewigen Frieden‘ den Philosophenkönigssatz als vom inhaltlichen Zusammenhang losgelösten quasi-platonischen Gemeinplatz der politischen Philosophie, eben als politisches Sprichwort, verstanden hat. Er beabsichtigt demnach weder eine angemessene systematische Interpretation der platonischen These, noch diskutiert er diese als Theoriemodell. Ja, er scheint aufgrund der ihm vorliegenden Quellentexte nicht einmal in der Lage zu sein, den Zusammenhang der Argumentation, wie er in der ‚Politeia‘ entwickelt wird, angemessen zu berücksichtigen – und er ist sich dessen bewusst. Der bei Kant zitierte platonische Gemeinplatz wird zwar als Mittel zum Zweck benutzt, aber der eigentliche Zweck besteht nicht, wie meist ungeprüft unterstellt wird, in einer Kritik an Platon, sondern in einer entweder sich selbst auf Platon beziehenden oder gemeinhin mit (Bruckers) Platon zu verbindenden Position. So scheint das „mitkalkulierte Leserwissen“10 von 10 R. Brandt, Historisch-kritische Betrachtungen zu Kants Friedensschrift, in: Jahrbuch politisches Denken 4/1994, S. 77.
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Kants Zeitgenossen nicht auf Platon, sondern über Platon auf einen anderen, möglicherweise bekannten zeitgenössischen Autor oder eine theoretische Position zu verweisen.11 Der „Geheime Artikel“ zum ewigen Frieden gibt also einige Rätsel auf. Nicht nur, dass er überhaupt vorhanden ist, denn in einem Vertragstext – selbst wenn er sich „Philosophischer Entwurf“ nennt – ist ein geheimer Zusatz seltsam deplaziert;12 auch die Frage danach, warum Kant gerade diese Passage an jene Stelle zu diesem Zeitpunkt gesetzt hat, ist klärungsbedürftig. Aus den oben angeführten Hypothesen ergeben sich drei Fragen – eine philologisch-detektivische (I), eine historisch-kritische (II) und eine systematische Frage nach dem politiktheoretischen Kern der Polemik (III) –, die im Folgenden diskutiert und, soweit dies aufgrund der Faktenlage und der Indizien möglich ist, beantwortet werden.13 I. Die philologisch-detektivische Frage Am 13. August 1795 kündigt Kant seinem Königsberger Verleger Friedrich Nicolovius den baldigen Abschluss eines Manuskripts mit dem Titel ‚Zum ewigen Frieden‘ an und schlägt als Erscheinungsdatum die Michaelismesse, also Ende September desselben Jahres, vor.14 Bis heute gehen die Kant-Interpreten bei der Beschäftigung mit der Friedensschrift von dieser im Herbst 1795 erschienenen Erstauflage aus.15 Diese Ausgabe enthält jedoch den „Geheimen Artikel“ noch nicht – ein Umstand, den man leicht übersehen kann, da der Einschub nur eine knappe Seite lang ist, die gängigen Ausgaben nur am Rande darauf hinweisen und die Interpretationen seinem Zustandekommen bislang wenig Beachtung geschenkt haben.16 Es liegt 11
Möglich wäre auch, dass Kant mit diesem Gemeinplatz andeuten wollte, von wo aus jene in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ geforderten Reflexionen ansetzen sollten – doch widerspricht dem der polemisch-ironische Ton des ganzen zweiten Zusatzes. 12 Vgl. V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘: Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, S. 126; G. Cavallar, ‚Pax Kantiana‘: Systematischhistorische Untersuchung des Entwurfs ‚Zum ewigen Frieden‘ (1795) von Immanuel Kant, Wien, Köln, Weimar 1992, S. 337 ff. 13 Da sich alle damals Beteiligten häufig nur in für Zeitgenossen verständlichen Andeutungen ergehen, muss manchmal aus Indizien geschlossen werden, weshalb ich den ersten Untersuchungsgang „detektivisch“ nenne. 14 Vgl. K. Vorländer, Einleitung zu: I. Kant, Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, Leipzig 1913, S. XXXV; H. Maier, Anmerkungen „Zum ewigen Frieden“, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Berlin, New York 1977, Bd. 11, S. 506; Kehrbach, Einleitung zu: I. Kant, Zum ewigen Frieden, Leipzig 1881, S. XX f. 15 G. Cavallar tut dies sogar explizit im Titel seines Buches.
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nahe, einen konkreten Anlass für die Aufnahme des „Geheimen Artikels“ anzunehmen, denn auch der wegen der großen Nachfrage im Spätherbst/ Winter 1795 notwendig gewordene Nachdruck ist nur um ein Druckfehlerverzeichnis erweitert worden. Der Einschub erfolgt erst in der zweiten Auflage von 1796. Die sich hieraus ergebenden Fragen nach der Verortung des zweiten Zusatzes hinsichtlich der Platzierung, des Zeitpunkts, des Inhalts und der Absicht sind demnach abhängig davon, wer oder was der oder die Auslöser für den „Geheimen Artikel“ war bzw. waren. In der Literatur lassen sich sechs Erklärungsansätze unterscheiden, nämlich formale, systematisch-philosophische, praktisch-politische, satirisch-literarische und zwei Formen von polemischen Ansätzen:17 1. Heinrich Maier18 und Georg Cavallar19 schlagen eine formale Argumentationsstrategie ein, indem sie im Baseler Frieden das Vorbild für den zweiten Zusatz sehen: Auch der Friedensvertrag vom 5. April 1795 verfüge über die Kuriosität eines geheimen Artikels.20 Für die Annahme des strengen Vorbildcharakters spricht erstens, dass Kant sich bei der Strukturierung seiner ganzen Schrift an die formalen Vorgaben von völkerrechtlichen Verträgen, wie denen des Baseler Friedensschlusses, gehalten hat; zweitens, dass ein geheimer Artikel in seinem eigenen Friedenstraktat von 1795 noch fehlte und drittens, dass sich Kant im ironischen Ton Gedanken über den Sinn von geheimen Artikeln macht und damit offensichtlich den Friedensvertrag von Basel karikiert. Dagegen spricht, dass Kant den Friedensvertrag wahrscheinlich bereits bei der Abfassung des Traktats 1795 und nicht erst bei der Herausgabe der zweiten Auflage 1796 gekannt hat. Allgemein wird implizit davon ausgegangen, dass Kant den vollständigen Text des Friedensvertrages bereits kurz nach dem Vertragsabschluss gekannt hat, ein Nachweis ist darüber aber noch nicht geführt worden. Sicher ist nur, dass 16 Nur Vorländer geht über den bloßen Hinweis in seiner Sonderausgabe (1914) hinaus und entwickelt explizit eine Theorie über das Zustandekommen des zweiten Zusatzes (s. u.). 17 Da kaum eigenständige Klärungsversuche unternommen worden sind (s. o.), handelt es sich im Folgenden um extrapolierende Konstruktionen, die aus den vorhandenen Ansätzen entwickelt werden. 18 H. Maier, Anmerkungen, a. a. O., S. 504 ff. 19 G. Cavallar, Pax Kantiana, a. a. O., S. 337: „Auch der Friedensvertrag von Basel (5. April 1795) enthält einen Geheimartikel, die norddeutsche Neutralität betreffend, der die letzten Hindernisse in der Schlussphase der Verhandlungen beiseite schafft“. Cavallar stützt sich auf W. Real, Von Potsdam bis Basel: Studien zur Geschichte der Beziehungen Preußens zu den europäischen Mächten (1786–1795), Basel, Stuttgart 1958, S. 130 f. 20 In diesem Sinne auch G. Patzig, Kants Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘, in: R. Merkel/R. Wittmann (Hg.), ‚Zum ewigen Frieden‘; Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von I. Kant, Frankf. a. M. 1996, S. 12 ff., hier bes. S. 14.
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sich Kant an der damals üblichen Form der völkerrechtlichen Verträge orientierte – genau wie jene Diplomaten, die den Baseler Friedensvertrag ausarbeiteten. Übereinstimmungen sind also wenig verwunderlich. Allerdings scheint Kant den Friedensvertragstext frühzeitig gekannt zu haben, fraglich ist nur, seit wann und wie genau. Dass Kant sich mit den in der Öffentlichkeit viel beachteten diplomatischen Bemühungen intensiv beschäftigt hat, zeigt der ganze Traktat.21 Seit November 1794 wurden die anfänglich geheim geführten Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und Preußen öffentlich und mit großer Spannung verfolgt. Noch im Februar 1795 schien die Konferenz zu scheitern, doch unter der im März neu eingesetzten Leitung der preußischen Delegation unter Hardenberg konnte kaum einen Monat später, am 5. April ein Vertrag unterzeichnet werden. Die Vor- und Nachteile des Vertrags, Preußens Rolle am Rhein, die Abwendung von der Reichsidee, das sich abzeichnende Engagement bei der polnischen Teilung und das Verhältnis des aufgeklärtabsolutistischen Königreichs zur Republik Frankreich und die Verärgerung Österreichs waren die Themen der politischen Diskussionen in dieser Zeit. Das öffentliche Interesse an der Faktenlage war dementsprechend groß. Möglich wäre, dass Kant als „eifriger Zeitungsleser“22 eine Zusammenfassung oder Übersetzung des kurzen Vertragstextes aus der Tagespresse entnommen und im Kreise seiner Freunde und Kollegen ausführlich diskutiert hat.23 Cavallar weist aber zu Recht darauf hin, dass die formale Struktur des Entwurfs nicht nur durch die juristischen Vorgaben damaliger Völkerrechtsverträge, sondern außerdem durch philosophisch-literarische Vorbilder wie Erasmus von Rotterdams ‚Querela Pacis‘, William Penns ‚Essay zum gegenwärtigen und zukünftigen Frieden von Europa‘ und Abbé de Saint-Pierres ‚Projet de paix perpétuelle‘ beeinflusst ist.24 Des Weiteren orientiert sich Kant an eigenen philosophischen Vorgaben, wie ein Blick in die später erschienenen ‚Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‘ (1797) zeigt. Wenn Kant aber, unabhängig vom inhaltlichen Detailwissen, über die formale Struktur des Friedensvertrages schon bei der Abfassung orientiert war, und er entschlossen gewesen sein soll, diese Form zu übernehmen, müsste es ein Versehen gewesen sein, keinen geheimen Artikel zu schreiben. Dieses Versehen, so wäre die implizite Argumentation von Maier und Cavallar zu verstehen, hätte Kant bei der zweiten Auflage beseitigen wollen. Es ist 21
Vgl. G. Patzig, Kants Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘, a. a. O., S. 14. K. Vorländer, Kant; Der Mann und das Werk, Hamburg 19772 (19241), Bd. II, S. 14. „Auf die politischen Zeitungen stürzte er sich [. . .] mit ‚Heißhunger‘ auch schon vormittags“ (ibd., S. 14). 23 Vgl. K. Vorländer, Kant, Bd. II, S. 296 ff, bes. 299. 24 Vgl. Cavallar, Pax Kantiana, a. a. O., S. 11. 22
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aber unwahrscheinlich, dass Kant, nur um der formalen Übereinstimmung oder eines geistreichen Witzes willen, den zweiten Zusatz eingefügt haben soll. Selbst wenn er vom Vorhandensein eines geheimen Artikels im Baseler Friedensvertrag erst im Frühjahr 1796, also ein Jahr nach Vertragsschluss, erfahren haben sollte, fehlt immer noch der konkrete inhaltliche Anlass für die Einfügung in den Text. Der stärkste, jedoch nur auf Indizien beruhende Einwand gegen Maiers und Cavallars Argumentation (nicht gegen ihre These) ist, dass der Friedensvertrag vom 5. April 1795 zwar einen geheimen Artikel zur Voraussetzung hatte, dieser aber tatsächlich geheim war.25 Publik wurde dieser wahrscheinlich erst in der zweiten vertraglich fixierten Nachverhandlung am 5. August 1795 im Zusammenhang mit der Revision der am 17. Mai vereinbarten Demarkationslinie als „geheime Convention“.26 Über diesen geheimen Zusatz ist in der Folgezeit, als sich die von Preußen erhofften Vorteile des Baseler Friedens nicht einstellten, tatsächlich öffentlich diskutiert worden. Kants „Geheimer Artikel“ könnte also erst nach dem 5. August (also acht Tage vor Kants Brief an Nicolovius) vom realen Vorbild angeregt worden sein, vorausgesetzt er hätte umgehend davon erfahren und sofort die Brisanz des Themas erkannt. Damit wäre zwar erklärt, weshalb sich in der ersten Auflage noch kein „Geheimer Artikel“ befindet, nicht aber, warum im Nachdruck noch kein entsprechender Zusatz aufgenommen wurde. Möglich wäre, dass Nicolovius ohne großen Aufwand schnell einen Nachdruck liefern wollte, was aus verlagstechnischen Gründen eine Überarbeitung oder Einfügung ausschloss. Hierfür spricht, dass dem Nachdruck nur ein Druckfehlerverzeichnis angeheftet wurde. Andererseits hätte sich auch ein weiterer Zusatz von kaum zwei Seiten anheften lassen. Des Weiteren kann Kant nicht durch von Bülows 1796 erschienenen amtlichen Bericht über den Frieden von Basel27 auf die Kuriosität eines geheimen Artikels aufmerksam geworden sein, da sich bei Bülow keinerlei Hinweise finden. Sicher ist nur, dass Kant dem für die zweite Auflage bereits geplanten Zusatz die offenbar gerade diskutierte kuriose Form eines geheimen Artikels geben wollte, weil sich so die Möglichkeit zu einer ironischen Wendung ergab. Damit ließen sich nach Maier und Cavallar zwar Form und Bezeichnung des Zusatzes, die ironische Wendung des Geheimen und bedingt der Zeit25 Vgl. den Text des Vertrages abgedruckt in F. W. Ghillany, Diplomatisches Handbuch, Nördlingen 1855, Bd. 1, S. 267–269. Um die historische Faktenlage zu klären, müsste ermittelt werden, was Kant damals in Königsberg hätte wissen können. 26 Vgl. Einleitung zum Baseler Friedensvertrag von F. W. Ghillany, in: ders., Diplomatisches Handbuch, a. a. O., S. 266. 27 Vgl. Heinrich Wilhelm von Bülow, Amtlicher Bericht über den Frieden von Basel, Frankfurt, Leipzig 1796.
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punkt plausibel erklären, nicht aber der Inhalt und die Stoßrichtung des Artikels. Außerdem würde der Inhalt des zweiten Zusatzes unterschätzt werden, wenn man unterstellte, er sei nur aus formalen Gründen eingefügt worden. Schließlich kann der Bezug zu Platon nicht erklärt werden. 2. Reinhard Brandt28 vermutet als aktuellen Bezugspunkt Ludwig Heinrich Jakobs Schrift ‚Antimachiavel, oder über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams [. . .]‘ von 1794.29 Für diese Annahme spricht dreierlei: Erstens, dass sich Kant schon vor 1795 intensiv mit Jakob auseinandergesetzt hatte (spätestens seit 1786)30, ihm der Autor also bekannt und wichtig genug war, um ihn zur Kenntnis zu nehmen; zweitens, dass Jakob als Anhänger und Verehrer Kants mit diesem im brieflichen Kontakt stand und dieser somit auch von Jakobs publizistischen und philosophischen Unternehmungen hätte wissen können;31 drittens, dass der ‚Antimachiavel‘ bereits ein Jahr vor Kants Friedensschrift erschienen war und sich direkt auf dessen Aufsatz ‚Über den Gemeinspruch‘ (1793) bezieht.32 Kant hätte demnach das Buch nicht nur gut kennen können, er hat es sicher als Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis von Theorie und Praxis insbesondere im Staatsrecht zur Kenntnis genommen. Aber gerade hieraus lassen sich vier Einwände ableiten: Erstens war der ‚Antimachiavel‘ anonym erschienen. Kant wusste also gar nicht, wer der Autor war und konnte sich nicht von dem Wissen des heutigen Lesers bei der Auswahl seiner Lektüre leiten lassen. Inwiefern zirkulierende Manuskripte oder Gerüchte eine Rolle gespielt haben, lässt sich heute nur schwer rekonstruieren. Auch der Briefwechsel gibt keine Anhalts28
Vgl. R. Brandt, Historisch-kritische Beobachtungen zu Kants Friedensschrift, in: Jahrbuch Politisches Denken, 4/1994, S. 75 ff.; hier S. 77 f. In der überarbeiteten Fassung des Aufsatzes für den Sammelband von Merkel und Wittmann hat Brandt die hier vertretene These nicht mehr aufgegriffen, vgl. „Zum ewigen Frieden“, a. a. O., S. 34. 29 [Ludwig Heinrich von Jakob], Antimachiavel, oder über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams; Auf Veranlassung zweyer Aufsätze in der Berl. Monatsschrift (Sept. und Dec. 1793) von den Herren Kant und Genz [sic], Halle in der Rengerschen Buchhandlung 1794. Diese kleine, die damaligen Positionen im Streit um das Widerstandsrecht zusammenfassende Schrift ist nur noch in wenigen Exemplaren vorhanden. Ein Nachdruck wäre sehr verdienstvoll. 30 Vgl. Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes in Vorlesungen von Ludwig Heinrich Jakob, Doktor der Philosophie in Halle; Nebst einer Abhandlung von Herrn Professor Kant, Leipzig 1786, S. XLIV–LX. Jakob war der erste Philosoph, der eine universitäre Vorlesung über die Philosophie Kants hielt. 31 Vgl. Überweg, a. a. O., S. 605. 32 Vgl. U. Schulz, Die Berlinische Monatsschrift (1783–1796): Eine Bibliographie, Bremen o. J. (1969), s. a.D. Henrich, Über den Sinn vernünftigen Handelns im Staat, in: Kant, Gentz, Rehberg, Über Theorie und Praxis, Frankf. a. M. 1967, S. 7 ff.
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punkte. Ein Gegeneinwand wäre, dass die anonyme Autorschaft Brandts These eher stützt, da Kant im zweiten Zusatz keinen Namen nennt und dies unter den herrschenden Bedingungen auch nicht konnte. Dem ist entgegen zu halten, dass das Argument der Anonymität auch jeden anderen Autor ebenso wahrscheinlich machen würde. Daraus, dass Kant die Schrift von Jakob offenbar schon vor 1795 gekannt hat, ergibt sich der zweite Einwand: Es bleibt durch Brandts These unerklärlich, warum sich Kant nur ein halbes Jahr später, bei der Drucklegung der zweiten Auflage, genötigt gesehen haben sollte, erneut auf Jakobs bereits berücksichtigten Text einzugehen, indem er einen Zusatz mit einer polemischen Spitze ausgerechnet gegen Platon hinzufügt.33 Daraus folgt drittens: Selbst wenn Kant sich im zweiten Zusatz auf Jakob bezöge, was aus inhaltlichen Gründen eher unwahrscheinlich ist, müsste ein weiteres aktuelles Moment hinzugetreten sein, um Kant zur Aufnahme des „Geheimen Artikels“ erst zu diesem Zeitpunkt zu veranlassen. Man könnte dieses Moment in Jakobs Rezension ‚Über Theorie und Praxis in Kants Schrift zum ewigen Frieden‘34 vermuten, doch ist diese wohl erst Ende 1796 (ebenfalls anonym) erschienen und hätte damit für die zweite Auflage zu spät vorgelegen. Des Weiteren gibt Jakobs Rezension kaum Anlass zu einer Platon-Polemik, zumal sie gegenüber dem ‚Antimachiavel‘ keine neuen Argumente liefert. Schließlich ist noch anzumerken, dass sich Jakob selbst nicht durch den zweiten Zusatz getroffen fühlte, jedenfalls bleibt sein Verhältnis zu Kant gänzlich unbefangen.35 Der vierte Einwand bezieht sich auf die inhaltliche Ebene: Kant scheint sich eher im Anhang des ‚Ewigen Frieden‘ auf Jakob zu beziehen, wo er die möglichen Misshelligkeiten zwischen Moral und Politik in Absicht auf den ewigen Frieden erörtert, als im zweiten Zusatz. Die Unterscheidung von moralischem Politiker und politischem Moralisten passt besser zu einer Argumentation, die sich in polemischer Absicht auf Machiavelli bezieht, als zur Forderung nach Redefreiheit für Philosophen und einer Kritik an Platons Philosophenkönigtum. Da Brandt nicht auf die editorische Problematik des „Geheimen Artikels“ hinweist, ist anzunehmen, dass er in Jakob den aktuellen Bezugspunkt für den Anhang und die beiden Zusätze sieht.36 33
R. Brandt arbeitet plausibel heraus, dass sich Kant im Anhang – also zeitlich vor dem fraglichen Artikel – auf Jakob bezieht (s. u.). 34 Vgl. L. H. Jacob [sic], Über Theorie und Praxis in Kants Schrift zum ewigen Frieden, in: Annalen der Philosophie, 2/1796, S. 436–443; s. a. A. u. W. Dietze, Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, München 1989, S. 548. 35 Vgl. Jakobs Brief an Kant vom 7.12.1796, AA 12/134 ff.; s. u. 36 Hierfür spricht auch, dass Brandt seine Interpretation von Kants Position im Anhang des ‚Ewigen Frieden‘ kurz als „Anti-Machiavell“ überschreibt, ohne dass
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Genau besehen bezieht sich Jakobs ‚Antimachiavel‘ aber kaum auf Machiavelli,37 sondern attackiert den Gedanken der unteilbaren und unauflöslichen Souveränität. Insofern hieße der Traktat wohl besser ‚Anti-Hobbes‘, zumal sich auch Kant in seinem Aufsatz, auf den sich Jakob im Titel bezieht, dezidiert gegen Hobbes wendet. Den Zweck seines ‚Antimachiavel‘ sieht Jakob darin, die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams, die durch die „Natur des Staates“ selbst bestimmt seien, „durch genauere und deutliche Regeln zu bezeichnen, und die Beurtheilung der Grenzen des bürgerlichen Gehorsams, sowohl in uneingeschränkten, als eingeschränkten Staaten, durch Feststellung allgemeiner Grundsätze zu erleichtern“.38 Jakob beansprucht zwar eine Fortführung der kantischen Philosophie, doch stellen politische Imperative wie: „Jeder ist verbunden, dem Souverän nicht zu gehorchen, wenn er ihm etwas gebietet, was seiner Pflicht widerspricht“,39 Kants politisches Denken auf den Kopf: Jakob versucht ausdrücklich ein Recht der Bürger auf Widerstand herauszuarbeiten. Dabei bezieht er sich auf die Monarchomachen, auf Jean-Jacques Rousseau und – vor allem – auf John Locke.40 Kants nachdrückliche Ablehnung des Widerstandsrechts im ‚Ewigen Frieden‘, die sich aus den kontraktualistischen Prämissen von Hobbes’ Staats- und Souveränitätstheorie ableitet, bezieht sich offensichtlich auf Jakobs ‚Antimachiavel‘ (vgl. AA 8/372 ff.). Hier wird deutlich, dass Kant die Schrift von Jakob kannte und dezidiert gegen sie Stellung bezieht. Ein konkreter Zusammenhang zum „Geheimen Artikel“ und der Attacke gegen Platon und das Philosophenkönigtum lässt sich aber nicht plausibel vertreten. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass durch Brandts Hypothese weder die inhaltliche noch zeitliche Notwendigkeit des zweiten Zusatzes erklärt wird – wohl aber macht sie die Stoßrichtung des gesamten Anhangs besser verständlich. 3. Franz Staudinger41 und Jürgen Habermas42 erwägen, ohne das Argument auszuführen, ob politische Gründe Kant zur Vorsicht bewegt Kant selbst den Bezug zu Machiavelli herstellt; vgl. in: R. Merkel u. R. Wittmann, Zum ewigen Frieden, a. a. O., S. 61. 37 Machiavelli wird nur in einer kurzen Passage im Zusammenhang mit Spinoza, Grotius und einigen „neuen Machiavels“ als Theoretiker vorgestellt, der kein Recht der Untertanen gegen den Souverän zulassen will (vgl. Jakob, Antimachiavel, a. a. O., S. 38). Möglicherweise spielt auch die Jugendschrift Friedrich des Großen „Antimachiavell“ von 1741 als Anspielungshorizont eine gewisse Rolle. 38 Jakob, Antimachiavel, a. a. O., Vorrede, S. XXV. 39 Jakob, Antimachiavel, a. a. O., S. 26. 40 Vgl. Jakob, Antimachiavel, a. a. O., S. 41 f. 41 Vgl. F. Staudinger, Kants Traktat: Zum ewigen Frieden, in: Kantstudien 1/1897, S. 300 ff., hier bes. 314; s. a. G. Cavallar, Pax Kantiana, S. 1 ff.
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haben.43 Betrachtet man die innenpolitische Lage Preußens, so ist seit 1788, also zwei Jahre nach dem Tod Friedrichs des Großen und der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms II. ein reaktionärer Umschwung festzustellen.44 Diese Reaktion, die in Pressefreiheit nur Pressefrechheit sieht, ist mit dem Justizminister Wöllner und der preußischen Zensurbehörde verbunden. Zu Beginn der neunziger Jahre verstärkte sich der innenpolitische Druck auf so genannte Freigeister und Aufklärer, worüber Kant, vor allem durch die Briefe von Berens und Kiesewetter, unterrichtet war. Kants Schrift ‚Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ von 1793 gab der Zensurbehörde eine Handhabe, um dem bekannten Aufklärer am 1. Oktober 1794 durch „Königliche Kabinettsordre“ eine Maßregelung auszusprechen und ihm bei Androhung höchster Ungnade und unangenehmer Verfügungen verbieten zu können, weiterhin seine Philosophie zur „Entstellung, Herabwürdigung und Entehrung mancher Haupt- und Grundlehren der heil. Schrift und des Christentums“ zu missbrauchen.45 Kant musste sich nun mit der preußischen Zensurbehörde auseinandersetzten, was er mit Eleganz und Raffinement bewerkstelligte. Trotzdem dürfte er kaum ein halbes Jahr später im Frühsommer 1795, als er den Traktat ‚Zum ewigen Frieden‘ schrieb, noch unter dem Eindruck dieses Ereignisses gestanden haben. Dass sich Kant an ein so brisantes politisches Thema heranwagte, erstaunt aus dieser Perspektive. Vielleicht, so könnte man vermuten, war Kant über die Wogen erschrocken, die seine kleine Schrift schlug, und er versuchte nun im Nachhinein, in der zweiten Auflage, durch einen ironischen Zusatz die politische Tragweite zu entschärfen, um nicht erneut Zielscheibe der Zensurbehörde zu werden. Damit wäre der zweite Zusatz aus politisch-taktischen Erwägungen zur Entschärfung der politischen Stoßrichtung einer sich unkontrolliert verbreitenden Schrift eingefügt worden.46 42
Vgl. J. Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen: Studien zur politischen Theorie, Frankf. a. M. 1996, S. 192–236. 43 Sowohl Staudinger als auch Habermas beziehen sich nur am Rande und in anderen Zusammenhängen auf die hier ausgeführten Punkte. Insofern sind ihre Positionen weitgehend nur als Anregungen für eine mögliche Argumentation zu verstehen. 44 Vgl. K. Vorländer, Kant, Bd. II, a. a. O., S. 140 ff. Habermas bezieht Kants Kritik an Platons Philosophenkönigtum auf eine historisch-politische Perspektive: „Kant hatte wohl das Beispiel Friedrich II. und Voltaire vor Augen, als er den rührenden Satz schrieb“ (J. Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens, a. a. O., S. 204). Was an der These, dass der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verderbe, rührend sei, und was das mit Voltaire zu tun haben soll, führt Habermas nicht aus. 45 Vgl. Briefe an Kant, S. 146. Zum Zensurkonflikt vgl. K. Vorländer, Kant, a. a. O., Bd. II, S. 139 ff. 46 Zur Verbreitung der Friedensschrift vgl. V. Gerhardt, Die republikanische Verfassung. Kants Staatstheorie vor dem Hintergrund der Französischen Revolution, in:
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Für diese These spricht, dass Kant bei der Abfassung seines Traktats nicht nur mit kollegialer Kritik an seinem Entwurf rechnete, sondern auch politische Angriffe befürchtete. Kurz nach Erscheinen der Erstauflage, im Oktober 1795, schreibt er an Kiesewetter: „Mein reveries ‚zum ewigen Frieden‘ werden Sie durch Nicolovius bekommen. Mit dem Unfrieden unter den Gelehrten hat es nicht viel zu bedeuten, wenn sie nur nicht Kabale machen und sich mit Politikern von Handwerk verbrüdern und Horazens artum desinit in piscem bei ihren höfischen Manieren darstellen.“47 Ob Kant zu diesem Zeitpunkt konkrete Befürchtungen gehegt hat, lässt sich aus dem Brief nicht entnehmen. Sicher war er durch den Konflikt mit der preußischen Zensurbehörde misstrauisch und vorsichtig geworden – und das Thema des neuen Traktats erscheint in politischer Hinsicht durchaus heikel. Kant hätte, bedenkt man den späteren Atheismusstreit um Fichte (1798/99), allen Grund zur Vorsicht gehabt.48 Trotzdem bleibt die Frage, wieso Kant so plötzlich vorsichtig geworden sein soll, warum er, wenn er denn eine so furchtsame Natur gewesen sei, überhaupt den Traktat geschrieben hat. Die große Verbreitung allein kann ihn kaum überrascht haben, rechneten doch er und sein Verleger von Anfang an mit einer großen Nachfrage, weshalb sie eine hohe Auflage vereinbarten.49 Außerdem hat sich die Zensurbehörde bei dieser politischen Schrift zurückhaltend gezeigt, was allerdings erst rückblickend feststellbar ist. Deutscher Idealismus und Französische Revolution, Schriften aus dem Karl-MarxHaus, Trier 1988, S. 24 ff.; s. a. R. Malter, Nachwort zur Ausgabe von I. Kant, Zum ewigen Frieden, Stuttgart 1984, S. 72; H. Maier, Anmerkungen, a. a. O., S. 506 f. 47 Kant an Kiesewetter am 15.10.1795, in: Kants Briefe, Bd. III, AA 12/45; Kant bezieht sich hier auf Horaz, Ars poetica, 3 ff. 48 Vgl. J. Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens, a. a. O., S. 204, s. a. W. Röhr, Appellation an das Publikum. . ., Dokumente zum Atheismusstreit: Jena 1798/99, Leipzig 1987, dort bes. S. 485 ff. Habermas bezieht sich nur auf die Zensur im Zusammenhang mit Kants Plädoyer für Öffentlichkeit in dem Sinne, dass die Forderungen im zweiten Zusatz durchaus berechtigt waren. Er unterstellt dabei nicht ausdrücklich, dass Kant den „Geheimen Artikel“ aus Furcht vor der Zensur eingefügt hat. 49 Vgl. Nicolovius, Kants Briefe, Bd. III, AA 12/35 f. Kant hatte offenbar wegen der Aktualität seiner Schrift große Eile mit der Publikation, und Nicolovius rechnete mit großem Absatz, weshalb er sofort eine doppelte Auflage, also 1500–2000 Stück vorschlägt. Doch selbst diese hohe Auflage war schnell vergriffen, so dass vor der zweiten Auflage, die die gleiche Stärke, wie die erste gehabt haben soll, ein zwar nicht näher bezifferter, aber wohl ähnlich veranschlagter Nachdruck nötig war. Damit wären innerhalb von kaum einem Jahr etwa fünftausend Exemplare verkauft worden! S.a. H. Maier, Anmerkungen, a. a. O., S. 506 f.; K. Vorländer, Einleitung zu: I. Kant, Kleinere Schriften, a. a. O., S. XXXV. Am 25.11.1798 berichtet Kiesewetter an Kant, dass eine französische Übersetzung der Friedensschrift ebenfalls große Zustimmung findet.
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Ob der Zusatz aus politisch-taktischen Erwägungen zur Entschärfung der politischen Stoßrichtung eingefügt wurde, ist noch aus anderen Gründen fraglich. Erstens hat Kant dem ganzen Traktat eine ironische „Clausula salvatoria“ vorangestellt, um seine öffentliche Äußerung politischer Ideen gegen die „bösliche Auslegung“ durch praktische Politiker zu schützen (AA 8/343).50 Indem der weltkundige Staatsmann selbstgefällig auf den theoretischen Politiker als auf einen Schulweisen herabblickt, muss ihm klar werden, dass dessen auf gut Glück geäußerten sachleeren Ideen keine Gefahr für den Staat darstellen. Dies ist zweitens nicht der Ton eines ängstlichen, vom Damoklesschwert der Zensur bedrohten Autors, der sich durch einen Rückzug in den Bereich des Utopischen absichern will, sondern die ironische Spitze eines selbstbewussten Philosophen. Gerhardt spricht in diesem Zusammenhang von einem „rhetorischen Zugang zur Politik“, der durch die „Clausula salvatoria“ die rhetorische Figur der captatio benevolentia einbringt: Der Versuch, das Wohlwollen der Leser zu gewinnen, wird dadurch erreicht, dass die Philosophie sich so klein macht, wie sie nach dem Vorurteil der Mächtigen diesen erscheint und damit so winzig und wirkungslos auftritt, dass sie einen Mächtigen nicht stören kann.51 „Die ironische Pointe der Clausula salvatoria ist, dass die Politiker, wenn sie denn bei ihren Vorurteilen gegenüber der Philosophie bleiben, praktisch nichts gegen diese Theorie einwenden und sie folglich auch nicht verbieten können. Wenn sie sie aber nicht verbieten, dann werden sie auch nicht lange bei ihren praktizierten politischen Irrtümern bleiben können, weil sie feststellen müssen, dass ihr Vorurteil gegen die Philosophie nur ein Selbstmißverständnis ihrer eigenen Aufgabe darstellt“.52 Der zweite Zusatz ist von gleicher ironischer Treffsicherheit wie die „Clausula salvatoria“ und ihr in Stil und Ausdruck eng verwandt. Trotzdem taugen beide nicht zur politischen Entschärfung des Traktats. Hätte Kant dies wirklich vorgehabt, so wäre entweder aufgrund der „Clausula salvato50
Die „clausula salvatoria“ ist eine juristische Vorbehaltsformel, wie sie beispielsweise von Kaiser Karl V. in der Vorrede der ‚Peinlichen Gerichtsordnung‘ von 1532 benutzt wurde: „Doch wollen wir durch diese gnedige erinnerung Churfürsten Fürsten und Stenden, an jren alten wohlherbrachten rechtmessigen unnd billichen gebreuchen nicht benommen haben“ (Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., hg. u. erl. v. G. Radbruch, Leipzig o. J. (1906)). Diese Klausel sollte Konflikte mit bestehenden Rechtsordnungen und Machtansprüchen vermeiden helfen, indem sie festlegt, dass die ‚Carolina‘ erst dann Anwendung findet, wenn die Landesrechte über die betreffende Materie keine Bestimmungen enthalten. 51 Vgl. V. Gerhardt, Kants Entwurf, a. a. O., S. 34 ff.; s. a. Cicero, De inventione, 1,15,21. S.a. V. Gerhardt, Der Thronverzicht der Philosophie; Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant; in: O. Höffe (Hg.), Klassiker Auslegen, Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Berlin 1995, S. 171–193. 52 V. Gerhardt, Kants Entwurf, a. a. O., S. 40.
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ria“ der zweite Zusatz überflüssig gewesen, oder Kant hätte zumindest im „Geheimen Artikel“ einen anderen Ton wählen müssen. Im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, als sollten „Clausula salvatoria“ und „Geheimer Artikel“ den ersten Teil des ‚Ewigen Frieden‘ ironisch einrahmen, um so den Anhang mit seiner Theorie des Politischen deutlich abzutrennen. Trotz dieser ironischen Einfassung des ersten Teils des ‚Ewigen Frieden‘ ist nicht davon auszugehen, dass es sich bei dem gesamten Traktat um eine bloß satirische Schrift handelt. Schließlich war Kants Friedensschrift kein politisch riskanter Alleingang eines couragierten Intellektuellen, da nahezu gleichzeitig eine wahre Flut von Traktaten und Schriften zum Problem des (ewigen) Friedens erschien.53 Selbst unter preußischen Kabinettsräten und in der unmittelbaren Umgebung des Monarchen soll eine „gewisse pazifistische Grundstimmung“ verbreitet gewesen sein, die sich in einer defensiven Politik niedergeschlagen habe.54 Kant ging also kein allzu großes Risiko ein, weshalb das Argument, er sei durch politische Umstände zur Abschwächung seines Traktats gezwungen gewesen, wenig stichhaltig ist. 4. Günther Bien bringt die im zweiten Zusatz von Kant geübte Kritik an Platons Philosophenkönigssatz mit Abraham Gotthelf Kästners Epigramm ‚Vom ewigen Frieden‘ in Verbindung.55 Kant hätte demnach, so impliziert Biens Argumentation, auf ein Spottgedicht des Göttinger Kollegen mit dem zweiten Zusatz geantwortet.56 Dafür spricht, dass sich Kästners Epigramm tatsächlich auf Kants Friedensschrift bezieht und vom Adressaten auch so verstanden wurde. Außerdem hat Kant die Verse gekannt, da er sie an anderer Stelle zitiert.57 Gegen diese Auffassung sprechen drei Einwände: Erstens lag Kant das Gedicht offenbar erst zum Jahresende 1796 vor, da es sehr wahrscheinlich erstmals im ‚Göttinger Musenalmanach für das Jahr 1797‘ 53
Vgl. A. u. W. Dietze, Ewiger Friede? a. a. O., S. 7–58; V. Gerhardt, Kants Entwurf, a. a. O., S. 14 ff.; G. Cavallar, Pax Kantiana, a. a. O., S. 1 ff. 54 Vgl. G. Cavallar, Pax Kantiana, a. a. O., S. 5 f. Hieraus erklärt sich auch Kants Eile bei der Publikation: Das Thema war weniger brisant als aktuell. 55 Vgl. G. Bien, Räsonierfreiheit und Gehorsamspflicht, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses 1974, hg. v. G. Funke, Berlin, New York 1974, Bd. II/2, S. 617 ff., hier bes. S. 618. Bien versucht nicht ausdrücklich, die Entstehung des zweiten Zusatzes zu klären, da er offenbar davon überzeugt ist, dass Kant auf Kästner reagiert hat (vgl. ibd. S. 618). 56 Zu Leben und Werk Kästners vgl. R. Baasner, Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800), Tübingen 1991. 57 Vgl. I. Kant, Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie: Kant zitiert hier Kästners Gedicht: „Auf ewig ist der Krieg vermieden,/Befolgt man was der Weise spricht;/Dann halten alle Menschen Frieden,/Allein die Philosophen nicht“ (AA 8/417, Anm.).
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erschienen ist,58 weshalb es für die zweite Auflage des ‚Ewigen Frieden‘ zu spät gekommen sein dürfte. Der ‚Musenalmanach‘ erschien im Spätherbst für das nächste Jahr und enthält neben einem Kalender eine „Poetische Blumenlese“, in der Kästners Epigramm abgedruckt ist. Das Gedicht muss demnach zwischen der Michaelismesse Ende September 1795 (als früheste Lektüremöglichkeit von Kants Friedensschrift) und dem Redaktionsschluss des Musenalmanachs Mitte Juni 1796 entstanden sein. Kant zitiert die satirischen Verse in seiner ironischen ‚Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie‘ für die Dezemberausgabe 1796 der ‚Berlinischen Monatsschrift‘, die aber wegen der internen Schwierigkeiten des Blattes erst im Juli 1797 erschien.59 Es ist damit schon aus zeitlichen Gründen sehr unwahrscheinlich, dass sich Kant im zweiten Zusatz des ‚Ewigen Frieden‘ auf Kästners Epigramm bezieht, beziehungsweise von ihm angeregt wurde.60 Viel wahrscheinlicher ist, dass Kant unmittelbar nach der Lektüre des Gedichts, spätestens im Oktober 1796, das Epigramm in seine für Dezember desselben Jahres geplante Publikation aufgenommen hat.61 Zweitens: Selbst wenn Kant Kästners Gedicht noch vor oder während der Drucklegung der zweiten Auflage gekannt hätte,62 bleibt die Frage, wieso er das Epigramm als Anlass für den „Geheimen Artikel“ hätte nehmen sollen, ohne das Gedicht zu zitieren oder sich in anderer Weise darauf zu beziehen, und warum der Zusatz sich in dieser Form gegen Platon richtet. Außerdem reagierte er kurz darauf explizit und mit Zitation auf Kästners Spottverse in der ‚Verkündigung‘ – aber auch dort, entgegen der Erwartung die der Titel weckt, nur am Rande (vgl. AA 8/416 f.). Auffällig ist, dass Kant hier das Gedicht als Pointe zitiert, dies aber, obwohl er es schon gekannt haben soll, kurze Zeit vorher im zweiten Zusatz nicht getan hat. 58 Vgl. Göttinger Musenalmanach f. d. J. 1797, Göttingen 1796, S. 100. Cavallar zitiert Kästners Epigramm nach A. und W. Dietze, die wiederum das Gedicht nicht für datierbar halten. Sie zitieren nach der Sammlung der noch z. T. ungedruckten Sinngedichte und Einfälle Kästners, Frankf., Leipzig 1800, S. 65 und ordnen die Verse ohne weitere Begründung zeitlich zwischen dem 11.12. und 18.12.1795 ein (vgl. A. u. W. Dietze, Ewiger Friede? a. a. O., S. 133–135, 541). 59 H. Maier, Anmerkungen zu Kants Werken, a. a. O., S. 485–504; U. Schulz, Die Berlinische Monatsschrift (1783–1796), Bremen 1969. 60 Bedenkt man die damalige Verbreitung von Flugschriften, ist freilich nicht gänzlich auszuschließen, dass Kant auf anderem Wege früher von dem Gedicht erfahren hat. Ein Brief Kästners an Kant, in dem ihm das Epigramm mitgeteilt wurde, ist mir nicht bekannt. 61 Angesichts der üblichen Vorlaufzeiten damaliger Zeitschriftenredaktionen, muss sogar von einem noch früheren Termin ausgegangen werden. 62 Der oben zitierte Brief von Kant an Kiesewetter könnte diese Vermutung nahelegen wegen der Formulierung bezüglich des Unfriedens unter den Gelehrten (s. o.).
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Das führt zum dritten Einwand: Kästner war kein Gegner Kants, er hatte selbst mehrere Schriften im Sinne der kritischen Philosophie geschrieben. Der Briefwechsel zeigt, dass Kästner weder das philosophische Format noch die Absicht hatte, Kant zu Repliken zu bewegen und umgekehrt Kant den Göttinger Kollegen als Mathematiker durchaus schätzte – jedoch als Philosophen auch nicht überschätzte.63 Wie die ‚Verkündigung‘ deutlich zeigt, bietet Kästner für Kant nur eine willkommene Möglichkeit, jemand anderen anzugreifen, ohne diesen beim Namen zu nennen. So ist Kästner zwar der sichtbare Anlass für eine ironische Abrechnung mit einer bestimmten philosophischen Position, aber in Wirklichkeit spielt er nur eine kleine satirische Nebenrolle. Kant schlägt den sprichwörtlichen Sack, meint aber den Esel. Biens Argument lässt sich produktiv wenden, wenn Ursache und Wirkung vertauscht werden: Kästners Gedicht könnte umgekehrt durch Kants „Geheimen Artikel“ angeregt worden sein, was wiederum die Möglichkeit zu einer genaueren Datierung der zweiten Auflage vor den Juni 1796 und damit auf die Frühjahrsmesse erlauben würde. Demnach bezieht sich Kästners Vorbehalt gegenüber der Friedensbereitschaft der Philosophen auf Kants eigene Beurteilung der Philosophen, deren „Classe ihrer Natur nach der Rottierung und Clubbenverbündung unfähig ist“ (AA 8/369) – zu unterschiedlich seien ihre Positionen, zu ausgeprägt ihr Individualismus, als dass eine Partei der Philosophen möglich wäre, die durch ihr Wirken dem Staat schaden könnte. Kants satirisch eingekleideter, politisch und moralisch motivierter Abgrenzungsversuch gegen Jacobiner-Club und Terreur wäre von Kästner ironisch zur Darstellung der Unfähigkeit der Friedensphilosophen, unter sich Frieden zu halten, gewendet worden. Diese Wendung seines Arguments hätte Kant im Spätherbst 1796 lesen und in einen gerade entstehenden Text einarbeiten können. Hierfür spricht, dass der sich dort auf Kästner beziehende Teil wie angehängt wirkt (vgl. AA 8/416). Auch das unvermittelte Nebeneinander von politischer und ärztlicher Metaphorik (Frieden und Gesundheit) erweckt den Eindruck, als seien die sich ironisch auf den Frieden beziehenden Passagen und Überschriften in einen bereits weitgehend fertigen Text eingefügt worden. Kästner hätte Kant damit nur den Anstoß, die zündende Idee der Umsetzung geboten, um an dem philosophisch und verlegerisch erfolgreichen Friedenstraktat anzuknüpfen und sich in polemischer Absicht öffentlich mit bestimmten Positionen auseinanderzusetzen. Diese Polemik scheint Kant schon einige Zeit vorbereitet zu 63
Vgl. Kästners Brief an Kant vom 2.10.1790, AA 11/213, Kant an Kästner im Mai 1793, AA 11/427. Selbst im ironischen Ton der ‚Verkündigung‘ nennt Kant den Kollegen Kästner einen „nicht bloß in seinem eigentlichen (dem mathematischen) Fache, sondern auch in vielen anderen vorzüglichen, mit einem thatenreichen, immer noch blühenden Alter bekrönten“ Mann (AA 8/417; s. a. AA 11/290).
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haben, wie die Spitze gegen das Philosophenkönigtum im zweiten Zusatz zeigt. Offenbar ist Ende 1795 etwas vorgefallen, das Kant dazu bewegt hat, nun im Bereich der politischen Philosophie die Konfrontation mit bestimmten platonischen Positionen zu suchen. In diesem polemisch-kritischen Sinne wendet er Kästners (angeblichen) Kassandraruf als Glückwunsch, da sich die Philosophen nicht auf den „Lorbern“ eines falschen Friedens ausruhen dürfen: „[I]ndem ein solcher freilich die Kräfte nur erschlaffen und den Zweck der Natur in Absicht der Philosophie, als fortwährenden Belebungsmittels zum Endzweck der Menschheit, nur vereiteln würde; wogegen die streitbare Verfassung noch kein Krieg ist, sondern diesen vielmehr durch ein entscheidendes Übergewicht der praktischen Gründe über die Gegengründe zurückhalten und so den Frieden sichern kann und soll“ (AA 8/417). Kästner hätte Kants Plädoyer für eine philosophisch-politische Streitkultur nur zustimmen können, doch hat er sich an der sich anschließenden Debatte nicht mehr beteiligt.64 5. Karl Vorländer vermutet die Ursache des zweiten Zusatzes ebenfalls bei Kästner, jedoch nicht wie Bien im besagten Epigramm, sondern in den bereits 1793 erschienenen ‚Gedanken über das Unvermögen der Schriftsteller, Empörung zu bewirken‘.65 Kant habe vermutlich gegen Kästner polemisieren wollen, der diejenigen Schriftsteller angreife, „die ‚an dem Zustande ihres Vaterlandes kippeln‘ wollten, je ‚nachdem es Mode war, Pädagogie, Aufklärung, kritische Philosophie, Menschenrechte schrieben‘ und damit ‚was Ernstliches zu tun glaubten‘“.66 Vorländer unterstellt implizit durch gezielte Zusammenstellung der Kästner-Zitate, dass sich Kant zu den angegriffenen deutschen Schriftstellern zählen musste und sich deshalb zu einer Reaktion gegen Kästner veranlasst gesehen habe. Für diese These sprechen der Zeitrahmen und die Aufzeichnungen Kants, die belegen, dass Kant Kästners Schrift kannte.67 Gegen Vorländers Beweisführung lassen sich die bereits 64
V. Gerhardt zieht in seiner Interpretation der „clausula salvatoria“ Kästners Gedicht zur Erläuterung seiner dritten Lesart des ironischen Verständnisses des Begriffs des ewigen Friedens heran, stellt aber keinen weiteren Zusammenhang von Friedenstraktat und Epigramm her, sondern hebt auf die bei Kästner sich andeutende „ideologische Vertiefung“ von Interessengegensätzen ab, die bis zur Unversöhnlichkeit verschärft gedacht werden; vgl. V. Gerhardt, Kants Entwurf, a. a. O., S. 38. 65 A. G. Kästner, Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke, Berlin 1841, Bd. III, S. 171–181 (zuerst ersch. Göttingen 1793). Vgl. K. Vorländer, Einleitung zu Kants kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, Leipzig 1913, S. XXXVII. Die von Vorländer hier angekündigte genauere Untersuchung des Auslösers des zweiten Zusatzes in seiner Sonderausgabe von Kants Friedenschrift, Leipzig 19141, 19192, erfolgte nicht, vgl. ibd., S. XXIV; s. a. R. Baasner, Kästner, a. a. O., S. 638. 66 K. Vorländer, Einleitung zu Kants kleinere Schriften, a. a. O., S. XXXVII.
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gegen Brandt ins Feld geführten Argumente anbringen: Erstens, wenn Kant den fraglichen Text schon vor 1795 kannte, weshalb hätte er erst 1796 reagieren sollen, und zweitens, worin sollte der Bezug zu Platon bestehen. Kant müsste erst nach dem Nachdruck der ersten Auflage, also im Spätherbst/ Winter 1795, auf die politische Zielsetzung Platons bzw. auf eine sich auf Platon beziehende Position aufmerksam geworden sein. Der Text von Kästner, der Vorländer offenbar nicht vorlag, kann hierfür aber kaum die Ursache sein, zumal er inhaltlich kaum Anlass zur Polemik bietet.68 Kästner richtet sich gegen jene „deutschen Schriftsteller“ die, nachdem sie vom Fortgang der Revolution in Frankreich erschreckt oder vom Ausbleiben der Revolution in Deutschland enttäuscht worden waren, sich nun der kritischen Philosophie zugewandt hatten. „Die meisten dieser Schriftsteller erinnern an die Genie-, Kraft-, Drang-, und Sturmmänner, die Deutschland vor einigen Jahren aus dem Reiche der Aesthetik weggelacht hat. Es ist, als wenn sie jetzt ihr Heil ernsthafter in der Politik hätten versuchen wollen“.69 Kästner wird hierbei kaum an Kant gedacht haben, wohl aber an jene, die in der kantischen Philosophie den deutschen Donnerhall auf den Blitz der Französischen Revolution sehen wollten. Er polemisiert nicht gegen Kants kritische Philosophie, wohl aber gegen deren Instrumentalisierung. Ähnlich wie sein Königsberger Kollege ist Kästner gegen eine Revolution in Deutschland und hofft auf eine Reform nach Prinzipien. „Hätte dem Deutschen auch seine gesetzte Vernunft nicht längst belehrt, mit seiner Lage zufrieden zu seyn, nach Verbesserungen, wo er Grund hat, sie zu wünschen, nicht durch Verfahren zu streben, die ihm Verschlimmerungen oder gar Verderben zuziehen würden; so unterrichtete ihn ja seit Jahren ein Schauspiel“,70 nämlich die Entwicklung der Französischen Revolution. Von den sich selbst überschätzenden Schriftstellern seien jene zu unterscheiden, die die Gedanken ihrer Zeit in Worte fassen: „Eigentlich sagen diese Schriftsteller nichts, als was man bei Geschichtsschreibern und Philosophen, die Jahrhunderte vor ihnen gelebt haben, lesen, aus dem Gelesenen, und 67 Vgl. K. Vorländer, Einleitung zu Kants kleinere Schriften, a. a. O., S. XXXVII. Da Kästners Schrift eine gedruckte Widmung vom 12. August 1793 trägt, ist eine genauere Datierung auf den Herbst desselben Jahres möglich. 68 Vorländer zitiert nicht aus Kästners Schrift, sondern nach „Lose Blätter hrsg. von Rud. Reicke I, S. 148 f. Anm.“; ders. Kant, Zum ewigen Frieden, a. a. O., S. XXIV; s.a ders. Einleitung zu Kants kleinen Schriften, a. a. O., S. XXXVII. Dem sonst zuverlässigen Vorländer soll hier keine Klitterungsabsicht unterstellt werden, doch fällt seine ‚ergebnisorientierte‘ Interpretation anhand einer schwer identifizierbaren Quelle zweiter Hand auf. 69 Kästner, Über das Unvermögen, S. 176. 70 Kästner, Über das Unvermögen, S. 177.
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selbst aus Begebenheiten, die man erlebte, leicht herleiten konnte“.71 Diese Philosophen, zu denen Kästner Kant rechnen müsste, hätten, wie alle Schriftsteller, weder Macht noch Einfluss, auch lösten sie keinen Aufruhr aus – wohl aber der Hunger in der Bevölkerung oder das Unrecht und die Anmaßungen der Regierenden. Die Schriftsteller seien ungefährlich, da sie weder Schuld an den Zuständen noch Einfluss auf die Entwicklung hätten. Man traue den philosophischen Schriftstellern zuviel zu, wenn man glaube, sie könnten die Massen bewegen und Regierungen stürzen. „Einzureißen gehören Arme, die werden nicht von ihren Köpfen regiert, mehr von den Herzen, am allermeisten von den Magen [sic], und diese fordern etwas Nahrhafteres als Namen, die wegen ihres Verstandes oder Witzes berühmt sind“.72 Revolutionen werden nicht von philosophischen Schriftstellern gemacht. „Es wäre unbillig, ihnen gefährlichere Absichten zuzuschreiben, als die: zu warnen und zu bessern“.73 Diese durchaus im ironischen Ton vorgetragene Verzwergung der Philosophie entspricht weniger Kants Argument des zweiten Zusatzes, als vielmehr der „Clausula salvatoria“: Philosophen sind zwar gänzlich ungefährlich, aber als Ratgeber unentbehrlich. Kant hätte also, entgegen Vorländers These, wegen der großen Übereinstimmungen mit Kästner weniger Anlass zur Polemik im zweiten Zusatz von 1796 als Ursache zur Übernahme der Argumentation in seinen Traktat von 1795 gehabt. Als Anregung für die „Clausula salvatoria“ wäre der Artikel Kästners rechtzeitig verfügbar gewesen. Anzumerken ist, dass Kästner in seinem Aufsatz stärker in kantischen Bahnen denkt als umgekehrt Kant in Kästners, waren doch Kants Aufsätze ‚Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‘ (1784), ‚Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte‘ (1786) und ‚Über den Gemeinspruch‘ (1793)‘ bereits vorher erschienen und von Kästner rezipiert worden. Auch Kästner scheidet damit als Bezugspunkt für den zweiten Zusatz aus. 6. Heinrich Karpp vermutet beiläufig als Ursache für den zweiten Zusatz eine Publikation von Johann Georg Schlosser.74 Heute weitgehend nur noch als Goethes Schwager bekannt, galt Schlosser den Zeitgenossen als reformfreudiger Aufklärer, Humanist und einflussreicher Mann mit festen Prinzipien,75 der sich nach seinem Rückzug aus der Politik (1794) mit Philoso71
Kästner, Über das Unvermögen, S. 173. Kästner, Über das Unvermögen, S. 174. 73 Kästner, Über das Unvermögen, S. 176. 74 Vgl. H. Karpp, Die Philosophenkönige bei Platon und bei Kant, Gymnasium 60/1953, S. 334 f. Die hier von Karpp angestellte Vermutung spielt in seinem Aufsatz nur eine marginale Rolle und wird nicht weiter thematisiert (vgl. ibd., S. 334). 72
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phie, Philologie und Literatur beschäftigte und Texte im Stil platonisierender Gefühlsmystik der Rosenkreuzer sowie eine Reihe von Übersetzungen aus dem Griechischen und Englischen publizierte.76 Kant wusste, dass Schlosser seine Transzendentalphilosophie ablehnte und dass er philosophische Ambitionen eines „elder statesman“ hegte. Bereits im Dezember 1796 beschreibt Kant seinen platonischen Gegner mit unübersehbarem Sarkasmus: „Herr Schlosser, ein Mann von großem Schriftstellertalent und einer (wie man zu glauben Ursache hat) für die Beförderung des Guten gestimmte Denkungsart, tritt, um sich von der zwangsmäßigen unter Autorität stehenden Gesetzverwaltung in einer doch nicht unthätigen Musse zu erholen, unerwarteterweise auf den Kampfplatz der Metaphysik: wo es der Händel mit Bitterkeit weit mehr giebt, als in dem Felde, das er eben verlassen hatte“ (AA 8/419). Bemerkenswert ist, dass diese Beschreibung eine klare Warnung an Schlosser enthält, indem Kant ungeniert seinen „Revieranspruch“ geltend macht. Er scheint durch den philosophisch ambitionierten Pensionär Schlosser auf das Äußerste gereizt worden zu sein. Im selben Jahr, wahrscheinlich zeitgleich mit der ersten Auflage der Friedensschrift, erschien Schlossers Übersetzung von Platons Briefen über die „syrakusanische Staatsrevolution, nebst einer historischen Einleitung und Anmerkungen“.77 In dieser Schrift wird offen und polemisch gegen Kants kritische Philosophie Stellung bezogen (s. u.). Dass Kant diese Schrift unverzüglich zur Kenntnis genommen hat, ist sicher, da er sie bereits im Dezember 1795 zitiert (vgl. AA 8/398). Außerdem handelt es sich bei dem Buch um die viel beachtete erste deutsche Übersetzung der Briefe Platons, also um Texte, die in der damaligen politischen Lage großes Interesse fanden.78 Zudem war nicht nur der Erschei75 Zu Schlossers Biographie vgl. A. Nicolovius, Schlossers Leben und literarisches Wirken, Bonn 1844; s. a. K. Vorländer, Kants Schriften zur Logik und Metaphysik, Die Schriften von 1796–98, Leipzig 19212, S. IV ff. 76 Vgl. K. Vorländer, Kant, a. a. O., Bd. II, S. 272; s. a. D. W. Schumann, Schlosser und seine Welt, Einleitung zu J. G. Schlosser, Kleine Schriften, New York, London 1972, S. II ff. s. a. Gerd Irrlitz, Kant Handbuch Leben und Werk, Stuttgart, Weimar 2002, S. 431 ff. 77 Schlosser, Platos Briefe über die syrakusanische Staatsrevolution, nebst einer historischen Einleitung und Anmerkungen, Königsberg 1795. Auch diese wichtige Übersetzung ist heute nur noch schwer greifbar, da sie durch die von Schleiermacher begonnene Platon-Gesamtausgabe sowie durch die Übersetzungen von H. Müller (Leipzig 1859) und W. Wiegand (Stuttgart 1859) verdrängt wurde. 78 Schlosser hatte seine Übersetzung bereits 1793 in mehreren Folgen des ‚Philosophischen Journals‘ von Schmid und Snell in Gießen publiziert. Da das wenig beachtete Journal bereits im Laufe des ersten Jahrgangs sein Erscheinen einstellte, überarbeitete Schlosser die Übersetzung und fügte Einleitung und Anmerkungen hinzu, um sie 1795 als Buch zu publizieren. Aus diesem Grund wird die erstmalige
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nungsort der Schrift Königsberg, sondern Schlosser hatte sogar denselben Verleger wie sein Gegner gewählt: Kants ehemaligen Schüler und derzeitigen Verleger und Nachbarn Friedrich Nicolovius.79 Im Herbst 1793 hatte Schlosser den ältesten Bruder des Verlegers, Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, kennen gelernt.80 Am 5. Juni 1795 heiratete dieser Schlossers Tochter Luise. Kaum drei Monate später erschien Schlossers Übersetzung nebst der Kant-Polemik in Königsberg bei dem Bruder seines Schwiegersohns.81 Kant hat auf Schlossers Polemik prompt reagiert. Bereits im Mai 1796 erscheint in der ‚Berlinischen Monatsschrift‘ der für Kant ungewöhnlich polemisch gehaltene Artikel ‚Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie‘.82 Schlosser wird zwar noch nicht beim Namen genannt – dies geschieht erst im Juli nach Schlossers erneutem Angriff auf die kritische Philosophie – aber Kant zitiert dessen Platon-Übersetzung und macht damit den Adressaten seiner Streitschrift hinreichend deutlich. Ungefähr zur Zeit der Abfassung des ‚Vornehmen Tons‘ hat Kant an der zweiten Auflage seiner Friedensschrift gearbeitet. So könnte es nahe gelegen haben, die Möglichkeit zu einer neuen „vermehrten Auflage“ zu nutzen und in einer publizistisch sehr erfolgreichen Schrift eine Polemik gegen Schlosser einzufügen, um durch die garantiert große Verbreitung und breite Rezeption eine maximale Wirkung zu erzielen. Buchpublikation auch gelegentlich als zweite Auflage bezeichnet; vgl. I. Kreienbrink, Schlossers Streit mit Kant, in: Festschrift für D. W. Schumann, hg. v. A. R. Schmitt, München 1970, S. 248; s. a. A. Nicolovius, Schlossers Leben und literarisches Wirken, Bonn 1844, S. 249 u. 282 f.; H. Karpp, verwechselt Schlossers Übersetzung gar mit einer Abhandlung; vgl. ders. Die Philosophenkönige bei Platon und bei Kant, a. a. O., S. 334. 79 Vgl. K. Vorländer, Kant, a. a. O., Bd. II, S. 14. 80 Vgl. A. Nicolovius, G. H. L. Nicolovius, in: Neuer Nekrolog der Deutschen 18/1839 (1841), s. a. Altpreußische Biographie, Aalen 1967, Bd. 2, S. 305, außerdem ADB, DBA und DBA N.F. (Mikrofiche). 81 Bereits im März 1794 war Schlossers ‚Gastmahl‘, das Georg Nicolovius gewidmet ist, bei Friedrich Nicolovius in Königsberg erschienen. Diese beiden Bücher sind laut Publikationsliste von Alfred Nicolovius, Schlossers Enkel, die einzigen in Königsberg verlegten Bücher Schlossers; vgl. A. Nicolovius, Schlossers Leben, a. a. O., S. 282 f. Wer hier wem bei der Publikation der Briefe Platons einen Gefallen tun wollte, ist unklar: Ob der etablierte Autor Schlosser dem jungen Verleger in Königsberg einen (weiteren) lukrativen Auftrag zuschanzen wollte oder der Verleger dem Wunsch des Schwiegervaters seines Bruders nachgekommen ist, ob also Familiensinn oder Boshaftigkeit im Spiel waren, lässt sich wohl nicht mehr eindeutig klären. Kant jedenfalls scheint seinem Verleger die Publikation Schlossers nicht übel genommen zu haben, da seine ‚Metaphysik der Sitten‘ 1797 bei Nicolovius erscheint. 82 Zur Polemik Kants vgl. H. Saner, Kants Weg vom Krieg zum Frieden, München 1967, S. 87 ff., 126 ff., 215 ff.
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Geht man von der Annahme aus, dass Schlosser der geheime Adressat des „Geheimen Artikels“ war, lassen sich die oben gestellten Fragen nach dem Zeitpunkt weitgehend plausibel beantworten. Auch der Inhalt, die Bezugnahme auf Platon, der ironisch eingeräumte Vorrang der Politik vor der Philosophie und die gezierte Vorsicht gegenüber der Obrigkeit, kombiniert mit der Einforderung von Öffentlichkeit und Freiheit werden verständlich. Kants Absicht, durch den „Geheimen Artikel“ eine ironische Distanz zu schaffen, kann ergänzt werden durch die Polemik gegen einen nicht genannten, aber sich sehr wohl getroffen fühlenden Gegner (was den ironischen Doppelsinn des Geheimen ausmacht). Aber auch der Ort des Einschubs, an der Nahtstelle zwischen den kontraktualistisch-utopischen Vorschlägen der Präliminar- und Definitivartikel und den theoretischen Reflexionen über das Verhältnis von Philosophie und Politik, entpuppt sich als geniale Pointe: Die von Schlosser übersetzten Briefe Platons thematisieren den Übergang der platonischen Philosophie vom utopischen zum konkreten Umgang mit dem Politischen. Kant dürfte, während er an der zweiten Auflage der Friedensschrift gearbeitet hat, Schlossers Übersetzung von Platons Rechenschaftsbericht über seine versuchte Einflussnahme auf die syrakusanische Politik und die damit verbundenen Reflexionen zur praktischen Politik gelesen haben. Dabei musste Kant auch Schlossers Ausfälle gegen die kritische Philosophie zur Kenntnis nehmen. Somit lässt sich Schlosser als höchst wahrscheinlicher Auslöser für Kants Polemik im zweiten Zusatz festmachen. II. Die historisch-kritische Frage Die Polemik zwischen Schlosser und Kant, die sich vor allem an einer Anmerkung über die kritische Philosophie in Schlossers Ausgabe der Briefe Platons entzündet hat, ist weitgehend bekannt und untersucht – wobei stets der „Geheime Artikel“ von Kants Friedensschrift unberücksichtigt geblieben ist.83 Schlosser, so die Meinung der meisten Interpreten, ließ 83 Vgl. I. Kreienbrink, Schlossers Streit mit Kant, a. a. O., S. 246 ff. Die Chronologie der Polemik lässt sich so rekonstruieren: Kant beantwortete Schlossers Angriff vom Herbst 1795 in seiner im Mai 1796 erschienenen Streitschrift ‚Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie‘ sowie im „Zweiten Zusatz“ des ‚Ewigen Frieden‘, worauf Schlosser sein ‚Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studiren wollte‘ im Dezember 1796 publiziert. Die im Dezember desselben Jahres von Kant verfasste Replik ‚Verkündigung eines nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie‘ erscheint erst im Juli 1797. Kurz darauf (Anfang 1798) antwortet Schlosser durch sein ‚Zweites Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studiren wollte, veranlasst durch den angehängten Aufsatz des Herrn Professor Kant über den Philosophenfrieden‘. Kant hat hierauf nicht mehr reagiert. Schlossers Tod im folgenden
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sich auf eine Diskussion mit Kant ein, der er weder fachlich noch intellektuell gewachsen war. Die Kant-Interpreten zeigen sich zwar verwundert über die Heftigkeit von Kants Reaktion, doch liegt dieses Erstaunen weniger im Ziel als im Gegenstand der kantischen Polemik begründet:84 Schlosser wird meist als mystischer Schwärmer und oberflächlicher Platoniker dargestellt.85 Weshalb reagiert Kant dann aber auf diese eigenwillige und unsystematische Position eines philosophischen Dilettanten so energisch? Diese Frage lässt sich beantworten, wenn nicht nur der philosophische und charakterliche, sondern vor allem der politische Aspekt der Auseinandersetzung beachtet wird. Dieser erschließt sich erst, wenn Schlossers politische Anspielungen auf Kant, die in die ganze Ausgabe der Briefe Platons eingestreut sind, in die Interpretation mit einbezogen werden. Schlosser mag auf dem Feld der kritischen Philosophie ein zur Selbstüberschätzung neigender Autodidakt gewesen sein; im Bereich der Politik war er ein intimer Kenner der Machtverhältnisse mit großem Einfluss an den mächtigsten europäischen Höfen. In dieser Hinsicht musste er Kant als ein durchaus ernstzunehmender Gegner erscheinen, dessen politische Anschuldigungen nicht unbeantwortet bleiben durften. Da die politische Perspektive der Debatte bisher kaum beachtet worden ist, soll nach einem kurzen Blick auf Schlossers Persönlichkeit (1.) die politische Zielsetzung seiner Interpretation der platonischen Briefe mit Rücksicht auf die Kritik an Kant herausgearbeitet werden (2.), um Kants „Geheimen Artikel“ als Reaktion auf Schlossers politische Angriffe verständlich zu machen (3.). Die bisher geleisteten philosophischen und literarischen Interpretationen sollen durch die Darstellung der politischen Dimension der Debatte ergänzt und gestützt werden. 1. Schlossers Leben war geprägt durch den Konflikt zwischen literarischer Neigung und beruflicher Pflicht.86 Einerseits fühlte er sich durch klassisch-humanistische Bildung und Liebe zur Literatur zur vita contemplativa bestimmt, was zu einer umfangreichen literarischen Tätigkeit führte.87 SeiJahr beendet die Debatte. s. a. Manfred Kühn, Kant, Eine Biographie, München 2003, S. 456 ff. 84 Vgl. I. Kreienbrink, Schlossers Streit mit Kant, a. a. O., S. 246 f.; s. a. K. Vorländer, Kants kleine Schriften zur Metaphysik, Leipzig 1921, S. V ff.; H. Saner, Kants Weg vom Krieg zum Frieden, a. a. O., S. 126 ff. 85 Vgl. I. Kreienbrink, Schlossers Streit mit Kant, a. a. O., S. 246 f.; K. Vorländer, Kants kleine Schriften zur Metaphysik, a. a. O., S. Vf.; Überweg a. a. O., S. 540; D. W. Schumann, Schlosser und seine Welt, in: Schlosser, Kleine Schriften, hg. v. D. W. Schumann, New York, London 1972, S. LX ff. 86 Zur Biographie Johann Georg Schlossers (1739–1799) vgl. A. Nicolovius, Schlossers Leben und literarisches Wirken, a. a. O.
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nem Selbstverständnis nach war Schlosser Aufklärer, weshalb er 1783 dem Illuminaten-Orden beitrat. Er hatte regen Kontakt zu Lavater, Jacobi, Claudius, Lenz, Salzmann und Forster sowie zu den Gräzisten Stolberg, Voß und Johannes Müller. Seine unsystematische, manchmal der antikisierenden Mystik zuneigende, stets jedoch streitbare Denkhaltung, die Betonung des Gefühls und die Ablehnung der als kalt empfundenen Rationalität machten Schlosser zu einem frühen Kritiker Kants. Manche sehen in ihm sogar einen Vorläufer der Romantik.88 Der andere bestimmende Bereich in Schlossers Leben war die Politik: Nach der Promotion in den Rechtswissenschaften (1762) durchlief Schlosser eine steile Karriere vom Advokaten bis zum Wirklichen Geheimen Rat, was heute etwa dem Rang eines Staatssekretärs entspricht. Wegen seiner literarischen Neigungen war er aber stets unzufrieden mit seiner beruflichen Tätigkeit, die er jedoch trotz oder gerade wegen seiner schroffen Rechtlichkeit, unnachsichtigen Geradheit und absoluten Integrität hervorragend ausführte.89 Er wirkte an verschiedenen Gesetzgebungsverfahren und Reformwerken maßgeblich mit und sein Rat in juristischen Reformangelegenheiten wurde geschätzt und selbst von Friedrich dem Großen und dem österreichischen Kaiser Joseph II. eingeholt. Auf dem Höhepunkt seiner politischen und beruflichen Karriere (1794) quittierte Schlosser den Dienst als Direktor des Hofgerichts zu Karlsruhe nach einem, seiner Meinung nach nicht zu rechtfertigenden Eingriff des Markgrafen in die Kompetenzen des Hofgerichts. Schlosser, der auch nicht durch Zugeständnisse seines Dienstherren zu bewegen war, im Amt zu bleiben, begann nun zu privatisieren, d.h. im Zustand der „politischen Apathie“90 zu philosophieren. Für den politischen Autor Schlosser bedeutete das in erster Linie, sich publizistisch mit den politischen Auswirkungen der Französischen Revolution auf Deutschland auseinanderzusetzen. Hierzu dienten ihm die mit aktuellen Anmerkungen und Bezügen versehenen Übersetzungen antiker politischer Schriften. Mehrere Übersetzungsprojekte, un87 Schlosser übersetzte aus dem Griechischen und Englischen, schrieb einen AntiPope, verfasste neben zahlreichen Artikeln und Aufsätzen einen weit verbreiteten ‚Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk‘ (1771) und arbeitete, gemeinsam mit Goethe, als Redakteur der ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘. Vgl. Publikationsliste bei A. Nicolovius, Schlossers Leben und literarisches Wirken, a. a. O., S. 278–283; s. a. D. W. Schumann, Schlosser und seine Welt, a. a. O., S. LX ff. 88 Vgl. I. Kreienbrink, Schlossers Streit mit Kant, a. a. O., S. 246. 89 Zu Schlossers Charakter haben sich dessen Schwager Goethe und sein Enkel Nicolovius geäußert; vgl. D. W. Schumann, Schlosser und seine Welt, a. a. O., S. X f., wo die einschlägigen Textstellen gesammelt sind. Trotz der hohen Belastungen durch seine politischen Ämter fand Schlosser immer noch Zeit für seine literarischen Arbeiten und die Reflexion über die Politik. 90 Schlosser, Vorbericht zu Plato’s Briefe, a. a. O., S. XXX.
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ter anderem das der aristotelischen ‚Politik‘91, nahm Schlosser in dieser Zeit in Angriff. Die bereits 1793 erschienenen Briefe Platons mussten außerdem überarbeitet und mit einer neuen, den veränderten politischen Umständen angepassten Einleitung versehen, als Buch publiziert werden. 2. Bereits die Widmung zur ersten Ausgabe von ‚Plato’s Briefe‘ an Matthias Claudius vom November 1792 zeigt deutlich Schlossers politische Intention: Platon soll durch die vorgelegte Übersetzung nationalisiert werden,92 um den Deutschen in unruhigen Zeiten ein politisches Vorbild zu geben. Nach dem Sturm auf die Tuillerien und der Ausrufung der Französischen Republik sei in Deutschland jene Besonnenheit notwendig, die man aus Platons Briefen lernen könne, weshalb Schlosser diese Übersetzung als politische Mission zur Aufklärung der Deutschen erscheint: „Denn, da der weise Grieche uns räth, mit unseren Obern, wenn sie sich durchaus nicht rathen lassen wollen, zufrieden zu seyn, wie Gott sie giebt, und da es auch nicht so leicht abgeht, wenn man mit ihnen nicht zufrieden ist, wie er sagt, und wie uns täglich die Zeitungen aus Westen berichten; so ist zu hoffen, dass unsre guten Landsleute, wenn sie die Briefe lesen, den Freyheits-Predigern ihren Abschied zu geben geneigt seyn werden“ (S. III f.). In der Ausgabe von 1795 hat sich nach den Entwicklungen in Frankreich (Konvent, Terreur, Sturz Robespierres, das sich abzeichnende Direktorium und der Baseler Frieden) Schlossers Argumentation vom konkreten Fall der Französischen Revolution auf die theoretische Beurteilung der Revolution selbst als Handlungsoption für die deutschen Länder verschoben. Zwar plädiert er wieder an die „sonst gut gesinnten Deutschen“, sich nicht von den französischen Staatsveränderungen beeindrucken zu lassen und nicht danach zu trachten, den Geist der Franzosen allgemein zu machen (S. VI), jedoch will er nicht in dem Sinne verstanden werden, als wolle er allein den „leidenden bürgerlichen Gehorsam“ predigen (S. IX.). Die Verantwortung des politisch Handelnden, der nicht nur isoliert für sich, sondern immer für andere handelt, ist nun Schlossers großes Thema: Er fragt, ob man eine Revolution überhaupt verantworten kann, und was den Einsatz der in Frankreich gesehenen Mittel rechtfertigt. Schlosser spricht sich nicht klar und grundsätzlich gegen die radikale Abschaffung drückender Zustände aus; er will nur die Handlungsmöglichkeiten sorgfältig abwägen. Hier eigne sich Platon als Orientierungshilfe, da er sich damals in einer vergleichbaren Lage befunden und nach Abwägung der Umstände den Freunden des Dion von einer Staatsrevolution nachdrücklich abgeraten 91
Vgl. Aristoteles, Politik und Fragment der Oekonomik, aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und einer Analyse des Textes versehen, drei Abtheilungen, Lübeck und Leipzig, 1797 und 1798. 92 Vgl. A. Nicolovius, Schlossers Leben und literarisches Wirken, a. a. O., S. 248.
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habe. Schlossers Darstellung von Platon, der seine Freunde auffordert, mit der „Partey der alten Regierung“ Frieden zu machen (S. IX), spielt deutlich auf die aktuelle Situation der „ancien regimes“ und deren Kritiker in den deutschen Ländern an. Hierdurch habe Platon, und damit auch Schlosser, „also nicht nur dem leidenden Gehorsam das Wort reden wollen; sondern er wollte nur die Schranken bezeichnen, in welchen sich der Weise halten muss“ (S. X), wenn lärmende Demagogen und verwegene Philosophen den Staat zu ihrem eigenen Vorteil stürzen wollten, ohne wirkliche Besserung herbeiführen zu können. Diese Philosophen werden von Schlosser „After-Patrioten“ genannt, da sie sich aus dem Status des tätigen Gehorsams von lebhaften Verteidigern der uneingeschränkten fürstlichen Gewalt zu Widerstandskämpfern für die unumschränkte Freiheit verwandelt hätten (S. XI f.). Aus Schlossers Sicht ist dies der Weg von Hobbes’ Begründung der absoluten Souveränität zu Kants Republikanismus: Im Unterschied zu den „After-Patrioten“ war Platon zu weise und edel, um zuerst im moralisch kompromittierenden tätigen Gehorsam in einem Unrechtsregime zu dienen und dann anderen eine aussichtslose Revolution zu empfehlen. Deutlich zeigt sich, dass untertäniger Opportunismus und vorauseilender Gehorsam dem bis zum Starrsinn geradlinigen Schlosser ebenso zuwider waren, wie die – aus seiner Sicht – zu Freiheitskämpfern gewendeten ehemaligen Mitläufer des alten Regimes. Schlosser verlangt einen geradlinigen, wenn auch nicht notwendig heldenhaften Lebenswandel sogar im Unrechtsstaat. Hier folgt er Platon, der fordert, sich im Umgang mit einem tyrannischen Herrscher weder bei diesem einzuschmeicheln noch verhasst zu machen (vgl. Ep. VII 331e). Da der tätige Widerstand aktuell aussichtslos schien, blieb für Schlosser nur die Untätigkeit des leidenden Gehorsams als derzeit einzige vernünftige Handlungsoption übrig. Schlosser will also nicht wie Hobbes oder Kant das Widerstandsrecht aus systematischen, nämlich souveränitätstheoretischen Gründen ausschließen, sondern er sieht nur im Augenblick in Deutschland weder eine Chance noch einen notwendigen Grund für den wilden Hasard einer Revolution. Unklar bleibt, inwieweit er eine Revolution unter den modernen Bedingungen überhaupt noch für verantwortbar hält. Platon, dem Schlosser in seiner Argumentation folgt, ist in der Formulierung seiner Ansprüche an einen philosophischen Bürger eindeutiger: „Er muss es sagen, wenn ihm ihre [der Stadt] Verfassung nicht gut scheint (sofern zu erwarten ist, dass er es nicht umsonst sagen wird und nicht sterben muss, wenn er es sagt), Gewalt jedoch soll er nicht anwenden gegen sein Vaterland, wenn ohne Verbannung und Ermordung von Männern die beste Verfassung nicht einzurichten ist, sondern lieber Ruhe halten und für die Stadt um Gutes beten“ (Ep. VII 331d). Da Platon von der Maxime ausgeht, dass nur dem zu raten ist, der den Rat annehmen will, verbietet sich jede Zwangsmaßnahme,
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es sei denn, der zu Beratende ist aufgrund eines Defekts nicht mehr in der Lage, einen Rat als solchen zu erkennen und anzunehmen (vgl. Ep. VII 331e). Bei Individuen zeigt sich dies als Geisteskrankheit, bei Staaten als Tyrannis. Während im ersten Falle Gewaltanwendung möglich und sinnvoll sein kann, hält Platon im zweiten Fall offenbar den Preis eines Bürgerkrieges für zu hoch und die Erfolgsaussichten für zu gering. Schlosser greift hier Platon auf und fährt im polemischen Ton fort, dass Platon mit seinem Rat zum leidenden Gehorsam zwar noch vor den „ächten Politikern“, also allen Realisten, Anerkennung fände, nicht jedoch vor dem „Areopag unserer neuen deutschen Philosophie“, die sich im Besitz des Schlüssels zur Wahrheit glaube, und, ohne über die Schwingen der platonischen Philosophie zu verfügen, nur „Fledermaus-Ansichten“ vertrete (S. XIII f.).93 „In einer Zeit, in welcher alle unsere Philosophen groß und klein die Hand an die Bande der bürgerlichen Gesellschaft legen“, stellt Schlosser die grundsätzliche Frage, „[o]b die Philosophen überhaupt sich mit der Einrichtung der Staats-Maschine abgeben sollten“ (S. XIX). In diesem Zusammenhang diskutiert er Platons Philosophenkönigssatz und kommt zu dem Schluss, dass nur der wahre Philosoph Ansprüche auf die Politik anmelden dürfe. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zur Differenzierung der zeitgenössischen philosophischen Schulen, um zu bestimmen, welche der „Hauptsekten“ sich mit der Staatskunst abgeben und neue Regierungspläne entwerfen dürfen (S. XXI). Die mystische Philosophensekte fällt aus Schlossers aufklärerischer Klassifikation heraus, da sie wenig glaubhaft vorgebe, mit himmlischen Geistern zu kommunizieren. Bleiben noch drei „Classen Erdenphilosophen“ zu unterscheiden, deren beiden größten durch die Verabsolutierung jeweils eines Aspekts des Menschseins zu radikal entgegen gesetzten Positionen gelangen. Die erste damals vorherrschende Schule beschäftigt sich nach Schlosser ausschließlich mit dem Menschen als geistigem, denkendem Wesen. „Jene Schule hat [. . .] noch allerley Unterabtheilungen, von welchen einige, aus lauter Begierde richtig, nach der strengen Prüfung der Kritik, zu denken, nächstens allem Denken ein Ende machen werden“ (S. XII). Schlosser lässt im Folgenden keinen Zweifel daran, dass Kant sein Hauptgegner ist – ohne ihn jedoch beim Namen zu nennen. Die Kritik an Kant erhält sofort eine 93
Schlosser spielt offenbar in polemischer Absicht auf Kants Kritik an Platon in der Einleitung zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ an. Dort heißt es: „Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, dass es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt und wagte sich jenseits derselben auf den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes“ (KrV B9/A6).
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politische Wendung, wenn Schlosser die vermeintlichen Errungenschaften dieser Schule aufzählt: „[D]ie Entwicklung der Rechte der Menschheit, die erhabenen Lehren von der Kraft des Gesetzes, von der Aufhebung des Unterschieds der Stände, von der gleichen Vertheilung der Güter, von dem spiritus rector, der alle Offenbarung und alles Historische in der christlichen Religion überflüssig macht, und alle die schönen Ideale der aus lauter unumstößlichen Grundsätzen räsonierenden Vernunft“ (S. XIII). Auch schreckt Schlosser nicht davor zurück, die kritische Philosophie in die unmittelbare Nähe zu umstürzlerischen Kreisen zu rücken: „Wenigstens kann ich die gedachten Regierungsformen und Constitutionen, die man jetzt an einigen Orten so sehr erhebt, an einigen so eifrig realisirt zu sehen wünscht, und an noch anderen mit so viel Blut und Leichen erkauft, diese kann ich wenigstens allein dieser Schule zurechnen“ (S. XXIII f.). Neben Kant dürften hier vor allem Fichte, aber auch Schlegel und Garve gemeint gewesen sein. Anschließend benutzt Schlosser das platonische Höhlengleichnis um die „Classe“ der Kantianer als doppelt geblendete Troglodyten zu verhöhnen: Zu kurz waren sie dem Sonnenlicht der Ideen ausgesetzt, um außerhalb der Höhle sehen zu lernen, aber lange genug, um nun in der Dunkelheit der Höhle mit geblendeten Augen selbst für die einfachsten Dinge unbrauchbar zu sein (vgl. S. XXIV). Die zweite „Classe“ der Erdenphilosophen stellt die extreme Gegenposition zur ersten dar: Der Mensch werde hier als bloß sinnliches Tier betrachtet. Egoismus, Augenblicksgenuss und die Anbetung der Anarchie der ungebundenen Sinnlichkeit seien die Kennzeichen dieser Klasse (vgl. S. XXV) hinter der sich wahrscheinlich der Vulgärmaterialismus im Anschluss an La Mettrie verbirgt.94 Beide „Classen“ hält Schlosser für untauglich zur Politik, da diese den ganzen Menschen und die praktischen Probleme des Zusammenlebens einer Nation zu betrachten hat, „kurz alles was sie [die Nation] jetzt ist, und künftig wahrscheinlich werden wird und kann“ (S. XXV). Dies leistet allein die dritte „Classe“: „Denn, wenn je das schwere Problem, große Macht mit Weisheit und Gehorsam mit Edelmuth zu vereinigen aufgelöst werden kann; [. . .] so muss es durch die Adepten dieser Schule geschehen“ (S. XXVI); einer Schule zu der Schlosser neben Platon sich selbst und seine politischen Freunde Claudius, Jacobi, Stolberg, Eberhard, Gentz, Görres und Burke gerechnet hat. Leider, so Schlosser, befindet sich diese hoffnungsvolle „Classe“ in einem Dilemma: Einerseits gebiete die Menschenliebe, die von Schlosser als drückend bezeichneten Zustände zu ändern. Insofern ist hinsichtlich der 94 Ein möglicher Bezugspunkt Schlossers könnte La Mettries brisanter Discours sur le bonheur von 1750 sein, dessen Darstellung der Philosophie Epikurs ein Plädoyer für die Kunst des Genießens ist.
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politischen Diagnose der ersten „Classe“ zuzustimmen. Andererseits ist die dritte „Classe“ zu klein, schwach und isoliert, um politische Veränderungen in ihrem Sinne selbst hervorbringen zu können. Das Ziel der geforderten politischen Veränderung sei die stabile gemischte Verfassung: „Und man sage von den Rechten der Menschen was man will; so ist doch [. . .] eine solche Regierungsform auch die einzige, welche sich einige Dauer versprechen kann“ (S. 49). Jenseits dieses nahezu aristotelisch-pragmatischen Arguments der Stabilität sympathisiert der Preuße Schlosser mit einer vermeintlich platonisch inspirierten paternalistischen Form der gemischten Verfassung unter großbürgerlich-liberalen Rahmenbedingungen: „Auch verlangt in der That das Volk, das nicht verführt, oder übel regiert, oder gedrückt wird, mehr nicht, als Sicherheit bey seinem Eigenthum, Mittel zum Erwerb, Möglichkeit, sich die zum erträglichen Leben nothwendigen Bedürfnisse an zu schaffen; und wird ihm dieses, und lassen ihm die höchsten Stände nur die Achtung widerfahren, die jeder Bürger von seinem Mitbürger fordern kann, und lassen sie nur dem persönlichen Verdienst, das sich in der Volksklasse dann und wann durch ein Geschenk der Natur, oder durch Zufall bildet, den Zutritt zu den obern Classen; so überlässt das Volk gerne diesen die Regierung des Ganzen“ (S. 49 f.).95 Hier bleibt Schlosser weit hinter den prinzipiellen Forderungen des Republikaners Kant zurück, der Gewaltenteilung, Repräsentation und Publizität als Merkmale des Republikanismus definiert und als Kriterien der Bürgerlichkeit Freiheit (als Mensch), Gleichheit (als Untertan vor dem Gesetz) und Selbständigkeit (als mündiger Bürger) fordert (vgl. AA 8/369). Die Politik als ausübende Rechtslehre geht über Schlossers Paternalismus hinaus: Kant bringt dies auf die Formel „vaterländische statt väterlicher Regierung“.96 Für den Staatssekretär a. D. Schlosser ist Politik „gute Polizey“, also fürsorgliche Verwaltung (vgl. S. 50 f.). Werden Schlosser zufolge die berechtigten Forderungen der Bürger nach Sicherheit, Besitz und „ordentlicher Regierung“ nicht berücksichtigt, „ist es natürlich, dass das Volk weiter greift“ (ibd.). Hat sich das Volk aber einmal 95
Die ganze Passage ist im Originaltext durch Sperrung hervorgehoben. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, § 49 (AA 6/316 f.), wo Kant regimen paternale (väterliche Regierung) und regimen civitatis et patriae (vaterländische Regierung) unterscheidet. Vaterländisch heißt, dass „der Staat seine Untertanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d.i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit behandelt, jeder sich selbst besitzt, und nicht vom absoluten Willen eines anderen neben oder über ihm abhängt“ (AA 6/317). Da im anderen Fall der Landesvater davon ausgeht, dass die Landeskinder grundsätzlich unmündig und damit notwendig seiner Willkür unterworfen sind, handelt diese Regierungsform der Aufklärung zuwider und wird dementsprechend von Kant als „Despotism“ abgelehnt. 96
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die höchste Gewalt „angemaßt; so ist in der Philosophie kein Mittel mehr, sie ihm aus der Hand zu winden“ (ibd.). Nun bleibt nur noch eine machiavellistische Strategie, um dem Volk die Macht durch Gewalt, Betrug, oder den Überdruss an der Anarchie wieder zu entreißen (vgl. ibd.). „[G]ewaltsame Revolutionen können nur umstürzen, und da, wo ein Staat nur durch diese zu retten ist, da ist es, dünkt mich, offenbar, dass die mittlere Classe, aus welcher die Staatsdienste und Rathsstellen genommen werden, verdorben sind“ (S. 148, Anm.). Die Philosophie hätte nicht das Volk, sondern besser diese „mittlere Classe“97, also die bürgerliche Schicht, aufklären sollen, die das politische Herz des Staates ist. Von ihr erhofft Schlosser eine bürgerliche Reform, die an die Stelle des unkalkulierbaren Risikos einer Revolution der „Sansculotten“ tritt. Politik muss sich nach diesem Modell zwischen zwei Extremen als gute Mitte abspielen: Ein Volk hört auf, ein Staat zu sein, so „wie alle Staaten aufhören werden, die entweder despotischer regiert werden, als es die Natur des Menschen tragen kann, oder freyer, als die Masse der Volkstugend es verdient“ (S. 55). Die politische Mission der dritten „Classe“ der Philosophen besteht deshalb darin, trotz ihrer politischen Einflusslosigkeit, die in Frankreich begangenen Fehler in Deutschland zu verhindern und die mittlere „Classe“, hier meint Schlosser das Bürgertum, politisch-philosophisch richtig aufzuklären, um Reformen von „oben“ statt Revolutionen von „unten“ hervorzubringen. Platons Rat an die Freunde des Dion ist nach Schlosser deshalb ein Trost für die dritte „Classe“ der Philosophen, weil der leidende Gehorsam neben dem Aufklärungspathos einen Bürgerdienst nach Vorschrift vorsieht und damit als Sand im Getriebe der Macht interpretiert werden kann. Das Vorbild für diesen leidenden Gehorsam ist der passive Widerstand des Sokrates gegen die Tyrannis der Dreißig (404/403 v. Chr.), wie ihn Platon schildert.98 Schlosser ruft nicht, wie es zunächst scheinen könnte, zum ergebenen Dulden der Ungerechtigkeit auf, sondern er verlangt von seinen Zeitgenossen vielmehr ein hohes Maß an Zivilcourage, wenn er von ihnen passiven Widerstand gegen ungerechte Übergriffe des Staates fordert.99 Diesen Widerstand kann aber nur leisten, wer innerhalb des Staates tätig ist. Das Bürgertum, die dritte „Classe“ – wohl im Unterschied zum umfassenderen dritten Stand –, wird von Schlosser als politische Avantgarde, als Reformkraft in 97 Schlosser sorgt durch terminologische Unklarheit in seinem Text für einige Verwirrung, da er den Terminus dritte oder mittlere „Classe“ doppelt besetzt: einmal als Philosophen-Classe, dann als Bürger-Classe, wobei letzterer Begriff nicht weiter expliziert wird (vgl. S. 50 ff.). 98 Vgl. Platon, Ep. VII 324 e ff.; in Schlossers Ausgabe S. 120 f. 99 Vor diesem Hintergrund werden Schlossers Demission als Direktor des Hofgerichts und die ihn dabei leitenden Ansprüche an sich selbst verständlich.
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die Pflicht genommen. Seine Hoffnungen richten sich auf die besonnene Gruppe der Verwaltungsspezialisten und Intellektuellen, wobei er aber auch deren besondere Gefährdung durch die „Freyheits-Prediger“ erkennt. Um diese sich politisch emanzipierenden Bürger gegen jene Anfechtungen und Verführungen zu feien, will er sie politisch aufklären. Hier trifft sich Schlosser unter anderem mit Möser, Goethe sowie von Stein. 3. Für Schlosser war Platon kein „politischer Schwärmer, der nur eine leicht zu findende Politik für einen idealisirten Staat erträumt“ habe (S. XXVIII). Die ‚Politeia‘ sei zwar ein „erhabenes Gedicht über eine den edelsten Menschen würdige Staatsverfassung“ (S. XXVIII), doch zeigten die Briefe deutlich, dass Platon es auch verstünde, politisch zu denken und zu handeln. Insofern betrachtet Schlosser die Briefe als konkrete politische Ratschläge eines politischen Philosophen, die all jenen philosophischen Politikern helfen können, die „irgendwo im Osten oder Westen einem verdorbenen Staatskörper aufzuhelfen sich verpflichtet glauben, und kein Mittel darzu in Händen haben, als ihre bescheidene Philosophie, und ihre in sich gekehrte Tugend“ (S. XXXI).100 Schon die erste deutsche Übersetzung von Platons Briefen trennt also in wünschenswerter Schärfe den streckenweise praktisch-politikberatend ausgerichteten Anspruch der Briefe von der utopisch-paradigmatischen Zielsetzung der ‚Politeia‘. Schlosser weiß, dass Platons ‚Staat‘ nicht Platons Staat ist,101 er überschätzt jedoch dessen tatsächlichen Anspruch auf die Umsetzung des Philosophenkönigtums. Geprägt durch die politischen Erfahrungen seiner Jugendzeit bekam Platon, wie er selbst feststellt, „in Bezug auf alle Staatswesen der Gegenwart den Eindruck, dass sie alle miteinander elend regiert seien“ (Ep. VII 326a). Er erkennt, dass aus philosophischer Perspektive das entscheidende Problem der schlechten Staatsregierungen in der unzureichenden Theorie der Verfassung liegt. „Und ich musste zum Lobe der wahren Philosophie sagen, dass allein sie es ist, die einsehen lässt, was alles im Öffentlichen und im Privaten gerecht ist“ (Ep. VII 326a). Damit wird die Frage nach der Gerechtigkeit zum Zentrum der ‚Politeia‘ und der Philosophenkönigssatz zur äußersten philosophischen Konsequenz dieser Frage. Platon schreitet damit von der Erfahrung mit der Politik zu einer reinen Theorie des Politischen. Den sich bereits im Höhlengleichnis paradigmatisch ankündigenden notwendigen Schritt zurück in die Praxis (vgl. Rep. 514a ff.) stellt insbesondere der ‚7. Brief‘ dar. 100
Dieses Zitat wirft ein bezeichnendes Licht auf Schlossers Verständnis von Koalitionskrieg und polnischer Teilung. 101 Vgl. A. B. Neschke-Hentschke, Vorwort zu: U. Zimbrich, Bibliographie zu Platons Staat, a. a. O., S. 1.
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Schlosser arbeitet durch Übersetzung und Anmerkungen konsequent heraus, dass Platon die bestehenden Zustände in der Politik durch Reformen ändern will. Der Philosoph tritt hier als Berater des Herrschers auf, der die Tyrannis in eine legitime und gute Regierung umzuwandeln helfen soll. Nur wenn die Bereitschaft besteht, den philosophischen Rat anzunehmen und umzusetzen, gibt es Aussicht auf eine allgemeine Verbesserung der Staatsregierung. Deshalb ist für Platon jenes schillernde kairüò, die Gunst der Stunde und der Umstände, entscheidend. Platon setzt bei seinem Reformprogramm zwar auf den aufgeklärten Regenten, allerdings misstraut er als Realist den Machthabern. Deshalb stellt er die allgemeine, ausdrücklich auf alle Poleis bezogene Forderung auf, nicht eine schwache, fehlbare Person, sondern die guten Gesetze zum Herrscher zu machen (vgl. Ep. VII 334c), unter deren Schutz und Leitung dann der gerechte, mutige, besonnene und philosophische Mann als Regent zum Vorbild für die Tugend der Bürger aufsteigen kann (vgl. Ep. VII 336b). Mit offensichtlicher Verärgerung stellt Platon klar, dass er immer wieder den Weg der Reform zum „Gesetzesstaat“ und nicht die Durchsetzung des Philosophenkönigtums durch einen Aufstand gefordert habe (vgl. Ep. VII 334c ff.). Hier zeichnet sich bereits das Projekt der ersten drei Bücher der ‚Nomoi‘ ab. Syrakus, so glaubt der über die fehlgeschlagenen Versuche tief enttäuschte Platon, hätte in dem Reformprozess ein Anfang sein können: „Hätten sich hier Philosophie und Macht wahrhaftig in einem zusammengefunden, so hätte das sein Licht unter allen Menschen [. . .] verbreitet und hätte allen die wahre Ansicht ausreichend nahe gebracht, dass niemals jemand glücklich werden kann – weder eine Stadt noch ein einzelner Mann –, wenn er nicht mit Vernunft und der Gerechtigkeit untertan sein Leben führt“ (Ep. VII 335d). Platons politisches Ziel ist die Etablierung einer gerechten Polisordnung, einer guten Verfassung und die Einrichtung gerechter Gesetze durch eine Reform, die bei den Politikern ansetzt (vgl. Ep. VII 351c). Eine Revolution, die durch die Masse der Unterdrückten getragen wird, führt zu Bürgerkrieg und Ochlokratie – beides lehnt Platon entschieden ab. Schlosser konnte sich mit seinen politischen und juristischen Reformprojekten, ja mit seiner ganzen Lebensführung, durchgängig auf Platon berufen. Dabei war er von Kants politischem Denken gar nicht so weit entfernt. Die von Schlosser eingestreute Polemik gegen Kants Philosophie und Kants spitze Reaktion darauf hat jedoch dazu geführt, dass sich beide mehr um die Gegensätze als um die Übereinstimmungen gekümmert haben. Dies hat weder der Debatte noch Kants ursprünglich projektierter Aufarbeitung und Weiterführung von Platons politischer Philosophie genützt. Aus Schlossers
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Perspektive dilettierte der Philosoph Kant auf dem Gebiet der Politik, während umgekehrt Kant die philosophische Liebhaberei des Politikers als Pfuscherei zurückweist. Beide fühlten sich auf das empfindlichste in ihrem jeweils ureigenen Revier getroffen und diskutieren nicht mehr über Platon, sondern über Vorurteile. Schlossers Polemik hat deshalb nicht zu der von ihm geforderten „Nationalisierung“ Platons in der politischen Philosophie Deutschlands beigetragen, sondern den unvoreingenommenen Umgang mit Platons politischem Denken erschwert. Daran hat sich bis heute erstaunlich wenig geändert.102 III. Der politiktheoretische Kern der Polemik Kant hat also vermutlich im Oktober oder November 1795, kurz nach Erscheinen seines politischen „reveries“, von seinem Verleger Schlossers Übersetzung erhalten und gelesen. Die Qualität der Übersetzung konnte ihn nicht verärgern, da er sie kaum zu beurteilen vermochte. Schlossers Angriffe auf den Kritizismus, insbesondere in der langen Anmerkung zu Beginn von Platons erkenntnistheoretischem Exkurs im ‚7. Brief‘,103 müssen für Kant überaus ärgerlich gewesen sein, vor allem wegen ihres polemischen Tons. Eine polemische Abrechnung mit Schlossers bewussten und unbewussten Missverständnissen in der kritischen Philosophie und seiner spektakulären Okkupation Platons hat Kant in der kleinen Schrift ‚Über den vornehmen Ton‘ veröffentlicht.104 Eine Entgegnung auf die vielen politischen Angriffe auf Kants Denken, die in Schlossers Vorrede, dem Vorbericht, der historischen Einleitung und den zahlreichen Fußnoten enthalten sind, hätten hier thematisch nicht hineingepasst. Deshalb formuliert Kant seine Reaktion auf Schlossers politische Angriffe in Form eines Einschubs in die aktuelle, zur zweiten Auflage anstehende politische Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘. Da Kant nirgendwo von Schlosser ausdrücklich genannt wird, aber als spiritus rector jener gefährlichen, zur Politik gänzlich untauglichen Schule unzweideutig zu erkennen ist, kam nur ein satirisches Aperçu gegen Schlosser in Betracht. 102
Man denke nur an K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Der Zauber Platons, Bern 1957 oder D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankf. a. M. 1978. 103 Vgl. Platon, Ep. VII 342 b. Die Anmerkung findet sich in Schlossers Ausgabe auf den Seiten 180 bis 184. 104 Kant unterscheidet sehr wohl zwischen Platon und jener modernen Gruppe mit der „neueren mystisch-platonischen Sprache“, die durch die Exklusivität ihres Wissens mit „ihrer vorgeblichen Philosophie vornehm thut“ (AA 8/398 f.). In diesem Zusammenhang wird Voß genannt, aber in erster Linie sind wohl Schlosser und Stolberg gemeint (vgl. ibd.).
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Die Form des Einschubs bot sich durch den kürzlich bekannt gewordenen geheimen Artikel zum Baseler Frieden an, der als Vorlage eine ironische Distanz im Text schaffen würde. Außerdem ließe sich durch ein satirisches Zwischenspiel erreichen, was durch den ersten Zusatz „Von der Garantie des ewigen Friedens“ (AA 8/360 ff.) nicht vollständig geleistet wurde, nämlich den vorherigen eher utopischen Vertragsteil von jenem Teil zu trennen, der eine Theorie des Politischen enthält. Inhaltlich fordert Kant nicht wie Schlosser ein politisches Privileg für eine der philosophischen „Hauptsekten“, sondern die Abschaffung jeder Arcan-Politik durch freie und öffentliche Diskussion aller Philosophen über die allgemeinen Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung (vgl. AA 8/369). Die Philosophen werden insgesamt als unstrukturierte Gruppe aufgeklärter Selbstdenker im politischen Prozess und nicht als segmentiertes Feld gebundener Mitglieder von Schulen, Clubs oder „Classen“ verstanden. Hier greift Kant wieder implizit Kästners ‚Gedanken über das Unvermögen der Schriftsteller, Empörung zu bewirken‘ auf, indem er auf die Ungefährlichkeit der Philosophen hinweist – wollen diese doch nur gehört werden. Kants Konzept der Publizität geht freilich deutlich weiter. Der einzige Artikel des zweiten Zusatzes enthält das transzendentale Friedensprojekt und bietet somit eine Pointierung der ganzen Friedensschrift: „Die Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rathe gezogen werden“ (AA 8/368). Diese harmlosen und politisch weitgehend ohnmächtigen Philosophen, die zudem noch sehr weit unter der mit der regierenden Gewalt verbündeten Gruppe der Juristen stehen – zu der ja auch Schlosser gehört –, sind keineswegs, wie dieser behauptet, als „Classe“ für Revolutionen, Blut und Leichen verantwortlich. Mehr noch: Ihrer Natur nach ist diese „Classe [. . .] der Rottierung und Clubbenverbündung unfähig“ und deshalb „der Nachrede einer Propagande verdachtlos“ (AA 8/369). Damit ist nicht nur die erste Schule vom Verdacht des Jakobinertums freigesprochen, sondern es sind alle Philosophen gerade durch die Spezifika ihres Philosoph-Seins für unfähig erklärt worden, politisch gefährlich zu sein. Hier knüpft Kant wieder an die „Clausula salvatoria“ an. Kants Bezugnahme auf Schlosser ist nicht nur inhaltlich, sondern auch begrifflich, vor allem durch die Verwendung des auffälligen Terminus „Classe“ nachweisbar. Kant bezieht sich hier offenbar auf Schlossers Vorbericht zur Schrift ‚Plato’s Briefe‘, wo dieser Begriff verwendet wird (vgl. S. XIX ff.).105 Schlosser musste sich zusätzlich dadurch getroffen fühlen, dass Kant, wie im gerade entstehenden ‚Streit der Fakultäten‘, als Philosoph gegen philoso105 Schlosser übersetzt den bei Platon benutzten Begriff gÍnoò (326b) mit „Classe“, was Kant offenbar aufgreift (s. o.).
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phierende Juristen polemisiert. Die Juristen, so Kant, stehen unter der größten Versuchung, die ihnen verliehene Macht zu missbrauchen, indem sie nicht nur die vorhandenen Gesetze anwenden, sondern häufig bestrebt sind, (werktätig) darüber zu vernünfteln, ob diese nicht verbessert werden könnten (vgl. AA 8/369).106 Sie seien nur allzu leicht geneigt, ihren Argumenten durch Mittel der Gewalt nachzuhelfen. Da es in der Philosophie aber allein um den Streit der Argumente geht, ist schon die bloße Möglichkeit eines vae victis das Ende jedes philosophischen Gesprächs. Kant fordert damit Schlosser und dessen Kollegen auf, wie die Schuster bei ihren Leisten zu bleiben und das philosophische Geschäft den Philosophen zu überlassen. Bei aller vorgegebenen Leutseligkeit stellt Kant selbstbewusst fest, dass die Philosophie weder die Magd der Theologie noch der Jurisprudenz ist, sondern je eigenständige Bereiche der Beschäftigung mit dem Theologischen und dem Politischen beansprucht (vgl. AA 8/369). Nicht zuletzt aus diesen Gründen trennt Kant strikt zwischen dem Geschäft des Regierens und dem des Philosophierens. In diesem Zusammenhang kritisiert er Platons utopisches Projekt des Philosophenkönigtums: „Dass Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“ (AA 8/369). Dieser grundsätzliche Einwand ist also direkt auf Schlossers Reflexion über die Beteiligung der Philosophen an der Regierung bezogen (vgl. S. XX) und insofern mehr durch Kants Lektüre von Platons Briefen, beziehungsweise den Kommentaren Schlossers, als durch Bruckers Darstellung der ‚Politeia‘ bestimmt. Kant will offenbar gar nicht bestreiten, dass Philosophen erfolgreiche und gute Politiker werden können – nur können sie dieses Ziel nicht als Philosophen, sondern ausschließlich als in Sachzwängen und unter konkreten Ansprüchen stehende Politiker erreichen.107 Dem regierenden Philosophen fehlt der nötige Abstand der vita contemplativa und zwar nicht, weil Macht an sich notwendig böse sei und deshalb zwangsläufig korrumpiere,108 sondern weil das freie Urteil der Vernunft aus der Perspektive der vita activa notwendig beschränkt und insofern unvermeidlich (für die Philosophie) verdorben ist. Nicht der Regent, der seine Defizite erkennt und deshalb Rat 106 Zur Unterscheidung von öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch vgl. Kant, Was ist Aufklärung? AA 8/35 ff. 107 Vgl. V. Gerhardt, Der Thronverzicht der Philosophie; Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant; in: O. Höffe (Hg.), Klassiker Auslegen, Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Berlin 1995, S. 171–193. 108 Vgl. J. Burckhardt, der sich hier ausdrücklich auf eine nicht näher bezeichnete Stelle bei Schlosser beruft; Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1938, S. 36, 97, 139.
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sucht, ist gefährlich, sondern derjenige, der glaubt, als Philosophenkönig keine Defizite zu haben und deshalb nicht nur jeden Rat ablehnt, sondern jede Form der Beratung unmöglich macht, weil er sich ja im Besitz der Wahrheit wähnt.109 Modern gesprochen sieht Kant das Problem darin, dass aus Philosophen Ideologen werden, sobald sie mit dem Anspruch, als Philosophen zu regieren, die Macht erlangen und damit, möglicherweise ohne es zu merken, das freie Urteil und ihre genuin philosophische Perspektive verlieren. Dies ist ein direkter Angriff auf Schlossers These, es gäbe eine „Classe“ von Philosophen, die Macht und Weisheit vereinen könnten: Die Philosophie taugt nicht zur Herrschaft, sie kann aber über die Beratung dem Regierenden sehr wohl tauglich sein. Deshalb ist es nicht nur nicht zu erwarten, sondern auch keinesfalls zu wünschen, dass Könige als Könige philosophieren oder Philosophen als Philosophen herrschen. Stellt man die platonische Utopie als Handlungsanweisung für die Politik in die Realität, löst man sie also von ihren experimentalphilosophischen Ansprüchen, so erstarrt sie zu einer monströsen Despotie. Hiermit haben dann Platon-Kritiker wie Popper leichtes Spiel. Demgegenüber stellt gerade der ‚7. Brief‘ eine Realisierung der politischen Philosophie als Wissenschaft von der Politik dar. Platon verlässt hier die reine Theorie des Politischen, indem er den theoretischen Vorbehalt des als ob aufgibt, um sich dem Wagnis einer philosophisch orientierten, aber pragmatisch ausgerichteten Politikberatung zuzuwenden. Platon wendet sich der Politik zu, er reist als politischer Berater nach Syrakus. Bezeichnend ist, dass die genannten Gründe für diesen Wechsel und das damit verbundene mutige Engagement Platons selbst nicht nur politisch, sondern weitgehend philosophisch motiviert und begründet waren.110 Das Desaster der Syrakus-Expeditionen zeigt, dass der Philosoph Platon zwar mit Besonnenheit, einem starken Sinn für Gerechtigkeit und im hohen Maße mit Tapferkeit ausgestattet war, jedoch seine Fähigkeit zur Ausübung der vierten Kardinaltugend, der Klugheit und insbesondere der mit ihr eng verbundenen Urteilskraft im Spannungsfeld der Politik als unterentwickelt bezeichnet werden muss. Und er hatte die Größe dies nicht nur zu sehen, 109 Das Problem der Beratung des Regenten diskutiert Platon im ‚Politikos‘ (vgl. Polit. 259a ff.). Vor ähnlichen Problemen steht die politische Philosophie Leonard Nelsons (1882–1927). Nelson, der gern fälschlich zu den Kantianern gerechnet wird, fordert in diesem Punkt aber eine reine Philosophenherrschaft und zeigt sich weitaus weniger politischen Argumenten aufgeschlossen als Platon. 110 Platon weist in seinem Rechenschaftsbericht darauf hin, dass die Philosophie nicht nur ein Lehrfach, sondern eine Form der Lebensführung ist, die er verraten würde, wenn er nicht versuchte, mit seiner Theorie ernst zu machen (vgl. Ep. VII 328b–e).
Das Geheimnis des zweiten Zusatzes
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sondern sogar öffentlich einzugestehen. Platon versteht es weder die Gunst der Stunde noch die Charaktere der Akteure, deren Motive und Handlungsspielräume richtig einzuschätzen, weshalb er falsch handelt. Er unterschätzt Kabalen, überschätzt seinen Einfluss und missdeutet Entwicklungen, Chancen und Risiken, ohne die Folgen abschätzen zu können. Wer sich, wie Max Weber sagt, „mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mittel [. . .] einlässt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt,“ darf nicht glauben, „dass aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne, sondern oft das Gegenteil. Wer das nicht sieht, ist in der Tat politisch ein Kind“.111 Als philosophischer Politikberater hat Platon versagt – und er weiß das, was seine Reflexionen zu den Syrakus-Expeditionen in seinem Spätwerk, den ‚Nomoi‘, eindrucksvoll zeigen.112 Das praktische Können, die Kunst der Politik, die sich bereits im Dialog ‚Politikos‘ als wichtige Kraft zeigte, erfährt in den ‚Nomoi‘ eine kaum zu überschätzende Aufwertung. Der weise Athener der ‚Nomoi‘ wird im Gespräch mit den Dialogpartnern zum Politikberater der kretischen Staatsgründer und Politiker. Gerade wegen der tragisch gescheiterten Versuche, Philosophie und Politik in der Praxis zusammenzuführen – die historischen Misserfolge reichen von Platon und Dionysios über Aristoteles und Alexander, Seneca und Nero bis zu Voltaire und Friedrich; oder heute die marginale Rolle des Chief Scientific Adviser des britischen Premiers oder des deutschen Ethikrates –, ist Schlossers und Kants grundsätzliche Frage berechtigt, ob dieses Scheitern in der Politik ein der Philosophie immanentes Problem darstellt. Ohne politische Macht wird der Philosoph zum marginalen Ratgeber, dessen Anhörung allein vom guten Willen des Politikers abhängt. Mit politischer Macht ausgestattet verliert er aber seine Rolle als Philosoph. Philosophen wie Russell oder Sartre hatten aufgrund ihrer Akzeptanz als moralisches Gewissen der Öffentlichkeit eine gewisse politische Rolle als Philosophen gespielt, die aber von ihrer Medienwirksamkeit und damit im besonderen Masse von ihrer Persönlichkeit abhing. Anders als beispielsweise ein Bischof, der sich öffentlich zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs äußert, und dies als anerkannter Würdenträger einer weltweit agierenden Institution tut, hat es der Philosoph schwerer, sich überhaupt nur Gehör zu verschaffen. Zumal komplizierte Antworten auf einfache Fragen noch nie sonderlich populär waren. Schlosser setzt auf eine wahre (platonische) Philosophie und die Möglichkeit, dass der Philosophenkönigssatz realisierbar ist. Kant sieht einen 111
Weber, Politik als Beruf, a. a. O., S. 554. Vgl. Nomoi 709a–712b. Hier werden in Erweiterung zu 7. Brief und Politikos als Parameter der Politik Gott (ffieüò), Zufall (tŸxh), Gelegenheit (xairüò) und die menschliche Geschicklichkeit (tÍxnh) genannt, wobei nur letztere in der Hand der Menschen liegt. 112
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Ausweg aus der prekären Lage durch eine Arbeitsteilung zwischen regierenden Politikern und philosophischer Politikberatung: „Dass aber Könige und königliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Völker die Classe der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, ist Beiden zu Beleuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich“ (AA 8/369).113 Hier ist der Platonkritiker Kant platonischer als der Platoniker Schlosser. Gelöst ist damit das Problem aber noch lange nicht.
113 Zum Verhältnis von Königen und königlichen Völkern vgl. W. Schneiders, Philosophenkönige und königliche Völker, Modelle philosophischer Politik bei Platon und Kant, in: Filosophia Oggi 4/1981, S. 165–175.
Theorie und Temperament: Was bleibt vom politischen Denken Isaiah Berlins? Von Jan-Werner Müller „Ich bin kein sehr politischer Denker.“ Isaiah Berlin in einem Brief an seinen Vater Mendel aus den dreißiger Jahren
Nach Isaiah Berlins Tod im November 1997 mischten sich unter die vielen bewundernden Nekrologe auch leise Vermutungen, Berlin habe nicht in erster Linie durch Theorien, sondern durch sein Temperament gewirkt. Das eigentliche Erbe Berlins lasse sich nicht weitervererben – wer ihn nicht gekannt habe, könne auch die liberale Sensibilität, welche der große Konversationskünstler Berlin verkörperte, nicht nachfühlen. Der Mann, der sich wie kein anderer in die Gedankenwelt auch der bizarrsten Gestalten der europäischen Ideengeschichte hineinversetzen konnte – aber eine Einladung ablehnte, mit John Rawls ein Seminar über Liberalismus abzuhalten – sei selber kein origineller Denker, sondern nur eine Art Bauchredner für brillante Antiliberale gewesen. Dieser Verdacht ist mittlerweile verstärkt von amerikanischen und vor allem auch deutschen Philosophen geäußert worden, die Berlin zwar als politischen Schriftsteller gern lesen, aber nicht als politischen Theoretiker anerkennen. Berlin erscheint aus dieser Sicht als ein großer Geschichtenerzähler, oder vielleicht besser Ideengeschichtenerzähler, oder, besser noch: als ein „Paganini der Ideen“, wie Michael Oakeshott einmal spottete. Dieser Essay unternimmt den strukturierten, wenn auch nicht systematischen Versuch, Berlins Erbschaft als politischer Denker zu sichten. Dabei lasse ich gerade das beiseite, was zu Berlins Lebzeiten noch am offensichtlichsten als einflussreicher Beitrag zur politischen Theorie gelten musste: Berlins Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit. Es kann kein Zweifel bestehen, dass diese Unterscheidung – so unscharf sie in Berlins ursprünglichem Aufsatz von 1958 auch scheinen mag – eine wichtige und noch immer währende Debatte ausgelöst hat. Gleichzeitig gilt jedoch, dass analytische Ansätze sowohl von liberalen als auch republikanischen
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Theoretikern diese Debatte so weit vorangetrieben haben, dass Berlins eigener Beitrag kaum noch eine Rolle spielt.1 Statt also nach Theoriefragmenten im engeren Sinne in Berlins Oeuvre zu suchen, möchte ich vor allem die eingangs schon näher beschriebene liberale Sensibilität Berlins näher beleuchten. Meine These ist, dass die liberale Gefühlshaltung – geprägt von Generosität, Einfühlungsvermögen und Skeptizismus – welche Berlin am eigenen Beispiel vorlebte, auch eine Lücke in seinem politischen Denken schloss: Sie war zwar keine stringente theoretische Antwort auf die Aporien von Berlins Wertepluralismus, aber sie stellte praktisch eine Disposition zur Schau, welche Wertepluralismus sowohl schätzenswert als auch politisch lebbar machte. Ich möchte allerdings noch einen Schritt weitergehen: Theorie, Temperament und Ideengeschichte, so scheint es zumindest im Rückblick, waren notwendige Teile eines Versuchs, Liberalismus und eine liberale politische Kultur neu zu denken. Anders als viele andere liberale Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, ließ Berlin eine durchaus ambivalente Haltung zur liberalen Moderne erkennen. Diese Ambivalenz drückte sich vor allem in Berlins Gedanken zu Aufklärung und Gegenaufklärung aus. Sie gab aber gleichzeitig eine ganze Reihe von Anstößen, Liberalismus auf neue, „postromantische“ Weise zu denken und in dieser Hinsicht noch über den bereits von der Romantik beeinflussten Liberalismus eines John Stuart Mill hinauszugehen. Gleichzeitig mussten diesem post-romantischen, toleranten, sich für Antiliberales öffnenden und deshalb auch immer gefährdeten Liberalismus klare praktische (und moralische Grenzen) gezogen werden. Aus diesem Bedürfnis ergab sich Berlins Option für einen praktischen politischen Liberalismus, der sich vor allem auf die Vermeidung von Übeln konzentrierte. Dieser „negative Liberalismus“, von der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Judith Shklar auch einmal als „Liberalismus der Furcht“ bezeichnet, war Berlins Antwort auf die Frage nach der Ethik politischen Handelns in einer Moderne, welche unvermeidlicherweise von tiefen Wertekonflikten geprägt sein musste.2 Entscheidend war letztlich, eine liberale Disposition und vor allem politische Urteilskraft zu kultivieren – ohne dass dieser Liberalismus der Furcht durch philosophische oder auch politische Fundamente 1 Siehe vor allem Philip Pettit, Republicanism: A Theory of Freedom and Government (Oxford: Oxford University Press, 1997), der im Zuge der Renaissance des Republikanismus am stringentesten mit Berlins Konzeption „negativer Freiheit“ gebrochen hat. 2 Judith Shklar, The Liberalism of Fear, in: Nancy L. Rosenblum (Hrsg.), Liberalism and the Moral Life (Harvard University Press, 1989). Siehe auch den ausgezeichneten Aufsatz von Jonathan Allen, The Place of Negative Morality in Political Theory, in: Political Theory, No. 3 (2001).
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dauerhaft garantiert werden konnte. Liberalismus war eine politische Kultur, eine Lebensform, von liberalen Temperamenten geprägt und sie prägend – und keine systematische Theorie. I. Krieg der Götter, Konkurrenz der Güter Bekanntlich begann Berlin sein wissenschaftliches Leben als analytischer Philosoph. Laut seines Biographen hatte er jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg eine geradezu existenzielle Bekehrung zur Ideengeschichte. Auf einem Transatlantikflug – ohne Druckausgleich in der Kabine, in fast völliger Dunkelheit – soll er sich entschlossen haben, endlich etwas Bleibendes zum menschlichen Wissen beizutragen.3 Er wollte sich einer Disziplin verschreiben, bei der man hoffen konnte, am Ende seines gelehrten Lebens etwas mehr zu wissen als am Anfang. Die Oxforder analytische Philosophie eines A. J. Ayer oder eines Gilbert Ryle, mit der Berlin geistig groß geworden war, erschien plötzlich nicht nur als steril, sondern als etwas rein Destruktives. Beigetragen zu dieser intellektuellen Konversion hatte sicherlich auch Berlins Tätigkeit für das britische Außenministerium in Washington während des Zweiten Weltkriegs. Auf eine ganz natürliche Art lernte Berlin hier politische Urteilskraft und Realitätssinn – im Gegensatz zu reiner gelehrter Intelligenz – zu schätzen. Den Nachkriegs-Berlin theoriefeindlich zu nennen, wäre sicherlich übertrieben. Aber sogar seine am ehesten philosophische These – dass es einen „objektiven Pluralismus“ menschlicher Werte gebe – ist nie vollständig als Theorie ausformuliert worden. Berlin hat immer wieder auf die Idee angespielt, dass Werte, die allgemein als erstrebenswert angesehen werden, nicht alle miteinander kombinierbar seien. Oder, um Berlins berühmt gewordenes Gleichnis zu bemühen: Die vollkommene Freiheit der Wölfe ist nicht mit der uneingeschränkten Freiheit der Lämmer kompatibel. Oft sind Werte auch nicht einmal vergleichbar, da es keinen gemeinsamen Standard gibt, an dem sie gemessen werden könnten – sie sind also nicht kommensurabel. Gleichzeitig sind sie – das betonte Berlin immer wieder – objektiv, von Menschen individuell zu wählen und in ihrer Zahl begrenzt.4 Ähnlich wie Max Weber war Berlin auf die harte Einsicht gestoßen, dass viele Werte auf ewig miteinander im Widerstreit liegen würden. Aber ob3
Michael Ignatieff, Isaiah Berlin: A Life (London: Chatto & Windus, 1998), 131. Dass der objektive Wertepluralismus als Grundlage für einen politisch verstandenen Liberalismus viel zu kontrovers und metaphysisch sein könnte – darauf hat vor allem Charles Larmore hingewiesen. Siehe The Morals of Modernity (Cambridge: Cambridge University Press, 1987). 4
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wohl Berlin die Implikationen des Wertepluralismus zweifelsohne für tragisch hielt (und auch wiederholt so genannt hat), findet sich doch bei ihm so gut wie kein Weber’sches (oder gar nietzscheanisches) Pathos: Im Zweifelsfall sprach Berlin von einem Wettbewerb von attraktiven, aber inkompatiblen menschlichen Gütern und Zielen. Berlin hat die These vom Wertepluralismus nie in einem direkt philosophischen oder gar analytischen Text dargelegt. Im Gegenteil, er hat diese These immer bei anderen – wie zum Beispiel Machiavelli und Montesquieu – gefunden und dann auf subtile Weise unterstützt. Schenkt man Berlin Glauben, scheint es fast so, als sei die tragische Einsicht in den Wertepluralismus immer wieder im großen Ideenstrom des europäischen Denkens aufgetaucht – und dann wieder untergegangen. Ein konsequenter Wertepluralismus wurde, so könnte man vermuten, von vielen Philosophen als vielleicht gar nicht lebbar angesehen, oder schien zwangsläufig in Relativismus, Nihilismus und praktisch in Resignation oder Dezisionismus zu führen. Zweifelsohne hat Berlin diese Furcht auch beschlichen, doch seine Versuche, Wertepluralismus von Relativismus abzugrenzen, blieben zumeist unscharf. Monismus – das Gegenteil von Wertepluralismus – war eine so starke Versuchung, gerade weil Wertepluralismus sich so schwer gedanklich aushalten oder gar leben ließ. Berlin hat allerdings mehrmals versucht, mit Hilfe des Begriffs „menschlicher Horizont“ einen legitimen Pluralismus von Werten, eingehegt von moralisch verbindlichen Normen, gegenüber verwerflichen Ideologien abzugrenzen, welche vom „objektiven Pluralismus“ nicht mehr gedeckt sind.5 Was sich jenseits dieses „menschlichen Horizonts“ abspiele, so Berlin, sei nicht nur verwerflich, sondern menschlich gar nicht mehr verständlich. Die Grundannahmen einer philosophischen Anthropologie, auf die sich Berlin hier stillschweigend bezog, wurden allerdings nie ausbuchstabiert. Zumal ließ sich aus manchen Äußerungen Berlins folgern, dass sich auch das Verständnis menschlicher Natur historisch entwickelt, und deshalb keinen ewig gültigen Maßstab darstellt. Aber es blieb auch hier bei Andeutungen. II. Ein liberales Leiden an der Aufklärung Mir scheint, Berlin habe seine Wertepluralismusthese aus dem Denken von so genannten „Gegenaufklärern“ gewonnen – und diese These gleichzeitig am Gegensatz von Aufklärung und Gegenaufklärung exemplifiziert 5 Es liegt nahe, diese Unterscheidung zwischen menschlichem Horizont und Wertepluralismus im Sinne der bekannten Trennung von „moralisch“ versus „ethisch“ zu verstehen. Siehe auch Hans Joas, Die Entstehung der Werte (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1999).
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gefunden. Gegenaufklärung im weitesten Sinne war für Berlin nicht einfach Konservatismus oder Reaktion, wie dies eine flüchtige Lektüre für viele Interpreten nahe gelegt hat. Die Aufklärung mit ihrem esprit de système stand bei Berlin vor allem für die Theoreme „normativer Eindeutigkeit“ und „notwendigen Fortschritts“, um Peter Vogts glückliche Begriffswahl aufzunehmen.6 Die Gegenaufklärung verneinte nicht nur die Idee, dass normative Fragen prinzipiell, objektiv, eindeutig und auf ewig gültig zu beantworten seien. Sie verneinte auch mit Herder nicht nur die Idee, dass eine kulturelle Lebensform allen anderen überlegen sei. Sie warb vor allem auch für eine ganze Reihe von alternativen Werten, Lebens- und Gefühlsformen. Diese waren zumindest mit der Art rationalistischer Aufklärung, wie Berlin sie beschrieb, inkompatibel – aber gleichzeitig stellten sie doch genuine menschliche Ideale und Möglichkeiten dar.7 Auch wenn Berlin sich nicht scheute, einige Gegenaufklärer wie zum Beispiel Joseph de Maistre als Vorläufer des Faschismus zu bezeichnen, war doch seine Sympathie für Gedankenmuster des romantischen Individualismus unverkennbar. Berlins viel gerühmtes Einfühlungsvermögen ging denn auch soweit, dass Kritiker ihn als eine Art Bauchredner der Gegenaufklärer wahrgenommen haben. Sein eigener Liberalismus, so moniert zum Beispiel Mark Lilla, sei letztlich von illiberalem Gedankengut kontaminiert worden.8 Zwar hätten Herder, Vico and allerhand mehr oder weniger skurrile romantische Figuren seine Pluralismusidee unterstützt, doch diese seien weniger liberale Romantiker gewesen, welche die kulturelle Vielfalt der Welt zu schätzen wussten, als vielmehr antiliberale, relativistische Wölfe im Schafspelz. Auch die sanftesten Wölfe, so Lilla, hätten keine nützlichen Lektion für die liberalen Lämmer – außer, dass man sich vor ihnen in Acht nehmen müsse. Berlins Verhältnis zur Romantik war außerordentlich komplex.9 Wäre das Wort nicht so vollkommen unangemessen, könnte man sagen, die Romantik sei sein eigentlicher „Forschungsschwerpunkt“ gewesen. Es ist kein Zufall, dass die große ideengeschichtliche Synthese, welche Berlin am Ende seines Lebens schreiben wollte (und welche unvollendet blieb), der Romantik gewidmet war. Berlin schätzte nicht nur die romantische Betonung menschlicher Kreativität. Er begeisterte sich auch für die quasi-romantische Fähig6
Peter Vogt, Pragmatismus und Faschismus: Kreativität und Kontingenz in der Moderne (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2002), 258. 7 Charles Taylors Sources of the Self lässt sich vor allem als Differenzierung dieser sehr schematischen Berlin’schen Gedanken lesen. Siehe Charles Taylor, Sources of the Self (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1989). 8 Vgl. Lillas Beitrag in Mark Lilla, Ronald Dworkin und Robert Silvers (Hrsg.), The Legacy of Isaiah Berlin (New York: New York Review Books, 2001). 9 Siehe vor allem Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, Hrsg. Henry Hardy (London: Pimlico, 2000).
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keit, wie sein „intellektueller Held“ Alexander Herzen philosophische Widersprüche und scheinbar inkompatible Gefühlslagen auszuhalten. Die – in Berlins Augen – Einseitigkeit und der rationalistische Absolutismus der Aufklärung verlangten geradezu nach einer romantischen Reaktion, welche Gefühl und die Anerkennung und das Ertragen philosophischer Widersprüche rehabilitierte. Entscheidend ist hier nicht, ob Berlins Charakterisierung der Romantik als ganze so haltbar ist (sie ist es sicher nicht). Entscheidend ist vielmehr, dass Berlin bei den von ihm als Romantikern identifizierten Denkern eine Grundidee übernahm, die er als objektiv wahr erachtete: Die Idee des Menschen als eines sich zumindest teilweise selbst schöpfenden Wesens, das sein Selbst in ungeheuer vielfältiger Weise auszudrücken, an verschiedene Werte zu binden und damit zu verwirklichen vermag. Wenn der Wertepluralismus eine objektive Wahrheit ist, dann konnte die Einsicht in ihn nicht falsch sein, nur weil romantische Gegenaufklärer sie verbreiteten. Die Romantik war aber noch in einer zweiten Hinsicht für Berlin wichtig: Der Romantik ließen sich genuin wertvolle menschliche Möglichkeiten, Lebensformen und Werte abgewinnen, welche mit einer normativ vereindeutigten und fortschrittsfixierten Aufklärung unvereinbar waren. Damit fiel für Berlin auch die Barriere für eine Art kleinen Grenzverkehr in Gedanken und Gefühlen zwischen Liberalismus und illiberaler oder gar antiliberaler Romantik. Die Frage, ob dieser Austausch eine Art von Nullsummenspiel werden musste, oder ob sich Aufklärung und Romantik nicht auch ohne Verluste gegenseitig bereichern konnten, ließ Berlin allerdings offen. Eins stand jedoch fest: Der kleine philosophisch-moralische Grenzverkehr basierte auf der wertepluralistischen Einsicht, dass auch ein perfektes liberales und völlig aufgeklärtes Gemeinwesen nicht ohne unwiederbringliche und tragische Verluste an genuin wichtigen und attraktiven menschlichen Zielen und Gütern zu haben sei. Mit anderen Worten: Sogar in einem Gemeinwesen, das sich der individuellen Freiheit verschrieben hatte und theoretisch eine ungeheure Vielfalt von dem erlaubte, was John Stuart Mill „Lebensexperimente“ nannte, würde es objektive Verluste an genuin menschlichen Möglichkeiten geben. Da lag der Gedanke nahe, dass sich diese Verluste zumindest minimieren ließen, indem man zumindest teilweise illiberales oder gar antiliberales Gedanken- und Gefühlsgut in liberale Lebensformen zu integrieren versuchte. Berlin war vielleicht weniger ein (systematischer) Denker des Liberalismus, als ein Vordenker (und Vorfühler) der Liberalisierung. Berlin hat die antiutopische Pointe, dass es schlicht kein vollkommenes Gemeinwesen ohne genuine Verluste geben könne, immer als eine zwingende philosophisch-begriffliche Einsicht – keine empirisch-historische –
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ausgegeben. Es ist aber nicht unplausibel, hinter dieser These auch einen Schuss von Kulturpessimismus zu vermuten. Berlin glaubte sehr wohl zu wissen, dass liberale Gesellschaften eben nicht so leicht kreative Ausnahmemenschen wie Herzen, Turgenev oder andere von Berlin bewunderte Russen hervorbrachte. Mehr noch: Gerade die romantischen Ressentiments gegenüber der Aufklärung hatten vor allem die deutschen Romantiker zur Kreativität angefeuert. Berlin kannte – und schätzte – das deutsche Wort „Zerrissenheit“. Zweifelsohne war Berlin selbst zerrissen zwischen einem traditionellen, sehr empirisch ausgerichteten Liberalismus und einem Romantizismus, der sich nicht immer deutlich von Spielarten der Lebensphilosophie unterscheiden ließ. Berlin schrieb sogar gelegentlich von seinen zwei „Ichs“. In Briefen aus den Jahren 1933 und 1934 zum Beispiel schildert Berlin, wie ihn bei einem Besuch in den Niederlanden Schrecken oder geradezu Panik ergreift: Die perfekt liberale, befriedete Gesellschaft ist einerseits ein Paradies auf Erden, andererseits ist es gerade die Erkenntnis seiner inneren Verwandtschaft mit einer solchen liberalen Welt, welche Berlins „anderes Ich“ in Schrecken versetzt. Insbesondere die Beobachtung, dass es in dieser quasiviktorianischen Gesellschaft an jeglicher „Bewegung“ und damit wohl an jeglicher Vitalität fehlte, ließ Berlin erschrecken. Später schrieb er über seine Eindrücke der USA an die Eltern: „. . . dieses Land ist ohne Zweifel die größte Ansammlung grundsätzlich wohlmeinender Menschen, die es je gab, aber der Gedanke hierzubleiben ist nach wie vor ein Alptraum“.10 Lebendigkeit und Liberalismus müssen offenbar nicht zusammengehen. Berlin fürchtete gar – darin Nietzsche nicht nachstehend – dass eine vollkommen liberale Welt sich auch als eine vollkommen langweilige Welt erweisen könnte. Und es war wohl nicht zuletzt aufgrund dieser Furcht vor einer Gesellschaft letzter Menschen, dass Berlin dem antiliberalen Romantizismus ein wenig Land für den Liberalismus abtrotzen wollte.11 Berlin war, so könnte man in Anspielung auf seinen von Schiller inspirierten VerdiAufsatz sagen, kein „naiver“, sondern ein „sentimentalischer“ Liberaler.12 Mit anderen Worten: Er war kein Denker, der direkt und optimistisch Liberalismus propagierte, eins mit seinen Überzeugungen, sondern ein Philosoph, der schon um das tragische Scheitern vieler liberaler Ideen und die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts wusste. Berlin beschrieb seine 10 Isaiah Berlin, Flourishing: Letters 1928–1946, Hrsg. Henry Hardy (London: Chatto & Windus, 2004), 47 und 79. 11 Siehe auch Henning Ritter, Liberales Pathos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.1998. 12 Isaiah Berlin, The ‚Naïveté‘ of Verdi, in: Against the Current: Essays in the History of Ideas, Hrsg. Henry Hardy (Oxford: Oxford University Press, 1981).
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liberale Haltung einmal als „existentiell“ – aber dies konnte nicht davon ablenken, dass er auch immer ein wenig neben sich zu stehen schien, wenn er den Liberalismus verteidigte. Zusammenfassend gesagt: Berlin versuchte sich an einer Fusion zwischen Liberalismus und Lebensphilosophie, oder zumindest zwischen Liberalismus und Romantizismus. Er stellte sich damit in die Tradition Wilhelm von Humboldts und John Stuart Mills, welche ebenso wie Berlin Vielfalt, Komplexität, Exzentrizität und sogar Vitalismus gepriesen hatten.13 Nur waren sich Humboldt und Mill eben noch nicht des Wertepluralismus und seiner tragischen Folgen bewusst, so wie Berlin es war. Berlins Ziele waren jedoch nicht nur ästhetisch, wie es den Anschein haben kann; sie waren auch politisch. Er glaubte, eine liberale Lebenswelt durch präventive Annektionen von illiberalen Gefühlen und Gedanken vor einem wirklichen Antiliberalismus schützen zu können. Berlin versuchte denn auch stets in einem bewussten und nicht ungefährlichen Balanceakt, jeglichen Umschlag von liberalem Romantizismus in genuin anti-individualistische oder organische politische Ideologien abzuwehren. Zu diesem Zweck betonte er immer wieder seinen unverbrüchlichen Glauben an die individuellen Menschenrechte – ohne auch dies jedoch theoretisch weiter zu untermauern.14 Zwar schienen Menschenrechte und „menschlicher Horizont“ zusammenzugehören; doch wie spezifisch dieser „Horizont“ Rechte definierte, blieb unklar. Darüber hinaus musste in Berlins Augen ein vitalistischer Liberalismus mit einer gewissen Mäßigung verfolgt werden – so paradox dies klingen mochte. Auch hier war Herzen Vorbild: Der russische „Revolutionär ohne Fanatismus“ ließ sich von seinen Gefühlen nicht weniger als von seinen Gedanken leiten.15 Aber niemals verfolgte Herzen seine revolutionären Ziele mit Rücksichtslosigkeit; und niemals ließ er sich auf die Überlegung ein, Einzelne auf der Schlachtbank der Geschichte für ein nobles Ziel zu opfern. Berlin empfand denn auch eine Abneigung gegen jegliche Variante von politischem Ingenieurswesen, in dem Individuen für Ideensysteme oder eine verheißungsvolle Zukunft aufgebraucht werden konnten. In diesem Sinne war auch nicht der Holocaust, sondern Stalins Gulag das paradigmatische Übel des zwanzigsten Jahrhunderts.16 13 Weitergedacht hat in diesem Sinne Nancy L. Rosenblum, Another Liberalism: Romanticism and the Reconstruction of Liberal Thought (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1987). 14 Die einzigen Versuche gingen, wie oben betont, in die Richtung einer Formulierung des „menschlichen Horizonts“. 15 Isaiah Berlin, A Revolutionary without Fanaticism, in: The Power of Ideas, Hrsg. Henry Hardy (London: Chatto & Windus, 2000).
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III. Berlins Ethik politischen Handelns Mäßigung, Bescheidenheit und was Berlin „Realitätssinn“ nannte, wurden somit zu Richtlinien politischen Handelns in einer unvermeidlich pluralistischen Welt.17 Toleranz für die letztlich nicht rational rechtfertigbaren Entscheidungen anderer war in dieser pluralistischen Welt ebenso geboten wie ein Bewusstsein, dass alle Entscheidungen – auch die besten – zu genuinen Verlusten führen würde. Ständiges vorsichtiges moralisches Abwägen; politischer, an Geschichte geschulter Instinkt; ein Vertrauen auf empirisch gesichertes Wissen – so oder ähnlich stellte sich Berlin offenbar einen guten Politiker und in gewisser Weise auch den guten Bürger vor. Auf der anderen Seite galt: Jeglicher Versuch, Komplexität, Kontingenz und die tiefen Konflikte der Moderne auszublenden oder gar ein für allemal abzuschaffen, würde im Zweifelsfall in politischen und moralischen Katastrophen enden. In seiner Konzeption politischer Praxis war Berlin Edmund Burke oder Michael Oakeshott oft näher als den meisten Liberalen im zwanzigsten Jahrhundert. Sozialdemokratische „Planung“ war für ihn schlichtweg eine Form von politischer Hybris und erinnerte schon gefährlich an Stalins Wort von den „Ingenieuren der menschlichen Seele“, auf das sich Berlin oft bezog. Was zählte waren weniger die richtigen Daten oder Theorien aus den Sozialwissenschaften, als die richtige Disposition des Staatsmannes. Berlins politischem Denken, so dürfte deutlich geworden sein, wäre mit der Bezeichnung „elitär“ nicht immer Unrecht angetan. So galt: Liberale Politik konnte man denken, aber liberales politisches Handeln ließ sich nicht eigentlich theoretisieren – man brauchte Talent oder ein Lernvermögen, das sich auf eine politische éducation sentimentale erstreckte. Daher rührte denn auch Berlins ausgeprägte Abneigung gegen die Sozialwissenschaften und gegen einen auf die Untersuchung von Regelmäßigkeiten oder gar Gesetzen im menschlichen Leben fixierten amerikanischen Positivismus im Besonderen. Gleichzeitig war diese bewusste Abgrenzung von „politischem Rationalismus“, oder was Berlin einmal als rationalist obscurantism bezeichnete, so wiederum nur in der Moderne denkbar. Erst in bewusster Reflexion über den (falschen) monistischen Geist der Aufklärung, der sich eben auch in allerlei Glücksversprechen – nicht zuletzt der Sozialwissenschaften und des gesellschaftlichen Ingenieurswesen – ausdrückte, hatte Berlin seine Idee von politischer Praxis gewonnen. Berlins Maximen praktischer Vernunft stehen auf den ersten Blick recht unvermittelt neben dem Wertepluralismus und seinem Versuch, Liberalis16 17
Ignatieff, Isaiah Berlin, 123. Isaiah Berlin, Realism in Politics, in: The Power of Ideas.
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mus und Romantizismus zu verbinden. Sicherlich kann man argumentieren, dass die Konflikte, welche sich notwendigerweise aus einer Pluralität von Werten ergeben, am besten in einem liberalen Gemeinwesen ausgetragen werden können. Aber zwingend war dieser normative Schritt – zumindest in Berlins eigenem Gedankensystem – nicht. Berlin selber gab denn auf Nachfragen auch zu, dass Liberalismus nicht notwendigerweise aus Wertepluralismus folgen müsse.18 Ebenso folgten seine praktischen Handlungsanweisungen nicht einfach aus Wertepluralismus oder sogar aus einem ganz allgemein gehaltenen Liberalismus an sich. Berlins Politikmotto (und, nicht zuletzt, Lebensmotto) pas trop de zèle schien jeglicher philosophischer Fundamente zu entbehren.19 Nichtsdestotrotz, so scheint mir, sind Wertepluralismus, romantischer Liberalismus und praktische liberale Vernunft nicht einfach zufällige Berlin’sche Ideale und Intuitionen. Im Gegenteil, sie ergänzen sich wie folgt (ohne dadurch eine systematische Philosophie zu ergeben): Der romantische Liberalismus Berlin’scher Prägung kommt dem Wertepluralismus so weit wie (moralisch) möglich entgegen; der Staatsmann wiederum, mit seiner sorgfältig kultivierten praktischen Vernunft, wacht über eine liberale Gesellschaft, in der „Lebensexperimente“ auch außer Kontrolle und ins Antiliberale umschlagen können. Und der hermeneutisch versierte Ideenhistoriker bewahrt die Exzentrizitäten, die verlorenen romantischen Ideale, sozusagen die lost causes der Menschheit, und kultiviert gleichzeitig in seinen Lesern die Einfühlungs- und letztlich auch die politische Urteilskraft. Der Ideenhistoriker, so könnte man sagen, ist der wertepluralistisch agierende Archivar der Menschheit – aber auch ein privilegierter politischer Pädagoge eines Gemeinwesens, das sich einem „sentimentalischen Liberalismus“ verschrieben hat. Und nicht zuletzt ist der Ideenhistoriker Berlin’scher Prägung auch politischer Psychologe, welcher den Staatsmann für Kontexte sensibilisieren und ihm intuitive Einsichten verschaffen kann, die den Sozialwissenschaftlern für immer verborgen bleiben.20 Berlins liberale politische Handlungsanleitungen waren auch immer ein Liberalismus für höhere Beamte. Eine Gefahr besteht sicherlich darin, dass hier Politik – und Geschichte – fast vollständig psychologisiert werden. Politisches Wissen wird fast ausschließlich als historisch gewonnene Selbsterkenntnis formuliert. Empirismus steht unvermittelt neben der Forderung nach historisch und psycho18 Siehe zum Beispiel Ramin Jahanbegloo, Conversations with Isaiah Berlin (London: Phoenix, 2000), 44. 19 Ignatieff, Isaiah Berlin, 198. 20 Siehe vor allem Isaiah Berlin, The Divorce between the Sciences and the Humanities, in: Against the Current.
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logisch geschulter staatsmännischer Disposition. Dies kann zu dem Gegenteil dessen führen, was Berlins Wertepluralismus eigentlich nahe legen müsste: den Versuch, auch antiliberales Gedankengut erst einmal zu verstehen (ohne notwendigerweise Verständnis aufzubringen), anstatt es sofort als Gefühlsgut zu deklarieren. Es lassen sich dann alle politischen Phänomene leicht psychologisch erklären und damit auch wegerklären: Auf Institutionen, und sogar auf Ideen, kommt es gar nicht mehr an; das Politische löst sich im individuell oder kollektiv Pathologischen auf. Es ist wohl kein Zufall, dass heute Berlin-Schüler wie Avishai Margalit den islamistischen Terrorismus vor allem psychologisch – als Folge von Demütigung und Entfremdung – deuten.21 Ein weiteres Problem besteht darin, dass gerade eine explizite Verbindung zwischen Wertepluralismus und Liberalismus zu einem übermäßig zaghaften oder gar selbstzufriedenen Liberalismus führt. Wer grundsätzlich zu der Vorstellung neigt, genuin wichtige Güter oder Ideale seien oft inkompatibel, wird immer in Gefahr schweben, bei der Suche nach einer Synthese oder „Balance“ zwischen Werten, Idealen oder auch Rechten zu früh aufzugeben. Diese Kritik an Berlin hat vor allem Ronald Dworkin im Zusammenhang mit dem (in Dworkins Augen nur scheinbaren) Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit geäußert.22 Sie ist aber auch für die gegenwärtige Diskussion über Freiheit und Sicherheit im Rahmen des so genannten „Kriegs gegen den Terror“ relevant.23 Es mag paradox erscheinen: Aber mit Berlins tragischem, für Verluste sensiblem Liberalismus kann man es sich auch zu einfach machen. IV. Berlins Erbe Berlin war ein ambivalenter, wenn nicht gar melancholischer Denker der Moderne.24 Gleichzeitig war es aber gerade diese Ambivalenz, verbunden mit Berlins Fähigkeit, sich in seine intellektuellen Feinde hineinzufühlen, welche seinem Liberalismus eine außerordentliche psychologische und moralische Tiefe verlieh. Berlin hatte wenig Vertrauen in das Menschenbild des klassischen Liberalismus – wie die französischen Moralisten, mit denen 21
Ian Buruma and Avishai Margalit: Occidentalism: The West in the Eyes of its Enemies (London: Penguin, 2004). 22 Siehe Dworkins Beitrag in The Legacy of Isaiah Berlin. 23 M. E. lässt sich zum Beispiel Michael Ignatieff in seiner Antiterror-Ethik vom Wertepluralismus in die Irre führen. Siehe Michael Ignatieff, The Lesser Evil: Political Ethics in an Age of Terror (Princeton: Princeton University Press, 2004). 24 Siehe auch Ira Katznelson, Isaiah Berlin’s Modernity, in: Social Research (Winter 1999), der Berlins Sensibilität für die Ambivalenz der Moderne vor allem auf Berlins Erfahrungen als lettisch-englischer Jude zurückführt.
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Avishai Margalit ihn zu recht verglichen hat, sah Berlin stets eine komplexe Gefühlsmechanik am Werk – statt des simplen Motors des rationalen Eigeninteresses, der laut Hobbes und seinen Nachfolgern den Menschen antreibt.25 Dass Berlins komplexe Moralpsychologie wirkliche Erklärungskraft besaß, bewies für viele das Schweigen der liberalen Lämmer angesichts des Nationalismus, den sie nur als irrational und unmoralisch kategorisieren können. Berlin hingegen verstand den Nationalismus, ohne deswegen für alle seine Spielarten Verständnis aufzubringen. Er hielt die offiziellen nationalistischen Ideologien letztlich für sekundär und Nationalismus als kollektive Selbstvergötterung für äußerst gefährlich. Nationale Gefühlsstrukturen und das menschliche Verlangen nach Gemeinschaft und Geborgenheit erschienen ihm aber nicht als illegitim, sondern als eine fast anthropologische Gegebenheit.26 Für Berlin, laut Avishai Margalit ein „instinktiver Zionist“, ging es vor allem darum, dass nur diejenigen, die ein Zuhause haben, sich frei fühlen und frei und spontan ausdrücken können. Berlin, dessen eigenes Leben wohl in kaum einer Weise wirklich tragisch verlief, war nicht heimatlos – aber er verstand, dass die Heimatlosen ständig in Gefahr schweben, ungestraft gedemütigt zu werden. Nationalismus war somit eine legitime Reaktion auf emotionale Wunden und oder auch nur auf stetige Verwundbarkeit.27 So lässt sich zusammenfassen: Berlins tragischer Liberalismus hat nicht einfach die Einsichten Nietzsches und Webers für nüchterne angelsächsische Philosophen domestiziert oder verdaubar gemacht, wie dies manchmal von Kritikern in Kontinentaleuropa moniert wird. Er hat die wohl radikalste, wenn auch nie ausformulierte, These über Wertepluralismus in der Moderne vorgelegt. Er hat einen romantischen Liberalismus am Leben erhalten und bereichert, der sich vor allem auf Vielfalt und Komplexität gründet und vor Kontingenz nicht zurückschreckt. Und er hat einen Denkstil mitgeprägt, bei dem die Vermeidung des schlechten Lebens Vorrang genießt vor der Suche nach dem guten. Im Gegensatz zu den „idealen Theorien“, welche das bestmögliche Gemeinwesen aufgrund eines rationalen Konsenses konstruieren, fragen „negative“ Theorien à la Berlin zuerst, welche politischen und moralischen Übel unter allen Umständen zu vermeiden sind. Nicht persönliche Autonomie, sondern Anständigkeit wird so zum normati25 Dies ist natürlich eine Hobbes-Karikatur – aber es geht hier gerade um unter Antiliberalen verbreitete Klischees über den Liberalismus, nicht um die Geschichte liberalen politischen Denkens. 26 Isaiah Berlin, Nationalism: Past Neglect and Present Power, in: Against the Current. 27 Einen theoretischen Ausdruck haben diese Berlin’schen Ideen gefunden in Yael Tamir, Liberal Nationalism (Princeton: Princeton University Press, 1993).
Was bleibt vom politischen Denken Isaiah Berlins?
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ven Kern eines Liberalismus, der zuerst einen minimalen „Modus Vivendi“ für plurale, sich oft widersprechende Lebensformen finden muss.28 Was den liberalen Bürger auszeichnet, ist demnach auch nicht, dass er souverän über diesen Lebensformen thront, sondern offen bleibt für verschiedene individuelle „Lebensexperimente“ und kollektive Lebensformen. Dies verband letztlich Berlins Ideengeschichte mit seinem Liberalismus und der wertepluralistischen These: Eine ausgeprägte menschliche – und vor allem auch – moralische Vorstellungskraft, Vicos fantasia, und, nicht zuletzt, geistige Großzügigkeit. Besonders der Liberale, so Berlins nie ganz ausformulierte Einsicht, muss sich in andere hineinfühlen können, und dabei doch nie in die Falle von tout comprendre c’est tout pardonner tappen. Es ist wohl nicht zuletzt diese Fähigkeit, welche einem triumphalen Liberalismus wie dem von Francis Fukuyama oder den „idealen Theorien“ von Dworkin abgeht und damit beide als „kalte“ – oder auch „naïve“– Liberale erscheinen lässt, trotz der politischen Welten, die Rechts- und Linksliberale trennen. Doch, so möchte man meinen, nur mit einem tragischen Liberalismus, der für Verluste sensibel ist, können auch Verlierer leben. In einer Zeit, in welcher der Liberalismus vor der Herausforderung steht, kämpferisch, überzeugend und demütig zugleich sein zu müssen, ist Berlins Denken vielleicht aktueller denn je.
Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Princeton. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen A Dangerous Mind: Carl Schmitt in Post-War European Thought (Yale University Press, 2003) sowie, als Herausgeber, Memory and Power in Post-War Europe: Studies in the Presence of the Past (Cambridge University Press, 2002).
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Auch beim Thema Anstand blieb Berlin fast trotzig untheoretisch: „Fragen Sie mich nicht, was ich mit anständig meine. Mit anständig meine ich anständig – wir alle wissen, was das ist.“ Jahanbegloo, Conversations with Isaiah Berlin, 114. Einen Versuch, diesen Berlin’schen Gedanken auszuformulieren, findet sich bei Avishai Margalit, The Decent Society (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1998).
II. Rezensionen
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Sophie van Bijsterveld: The Empty Throne. Democracy and the Rule of Law in Transition, Utrecht 2002 (Lemma Publishers), 378 Seiten. Als höchste Errungenschaft der Zivilisation lobte Francis Fukuyama 1993 die liberale Demokratie. Ihre Prinzipien der Rule of Law, Demokratie und der Menschenrechte seien nicht mehr zu übertreffen und daher das Ende der Geschichte als eines Konzeptes fortschreitender Entwicklung erreicht.1 Zu voreilig, meint Sophie van Bijsterveld. Die genannten drei Prinzipien würden nämlich bisher fast ausschließlich durch Institutionen und Verfahren umgesetzt, die zwar passgenau auf den Nationalstaat zugeschnitten seien, aber nicht ohne Weiteres auf andere Ebenen und Akteure übertragen werden könnten, so die Hypothese. Je mehr öffentlich relevante Entscheidungen nun nicht mehr auf nationaler, sondern internationaler Ebene getroffen werden und nicht mehr nur staatliche Organe, sondern auch Unternehmen, Netzwerke und NGO’s beteiligt sind, desto weniger greifen die bisherigen rechtsstaatlichen und demokratischen Schranken. So drohten die drei Grundprinzipien liberaler Demokratie just auf dem Höhepunkt ihrer nahezu weltweiten Anerkennung bedeutungslos zu werden, wenn es nicht gelänge, sie auf die neuen Akteure, die neuen Formen und Ebenen des Entscheidens zu übertragen. Sophie van Bijstervelds Ziel ist ein „neuer Konstitutionalismus“, der nationale und internationale, staatliche und private, formelle und informelle, individuelle und kollektive Akteure gleichermaßen erfasst und ein Agieren außerhalb der Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten verhindert. Die Autorin, Associate Professor für europäisches und öffentliches Internationales Recht an der niederländischen Universität Tilburg, stellt in den Mittelpunkt ihrer Situationsanalyse einen „leeren Thron“. Sie beschreibt mit dieser Metapher das Fehlen eines zentralen, ultimativen Entscheidungsträgers in der modernen Welt. Nach der Theorie des Rechts- und Nationalstaats sitzt auf diesem Thron das Parlament, das durch seine exklusive Gesetzgebungskompetenz alle öffentlich relevanten Entscheidungen trifft oder reguliert. In den letzten Jahrzehnten jedoch gelinge es dem Parlament nicht mehr, diese Rolle auszufüllen. Immer mehr Normen, die öffentlich relevante Entscheidungen regulieren, würden nicht von der nationalen Legislative getroffen, sondern entstünden auf verschlungenen Pfaden internationaler Verhandlungen. Auf nationaler Ebene hätten die Parlamente von sich aus die Konsequenz aus der Überforderung der Steuerungsfähigkeit des Staates gezogen und delegierten Entscheidungskompetenzen an die Verwaltung, „den Markt“ und nichtstaatliche Organisationen. Das Parlament gebe zwar den Rahmen vor, in dem die neuen Träger entscheiden und oft auch sich selbst regulieren können. Doch die Rahmengesetze seien oft unzureichend bestimmt und räumten erheblichen Ermessensspielraum ein. Auf die konkreten Inhalte öffentlicher Entscheidungen verliere das Parlament zunehmend den Einfluss. Hinzu komme, dass es sich in nie gekannter Abhängigkeit von der Akzeptanz organisierter gesellschaftlicher Gruppen befinde. Sie setzten die politischen und rechtlichen Standards, die dann vom Parlament nur noch formalisiert würden. Den Steuerungsverlust durch formale Gesetze suche der Staat durch den Einsatz neuer, eher unternehmerischer Formen des Regierens, etwa der Vereinbarung und externen Beratung zu kompensieren. Er begebe sich auf eine Ebene mit 1
Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, London 1993.
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den zahlreichen gesellschaftlichen Akteuren. Insgesamt verschwimme die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privat(rechtlichem) Bereich immer mehr; es entstehe eine breite hybride Zone. Zusätzlich dränge der wachsende Wertpluralismus den Staat zum Rückzug; dem Parlament werde eine moralische Führungsrolle abgesprochen. Parallel zum Bedeutungsverlust von Parlament und Nationalstaat orientierten sich die gesellschaftlichen Kräfte neu. Territorial ungebundene Netzwerke entstünden, die selbstgenügsam und nur funktional bestimmt seien. Obschon verfassungsrechtlich weder vorgesehen noch kontrollierbar gelangten sie zu erheblichem Einfluss auf die staatlichen Entscheidungsgremien, die auf das angebotene Expertenwissen nicht mehr verzichten könnten. Diese Problembeschreibung ist nicht neu; van Bijsterveld nimmt den Bedeutungsverlust der nationalstaatlichen Organe als gegeben hin und verzichtet auf ausführliche Belege. Wichtig sind ihr die konkreten Konsequenzen für die demokratischen und rechtsstaatlichen Reglementierungen, die bisher öffentliches Entscheiden wirksam eingehegt und individuelle Freiheit geschützt haben. Sechs solcher Elemente sieht van Bijsterveld massiv gefährdet: Legalität, Verantwortlichkeit der Exekutive, Gewaltenteilung, Repräsentation der Bürger, Bindung des Gesetzes an materielle Rechtsgrundsätze und schließlich die allgemeine Legitimität der politischen Ordnung. Nacheinander erläutert van Bijsterveld für jedes dieser Elemente, warum es die Leistungen, für die es einst geschaffen wurde unter heutigen Bedingungen nicht mehr ausreichend erfüllen kann. Auf der Basis dieser Problemanalyse sucht sie nach funktionalen Äquivalenten, die als Ergänzung oder als Ersatz die frühere Leistung wieder bereit stellen können. Dabei geht Sophie van Bijsterveld gelegentlich weit in die Geschichte der Elemente zurück, um deren mal mehr mal weniger bekannten Wurzeln auf Anregungen für einen „neuen Konstitutionalismus“ zu untersuchen. Für die Arbeit ergibt sich daraus ein doppelter Nutzen: So lässt sich zeigen, dass die derzeitige Umsetzung der drei Prinzipien zwar auf den Nationalstaat zugeschnitten sein mag, sie aber auch schon vor seiner Entstehung propagiert und in anderer Weise realisiert worden waren. Zum zweiten ergeben sich Hinweise, dass viele der Umsetzungen, die vor der Entstehung des Nationalstaats und formalen Rechtsstaats bestanden, für die zukünftige Sicherung der drei Prinzipien erneut besser geeignet scheinen. „Seen in this broader perspective, the classic Rechtsstaat is not the final or ultimate expression of human rights, democracy and the rule of law, but simply provides a particular expression of these principles for its own historic period of time.“ (342) Van Bijsterveld schlägt daher neue Prinzipien vor, die zwar nicht jedes für sich, aber in Kombination miteinander die regulierende Wirkung von Demokratie, Rule of Law und Menschenrechten für die Zukunft sichern sollen. Die komplexe Argumentation mit zahlreichen Verweisen auf Zusammenwirken und Abhängigkeiten unter den Elementen – und daher auch einigen Redundanzen – lässt sich hier nur sehr grob skizzieren: Den Anfang bildet das derzeitige Prinzip der Legalität. Es erlaubt staatliches Handeln ausschließlich auf der Basis vorab erlassener, allgemeiner Gesetze und ist auch im neuen Konstitutionalismus unverzichtbar, da nur die autoritär erlassenen und damit sanktionsbewehrten Gesetze das formale Grundgerüst staatlicher und internationaler Rechtsordnung errichten und damit auch eine Hierarchie des Rechts schaffen können, die diese Grundordnung vor willkürlicher Veränderung durch die Legislative schützt. Darüber hinaus soll Legalität aber vor allem für die Transparenz und damit Kontrollierbarkeit von Entscheidungen sorgen, meint van
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Biijsterveld und diese Pflicht zur Transparenz lässt sich durchaus auch nichtstaatlichen Entscheidungsträgern auferlegen. Transparenz im Sinne einer Offenlegung der Verfahren, der Träger, der Inhalte, Kontexte und Gründe von Entscheidungen bietet gegenüber dem spezielleren Legalitätsprinzip sogar den Vorteil, durch die Berücksichtigung von Entscheidungsgründen auch die Inhalte von öffentlichen Entscheidungen in die Debatte einzubeziehen; auch kann der gesamte Entscheidungsprozess von der Vorbereitung bis zu den Auswirkungen und ihrer Kontrolle betrachtet werden. Dadurch werden öffentliche Entscheidungen, egal in welcher Form und von welchen Akteuren sie getroffen werden, dem Druck öffentlicher Prüfung ausgesetzt. Sie können sich den allgemein anerkannten Idealen der Rule of Law nach Allgemeinheit der Normen und einem Mindestmaß an Rechtsgleichheit nicht entziehen. Die Pflicht zur Veröffentlichung gibt Rechtssicherheit, ist Voraussetzung von Responsivität. Damit erlaubt die Transparenzpflicht die Übertragung der meisten für den Staat von der Legalität gesicherten Leistungen auf den gesamten Bereich öffentlich relevanter Entscheidungen. Die Verpflichtung zur Offenlegung ist zugleich die Voraussetzung für die Übertragung des Prinzips der Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber der Regierung auf die nichtstaatliche Ebene. Sie ermöglicht die Zurechenbarkeit von Mitverantwortung an konkrete Entscheidungsträger und erlaubt damit Reaktionen von Kunden, Klienten, Mitgliedern, Aufsichtsräten etc. Die Kontrolle wird damit allerdings nicht mehr nur von einer festgelegten anderen Instanz, wie dem Parlament oder Gerichten, ausgeübt werden, sondern oft auch als Selbstkontrolle innerhalb einer Organisation. Das Prinzip der Gewaltenteilung hat in der herkömmlichen Form der Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative daher nur geringe Bedeutung im nichtstaatlichen Bereich. Um die Logik von checks and balances dennoch auf alle öffentlichen Entscheidungen übertragen zu können, empfiehlt van Bijsterveld eine Rückbesinnung auf die Ursprünge der Gewaltenteilung in der Idee der Mischverfassung. Gewaltenteilung solle künftig wieder an Akteuren, nicht an Funktionen ansetzen und sich auf die Sicherung der Unabhängigkeit von Akteuren konzentrieren. Ziel ist die Garantie eines fair play, indem mögliche Interessenkonflikte aufgedeckt, unzulässige Einflussnahmen unterbunden oder die Akkumulation von Macht in undurchsichtigen Netzwerken verhindert wird. Auch das Prinzip der Demokratie darf im neuen Konstitutionalismus nicht nur durch die Wahl eines Parlaments realisiert werden, da die Volksvertretung durch ihren Bedeutungsverlust als Entscheidungsinstanz auch als Hauptform staatsbürgerlicher Partizipation ausgedient hat. Radikale Reformen, wie die Einführung von Plebisziten, hält van Bijsterveld jedoch für nicht durchsetzbar und so setzt sie auf die sich parallel zum Etablierten ohnehin bereits bildenden neuen Partizipationsformen mit zunächst keiner oder geringer Institutionalisierung. Oft spontan von der Zivilgesellschaft hervorgebracht, entwickeln sie eine Eigendynamik, die das herkömmliche Repräsentativsystem zur schrittweisen Öffnung für die neuen Prinzipien des Dialogs und der Responsivität zwingt, wie nach Ansicht van Bijstervelds etwa die mittlerweile im Verwaltungsrecht verpflichtende Konsultation von Verbänden zeige. Formale Repräsentation von Personen wird so durch materielle Vertretung von Interessen ersetzt. Nicht alle Interessen werden in diesem diffusen politischen Prozess gehört und berücksichtigt werden. Umso wichtiger ist es, dass das Gemeinwohl, allgemeine Ge-
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rechtigkeitsgrundsätze und gesellschaftliche Werte auch als Regulativ in die öffentlichen Entscheidungen einfließen. Ohne weiteres kann man dies von den vielen öffentlichen und privaten Akteuren aber nicht erwarten, zumal wenn diese materiellen Vorgaben wie bislang von Verfassungs- und Gesetzgebern vorgegeben werden. Zunehmend eigne sich die Öffentlichkeit daher auch die materielle Dimension des Rechts an. Gemeinwohl und Wertordnung werden heute in einem dezentralisierten Formulierungsprozess definiert, in dem das Parlament immerhin noch die Rolle eines Impulsgebers einnimmt. Van Bijsterveld spricht von einer „Rückkehr des Naturrechts“. In Zeiten institutionellen Umbruchs finden wieder Bewertungsmaßstäbe Beachtung, die von Institutionen und gesetztem Recht unabhängig sind. Dies äußert sich auch in der Aufmerksamkeit für Tugend und Integrität wichtiger Akteure, aber auch für ungeschriebene Rechtsquellen, dem „soft law“. Insgesamt ergibt sich aus dem neuen Konstitutionalismus ein neuer Blick auf die Bedingungen der Legitimität politischer Ordnung und öffentlichen Entscheidens. Rechtfertigen lassen sie sich nicht mehr durch einmalige oder punktuelle Akte genereller Bevollmächtigung durch Verfassungsgebung oder Wahlen. Legitimität beruht in der modernen Welt vielmehr auf einem ständigen Bemühen um Zustimmung. Bürger und Staat stehen sich nicht mehr in einem eindimensionalen, vertikalen Verhältnis gegenüber, sondern in einer differenzierten, auf Wechselseitigkeit beruhenden Beziehung. Der Bürger ist Verbraucher und Klient, aber eben auch Experte, Lobbyist und Vertragspartner. Statt durch Mehrheitsentscheidungen entsteht Legitimität durch Vereinbarung und Konsens, wie es sich angemessen in der Metapher des Gesellschaftsvertrages illustrieren lasse. Bei all diesen Vorschlägen ist es van Bijsterveld wichtig, auf die bereits vorhandenen Ansätze einer Neuorientierung hinzuweisen. Ihr neuer Konstitutionalismus soll kein Entwurf am grünen Tisch sein, sondern die in Politik und Recht bereits ablaufenden Veränderungen aufzeigen und durch die Integration der verschiedenen Neuerungen in einen analytischen Rahmen Systematik in die oft instinktiv und unkoordiniert ablaufenden Reformen bringen. Insofern beansprucht die Autorin weder eine geschlossene Beweisführung für die Veränderungen, noch einen vollständigen Entwurf für ein constitutional engineering zu präsentieren. Sie belässt es meist bei Hinweisen auf eine mögliche Operationalisierung der neuen Prinzipien und die schon vorliegenden Ansätze im nationalen und internationalen Recht. Die gemachten Vorschläge zur Rettung der Grundsätze liberaler Demokratie sind daher noch zu vage, um ihre Erfolgschancen beurteilen zu können. Fraglich sind sie m. E. vor allem bei den von der Verfasserin präferierten informellen neuen Ausdrucksformen von Demokratie und Rechtsbewusstsein. Das Vertrauen auf den guten Willen und ein Mindestmaß an Gemeinwohlorientierung, das die Autorin den Akteuren damit entgegen bringt, knüpft zwar an das klassische liberale Menschenbild des gemäßigten Egoisten an, der aus vernünftiger Einsicht in seinen eigenen Kooperationsbedarf zu Zugeständnissen bereit ist. Doch in der von ihr skizzierten modernen Welt geht es nicht mehr um die wechselseitige Abhängigkeit zumindest annähernd gleich freier Vertragspartner. Angesichts des eklatanten Machtgefälles zwischen international operierenden Organisationen und einzelnem Bürger müsste ein neuer Entwurf liberaler Demokratie den von Tugend und Fairness unabhängigen Garantien individueller Freiheit mehr Gewicht beimessen. Dem potenten, territorial ungebundenen und daher mit jeder Exit-Option ausgestatteten globalen Spielern hat
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der Bürger mit seinem Zwang zur Erwerbstätigkeit und seinen oft nur schwer organisierbaren Präferenzen kaum etwas entgegenzusetzen. Der Druck der öffentlichen Meinung ist hier viel zu wenig, zumal dies für den Einzelnen nur eine Abhängigkeit durch eine andere ersetzt. Legalität, d.h. formale Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene wird in einem liberalen Modell stets Vorrang gegenüber der „weichen“ Form der Transparenz genießen.2 Der Gewinn der Studie liegt in dem, was van Bijsterveld als Ziel angegeben hat: die bestehenden Reformtendenzen unter die Kategorien von Rechtsstaat und Demokratie zu subsumieren und damit überhaupt erst die Voraussetzung für eine gezielte Unterstützung zu schaffen. The Empty Throne macht klar, dass der sich abzeichnende schlanke Staat nicht einfach den Geldbeutel der Bürger entlastet und ihm weitgehende Freiheiten zurückgibt. Nationalstaat und Parlament räumen den Thron vielmehr zugunsten von derzeit demokratisch, verfassungsrechtlich und moralisch kaum kontrollierbaren Akteuren. Und so sehr van Bijsterveld immer wieder betont, dass sich die wesentlichen Neuformulierungen von Demokratie und Rechtsstaat bereits intuitiv entwickeln, sosehr sieht sie doch die Zeit für eine Bündelung und strategische Unterstützung dieser Veränderungen gekommen. Versuche einer Reinstallation der alten Mechanismen von Demokratie und Rule of Law seien gut gemeint, aber leider falsch. Ihr Funktionsverlust sei unvermeidlich. Mit Tocquevilles Worten: „Ich glaube, sie verschwenden ihre Zeit und Kraft auf eine so ehrenwerte wie unfruchtbare Arbeit.“3 Es gelte, einen dem Tempo des Verfalls der alten Prinzipien angemessenen Ersatz vorzunehmen, um die Prinzipien der liberalen Demokratie wirksam zu halten. Der Nationalstaat hat dabei eine durchaus unverzichtbare Rolle als Sachwalter fairer gesellschaftlicher Beziehungen und Garant für die Implementierung der neuen Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten im öffentlich-rechtlichen, privatrechtlichen und hybriden Bereich. Die Arbeit kann damit auch als eine Aufforderung an die Verfechter der liberalen Demokratie verstanden werden, sich an der Operationalisierung und Verwirklichung der neuen Prinzipien zu beteiligen. Birgit Enzmann, Eichstätt
2 Ein Hinweis sei für den deutschen Leser auf den Wortgebrauch gegeben: Mit dem deutschen Begriff „Rechtsstaat“ meint van Bijsterveld den formalen Rechtsstaat etwa im Sinne Friedrich Julius Stahls, während sie unter der „rule of law“ einen formal aber vor allem materiell-grundrechtlich gesicherten Rechtsstaat versteht 3 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1840), Stuttgart 1985, IV. Tl, 8. Kap.
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Friedrich von Halem: Recht oder Gerechtigkeit? Rechtsmodelle in Ost und West von der Antike bis zur Moderne. Eine Aufsatzsammlung, Köln (Böhlau Verlag) 2004, 269 Seiten (Schriften des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropa Bd. 6) Mit diesem von Leonid Luks herausgegebenen Band erinnert das Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropaforschung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt an einen im Alter von 70 Jahren im März 2003 verstorbenen Privatgelehrten von hoher Originalität. Friedrich von Halem, Sohn eines Industriellen, der im Juni 1944 als Mitglied des Berliner Widerstandskreises um Hanna Solf hingerichtet wurde, war ein Münchener Rechtsanwalt, der sich u. a. mit Rechtsgeschichte befasste. Da er immer schon an Russland interessiert war, nicht zuletzt auch an der Welt der Orthodoxie, eröffnete er nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine zweite Kanzlei in Moskau und pendelte von da an zwischen der russischen und der bayerischen Hauptstadt. Der Band vereint sieben Vorträge und Aufsätze, von denen bisher nur drei veröffentlicht worden sind, darunter einer (Die Rechtsansichten der Eurasier) in der von I. M. Bocheñski begründeten und im holländischen Dordrecht erscheinenden Zeitschrift Studies in East European Thought. Die meisten der Beiträge verdanken sich der Bemühung, den Unterschied zwischen dem westlichen und dem russischen Rechtsdenken einerseits darzustellen, andererseits historisch zu erklären. Der Verfasser geht dabei von der z. T. belegten Annahme aus, dass durch die Übersiedlung der Hauptstadt des Römischen Reiches von Rom nach Byzanz die Denkweise des Römischen Rechts nach und nach durch ältere, z. T. griechische, z. T. orientalische Vorstellungen ersetzt wurde. Insbesondere weist er auf die Unterschiede im Verständnis von Begriffen wie Wahrheit, Gesetz, vernünftig, Person, Körperschaft u. ä. hin. Das zumal für den Philosophen Interessante an diesen Analysen ist, dass der Verfasser sich meist nicht an Fachterminologien hält (außer der juristischen); dies gibt den Texten eine lebendige Frische, wirft gelegentlich aber auch Fragen auf. So kann man sich an einigen Stellen nicht ganz des Eindruckes erwehren, dass v. Halem, wenn er byzantinische Traditionen analysiert, diese nicht mit westlichen vormittelalterlichen Traditionen vergleicht, sondern mit Auffassungen, die im Westen erst durch die Hochscholastik artikuliert wurden. Auch unterscheidet er dort, wo es nicht um Rechtsverständnis geht, gelegentlich übertrieben scharf zwischen römischen und griechischen Auffassungen. Obwohl er gewiss recht hat, wenn er nahe legt, dass das klassische Gesetzesverständnis der Griechen aus der Perspektive des Römischen Rechts nahezu orientalisch anmuten musste, übersieht er ein wenig, wie stark der Rationalismus der griechischen Philosophie nicht nur die Römer, z. B. Cicero und Seneca, sondern die ganze Kultur Westeuropas mitgeprägt hat. Wissenschaftlich am ergiebigsten sind die beiden langen Texte über die Eurasier; sie machen fast ein Drittel des ganzen Buches aus. Diese Gruppe russischer an Geschichtsphilosophie und Kulturgeschichte interessierter Denker ist bis heute im Westen außerhalb kleiner Fachkreise unbekannt geblieben; lustiger Weise verzeichnet Google unter diesem Ausdruck nur einen deutschen Hundezüchterverein. Auch in der Sowjetunion wurde sie nahezu nie erwähnt, da fast alle einschlägigen Autoren nach 1918 freiwillig oder von Lenin vertrieben in den Westen gingen (einer der seltenen inländischen Ausnahmen war der Leningrader Historiker und Orientalist Lev
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N. Gumilev, + 1992, der jedoch lange Zeit mit einem Publikationsverbot belegt war). Die Anliegen und Auffassungen der Eurasier können als eine Art Fortsetzung der Ideen der Slawophilen des 19. Jahrhunderts in ihrem Gegensatz zu den Westlern verstanden werden, wobei die Eurasier freilich jede Art von Panslawismus ablehnten. Nach ihrer Vorstellung war es mehr als problematisch, Russland als einen Staat im westlichen Sinne des Wortes zu verstehen; es sei vielmehr ein auch aufgrund seines Klimas (hierzu legten sie u. a. botanische Untersuchungen vor) einheitlicher Lebensraum, den man von seiner geographischen Lage und Prägung her verstehen müsse. In diesem Lebensraum (der von den Eurasiern geographisch mit dem Russischen Kaiserreich identifiziert wurde) seien die Russen nur eine, wenn auch die größte unter vielen Völkerschaften, die vornehmlich aus Ostslawen, Türken und finno-ugrischen Völkern bestünden. Westliche Vorstellungen von Demokratie lehnten die Eurasier ab, sie seien in einem Vielvölkerstaat nicht zu verwirklichen und den Traditionen des Lebensraumes fremd. Stattdessen forderten sie einen starken, von einer (wohl nicht demokratisch gewählten) Elite mitgetragenen Staat nach dem Vorbild des Zarenreiches, einen autoritären Staat, der die in den verschiedenen Völkern vorhandenen Fähigkeiten und Talente zur Entfaltung bringt. Mit Peter dem Großen habe Russland einen falschen Weg eingeschlagen: statt die dem Lebensraum eigenen, immer schon eurasischen Traditionen (zu denen auch die Tatarenzeit gehören sollte) fortzusetzen, habe er den Irrweg eingeschlagen, Europa nachzuahmen. Diese aus westlicher Sicht im Grunde romantische Vorstellung, in deren Rahmen u. a. bestritten wurde, dass schon im Zarenreich Russen manche andere Völker brutal unterdrückten (so z. B. immer schon die Tschetschenen), hinderte die Eurasier lange Zeit daran, das Wesen der Sowjetunion zu durchschauen. Erst in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bemerkten sie nicht anders als viele westliche Beobachter deren totalitären Charakter. Insgesamt ist das Buch von Interesse für jene, die einerseits an den kulturellen Nachwirkungen des Sowjetregimes in Russland, andererseits am russischen Rechtsverständnis interessiert sind. Mit Recht weist v. Halem darauf hin, dass das Rechtsverständnis im heutigen Russland nicht allein auf den Marxismus-Leninismus zurückgeführt werden kann. Nikolaus Lobkowicz, Eichstätt
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Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005 (Rowohlt) Großmachtsoziologismus Zu Herfried Münklers „Logik der Weltherrschaft“ I. Stillschweigende Korrektur Das Jahrhundert hatte kaum begonnen, da wusste der Berliner Politik-Ordinarius Herfried Münkler schon, dass es ein Jahrhundert mit einer neuen Art von Kriegen werden würde. Doch bereits mit dem ersten großen Krieg des neuen Jahrhunderts war er widerlegt. Es blieb beim alten Krieg, wie ihn Staaten führen, begleitet von der Gewaltsamkeit kleiner Gruppen, die seit eh und je für Unfrieden auch zwischen den Kriegen sorgen. Aus denen, die schon in der Antike Aufstand (stasis) und Aufruhr (rebellio) erzeugten, wurden „Freischärler“, „Revolutionäre“ oder „Partisanen“; heute treten sie als „Terroristen“ auf. Das Neue liegt allein in dem, wofür die Kriegsführung schon immer besonders empfänglich war: im Wandel der Technik. Es spricht für das wache Realitätsbewusstsein Herfried Münklers, dass er in seinem neuen Buch, die alte These stillschweigend fallen lässt. Dass er sie sogar in ihr Gegenteil verkehrt, hat vermutlich mit seiner Lust an der Provokation landläufiger Meinungen zu tun: Nachdem der Golf-Krieg des Jahres 2003 ein für erledigt angesehenes Thema, nämlich das des „Imperialismus“, wieder interessant gemacht hat, sucht Münkler nachzuweisen, dass darin überhaupt nichts Neues liegt. Er führt vor, dass die letzten dreitausend Jahre politischer Geschichte weitgehend imperialistisch waren, und unterstellt, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Deshalb endet das Buch mit der Forderung, die Europäische Union möge sich endlich auch wie eine imperiale Macht gebärden. Dass sie dabei – vor allem an den offenen „Rändern“ ihres Machtbereichs – Kriege führen muss und dass diese neuen Kriege wie die „alten“ werden, versteht der Leser schon von selbst. II. Theorie als intellektuelles Manöver Wem die Strategie des Autors widersprüchlich erscheint, der sollte bedenken, dass sich Herfried Münkler mit Recht als Kriegstheoretiker versteht. Längst ist er zur führenden Kapazität auf dem Gebiet geworden. Er versteht es meisterhaft, hinter der Geschichte der Ideen und Institutionen die Geschichte der militärischen Innovationen und Interaktionen aufzuzeigen. Wer ihn einmal über Friedrich Engels als Kriegstheoretiker hat reden hören, trägt eine dauerhafte Taubheit gegenüber der Friedensbotschaft des Marxismus davon. Hinzu kommt, dass sich Münkler auch als Stilist an seinen Gegenständen orientiert. Er legt seine Abhandlungen wie kleine Feldzüge an, die er durch flächendeckende Materialbeherrschung abzusichern sucht. Der Feind, der literarisch nicht leicht auszumachen ist, wird mit einer unterkühlten Beurteilung der Lage aus der Reserve gelockt. Das Blendwerk guter Absichten wird enttarnt und in die Mannschaftsstärke bloßer Strukturen übertragen. Münkler führt Zahlen und Fakten ins Gefecht, wo andere mit Fahnen und Parolen Eindruck machen. Er hat seinen Stil an
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Machiavelli und an Clausewitz geschult, und im Kalten Krieg hat er gelernt, dass man auch durch Abschreckung aufklären kann. Wer das bezweifelt, braucht nur zu hören, wie Münkler den Zynismus zur Vorschule der Moralität deklariert oder Al Qaida als „Greenpeace in Waffen“ definiert. Hier wird die Theorie zum intellektuellen Manöver, in dessen Arsenal der Selbstwiderspruch nicht fehlen darf. III. Hegemon und Imperium Wer glaubt, mit dem Begriff des „Imperialismus“ sei schon genug über die derzeitige Politik der Vereinigten Staaten von Amerika gesagt, dem sei Münklers Buch dringend zur Lektüre empfohlen. Generalstabsmäßig führt es über reichem Kartenmaterial vor Augen, dass die Imperien schon seit Jahrtausenden die Geschicke der Politik bestimmen. Es beginnt dort, wo auch die kritische Geschichtsschreibung einsetzt: bei der Auseinandersetzung der Griechen mit dem Persischen Großreich und der ein Jahrhundert später erfolgenden makedonischen Gegenreaktion unter Philipp und Alexander. Auf das Reich der Seleukiden, gegen das sich die Juden zu behaupten hatten, folgt die Herrschaft Roms, dem erneut die Juden unterworfen waren. Auf Rom kommt das Buch immer wieder zu sprechen. Wie man weiß, geben Aufstieg und Fall des Imperium Romanum dem Zeitgeist viel zu hoffen, denn er meint, Washington müsse es notwendig so wie Rom ergehen. Zu den sachlichen Zielen von Münklers Studie gehört, hier zu einer differenzierteren Antwort zu kommen. Gleichwohl nimmt er von Michael Doyle den Begriff der imperialen, der „augusteischen Schwelle“ auf, die von den Amerikanern nach 1945 definitiv überschritten worden sei. Dabei seien sie vom „Hegemon“ zum „Imperium“ geworden, dessen Existenzproblem in der Relation des „Zentrums“ zu seinen „Rändern“ besteht. Damit ist das Strukturgesetz in Kraft, dem sich bislang noch kein Imperium entziehen konnte. Es folgt aus dem Grundwiderspruch zwischen dem „Zentrum“ und der „Peripherie“, an dem letztlich jedes Imperium zerbricht. Das wird in eindrucksvollen historischen Skizzen nicht nur am Beispiel Roms, sondern auch an den byzantinischen und fränkischen Reichsnachfolgern, an den Steppenimperien der mongolischen Stämme, an den arabischen Großreichen, den portugiesischen, spanischen und niederländischen Seemächten, an verschiedenen chinesischen Dynastien, am Zaristischen Russland, an Habsburg-Österreich, dem britischen Empire sowie an den nationalstaatlichen Kolonialmächten des 19. und 20. Jahrhunderts vorgeführt. Sein an einer Typologie der Imperien interessiertes Vorgehen erlaubt dem Autor, in mehrfachen Sprüngen über die Epochengrenzen, auf immer neue Aspekte der imperialen Machtentfaltung einzugehen. Dass er dabei Antike, Mittelalter und Moderne als einen einzigen Handlungsraum betrachtet, gehört zu den bemerkenswerten Vorzügen seines Buchs. IV. Das Zentrum zerfällt am Rand So ergibt sich ein vielfältiges geschichtliches Panorama, dem der Leser entnehmen soll, dass die Geschichte in ihren Strukturen unverändert bleibt: Aus hegemo-
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nialen Mächten werden imperiale Zentren. Dies geschieht umso eher, je mehr sie durch eine Lage am Rande alter Mächte begünstigt sind. Doch nach einer schnellen Blüte folgt unaufhaltsam der Zerfall. Das ist Münklers These, die ohne moralische Irritationen in immer neuen Variationen vorgetragen und auf die USA angewandt wird: Die Vereinigten Staaten haben sich, durch die Rivalität europäischer Imperien begünstigt, in einem anti-imperialen Kampf etabliert. Danach wurden sie von den herrschenden Mächten mehr als ein Jahrhundert lang nicht für voll genommen und konnten ihren Aufstieg zum kontinentalen Hegemon vollenden. Aus der Sicht Europas verblieben sie in einer Randlage, aus der sie die Europäer während des Ersten Weltkriegs selbst befreiten. Die Beteiligung am Zweiten Weltkrieg hat sie schließlich zum einzigen Sieger gemacht, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sogar als einziges Zentrum, die Bürde hat, mit den europäischen, ostasiatischen, afrikanischen und arabischen Rändern fertig zu werden. Wie lange die Vereinigten Staaten obsiegen, lässt Münkler offen. Aber er hält die amerikanischen Ressourcen für geschwächt und rechnet vor, dass sie die politischen Kosten für die Stabilisierung der Ränder bald nicht mehr aufzubringen vermögen. Damit müssten sie anderen das Terrain überlassen. Diese anderen haben selbst Imperien zu werden, die rasch aufsteigen und langsam zerfallen, wie alle anderen auch. Das ist die „Logik der Weltgeschichte“, die uns Münklers Buch schon im Untertitel zu erklären verspricht. V. Eliten statt Bürger Menge, Masse und Macht der in diesem Buch versammelten Agenten können leicht den Eindruck erwecken, hier sei tatsächlich von „Weltpolitik“ die Rede. Doch was in unscharfen Begriffen wie „Zentrum“ und „Rand“, „Hegemon“ und „Imperium“ vorgeführt wird, ist die lange Reihe militärischer Akteure, die Herrschaft und Schrecken verbreiten. „Politik“ als Teilhabe an einer Verfassung, als die Suche nach einer Ordnung, in der die Menschen nach eigenen Vorstellungen leben können, in der Recht gesetzt und Gerechtigkeit zumindest versprochen wird, kommt bei Münkler gar nicht vor. Selbst das elementare Ziel politischen Handelns, das Streben nach Frieden, gibt es nur als funktionale Größe, mit der man andere beschwichtigt, um selber an der Macht zu bleiben. Der Bürger, den schon die antiken Theoretiker als Subjekt des politischen Handelns exponieren, spielt in Münklers „Weltpolitik“ nicht die geringste Rolle. Bürger sind vermutlich nur die Urheber jener „Wunschvorstellungen“, von denen sich der Autor schon in der Einleitung distanziert. Bei ihm sind nur „Strukturen“ in Aktion, vornehmlich solche, die er „Eliten“ nennt. Auch sie werden nicht genauer definiert. Aber man darf annehmen, dass „Eliten“ heute jene sind, für die der Autor schreibt. Den größten sachlichen Mangel hat Münklers Analyse dort, wo er es angesichts der geschichtlichen Nähe am einfachsten gehabt hätte: Der Aufstieg und Fall des Sowjetimperiums wird eher beiläufig behandelt. Zwar wird auch hier die „Überdehnung“ dargestellt, die zur Überforderung der Kräfte an den Rändern und schließlich zum Kollaps im Zentrums führt. Aber die Tatsache, dass der Kommunismus auch daran gescheitert ist, dass ihm seine eigenen Prinzipien nicht länger erlaubten, mit
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bloßer Gewalt gegen die inzwischen grund- und völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte vorzugehen, kommt bei Münkler nicht in den Blick. In gleicher Weise unterschätzt er die Selbstbindung der amerikanischen Politik durch die Grundsätze der Verfassung. So sehr er auf Strukturen achtet und Personen systematisch unterschätzt: Die demokratische Ordnung scheint keine eigene Gesetzmäßigkeit zu entfalten. Sie kommt nur als einer jener Faktoren vor, die Kriegsmüdigkeit erzeugen und die imperialen Eliten nötigen, mit dem Wankelmut der öffentlichen Meinung zu rechnen. So müssen die US-Regierungen fürchten, dass ihnen die Bevölkerung alsbald die Zustimmung zu den hohen Militärhaushalten entzieht. In der Europäischen Union könnte die allgemeine Unwilligkeit, für Rüstungskosten aufzukommen, den Ausbau einer imperialen Stellung schon im Ansatz verhindern. VI. Große Theorie sucht große Mächte Wer wollte bestreiten, dass in alledem auch richtige Beobachtungen liegen? Aber ist das die „Logik der Weltpolitik“? Findet sich darin auch nur ein Gesetz der jüngeren Geschichte? Hat nicht der Aufstieg der USA bewiesen, dass Demokratien zu gewaltigen Anstrengungen fähig sind, wenn es um die Sicherung einer Ordnung geht, für die allgemein menschliche Gründe sprechen? Doch Münklers reduktionistischer Struktur-Soziologismus kann die Berufung auf moralisch fundierte politische Prinzipien nur unter Fanatismus und missionarischem Eifer verbuchen. Für die genuin politischen Ziele des Bürgers hat die Eliten-Politologie keine Kategorien parat. Daher kann ein auf Menschenrecht und Demokratie insistierendes Volk kaum mehr als ein Störfaktor sein. Wer sich, wie Münkler, für Montesquieu nur als Imperialismus-Kritiker interessiert und nicht beachtet, dass am Anspruch auf Gewaltenteilung, Recht und individuelle Freiheit schon Imperien zugrunde gegangen sind, dem bleiben nur die großen Mächte als Maßstab für die Größe der eigenen Theorie. Volker Gerhardt, Berlin
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Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn (Schöningh) 2004 Geistige Mobilmachung war schon immer mit von der Partie, wenn es Kriege zu führen galt. Selten ging sie an der Realität eines Krieges aber so sehr vorbei, wie im Falle des Ersten Weltkrieges. Den „Genius des Krieges“ (Max Scheler) zu beschwören oder von einem Kampf für (deutsche) „Kultur“ und „Innerlichkeit“ gegen (westliche) „Zivilisation“ und „Oberflächlichkeit“ (R. Eucken, A. Riehl) zu sprechen, konnte angesichts der Barbarei, die sich auf den Schlachtfeldern Flanderns, vor Verdun und an der Somme mit Bomben und Granaten, Giftgas und Flammenwerfern abspielen sollte, entweder nur schlicht ungeheuerlich sein oder aber so einfältig wie der Schulbubenenthusiasmus, mit dem Heerscharen von Soldaten im August 1914 in den Krieg zogen. Patriotische Kurzsichtigkeit macht eben auch vor klugen Köpfen nicht halt – die Konsequenzen für Leib und Leben zu tragen, hatten ohnedies nur die, die sich hinter keinen Schreibtischen und keinen Kathedern verschanzen konnten. Wenn man noch einmal nachlesen möchte, wer sich alles unter den deutschen wie britischen Philosophen wie zum Krieg zu Wort gemeldet hat, kann man dies jetzt anhand des Buches von Peter Hoeres tun, das von der Universität Münster 2002 als „jahresbeste Dissertation im Bereich der Philosophischen Fakultät“ ausgezeichnet wurde. Auf nahezu 600 Seiten bleibt hier kein Stein der „Weisen“ jener Zeit ungehoben, kein „Held des Wortes“ unaufgespürt, unreferiert und unkommentiert, wobei sich die Beschränkung auf den deutsch-britischen Vergleich nicht nur aus der prinzipiellen Notwendigkeit zur Stoffbegrenzung, dem Interesse des Autors oder den Desiderata der Forschung erklärt, sondern vor allem auch der Tatsache geschuldet ist, dass die deutsche Anglophobie und die britische Beschwörung des „Furor teutonicus“ die zentrale ideologische Polarisierung des Krieges darstellte. Werner Sombarts berühmt-berüchtigter Kriegsschrifttitel Händler und Helden ist dafür ebenso sprichwörtlich geworden wie der seinerzeit viel gebrauchte Begriff von der englischen „cant“ – die Unterstellung heuchlerischer, auf nichts als den eigenen Vorteil bedachter Liberalität, für die man sich auf der Gegenseite mit dem Vorwurf eines wesensmäßigen „aggressiven Militarismus“ schadlos hielt, dessen geistige Wurzeln man problemlos bei Fichte, Hegel, Treitschke und Nietzsche zu entdecken können glaubte. Um nicht in der Quellenflut zu ertrinken bzw. der Monotonie einer chronologischen, Schrift für Schrift, Autor für Autor referierenden Darstellungsweise zu entgehen, hat der Verfasser die gewaltigen Stoffmassen nach Themen gesichtet, die im „Krieg der Philosophen“ von zentraler Bedeutung waren. In diesem Sinne ist je ein Kapitel der Analyse des Feindbildes gewidmet, das sich jede Seite von der jeweils anderen machte (Kap. IV), den unterschiedlichen Vorstellungen, die man auf der einen und der anderen Seite der Front vom Sinn und Zweck des Staates hatte (Kap. V), wie man diesbezüglich über den Krieg und seine kulturelle Bedeutung dachte (Kap. VI) und welche unterschiedlichen Vorstellungen man von einem und für einen zukünftigen Frieden hegte (Kap. VII). Natürlich konnte selbst eine solche Lösung des Darstellungsproblems nicht frei von gewissen Willkürlichkeiten bleiben, da die besagten Schlüsselbegriffe viel zu allgemein und gedanklich viel zu sehr miteinander verbunden sind, als dass sich der „Krieg der Philosophen“ regelrecht in
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solche einzelnen Schlachten und Kriegsschauplätze separieren ließe. Jedes Kapitel ist gleichwohl höchst informativ gestaltet und klug geschrieben, und das gilt auch von den übrigen Kapiteln, die entweder an das Thema heranführen, indem sie einen Überblick über die philosophischen Strömungen vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Großbritannien geben (Kap. I–III), oder – wie beim VIII. Kapitel – dem seltenen Fall einer Verbindung von Philosophie und (praktischer) Politik in einer Person (hier in der Gestalt R. B. Haldanes, Graf Hertlings und Ludwig Steins) nachgehen. Die Kehrseite dieser in bester akademischer Manier verfassten Publikation sei allerdings auch nicht verschwiegen. Letztlich ist daraus kein Buch zum Lesen und Nachdenken geworden, sondern eines zum Nachschlagen und „Ausschlachten“ – und das hat nicht nur mit seinem Umfang zu tun oder damit, dass allein schon der ebenso umfängliche wie vorzügliche bibliographische Fußnoten-, Quellen- und Literaturapparat dazu geradezu einlädt. Das Problem liegt tiefer. Und wenn man das Titelbild des Buches betrachtet – einen durch Artilleriefeuer zerstörten Hochwald an der Westfront –, beginnt man auch zu ahnen, warum. Eine regelrechte Vorstellung von einem „Krieg der Philosophen“ will sich beim Leser nicht einstellen, weil der Darstellung letztlich jene Lebendigkeit, jene betroffen machende Anschaulichkeit und Emotionen schürende Unmittelbarkeit fehlt, die dieser Krieg seinerzeit vor dem Hintergrund des realen Krieges und all seiner Umstände im Einzelnen hatte. Der reale Krieg ist über die bloßen, kalten Fakten hinaus sozusagen in die Darstellung zu wenig einbezogen, um den Kampf um die Herrschaft im intellektuellen Bereich nicht letztlich müßig zu finden. Als Leser ist man daher beständig versucht, schon vor der Zeit seinen Frieden mit dem Thema zu machen und die Lektüre des Buches vor ihrem eigentlichen Ende aufzugeben. Im Unterschied zum Autor muss man als Leser ja keine akademischen Rücksichten üben, um sich diesbezüglich Meriten zu verdienen. Lothar R. Waas, Bissendorf
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