Politisches Denken. Jahrbuch 2004 [1 ed.] 9783428517329, 9783428117321

Im Spannungsfeld zwischen politischer Wissenschaft, Jurisprudenz und Philosophie übernimmt das Jahrbuch Politisches Denk

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German Pages 214 Year 2004

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Politisches Denken. Jahrbuch 2004 [1 ed.]
 9783428517329, 9783428117321

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Politisches Denken · Jahrbuch 2004

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens Redaktionsanschriften: Prof. Dr. Karl Graf Ballestrem Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät Katholische Universität Eichstätt Universitätsallee 1, 85071 Eichstätt Prof. Dr. Volker Gerhardt, Institut für Philosophie, Humboldt Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. Dr. Henning Ottmann Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Universität München, Oettingenstr. 67, 80539 München

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), Maurice Cranston (London) (f), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher (Frankfurt), Klaus Hartmann (Tübingen) (f), Wilhem Hennis (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard (Gießen), Kenneth Minogue (London), Michael Oakeshott (London) (f), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Politisches Denken Jahrbuch 2004 Herausgegeben von Karl Graf Ballestrem, Volker Gerhardt, Henning Ottmann und Martyn P. Thompson

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten Γ 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 3-428-11732-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Vorwort von Volker Gerhardt

7 I. Aufsätze

Die geteilte Seele. Zum Verhältnis von Anthropologie und Ethik bei Platon Von Wolfgang H. Fleger

11

Zwischen Widerstandsrecht und starkem Staat. Ein Beitrag zur deutschen Rezeptionsgeschichte von Hobbes Von Howard Williams und Mirko Wischke

25

„Is not the power to punish essentially a power that pertains to the state?" The Different Foundations of the Right to Punish in Early Modern Natural Law Doctrines Von Dieter Hüning

43

Samuel Pufendorf - ein vergessener Klassiker des Naturrechts Von Horst Denzer

61

Die Konstitution politischer Freiheit. Grundlagen, Probleme und Aktualität der politischen Theorie der Aufklärung Von Olaf Asbach

77

„Natürliches" Recht in „positivierter" Gestalt, das sich aus Pflichten herleitet? Von der Paradoxie der Menschenrechte Von Lothar R. Waas

107

Vom Lügen - in Zeiten des Kommunismus Von Steffen Dietzsch

125

Zukunft durch Verspätung. Helmuth Plessners Vision eines deutschen Beitrages zum politischen Humanismus Westeuropas Von Kai Hauche

147

Vom Sinn einer philosophischen Theorie der Politik. Bemerkungen zum Theoriebegriff bei Hans Buchheim und Michael Oakeshott Von Michael Henkel

167

6

Inhaltsverzeichnis I I . Nachrufe

Vom Nutzen und Nachteil der Philosophie für die Politik Laudatio auf Norberto Bobbio zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart Von Henning Ottmann

191

βουλεύεσθαι καλώς. Zum Tode von Ernst Vollrath Von Heinz-Gerd Schmitz

197 I I I . Rezensionen

Dorothee Kimmich/Alexander Won Reinhard Mehring

Thumfart

(Hg.), Universität ohne Zukunft? 203

Georg Meggle (Hg.), Terror & der Krieg gegen ihn. Öffentliche Reflexionen Von Uwe Steinhoff

205

Hans-Joachim Pieper (Hg.), „Hat er aber gemordet, so muß er sterben." Klassiker der Philosophie zur Todesstrafe Von Héctor Wittwer Autorenverzeichnis

208 213

Vorwort Vor fünfzehn Jahren erschien der erste Band des Jahrbuchs Politisches Denken. Es wurde vom Metzler-Verlag betreut, der in den nachfolgenden Jahren eine verlässliche Kooperation ermöglicht und sowohl für eine gute Ausstattung wie auch für pünktliche Lieferung gesorgt hat. Die Herausgeber danken Dr. Bernd Lutz und Ute Hechtfischer für die gute Zusammenarbeit. Für den vorliegenden Band zeichnet erstmals der Duncker & Humblot Verlag in Berlin verantwortlich. Das verdanken wir einem freundlichen Entgegenkommen von Prof. Dr. Norbert Simon und Dr. Florian R. Simon. Da es von uns gänzlich unabhängige konzeptionelle Gründe des Verlages waren, das Jahrbuch abzugeben, war es möglich, bei der Aufmachung, dem Aufbau und der wissenschaftlichen Zielsetzung des Jahrbuchs Politisches Denken zu bleiben. Im Geleitwort zum ersten Band im Jahre 1992 haben wir begründet, warum es trotz einer hohen Zahl an Zeitschriften und Jahrbüchern für Politik an der Zeit war, das neue Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens auf den Weg zu bringen. „Politisches Denken", wie wir es verstehen, sollte für alle Disziplinen offen sein, die zum Verständnis der Politik einen Beitrag leisten. Deshalb hatte sich das neue Jahrbuch vor allem eine Öffnung gegenüber den Einzeldisziplinen zum Ziel gesetzt. Der Erfolg des Jahrbuchs hat der Initiative Recht gegeben. Die Zeitschrift gehört inzwischen zum festen Bestand der politisch-theoretischen Literatur, wobei ihr besonderer Vorzug die Offenheit auch gegenüber der politischen Praxis ist. Absicht und Leistung des Jahrbuchs sind von den Rezensenten wiederholt anerkannt worden. Für die Herausgeber war es besonders wichtig, dass zahlreiche Autoren die mit dem neuen Publikationsorgan gebotene Chance ergriffen haben. Sie haben den Rang der neuen Zeitschrift bestimmt. Im neuen Verlagsort Berlin sehen wir eine gute Möglichkeit, das Gespräch zwischen Theorie und Praxis der Politik zu intensivieren. Das entspricht auch den Zielen des neuen Vorstands der deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens, die nunmehr unter der Leitung von Barbara Zehnpfennig steht. Berlin, den 12. August 2004 Die Herausgeber

I. Aufsätze

Die geteilte Seele Zum Verhältnis von Anthropologie und Ethik bei Platon Von Wolfgang H. Pleger I. Einleitung Wer sich um ein überzeugendes Konzept einer philosophischen Ethik bemüht wobei der philosophische Ursprung der Ethik selbst angesichts der Entwicklung der ethischen Fragestellung durch Sokrates1 und der Einführung der Ethik als Disziplin bei Aristoteles 2 keines besonderen Nachweises bedarf - , sieht sich mit einer verwirrenden Fülle unterschiedlicher Konzepte konfrontiert. Die antike Glücksethik, die kantische Pflichtethik, der Utilitarismus, die Wertethik, die Verantwortungsethik, die Diskursethik bis hin zur Metaethik erheben Anspruch auf Anerkennung. Die schlichte Berufung auf eine stärkere Berücksichtigung der Ethik, wie sie in gesellschaftspolitischen Diskussionen immer wieder zu hören ist, ist solange ohne Bedeutung, bis nicht geklärt ist, welche Ethik denn Anspruch auf Gehör verdient. Das scheint mir im übrigen auch ein Manko der zur Zeit propagierten Angewandten Ethik zu sein, die uns zwar eine Fülle ethisch relevanter Fälle nennt, aber nicht mitteilt, welche Ethik denn zur Anwendung kommen und wie diese begründet sein soll. Es gehört zum Charakter der Philosophie, und dies scheint nicht unwesentlich ihre gesellschaftliche Wirksamkeit zu beeinträchtigen, daß sie, statt bündige Antworten auf aktuelle bedrängende Fragen zu geben, Rückfragen stellt. Rückfragen sind Fragen der Reflexion. Als eine solche Frage der Reflexion möchte ich die nach dem Zusammenhang von Anthropologie und Ethik verstanden wissen. Meine Hypothese lautet: Es gibt zwischen Ethik und Anthropologie einen Zusammenhang, der für die Frage der Beurteilung des Geltungsanspruchs einer Ethik von zentraler Bedeutung ist. Ein entscheidender Impuls zur Entwicklung der Anthropologie im griechischen Denken ging von einer ethischen Devise aus, die einem der Sieben Weisen zugeschrieben wurde, nämlich Thaies3, und die über dem Eingang des Tempels von

1 Aristoteles, Metaphysik 1078 b, 17-31; vgl. W. H. Pleger: Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs, Reinbek 1998. 2 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers, u. hg. von O. Gigon, München 1982. 3 Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1967,1,36.

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Wolfgang H. Pleger

Delphi zu lesen war. Sie lautet: „gnothi seauton", Erkenne dich selbst! Der anthropologische Impuls besteht darin, daß das reflexive Verhältnis, das der Mensch zu sich selbst entwickelt, die entscheidende Voraussetzung jeder Anthropologie ist und bereits hier deutlich zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig aber enthält die Aufforderung zur Selbsterkenntnis eine ethische Dimension. Sie warnt den Menschen vor Hybris, vor Überheblichkeit und hält ihm seine Sterblichkeit vor Augen.4 Kurz: Sie nimmt ihren Ausgang von der Situation des Menschen und formuliert eine ethische Aussage, die dieser Situation angemessen ist. Dieser Gedanke ließe sich verallgemeinern. Ich möchte diese Hypothese aber nicht im allgemeinen erörtern, sondern an einem konkreten, geschichtlichen Beispiel: an Platon. Das Beispiel Platon ist deshalb besonders geeignet, weil er nicht nur eine wirkungsgeschichtlich folgenreiche Anthropologie entworfen, sondern das Konzept der antiken Ethik eindrucksvoll vertreten hat. Darüber hinaus aber ist er als Beleg für die genannte Hypothese deshalb besonders bedeutsam, weil in seinem Werk nicht nur seine Ethik, sondern ebenso seine Anthropologie eine bedeutsame Wandlung durchmacht, so daß sich die Chance ergibt, das frühe Konzept seiner Ethik mit seinem frühen Entwurf einer Anthropologie in ein Verhältnis zu setzen und dasselbe dann für seine gewandelte Anthropologie und Ethik zu versuchen. Mit diesen Bemerkungen habe ich bereits den zweiten Aspekt meines Themas berührt. Er betrifft die Charakterisierung der Platonischen Philosophie. Allzu lange ist Platon durch die Brille seiner späteren Wirkungsgeschichte gesehen worden, so als wäre Platon der erste Platonist. Dazu gehört, ihm ein in sich geschlossenes Lehrgebäude zuzuschreiben, dessen Bausteine sich mit den Schlagworten „Ideenlehre", „Zweiweltenlehre" und damit verbunden „Leib-Seele-Dualismus" - um nur die wichtigsten zu nennen - charakterisieren lassen. Die dialogische Form seines Philosophierens wurde demgegenüber als eine didaktisch motivierte Einkleidung seines Theoriekonzepts interpretiert, die man vernachlässigen kann, ja muß, wenn man das Konzept als solches in seiner logischen Stringenz beurteilen will. Inzwischen jedoch ist immer deutlicher geworden, daß die Dialogform das Philosophieverständnis von Platon wesentlich bestimmt und daher nicht vernachlässigt werden darf und daß es ein von Platon errichtetes in sich geschlossenes systematisches Theoriegebäude nicht gibt. Das betrifft im übrigen auch den Teil seiner angeblichen Lehre, den man für einen zentralen hält, die sogenannte Ideenlehre.5 Die Platonische Philosophie hat ihren Ausgangspunkt nicht in Thesen, die zu einem logisch widerspruchsfreien Lehrgebäude sich ergänzen, sondern in lebensweltlich situierten Meinungen, die mit der Methode des Dialogs auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft werden. Kein Dialog führt zu einem endgültigen Abschluß, und kein

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W. Schadewaldt, Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, Frankfurt a. M. 1975, S. 7-36. 5 W Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982.

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Dialogpartner gibt definitiv die Meinung Platons wieder. Philosophie ist für Platon der unabgeschlossene und unabschließbare Dialog, dessen Ausgangspunkt die vielen Meinungen, dessen Methode die Meinungsprüfung und dessen Ziel ein handlungsleitendes Wissen ist. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte ich nun das in den frühen und mittleren Dialogen zu erschließende anthropologische und ethische Konzept skizzieren.

II. Anthropologie und Ethik auf dem Hintergrund des Leib-Seele-Dualismus 1. Platons rational-eudämonistische

Ethik

Platons Ethik, wie die der Antike überhaupt, umfaßt zwei gleichwichtige Aspekte. Sie ist rational und eudämonistisch. Einen Unterschied zwischen Sokrates und Platon zu thematisieren, erübrigt sich, sofern es um diese Grundcharakterisierung geht. Das Wort „Eudaimonia", das im Deutschen mit dem Wort Glück übersetzt wird, ist allerdings erläuterungsbedürftig. Es widerspricht allen gängigen modernen Vorstellungen von Glück. Es meint weder den erfüllten Augenblick, wie er in Goethes Faust in der berühmten Wette beschworen wird, noch etwa ein Gefühl und schließlich auch nicht den glücklichen Zufall, für den die Griechen das Wort „Tyche" gebrauchten. Glück im Kontext der griechischen Philosophie und wohl auch im alltäglichen Verständnis meint vielmehr in einem umfassenden Sinne ein im ganzen gutes, d. h. gelungenes Leben. Die selbstverständliche und von keinem antiken Autor in Frage gestellte Voraussetzung ist, daß dieses jeder Mensch will. Das gute Leben ist das selbstverständliche, natürliche Ziel des menschlichen Handelns. Es bedarf daher keiner besonderen Legitimation. Nur unter dieser Voraussetzung hat die antike Ethik einen Sinn. Die Fragestellung der antiken Ethik richtet sich daher auch nicht auf die Legitimation dieses Ziels, sondern auf zwei andere Fragen: Die eine lautet: Was ist das gute Leben? und die andere: Wie läßt es sich erreichen? Eine abschließende Antwort auf die erste Frage gibt Platon nicht. Weder bestimmt er schlüssig die Idee des Guten noch definiert er eindeutig das „gute Leben". Er benennt lediglich Momente, die wesentlich zu einem guten Leben gehören. So läßt sich in einem vorläufigen Sinn nur festhalten: Das gute Leben ist ein aufs Ganze gesehen gelungenes Leben. Seine Bestimmung bleibt selbst Aufgabe der Vernunft. Die Antwort auf die zweite Frage lautet: Gut ist ein Leben, das vernunftgeleitet ist. Die Orientierung an der Vernunft ist daher fur die Beantwortung beider Fragen das Entscheidende. Vernunftgeleitetes Leben und glückliches Leben schließen sich nicht etwa aus, sondern bedingen sich wechselseitig. Ich möchte diese These an einem frühen Platonischen Dialog erläutern, der mit großer Wahrscheinlichkeit die Position des historischen Sokrates wiedergibt. Im Dialog Protagoras erwähnt Sokrates die gängige These, daß jemand „von der Lust

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überwunden" das Schlechte tut. 6 Entgegen der sonst zwischen ihnen vorherrschenden Differenz sind sich Sokrates und Protagoras einig, daß diese Meinung jedenfalls dann unhaltbar ist, wenn der Erkenntnis die ihr angemessene Bedeutung eingeräumt wird. Als erstes ist daher zu entscheiden, ob die Lust als etwas Gutes oder als etwas Schlechtes eingeschätzt wird. Wird sie als etwas Schlechtes eingeschätzt lautet der Satz: „Von etwas Schlechtem überwunden, tut er das Schlechte." Dieser Satz ist nur dann haltbar, wenn das Schlechte als Schlechtes nicht erkannt wird. Andernfalls würde er bedeuten, daß der Handelnde etwas tut, obwohl er weiß, daß es schlecht ist. Wenn aber die Prämisse stimmt, daß jeder Mensch ein gutes Leben will, kann er wissentlich nichts Schlechtes tun. Das unbezweifelbar existierende schlechte Handeln geschieht also immer unwissentlich, d. h. so, daß das Schlechte für gut gehalten wird. Bleibt die andere Version: Die Lust wird als etwas Gutes eingeschätzt. Dann bekommt der Satz die Form: Vom Guten überwunden, tut er das Schlechte. Das ist eine in sich unsinnige Aussage, denn das würde bedeuten, daß der Handelnde das Gegenteil von dem tut, was er als gut erkannt hat. Genauer zu prüfen ist aber der erste Fall. Jemand hält etwas Schlechtes für gut und tut dieses Schlechte. Dieser Fall tritt recht häufig auf. Wie ist er zu erklären? Die Antwort ist: Das Schlechte erweist sich erst in der Zukunft als schlecht; in der Gegenwart erscheint es als gut. Bei der Einschätzung der Sache aufs Ganze gesehen, tritt nun eine in der Sache selbst gelegene perspektivische Verzerrung auf. Gegenwärtiges wird als größer eingeschätzt als Zukünftiges, ebenso wie Dinge in der Nähe stets größer erscheinen als in der Ferne. Diese Wahrnehmungstäuschung ist es also, die zu dem Fehlurteil führt. Um dieses zu vermeiden, ist eine Meßtechnik notwendig, eine „metretike techne", die die korrekten Proportionen wiedergibt. 7 Der Gebrauch dieser Meßtechnik ist eine Angelegenheit des vernünftigen Denkens. Orientiert am guten Leben wird der vernünftig denkende Mensch weder einer augenblicklichen Lust folgen, die auf lange Sicht gesehen überwiegend schlechte Folgen hat, noch wird er umgekehrt die z. B. augenblicklich schmerzhafte medizinische Behandlung vermeiden, die auf lange Sicht für ihn heilsam ist. Mögen auch viele Menschen anders denken, gegen das Prinzip einer an der durch das Denken erschlossenen Einsicht kann es ein gutes Leben nicht geben. Darin sind sich Sokrates und Platon und - wie der Dialog nahelegt - auch der Sophist Protagoras einig. Man kann dieses Konzept als eine rational-eudämonistische Ethik charakterisieren. Die nun zu beantwortende Frage lautet: Welche Anthropologie ist dieser Ethik zuzuordnen? Es ist ein Leib-Seele-Dualismus, wie er in besonderer Deutlichkeit im Dialog Phaidon erläutert wird.

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Platon, Protagoras 352 e. M. F. Meyer, Philosophie als Messkunst. Platons epistemologische Handlungstheorie, Münster/New York 1994. 7

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2. Anthropologie nach dem Modell des Leib-Seele-Dualismus Im Dialog Phaidon entwickelt Platon eine Anthropologie, die das im Dialog Protagoras im Hintergrund gebliebene Konzept vom Menschen akzentuiert und radikalisiert. Verschiebungen und Nuancierungen sind dabei nicht völlig auszuschließen. Auch ist der Zusammenhang von Anthropologie und Ethik nicht als ein logisch zwingender Ableitungszusammenhang zu interpretieren, sondern als der der Entsprechung. Der Dialog, der die Gespräche der letzten Stunden bis zum Tod von Sokrates zum Thema hat, wird von Sokrates durch die anstößige Bemerkung eingeleitet: Philosophieren heißt Sterbenlernen. 8 Die Lösung dieses Rätselwortes ist: Sterben bedeutet Trennung von Leib und Seele und eben das geschieht im Leben bereits durch das Philosophieren. Solange Leib und Seele verbunden sind, wird der Mensch durch die unstillbaren Begierden des Leibes gefesselt, aber auch durch Zorn und Rachsucht zu Streit, Mord und Krieg angestachelt. Von diesen Affektionen kann sich die Seele des Menschen nur befreien, wenn sie sich ganz in sich selbst zurückzieht in einen Bereich der allem Sinnlichen und Veränderlichen entzogen ist, und das ist der Bereich des Denkens. Aber ist das möglich? Es ist dann möglich, wenn die Seele einen in sich geschlossenen Bereich des Denkens darstellt, d. h. Denken etwas prinzipiell anderes ist als die leibgebundene Sinnlichkeit. Ist sie das, dann gibt es auch gute Gründe für die Annahme, daß sie den Tod des Leibes und seinen Zerfall überdauert. Die von Sokrates vorgetragenen Argumente für die Unsterblichkeit der Seele haben den Leib-Seele-Dualismus zur Voraussetzung. Ich erwähne die in diesem Zusammenhang wichtigsten. Das eine lautet: Die Seele hat eine so große Ähnlichkeit mit den von ihr gedachten Ideen, daß die Annahme berechtigt erscheint, die Seele selbst sei so einfach wie die Idee. Nun bedeutet aber alle Zerstörung Auflösung eines Dings in seine Teile. Das aber, was einfach ist, hat keine Teile, in die es aufgelöst werden könnte. Also ist die Seele, die einfach ist, unzerstörbar und somit unsterblich. Das zweite Argument knüpft an die alte griechische mythologische Vorstellung an, nach der die Seele, die Psyche, das Leben ist, das den Körper, „soma", zu einem Lebendigen werden läßt. Im Tode entweicht die Psyche als verkleinertes Abbild des Menschen aus dem Mund und läßt den Körper, „soma", als Leichnam zurück. 9 Psyche und Leben sind dasselbe. Aufgrund dieser Wesensidentität kann sich das Leben von der Psyche ebensowenig ablösen wie das Feuer von der Wärme oder der Schnee von der Kälte oder die Drei vom Ungeraden. Das ethisch relevante Ergebnis dieser Anthropologie lautet: Alle Begierden, alle Sinnlichkeit, aber

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Platon, Phaidon 64 a. E. Rohde, Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Leipzig o. J., Abb. 3; B. Snell, Die Entdeckung des Geistes - Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 1980, S. 19. 9

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auch alle Empfindungen wie Zorn, Trauer, Freude gehören dem Leib an, die Seele bewegt sich im Reich des davon befreiten Denkens. Bemerkenswert ist nun, daß Platon weder an dem ethischen Konzept, wie es im Protagoras entwickelt wurde, festgehalten hat, noch an dem Leib-Seele-Dualismus, wie er im Phaidon vertreten wird. Das neue Konzept wird in der Politeia entfaltet. I I I . Die geteilte Seele - Anthropologie und Ethik in Platons Politeia 1. Über Glück und Gerechtigkeit

(Politeia I)

In der Politeia, Platons zwar nicht einzigem, aber wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Werk zur politischen Philosophie, entwickelt sich ein neues anthropologisches Konzept und eine Modifikation seiner Ethik. Das deutet sich im ersten Buch der Politeia bereits an. Thema des gesamten Werks und auch des ersten Buches ist die Gerechtigkeit. Im besonderen geht es um die Frage des Zusammenhangs von Glück und Gerechtigkeit. Gegenüber Thrasymachos, einem Sophisten des 5. Jahrhunderts, vertritt Sokrates die These, daß die Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung des Glücks ist. Der ungerechte Tyrann, für den Thrasymachos plädiert, kann nicht glücklich sein - so Sokrates - ; denn aufgrund der von ihm angewandten Mittel der Herrschaftssicherung, der Lüge, des Betrugs, der List und der Gewalt, macht er sich nicht nur bei seinen Mitmenschen verhaßt, sondern er befindet sich auch mit sich selbst im Zwiespalt. Sokrates konstatiert: Gerechtigkeit bedeutet Eintracht mit sich und anderen, Ungerechtigkeit Zwietracht. Da aber Eintracht, verstanden als Harmonie, notwendige Bedingung des Glücks ist, kann der ungerechte Tyrann nicht glücklich sein. Denn: „Der Gerechte also ist glückselig und der Ungerechte elend." 10 Was aber bedeutet genau der Ausdruck: Zwietracht mit sich selbst? Diese Frage, die bereits einen Zwiespalt der Seele voraussetzt, beantwortet Platon in den folgenden Büchern, in denen er ein Modell der geteilten Seele entwickelt. 2. Die Teile der Seele und des Staates (Politeia II-IV) Gerechtigkeit, so die These von Sokrates, finde sich doch beim einzelnen Menschen, aber auch im größeren Bereich des Staates. Wäre es daher nicht sinnvoll, die Frage der Gerechtigkeit zunächst im größeren, überschaubaren Bereich des Staates zu untersuchen, bevor nach der im einzelnen Menschen gefragt würde? Es könnte ja sein, daß beide sich entsprächen. Und so entwickelt Sokrates zunächst das Modell eines einfachen, genügsamen Staates. Es ist in der Literatur zu Platon zu wenig beachtet worden, daß Platon in seinem Werk zum Staat nicht ein, son-

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Platon, Politeia 354 a.

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dem zwei Staatsmodelle entwickelt.11 Das erste, von Sokrates favorisierte, wird allzu schnell übersprungen, und es wird das zweite als Platons dogmatisch behauptetes Staatskonzept erörtert. Tatsächlich aber ist der zunächst entwickelte, einfache Staat höchst bedeutsam. Ausgangspunkt hierfür ist die Überlegung, daß jeder Mensch bedürftig ist, aber nicht jeder gleich gut in der Lage, die für das Leben notwendigen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung selbst zu produzieren. Er ist auf seine Mitmenschen angewiesen. Auf diese Weise entsteht eine Polis, die nach dem Prinzip der Arbeitsteilung organisiert ist. Es entsteht ein System der Bedürfnisse, dem ein System wechselseitiger, arbeitsteilig organisierter Bedürfnisbefriedigung entspricht. Im Unterschied zu neuzeitlichen Staatskonzepten, etwa dem von Hobbes, aber auch dem von Rosseau, in dem der Mensch als Individuum 12 interpretiert wird, dessen natürliche Freiheit durch den anderen Menschen potentiell bedroht ist und der daher in einem Vertrag eine zentrale Gewalt etabliert, die ihn beschützt, interpretiert Platon, und nach ihm Aristoteles ganz ähnlich, den Staat als den Zusammenschluß von Menschen, die aufgrund ihrer natürlichen Bedürftigkeit den anderen Menschen brauchen. Gerechtigkeit, so ließe sich der späteren Erörterung vorgreifend sagen, wäre im einfachen Staat dadurch gewährleistet, daß jeder Bürger das tut, worin er gut ist und zugleich damit zu dem wechselseitigen Tausch der bereitgestellten Mittel der Bedürfnisbefriedigung beiträgt. Im Hintergrund steht der Gedanke des gerechten Tausches. Allerdings ist dieses Modell des Staates statisch. Es geht von einem begrenzten Arsenal gleichbleibender Bedürfhisse aus. Dagegen macht Glaukon einen Einwand. Das, was fehlt, ist der Luxus, d. h. der Aspekt der Weiterentwicklung der Bedürfnisse. Der platonische Sokrates greift diesen Einwand auf, indem er zugleich deutlich macht, daß für die Befriedigung sich entwickelnder Bedürfnisse die Grenzen eines in sich geschlossenen Staates gesprengt werden. Es ist bedeutsam genug, daß Platon diesen Gedanken aufgreift und daraus die seiner Meinung nach notwendigen Konsequenzen zieht. Allerdings - und das darf nicht übersehen werden - charakterisiert er diesen Staat eindeutig negativ. Er nennt ihn üppig. Im üppigen Staat gibt es drei Stände. Es ist zunächst der Stand der Bauern, Handwerker und Kaufleute, d. h. der Stand, der für die Befriedigung der Bedürfnisse sorgt. Um die stets wachsenden Bedürfnisse befriedigen zu können, ist ein zweiter Stand notwendig, der Stand der Wächter, der nach innen für Sicherheit sorgen muß und nach außen für Zuwachs an Land und Ressourcen. Schließlich aber bedarf es eines besonderen Standes, der für das politische Funktionieren des Ganzen zuständig ist. Dieser Stand muß über ein hierfür notwendiges Wissen verfügen und im besonderen über die Gerechtigkeit wachen, ein Wissen, über das

11 Zur neueren Diskussion vgl. O. Höffe (Hg.), Platon. Politela. Klassiker Auslegen, Berlin 1997; W. Kersting, Platons ,Staat4. Werkinterpretationen, Darmstadt 1999. 12 Zum Begriff Individuum F. Kaulbach, Individuum und Atom, in Hist. WB. Philos. 4, Basel 1976 Sp. 299 f.; Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000.

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nur diejenigen verfügen, die sich überhaupt um Wissen in besonderer Weise bemühen. Es ist der Stand der Philosophen. Diesen drei Ständen entsprechend gibt es im einzelnen Menschen drei Seelenteile. Der unterste ist der begierdehafte (epithymetikon). Er umfaßt alle sinnlichen Bedürfhisse. Der zweite ist der Mutartige (thymoeides). Er umfaßt alle Emotionen, wie Zorn, Trauer, Liebe, Haß, Ehrgeiz, Stolz u. ä. Der dritte ist der denkende (logistikon) und umfaßt das rationale Denken, d. h. Einsicht, Vernunft, Klugheit, Urteilskraft. 3. Die Tugenden der Stände und der Seele Die Analogie zwischen den Ständen einer Polis und den Teilen der Seele wird ersichtlich, wenn man ihre spezifische Leistung, d. h. ihre Tüchtigkeit, Tauglichkeit, kurz ihre Tugend betrachtet. Der Stand der Philosophen-Herrscher bemüht sich wie der denkende Seelenteil um Wissen. Für den Stand der Wächter wie für den mutartigen Seelenteil ist die Tapferkeit die entscheidende Qualität. Für den Stand der Bauern, Handwerker und Kaufleute wie für den begierdehaften Seelenteil ist die Bedürfnisbefriedigung das Entscheidende. Allerdings ist hierfür das richtige Maß wichtig, d. h. Besonnenheit. Zu dieser Besonnenheit ist der unterste Bereich der Polis und der Seele aber von sich aus nicht imstande, sondern es ist eine Angelegenheit einer überlegenen Urteilskraft. Die kommt aber allein dem Stand der Philosophen bzw. dem denkenden Seelenteil zu. Dem obersten Bereich kommt daher eine besondere Aufgabe zu. Ihm obliegt die Aufsicht und Herrschaft über das Ganze. Die drei, sich aus der Gliederung ergebenden Tugenden lauten daher: Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit. Wo aber bleibt die Gerechtigkeit? Die Gerechtigkeit untersteht wie die Weisheit dem obersten Bereich, dem Denken, den Philosophen, und bedeutet die Kontrolle darüber, daß jeder Stand, jeder Seelenteil, die ihm zukommende Aufgabe erfüllt. Aus diesen vier Tugenden hat sich die spätere Lehre von den vier Kardinaltugenden entwickelt. Der Zusammenhang der Teile der Seele und des Staates mit den ihnen entsprechenden Tugenden läßt sich wie folgt darstellen: Teile des Staates

Tugenden

Teile der Seele

Philosophen-Herrscher

Weisheit (Gerechtigkeit) Tapferkeit (Gerechtigkeit) Besonnenheit (Gerechtigkeit)

das vernünftige Denken (logistikon) das Mutartige (thymoeides)

Wächter Bauern, Handwerker, Kaufleute

die Begierde (epithymetikon)

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IV. Modifizierte Anthropologie - modifizierte Ethik 1. Anthropologie als Psychologie Dieses neue, in der Politela entwickelte Modell der Seele hat Konsequenzen für die Anthropologie. Die wichtigste ist, daß an die Stelle des Leib-Seele-Dualismus das Modell der geteilten Seele tritt. Der Leib tritt als selbständige Größe nicht mehr auf. Mögen auch Begierde und Mut als Anwälte leiblicher Interessen interpretiert werden, so sind sie selbst nicht Leib, sondern als Teile der Seele als etwas Seelisches zu akzeptieren. Strenggenommen nimmt so die Anthropologie die Gestalt einer Psychologie an. Begierde und Mut sind nicht länger leibliche, sondern seelische Kräfte. Das ist mehr als ein Austausch von Worten. Indem die ehemals leiblichen Affekte zu seelischen Kräften werden, werden sie Teil eines zusammenhängenden Kräfteparallelogramms. Es geht nicht mehr, wie noch im Phaidon, darum, sich von ihnen zu befreien, sondern sie in ihren Grenzen zu akzeptieren. Es findet also eine entscheidende Aufwertung ehemals abgewerteter Bereiche des M enschen statt. Schwierigkeiten des Leib-Seele-Dualismus, die im Phaidon nicht gelöst wurden, nämlich die Frage, wie kann überhaupt Leibliches die in sich geschlossene, einfache Seele affizieren, werden dadurch gelöst, daß nun Seelisches zu Seelischem in Beziehung tritt. Das ist Platons Beitrag zur Lösung des später immer wieder und sehr nachhaltig erörterten Leib-Seele-Problems. Natürlich sind damit nicht alle Probleme gelöst. Im Kontext der Platonischen Philosophie ist eins besonders gravierend. Es ist das Problem der Unsterblichkeit der Seele. Das Argument, die Unsterblichkeit der Seele aus ihrer Einfachheit zu beweisen, wird nun hinfällig. Besteht die Seele aus Teilen, kann sie sich in eben diese auflösen. Und dies behauptet Platon nun auch. Keineswegs aber zieht er die Konsequenz, den Gedanken der Unsterblichkeit aufzugeben. Vielmehr unterscheidet er Sterbliches und Unsterbliches in der Seele. Unsterblich ist lediglich der den ewigen Ideen zugewandte, denkende Seelenteil, sterblich die beiden anderen, die das Veränderliche repräsentieren. Zwingend ist diese Argumentation ebensowenig wie die bisherigen, im Phaidon entwickelten Unsterblichkeitsbeweise. Denn entweder macht erst die Einheit der Teile das Ganze der Seele aus, dann kann es die Seele nicht ohne ihre Teile geben oder aber jeder Teil ist durch Einfachheit ausgezeichnet und es müßte für jeden Teil die Unsterblichkeit aus dem Argument der Einfachheit zutreffen. Das Festhalten an dem Gedanken der Unsterblichkeit der Seele, mag dies e auch auf einen problematischen Rest geschrumpft sein, ist Ausdruck für ein sich nicht Abfindenwollen mit der Sterblichkeit des Menschen. Die erste, entscheidende Kränkung, die noch den von Freud 13 genannten drei Kränkungen vorausliegt, der kosmologischen, der biologischen und der psychologischen,

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S. Freud, Darstellungen der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1973, S. 133 ff.

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ist die der Sterblichkeit. Mit ihr hat sich in der europäischen Geschichte über einen langen Zeitraum weder die Philosophie noch die Theologie abfinden wollen. 2. Ethische Konflikte Mit der Aufwertung ehedem leiblicher Affekt zu seelischen Kräften ergibt sich auch eine Modifizierung der Platonischen Ethik. Es entsteht die Möglichkeit ethischer Konflikte. Die konnte es nach dem Modell der frühen Dialoge nicht geben. Dort war alles schlechte Handeln als mangelndes Wissen zu verstehen. Das gute Handeln folgt aus der jeweiligen Einsicht in das, was gut ist, unter der stets gegebenen Prämisse, daß wir das Gute wollen. Nach dem neuen Modell aber ergibt sich die Möglichkeit ethischer Konflikte aus dem Gegeneinanderwirken der seelischen Kräfte. Prinzipiell sind drei Konflikte möglich: Ein Konflikt zwischen dem vernünftig denkenden Seelenteil und der Begierde, ein Konflikt zwischen dem mutartigeh Seelenteil und der Begierde und schließlich ein Konflikt zwischen dem vernünftig denkenden Seelenteil und dem mutartigen. Tatsächlich gibt Platon für alle drei Konflikte Beispiele. Der erste Konflikt entsteht, wenn die Vernunft einer unmäßigen Begierde, z. B. Durst, entgegenarbeitet. Für den zweiten Konflikt nennt Platon als Beispiel einen Mann, der begierig ist, die am Hinrichtungsplatz liegenden Leichen sich anzuschauen und der mutartige Seelenteil, hier zu verstehen als Anstand, als Ehrgefühl, dem widerspricht. Der Konflikt endet, erstaunlich genug, in der Niederlage des oberen Seelenteils; denn schließlich gibt der mutartige Seelenteil nach und er spricht zu seinen begierigen Augen: „Da habt ihr es nun, ihr unseligen, sättigt euch an dem schönen Anblick!" (440 a). Für den Konflikt zwischen dem vernünftigen Denken und dem mutartigen Seelenteil wäre die durch die Vernunft zu leistende Zügelung unmäßigen Zorns oder grenzenloser Trauer zu nennen. Auch nach dem modifizierten Modell der Ethik wird der Führungsanspruch der oberen Seelenkräfte über die niederen nicht in Frage gestellt. Aber das Ziel ist nicht mehr ihre völlige Negation, sondern ihre Mäßigung. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muß vor allem die oberste, das vernünftige Denken, gestärkt werden. Wie geschieht das? Die Antwort Platons lautet: durch philosophische Bildung. Und diese, die Paideia, ist Thema des im siebten Buch entwickelten Höhlengleichnisses. Der Weg der Erkenntnis, die den Charakter einer handlungsleitenden Einsicht hat, ist mühsam, langwierig und schmerzvoll. Vergleicht man beide Konzepte Platons zur Ethik, so fällt auf: Der Grundgedanke einer rational-eudämonistischen Ethik bleibt erhalten. Die Einsicht in das Gute bleibt das Entscheidende. Sie hat einen handlungsleitenden Charakter. Aber das Gute wird anders bestimmt. Es besteht nicht mehr in der Negation der begierdehaften und emotionalen Bereiche des Menschen, sondern in ihrer gerechten, d. h. maßvollen Akzeptanz.

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V. Resümee Drei Aspekte der Platonischen Philosophie verdienen m. E. nach wie vor besondere Beachtung: Platons Beitrag zu einer philosophischen Anthropologie, seine Überlegungen zur Ethik und die dialogische Methode. 1. Als Ausgangspunkt der Anthropologie Platons darf die Thaies zugeschriebene Devise gelten: Erkenne dich selbst! Sie eröffnet in spezifischer Weise die Fragerichtung einer philosophischen Anthropologie. Denn anders als jede andere Sachfrage, die einen Gegenstand zum Thema ihrer Betrachtung macht, bleibt sie gebunden an das Moment der Reflexion. Indem der nach Erkenntnis Strebende sich selbst zum Thema seiner Frage macht, tritt er zu sich selbst in ein Verhältnis. Selbsterkenntnis eröffnet und konstituiert ein Selbstverhältnis. Das Selbstverhältnis ist Ausdruck einer Differenzierung, die der Erkennende an sich selbst vornimmt. Die beiden Pole dieses Verhältnisses sind das Ich und sein Selbst. 2. Die Antwort auf die Frage, wie denn der Mensch selbst zu bestimmen sei, wird unterschiedlich beantwortet. Das frühe griechische Denken stellt als entscheidendes Kriterium deutlich seine Sterblichkeit heraus. Eng damit verbunden ist der Leib-Seele-Dualismus. Diesen ersetzt Platon durch das Modell der drei geteilten Seele. Aber wie auch immer die anthropologischen Bestimmungen lauten mögen, der Mensch als Erkennender setzt sich zu der von ihm favorisierten Bestimmung in ein Verhältnis. Damit verbindet sich die Möglichkeit, sich zu der getroffenen Bestimmung zu verhalten. Er bleibt nicht in einer neutralen Distanz zu ihr. Er akzeptiert die Sterblichkeit oder sucht sie, mit allen Mitteln zu überwinden. Dasselbe trifft für die beiden anderen anthropologischen Konzepte zu, die Platon erörtert. In jedem Fall eröffnen sie ein Spektrum von Verhaltensmöglichkeiten. Diese Möglichkeiten sind Ausdruck der menschlichen Freiheit. Es ist das Moment der Reflexivität als Konstitutivem einer philosophischen Anthropologie, das zugleich als ein Aufweis der menschlichen Freiheit zu verstehen ist. Platon hat das Moment der Freiheit in unterschiedlichen Kontexten in seinen Dialogen zur Geltung gebracht. Mit besonderer Emphase noch einmal im letzten Buch der Politeia. Hier entwirft er den Mythos von der Wahl des Lebensloses, die er als eine Selbstwahl charakterisiert, als eine vom Menschen immer schon getroffene und immer wieder zu fällende Entscheidung über die Weise, wie er sein Leben führen will. Selbsterkenntnis, so ließe sich mit Platon sagen, eröffnet die Möglichkeit der Selbstwahl. 3. Damit ergibt sich der Übergang zur zweiten Frage, der der Ethik. Platon vertritt das Konzept einer eudämonistischen Ethik. Ihre grundlegende Hypothese ist, daß der Mensch das gute Leben will. Die Frage nach dem guten Leben, gelegentlich auch als Frage nach dem höchsten Gut gestellt, zieht sich durch die Geschichte des europäischen Denkens und scheint nach wie vor aktuell zu sein. Gehört die Frage zur Natur des Menschen, so stellt sich, zumindest unter dem Vorzeichen eines neuzeitlichen Naturbegriffs das Problem, ob mit dieser Annahme nicht die Freiheit des Menschen wieder aufgehoben wird. So wird im englischen

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Wolfgang H. Pleger

Sprachraum, z. Β. von Guthrie 14 die Frage gestellt, ob Sokrates und Platon Deterministen waren. Die Frage lautet also: Kann der Mensch anders handeln als nach seiner jeweiligen Einsicht von dem, was er für gut hält? Diese Frage wird zum Glück von Platon selbst, und zwar schon in seinen frühen Dialogen positiv beantwortet, so z. B. im Hippias Minor. Derjenige, der die Wahrheit kennt, kann auch das Falsche sagen, derjenige, der richtig rechnen kann, kann auch falsch rechnen, derjenige, der die heilsame Medizin kennt, versteht sich auch auf Gifte, kurz: derjenige der das Gute kennt, kennt auch das Schlechte. Der Entscheidung für das gute Leben treten andere Möglichkeiten zur Seite. Es ist das bloße Leben, d. h. das bloße Überleben und es ist die Möglichkeit des Selbstmords. Beide Möglichkeiten hat Platon in seinen Dialogen erörtert und verworfen. Indem Platon diese Möglichkeiten erörtert, wird deutlich, daß er als Vertreter eines Determinismus nicht in Anspruch genommen werden kann. Deutlich wird aber auch, daß das Plädoyer für eine eudämonistische Ethik nicht alternativlos ist. Sie stellt lediglich eine, wenn auch gut begründete philosophische Meinung dar, die wie jede philosophische Meinung der Interpretation und der Rechtfertigung bedarf. 4. Damit ist der dritte Aspekt der Platonischen Philosophie angesprochen, der m. E. unüberholt ist. Es ist der Ansatz des Dialogs als einer Methode der Meinungsprüfung. Es mag das philosophische Selbstverständnis, besonders das, welches sich als wissenschaftlich begreift, kränken, wenn philosophische Aussagen nicht den Status unwiderlegbarer Thesen beanspruchen, sondern den von Meinungen. Die Rehabilitierung der Meinung ist aber unlösbar verbunden mit dem Verständnis von Philosophie, das nach der Aussage von Platon für Sokrates leitend war. Philosophie repräsentiert die menschliche Weisheit, die im Unterschied zur göttlichen, unvollkommen und überholbar ist. Aussagen haben den Status von Meinungen, die Wahrheit intendieren, aber nicht garantieren. Der Weg der Erkenntnis ist ein Umweg. Es ist der Umweg des Dialogs. Der Dialog ist das Medium und die Methode der Meinungsprüfung. Das in den Sokratischen Dialogen verwendete Wort für diese Prüfung lautet Skepsis. Skepsis im Sokratischen Sinn ist dem Wort entsprechend ein genaues Hinsehen, ein prüfendes Betrachten. Es ist eine Forschungsdevise und unterscheidet sich streng von der später entwickelten, sogenannten pyrrhonischen Skepsis. Diese verbindet sich mit dem Gedanken der „epochè", der Urteilsenthaltung. Davon ist bei Sokrates nicht die Rede. Dialog als Methode der Meinungsprüfung schließt aber einige Wissenskonzepte aus. Es schließt das Konzept eines in sich abgeschlossenen, systematisch gedachten Lehrgebäudes ebenso aus wie jeden Fundamentalismus, sei er religiös oder ideologisch motiviert. Er schließt aber auch jedes positivistische Wissenschaftskonzept aus.

14 W. K. C Guthrie , Socrates. A History of Greek Philosophy III, Cambridge 1971, S. 139-142.

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Der Dialog als Methode der Meinungsprüfung darf aber nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Er nimmt im Gegenteil die Meinung als eine Überzeugung ernst, die sich allerdings der Überprüfung aussetzt. Die Meinung ist Grundlage unseres Denkens und Handelns, die solange gilt, bis sie durch eine bessere ersetzt wird.

Zwischen Widerstandsrecht und starkem Staat Ein Beitrag zur deutschen Rezeptionsgeschichte von Hobbes Von Howard Williams und Mirko Wischke In Folgendem beschränken sich unsere Überlegungen auf zwei wichtige, äußerst spannende Phasen der Hobbes-Rezeption in Deutschland. Die erste Phase fällt in den Zeitraum nach der französischen Revolution, die zweite Phase in die Jahrzehnte nach dem ersten Weltkrieg. Die Vermutung liegt nahe, dass diese beiden Ereignisse der unmittelbare Anlass für die Diskussion um Hobbes' politische Philosophie waren. Denn die Interpretation von Hobbes' Ideen wurde in dem Moment wichtig, wo entscheidende Fragen über künftige Gesellschaftsformen geklärt werden mussten. Ist diese Vermutung richtig, so gibt die Hobbes-Rezeption in den genannten Perioden Aufschluss über die jeweiligen politischen Kontexte, in denen über zentrale Gedanken von Hobbes diskutiert wurde. Wie zu sehen sein wird, nimmt die Interpretation von Hobbes' Widerstandslehre einen zentralen Platz in diesen Diskussionen ein. Hobbes wurde von zwei einander entgegengesetzten politischen Haltungen in Anspruch genommen: Man berief sich auf ihn, um gesellschaftliche Reformen entweder zu blockieren oder zu beschleunigen. So wurde Hobbes in der Zeit der französischen Revolution von den Befürwortern der Revolution heftig attackiert, von den Opponenten der Revolution hingegen vehement verteidigt, während sich nach dem 1. Weltkrieg diejenigen auf seinen Souveränitätsbegriff beriefen, die einen starken Staat befürworteten. Unsere Erörterungen beginnen mit Kants Bemerkungen über Hobbes, der die Prinzipien derfranzösischen Revolution bejaht und kein absoluter Gegner von Hobbes war.

I. Kant und der erste Übersetzer des Leviathan Über Hobbes als politischen Denker hat sich Kant nur wenig geäußert. Wie andere moderne Philosophen schätzt auch er an Hobbes nur einige Aspekte seiner Philosophie, nicht aber seine Philosophie im Ganzen. Das hindert ihn nicht daran, in Hobbes einen lesenswerten, wenn auch paradoxen Denker zu sehen, dessen Schriften er für lesenswerter hielt als die langatmigen Werke eines Pufendorf, Grotius oder Vattel. Obwohl der religiöse Geist jener Zeit der Akzeptanz von Hobbes' Gedanken im Wege stand, stoßen seine politischen Meinungen auf

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Verständnis und Wohlwollen. Das erklärt vielleicht, warum Kant den wichtigsten Teil seiner Schrift ,Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis' Hobbes gewidmet hat. Im zweiten Teil dieser Schrift diskutiert Kant Hobbes' politisches System, dessen Grundgedanken er zu widerlegen sucht. Diese Schrift erscheint 1793 in der Berlinschen Monatschrift zu einer Zeit, als sich die französische Revolution auf den Höhepunkt des Terrors zubewegte. In seiner Schrift verteidigt Kant die wichtigsten Ideen der Revolution, wie Gleichheit und Freiheit, ohne dem Begriff der Brüderlichkeit Geschmack abgewinnen zu können; diesen Begriff formt er zum Begriff der Unabhängigkeit um. Kants Kritik an Hobbes ist zunächst der Versuch, die Ideen der republikanischen Regierungsform, insbesondere die Redefreiheit zu rechtfertigen. Hobbes hat weder republikanische Ideen noch die Redefreiheit geduldet, und eine Teilnahme des Volkes an der Regierung und Gesetzgebung hat er ausgeschlossen. Die Grenzen der Redefreiheit zu bestimmen, ist das alleinige Recht des absoluten Souveräns, dessen Gesetzgebung ohne den Rat der Bürger auskommt. Kant erkennt klar, welche Bedeutung der Begriff der Souveränität für Hobbes politische Philosophie besitzt. Er modifizierte diesen Begriff jedoch, da ihm die Unterwerfung unter die Macht des Souveräns bei Hobbes zu weit geht: „Wenn man mir nun bei diesen meinen Behauptungen den Vorwurf gewiss nicht machen wird, dass ich durch diese Unverletzbarkeit den Monarchen zu viel schmeichele: so wird man nun hoffentlich auch denjenigen ersparen, dass ich dem Volk zu Gunsten zu viel behauptete, wenn ich sage, dass dieses gleichfalls seine unverlierbaren Rechte gegen das Staatsoberhaupt habe, obgleich diese keine Zwangsrechte sein können."1 Hobbes' Behauptung, dass das Staatsoberhaupt dem Bürger im Grunde genommen gar kein Unrecht antun kann, bezeichnet Kant in der ihm eigenen Ausdruckweise als „erschrecklich". 2 Die Frage ist: Warum? Kant versteht Hobbes in dem Sinne, dass der gefügsame Untertan verpflichtet sei anzunehmen, dass sein oberster Herr ihm prinzipiell kein Unrecht antun kann.3 Zudem sei der Souverän befugt, die öffentliche Meinung der Bürger zu kontrollieren. Dem widerspricht Kant, wenn er meint, dass der Souverän kein Zensor sein darf. Der Bürger hat die Freiheit, seine Meinung öffentlich zu äußern: „So muss dem Staatsbürger und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst die Befugnis zustehen, seine Meinung über das, was von Vergnügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen."4 Aus Hobbes' Widerstandsrecht wird ein Recht auf Meinungsfreiheit; Kant nennt es Publizität. Zum Recht auf Publizität gehört auch die Pflicht des

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8, 303 Kant's Gesammelte Schriften, Akademie Ausgabe (Berlin, 1902 ff.). 8, 303-4. 8, 304. 8, 304.

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Souveräns, auf die Stimmen seiner Untertanen zu hören. Im Unterschied zu Hobbes impliziert Kants Souveränitätsbegriff eine Teilung der staatlichen Macht. Kant plädiert für eine strikte Trennung der ausübenden Gewalt und der gesetzgebenden Macht, die ihrer Tätigkeit unabhängig voneinander nachzugehen haben. Die gesetzgebende Gewalt darf sich nicht in Angelegenheiten der Exekutive einmischen, noch darf diese sich in die Tätigkeit der Legislative einschalten. Eine solche Teilung lehnt Hobbes mit dem Argument ab, dass allein die Untertanen keine dauerhafte Grundlage für die Herrschaft des Souveräns bilden können. Kant verfährt umgekehrt, wenn er mit Rousseau die Ansicht vertritt, dass die Macht des Souveräns von dem allgemeinen Willen auszugehen hat. Auch wenn Hobbes in seinen Augen ein scharfsinniger Denker ist, so ist er doch auch ein Befürworter des englischen Absolutismus. Der ersten Übersetzung des Leviathan , die 1794 in Halle/S. ein Jahr nach Kants Schrift erschien, ist eine interessante, wenn auch kurze Einführung vorangestellt, die zeigt, wie Hobbes in jenen Jahren allgemein verstanden wurde, nämlich als ein rigoroser Gegner der Religion. In dieser Weise war Hobbes auch von seinen eigenen Landsleuten gelesen worden. Die Einleitung ist eine bemerkenswerte Interpretation, wenn man bedenkt, dass Hobbes selbst immer bestritten hat, dass er ein Atheist war. Dagegen heißt es in der Einführung von 1794: „Darf man denn wohl einen so verdächtigen Mann, wie Thomas Hobbes es ist, in Deutschland auftreten lassen? - Freilich war es meine Schuldigkeit, ihn von dem allgemein auf ihm ruhenden Verdacht zu befreien; aber das ist keine leichte Sache, und in mancherlei Hinsicht unmöglich."5 Das Zitat dokumentiert, welch eine umstrittene Figur Hobbes zu jener Zeit gewesen ist. Seine Religionsthesen scheinen ihn in ein zweifelhaftes Licht zu rücken. Der deutsche Übersetzer versäumt es jedenfalls nicht, den Leser daraufhinzuweisen, dass die Römisch-Katholische Kirche Hobbes nie vergeben wird, „was er zu ihrem Nachteil geschrieben hat". 6 In der Einführung zum zweiten Band fügt der Übersetzer versöhnend hinzu: „Kann man aber gleich ihn nicht außer allen Verdacht setzen, so ist doch noch Hoffnung da, es so weit zu bringen, dass man ihm ohne herrschenden Widerwillen ruhig anhöre, und was es Wahres und Gutes hat, als rohes Material ansehe, bearbeite und zum Frommen anwende."7 Von diesem versöhnlerischen Grundton ist auch der Hinweis des Übersetzers auf Hobbes' politische Folgerungen getragen: „Kann gleich das alles, was Hobbes von der Macht des bürgerlichen Staates sagt, nicht in jedem Land gerade so, wie er es sagt, stattfinden; so ist dennoch viel Wahres in seinem Buche enthalten und mag sonderlich dazu dienen, dass manche, die von dem Freiheitsschwindel ergriffen

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Des Engländers Thomas Hobbes Leviathan oder der kirchliche und bürgerliche Staat, Erster Band, Halle 1794, i. 6 Ebd. 7 Ders., Des Engländers Thomas Hobbes Leviathan, Zweiter Band, Halle 1795, iv.

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sind, ohne Gefahr sehen, wohin derselbe zuletzt notwendig fuhren muss." Besondere Beachtung verdient die Einschätzung, dass die neueste Geschichte Frankreichs einen großen Teil von Hobbes' Grundsätzen rechtfertigt. 8 Im Unterschied zu seinen Bemerkungen über die Religion, die auf keine Resonanz stoßen, finden Hobbes' politischen Äußerungen nicht nur Gehör, sondern werden regelrecht emphatisch begrüßt. Diese wenigen Zitate aus der kurzen Einfuhrung eines in seinem Urteil eher zurückhaltenden Übersetzers demonstrieren, wie Hobbes zu jener Zeit allgemein verstanden wurde: als ein Feind der Religion - obwohl Hobbes immer bestritten hat, dass er Atheist war - , und als ein tiefsinniger politischer Denker. Dass es die französische Revolution ist, die Hobbes' politischem Denken Aufwind bringt, klingt in der Feststellung des Übersetzers an: „Wir wollen alles prüfen und das Beste behalten, sonderlich, wenn's zugleich zum Frieden dient." 9 II. Paul Johann Anselm Feuerbach und das Widerstandsrecht Quer zu der eben dargelegten Interpretation steht eine Rezeptionsrichtung, die mit dem Namen von Paul Johann Anselm Feuerbach - dem Vater von Ludwig Feuerbach - verbunden ist. Er ist der Autor eines Buches, das entscheidende Impulse seiner Entstehung Hobbes verdankt. Negativ drückt sich dieser Einfluss im Titel des Buches aus: Anti-Hobbes. Feuerbach ist ein berühmter Strafrechtslehrer und Richter seiner Zeit gewesen. Sein 1801 publiziertes „Lehrbuch des peinlichen Rechts" erlebte bis 1847 insgesamt vierzehn Auflagen und wurde damit zu dem tonangebenden juristischen Lehrbuch seiner Zeit. Generationen von Juristen haben dieses Lehrbuch zur Grundlage ihres Studiums in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gemacht.10 Feuerbach gehört zum Kreis jener bürgerlichen Denker um die Wende zum 19. Jahrhundert, die an Vernunft und Einsichtsfähigkeit, Klugheit und Verständnis ihrer aufgeklärten Landesherren appellieren, um auf dem Wege von Reformen die absolutistische Herrschaftsform in einen bürgerlichen Verfassungsstaat umzuwandeln.11 Nach einer kurzen akademischen Laufbahn in Jena, Kiel und Landshut ist Feuerbach als Jurist und Richter in Bayern tätig gewesen, wo er für scharfe und klare Strafgesetze eintrat und sein Entwurf des bayerischen Strafgesetzbuches von

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Ders., Des Engländers Thomas Hobbes Leviathan, Band 1, a.a.O., vii. Ders., Des Engländers Thomas Hobbes Leviathan, Zweiter Band, a.a.O., iv. Der Übersetzer meint: „Zu dieser Hoffnung berechtigen mich die vielen unbefangenen Geschäftsmänner, die nicht Partei genommen haben, also noch immer Leistung und Fähigkeit besitzen, jede Lehre kaltblütig zu untersuchen, und, was sich ihnen als Wahrheit aufdringet, auch dafür anzunehmen, und wie billig gehörigen Ortes zu nutzen." 10 R. Hartmann, P.J.A. Feuerbachs Politische und Strafrechtliche Grundanschauungen, Berlin 1961, vii. "Ebd., 44. 9

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1813 zum „Vorbild für die spätere Gesetzestechnik" wurde. 12 Seine liberale politische Gesinnung machte ihn zum Befürworter der Unabhängigkeit der Gerichte, der Bindung der Richter an die Gesetze und der Öffentlichkeit der Verhandlung. 13 Feuerbach wusste nur zu gut, dass sein Buch ein mutiges, ja waghalsiges Unternehmen ist, befürchtete er doch - wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist - sich „großen Gefahren" mit der Publikation auszusetzen. In einer privaten Notiz ist zu lesen: „Die politische Situation wird ihre Klauen gegen mich ausstrecken". 14 Warum diese Angst? Kants Einschätzung von Hobbes war nach wie vor gültig: Hobbes galt als Vertreter eines rigorosen Absolutismus, und zwar aufgrund seines extremen Souveränitätsbegriffs. Die liberalen Erwartungen, wie sie Feuerbach und viele seiner fortschrittlich gesinnten Zeitgenossen hegten, schienen mit der Rechtfertigung eines absoluten Souveräns unvereinbar zu sein, wie Feuerbachs tiefer Überzeugung zu entnehmen ist, dass „Thomas Hobbes, (der) Zeitgenosse Cromwells und Karls des Ersten, [...] sich uns in seinen Schriften als entschiedener Freund des Despotismus und einer durch nichts beschränkten höchsten Gewalt (zeigt). Der Regent ist ihm alles, und der Bürger nichts; jener hat unbeschränkte Gewalt zu befehlen, dieser als einzigen Verdienst, blindlings zu gehorchen. Das Eigentum des Bürgers ist das Eigentum des Regenten: die Rechte des Volks ein Gut des Fürsten, aus dem er machen kann, wozu seine Lust ihn treibt." 15 Nur zu gut versteht Feuerbach die Pflichten des Regenten, wie sie Hobbes ihm zubilligt. Er hält es jedoch für ausgeschlossen, dass diese Pflichten mit Rücksicht auf die Untertanen durchführbar sind. Laut Hobbes hat der Regent zwar Pflichten, jedoch nicht staatsrechtlicher Art, sondern lediglich solche, die er vor Gott hat. Diesen Unterschied übersieht Feuerbach insofern, als er davon ausgeht, dass das „Wohl der Nation eine heilige Pflicht des Regenten" ist, die jedoch eine „bloße Pflicht der Güte, und nicht der Gerechtigkeit" ist. Feuerbach stützt seine Behauptung auf Hobbes' De Cive, insbesondere auf die Kapitel XIII (2) und V I (12), denen Feuerbach entnimmt, dass der Regent im Grunde genommen für keine einzige seiner Handlungen verantwortlich ist; für das, was er tut, kann er nicht vom Volk strafbar gemacht werden. 16 Für Feuerbach eine inakzeptable Ungleichheit, da der Regent von seinem Volk immer dann beleidigt wird, wenn dieses sich ihm „widersetzt oder (ihm) den Gehorsam [...] versagt", ohne dass er selbst sein Volk beleidigen könnte. Was Hobbes verlangt, ist laut Feuerbach schlichtweg unerträglich, da „keine Verletzung eines Vertrags, keine noch so empörende Beleidigung der Gerechtigkeit [...] den

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Lexikon A-Z in zwei Bänden, Leipzig 1958, 545. Ebd., 545. 14 R. Hartmann, P.J.A. Feuerbachs Politische und Strafrechtliche Grundanschauungen, a.a.O., 46-7. 15 P.J. A. Feuerbach, Anti-Hobbes, Erfurt 1798, 3-4. 16 Ebd., 4. 13

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Untertan seiner unbedingten Unterwerfung entledigen" könne 17 . Aus diesem unerträglichen Verhältnis den Untertan herauszulösen, ist das Anliegen von Feuerbach; er betont: „Gegen den Regenten, insofern er durch eine absolute Privathandlung die Freiheit der Untertanen beleidigt, ist auch positiver Zwang erlaubt." 18 Auf diesen Aspekt ist seine Kritik nicht beschränkt; Feuerbach geht noch einen Schritt weiter, wenn er es für völlig legitim ansieht, dass der „Untertan gegen den Regenten als öffentliche Person insofern positiven Zwang ausüben (darf), als er ihm zur Sicherung der Freiheit für künftige Fälle, mit Strafen droht, wenn er den Unterwerfungsvertrag verletzen sollte". 19 Ausnahmslos jede Person, die Rechte verletzt, steht unter Strafzwang. Der Regent ist davon nicht ausgenommen. Hat er durch seine Handlungen bewiesen, die Pflichten des Regenten übertreten zu haben,20 macht er sich laut Feuerbach unweigerlich strafbar. Feuerbach vertritt einen Standpunkt, der Locke ähnlich ist und den Kant ablehnt. Im Gegensatz zu Kant, der Hobbes eines untergründigen Machiavellismus verdächtigt, zieht Feuerbach nicht nur eine scharfe Trennlinie zwischen Machiavelli und Hobbes. Er macht auch kein Geheimnis aus seiner Sympathie für Machiavelli: „Machiavelli ist nie unser Gegner, wenn wir gegen den unbedingten Gehorsam und über die rechtlichen Grenzen der höchsten Gewalt sprechen. Er ist Politiker und nicht Rechtslehrer und hat in keinem seiner Werke die Frage, welche unsrer Untersuchung zum Grunde liegt, auch nur von ferne berührt. Seine Principes haben keinen Rechtsgegenstand, sondern beantwortet die Frage: Wie muss ein Despot verfahren, wenn er konsequent sein will? - Dagegen konnte ich wohl den berühmten Thomas Hobbes zu meinem Hauptgegner wählen. Er ist selbst als Rechtslehrer der scharfsinnigste und konsequenteste Verteidiger des Despotismus und des sklavischen Gehorsams." 21 Feuerbach übersieht die enge Verbindung von Freiheit und Gehorsamkeit bei Hobbes. Da er diesen Zusammenhang nicht wahrnimmt, sieht er in Hobbes allein den Befürworter des Absolutismus. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht die Widerstandslehre bei Hobbes, die für Feuerbach im Grunde genommen eine „Nichtwiderstandslehre" ist. Laut Feuerbach hat Kant zu milde über diese Lehre von Hobbes geurteilt. Feuerbach sucht nach einem Weg, das Recht auf Widerstand zu rechtfertigen, das durch die Reziprozität des Versprechens vorgezeichnet ist: „Der Unterwerfungsvertrag ist ein zweiseitiger Vertrag, das heißt, ein solcher bei welchem jeder Paciscent sowohl Versprecher als auch Annehmer eines Versprechens ist, welcher also für beide Parteien, sowohl Rechte als Verbindlichkeiten begründet". In Feuerbachs Verständnis ist der Souverän dem Volk vor und nach der Schließung des Gesellschaftsvertrages verpflichtet: „Der Oberherr verspricht: den Staat dem

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

4-5. 298. 300. 300. xvii.

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allgemeinen Willen gemäß zu regieren; die Untertanen versprechen: seinen Gesetzen und Verfügungen zu gehorchen." 22 Feuerbach stellt sich damit in einen bewussten Gegensatz zu Hobbes und Kant, die aus sehr unterschiedlichen Gründen ein reziprokes Verpflichtetsein beim Vertrag in Frage stellen.23 So ist für Kant durch den Vertrag zunächst das Versprechen einer anderen Person und nicht das Versprochene selbst schon erworben 24. Im Hinblick auf das Gut, das der Vertragsabschließende erlangen will, bedeutet dies, dass durch den Vertrag auf ihn das Recht des anderen auf eben jenes Gut übertragen wird. Im Gegenzug wird von ihm das Recht auf ein anderes Gut auf die Person übertragen, die ihm das Recht auf das erstrebte Gut zugesprochen hat. Es geht also nicht schon um den Erhalt des Versprochenen, sondern zunächst darum, dass mit der beiderseitigen Annahme des gegenseitigen Versprechens der spätere Erhalt des Versprochenen vorausgesetzt werden muss. Wäre dies nicht der Fall, könnten Verträge nicht geschlossen werden. Laut Feuerbach setzt der Gesellschaftsvertrag eine Gleichheit zwischen Untertan und Herrscher voraus: „Der Unterwerfungsvertrag lautet demnach etwa so: Wir wollen deinen Willen als das Organ des allgemeinen Willens anerkennen; oder weil der allgemeine Wille in der Idee des Bürgervertrags enthalten ist: Du erhältst von uns das Recht, die Idee des Bürgervertrags durch deinen Willen zur Wirklichkeit zu bringen." 25 Diesen Aspekt (der sehr stark bei Rousseaus Gesellschaftsvertrag vorkommt) hat Hobbes laut Feuerbach ausgeblendet: „Hobbes bleibt überall seiner Maxime: alle Ansprüche der Bürger an den Oberherrn zu vernichten, getreu. Ihm ist höchste und schlechthin unbedingte Gewalt nur eine und dieselbe Sache."26 Der Herrscher stützt sich letzten Endes auf physische Gewalt. 27 Feuerbach komplettiert sein vernichtendes Urteil mit der These, dass bürgerliche Gesellschaft und Imperium bei Hobbes identisch seien.28 Feuerbach weiß sehr wohl zwischen der politischen Philosophie von Hobbes und Kant zu differenzieren, nivelliert jedoch den Unterschied zwischen beiden Denkern im Hinblick auf das Widerstandsrecht, von dessen Möglichkeit er unbeirrt überzeugt ist. Einen Widerspruch zum Staatsrecht, das so ein Recht enthält, sieht er nicht: „Die allgemeine Maxime, einem ungerechten Regenten zu widerstehen ist, [...] keine feindselige, Staat und bürgerlichen Verein zerstörende - mithin keine

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Ebd., 95. Der Einfluss von Rousseau ist ebenso wenig zu übersehen wie die Parallelität zu Locke. 24 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Frankfurt/M. 1982, AB 102, S. 386. 25 P.J. A. Feuerbach, Anti-Hobbes, a.a.O., 101. 26 Ebd. 27 Ebd., 136. 28 Hier zitiert Feuerbach De Ci ve (VI, 13; VI, 18). Vgl. A. Feuerbach, Anti-Hobbes, a.a.O.: „Eine durchaus irrige, den Begriff und die Würde des Regenten vernichtende Behauptung! Eine solche Gewalt gibt einen privilegierten Räuber oder den Henker, aber keinen Oberherrn; einen Gebieter und Zuchtmeister von Sklaven, aber keinen Regenten." 23

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sich selbst zerstörende Maxime." Auf die Frage, warum das Widerstandsrecht kein Oppositionsverhältnis zum Staatsrecht bildet, argumentiert Feuerbach: „Widersetzt sich [...] das Volk den unrechtmäßigen Anmaßungen des Regenten, so ist es weit entfernt den Staat zu zerstören: es erhält ihn, indem es den Zweck erhält, durch den allein die Gesellschaft als Staat vorhanden ist." 29 Das Volk besitzt Rechte, unabhängig vom Regenten. Gibt es keinen obersten Herrn, steht es im Ermessen jedes Einzelnen, wie er seine Rechte kraft eigener Gewalt verteidigt. Für Feuerbach gibt der Staatsbegriff keine Argumente her, die Hobbes' Position untermauern könnten. Es „findet sich in dem Begriff des Staats, in der Natur der höchsten Gewalt, in dem bürgerlichen und Unterwerfungsvertrag auch nicht ein sterbendes (sie!) Wörtchen für ein Staats-Ober-Eigentum." 30 Nach diesem Überblick stellt sich die Frage nach der Wirkungsgeschichte dieser beiden von uns dargelegten Rezeptionslinien in der eingangs dargelegten Periode nach dem 1. Weltkrieg. Konkret interessiert uns, ob Carl Schmitt in der Tradition einer dieser beiden Richtungen steht. I I I . Carl Schmitt und der starke Staat Augenfällig bei Schmitt ist die starke Konzentration auf den Leviathan , der ihm als das unbestrittene Hauptwerk gilt, demgegenüber der De Cive von untergeordneter Bedeutung ist. Insbesondere interessiert sich Schmitt für die symbolische Bedeutung des Leviathan. Den Leitfaden seiner Hobbes-Lektüre bildet die Frage, „ob der von Hobbes geschaffene Mythos des Leviathan eine echte Wiederherstellung der ursprünglichen Lebenseinheit war, ob er sich als politisch-mythisches Bild im Kampf gegen die jüdisch-christliche Zerstörung der natürlichen Einheit bewährt hat oder nicht, und ob er der Härte und Bosheit eines solchen Kampfes gewachsen war." 31 Die Analogie mit dem biblischen Ungeheuer nimmt Schmitt durchaus ernst, deutet sich doch hier seiner Meinung nach eine Schwäche in der Hobbes'sehen Staatslehre an. Für ihn ist der Begriff des Leviathan nicht nur von rhetorischer Bedeutung, sondern hat auch einen theoretisch anspruchsvollen Sinn, der darin zum Ausdruck kommt, dass Schmitt vom ,Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols' spricht. Im Unterschied zu Tönnies, der Hobbes' System auf eine rein systematische Weise darstellt, verfolgt Schmitt eine klare interpretatorische und politische Absicht. Mit Rumpf lässt sich diese Intention in zwei Fragen rekonstruieren: „1. ob der aus dem Alten Testament stammende Mythos vom Seeungeheuer Leviathan das angemessene Symbol der von Hobbes postulierten Ideen der überlegenen Einheit der Staatmacht war; 2. welche Kräfte und Ideen die

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Ebd., 258. Ebd., 276. 31 C. Schmitt, Der Leviathan, Stuttgart, 1995,23; vgl. H. Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, Berlin 1972, 62-63. 30

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Ordnungsmacht des einheitlichen Staates mit Auflösung bedrohen, den Leviathan zu erlegen und zu zerlegen sich anschicken."32 Rumpf behauptet, dass Schmitt einer der „bedeutendsten Hobbes-Deuter deutscher Sprache" und sein „geistiger Nachfahre im 20. Jahrhundert" ist: „Carl Schmitts Werk, insbesondere sein Beitrag zur politischen Theorie, wird erst auf dem Hintergrund von Thomas Hobbes' politischer Gedankenwelt voll verständlich, die darin eine teilweise und aktualisierte Renaissance erfahren hat." 33 Rumpfs These kann sich darauf stützen, dass Schmitt selbst sich in einer geschichtlichen und existentiellen Parallelität mit Hobbes sieht, sich eng mit ihm verbunden fühlt und ihn als einen „Bruder" und „Freund" bezeichnet.34 Hobbes sei einer der „großen Einsamen des 17. Jahrhunderts", der „stets in unverlierbarer Freiheit des Geistes und immer in guter persönlicher Deckung, immer entweder auf der Flucht oder in einer unauffälligen Verborgenheit" über „gefährliche Dinge nachgedacht, gesprochen und geschrieben" hat.35 Diese Parallele mag übertrieben sein, wenn man bedenkt, dass Hobbes „sich bei aller Vorliebe für den königlichen Absolutismus nie einem politischen System so verschrieben" hat wie Schmitt.36 Es mag auch sein, dass man Hobbes zu sehr verteidigt, wenn man herausstreicht, dass Hobbes zwar die „längste Zeit in Tuchfühlung zum Machthaber" lebte, sich in seinen Schriften jedoch „mehr als Lehrer seiner Mitbürger denn als Anwalt seines Herrschers" erweist. 37 Richtig ist, dass Hobbes seine Arbeit stets mit großem wissenschaftlichen Ernst betrieben hat, und zwar immer mit einer gewissen Vorliebe für die Machthaber, wie er selbst gelegentlich gesteht. In Schmitts Einschätzung hat Hobbes durch den Leviathan eine ebenso berühmte wie zweifelhafte Berühmtheit erlangt. Ohne Frage steht Hobbes' übriges Werk im Schatten des Leviathan. In Schmitts Worten: Für das Allgemeinbewusstsein ist Hobbes nichts anderes als ein „Prophet des Leviathan".38 Diese Einschätzung ist nicht korrekt. Unberücksichtigt bleibt der Umstand, dass unter Kants und Feuerbachs Zeitgenossen De Cive als das meist zitierte Werk von Hobbes galt. Durch diese Schrift wurde Hobbes' politische Theorie in Deutschland bekannt. Erst die Forschungen von Tönnies haben das deutsche Interesse auf den Leviathan fokussiert. Entgegen der Behauptung von Schmitt beschwört der Leviathan erst relativ spät „ein mythisches Symbol von hintergründiger Sinnfülle". 39

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Ebd., 62. Ebd., 56. 34 Ebd., 57. 35 C. Schmitt, Der Leviathan, a.a.O., 66; vgl. H. Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, a.a.O., 58. 36 Ebd., 59. 37 Ebd., 59. 38 C. Schmitt, Der Leviathan, a.a.O., 9. 39 Ebd. 33

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Das von Hobbes gewählte Symbol erfüllt laut Schmitt nicht die in ihn gesetzten Erwartungen. Weder kann es die Probleme klar darstellen, die Hobbes bewegen, noch kann es Lösungen zu diesen Problemen offerieren. Schmitts Urteil erschöpft sich keineswegs in dieser Feststellung. In seinem Urteil ist das Bild des Leviathans ein „aus gutem englischen Humor geborener, halbironischer, literarischer Einfall", 40 der der Hobbes'schen Staatsauffassung in keiner Weise „adäquat" ist. 41 Hobbes' „Versuch der Wiederherstellung der natürlichen Einheit (von Polis und Ekklesia)" 42 sei gescheitert, nicht zuletzt aufgrund des ungeeigneten, wenig überzeugenden, sondern eher Schreck und Spott herausfordernden Mythos. 43 Bereits zu Hobbes' Zeit sei der Sinn des Leviathan zweideutig gewesen. Der biblische Mythos des schrecklichen Ungeheuers aus dem alten Testament war Hobbes' Landsleuten durchaus geläufig. Zugleich war aber auch der Leviathan eine „humorvolle Bezeichnung für alle möglichen ungewöhnlich großen und mächtigen Menschen und Dinge, Häuser und Schiffe" gewesen.44 Aus diesem Grund sei Hobbes' Wahl ein schwerwiegender Fehler. Fraglich ist, ob Hobbes die Bedeutung des Leviathans wirklich nur darin sah, „ein wirksames Bibelzitat" zu sein, die „stärkste irdische Macht", dessen überragende Stärke alle weniger Starken im Zaume hält. 45 Unseres Erachtens ist Hobbes das Symbol des Leviathan ein rhetorisches Mittel, das seiner Arbeit einen großen Lesekreis sichern sollte. Hobbes wollte die Neugier der Leser erregen und das Interesse für ein Thema wecken, das einerseits von der unwiderstehlichen Macht des Staates handelt und andererseits von gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch Freiheit und Gleichheit charakterisiert sind. Ob Hobbes die Zweideutigkeit seines Symbols als Mangel empfand, als den ihn Schmitt schildert, ist fraglich. Mit Rumpf ist zu vermuten, dass Schmitt „den Scheinwerfer seiner Darstellung auf den machtstaatlichen Oberbau" richtet und die „rechtsphilosophische Basis im Schatten" lässt. Hinzuzufügen ist, dass Schmitt wenig Interesse für die liberalen Standpunkte von Hobbes zeigt. Er konzentriert seine Darstellung von Hobbes auf den starken Staat, den er als „einen riesenhaften Mechanismus im Dienste der Sicherung des diesseitigen physischen Daseins der von ihm beherrschten und beschützten Menschen" charakterisiert. 46 Hobbes habe „die große Maschine in das Bild des Leviathans" projiziert, wodurch „der Staat zu einem technisch-neutralen Instrument" ausgedünnt worden ist. 47 Laut Schmitt steht der Leviathan für eine rationalistisch-technizistische Staatsauffassung, die gleichwohl eine tiefe

40 41 42 43 44 45 46 47

H. Rumpf Carl Schmitt und Thomas Hobbes, a.a.O., 63. C. Schmitt, Der Leviathan, a.a.O., 31. Ebd., 130. H. Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, a.a.O., 63. Ebd. C. Schmitt, Der Leviathan, a.a.O., 35. Ebd., 54. Ebd., 62.

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mythologische Bedeutung hat. Die sakrale Ehrfurcht vor der Autorität habe Hobbes in einer „mechanistischen Mythologie" ein Denkmal gesetzt, und er sei der Begründer des juristischen Positivismus, den im 19. Jahrhundert beispielsweise Austin repräsentiert und der auch heute noch von großer Bedeutung in der Rechtslehre ist. Ohne Zweifel war Hobbes der Ahnherr des Rechtspositivismus.48 Aber er war ebenso ein Vorläufer jenes Utilitarismus, der im eher staatsfeindlichen Liberalismus eines J. S. M i l l mündet. Schmitts Vorliebe gilt den machtpolitischen Aspekten von Hobbes' Staatstheorie. Der Leviathan sei das Resultat eines „wert- und wahrheitsneutralen" Denkens, „das den religiösen und metaphysischen Wahrheitsgehalt vom Befehls- und Funktionswerte abgetrennt und diesen verselbständigt hat" 49 : Ein derartig „technisch-neutraler Staat", für den Erfolg und Effizienz die wichtigsten Maßstäbe sind, kann „sowohl tolerant" als auch „intolerant sein; er bleibt in beiden Fällen in gleicher Weise neutral", da er „seinen Wert, seine Wahrheit und seine Gerechtigkeit in seiner technischen Vollkommenheit" hat.50 In dieser Interpretation entfällt jegliches Recht auf Widerstand, das in Schmitts Deutung als absolut sinnlos erscheint, da es „überhaupt keinen Platz in dem von der unwiderstehlich großen Maschine beherrschten Raum" habe.51 Einer solchen Deutung hätte Feuerbach mit dem Argument widersprochen, dass Hobbes dem Staat gegenüber den Bürgern viel zu viel Spielraum einräumt. Und mit dem liberalen Neukantianer Paul Natorp ließe sich Schmitts Interpretation der machtpolitischen Aspekte mit dem Argument abschwächen, dass, obwohl Gewalt kein Recht bzw. Macht kein Recht schafft, Recht zu seinem Bestand der Macht bedarf; „machtlos hört es auf, zwar nicht Recht zu sein, aber als Recht tatsächlichen Bestand und Wirksamkeit zu beweisen".52 Schmitts Betonung des starken Staates beruht auf einer einseitigen HobbesLektüre. Das kommt in Schmitts Diskussion der Völkerrechtslehre bei Hobbes klar zum Ausdruck. In dieser Lehre ist nicht festgeschrieben, dass Staaten immer in einem feindlichen Verhältnis zueinander stehen. Hobbes setzt nicht voraus, dass es zwischen den verschieden „Leviathanen" zwangläufig zum Krieg kommen muss. Die Staaten befinden sich in einer Art Naturzustand, der jedoch nicht dem individuellen Naturzustand entspricht. Es gibt die Möglichkeit, dass das natürliche Recht unter Staaten zur Anwendung kommen kann. Ebenso möglich ist aber auch, dass die verschiedenen Souveräne eine friedliche Kooperation einem Kriegszustand vorziehen können. Dass Frieden zwischen Staaten existieren kann, ist nicht auszuschließen. Da Hobbes immer das individuelle Recht auf Selbstverteidigung

48 49 50 51 52

Ebd., 70. Ebd., 69. Ebd., 69. Ebd., 71. Paul Natorp, Praktische Philosophie, Erlangen 1925, S. 493 f.

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anerkennt und einen subjektiven Begriff des natürlichen Rechts hat, ist es falsch zu behaupten, der Staat absorbiert in sich alle Rationalität und Legalität. Das ist nicht Hobbes' Position, sondern wird ihm von Schmitt unterstellt. Schmitt selbst erkennt durchaus die liberalen Aspekte bei Hobbes, die seiner Meinung nach einen theoretischen Schwachpunkt darstellen. In der Einheit von Religion und Politik, die eine souveräne Macht garantieren soll, vermutet Schmitt einen Bruch in Hobbes' Denken. In liberal-protestantischer Art unterscheide Hobbes zwischen „ A u ß e n " und „Innen", 53 und genau hier tréte der moderne individualistische Gedanke zu Tage, die Gewissensfreiheit und damit die für die „Struktur des liberalen Verfassungssystems kennzeichnenden Freiheitsrechte des Einzelnen".54 Für Schmitt ist Hobbes ein Individualist: „In der Frage des Wunderglaubens macht er seinen unausrottbaren individualistischen Vorbehalt in einer Weise (geltend), die jede sonstige Erörterung darüber, ob Hobbes wirklich das war, was man einen Individualisten' nennt, für unsere Betrachtung erübrigt." 55 Dennoch ist dieser individualistische Ansatz für Schmitt von besonderer Bedeutung, da er Hobbes' Betrachtungen aushöhlt. Der „Vorbehalt der inneren privaten Gedanken und Glaubensfreiheit", der „in das politische System aufgenommen ist, [...] wurde zum Todeskeim, der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat." 56 In anderen Worten: Schmitt beklagt Hobbes' Liberalismus, der ihm zu viele Zugeständnisse habe machen lassen, die in Spinozas Hobbes-Deutung zu fatalen Nachwirkungen geführt hätten. Hobbes' liberale Weltanschauung konsequent gemacht zu haben, bezeichnet Schmitt als das zweifelhafte Verdienst von Spinoza; von ihm ist die „kaum sichtbare Bruchstelle" in Hobbes Staatslehre klar erkannt worden. Auch wenn bei Hobbes der Ansatz einer Trennung von „Innerlich" und „Äußerlich" in den Stellen über Wunderglauben und Bekenntnis nicht zu übersehen sei, so sei dieser Ansatz erst durch den jüdischen Denker radikalisiert worden. Das Ergebnis sei die innere „Entseelung" des Leviathan.57 Schmitt macht keinen Hehl aus seinem Rassismus, wenn er betont: „Moses Mendelssohn, der in seiner Schrift Jerusalem, die Trennung von Innerlich und Äußerlich, Sittlichkeit und Recht, innerer Gesinnung und äußerer Handlung, zielsicher geltend macht und vom Staat Gewissensfreiheit verlangt, [...] mit dem unbeirrbaren Instinkt dafür, dass eine solche Unterminierung und Aushöhlung der staatlichen Macht zur Lähmung des fremden und zur Emanzipation des eigenen jüdischen Volkes am besten dient." 58 Rumpf fasst diesen Aspekt von Schmitts Interpretation treffend unter dem Titel Politischer Hobbismus zusammen; darunter versteht er die in Schmitts „Hobbes-Kristall" zusammengefüg-

53 54 55 56 57 58

C. Schmitt, Der Leviathan, a.a.O., 79. Ebd., 86. Ebd., 85. H. Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, a.a.O., 67. C. Schmitt, Der Leviathan, a.a.O., 87. Ebd., 92-93.

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ten Erkenntnisse. Darunter fallen: „1. Jedes Staatswesen ist ein Ordnungssystem zur Befriedigung der elementaren menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse: innerer Friede, Sicherheit und Verteidigung nach außen und kulturelle Entfaltung in soviel Freiheit, wie mit der Gesamtordnung verträglich ist. 2. Der Staat beruht auf dem ewigen Zusammenhang von Schutz und Gehorsam: so lange er Protektion gewährt, kann er obedientia fordern, aber nicht länger. (Leviathan , Kapitel 29) 3. Ist der Staat auf ein Wertsystem oder eine Ideologie ausgerichtet, bedarf diese, wie das Recht selbst, der Konkretisierung, Interpretation und Anwendung, die nur von einer überlegenen Autorität durch Entscheidung (heute in der Regel Mehrheitsbeschluss) vorgenommen werden kann (Dezisionismus). 4. Die zentrale Staatsgewalt muss, um die Einheit und Ordnung des Gemeinwesens zu wahren, allen indirekten und Teilgewalten, Interessen - und Glaubensgemeinschaften, überlegen sein." 59 Rumpf kritisiert Hobbes von einem liberalen, rechtsstaatlichen Standpunkt. Besonders wichtig ist für Rumpf das 29. Kapitel des Leviathan, wo Hobbes von „Dingen" spricht, „die einen Staat schwächen oder zu seiner Auflösung führen" können. Darunter fallen „die Theorien und Praktiken, die Hobbes als Gebrechen und Krankheiten eines Staates kennzeichnet". Diese gehören noch heute zu den grundlegenden Prinzipien und Theoremen des rechtsstaatlichen Ideals der westlichen Welt. 60 Hobbes und Schmitt scheinen sich dort zu begegnen, wo sie die Meinungsfreiheit und die indirekte Gewalt in der Gesellschaft kritisieren, die nicht dem Staat untergeordnet ist und die politische Ordnung und den Staat in Gefahr bringe. Konkret sind das für Schmitt die »indirekten4 Gewalten von Kirche und Interessenorganisationen, die in diesem Jahrhundert in moderner Gestalt als politische Parteien, Gewerkschaften, soziale Verbände, mit einem Wort als „Mächte der Gesellschaft" wiederauferstanden seien.61 Im 20. Jahrhundert gehe diese Gefahr nicht mehr von religiösen Sekten aus, sondern von der Gesellschaft selbst: Personen oder Gruppen, die ihre eigene Macht wollen, und somit „die eindeutige Übereinstimmung von staatlichem Befehl und politischer Gefahr, von Macht und Verantwortlichkeit, Schutz und Gehorsam" sukzessiv unterminieren. 62 Was Schmitt an Hobbes schätzt, ist sein scheinbarer Rechtspositivismus. Schmitt meint, an Hobbes gelernt zu haben, dass jedes gesetzmäßig berechenbar funktionierende Zwangssystem ein Staat ist, und insofern, als es nur staatliches Recht gibt, auch ein Rechtstaat. Diese Formalisierung und Neutralisierung des Begriffes »Rechtsstaat4 zu einem ohne Rücksicht auf inhaltliche Ziele oder inhaltliche Wahrheit und Gerechtigkeit berechenbar funktionierenden, staatlichen Legalitäts-

59 60 61 62

H. Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, a.a.O., 110. Ebd., 104. C. Schmitt, Der Leviathan, a.a.O., 115. Ebd., 117.

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system fällt unter den Namen ,Gesetzespositivismus\ der im 19. Jahrhundert zur allgemein herrschenden juristischen Lehre geworden ist. 63 IV. Ferdinand Tönnies und die historisch-systematische Hobbes-Interpretation Wie gezeigt worden ist, gibt es zwei große Strömungen in der deutschen HobbesRezeption. Am Anfang steht die liberale Rezeptionsströmung, die von Feuerbach ausgeht und teilweise bereits Kant repräsentiert. Kants Generation hatte Hobbes' politische Philosophie noch aus einer ganz anderen Perspektive wahrgenommen. Für sie war diese Philosophie in erster Linie eine Darstellung der quasi absolutistischen britischen Politik. Kant vertrat die Ansicht, dass die politische Lehre von Hobbes in der Politik des britischen Empire erfolgreich zur Entfaltung kam. So war beispielsweise der Premierminister Pitt mit seiner Feindseligkeit gegenüber der französischen Republik für Kant ein typischer Vertreter der Macht des englischen Königshauses. Der britische Premierminister ist rechtlich nicht verpflichtet, das Volk oder das Parlament zu konsultieren, wenn er eine Kriegserklärung plant. Der Premier stützt sich auf die Königsmacht. Demgegenüber vertritt Schmitt die Auffassung, dass Hobbes von seinem eigenen Volk nicht richtig verstanden wurde und seiner Lehre in seiner Heimat im Grunde genommen die Wirkung versagt blieb: „Der bedeutende, seinem Jahrhundert vorauseilende Staatsgedanke des Hobbes hat sich nicht in England und beim englischen Volk, sondern bei den Landmächten des europäischen Kontinents verwirklicht. Dort fand er im französischen und im preußischen Staat Ausprägungen, die in vieler Hinsicht von klassischer Vollkommenheit sind. Das englische Volk hat sich gegen diese Art Staat entschieden."64 Kant hätte Schmitts Ausführung ebenso enttäuscht wie überrascht, da er hoffte, dass Preußen sich mit dieser englischen Krankheit, wie ihn seiner Meinung nach der Leviathan verkörperte, nicht anstecken würde. Schmitt diagnostiziert das Gegenteil von dem, was Kant 1793 prognostiziert. Ist für Kant der Leviathan bereits in der Ära des Premierministers Pitt lebendige Staatspolitik geworden, liegt für Schmitt zwischen dem „Dezisionismus des absolutistischen Denkens" und der „englischen Geistesart" eine unüberbrückbare Kluft. 65 Wer von beiden im Recht ist, lässt sich bis heute nicht entscheiden. Zwischen diesen beiden Strömungen steht eine weitere, die im Folgenden als historisch-wissenschaftliche Interpretation bezeichnet werden soll, die Tönnies repräsentiert - über den später etwas zu sagen sein wird - sowie der Sozialist Neumann, der zwischen Hobbes und dem Totalitarismus eine klare Trennlinie zieht.

63 64 65

Ebd., 106. Ebd., 119. Ebd., 121.

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In Tönnies' Urteil ist Hobbes ein scharfsinniger und äußerst interessanter Philosoph.66 Seine Meinung, und darüber ist sich Tönnies klar gewesen, ist von der materialistischen Geschichtsauffassung seiner Zeit stark beeinflusst. Diese Auffassung „besagt als solche nichts weiter, als dass die Arbeit der Menschen [...] die Grundlage des sozialen Lebens ist" und die gesellschaftliche Ordnung „wesentlich bedingt wird durch die Bedürfhisse und Nöte der Menschen, durch das Ringen um das Dasein und das Streben nach Reproduktion ihrer Art". 6 7 Tönnies interpretiert Hobbes auf marxistische Weise, jedoch in einer sehr akademischen Art. Denn Tönnies ist weit davon entfernt gewesen, Aspekte von Marx' politischem Denken aufzunehmen. Seine Soziologie beruht auch auf einer Rezeption von Schopenhauers Willenslehre. 68 Von besonderem Interesse für den anerkannten Hobbesforscher Tönnies ist, dass Hobbes als „Mann der Wissenschaft gegen die Kirche orientiert und also gegen das kirchlich beglaubigte Königtum" war, obgleich „der aufgeklärte Absolutismus seinen Fortschrittstendenzen am meisten konform" gewesen ist. 69 Mendelssohns Urteil über Kant übernimmt Tönnies, wenn er über Hobbes' Leistungen in politischer Philosophie sagt: In Jener tritt er als ein revolutionärer Denker, ein Alles-Zermalmer hervor. Den überlieferten Lehren trat er entgegen. Er kann weder zu den Machiavellisten noch zu den Monarchisten gerechnet werden. Diesen Gegensatz und den dualistischen Staatsgedanken überhaupt will er überwinden. Den abstrakten Begriff des Staates" will er ersetzen „durch wirkliche Personen". 70 Im Gegensatz zu Kant, der Hobbes in mehrerer Hinsicht auf eine Stufe mit Machiavelli stellt, sieht Tönnies in Hobbes einen aufgeklärten Denker, der viel zum neuzeitlichen Staatsverständnis beigetragen hat. In seiner Darstellung ist Hobbes ein moderner Denker, insbesondere im Bereich der Religion: „Seine praktische Stellung zu den Problemen seiner Zeit charakterisiert die radikale Gegnerschaft zur Kirche. Er will eine reine, moralisch-politische Lehranstalt an ihre Stelle setzen: das ist der wahre Sinn seiner Identifikation von Staat und Kirche, und der Bekämpfung des bischöflichen Kirchenregiments, in der er mit

66 Vgl. H. Lipps, J., Die Stellung des Thomas Hobbes zu den Politischen Parteien der Grossen Englischen Revolution, mit einer Einleitung von F. Tönnies, Leipzig 1927, 8. 67 Ebd., 1. 68 Vgl. A. Körner, Hegemonie und Gemeinschaft. Die kulturelle Konstruktion sozialer Wirklichkeit als gesellschaftliches Herrschaftsmodell bei Tönnies und Gramsci, Berlin 1997, 15: „ I n der phänomenologisch angelegten Analyse von Tönnies treten eindeutige Unterschiede zum Gesellschaftsbegriff von Hegel und Marx ans Licht, welcher nicht an eine historische Situation gebunden ist, sondern eine jegliche Form menschlichen Zusammenlebens, unabhängig von ihrem historischen Zustand beschreibt." Im Vergleich zu Marx „sind Tönnies Begriffe trotz seiner historischen Bezugnahme nicht empirisch-historisch fundiert". Ebd., 13. 69 Lipps, Die Stellung des Thomas Hobbes zu den Politischen Parteien der Grossen Englischen Revolution, a.a.O., 5. 70 Ebd., 6.

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den Puritanern und Independenten zusammenging."71 Tönnies schätzt Hobbes als den Vordenker einer Reform, die zur „Säkularisierung des höheren Unterrichts" führte. 72 Man könnte ergänzen: Was Hobbes eigentlich wollte, war die Unterrichtung nach seinen Lehren. In dieser Hinsicht ist Tönnies weniger ehrgeizig gewesen; sein Interesse an politischen Fragen ist eher nebensächlicher Art gewesen.73 Für Tönnies liegt die theoretische Überzeugungskraft von Hobbes' Theorie „in der Darstellung eines schlechthin allgemeinen Rechtes, das allen individuellen Rechten als von ihnen unabhängiges, ja sie zu beherrschen ausdrücklich bestimmtes gegenübertritt: die Scheidung des jus publicum undjus privatum" 74: Hobbes grenze die Gesellschaft vom Staat ab. Gegenüber der Gesellschaft habe der Staat Priorität. Ungleich problematischer sei es um die Gesellschaft bestellt. In dieser Hinsicht stimmt Tönnies der These von Hobbes zu, wonach der Staat das gemeinschaftliche Element im sozialen Zusammenleben der Moderne darstellt. Der Staat hält zusammen, was die Gesellschaft zu zerstückeln droht. Die verschiedenen Assoziationen und Verbände, die die Gesellschaft bilden, vergleicht Hobbes mit „den Würmern in den Eingeweiden des Menschen".75 Das Moment der Fragmentierung zählt für Tönnies zur Grundcharakteristik der modernen Gesellschaft. 76 Aus diesem Grund hält Tönnies eine starke Einheit des Staates, wie sie Hobbes fordert, für keinen Fehler. Im Gegenteil: „Der Idee gemäß, die Hobbes in so großer Schärfe ausprägt, soll die Verfassung und die Regierung des Staates unabhängig von der Gesellschaft sein: das,soziale4 Königtum oder der Staatssozialismus ist nur eine Gestaltung seines Gedankens."77 Obwohl die Tendenzen seiner politischen Philosophie und die reale Entwicklung, die „England seit jener Zeit vor anderen Ländern genommen hat", in verschiedene Richtungen weisen, und „die öffentliche Meinung Englands (Hobbes als) den Feind der Theologie und der Plutokratie in

71

Ebd., 6. Ebd.,7. 73 Tönnies tritt vor allem „als Pionier einer soziologischen Untersuchung des Vernunftbegriffs hervor, und entwickelt Begriffe, welche die Voraussetzung für Vergleichbarkeit und die kritische Beurteilung verschiedenster sozialer Eigenschaften bilden. Aus diesem Instrumentarium entwickelt er neue Modelle von Sozialbeziehungen, die dem Zustand der Gesellschaft gerecht zu werden versuchen." A. Körner, Hegemonie und Gemeinschaft, a.a.O., 18-19. 74 F. Tönnies, Hobbes: Leben und Lehre, Stuttgart 1896, 216. 75 Ebd., 217. 76 „Denn in dem Maße, als die Gesellschaft sich entwickelt, erheben sich in ihr als ihre eigentlichen Subjekte und Häupter, die durch das Privatrecht selber, d.h. durch Geld und Kredit Mächtigen, die, zumal durch ihre speziellen Verbindungen, als Klassen und Assoziationen, den Staat als ihr bloßes Werkzeug zu handhaben beflissen sind; der Staat aber bleibt doch, so sehr auch ihnen unterworfen, zugleich Vertreter der Gesamtheit, j a wird es mehr, indem die große Volksmenge selber als gesellschaftliche Klasse sich erkennt und politische Macht gewinnt." Ebd., 217. 77 Ebd., 217. 72

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Acht und Bann" getan hat, 78 betrachtet Tönnies Hobbes' Staatslehre mit großer Sympathie. Diese Lehre scheint mit Tönnies' eigener politischen Gesinnung im Einklang zu stehen. Bekanntlich stand Tönnies politischen Reformen wohlwollend gegenüber. Obwohl ein Mitglied der sozialdemokratischen Partei, waren für ihn gesellschaftliche Veränderungen nur von „oben", d. h. durch entsprechende staatliche Initiativen möglich. Tönnies unterschätzt den Umstand, dass Hobbes' Absolutismus auch für Zwecke brauchbar sein könnte, die unvereinbar mit politisch progressiven Reformen sind. Tönnies' Hobbes-Verständnis hat über seine Schüler weitergewirkt. Einer seiner Schüler, Lipps, hat als Erster Behemoth ins Deutsche übersetzt. Laut Lipps ist bei Hobbes kein klares demokratisches Grundprinzip zu finden. Wer Hobbes an den Quellen studiert, hat keinen Zweifel daran, dass „mit seiner Lehre der Beginn der rationalistischen Staatsauffassung anzusetzen ist, die mit wohlerworbenen Rechten der Stände und des Königtums aufräumte und für die die Gesamtheit des Volkes der Träger der Staatsgewalt war". Es sei nur konsequent, wenn Rousseau aus Hobbes revolutionäre Folgerungen gezogen habe.79 Lipps verweist darauf, dass Hobbes als englischer Bürger seiner eigenen Lehre unterwerfen und nach seinem eigenen Ausspruch stets die gegenwärtige Regierung hätte unterstützen müssen. Da sich die Regierungen ändern können, musste der Bürger Hobbes aus „Konsequenz zu seiner Staatslehre inkonsequent werden". 80 Neben dieser politischen Linie, die überwiegend in den frühen Schriften anzutreffen sei, stößt Lipps noch auf eine andere politische Linie: die „des Menschen". Vornehmlich durch persönliche Interessen bedingt, trat diese Linie „weniger hervor und endete schließlich auch in einem rationalistischen Pragmatismus, verbunden mit einer Portion gesunder Selbstironie, wenn er in dem Streit über den freien Willen die Worte prägt: ,That which I have maintained, is, that no man has his future will in his own present.'" 81 Für Lipps steht außer Frage, dass Hobbes - der eng den Royalisten verbunden war - nicht in seiner politischen Philosophie zum Ausdruck bringt, für welche politische Gruppierung seiner Zeit er die meisten Sympathien empfindet. Obwohl Hobbes die Monarchie vorzog, erkannte er das Parlament nach dem Bürgerkrieg als politisch legitime Macht an. Unserer Meinung nach ist diese Haltung gut zu erklären durch sein politisches Denken, das die Effektivität der souveränen Macht betont. Hobbes ist bestimmt ein revolutionärer Denker, dessen Radikalität nicht zu bezweifeln ist. Aber wie Lipps bereits ahnte, fällt es schwer, diese Radikalität in den Dienst demokratischer Zwecke zu stellen. Auch wenn Lipps dies vermutete und - im Vergleich zu Schmitt - ein Gefühl für Hobbes' Utilitarismus hatte, so übersieht er doch fast völlig die anti-demokratischen, dem Republikanismus

78 79 80 81

Ebd., 219. Lipps, 99. Ebd., 97. Ebd.

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feindlich gegenüberstehenden Aspekte der Staatslehre von Hobbes. Genau diese Aspekte hat Schmitt zu einem Anhänger und Verteidiger von Hobbes werden lassen. V. Schlussbetrachtung Wer ist in der deutschen Rezeption Hobbes an weitesten entgegengekommen? Welche Interpretation ist den sachlichen Problemen von Hobbes' politischer Philosophie am adäquatesten? Außer Frage dürfte stehen, dass Feuerbach die Autoritätstendenzen von Hobbes am besten verstanden und das Widerstandsrecht als unverzichtbar angesehen hat. Was den letzten Gedanken betrifft, so ist Feuerbach als ein Vordenker der heutigen Verfassung Deutschlands anzusehen. Laut Artikel 20 der Bundesverfassung ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat, dessen Staatsgewalt vom Volk ausgeht und vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Da die Gesetzgebung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen. Ein solches Widerstandsrecht ist nicht ohne Probleme, da man es erst ausübt, wenn das Recht schwankt. Dass für Kant ein solches Recht überhaupt nicht in Betracht kommt, ist ein enttäuschender Fehler. Schmitt arbeitet die Gedanken und Tendenzen von Hobbes' politischer Philosophie heraus, beachtet jedoch nur den Autoritätsgedanken und verneint die liberalen Aspekte in Hobbes' System. Für Schmitt ist es unbequem, dass der Freiheitsbegriff auch zu Hobbes' Obrigkeitslehre gehört. Anders als Schmitt dürften wir heute mit Hobbes' Lehre darin übereinstimmen, dass es möglich sein muss, dass dort, wo das Gesetz schweigt, der Untertan in seinem ureigensten Interesse handeln darf. Obgleich Tönnies Hobbes' Darstellung nach streng wissenschaftlichen Kriterien verfährt, schätzt er Hobbes zu sehr als einen Freund der Demokratie und des Fortschritts und übersieht, dass Hobbes in Wirklichkeit die Demokratie hasste. So hat er Thucydides übersetzt, weil er dessen Kritik an der griechischen Demokratie teilte. Als Rationalist und scharfsinniger Denker hat Hobbes den Versuch gemacht, die Politik wissenschaftlich zu behandeln. Er hat große Einsichten, aber auch einen bedauerlichen Rechtspositivismus. Eine repräsentative, rechtsstaatliche Gesellschaft, wie sie heute in Europa im Entstehen begriffen ist, wäre Hobbes sehr fremd gewesen.

„Is not the power to punish essentially a power that pertains to the state?" The Different Foundations of the Right to Punish in Early Modern Natural Law Doctrines1 By Dieter Hüning Although there has been extensive research concerning the main problems and concepts of modern natural law in the last twenty years, inter alia the concept of natural law, the hypothesis of the natural state or the concept of social contract and the philosophical efforts to establish the right to punish play only a subordinate role in contemporary discussions.2 This is rather surprising because the questions of punishment and criminal law are areas where Enlightenment philosophy had its most significant impact. Names such as Thomasius, Montesquieu, Voltaire and Beccaria stand for a movement of secularization and humanization of criminal law which itself resulted from the application of natural law principles. It should be emphasized that a systematic approach to the questions of criminal law belongs exclusively to the modern natural law tradition: in ancient or medieval natural law philosophy the questions of criminal law were discussed to a lesser degree. This has to do with the fact that the foundation of criminal law was not a central theme of these doctrines. Frank Grunert, in his systematic analysis of the role of criminal law in the doctrines of Aquinas and Vitoria, comes to the conclusion, first, that the elaboration of a theory of punishment does not belong to the central intentions of either author, and second, that, whereas Aquinas and Vitoria were concerned with

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An earlier version of this paper was given at the Institute of Historical Research, University of London Conference, European Natural Law Theories in the Early Enlightenment (1650-1750), September 2-3, 1999. 2 But see the important studies by Sergio Moccia , Macht und Recht im Übergang von der theokratischen zur laizistischen Auffassung des Strafrechts im 17. Jahrhundert, in: Goldtammer's Archiv des Strafrechts vol. 130 (1983), pp. 533-545; and Gerald Härtung, Von Grotius zu Pufendorf. Die Herkunft des säkularisierten Strafrechts aus dem Kriegsrecht der Frühen Neuzeit, in: Fiammetta Paladini/Gerald Härtung (eds.), Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung, Berlin 1996, pp. 123-136. Härtung also emphasized the differences in the foundation of the ,ius puniendi' in Grotius and Pufendorf. I am indebted to this article for a lot of inspiration.

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problems of punishment, their discussions were determined by questions of moral theology rather than natural law in its proper sense.3 Whoever wants to study modern philosophical attempts to establish the right to punish, he or she is confronted with the fact that very different concepts of legal philosophy are often summarized under the title of modern natural law. Very different theories go by the name of natural law and they express opposing views regarding the meaning, content and origin of law. These differences with regard to both the concept and the foundation of law not only concern the role of God and the concept of government in the system of natural obligations but the concept of law itself - in the sense of a non-positive system of norms which do not depend on the will of the civil legislator. Carl Schmitt (in his book on dictatorship) distinguished between two forms of natural law theory: on the one hand, we find the so-called natural law theory of justice; on the other hand, the scientific' natural. According to Schmitt, the natural law of justice was held by the monarchomachs, later by Grotius and - in a different way - by John Locke. It is characterized by the assumption that the law of nature is a norm recognizable for all mankind that serves as a measure forjudging the conformity of both the actions of the individuals and of public dominion with law. The scientific' natural law, by contrast, which has its origin in the legal philosophy of Thomas Hobbes, assumes „that before and out of the state, there exists no law, and that the value of the state consists in managing the law by deciding the quarrel concerning law." 4 In what follows, I shall develop Schmitt's distinction in order to argue that the different foundations of natural law affect the philosophical foundation of criminal law. In this paper, however, I do not intend to discuss the problem of criminal law in its entirety. Although there are other problems relevant to the issue of punishment, the questions of restitution and deterrence, for example, or the problem of the purpose of punishment, I shall not discuss them in this paper. I shall concentrate instead on the question of the origin or foundation of the power and authority to punish. My theme is the so-called ,,ius puniendi" and the further question of whether there is any natural right to punish at all. To pursue this question, I propose to examine the different attempts of natural law theorists in the 17th century to provide an answer to the question whether the right to impose punishment is grounded in natural law or whether it is derived from a social contract or some other source. Is it a right that can be attributed to individuals in a state of nature or is it a right that pertains exclusively to the

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Frank Grunert, Theologien der Strafe. Zur Straftheorie von Thomas von Aquin und ihrer Rezeption in der spanischen Spätscholastik: das Beispiel Francisco de Vitoria, in: Hans Schlosser/Dietmar Willoweit (eds.), Neue Wege strafgeschichtlicher Forschung, Köln/Weimar/Wien 1999, pp. 313-332 (p. 319). 4 Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, München/Leipzig 2 1928, pp. 21-22.

„Is not the power to punish essentially a power that pertains to the state?"

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political power of the state? In order to answer this question, I will focus my discussion on the question of the origin of the right of punishment or - to quote a phrase from Pufendorf s De jure naturae et gentium - „to whom the power to exact punishment belongs."5 According to Schmitt's distinction between the natural law of justice and the scientific natural law, we find two basic ways of answering the question about the origin of that ,ius puniendi 46 : On the one hand, there are the supporters of the natural law of justice like Grotius and Locke. They considered the ,ius puniendi4 as an authority shared by all persons and grounded in natural law. On the other hand, we find the scientific natural law theorists like Hobbes and Pufendorf who claimed that all political authority is artifical and therefore the right to punish, as an important element of this authority, can only be considered as a part of the sovereign power. 7 Faced with the systematic importance of the criminal law doctrine in the system of natural law, it is quite surprising that the differences between the two ways of founding the right to punish have hardly attracted the attention of specific studies up to now. First, I would like to present an overview of my paper. I have divided my discussion in two main parts. In part one, I discuss the concept of founding the power of punishment in the natural law doctrines of Grotius and Locke. I call this concept „the natural right approach to punishment44. In the second part of my paper, I sketch the criminal law doctrines of Hobbes and Pufendorf whose efforts to answer the question of the origin of the right to punish I call „the public law approach to punishment44. Finally, I raise some questions about the further development of the criminal law up to the end of the 18th century. I. The Natural Right Approach to Punishment in Grotius and Locke I shall begin with a condensed description of the „natural right approach to punishment44 in Grotius. 8 Although Grotius' theory of natural law can be traced

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Samuel Pufendorf De jure naturae et gentium libri octo, vol 2: The translation of the edition of 1688 by C. H. Oldfather and W. A. Oldfather, Oxford 1934, VIII, 3, § 7. 6 The ,ius puniendi' is to be understood as the power to punish; this power is to be distinguished from the law of punishment (lex poenalis) which consists of the norms and rules of punishment. 7 Cf. Georg Wilhelm Böhmer, Handbuch der Litteratur des Criminalrechts, Göttingen 1816 (Reprint Amsterdam 1970) § 663, p. 106: ,,[Ü]ber das Urprincip, den Grundzweck und das rechtliche Fundament alles Strafrechts, sind die Meinungen in einem hohen Grade geteilt. Doch scheinen die meisten darin übereinzustimmen, daß es entweder auf das natürliche Recht zu gründen oder aus dem Staatsvertrage abzuleiten sey." 8 For a fuller account of Grotius' concept of punishment see Dieter Hüning, „Nonne puniendi potestas reipublicae propria est" - Die naturrechtliche Begründung der Strafgewalt bei Hugo Grotius, in: B. Sharon Byrd/Joachim Hruschka/Jan Joerden (eds.), Annual Review of Law and Ethics, vol. 8 (2000), pp. 93-124.

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back to the earlier tradition of natural law, particularly to the Stoics and the late Spanish Scholastics, he is usually considered both „the father of international law" and the founder of the modern natural law.9 At the beginning of the 18th century, Christian Thomasius, who, following the judgement of Pufendorf, considered Grotius to be the „tool [...] the wisdom of God has used for ending the so long continuing confusion of the natural and supranatural light" and as the savior of natural law that had been in a wretched condition of critical illness due to the delusions of Scholastic thinking. 10 Grotius had indeed undertaken the first necessary steps to secularize natural law by explaining in the,Prolegomena 4 to De iure belli ac pacis that natural law would even exist i f there was no God. 1 1 1 shall not enter into any further discussion about whether or not Grotius' concept of natural law departs from Scholasticism but shall turn directly to his theory of punishment. Already in his early Commentary on the Law of Prize and Booty (De iure praedae commentarius), dating from the years 1604/05 but never published until 1868, Grotius deals with our question of the origin of the ,ius puniendi'. At first sight, it seems rather strange to find such a discussion within a treaty concerned with the problems of international law. In the Grotian line of thought, however, punishment, is an integral part of the concept of a just war. 12 The leading question of chapter 8

9 For a critical analysis of this widespread view see Wilhelm G. Grewe, Grotius - Vater des Völkerrechts?, in: Der Staat, vol. 23 (1984), pp. 161-178. 10 Christian Thomasius , Vorrede von der Historie des Rechts der Natur bis auf Grotium; von der Wichtigkeit des Grotianischen Werks und von dem Nutzen der gegenwärtigen Übersetzung, in: Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri très, translated by Walter Schätzel, Tübingen 1950 [Klassiker des Völkerrechts Bd. 1], pp. 26, 24. See also Thomasius, Historia juris naturalis (Halle/Magdeburg 1719, Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1972), §§ 9, 15. n Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri très (shortened at the following as: JBP), edited by Joannes Barbeyrac, Amsterdam 1720, prol. § 12. Although the problem of the ,etiamsi daremus' is to be found already in some late scholastic natural law theorists, it is quite obvious that after the Reformation and the civil wars in the 16th and 17 th century the discussion of this problem takes on a new meaning; cf. for the controversial discussions about the meaning of the ,Etiamsi daremus4 in: James St. Leger, M.M., The ,Etiamsi daremus4 of Hugo Grotius. A Study in the Origins of International Law (Rome: Typis Pontificiae Universitatis Gregorianae, 1962); M. B. Crowe, The ,Impious Hypothesis4: A Paradox in Hugo Grotius?, in: Tijdschrift voor Filosofie 38 (1976), pp. 379-410; and Javier Hervada, The Old and the New in the Hypothesis ,Etiamsi daremus4 of Grotius, in: Grotiana IV (1983), pp. 3-20. 12 Cf. Hans Wehberg, Einleitung in Samuel Pufendorf, Elementorum Jurisprudence Universalis Libri Duo, Cantabrigae 1672 (Reprint Oxford 1931, The Classics of International Law No. 15), pp. X X f.; for a more detailed analysis of this thesis about the connection between the ,ius puniendi4 and the law of war, see also Gerald Härtung, Von Grotius zu Pufendorf. For an exhaustive analysis of Grotius' idea of a just war, see Peter Haggenmacher, Grotius et la doctrine de la guerre juste, Paris 1983.

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of the Commentary is: „What constitutes just form in undertaking a private war?". 13 One of the just reasons for undertaking a private war is punishment as a consequence of wrongdoing. But it seems - Grotius tells us - that this would limit the power of punishing to the „exaction of restitution" by the injured party. Is there, however, a general authority for private individuals to impose punishments for a crime? To answer this question, Grotius proposes, as „the best method", „the consideration of what was permissible for individuals prior to the establishment of states".14 We have to bear in mind this relation to the problem of just war, when we see Grotius raising another question, „Is not the power to punish essentially a power that pertains to the state?," which he answers by arguing that the power of punishment represents a competence that originally pertains to every individual. From this Grotius infers that the central philosophical problem for the theory of punishment is to show how such a right can become a right of political authority. To become a power in the hands of the ruler, this right to punish has to be transferred to him first by the individuals, who are its original holders: „[...] just as every right of the magistrate comes to him from the state, so the same right comes to the state from private individuals; and similarly, the power of the state is the result of collective agreement [...]. Therefore, it is evident that the right of chastisement was held by private persons before it was held by the state. [...] Natural reason persuades us, however, that the faculty now vested in princes in consequence of the fact that civil power must have lapsed in some other possessor, formerly resides in private individuals." 15 There is a further argument Grotius uses to establish the basis for his theory of punishment and which after him Locke takes from Aquinas' theory of natural law. This argument runs as follows: „Men of deplorable wickedness" who transgress the law of nature „are thrust down into a lower order and assigned to the service of the virtuous, changing in a sense from persons into things, a process which constitutes the origin of slavery in the natural order, too; and therefore, it is permissible to destroy such men, either in order that they may be prevented from doing harm or in order that they may be useful as examples."16 According to this view, the right to punish is created by the very action of the wrongdoer himself. The right to punish seems to depend on the recalcitrance or degraded moral behavior of the criminal. In his main work De iure belli ac pads , Grotius also develops the outlines of a natural law foundation for the law of punishment, which was probably the source

13 Hugo Grotius , Commentary on the Law of Prize and Booty [A Translation of the Original Manuscript of 1604 by Gladys L. Williams with the collaboration of Walter H. Zeydel], Oxford/London 1950, p. 85 14 Ibid., p. 89. 15 Ibid., pp. 92, 94. For the historical background see Richard Tuck , Natural Right Theories. Their Origin and Development, Cambridge 1979, pp. 62-64. 16 Grotius , Commentary, pp. 90-91, compare with Aquinas, Summa theologiae II-II, qu. 64, art. 1.

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of Locke's, Strange doctrine 4 of punishment in the Second Treatise of Government . Two items are of note in De iure belli ac pacis . Grotius separates his own criminal law theory from Vitoria, Vasquez and other representatives of Spanish Scholasticism. 17 According to their concept of natural law, the ius puniendi is to be considered as a result of the establishment of political power, while Grotius stresses the direct derivation of this right from natural law: „Punishment [...] may be executed by anyone at all according to the law of nature." 18 Nevertheless, Grotius is committed to holding that natural law has not determined who should be the executioner of punishment. This restriction does not change his fundamental conviction that wrongdoing would degrade men to a lower order of being 19 and that within the limits of equity the punishment may be executed by those who are without moral defects. I would now like to turn to probably the most important supporter of the Grotian theory of punishment, John Locke. In his Second Treatise of Government , Locke develops an argument concerning the right to punish which he himself called a „strange Doctrine". It is often overlooked that Locke agreed with the scholastic doctrine of natural law as the starting point for his own political philosophy. On the basis of this assumption, Locke established his political philosophy on a number of theological presumptions, first of all that all men are ,God's workmanship 4 . 2 0 According to the theological implications of this assumption, nature is to be regarded as God's creation, in which all natural things are arranged for the satisfaction of human needs. Therefore, natural law consists in a norm that does derive its validity from the will of the people, but is a precept meant to guarantee everyone's self-preservation in agreement with the possible purpose of everyone's selfpreservation. 21 This so-called „workmanship argument,44 which is also the starting point of the concept of punishment, allows Locke to claim that because God has made them, human beings are his property and subject to his commands. At the same time it also presents man as a bearer of inalienable natural rights and also restricts the legitimate political power to limits that are determined by these rights. According to his inalienable rights, nobody is allowed to „enslave himself to any

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Grotius , JBP II, 20, § 40. Grotius , JBP II, 20, § 7. 19 Grotius , JBP II, 20, § 3. 20 See this point in Michael P. Zuckert , Natural Rights and the New Republicanism, Princeton 1994, p. 217. 21 John Locke , Second Treatise of Government (below abbreviated to: ST), in: Two Treatises of Government, edited by Peter Laslett, Cambrigde 3 1988, § 6: „Every one as he is bound to preserve himself, and not to quit his Station wilfully; so by the like reason when his own Preservation comes not in competition, ought he, as much as he can, to preserve the rest of Mankind, and may not, unless it be to do Justice on an Offender, take away, or impair the life, or what tends to the Preservation of the Life, the Liberty, Health, Limb or Goods of another." 18

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one, nor put himself under the Absolute, Arbitrary Power of another to take away his Life, when he pleases."22 The principle of the natural order produced by God is the law of nature „which obliges every one" and „teaches all Mankind, who will consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his Life, Health, Liberty, or Possessions".23 This natural law - which is identical with right reason (recta reason), 24 does not depend on human statutes and is imposed on humankind by God - is „writ in the Hearts of all mankind", „intelligible and plain to all rational Creatures". 25 In order to make this law effective or to prevent it from being „in vain, i f there where nobody" to „preserve the innocent and restrain offenders" 26, „in the state of Nature, every one has the Executive Power of the Law of Nature". This law threatens the wrongdoer with some unpleasant consequences in the case of the transgression of the law, for a law has to include some sanctions.28 To Locke, therefore, it is quite reasonable that God who has provided all people with a „Title to perfect Freedom, and an uncontrolled enjoyment of all the Rights and Privileges of the Law of Nature" 29 , also grants them such a coercive power as to give force to natural law in the state of nature and to secure the legal order established by it. That is why everybody in the state of nature has not only the natural right of personal freedom but also the competence to execute this natural law} 0 But due to natural law, everyone not only has the right to be judge in all matters concerning self-preservation 31, but also the right - according to the right „to

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ST § 23. ST § 6. 24 Cf. Locke, ST §§ 8, compare with §11: „Reason, which is that Law [of Nature, sic], teaches all Mankind, who will but consult it, that all equal and independent, no one ought to harm another in his Life, Health, Liberty, or Possessions. [... Reason is] the common Rule, and measure, God hath given to Mankind." 25 ST§§ 11, 124; see also § 12. 26 ST § 7. 27 ST§ 13. 28 See this argument in: Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags (Darmstadt 1994), pp. 114-115. 29 ST § 87. 30 ST § 7: „And that all Men may be restrained from invading others Rights, and from doing hurt to one another, and the Law of Nature be observed, which willeth the Peace and Preservation of all mankind, the Execution of the Law of Nature is in that State, put into every Mans hands, whereby every one has a right to punish the transgressors of that Law to such a Degree, as may hinder its Violation." 31 This „Right of Self-preservation", ST § 11, includes „the Right of Freedom" § 17, the right „to preserve his Property, that is, his Life, Liberty and Estate", ST § 87 etc. 23

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preserve Manking in general" 32 - to punish any transgression of the law of nature. 33 On the one hand, this natural executive right implies competence with regard to the jurisdiction of punishment, that is the right to judge the action of another with regard to his possible culpability; on the other hand, this natural right also implies the right to execute the natural law, so it should be called the executive right of punishment. 34 However, the special feature of this natural executive right consists in the fact that every individual is authorized to be the executioner of the law of nature against wrongdoers. It does not matter whether the executioner is the person affected by the violation of the natural law. The basis for this is quite obvious: any crime should be considered not only as an offence against the right of the affected person, but also as a destruction of the conditions of man's coexistence. In this respect any transgression of the law of nature is to be understood as an offence against humankind as a whole. This is also the reason why everyone is affected by such a transgression as a member of the universal community of mankind constituted by the law of nature and is, therefore, authorized to resist the wrongdoer: „by the Law of Nature, every one hath [...] a Power to punish Offences against it, as he soberly judges the Case to require". 35 II. The Public Law Approach to Punishment in Hobbes and Pufendorf I would now like to turn to the second strategy of establishing the power to punish. This line of argument considers punishment as a form of coercion that is exclusive to the state. The natural law approach of founding criminal law did not long remain undisputed. There are some natural law theorists who supposed that there was another way of tackling the problem of punishment. The first theorist of

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ST § 8. ST § 87: „Man being born, as has been proved, with a Title to perfect Freedom, and an uncontrouled enjoyment of all the Rights and Privileges of the Law of Nature, equally with any other Man, or Number of Men in the World, hath by Nature a Power, not only to preserve his Property, that is, his Life, Liberty and Estate, against the Injuries and Attempts of other Men; but to judge of, and punish the breaches of that Law in others, as he is perswaded the Offence deserves, even with Death itself, in Crimes where the heinousness of the fact, in his Opinion, requires it." 34 Cf. ST §§ 7-9, 13. 35 ST § 9. - The natural executive right is to be distinguished from the right of restitution: while the natural executive right is a right common to all people, any just person is able to execute it; it is not the same with the right of restitution which is a „particular Right" (ST § 6) that can be claimed only by those who are personally affected by the wrongdoing. For a further discussion of Locke's, strange doctrine 4 of punishment, see my article »Naturzustand, natürliche Strafgewalt und Staat bei John Locke 4 , in: Martin Peters/Peter Schröder (eds.), Souveränitätskonzeptionen. Politische Ordnungsvorstellungen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2001, pp. 91-116. 33

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modern legal philosophy to be mentioned here is Thomas Hobbes. There is widespread agreement, supported by Hobbes' own view, that he totally broke with the foregoing tradition of natural law in order to start a new epoch in the history of legal philosophy. His line of thought was also the starting point of what I will call the „public law approach to criminal law". This public law approach provides the most persuasive arguments against the natural right approach described above. First, as is well-known, Hobbes' legal philosophy is characterized by a fundamental break with the foregoing tradition of natural law, namely the Aristotelian concept that man is a ,ζοοη politicon' and that this dogma could be a reasonable starting point of political philosophy. Contrary to this assumption, Hobbes claims that the principles of the societas civilis, i. e. the political society of men, cannot be found in the nature of man or in his natural condition, but is artificial. By critisizing the Aristotelian view of the ,ζοοη politicon4 and by claiming that the principles of civil society are not natural but artificial, Hobbes puts natural law theory on a new foundation: the core of his legal philosophy is the doctrine that all political authority is artificial because it has its origin in a social contract. But it would miss the point to consider Hobbes' critical attitude to the natural law tradition as a turn towards legal positivism. Although there are some arguments in Hobbes' philosophy which sound like the modern concept of legal positivism, he did not give up the idea that reason imposes upon us some duties to restrict our external liberty to the possible accord with the lawful liberty of others. It has been argued quite correctly that Hobbes' „conception of civil society is entirely based on the fundamental principle of security". 36 And it is Hobbes' understanding of the importance of security that leads him to raise a number of objections to natural law theorists like Grotius, and to the claim that the right to punish is something executed by individuals in the state of nature. This state, according to Hobbes, is a condition of living without dominion, without an authorized ruler, and without subjection, superiority, or jurisdiction. Without a judge who is recognized by all concerned parties it would be pointless to claim that private individuals could be justified in using force. Without a sovereign power men live in a condition in which „nature hath given to every one a right to all; that is, it was lawful for every man, in the bare state of nature, or before such time as men had engaged themselves by any covenants or bonds, to do what he would, and against whom he thought fit, and possess, use, and enjoy all what he would, or could get". 37 Given this right to all things in order to secure self-preservation, Hobbes emphasized that „one by right invades, the

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Mario A. Cattaneo , Hobbes's Theory of Punishment, in: Hobbes Studies, edited by K.C. Brown, Oxford 1965, pp. 276 ff.; see also Dieter Hüning, Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, Berlin 1998 [Schriften zur Rechtstheorie, Heft 185], pp. 227-232. 37 Thomas Hobbes, De Cive. The Latin Version. A Critical Edition by Howard Warrender, Oxford 1983,1, 10.

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other by right resists". 38 It follows that in such a condition devoid of a common judge there can be no difference between lawful or unlawful actions and, therefore, no difference between a justified action of self-preservation and arbitrary and lawless execution of power and punishment. In such a state, it is absurd to claim that someone has a right to punish a wrongdoer, because there is no criterion for wrongdoing. It even follows that reason imposes no duty upon us to act lawfully towards others unless there is an institutionalized guarantee that others do the same or that everyone's liberty is restricted reciprocally. Therefore; nobody can be expected to restrict his own liberty within certain bounds without the universal security provided by rights. But reason imposes upon us a duty to seek peace39, that is, to enter into a legal condition. The judicial dilemma of the state of nature consists in the fact „that the man who acts lawfully towards others has no guarantee that the others will act in the same manner towards himself." 40 So Hobbes comes to the conclusion that the state of nature is - because of the lack of reciprocity of restriction - a condition where „the notions of Right and Wrong, Justice and Injustice have [...] no place", because „where there is no common Power, there is no Law: where no Law, no Injustice". 41 Given this analysis, Hobbes draws the conclusion from the judicial dilemma of the state of nature that a legal order is characterized by the universal reciprocity of restriction: in such an order no one would have the power to lawfully restrict the liberty of another without himself being equally restricted by his or her liberty . According to this concept of the state of nature as a judicial basis of the concept of political power, Hobbes tries to prove * first, that the ,status extra societatem civilem' is a state of war, in which the natural right of one individual contradicts the same right of every other one 42 , * second, that only reason is the true basis of any norms for restricting the external liberty of men and that by imposing the laws of nature, reason puts mankind on the right track to peace and to the security of law, * finally, that the main claim of reason is to leave the natural condition, the famous ,exeundum e statu naturali', which later also plays a considerable part in the Kantian Doctrine of right , and that this claim can be fulfilled only by the

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De Cive I, 12. Thomas Hobbes, Leviathan, ed. by Richard Tuck, Cambrigde 1991, chap. XIV, p. 92. 40 Here I am following the line of argument developed by Julius Ebbinghaus , The Law of Humanity and the Limits of State Power, in: Julius Ebbinghaus , Gesammelte Schriften, Bd. 1, edited by Hariolf Oberer/Georg Geismann, Bonn 1986, pp. 367-375. 41 Leviathan, chap. XIII, p. 90. 42 This contradiction of the natural right of self-preservation consists in the fact that this right - thought as a universal principle of action - destroys the conditions of his own realization: the ,ius in omnia4 proves to be a vain right because it does not exclude any claim of others. 39

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subjection of everyone to a common authority which has the irresistible power to impose laws upon them in order to assure them of their rights. After having outlined some aspects of Hobbes' conception of the state of nature in a very condensed way, let me now turn to the Hobbesian theory of punishment. First of all, if we take into account the Hobbesian concept of the state of nature, we can understand his reasons for criticizing the natural executive right. In the state of nature, in which everybody is his or her own judge and in which everybody has a right to all things, there is no place for punishment: no individual application of force or coercion can be understood as a way to establish or to maintain a rational order of community between men. On the contrary, the claim that everybody is entitled by nature to inflict punishments in order to give wrongdoers what they deserve would destroy the possibility of justice among men and would be a constant source of perpetuating the „warre [...] of every man against every man". 43 No one can be secured from injury and violence by the original possession of the right to punish. Since the arguments that Hobbes offered against the claim of natural executive right can be easily derived from the principles of his natural law theory, it is somewhat trickier to discover Hobbes' own principles for establishing the right to punish. At the beginning of chapter X X V I I I of Leviathan , Hobbes raises a question „ o f much importance", namely „by what door the Right, or Authority of Punishing in any case, came in." He, then, goes on to reject various answers to this question. The power of punishment cannot be derived from an act of a renunciation of the right of self-defence. As Hobbes says, it is not possible to lay down the right of self-defence by a social contract. It is also impossible to base the title to punish on the consent of the wrongdoer. I f punishment is to be understood as an act of coercion, directed against the will of the criminal, then it would be unreasonable to suppose that the law of punishment depends on his agreement. While everybody can commit himself to, first, not resist the orders of the ruler and to, second, assist him in punishing other citizens, it neither follows from this that everybody has consented to be penalized, nor that he has agreed not to resist in the case of application of coercion. On the contrary, Hobbes emphasizes that covenants „not to defend my selfe from force" and „the promise of not resisting force" 44 are invalid. For no one is able to promise not to secure his preservation. Starting from these assumptions, Hobbes concludes that „the Right which the Commonwealth [...] hath to Punish, is not grounded on any concession, or gift of the Subjects".45 But the fact that the foundation of the power to punish cannot be derived from covenants makes the question of the origin of the ius puniendi more urgent. Imposing punishment can just as little be based on an agreement with the

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Leviathan , chap. XIII, p. 88. Ibid., chap. XIV, p. 98. Ibid., chap. X X V I I I , p. 214.

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wrongdoer: „For [...] no man is supposed bound by Covenant, not to resist violence; and consequently it cannot be intended, that he gave any right to another to lay violent hands upon his person". 46 So far I have analyzed Hobbes' rejection of some misleading answers. But as far as his own solution is concerned, it should be noticed that there is a tension between the concept of authorization on the one hand and Hobbes' foundation of the state's title to punish on the other hand. By introducing the concept of authorization in Leviathan, Hobbes realized that the sovereign's authority, granted by the social contract, is to be understood as a right of new contractualist quality. Pursuing this line of argument, he would have been logically committed to consider the sovereign's right to punish the transgressors of the law as something which has its origin in authorization as well. Therefore, one would expect him to consider the ruler's right to inflict pain upon his subjects as a new title created by authorization. But Hobbes did not argue in this way. On what basis, then, does the sovereign receive the right to punish? In reality, Hobbes established the right to punish on the renunciation of the right to all things. That is to say, the sovereign's power of punishment is derived from the fact that, after all individuals have renounced their natural liberty, he is the last and only holder of the right to all things: „ I have also shewed formerly, that before the Institution of Common-wealth, every man had a right to every thing, and to do whatsoever he thought necessary to his own preservation; subduing, hurting, or killing any man in order thereunto. And this is the foundation of that right of Punishing, which is exercised in every Common-wealth. For the subjects did not give the Soveraign that right; but onely in laying down theirs, strengthned him to use his own, as he should think fit, for the preservation of them all: so that it was not given, but left to him, and to him onely; and (excepting the limits set him by naturall Law) as entire, as in the condition of meer Nature, and of warre of every one against his neighbour". 47 The weakness of this proposal is quite striking and has led to suggest that Hobbes' concept of punishment is an unfinished draft. 48 It was the target of criticism by Samuel Pufendorf whose contribution to the question of establishing criminal law I will now consider. But with regard to Pufendorf s approach to Hobbes, we can notice that he confronts the Hobbesian arguments concerning sovereignty and authorization with Hobbes' own doctrine of criminal law. That means that Pufendorf 49 recognizes that Hobbes' „foundation of that right of Punishing" contradicts Hobbes' own theory of the social contract. Hobbes was wrong in claiming that the

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Ibid., chap. X X V I I I , p. 214. Leviathan, chap. X X V I I I , p. 214 48 Josef Nagler, Die Strafe. Eine juristisch-empirische Untersuchung, Leipzig 1918, p. 296, calls Hobbes* solution an „undurchgearbeitete Skizze" (preliminary sketch). 49 On this point see Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium VIII, 3, § 1 ff. 47

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,ius puniendi4 „was not given but left to the state" by everyone's renunciation of the right to all things because the natural right in the state of nature is an unlimited right to self-preservation. The right to all things cannot be understood as a competence to punish because it could by no means have the meaning of executing legitimate power over another person. Thus, there is no possibility of deriving the power of punishing in the Hobbesian way from the sovereign's right to all things. Pufendorf concludes: „To this [to Hobbes' foundation] the reply can be made that the right to exact punishment differs from that of self-preservation, and that since the former is exercised over subjects, it is impossible to conceive how it already exists in a state of nature, where no one man is subject to another". 50 Despite these critical remarks about this special feature of Hobbes' effort to establish the right to punish, Pufendorf is strongly influenced by Hobbesian thought. While some recent studies stress the more traditional or Aristotelian elements of his theory 51 , it has to be emphasized that Pufendorf - at least concerning the questions of the criminal law - sides with the Hobbesian critique concerning the natural law tradition. 52 In contrast to Grotius and Locke, Pufendorf stresses the fact that in the state of nature or in „natural liberty no place is afforded for human punishment" because any act of coercion here is executed „by means of war, and not by means of punishment, as it is properly understood". The reaction to wrongdoing is an act of war in order to gain satisfaction for the damage or even revenge but not punishment in the strict sense: „Since evils which are inflicted by means of war are not [...] punishments in the proper sense of the word, and as it follows upon human sovereignty, cannot fall upon those who live in natural liberty." 53 Needless to say, Pufendorf s concept of criminal law is also based on a new idea of injury. As I argued above, regarding the natural law doctrine of justice, injury seems to be an act contrary to the human conditions of living together based on the teleological idea that nature itself is an order which is arranged appropriately. In this order, everybody has the right to satisfy their natural and also reasonable needs in accordance with the same rights as anyone else. Grotius and Locke, therefore, consider wrongdoing as an offence against this functional order of nature or against the will of God. Rejecting the idea that nature itself is a rational and a functionally arranged order that includes certain general rules to limit

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Pufendorf, De jure naturae et gentium VIII, 3, § 1. See, especially, Thomas Behme/Samuel Pufendorf : Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme, Göttingen 1995. 52 The relationship between Pufendorf and Hobbes has been the central theme in Fiammetta Palladini's important study Samuel Pufendorf Discepolo di Hobbes. Per una Reinterpretatione del giusnaturalismo moderno, Bologna 1990. 53 Pufendorf De jure naturae et gentium VIII, 3, § 2: „In liberiate naturali poenae humanae non est locus", because the enforcement of one's subjective claims arise „per modum belli, non per modum poenae proprie dictae"; cf. Gerald Härtung , Von Grotius zu Pufendorf, pp. 125-126. 51

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our external liberty, and stressing the artificial character of the legal order between men, Hobbes and Pufendorf are committed to change the meaning of injury (injuria). First, both make a distinction between the eternal justice of God and temporal human justice, which is the exclusive object of their natural law doctrines, and also between divine and human punishment.54 There is no doubt that these distinctions are a result of separating natural law theory from moral theology.55 Second, we find in Hobbes' Leviathan the important distinction between ,peccatum4 (sin), that „signifie all manner of deviation from the Law" 56 , and ,crimen 4, that is the transgression of civil law. It follows from this distinction that, whereas sins are „Facts contrary to any Morali vertue 44, crimes consist not only in the transgression of the law of nature, but also in transgressions of the civil law. Although every transgression of a law, it may be a mere natural or civil, is considered to be punishable, the sin, as a transgression of natural law or as a mere intention, „which never appear by any outward act44, has „no place for humane accusation44.57 A l l these distinctions indicate the secularization of natural law theory. Pufendorf restricted the meaning of injury or of the ,actio injusta4 to the violation of a perfect right: „We must notice that the kind of unjust action which is done by deliberate design and which violates what is due to another by perfect right or which he possesses by perfect right (no matter how obtained), is properly called a wrong 44 . 58 Pufendorf does not clarify the relationship between this concept of injury and that of whether an action is punishable, because he does not distinguish, as Hobbes does, between crime and sin. It is evident, however, that, by this change of meaning of wrongdoing or injury, Hobbes and Pufendorf relate punishment exclusively to the legal order guaranteed by the sovereign's power. Therefore, a punishment can only be imposed on the criminal according to the clauses of civil law.

54 Hobbes, Leviathan, chap. X X V I I I , pp. 216-7; Christian Thomasius , Institutions Jurisprudentiae Divinae, Halle 1720 (Reprint Aalen 1963) III, 7, § 25. It should be noticed that this separation of divine and human jurisprudence has been already indicated in Grotius, De jure belli ac pacis II, 20, § 44, 1. 55 See for this Pufendorf, De jure naturae et gentium VIII, 3, § 2, where Pufendorf stresses the point that he is dealing only with that right (jus) „quod homo in hominem exercet". For the distinction between natural law theory and moral theology see the preface of Pufendorf s On the Duty of Man and Citizen, ed. by James Tully, Cambrigde 1991, and Simone Zurbuchen, Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzbegriffs von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau, Würzburg 1991, pp. 30-46. 56 Leviathan, chap. X X V I I , p. 202. 57 Ibid., chap. X X V I I , p. 202. 58 Pufendorf, On the Duty of Man and Citizen I, 2, § 15.

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I I I . The Question of the Right to Punish in the 18 t h Century I f we take a quick look at the further development o f criminal law in natural law doctrines, we have to state that Pufendorf and Thomasius brought, in some respects, the efforts to uncover the roots o f the right to punish to an end for the rest o f the 18 t h century. That means that since Pufendorf s and Thomasius' distinct exposition, the public law approach to punishment has, besides the Grotian position, its established place in criminal law theories. One can further state that there was - w i t h regard to the question about the origin o f the ,ius puniendi' - a certain standstill in the 18 th century debates about punishment. In fact, these debates about our question consist in an ongoing exchange o f contemporary arguments without adding anything substantially new to the topics o f the two foundations. I t is, therefore, worth noticing that until the end o f the century actually no new efforts towards establishing the right to punish were introduced into these discussions. 59

59 This claim may be made plausible by the following overview. On the one hand, Pufendorf s position was defended by some natural law thinkers such as Christian Thomasius, Institutiones jurisprudentiae Divinae, Halle 1720 (Reprint Aalen 1994), III, 7; § 28; Johann Franz Buddeus, Elementa philosophiae practicae. Pars secunda, Magdeburg 1703, cap. V, sect. I, § 5; Gottfried Achenwall/ Johann Stephan Pütter, Elementa ivris natvrae, Göttingen 1750 (new edition by Jan Schröder, Frankfurt/M. 1995), III, 4, § 880, and finally Immanuel Kant , The Metaphysics of Morals: The Doctrine of Right, § 49 E, in: The Cambrigde Edition of the Works of Immanuel Kant: Practical Philosophy, edited by Mary J. Gregor, Cambridge 1996, p. 472, who states that the right to punish „is the right the ruler has against a subject to inflict pain upon him because of his having committed a crime", which is counted among the „effects with regard to rights that follow from the nature of the civil union" (§ 49 Title of the „General Remark"); see also Kant's concise statement that „punishment occurs only in the relation of a superior (imperantis) to those subject to him (subditum)" (Doctrine of Right § 57). The Grotian line of argument was defended by Jean Barbeyrac (see his comment to Samuel Pufendorf Le droit de la nature et des gens, trad, par Jean Barbeyrac, tome troisième, London 1740, VIII, 3, § 4, note 3), Jean-Jacques Burlamaqui (Principes du droit politique, Amsterdam 1751, III, 4, §§ 3 ff.), Christian Wolff (Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, Halle 1754, I. Theil, 5. Hauptstück, § 153), Emer de Vattel (Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, Neuchâtel 1758, Reprint Washington 1916, I, 13, § 169), Joachim Georg Darjes, Discours über sein Natur- und Völker Recht, auf Verlangen herausgegeben, Bd. I, Jena 1762, § 365/11, Moses Mendelssohn, Anhang zur dritten Auflage des Phädon (1768), in: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe Bd. III, 1, Berlin 1932, pp. 156-159, Gaetano Filangieri (System der Gesetzgebung. Vierter Band, drittes Buch, zweiter Theil, neunundzwanzigstes Kapitel. Aus dem Italienischen des Ritters Caietan Filangieri, Anspach 1787, p. 41), Ernst Ferdinand Klein, Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaften nebst einer Geschichte derselben, Halle 1797 (Reprint Königstein/Ts. 1979), §§ 221 f., Paul Johann Anselm Feuerbach, AntiHobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn, Gießen 1797 (Reprint Darmstadt 1967), pp. 227-230, Karl August Tittmann, Grundlinien der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde, Leipzig 1800 (Reprint Aalen 1978), § 46, who asserts that „der Begriff einer constituirten

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As I said above, Pufendorf and Thomasius determined the question of the ,ius puniendi' in the sense that they completed the set of arguments in order to clarify the origins of this power. This does not mean that they provided solutions to every question of criminal law. One problem of Pufendorf s doctrine, for example, is that there seems to be no legal restriction upon the supreme power. And this problem is very closely connected to another one, namely to the problem of whether there are some limits to the state's penal power. I am talking here about some absolutistic or - to use the contemporary term - some ,despotic' implications in his concept of the purpose of punishing. Although he was the first theorist who introduced the term,human dignity' into natural law 60 , he did not succeed in reconciling the value of personal dignity with the coercive power of the state. The reason for this failure lies in the concept of public law, since it does not provide an a priori principle by which the limits to the state's coercion could be definitely determined. Like Hobbes, Pufendorf was not able to establish both the need of an irresistible sovereign power on the one hand, and to solve the problem of whether there are any legal limits to state power on the other hand. I f one looks at Pufendorf s observations about the purpose of punishing, one also realizes that he did not recognize any principle of measuring out punishment. In De jure naturae et gentium he asserted that there exists no necessary connection between a crime and the measure of its punishment: „[...] the fact that the more guilty are punished more severely, and the less guilty less severely, comes about only by consequence and by accident, not because that was intended primarily and for its own sake. For in imposing a penalty for a crime, that crime need not necessarily be compared with another, nor the punishments meted out in both cases be proportionated in accordance with the respective gravity of the offences, but to each crime, separately, as it were, from all others, there is accorded a punishment, more or less severe, as it appears more to the ,utilitas publica', although it usually happens that the punishment in question is proportionated to the seriousness of the crime" 61 . Pufendorf s claim „that the true measure of punishment is the welfare of the state [utilitas rei publicae])" 62 makes it obvious that the state has a boundless power to punish and that a universal principle for measuring punishment is lacking. For the, welfare of the state' means only the ability of the ruler to execute his will. The condition of the unimpeded execution of the ruler's will is the obedience of his subjects. Thus, in order to succeed in organizing the obedience of the citizens, the ruler has to impose pu-

Staatsgewalt" is not part of the concept of punishment, and finally Ludwig Heinrich Jakob , Philosophische Rechtslehre oder Naturrecht, Halle 21802, § 414. A middle position can be found in: Karl Grolman, Ueber die Begründung des Strafrechts und Strafgesetzgebung, nebst einer Entwicklung der Lehre von dem Maasstabe der Strafen und der juridischen Imputation, Gießen 1799 (Reprint Frankfurt/M. 1968), pp. 87-105. 60 Pufendorf, De jure naturae et gentium II, 1, § 5. 61 Pufendorf De jure naturae et gentium VIII, 3, § 5. 62 Pufendorf De jure naturae et gentium VIII, 3, § 24.

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nishments frightening enough to deter the subjects from wrongdoing. The welfare of the state consists only in the effects of punishments that provide for the obedience of the citizens. Considered from this point of view, every kind of deterrence, every form of threat, even torture, may be justified in order to ensure that nobody wants to commit acts that are forbidden. Finally, let us have a closer look at further discussions concerning the aim of punishment like retribution or deterrence in the 18th century. The claim that retribution, as a kind of revenge, is forbidden by natural law and, therefore, deterrence has to be considered as the purpose of punishment became commonplace in the philosophical doctrines of criminal law, at least until the revolutionary changes in philosophy of law introduced by Kant. Like some other German philosophers, such as Crusius and Baumgarten, who both had an influence on the development of his critical philosophy, Kant re-established retribution as the principle of punishment. This was not because he fell back into pre-modern or theological thinking about justice and punishment but because he realized that the only legitimate reason of determining punishment is the criminal's own action.63 His critique of deterrence as the main purpose of punishment is based on the fact that the criminal is only an object that, in order to motivate others not to inflict a crime, may be punished by any kind of coercion: „For a human being can never be manipulated just as a means of realizing someone else's intentions, and is not to be confused with the objects of the law of kind. He is protected against this by his inherent personality, although he may well be sentenced to forfeit his civil personality." 64 What are we to learn from this discussion of the different foundations of the right to punish? It seems to me that the question whether the right to punish is a competence which belongs originally to natural law or which depends on the establishment of a civil power is crucial to understanding natural law itself. According to Grotius, Locke and the other defenders of the natural law approach, the state of nature as the condition of mankind without civil government is to be understood as a legal order, guaranteed only by the validity of natural law. The difference between the state of nature and the civil state is only a difference between private and public execution of the norms of natural law. In contrast to that view, Hobbes, Pufendorf and the other represents of the public law approach claim that natural law as such is not sufficient to establish lawful relationships between individuals. The civil state - as a,state of peace4 and as a state of objective justice

63 For the role of the idea of retribution in the German Enlightenment and especially in Crusius and Baumgarten see Louis Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts, Abteilung II, Erlangen 1891, pp. 149-160. 64 Immanuel Kant , The Metaphysics of Morals: The Doctrine of Right, § 49 E.

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- „must be formally instituted".65 That means that the obligations of natural law remain ineffective until there has been a reciprocal guarantee by which the rights of everyone can be secured by a sovereign power. According to this view, the difference between the natural and civil state does not simply consist in whether the norms of justice are privately or publicly executed. We can conclude, therefore, that there is, in the age of enlightenment, a more or less obvious rivalry between two different kinds of natural law theory. One considers the state only as an institution necessary to surmount the „inconveniences" of the state of nature 66 but not as necessary to realize lawful relationships between individuals at all. The other considers natural law theory only as a doctrine concerning the grounds of validity for legal norms but claims at the same time that peace and justice are the results of the institution of a sovereign power.

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Immanuel Kant, Perpetual Peace, second section. - For the concept of the state as the form of objective justice see G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke, vol. 20, ed. by Wolfgang Bonsiepen/Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992, § 474 A and § 539. 66 Locke, ST§§ 101, 136.

Samuel Pufendorf - ein vergessener Klassiker des Naturrechts 1 Von Horst Denzer I. Berühmtheit zu seiner Zeit Samuel Pufendorf, den berühmten deutschen Naturrechtslehrer des 17. Jahrhunderts, nicht zu kennen, ist heute keine Schande unter Juristen, Politikwissenschaftlern, Philosophen und Historikern, obwohl er in all diesen Wissenschaften Wichtiges bis Bahnbrechendes geleistet hat. Sein Grabstein in der Berliner Nikolaikirche bekundet „fama per totum orbem volitai", attestiert ihm ohne Übertreibung Weltruhm. Noch Schiller zählt 1795 in seinem gleichnamigen Gedicht ihn zu den „Weltweisen", im Bereich der Staats- und Morallehre stellt er ihm nur den zeitgenössischen Feder zur Seite. Und in der Tat ist Pufendorf zu seiner Zeit ein Bestseller. Sein kleines Naturrechtskompendium für den Lehrgebrauch erlebte ca. 120 Ausgaben, es wurde aus dem Lateinischen in alle Kultursprachen übersetzt; damit war er viel erfolgreicher als die heute mehr geschätzten Hobbes, Grotius oder Rousseau. Seine Reichsverfassungschrift war eins der durchschlagendsten Pamphlete der europäischen Geschichte; das Reich „monstro simile", die Monstrosität der Reichsverfassung ist bis heute ein stehender Begriff. Er stand mit

1

Der Beitrag ist hervorgegangen aus einem Vortrag an der Universität Freiburg am 6.11.2000. Im Allgemeinen kann auf folgende Literatur verwiesen werden: Leonard Krieger, The Politics of Discretion, Pufendorf and the Acceptance of Natural Law, Chicago U.P. 1965; Horst Denzer , Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie, München 1972; Detlef Döring, Pufendorf- Studien. Beiträge zur Biographie von Samuel Pufendorf und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller, Berlin 1992. Den gegenwärtigen Forschungsstand dokumentieren: B. Geyer/H. Goerlich (Hg.), Samuel Pufendorf und seine Wirkungen bis auf die heutige Zeit, Baden-Baden 1996; Fiammetta Palladini/Gerald Härtung (Hg.), Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung, Berlin 1996; Vanda Fiorillo (Hg.), Samuel Pufendorf filosofo del diritto e della politica, Neapel 1996. Den Zugang zu Pufendorf erschließen am besten die kurzen Skizzen: Horst Denzer, Leben, Werk und Wirkung Samuel Pufendorfs, In: Zeitschrift für Politik 30 (1983), 160- 176; Detlef Döring, Samuel Pufendorf, In: Klassiker des politischen Denkens Bd.2, München 2001 (dort auch die wichtigsten aktuellen Literaturhinweise).

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großen Teilen der gelehrten Welt im Briefwechsel; seine Werke waren an den Universitäten Grundlage für Disputationen, Dissertationen und Streitschriften. Seine Berühmtheit beruhte auch auf seiner geschliffenen, geistreichen bis spitzen Feder. 2 Den Historikern seiner Zeit etwa warf er Weitschweifigkeit und Plagiat vor. Die Verfassungsjuristen ohne Kenntnis der deutschen Geschichte und der Wissenschaftlichen Politik stellten sich nach seiner Meinung an wie die Esel beim Saitenspiel.3 II. Ende des Ruhms Doch um die Wende zum 19. Jahrhundert verblaßte Pufendorfs Ruhm. Der Historismus konnte mit dem überzeitlichen, allgemeingültigen Naturrecht nichts mehr anfangen. Savigny und die Historische Rechtsschule ebenso wie der Historismus der Geschichtsschreibung kritisierten am Naturrecht die „bloß philosophische Moral" (Hugo) und die Abstraktheit der Rechtsregeln. An ihre Stelle sollte „die lebendige Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang" (Savigny) treten. Außerdem brach an den deutschen Universitäten - anders als etwa in den USA - die Tradition der Praktischen Philosophie mit ihrer Trias Ethik, Politik, Ökonomik ab. Sie verschwand mit dem Propädeutikum Artistenfakultät, das alle Studenten zu durchlaufen hatten; in ihm hatte sie nämlich ihren hergebrachten fundamentalen Ort. Im 19. Jahrhundert verselbständigten sich in Europa Teile aus diesem Wissenschaftszusammenhang als empirische Fächer.4 Das Naturrecht hatte damit seine universitäre Heimat verloren. Aber auch der historische Boden, auf dem Pufendorf stand, brach mit der endgültigen Liquidierung des alten Reiches 1806 weg. Wie skeptisch auch immer er den Zustand und die Wirksamkeit des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zu seiner Zeit beurteilte, er stand mit seinem politischen, historischen und rechtsphilosophischen Lehrgebäude sowohl auf der Basis der universalistischen Reichsidee wie auf der Vielfalt und Ausdifferenzierung in den modernen Nationalund Territorialstaaten. Aber nicht nur der universalistische Politikentwurf, sondern auch die universelle Gelehrtenrepublik hatte mit dem Schwinden des Lateins als universelles Verständigungsmittel einen schweren Schlag zu verkraften; für die

2 Diese zeigt sich vor allem in seinem Briefwechsel: Detlef Döring (Hg.), Briefwechsel, Samuel Pufendorfs Gesammelte Werke Bd. 1, Berlin 1996, und in der Eris Scandica: Fiammetta Palladini (Hg.) Eris Scandica, Samuel Pufendorfs Gesammelte Werke Bd. 5, Berlin 2002. 3 In Severinus Monzambano, De Statu Imperii Germanici. Die maßgebende zweisprachige Ausgabe von Pufendorfs Reichsverfassungsschrift: Horst Denzer (Hg.), Samuel Pufendorf. Die Verfassung des Deutschen Reiches, Frankfurt/M. 1994. 4 Zur Lehre der Politik und der Praktischen Philosophie in der frühen Neuzeit immer noch grundlegend: Hans Maier, Politische Wissenschaft in Deutschland, München 1985, 31 ff.

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Wirksamkeit eines Autors wie Pufendorf, der seine grundlegenden Werke lateinisch verfaßt hatte, war das der GAU. Schließlich waren auch inhaltlich Pufendorfs grundlegende Ideen aus verschiedenen Gründen nicht mehr gefragt. Einerseits hat Deutschland keine ungebrochene liberal-demokratische Tradition. Seine Lehre von der Würde des Menschen und den sich daraus ergebenden unveräußerlichen Rechten der Menschen konnte deshalb nicht entlang einer menschenrechtlich-verfassungsstaatlichen Traditionslinie wirksam werden. Andererseits unterbrach der Liberalismus im 19. Jahrhundert die Tradition des aufgeklärten Obrigkeits- und Wohlfahrtsstaates, die im Faschismus des 20. Jahrhunderts endgültig diskreditiert wurde. Pufendorfs „sozialstaatliche" Ideen, die Pflichtenbindung der Bürgerrechte, die soziale Verantwortung des Bürgers im Staat und die wohlfahrtsstaatliche Verantwortung des Staates für die Bürger, gerieten darüber in Vergessenheit. Der moderne Sozialstaat konnte deshalb nicht mehr auf dem älteren Wohlfahrtsstaat aufbauen, obwohl sich beide in einer „echten Problemkongruenz" 5 treffen. I I I . Die prägenden Ideen Aber auch jenseits der Frage der Wirksamkeit seiner Ideen hätte Pufendorf eine dauernde Beachtung verdient gehabt. Sieht man von seinen Verdiensten für die Verwissenschaftlichung von Geschichtsschreibung und Theologie ab - hatte er zu seiner Zeit zumindest in drei Bereichen eine bedeutsame Rolle gespielt: - für die Ausprägung der politischen Theorie der Neuzeit - für die Konstituierung von Politik als Wissenschaft und - für die Rechtssystematik durch stringente Deduktion und systematische Ordnung. Der Wandel der politischen Theorie in derfrühen Neuzeit ist sehr verkürzt durch folgende geschichtliche Entwicklungen induziert: die Auflösung der geistlichen und geistigen Einheit Europas; die Entdeckung der neuen Welt und die Erforschung anderer Kontinente, die die europäische Weltsicht relativieren (bei Pufendorf mit einer Fülle von Reiseberichten und historischen Staatenbeschreibungen dokumentiert); die Entdeckung der Individualitäten und Persönlichkeiten als autonome Beweger von Geschichte und Politik; in der Folge des Individualismus die Inthronisation der menschlichen Vernunft als der wichtigsten Erkenntnisquelle für menschliches Handeln; der Aufstieg des Frühkapitalismus und der Naturwissenschaften; die Herausbildung der Nationalitäten; die Realität von Religions- und Bürgerkriegen; der Wandel der Waffen- und Heerestechnik und der Kriegsführung; das Aufbegehren unterdrückter Schichten und die Stabilisierung territorialer Gewalten.

5 Hans Maier, Zur Frühgeschichte des Rechtsstaats in Deutschland, In: Neue Politische Literatur 7 (1962), 233 ff.

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Das schlägt sich im Wandel des Politikverständnisses nieder. Der Staat ist nun eine von Menschen autonom geschlossene Vereinigung. Er ist durch Vertrag entstanden, nicht mehr bloß im Einklang mit dem Herkommen oder der göttlichen Schöpfungsordnung. Da Politik auf menschlicher Setzung beruht, muß sie sich vor der menschlichen Vernunft rechtfertigen und im Einklang mit ihr stehen. Sie hat nicht mehr ihren Grund in der göttlichen Offenbarung, im Herkommen oder in der Logik der Weltordnung. Staatsräson ist der Ausdruck für die Verselbständigung des politischen Systems von jeder übergeordneten religiösen, weltanschaulichen oder moralischen Autorität. Die Souveränität wird das Fundament der modernen Staaten. Die absolute Setzungsgewalt befreit den Herrscher von traditionellen Bindungen; er hat nun das Monopol der Rechtssetzung, der Machtausübung und der physischen Gewaltsamkeit. Die Souveränität denkt den Staat im Innern vom Herrscher und außen von den Grenzen her. Von der Souveränität wird auch die Legitimation der Staatsform hergeleitet. Ein Staat ist gut, ordentlich eingerichtet, wenn die Souveränität eindeutig zugeordnet ist und keinen Anstoß für innere Konflikte gibt. Es geht nicht mehr um den guten Staat und seine Legitimation durch gute Herrschaft. Die Mischverfassung degeneriert so vom Ideal des Maßes zur Irregularität, wird dem Verdacht des Monströsen ausgesetzt. Recht in einem solchen Staat ist etwas (willkürlich) Gesetztes; es ist nicht etwas Hergebrachtes, was es zu wahren und zu schützen gilt. Politik wird so für die handelnden Personen verfügbar; sie ist etwas Berechenbares. Man kalkuliert mit Quadratmeilen, Seelenzahlen, Ressourcen und Revenuen der Staaten. Die Polizei sorgt für Reglementierung. Die Herrscher sind nicht nur die Quelle der Ordnung, sondern auch für Zivilisation, Wohlfahrt und Zufriedenheit ihrer Untertanen. Die Sorge gilt zuerst dem Überleben: der Ernährung, dem Schutz von Leib und Leben, vor Krankheit und Tod, erst danach dem guten Leben als Folge staatlicher Zucht, Disziplin und Ordnung. Die mittelalterliche Glaubens- und Ordnungseinheit war aufgelöst; die Glaubensspaltung hatte das gemeinsame Fundament zerstört. Der moderne Staat ist ein säkularer. Die weltliche Gewalt ist zum Friedenswahrer in einer religiös gespaltenen Welt geworden. Zwischen geistlicher und weltlicher Ordnung kehrte sich das Kräfteverhältnis um. Die Religion hatte sich der innerweltlich begründeten Staatsgewalt und den von ihr definierten Zwecken unterzuordnen und nicht umgekehrt. Schutz des Lebens, Ordnung und Friede rangierten vor theologischer Wahrheit. All das war schon vor Pufendorf durch Machiavelli, Bodin und Hobbes grundgelegt worden. Seine spezifische Leistung ist aber, dies alles auf das vom Herausbilden des Nationalstaates unberührten, gegenüber Westeuropa verspäteten Deutschen Reich in der Umbruchsituation nach dem Dreißigjährigen Krieg übertragen zu haben. In den Wirren des Krieges und danach ging es primär um die Sicherung des Überlebens, um Leben und körperliche Unversehrtheit, nicht um das gute Leben.

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Das erhöhte Sicherheitsbedürfiiis wurde durch die stringente Rechtsetzungsgewalt der Territorialstaaten zu befriedigen versucht. Vertragstheorien und säkulare Herrschaftsbegründungsthesen haben dort Konjunktur, wo es um Gründung und Festigung neuer Territorialstaaten geht. In Deutschland kamen sie der Interessenlage der protestantischen Fürsten entgegen, die ihre Souveränität gegenüber dem Reich und ihr Staatskirchenregiment nach dem Grundsatz „Cuius regio eius religio" gegen den katholischen Universalanspruch verteidigen mußten. Damit hängt auch zusammen, daß gerade in den Ländern der Reformation der Grenze konstituierende Bedeutung für den Staat beigemessen wurde. Den protestantischen Ständen war also in der Gründungsphase Pufendorfs Naturrecht als ein antitraditionelles Staatsgründungsparadigma hoch willkommen. Pufendorf hat das Naturrecht gegen die Herrschaft der lutherischen Orthodoxie in erbitterten Kämpfen als eine säkulare innerweltliche Herrschaftslegitimation durchgesetzt. Seine gesammelten Streitschriften Eris scandica (1686) 6 zeugen von der Härte des Kampfes. Er hat dem Naturrecht Eingang in die an den Universitäten vorherrschende Lehre von der aristotelisch orientierten Praktischen Philosophie verschafft - meist von den Studenten gegen die Statuten erzwungen. Nach dem Dammbruch in Heidelberg 1661 entstehen überall naturrechtliche Lehrstühle, meist von den einer neuen Legitimation bedürftigen Fürsten gegen die Universitäten durchgesetzt. Von etwa 1680 bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist das Naturrecht die Grundlagenwissenschaft für die Politik, aber auch für die Ethik und die Jurisprudenz geworden. Sie hat die aristotelische Politik weitgehend abgelöst.7 Pufendorf hat in seiner Zeit die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Politik auch auf eine andere soziale Basis gestellt. In den neuen protestantischen Ständen brauchte man zur Sicherung der noch nicht gefestigten Herrschaft eine professionelle Staatsverwaltung, die aus den Schichten rekrutiert wurde, die ein besonderes Interesse am neuen Staat hatten: den Pfarrern und dem an der eigenen Landesuniversität ausgebildeten Bürgertum, bzw. den dort lehrenden Professoren. Lehrer und Geistliche wurden im protestantischen Deutschland vom Staat bestellt; sie, wie die Professoren, leisteten den Treueid auf den Landesherrn, und wurden so quasi Teil der Beamtenschaft. Das Bürgertum brachte Professionalität in die neuen vordringlichen Staatsaufgaben: für das körperliche und geistige Wohl der Bürger zu sorgen. Es wird in den kleinräumigen Territorialstaaten zur herrschafissichernden Schicht. Die Universitäten sicherten so die Machtbasis der Territorialstaaten. Sie hatten aber mangels eines geschlossenen Nationalstaates zugleich eine wichtige Funktion zur Sicherung der deutschen Kultur. Es verwundert deshalb nicht, daß in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts Deutschland 50 Universitäten hatte, England aber nur 2.

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Vgl. Anm. 2. Zur Entwicklung der Lehrstühle vor allem Horst Denzer, Moralphilosophie bei Pufendorf (Anm. 1 ), 319 ff.. 7

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Die Bedeutung Pufendorfs für die Konstituierung der Politik als Wissenschaft wird oft unterschätzt. Gemeinhin wird die Begründung der Politik als Wissenschaft im neuzeitlichen Sinne Hobbes zugeschrieben; bei ihm wird sie zuerst more geometrico abgehandelt. Es verwundert deshalb nicht, daß Pufendorf seine Wissenschaft von der Politik in Auseinandersetzung mit Hobbes entwickelt. Wissenschaft im überzeitlichen Verständnis ist, wenn man aus der Erfahrung von Einzeldingen zur Kenntnis des Allgemeinen gelangt. Im Unterschied zum traditionellen Wissenschaftsbegriff ist in der Neuzeit für die Wissenschaftlichkeit nicht mehr konstitutiv die Notwendigkeit des Seins (also Gegenstand von Wissenschaft kann nur das notwendige, aber nicht das zufällige Sein werden, ens per se, aber nicht ens per accidens), sondern die Notwendigkeit der Erkenntnis. Das Subjekt der Wissenschaft muß nicht notwendig sein, sondern nur die Beziehung zwischen dem Subjekt eines Beweises und seinem Prädikat, also die Korrelation zwischen Ursache und Wirkung unter bestimmten Bedingungen und Umständen. Grundsätzlich kann jede Behandlung eines Erfahrungsbereichs, jedes Überlegen von Denkzusammenhängen gleichermaßen Wissenschaft werden. Daß aus Denken und Erfahrung Wissenschaft wird, liegt nicht am Gegenstand der Wissenschaft und der Notwendigkeit seines Seins, sondern am Fortschreiten der Erkenntnis von einer bloßen Kenntnis der Einzeldinge und dem Erfassen einzelner Denkschritte hin zu einer allgemeinen und systematischen Ordnung der Dinge und zu ihrer denknotwendigen Kausalität. Eine „rechte seiende" wird „aus rechten prineipiis demonstrative deducirt". 8 Das entscheidende Kriterium der Wissenschaft ist die Methode, die Unwiderleglichkeit des Beweises. Nicht zufällig beschäftigt sich Pufendorf in seinen wissenschaftstheoretischen Präliminarien vor allem mit der Methode des Beweises und dem Nachweis, daß es auch in den Moralwissenschaften eine Gewißheit des Beweises gibt. Der Beweis ist die notwendige Ableitung der sicheren Erkenntnis der Dinge aus sicheren Prinzipien und unbezweifelbaren Ursachen. Die Sätze eines Beweises müssen wahr sein, nicht ihr Subjekt notwendig. Freilich gibt es aus dem Gegenstand der Wissenschaft Grenzen des Beweises. In den Moralwissenschaften hängt die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses wegen der Freiheit menschlichen Handelns von der Wahrscheinlichkeit der Voraussetzungen ab. Die Sicherheit des Beweises wächst mit der empirischen Nachprüfbarkeit und der Quantifizierbarkeit. Aber mit der logischen Kausalität des Beweises ist in den Moralwissenschaften nicht die reale Kausalität im Sinne der naturwissenschaftlichen Naturgesetze verbunden. Pufendorf lehnt deshalb Spinozas materialistische Hypothese ab, daß nur determinierte Vorgänge Gegenstand der Wissenschaft sein können und deshalb auch das menschliche Handeln von Natur aus determiniert sei. Er setzt sich auch von

8 Brief an Thomasius vom 19.6.1688, in: Detlef Döring (Hg.), Briefwechsel (Anm.2), 194.

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der kausalgesetzlichen Ableitung des Naturrechts aus den menschlichen Affekten und Leidenschaften bei Thomas Hobbes ab. Dies habe zur Aporie geführt, daß das Sein der menschlichen Natur zugleich Sollen und Norm für menschliches Handeln ist, kausale Notwendigkeit mit moralischer und rechtlicher Verbindlichkeit vermengt wird. Die fatale Folge für das Naturrecht ist, daß es entweder im Naturzustand kein Recht ist oder im Staat im positiven Recht aufgeht. Pufendorf wirft hier Hobbes mangelnde analytische Schärfe vor. Er vermeidet die Schwäche der Hobbes-Argumentation, indem er die Zielorientierung und damit Moralität menschlicher Natur und die Zweckbindung des Staates an das gute Leben aus dem traditionellen teleologischen Naturrecht übernimmt. Zugleich wird er aber auch den Hobbes'schen methodischen Ansprüchen gerecht, alle Rechtsverhältnisse und menschliche Gemeinschaften auf letzte Ursachen zurückzuführen und sie daraus wieder methodisch stringent und systematisch abzuleiten. Und er teilt dessen individualistische Prämissen, durch Vertrag Recht und Gemeinschaft auf den Willen der Individuen zu gründen. Karl-Heinz Ilting nennt deshalb Pufendorf gegenüber dem überschätzten Hobbes den „größten Naturrechtslehrer". Ist den Wissenschaften die Notwendigkeit des Beweises gemeinsam, so ergibt sich andererseits das Wissenschaftssystem aus der Stufung der Wissenschaften nach ihrem Gegenstand. Die Mathematik kann bei ihrer Abstraktion ins Allgemeine das Gesamt der ihr zugrundeliegenden Wirklichkeit erfassen, weil sie es mit meßbaren und festlegbaren Quantitäten zu tun hat. Dagegen erfaßt die Moralphilosophie bei der Abstraktion ins Allgemeine nicht mehr die gesamte Realität. Denn sie kann nur zu einer sicheren Zuordnung der Qualitäten kommen, nicht aber der Quantitäten, die der menschlichen Entscheidung und Willensfreiheit unterliegen. Im Rahmen der hergebrachten Wissenschaften vom menschlichen Handeln, wir würden heute sagen: im Rahmen der Sozialwissenschaften, ist für Pufendorf das Naturrecht die allgemeine Wissenschaft, und zwar in zweierlei Hinsicht. Das Naturrecht stellt für das soziale Handeln die grundlegenden Prinzipien auf. Es handelt von der Richtigkeit und Falschheit menschlicher Handlungen in bezug auf das Naturgesetz. Somit ist es Fundamentalwissenschaft für die Historie, die Moraltheologie und für praktische Klugheitslehren. Auch in methodischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht ist das Naturrecht die allgemeine Wissenschaft. In der Vorrede zur Eris scandica heißt es: „Das Gesetz der Methode fordert: das Generelle geht vor, das Spezielle folgt. Wo der Physiker aufhört, beginnt der Mediziner, wo der Moraltheologe und der Jurist aufhören, beginnt der Lehrer des Naturrechts." Das Naturrecht ist die allgemeine Wissenschaft, weil es der sicheren Erkenntnis aller Menschen aus der bloßen Vernunft entspringt. Moraltheologie und Jurisprudenz haben dagegen nur eine begrenzte Erkenntnis aus einer Glaubensüberzeugung oder aus der Wirklichkeit eines Staates. Pufendorfs Verdienste für die Rechtssystematik folgen aus der Verbindung von methodisch stringenter Wissenschaftlichkeit mit dem Systemgedanken. Methodisch in Analogie zur Naturwissenschaft wird bei seinem Naturrecht der Staat in seine Teile analysiert, um daraus die Synthese, die Notwendigkeit des Staates

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sicher ableiten zu können. Daraus entwickelt sich wieder das System, also die Teile des Ganzen, die sich aus diesem notwendig ergeben. Sache und Begriff des Systems sind bei Pufendorf schon früh vorhanden, wie aus dem wichtigen Brief an Boineburg 9 hervorgeht. Hier unterscheidet er zwei Teile des Naturrechts: das fundamentum, das die Gesetzmäßigkeit des sozialen Handelns und die dafür notwendigen Begriffe und Unterscheidungen zum Gegenstand hat. Daraus ist dann der zweite Teil abzuleiten: systema, in dem aus den Fundamenten die specialia juris capita, die Vorschriften für die besonderen Rechtsverhältnisse, entwickelt werden. Es ist Pufendorfs schöpferische Leistung, daß er das Naturrecht herunterdekliniert in alle Vertragsverhältnisse: vom Recht der Schuldverhältnisse und den dort vorkommenden Vertragstypen bis zum Sachenrecht; und ebenso in das Recht aller menschlichen Gemeinschaften: vom Familienrecht mit dem Erbrecht über das Recht im Haushalt und der Ökonomie (als Wirtschaft des Haushalts verstanden) bis hin zum Staatsrecht und Völkerrecht. Vor Pufendorf hat das niemand geleistet. Man muß freilich sehen, daß der Systemgedanke im 17. Jahrhundert in der Luft lag. Auch die spätaristotelische Politik, die nach wie vor die Lehre an den Universitäten beherrschte, teilt sich nun auf in eine allgemeine systematische Politik als scientia (Wissenschaft) und in spezielle, auf Anwendung angelegte Politiken als prudentia (Lebensklugheit). Erstere behandelt die allgemeinen Prinzipien des Staates, seine Entstehung und Herrschaftsbegründung; letztere Fragen der Verwaltung, der Ausgestaltung des Regiments, der Staatsinteressen, der Ressourcen und natürlichen Vorteile und schließlich des politisch klugen Verhaltens. Damit wird freilich die aristotelische Basis zum Teil verlassen: Politik ist nicht mehr praktische Wissenschaft, sondern zerfällt in Theorie einerseits und technische Praxisanleitung andererseits. Wir können das etwa bei Arnisaeus, Cellarius, Conring, Althusius, Aisted, Besold und Horn sehen. Es äußert sich in Tabellen-Werken wie den Tabulae Politicae des Balthasar Cellarius oder in Werkstiteln wie Politica methodice digesta von Johannes Althusius, Wolfgang Heiders Philosophiae politicae systema oder Johann Friedrich Horns Politicorum pars architectonica. Pufendorfs Pioniertat hatte weitreichende Wirkungen. 10 Es ist bekannt, daß die Entwicklung des Rechtssystems und die Unterscheidung in einen allgemeinen und besonderen Teil die Geschichte der Rechtskodifikationen vom Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten bis hin zum Bürgerlichen Gesetzbuch entscheidend geprägt hat. IV. Das Naturrecht Pufendorf hat sein Naturrecht zuerst 1660 in den „Elementa jurisprudentiae universalis" entwickelt und dann später in seinen grundlegenden Naturrechts9

Brief vom 13.1.1663, Detlef Döring (Hg.), Briefwechsel (Anm.2), 24 ff., bes. 27. Zur ideengeschichtlichen Einordnung: Horst Denzer, Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen Bd. 3, München 1985, 233 ff. 10

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werken „De jure naturae et gentium" 1672 und „De officio hominis et civis" 1673 ausgearbeitet. Wir können aus diesen Büchern und aus seinen Briefen ziemlich gut rekonstruieren, wie er seine Naturrechtsvorlesungen in Heidelberg und Lund begonnen haben könnte: „Auditores suavissimi, explicare volo fondamenta disciplinae, quae circa moralia versatur, eamque perducere ad veram scientiam juris naturae, quae genuinam ac solidam doctrinam moralem et civilem absolvit." - „Meine hochgebildeten Hörer! Ich will Ihnen die Fundamente der Moralphilosophie darlegen, sie zur wahren Wissenschaft vom Naturrecht entwickeln, die eine ursprüngliche und solide Grundlage für Ethik und Politik abgibt." Um sein Naturrecht aus ersten Ursachen abzuleiten, beginnt Pufendorf mit der Grundlegung von Moralität und moralischer Handlung (J 1,1 -2) 11 . Er unterscheidet zwischen physischer und moralischer Natur des Menschen (entia physica, entia moralia). Erstere erschöpft sich in den Gesetzmäßigkeiten der Materie, letztere legt durch den freien Willen und die Erkenntnis des Naturgesetzes der physischen Natur Werte bei, die Grundlage für menschliches Handeln und Gemeinschaftsleben sind. Er trennt damit Natur- und Moralwissenschaften nach ihren Gegenständen (Kausalität der physischen Natur und Freiheit der menschlichen Natur), verbindet sie aber zugleich durch die Einheitlichkeit der Methode (sichere Erkenntnis more geometrico). Denn durch die Bindung des freien Willens an das Naturgesetz entstehen aus den Willensentscheidungen notwendige Wirkungen. Auf der Theorie der moralischen Handlungen baut die Anthropologie auf (J 1,34). Die Natur des Menschen ist sowohl durch unveräußerliche natürliche Rechte wie auch durch die socialitas, die Verpflichtung für das Gemeinschaftsleben gekennzeichnet. Die natürlichen Rechte sind kein unbedingter Rechtsanspruch der Persönlichkeit, sie gelten nur bei Übernahme von Verpflichtungen für das Gemeinschaftsleben. Daraus folgt die enge Bindung von Recht und Pflicht mit Vorrang der Pflicht. Denn aus dem Naturgesetz folgt erst die Verpflichtung, dann das Recht gegenüber dem Mitmenschen (J III, 5, 1). Die Natur des Menschen führt aus individualistischer und methodischer Notwendigkeit zum Naturzustand (J 11,2). Er ist sowohl das gedankliche Modell für die freie Entscheidung der Individuen zu zwischenmenschlichen Vertragsbeziehungen und gesellschaftlichen Zusammenschlüssen wie zugleich die Analyse des Staates in seine Teile, um daraus die Notwendigkeit des Staates sicher ableiten zu können. Der Staat ist wegen der Verpflichtung zur Sozialität die natürlichste und wegen der natürlichen Rechte des Menschen zugleich die künstlichste Form der Gemeinschaft (J V I I - VIII). In ihm vervollkommnet sich die menschliche Natur, wird das Naturrecht zum vollkommen geltenden und erzwingbaren Recht. Zugleich kann er aber nur aus der freien Entscheidung und Zustimmung der Individuen, durch Vertrag entstehen. Der Staat hat eine doppelte Legitimität. Mit der Legitimierung

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Zitiert wird hier De Jure naturae et gentium nach Buch, Kapitel, Paragraph.

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durch die Verpflichtung zur Sozialität und durch das Streben der menschlichen Natur nach Vollkommenheit stützt sich Pufendorf auf die aristotelische Tradition, mit der Legitimierung durch die Zustimmung der Individuen steht er auf dem Boden des neuzeitlichen Individualismus. Dies hat Auswirkungen auf die Staatsgründungsverträge (J VII, 2, 7 ff.). Pufendorf kennt nicht einen einheitlichen Herrschaftsvertrag, sondern die Unterscheidung von Gesellschaftsvertrag und Unterwerfungsvertrag mit der Zwischenschaltung des Beschlusses über die Regierungsform. Er sichert dadurch zugleich die Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit der Souveränität wie die Möglichkeit von Herrschaftsbeschränkung. Unbeschränkte Herrschaft wie durch die Zustimmung von Kontrollorganen beschränkte Herrschaft sind bei ihm möglich (J VII, 6, 7 ff.). Beschränkte Herrschaft bedeutet, daß der Herrscher durch ein Staatsgrundgesetz in eine bestimmte Form der Herrschaftsausübung eingewilligt und Organe, wie Volksrat, Senat oder Stände, akzeptiert hat, an deren Zustimmung er in festgelegter Weise gebunden ist. Diese Organe können auch den Verstoß gegen die Herrschaftsbeschränkung feststellen und ein Widerstandsrecht ausüben. Hier tritt neben die ethische auch die vertragliche Verpflichtung des Herrschers. Freilich bleibt dem Herrscher auch hier ein Ermessensspielraum durch Berufung auf die Staatsräson. Pufendorf legt mit seinem auf Herrscherverpflichtung und natürlichen Rechten des Menschen gründenden Naturrecht die Grundlage für den aufgeklärten Absolutismus wie für den konstitutionellen Staat. Mit dem Vertragsgedanken verwirft er auch die Legitimation des Staates durch das Gottesgnadentum (J VII, 3, 3). Der Staat wird also zur säkularen Anstalt. Aus der Art der Staatsgründungsverträge folgt auch, daß der Staat und die Person des Herrschers nicht identisch sind (J VII, 2,14 ff.). Das Selbstverständnis des Herrschers als Diener des Staates und die Hegeische Vorstellung vom Staat als sittlicher Idee werden dadurch vorbereitet. Die Orientierung des Staates am Gemeinwohl und an den natürlichen Rechten des Menschen bestimmen bei Pufendorf auch die Beziehungen vom Staat zu Kirche und Religion, leichte Einflüsse des Halleschen Pietismus (Thomasius, Spener) kommen noch hinzu {De habitu christianae religionis ad vitam civilem, 1697, Jus feciale Divinum, 169512). Dem Staat wurde im Herrschaftsvertrag die Sorge für die Sicherheit und den Frieden, nicht aber für das Heil der Seele übertragen. Deshalb hat der Herrscher die Gewissensentscheidung und Glaubensüberzeugung des einzelnen zu achten und die Religionsausübung zu tolerieren. Mit der religiösen Toleranz wird aber nicht zugleich die Freiheit der Kirchen anerkannt; zu sehr orientiert er sich an der Realität des landesherrlichen Kirchenregiments, besonders bei den protestantischen Fürsten.

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Jetzt die bahnbrechende Edition mit einer gründlichen, das Werk erst erschließenden Einleitung: Detlef Döring (Hg.), Samuel Pufendorf, Jus feciale divinum, Gesammelte Werke Bd. 6, Berlin 2004.

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V. Leben in seiner Zeit Pufendorfs Werk ist wie bei anderen auch von seinen Lebensumständen und seiner Zeit mitgeprägt. Aus seinen Portraits 13 blickt uns unter der Perücke ein selbstbewußter Mann mit wachen, blitzenden und streitlustigen Augen an: Er war wer und hatte es zu was gebracht. Dabei waren die Zeitläufte alles andere als günstig. Als Pufendorf 1632 als Sohn eines lutherischen Pastors im sächsischen Dorfchemnitz geboren wurde, wütete der Dreißigjährige Krieg im 15. Jahr. Die großen Handelnden des ersten Kriegsabschnitts traten ab: Tilly und Friedrich V. von der Pfalz waren gestorben, Gustav Adolf und Pappenheim gefallen, der Stern des 2 Jahre später ermordeten Wallenstein begann zu sinken. Gerade damals erreichte der Krieg im Erzgebirgsvorland seine furchtbarste Phase, die Familie Pufendorfs war der Soldateska ausgesetzt, einmal sogar mit dem Leben bedroht. Und noch einmal wurde sein Leben unmittelbar vom Krieg bedroht: 1658/59 wurde er im Zuge des 1. Nordischen Krieges als Hauslehrer des schwedischen Gesandten in Kopenhagen verhaftet; Genfer Konventionen gab es damals noch nicht; so jäh endete seine erste Berufsstellung, die ihm sein in schwedischen Diensten stehender Bruder vermittelt hatte. Es ist kein Wunder, daß er sich später für starke souveräne Staaten und eine in Frieden geordnete Staatenwelt einsetzte. Überhaupt ist das 17. Jahrhundert kein glückliches für die Menschen gewesen. Der englische Historiker Henry Kamen nannte es das „eiserne Zeitalter" und der Tübinger Historiker Volker Press etikettierte es mit „Kriege und Krisen" 14 . Mit dem Westfälischen Frieden war die Geisel des Krieges nicht vorbei, es folgten die Türkenkriege der Habsburger und die Nordischen Kriege. Die Ohren der Menschen dröhnten wider vom klirrenden Schritt der Soldaten im düsternen Schimmer ihrer Harnische und Helme, vom Donner der Kanonen. Über unzähligen Schlachtfeldern und auch unter der Zivilbevölkerung verbreitete sich der Geruch von Pulverdampf und Tod. Am Ende des 30jährigen Krieges hatten im Reich 40 % der Menschen ihr Leben gelassen; die Bevölkerung war während des Krieges von 16 - 17 Millionen auf 10 Millionen geschrumpft; erst um 1750 war der Vorkriegsstand wieder erreicht. Verwüstungen unvorstellbaren Ausmaßes kamen hinzu. Aber die Kriege waren nicht die einzigen apokalyptischen Reiter des Säkulums. Hungersnöte, Armut und Unfreiheit folgten, die Seuchen: Ruhr, Pocken, Typhus, Grippe, Syphilis und die schwarze Pest setzten den Menschen zu. Im Jahrhundert seit 1625 fielen die Agrarpreise um ein Drittel, die Löhne und Gewerbeerlöse kaum weniger. Getreide- und Gewerbeproduktion sowie der Anteil des bebauten Landes gingen zurück, die Wälder breiteten sich aus. Die Kleinstaaterei des Rei-

13 Am besten zusammengestellt in: Kjell A. Modéer (Hg.), Samuel von Pufendorf 1632 - 1982. Ett rättshistoriskt symposium i Lund, Lund 1986, 149 ff. 14 Henry Kamen, Intoleranz und Toleranz zwischen Reformation und Aufklärung, München 1967, Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1 6 0 0 - 1715, München 1991.

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ches wirkte wie ein Handelshemmnis. Das Zollwesen blühte, und der Finanzbedarf wie auch die Steuerlast in den Staaten stiegen wegen Krieg, Repräsentationsbedarf und öffentlicher Wohlfahrt. Die Schere zwischen Verarmung der Leute und ihrer Auspressung öffnete sich immer mehr; dies vergrößerte die Not und führte oft in die Unfreiheit; um 1680 machte sich das in Bauernaufständen Luft. Erschwerend kam noch eine Klimaverschlechterung hinzu, die auf dem Höhepunkt angelangt war, als Pufendorf 1694 in Berlin starb. Mißernten vergrößerten die Armut und setzten die Spirale von Hunger und Seuchen in Gang. Im 17. Jahrhundert blühten aber auch die Wissenschaft und Kunst. Die kleinen Höfe der Territorialstaaten spiegelten das große Versailles; Musik, Kunst und Architektur und Stadtentwicklung fanden hier vielfältig Heimat. Das Säkulum brachte den Durchbruch der modernen Wissenschaft und es war das „Heroenzeitalter des okzidentialen Rationalismus" (Carl Schmitt). Im Geburtsjahr von Pufendorf wurden John Locke, Benedict de Spinoza und Jean Mabillon, der Begründer der wissenschaftlichen Urkundenlehre geboren; Galilei revolutionierte im gleichen Jahr mit seinem Dialog über die beiden Weltsysteme das europazentrische Weltbild. Pufendorf hat in der reformatorisch-humanistischen Fürstenschule zu Grimma (1645-50) die Aufstiegschance für Bürgerliche durch Bildung wahrgenommen. Luthertum, Aristoteles, antike Literatur, Latein, aber auch moderne Autoren und die Realien (z.B. Arithmetik und Astronomie) waren die Inhalte für eine umfassende Bildung. Das Studium in Leipzig und Jena (1650-58), das er mit dem Magister abschloß, vergällten ihm lutherische Orthodoxie und verkrusteter Aristotelismus. Der Mathematiker Erhard Weigel führte ihn aber auch aufs Feld der modernen Wissenschaft und der Frühaufklärung. 1660/1, nach der Entlassung aus dänischer Haft, vervollständigte er durch das Studium im holländischen Leiden seine philologischen Kenntnisse und wurde mit den neuesten geistigen Strömungen bekannt. Wohl auf Vermittlung des Sohns von Hugo Grotius wurde er 1661-68 auf den ersten Lehrstuhl für Natur- und Völkerrecht an der Universität Heidelberg berufen; dort half er dem kunstsinnigen und wissenschaftsfreundlichen Kurfürsten Karl Ludwig die verwüstete Pfalz durch Wissenschaft und Bildung wieder erblühen zu lassen. Hier entwickelte er sein Naturrecht, das er schon mit seinem Erstling Elementa jurisprudentiae universalis (1660) konzipiert hatte, zur Reife. Das achtbuchige De jure naturae et gentium ( 1672) und das kleinere Kompendium für den Schulgebrauch De officio hominis et civis (1673) waren die Summe seiner Lehrbemühungen. Die Schriften wirkten zugleich im Sinne einer stärkeren Legitimierung der Fürsten. Vorher war er aber bereits durch seine unter dem Pseudonym des Italieners Monzambano veröffentlichte Reichsverfassungsschrift in der Gelehrtenwelt berühmt geworden. 1668-1676 folgte dann die Krönung seiner akademischen Laufbahn als Professor für Natur- und Völkerrecht im südschwedischen Lund, wo er als glänzender Rhetor und Lehrer die Zierde der kleinen Universität war. Die akademische Laufbahn war für Pufendorf sinnvoll, denn im deutschen Kulturraum waren die Universitäten

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mangels eines Nationalstaates mehr als anderswo Rückgrat der nationalen Kultur und zugleich unverzichtbare Machtbasis der kleinräumigen Territorialstaaten. Sie waren zugleich die Aufstiegschance für das Bürgertum. Doch die Neuheit seiner Lehren brachte Pufendorf auch in Konflikt mit der traditionellen Universität. Mißgunst und Neid unter Kollegen und auch das kärgliche Gehalt verleideten ihm die akademische Laufbahn. So ist der kriegsbedingte Niedergang der Universität Lund nur der äußere Anlaß, daß Pufendorf den Rest seines Lebens als Historiograph an den Höfen des schwedischen Königs (1677-88) und des brandenburgischen Kurfürsten (1688-94) verbrachte, wo er voluminöse Geschichtswerke der schwedischen und brandenburgischen Geschichte unter revolutionärer Benutzung der Archive und Quellenkritik schrieb. Pufendorfs Übertritt in den Fürstendienst darf man nicht als Konsequenz seiner Naturrechtslehre mißverstehen, die die natürlichen Freiheiten im Herrschaftsvertrag aufhebe und deshalb die politische Theorie des fürstlichen Absolutismus sei.15 Seine Sympathie für den absolutistischen Fürstenstaat hat einen begrenzten, genau definierten Zweck: Dieser fördert gerade Freiheit und Wohlergehen der Untertanen. Er schafft die Gleichheit der Bürger statt unterschiedlicher Lehens- und Abhängigkeitsverhältnisse. Er fördert wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung anstelle der Ausbeutung durch die Grundherren. Das modern-liberale Mißtrauen gegen die Staatsgewalt und die Furcht vor dem Mißbrauch ihrer Befugnisse sind ihm fremd. Motiv für Pufendorfs Fürstendienst ist nicht, daß der Ideologe der Legitimationsbedürfhisse des aufgeklärten Verwaltungs- und Wohlfahrtsstaates dort seine angemessene Wirkstätte gefunden habe. Seine Gründe sind vielschichtiger: die bessere Bezahlung und Achtung; mehr Ruhe vor dem Gelehrtenstreit oder zumindest besserer Schutz gegenüber Anfeindung und Verfolgung; die Einsicht, daß weder die Universität von fürstlicher Einflußnahme frei ist, noch die politischen Rücksichtnahmen am Hof die Unabhängigkeit und Vorurteilsfreiheit des Gelehrten gravierend tangieren müssen. Die Höfe waren gegenüber den verkrusteten Universitäten aufgeschlossener für neue Ideen und damit für die Verbreitung seiner Lehren, boten ihm ganz andere Wirkmöglichkeiten. Schließlich und vor allem konnten sich seine allgemeinen Naturrechtsprinzipien im konkreten politischen Handeln eines Fürsten bewähren. Viele Fakten sprechen dafür, daß Pufendorf auch als Fürstendiener weitgehend Gelehrter geblieben ist: Der Geheime Rat ist selten diplomatisch und gutachterlich tätig geworden, hat sich aus dem Ränkespiel und gesellschaftlichen Leben am Hof weitgehend herausgehalten.16 Er

15 Dies entgegen Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jhs., Paderborn 1976 und Stefan Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts, Opladen 1983. 16 Anderer Meinung Detlef Döring, Samuel Pufendorf als Verfasser politischer Gutachten und Streitschriften, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 189 ff., der viele Auftragsschriften Pufendorfs aufdeckt, die bisher unbekannt waren, aber m.E. daraus zu weitreichende Schlüsse über Pufendorfs Engagement in Staatsangelegenheiten zieht.

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hat historische Einseitigkeiten und Einvernahmen vermieden, indem er nacheinander Politik aus schwedischer und brandenburgischer Sicht darstellte und gerne auch noch für den Kaiser tätig geworden wäre, wenn es Alter und Gesundheit zugelassen hätten. Pufendorf ist ein Beispiel dafür, daß die Gelehrtenrepublik im 17. Jahrhundert ein Stück Selbständigkeit gegenüber dem Fürstenstaat bewahrt, ja durch das allgemeingültige Naturrecht gefestigt hat, auch wenn der Fürstenstaat mit seinen Ausbildungsinteressen und die Universität mit dem Ziel der Verwertbarkeit von Wissen einander näher gerückt sind. 17 VI. Wirkung Pufendorfs Naturrecht hat Wirkung in zwei Richtungen entfaltet. Mit seinen Lehren von den natürlichen Rechten des Menschen, vom Gesellschafis- und Herrschaftsvertrag und von der Herrschaftsbeschränkung hat er vor allem über die École romande du droit naturel und die französische Aufklärung die Grundlegung des westlichen Verfassungsstaates mitbeeinflußt. In England für Locke und Blackstone, in Frankreich für Diderot, Rousseau und Montesquieu, der ihn besonders bewunderte, in der Schweiz für Vattel und Burlamaqui waren seine Bücher unentbehrlich, um die gelehrte Jugend zu erziehen. Über Locke und John Wise hat er auf die Väter der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung gewirkt. Im Deutschen Reich hat er mit seiner Rechtssystematik und den Rechtsstaatsideen einflußreich die Naturrechts-Schule gemacht - mit Thomasius und Christian Wolff als Häuptern. Über sie und die Fürstenerzieher in Österreich und Preußen hat er die Naturrechtskodifikationen angestoßen, mehr das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten und die Vorläufer des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs in Österreich, weniger das ABGB selbst und kaum mehr das deutsche BGB. Mit seinen Lehren vom starken, aber dem Naturrecht und der Vernunft verpflichteten Herrscher, von dessen Pflicht für die Wohlfahrt der Bürger, vom Zurücktreten der Herrscherpersönlichkeit gegenüber dem Amt, von der Staatsräson und den nicht zur Disposition des Herrschers stehenden Menschenrechten hat er wesentlich den aufgeklärt-absolutistischen, rechtsstaatlich eingeschränkten Obrigkeits- und Wohlfahrtsstaat geprägt. Der zweite Wirkungsbereich ist ungleich stärker als der erste. Pufendorfs Erfahrungswelt war schließlich der absolutistische Fürstenstaat. Er sah eher die Gefährdung des Staates durch konfessionelle Auseinandersetzungen und Bürgerkriege. Er erlebte, wie das Reich im Dreißigjährigen Krieg zum Spielball fremder Mächte und der eigenen Territorialstaaten wurde. Sein Naturrecht ist deshalb auf die pflichtenethisch und durch den Staatszweck gebundene Monarchie zugeschnitten. Doch ist es wegen seiner Allgemeinheit auch für andere Folgerungen unter

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Vgl. Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, Tübingen 1982.

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anderen historischen Bedingungen offen. So hat Pufendorf z.B. in seiner Geschichte von Kurfürst Friedrich III., dem späteren ersten preußischen König, die Glorious Revolution in England gerechtfertigt. Einige Sätze daraus sind, weil wenig bekannt, beachtenswert: „In einem Land, in dem Gesetze nur mit Zustimmung des Königs und des Parlaments erlassen werden, dürfen sie auch nur mit der vereinten Autorität beider abgeschafft werden." „Wenn ein König sich lieber mit feindlicher Hilfe die Macht sichern als mit seinem Volk in gerechtem Frieden leben will, dann sind die Bürger von ihrem Treueid entbunden [...] und es ist ihr Recht, [...] zur Wahl eines neuen Königs zu schreiten." 18 Für uns heute ist bei der aktuellen Diskussion über Aufgaben und Grenzen des Staates Pufendorfs Abwägung zwischen den unveräußerlichen Rechten des Individuums und seiner Sozialnatur, zwischen Rechten und Pflichten der Bürger im Gemeinwesen interessant. Die individuellen Rechte finden da ihre Grenze, wo sie die Rechte anderer und das geordnete Zusammenleben der Menschen im Staat behindern. Rechte als Ansprüche gegenüber dem Staat müssen erst durch die Pflichten im Gemeinschaftsleben „verdient" und eingelöst werden. Die alte Balance zwischen Nachtwächter- und Wohlfahrtsstaat kehrt heute unter veränderten Bedingungen als Balance zwischen dem Staat der liberalen Grundrechte und dem Sozialstaat wieder. Pufendorfs Überlegungen schärfen den Blick dafür, daß die Bürger erst bei einem bestimmten Sozialstandard und einem Grundbestand von sozialer Sicherheit ihre individuellen Möglichkeiten entwickeln und die Bürgerrechte wahrnehmen können. Umgekehrt behindert ein Übermaß von sozialer Absicherung die individuellen Handlungsmöglichkeiten und die Freiheiten der Bürger. Vieles was er zur Pflichtbindung von Bürger- und Menschenrechten schreibt, läßt auch schon Abwägungen des Bundesverfassungsgerichts zu den immanenten Grenzen der Grundrechte, zur Frage der Drittwirkung von Grundrechten anklingen. Auch Pufendorfs Bemerkungen zur Sozialpflichtigkeit des Eigentums könnten problemlos in einem Kommentar zu Art. 14 GG stehen. Bei der Abwägung zwischen individueller Freiheit und Sozialstaat hat Pufendorf auch heute noch eine Menge Bedenkenswertes zu sagen. Er ist zwar vergessen, aber nicht antiquiert. Das hat er mit allen Klassikern der politischen Philosophie gemein, sonst wären sie keine Klassiker geblieben.

18 Commentarii de rebus gestis Friderici III, Berlin 2. Aufl. 1784. Vgl. Dazu auch Hans Rödding, Pufendorf als Historiker und Politiker in den Commentarii de rebus gestis Friderici III, Halle 1912. Die Englische Revolution verteidigt Pufendorf auch in Briefen an Thomasius v. 1.10.1688 u. 1.11.1690.

Die Konstitution politischer Freiheit Grundlagen, Probleme und Aktualität der politischen Theorie der Aufklärung Von Olaf Asbach I. Zur Bedeutung und Aktualität der politischen Theorie der frühen Neuzeit Trotz der,Praxisferne 4, die man in der historischen und systematischen Beschäftigung mit dem philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Denken der »frühen Neuzeit 41 sehen mag, mangelt es nicht an Hinweisen auf die aktuelle Bedeutung einer solchen Auseinandersetzung. Einen eher kuriosen Beleg lieferte vor einiger Zeit der damalige französische Innenminister Jean-Pierre Chevènement, als er den Überlegungen des deutschen Außenministers Joschka Fischer über die Fortentwicklung der Europäischen Union zu einer „Europäischen Föderation 44 entgegenhielt, dieser träume immer noch den deutschen Traum einer europäischen Hegemonie, wie er schon im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation44 zum Ausdruck gekommen sei. Dies zeige, „[que l'Allemagne] ne s'est pas encore guérie du déraillement qu'a été le nazisme dans son histoire 44.2 Offensichtlich handelt es sich hierbei um einen mehr oder weniger gelungenen Versuch, politische Prozesse oder Visionen mit Hilfe des Rückgriffs auf historische Strukturen und theoretische Konzeptionen des 17. und 18. Jahrhunderts zu begründen bzw. zu bestreiten. Der Verweis auf die Verfassungsstruktur des Alten Reichs besitzt dabei bereits eine lange Tradition im politischen und staatsrechtlichen Denken Europas. Bereits in der frühen Neuzeit wurde auf die Bedeutung des Alten Reichs und seiner Verfassung sowohl für die faktische Einrichtung der sich ausbildenden europäischen Staatenwelt als auch hinsichtlich ihrer Vorbildfunktion für die normative Umgestaltung und Fortbildung des europäischen Systems hingewiesen. Einen ironischen Kontrapunkt zu Chevènements Aussage bildet dabei der Umstand, daß die Verbindung von Altem Reich und »Europäischer Föderation 4 gerade in Frank-

1 Unter,früher Neuzeit4 wird hier der Zeitraum zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert verstanden; vgl. zur Begrifflichkeit Hans Erich Bödeker/Ernst Hinrichs: Alteuropa - Frühe Neuzeit - Moderne Welt? Perspektiven der Forschung, in: dies. (Hrsg.): Alteuropa Ancien Régime - Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1991, S. 11 ff., 30 ff. 2 Jean-Pierre Chevènement, Interview in Le Monde, 22. Mai 2000.

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reich ihren Ursprung hat, und zwar in der Theorie des Abbé de Saint-Pierre, der die Verfassung der Union Germanique als Modell einer friedensgarantierenden, föderalistisch strukturierten Union Européenne auszeichnete.3 Tatsächlich nimmt das Bedürfnis nach historischer Selbstvergewisserung in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in auffallender Weise zu und hat nachgerade eine Renaissance der - kritischen oder programmatischen - Bezugnahme auf die in der frühen Neuzeit entwickelten und die Gegenwart noch prägenden Strukturen der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und des auf sie bezogenen Denkens bewirkt. Die vehemente Kritik, die vor allem in den 80er Jahren von Seiten der Vertreter der „Postmoderne" an Moderne und Aufklärung und den mit ihr verbundenen Konzeptionen von Subjektivität, Vernunft und geschichtlichem Fortschritt vorgetragen wurde, 4 scheint nur mehr der Vorbote einer allgemeinen Infragestellung der Grundlagen der neuzeitlichen „Ordnung der Dinge" gewesen zu sein, die heute weit über die akademischen Kreise hinaus die Debatten in politischer Öffentlichkeit und Feuilleton belebt. Immer häufiger wird gefragt, ob nicht die sozialen und politischen Umbrüche, die auf nationaler wie auf internationaler Ebene zu konstatieren sind, jene Institutionen und Konzeptionen gesellschaftlichen Lebens in Frage stellen, die seit dem Beginn der Neuzeit entwickelt wurden und seit der Französischen Revolution die Grundlage der modernen Welt bildeten. Das Bewußtwerden der ökologischen Probleme und der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen hat die lange herrschende Idee eines linearen, prinzipiell unendlichen Fortschritts nachhaltig in Frage gestellt. Die mit dem Zusammenbruch des sozialistischen' Systems und den unter dem Schlagwort der »Globalisierung' zusammengefaßten Tendenzen scheinen die Aussichten auf institutionelle Regulierung gesellschaftlicher Prozesse zunichte gemacht zu haben; die neoliberale Vision verselbständigter Systemimperative eines globalisierten Kapitalismus wird weitgehend akzeptiert. Wenn heute etwa immer öfter vom „End of Sovereignty" 5 oder vom ,Ende des Nationalstaats' gesprochen wird, so wird damit eine der zentralen Institutionen der modernen Gesellschaft in Frage gestellt, durch die wesentliche gesellschaftliche

3 Hierzu Olaf Asbach, Souveränität und Föderation. Moderne Staatlichkeit und die Ordnung Europas beim Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 11. Jg, Heft 3, 2001, S. 1081 ff.; ders., Die Zähmung der Leviathane. Die Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau, Berlin 2002, S. 123 ff. 4 Für einen Überblick über diese Diskussionen Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986; Peter Kemper (Hrsg.), »Postmoderne4 oder Der Kampf um die Zukunft. Eine Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988. 5 So der einschlägige Titel von Joseph A. Camilleri/Jim Falk , The End of Sovereignty? The Politics of a Shrinking and Fragmenting World, Aldershot, Hants. 1992.

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Gestaltungs- und Regelungsaufgaben wahrgenommen wurden. 6 Dieses Ende würde zudem bedeuten, daß eine zentrale Innovation und Konstante der neuzeitlichen Welt obsolet wird, insofern mit dem Niedergang des souveränen Nationalstaats auch das internationale Staatensystem zerbräche, wie es sich seit dem 17. Jahrhundert herausgebildet hat.7 Ebenso hat die moderne (westliche) Gesellschaft erfahren müssen, daß ihre normativen Prinzipien und Konzeptionen und die Versuche ihrer Verwirklichung nicht nur immanenten Entwicklungsproblemen und ,Rückschlägen4 durch ökonomische Krisen bis hin zu nationalistischen oder faschistischen Reaktionen ausgesetzt sind. Zunehmend sieht sie sich mit Vorwürfen und Abwehrbewegungen anderer Kulturen konfrontiert. 8 Demnach tritt an die Stelle der Hoffnung „der" Moderne, für die Realisierung einer universellen, auf Vernunft, Demokratie und Sicherung der politischen und sozialen Menschenrechte basierenden Zivilisation einstehen zu können, die Aussicht auf einen „Clash of civilisations4'. Behauptet wird die Unhintergehbarkeit der Differenz kultureller Traditionen, womit Ideen wie die autonomer Subjektivität oder einer auf Freiheit und Gleichheit basierenden Form gesellschaftlicher und politischer Selbstbestimmung auf historisch spezifische, vor allem den Interessen der europäisch-amerikanischen Welt des 17. bis 20. Jahrhunderts entsprungene Selbstbilder und Ideologien reduziert werden, die letztlich nichts anderes seien als vorgeschobene Argumente zur Bemäntelung des aggressiven Hegemoniestrebens des „West against the rest 44.9 Diese und andere Erscheinungen lassen es angeraten sein, sich in historischer, politischer und normativer Perspektive dem philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Denken der frühen Neuzeit zuzuwenden. Hier nämlich wurden die Kategorien der Beschreibung, Erklärung und Rechtfertigung der nunmehr in die Krise geratenen Verhältnisse des modernen Denkens und Seins herausgebildet. Es ergibt sich aus der Sache selbst, daß diese Untersuchung die unterschiedlichsten

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Denn der Staat der Neuzeit galt - zumindest auch (dazu weiter unten) - als Instanz der Konstituierung und Sicherung der bürgerlichen und politischen Freiheit, der autonomen Selbstbestimmung der vergesellschafteten Individuen und der Regulierung ihres Zusammenlebens als freier und gleicher Rechtssubjekte unter der Herrschaft selbstgegebener allgemeiner Gesetze (vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M. 1999). - Zum derzeit grassierenden „Endism" vgl. Ulrich Menzel, Globalisierung und Fragmentierung, Frankfurt/M. 1998, S. 7 ff. 7 Vgl. mit Nachweisen zu diesen verschiedenen Diskussionen Asbach, Die Zähmung der Leviathane (wie Anm. 3), S. 13 ff. Die Folgen sind ablesbar an dem, was inzwischen unter dem Begriff „neuer Kriege" gefaßt wird, die in mancher Hinsicht eine Rückkehr zu Problemen bedeuten, wie sie vor der Entstehung souveräner Staaten in der Neuzeit bestanden; vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002. 8 Vgl. Manfred Brocker/Heino Heinrich Nau (Hrsg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997. 9 So im Titel von Samuel Huntington, The Coming Clash of Civilizations - or, the West against the Rest, in: New York Times vom 6. Juni 1993.

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Disziplinen, Methoden und Fragestellungen umfassen muß. Dabei müssen die folgenden Dimensionen in den Blick genommen werden: - Auf der Gegenstandsebene sind die geschichtlichen Prozesse der Herausbildung der neuzeitlichen Gesellschaft zu erfassen, und zwar in ihren verschiedenen Dimensionen hinsichtlich der Konstitution von Institutionen, Entwicklungsdynamik, Akteuren, Interessenkonstellationen und der Weisen ihrer Artikulation. Zu differenzieren ist dabei zwischen dem, was jeweils als allgemein anzusehen ist, und dem, was als historisch, national, kulturell etc. spezifisch gelten muß. - Herauszuarbeiten sind die theoretischen Begriffe und Konzeptionen, mit denen die sich entwickelnden modernen Wissenschaften diese Entwicklungen und ihre Voraussetzungen zu begreifen suchen. - Von besonderer Bedeutung ist die Erforschung der Beziehung, die zwischen diesen beiden Prozessen besteht, d.h. zwischen der »theoretischen', stets aber auch praktisch bedingten und direkt oder indirekt auf Praxis ausgerichteten Tätigkeit des wissenschaftlichen Denkens einerseits und den realgeschichtlichen Prozessen andererseits. - Schließlich ist der analytischen und normativen Bedeutung nachzugehen, die diese Konzepte für das Verständnis und die Bewältigung der gegenwärtigen Strukturen und Probleme besitzen; insbesondere ist kritisch zu reflektieren, inwiefern etwaige Aktualisierungsversuche möglich sind und welchen Transformationen dabei die verwandten Konzeptionen unterzogen werden. Im folgenden soll versucht werden, skizzenhaft einige Grundlinien und Problemstellungen der wissenschaftlichen und politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen der Neuzeit zu umreißen, die für ein historisch und systematisch angemessenes Verständnis der angesprochenen Thematik erforderlich sind. Über die Frage nach Ausgangspunkten und Bestimmungsmomenten des in der Neuzeit ausprägten gesellschaftlichen Zusammenhangs hinaus wird dabei insbesondere der Rolle des politischen Denkens Aufmerksamkeit geschenkt, da es in seiner faktischen und normativen Bedeutung wie in seinen Problemen und Widersprüchen bis in die Gegenwart hinein prägend ist. Zu den bemerkenswertesten Erscheinungen zählt dabei, daß die (herrschafts-)kritische, alle Autoritäten destruierende und die Wirklichkeit nur mehr auf vernünftigen Prinzipien zu begründen suchende Wissenschaft in Neuzeit und Aufklärung zugleich vermittels ihrer praktischen Ausrichtung zu einem Element der Institutionalisierung neuer Formen gesellschaftlicher Herrschaft wird. Daraus ergibt sich die Frage nach der Notwendigkeit, der Funktion und den Gefahren dieser Beziehung, eine Frage, die die Wissenschaften im je konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang stets neu stellen und beantworten müssen, wenn sie Klarheit über ihre eigene Funktion und Aufgabe innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs gewinnen wollen, in dem sie wirken.

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II. Die Revolutionierung des Wissens in der frühen Neuzeit In der frühen Neuzeit sind die Voraussetzungen und Grundlagen der modernen - europäischen oder »westlichen4 - Gesellschaft und Zivilisation ausgebildet und zur Geltung gebracht worden. Die überkommenen Strukturen der sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Ordnungen geraten in Bewegung und brechen auf, es kommt zu langen und blutigen Konflikten, an deren Ende sich eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs herausgebildet hat, die sich in ihren Grundlagen, Organisations- und Verfahrensweisen wie auch hinsichtlich ihres Selbstverständnisses prinzipiell vom status quo ante unterscheidet. Begleitet, reflektiert und befördert werden diese Entwicklungen durch die revolutionären Umbrüche im philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Denken, in dem in theoretischer und praktischer Hinsicht im 17. Jahrhundert die entscheidenden Schritte vollzogen worden sind. Namen wie jene von Descartes, Galilei oder Hobbes verweisen auf Neuansätze hinsichtlich der methodischen Fundamente und sachlichen Dimensionen der menschlichen Erkenntnisprinzipien, der naturwissenschaftlichen Forschung und der Fundierung der moralischen und politischen Verhältnisse, die mit den bis dahin dominierenden Formen theoretischer und praktischer Weltaneignung radikal brechen. Wesentlich hierfür ist ein gänzlich neues Verhältnis der Subjektivität zur sie umgebenden und bestimmenden Objektivität, und zwar sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht: das Zentrum der Bestimmung vernünftigen Erkennens und Handelns bildet die Vernunft des Menschen. Von entscheidender Bedeutung für den Übergang zum neuzeitlichen Denken ist dabei, daß nicht einfach neue Inhalte oder Systeme die alten ablösen. Vielmehr wird ein neues methodisches und systematisches Verständnis von Erkenntnis selbst entwickelt, indem die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugriffs auf die natürliche und die transzendente Wirklichkeit negiert und die (subjektiven) Möglichkeiten und Bedingungen objektiver Erkenntnis als klärungsund begründungsbedürftig und als entscheidend für ihre Konstituierung angesehen werden. Das moderne, aufklärerische Denken wird selbstreflexiv und sich selbst begründend. 10 Die Zerstörung der antik-mittelalterlichen Ordnung hat Max Weber prägnant als den Prozeß der „Entzauberung der Welt" bezeichnet.11 Das Universum wird des die einzelnen überwältigenden,Zaubers 4 einer universalen Seins- und Sinnordnung beraubt, in der sie sich zuvor durch Erkenntnis und Anerkennung des ihnen zugeschriebenen Ortes aufgehoben fühlen konnten. Dieser Prozeß umfaßt vor allem folgende Dimensionen:

10

Vgl. zusammenfassend hierzu Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1984, S. 26 ff. 11 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. v. Johannes Winkelmann, 5., rev. Aufl., Tübingen, 1980, S. 308.

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- Die qualitative Vielfalt und Ordnung der Natur als eines sinnhaften, teleologischen Zusammenhangs wird nunmehr zur quantitativen Beziehung zwischen ausgedehnten Körpern, welche Gesetzen unterliegen, die durch die Menschen erkannt werden können, um praktisch zur Steigerung der Naturherrschaft angewendet zu werden; 12 - die Grundlagen der Erkenntnis werden - sei es rationalistisch oder sensualistisch - in das erkennende Subjekt verlegt, bis die Objektivität in der konsequenten Ausformulierung neuzeitlicher Erkenntnistheorie im Rahmen von Kants Kritik der reinen Vernunft zum Resultat der gegenstandskonstituierenden Kategorien transzendentaler Subjektivität überhaupt wird; 13 - der Universalitätsanspruch der christlichen Religion wird nicht nur durch Reformation und Konfessionskriege in Europa gespalten und geschwächt, sondern zum Gegenstand von Kritik, Diskussionen und Erklärungen: auch sie wird von subjektiver Vermittlung und Interpretation im Gewissen und im Fürwahrhalten der einzelnen Gläubigen abhängig;14 - die politische und gesellschaftliche Ordnung des Zusammenlebens der Menschen verliert den Charakter des Unverfügbaren, des von natürlicher und/oder göttlicher Ordnung Vorherbestimmten, innerhalb dessen Gefüge der einzelne sich bis dahin einzugliedern hatte.15 Angesichts der fundamentalen Krise der »objektiven Ordnungen4 kann es nicht mehr primär darum gehen, Mensch, Gesellschaft, Geschichte und Natur im Rahmen einer feststehenden ordo naturae oder universalis zu verorten, so daß menschliche Praxis auf den theoretischen Nachvollzug und die praktische, letztlich bloß technische Realisierung dieser vorgegebenen Seinsstruktur beschränkt bliebe. Immer deutlicher wird nun der Anspruch erhoben, den Menschen nicht mehr als unfreies Moment innerhalb eines prädestinierten Universums anzusehen, sondern als verantwortlichen Schöpfer der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Philosophie und Wissenschaft dazu nutzt, „eine Verbesserung des menschlichen Zustandes und eine erhöhte Macht über die Natur" zu erzielen. 16 Nur noch in sich selbst kann der Mensch die normativen Prinzipien finden, an denen er sein Handeln orientiert und mittels derer er die bestehende Wirklichkeit kritisch mißt, um sie gegebenenfalls

12

Vgl. Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum modernen Universum, Frankfurt/M. 1969. 13 Vgl. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986. 14 Hierzu bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke, Bd. 12), Frankfurt M. 1970, S. 492 ff. 15 Zusammenfassend Walter Euchner, Naturrecht und Politik bei John Locke, Frankfurt/M. 1979, S. 14 ff. 16 Francis Bacon, Novum Organum/Neues Organ der Wissenschaften (1620), hrsg. v. Anton Theobald Brück, Leipzig 1830 [ND Darmstadt 1981], S. 236 (II. 52).

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zu ändern und entsprechend den von der menschlichen Vernunft gesetzten Zielen zu gestalten. I I I . Grundlagen der politischen Theorie der Neuzeit Die neue Begründung, methodische Grundlegung und Ausrichtung wissenschaftlicher Erkenntnis wie auch die Neubestimmung der Beziehung zwischen Subjektivität und Objektivität prägte in besonders folgenreicher Weise das neuzeitliche politische Denken. Spätestens seit den Religionskriegen, den Änderungen der Gesellschaftsverfassung und den Anfängen der Herausbildung von Strukturen moderner Staatlichkeit waren die mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen definitiv überholt. Eine Einbindung der individuellen und gesellschaftlichen (Selbst-)Beziehungen und Einrichtungen in einen verpflichtenden universellen Zusammenhang war in dieser Situation nicht mehr dauerhaft zu stiften oder künstlich zu restituieren. Die Grundlagen der Einheit gesellschaftlicher und politischer Ordnung und der sie konstituierenden und stabilisierenden Rechtsverhältnisse bedurften einer Begründung jenseits religiöser Überzeugungen und traditionalen Herkommens, die nunmehr selbst ihre jeweilige Legitimität erst durch den Bezug auf die politischrechtliche Einheit des gesellschaftlichen Lebens erhielten. In diesem Zusammenhang lassen sich zumindest vier verschiedene Strömungen politischen Denkens differenzieren, die seit dem 16. und 17. Jahrhundert diesen Prozeß der Neubegründung der politischen und sozialen Ordnungen begleiten und beeinflussen, Strömungen, die - nicht ohne einander vielfältig zu berühren und zu durchdringen - die Herausbildung der politischen Theorie der Aufklärung wesentlich mitbestimmt haben. Begründung von Staat Erstens lebt die Tradition der aristotelisch-christlichen und Politik auch in der Neuzeit fort und erlebt sogar in gewissem Sinne eine neue Blüte, 17 sei es als Ergänzung, sei es als Korrektiv zu den sich wandelnden Verhältnissen in den sich modernisierenden Gesellschaften. Politik ist hier wesentlich in der Moral begründet, wobei der Staat als Gemeinschaft zur Verwirklichung des allgemeinen Besten, des Gemeinwohls oder allgemeiner Glückseligkeit angesehen wird. 18 Trotz des Rückbezugs auf ,vormoderne 4 Sinnkonzepte hat sich der allgemeine Bezugsrahmen dieses Ansatzes im Vergleich zur mittelalterlichen Wirk-

17

Zum politischen Denken im Alten Reich vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staatsund Verwaltungslehre, München 1986; Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, München 1977; Horst Denzer, Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform: Politische Ideen in Deutschland 1600-1750, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. von Iring Fetscher u. Herfried Münkler, Bd. 3: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, München 1985, S. 233-273. 18 Vgl. Volker Sellin, Artikel »Politik4, in: Otto Brunner/Wemer Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart, 1978, S. 808 ff., 814 ff.

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lichkeit entscheidend verschoben. Nicht mehr die Herstellung einer universellen ordo, sondern die Begründung, Legitimation und Organisationsweise der zunehmend territorial definierten politischen und gesellschaftlichen Ordnung stehen nunmehr im Zentrum. Konsequenterweise verbindet sich diese Tradition - methodisch und inhaltlich - schon früh mit den spezifisch modernen Formen einer säkularen, auf den Staat gerichteten Bestimmung von Zwecken und Mitteln politischen Handelns. Zweitens können in der auf Machiavelli zurückzuführenden Tradition der Staatsräson die Anfänge der modernen säkularen, auf den Staat ausgerichteten politischen Theorie gesehen werden. Von Autoren wie Botero oder Guicciardini entfaltet, hat sie durch Richelieu ihre realpolitisch vielleicht prägnanteste Umsetzung erfahren, zugleich aber auch scheinbar gegenläufige Traditionen wie die der christlich inspirierten Staatslehren beeinflußt; nicht zuletzt hat sie auch noch trotz ihres teilweise demonstrativ aufs Schild gehobenen jAnti-Machiavellismus' - das Handeln vermeintlich aufgeklärter Herrscher des 18. Jahrhunderts geleitet.19 Ins Zentrum des politischen Denkens tritt in dieser Konzeption der Staat mitsamt seiner neuzeitlichen Machtfülle, Legitimität und seinem Ausschließlichkeitsanspruch. Der Staatsraisonlehre zufolge kommt es in der Politik nicht auf die Verwirklichung von Ideen oder moralischen Normen an, sondern auf die Technik des Erwerbs, der Sicherung und Stärkung politischer Macht jenseits aller inhaltlichen Zweckbestimmung. Die Erkenntnis der gichtigen' Politik wird zu einer Angelegenheit rein innerweltlicher Analyse von Menschen und Gesellschaft, ,wie sie wirklich sind', der in und zwischen ihnen wirkenden Gesetze und Kräfteverhältnisse, woraus die für die Machterhaltung geeigneten, durch kein transzendentes Prinzip mehr gedeckten oder vorgegebenen Konsequenzen zu ziehen sind. 20 Drittens wird mit der modernen Natur- und Vernunftrechtslehre und der damit verbundenen Theorie des Gesellschaftsvertrags eine neue Stufe der Begründung von Staat und Recht in der Neuzeit erreicht. Ungeachtet der gravierenden Differenzen, die im einzelnen zwischen den verschiedenen Vertretern dieser Traditionslinie von Hobbes über Locke und Rousseau bis zu Kant zweifellos bestehen,21 sind es vor allem zwei Punkte, die hierbei entscheidend sind. Auf der einen Seite löst die Naturrechtstheorie die Erkenntnis der politischen und rechtlichen Prinzipien von jeder Berufung auf Offenbarung, Autoritäten oder geschichtliches Herkommen,

19

Vgl. Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1987. - Besonders interessant ist hier natürlich der Fall Friedrichs II. von Preußen, der kurz vor seinem Machtantritt 1740 mit Voltaires Unterstützung ein Werk mit dem Titel „Anti-Machiavelli" verfaßte, um unmittelbar danach eine machiavellistische Politik reinsten Wassers zu betreiben. 20 Vgl. Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M. 1980, S. 20 ff. 21 Einen prägnanten Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede liefert Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994.

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indem sie auf methodischer Ebene nach dem Vorbild der modernen Naturwissenschaften ,more geometrico* verfährt: Sie gründet auf der Analyse der einzelnen Elemente des gesellschaftlichen Zusammenhangs und der zwischen ihnen wirkenden Beziehungen. Den Ausgangspunkt bilden die freien und gleichen Individuen, die als Subjekte spezifischer (natürlicher) Rechte erkennen, daß sie zu ihrer Selbsterhaltung diesen natürlichen Zustand zugunsten eines staatlich konstituierten aufgeben müssen.22 Damit ist der zweite wesentliche Aspekt dieses Ansatzes benannt: Staat, Recht und der dadurch gesetzte Zwang können einzig durch den Rückgang auf den Willen und die Freiheit der Herrschafisunterworfenen gegründet und gerechtfertigt werden. Obgleich die Konsequenzen, die die verschiedenen Naturrechtler hieraus ziehen, zum Teil konträrer Natur sind, ist damit ein interner Zusammenhang von legitimer Herrschaft und freier Subjektivität gestiftet und ein Maßstab gegeben,23 der als kritisches Potential die gesamte neuzeitliche politische Theorie durchzieht. Viertens schließlich ist in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt auf den, klassischen Republikanismus' als einer weiteren Traditionslinie neuzeitlichen politischen Denkens aufmerksam gemacht worden. Diese Theorie ist mit den angesprochenen - und mit anderen, bis in die Antike zurückreichenden - politischen Konzeptionen auf komplexe Weise verflochten und läßt sich von den norditalienischen Bürgerhumanisten des frühen 15. Jahrhunderts, Machiavellis Discorsi und Harringtons Oceana über Montesquieu und die politischen Ideale Rousseaus und Mablys bis zur schottischen Moralphilosophie und den Ideen der amerikanischen Verfassungsväter verfolgen. 24 Im Unterschied zum Wert, den die Staatsraison- und die Naturrechtslehre auf die Begründung von Verfassung und politischen Institutionen zur Schaffung und Sicherung der - als Handlungsfreiheit verstandenen - bürgerlichen Freiheit legten, zielt das Denken des Republikanismus vornehmlich auf die nicht-institutionellen, moralischen Motive und Aspekte der Herstellung von Verhältnissen politischer Freiheit, die durch Tugend der Bürger und durch aktive Teilnahme an der Bestimmung und Realisierung des Gemeinwohls charakterisiert sind. 25 Von Bedeutung ist dies insbesondere, weil das republikanische Denken sich einem zentralen Problem des neuzeitlichen Denkens zuwandte: der Suche nach einem Prinzip von politischer Selbstbestimmung, das der Verselbständigung

22

Exemplarisch und in radikaler Konsequenz bei Thomas Hobbes, De cive/Vom Bürger, hrsg. v. Günter Gawlick, Hamburg 1977, S. 67 ff., 79 ff. 23 Zu den unterschiedlichen Konzeptionalisierungsweisen bürgerlicher Freiheit Karlfriedrich Herb, Bürgerliche Freiheit. Politische Philosophie von Hobbes bis Constant, Freiburg u.a. 1999. 24 Grundlegend hierzu John G. A. Pocock , The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975. 25 Vgl. Peter Nitschke, Einführung in die politische Theorie der Prämoderne 1500-1800, Darmstadt 2000, S. 175 ff.

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politischer Macht und Herrschaft im sich ausbildenden Absolutismus und generell jeder Form des entstehenden zentralisierten Staates zu widerstehen vermochte. Diese wenigen Hinweise zu den wesentlichen Strömungen des neuzeitlichen politischen Denkens machen bereits deutlich, in welchem Sinn es einen systematischen Neubeginn beim Versuch der Begründung von Staat und Gesellschaft darstellt. Hinsichtlich der Voraussetzungen, des methodischen Zugangs und der inhaltlichen Bestimmungen wird eine Behandlungsart des Politischen entwickelt, die einerseits den Standards des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses entspricht, andererseits dem Verständnis und der Entwicklung der sich strukturell wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft Rechnung trägt. Es sind vor allem die folgenden Elemente, die von entscheidender Bedeutung für die politische Theorie der Aufklärung geworden sind: - Die politische Theorie der Neuzeit versteht sich auch dort, wo sie nach universellen Prinzipien und more geometrico zu erfassenden Gesetzen und Strukturen politischer und rechtlicher Verhältnisse zwischen Menschen fahndet, keineswegs als Teil eines weitabgewandten, das vergängliche Hier und Jetzt im Licht einer unvergänglichen,, wahren Wirklichkeit 4 betrachtenden vita contemplativa. Das politische Denken entwickelt sich in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den Problemen und Aufgaben der Zeit, es versteht sich selbst als praktisch und beansprucht, an dem Prozeß der sich vollziehenden Neubestimmung der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, ihrer Prinzipien, Einrichtungen, Verfahren und Zwecksetzungen mitzuwirken. - Grundlegend für das politische Denken wie für das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis generell ist die Kritik an allen Verhältnissen und Ansprüchen, die sich allein auf Tradition, Herkommen oder sonstige Autoritäten stützen, die nicht der vernünftigen Einsicht und dem freien Willen der Subjekte entspringen. 26 Damit werden zumindest implizit, immer öfter aber auch ausdrücklich die Grundlagen der traditionellen politischen und sozialen Ordnung in der Wirklichkeit zur Disposition gestellt, insofern die ständische Organisation der Gesellschaft, die feudalen Eigentumsverhältnisse, das System des , alten Rechts4 und der daraus folgenden Privilegien wesentlich auf der Akzeptanz solcher traditional bestimmter Autorität beruhte. 27 - Daraus ergibt sich im Umkehrschluß, daß die Anerkennung theoretischer und praktischer Aussagen nur mehr auf Vernunft und Erfahrung, auf subjektiver

26

Vgl. die einschlägigen Formulierungen bei René Descartes , Discours de la méthode Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (1637), hrsg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1960, S. 31 (II.7). 27 Zur Rechtsentwicklung Dieter Grimm, Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, München 2001, S. 13 ff.

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Einsicht und Nachvollziehbarkeit beruhen kann. Für die politische Theorie bedeutet dies: Politische und soziale Institutionen und Prinzipien, legitime Herrschaft und Rechtsverhältnisse bedürfen der rationalen Begründung und des Nachweises, daß und wie sie aus dem vernünftigen Willen der Subjekte resultieren bzw. inwiefern sie zur Realisierung des vernünftigen Willens und freien Handelns erforderlich sind. - Wenn es um die Auszeichnung und Bestimmung eines in der politischen und sozialen Welt zu realisierenden ,Gemeinwesens4 oder ,Gemeinwohls' geht, geschieht dies nicht mehr jenseits vernünftiger Subjektivität durch den Bezug auf eine transzendente ,gute Ordnung', deren Realisierung den Menschen aufgegeben wäre. Legitim ist nur mehr diejenige Ordnung, die individuelles und allgemeines Interesse, Partikular- und Gemeinwillen so organisiert und aufeinander bezieht, daß die als notwendig angesehene Form der Verwirklichung der - sei es primär politisch, bürgerlich oder moralisch verstandenen - Freiheit ermöglicht wird. - Das kritische und konstruktive Potential theoretischer Erkenntnis beschränkt sich bei alldem nicht nur auf die Frage der Konstitution legitimer politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen. Auch die institutionellen und verfahrensmäßigen Formen der Umsetzung und des Funktionierens der als rational anerkannten politischen Körperschaften sehen sich neuen Ansprüchen ausgesetzt. Es ist diese praktisch gerichtete, die neuen wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse systematisch einbeziehende Analyse und Kritik des Bestehenden im Lichte einer möglichen rationalen Weltgestaltung, die für das politische Denken der Neuzeit grundlegend ist. Diese theoretischen und praktischen Prinzipien und Anforderungen werden im ,Zeitalter der Aufklärung' aufgenommen und weitergetragen, qualitativ und quantitativ ausdifferenziert und in ihren unterschiedlichen Dimensionen und Konsequenzen entfaltet wirksam.

IV. Was ist „Aufklärung"? Welche spezifische Bedeutung kommt vor dem Hintergrund der angedeuteten Entwicklungen dem Zeitalter der Aufklärung zu, d.h. dem Zeitraum vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts? Die Aufklärungsperiode kann gleichsam als Drehscheibe auf dem Weg zur Herausbildung der modernen Welt angesehen werden, in der die verschiedenen, im Übergang zur Neuzeit einsetzenden Entwicklungen konvergieren und sich in einem Maße durchsetzen, daß eine Rückkehr zum geschlossenen Kosmos der vormodernen Lebens- und Ideenwelt unvorstellbar wird. Aufschlußreich für das Verständnis des Aufklärungszeitalters ist insbesondere die Doppeldeutigkeit, die dieser Epochenbezeichnung anhaftet: Sie verweist nicht nur auf eine geistes- oder ideengeschichtliche Entwicklungsperiode,

sondern

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auch auf ein realgeschichtliches Phänomen. 11 Damit ist mehr gemeint als die triviale Feststellung einer historischen Gleichzeitigkeit bestimmter gesellschaftlicher und »ideologischer4 Prozesse oder die Behauptung einer äußerlich bleibenden Beziehung aufeinander. Dieser Doppelsinn ist auch nicht als ein Problem von begrifflicher Unschärfe oder Undifferenziertheit abzutun, sondern weist ins Zentrum des Verständnisses des Zeitalters der Aufklärung selbst. Es wird dadurch nämlich angezeigt, in welchem Maße die theoretischen und praktischen Prozesse des Umbruchs, der Zerstörung der bis dato bestehenden Fundamente und ihre Neubestimmung miteinander zusammenhängen, aufeinander einwirken und einander verstärken. Eine spezifische Form der modernen wissenschaftlichen Rationalität und Reflexivität wird zum konstitutiven, funktionalen Element für die politische Konstitution und Organisation des gesellschaftlichen Zusammenhangs selbst. Im Rahmen einer umfassenden Analyse der Aufklärungsbewegung im Zusammenhang mit den sich gesamtgesellschaftlich vollziehenden Umbruchsprozessen sind analytisch zumindest zwei Dimensionen zu unterscheiden, um den besonderen Charakter der theoretischen und praktischen Stoßrichtung des Denkens der Aufklärung im 18. Jahrhundert herausarbeiten zu können. Unter Aufklärung ist zum einen - in „ideengeschichtlicher Perspektive" - vor allem die sachliche und inhaltliche Ausweitung und Radikalisierung kritischer, methodisch angeleiteter Reflexion zu verstehen.29 Im 17. Jahrhundert waren gesellschaftlich relevante, aber aufgrund der Macht- und Kräfteverhältnisse außerordentlich heikle Themen und Bereiche wie Religion, Staat oder Moral aus dem Verfahren von radikalem Zweifel und vernünftiger Rekonstruktion noch weitgehend ausgeklammert worden. 30 Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ging an dieser entscheidenden Stelle weiter und unterwarf sukzessive alle Bereiche menschlichen Wissens und Handelns dem Verfahren der kritischen Überprüfung im Lichte vernünftig erkannter Prinzipien. Je weiter die Unterminierung der traditionellen Ordnung voranschritt, desto stärker wurden das Bewußtsein und der erklärte Wille, die theoretische Kritik auch praktisch wirksam - d.h. Teil der Wirklichkeit - werden zu lassen und die als wahr, richtig und nützlich ermittelten Erkenntnisse zu realisieren. Dieser Prozeß der Entstehung, Ausweitung und Radikalisierung und die enge Praxisbeziehung aufklärerischen Denkens entwickelten sich jedoch nicht unabhängig und getrennt von den zeitgenössischen politischen

28 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt/M. 1987, S. 19. 29 Rudolf Vierhaus, Zur historischen Deutung der Aufklärung: Probleme und Perspektiven, in: Judentum im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. vom Vorstand der Lessing-Akademie, Wolfenbüttel, S. 43. 30 Vgl. exemplarisch das explizite ,Ausklammern 4 religiöser und politischer Fragen bei Descartes, Discours de la méthode (wie Anm. 26), S. 38 u. 46 (III.2 u. 6).

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und sozialen Institutionen, sachlichen und personellen Zusammenhängen und Verflechtungen. Über diese ideengeschichtliche Dimension hinaus ist die Aufklärung zum anderen nämlich „realgeschichtlich" als ein Projekt 4 zu verstehen und zu untersuchen, das von den gesellschaftlichen Entwicklungen und den aus ihnen erwachsenen Problem- und Interessenlagen vorangetrieben wurde. Demzufolge wird die Nachfrage nach neuen Verfahren, Institutionen, Begriffen und Handlungsbedingungen innerhalb der bestehenden Institutionen und Verhältnisse nicht nur erzeugt und artikuliert, sondern es werden hier bereits die ,aufklärerischen' Prozesse angestoßen, die zur Befriedigung dieser Nachfrage beitragen. Die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklungen und die Forderungen nach innovativen Reformen politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse und Einrichtungen bilden ein wesentliches Element und den Motor moderner Staatlichkeit. Aufklärung, Staat und gesellschaftliche Rationalisierungs- und Zentralisierungsbemühungen gehen insofern bis zu einem gewissen Grad Hand in Hand. Die unter dem Signum des , Absolutismus' zusammengefaßten Tendenzen zur Herausbildung eines die gesellschaftliche Einheit und Gleichheit herstellenden und aktiv fördernden Zentralstaats hatten es schon seit dem 16. Jahrhundert erforderlich gemacht, sich systematisch des erreichten Wissens in seinen unterschiedlichen Gestalten und Dimensionen zu vergewissern und zu bedienen, - sei es zur (pseudo-)historischen Begründung der Herkunft und Legitimität staatlicher Machtansprüche, sei es zur Entwicklung, Verbesserung und effektiven Beherrschung der Instrumente und Techniken zentraler Machtausübung, sei es zum Verständnis der Prinzipien und Mechanismen der rechtlichen, steuerlichen oder wirtschaftspolitischen Regulierung und ihrer Folgewirkungen, sei es zur Einschätzung und Bewertung der konfligierenden Ansprüche und Interessen traditioneller oder neu entstehender Strukturen und Akteure. Mit der Forderung nach zentralisierter Macht und einem einheitlichen, absolut geltenden und durchsetzbaren Recht wächst der Organisations-, Planungsund Steuerungsbedarf des Staates und damit auch dessen Bedürfiiis nach Informationen, sicheren Erkenntnissen und Wegen ihrer Verarbeitung und Umsetzung.31 Es kann also nicht verwundern, daß der Staat des 17. und 18. Jahrhunderts nicht nur als Gegner und Opponent der Aufklärungsbewegung und ihrer Reformbestrebungen erscheint, sondern zugleich als „zweifellos der energischste Initiator praktischer Reformen" angesehen werden kann.32 Nicht zufällig waren die seit den 1660er Jahren gegründeten wissenschaftlichen Akademien in Europa ,νοη oben' gestiftete Institutionen, die die an den Universitäten nicht hinreichend entwickelten Forschungen und ihre praktischen Umsetzungsmöglichkeiten im Sinne des neu-

31 Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zweite, durchges. Auflage, München 2000. 32 Roger Chartier , Die kulturellen Ursprünge der Französischen Revolution, Frankfurt/M., New York, Paris 1995, S. 29.

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zeitlichen Wissenschaftsverständnisses systematisch vorantreiben sollten. Betrachtet man die Entwicklungen und personellen Überschneidungen in Frankreich vom Ende des 17. Jahrhunderts an, so wird erkennbar, daß mit den Akademien eine für die Aufklärungsbewegung bedeutsame Kultur wissenschaftlicher Forschung und Kommunikation - mitsamt der damit verbundenen ,modernen' Werte von Öffentlichkeit und kritischer Überprüfung erhobener Ansprüche - durch den entstehenden Zentralstaat befördert worden ist. 33 Ebensolche Überschneidungen zwischen Vertretern und Positionen von Staat, Wissenschaft und Aufklärung lassen sich auch in zahlreichen anderen Formen feststellen. So partizipierten etwa an der angesprochenen Kultur der aufklärerischen Geselligkeit und Kommunikationsbeziehungen in Gesprächskreisen, Salons, Sozietäten, in internationalem Briefverkehr und publizistischem Austausch stets auch ehemalige, aktive oder spätere Mitglieder der politischen und gesellschaftlichen Eliten, so daß es eher als historische Ausnahme und Ausdruck spezifischer politisch-sozialer Konstellationen und Kräfte gelten muß, wenn Aufklärungsbewegung und Staat - wie, und auch dies nur zeitweise, im Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - einander scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. Die beiden Ebenen von Aufklärung - Aufklärung als sachliche Vertiefung und Ausbreitung der wissenschaftlichen Forschung und Kritik einerseits, als soziale, die gesellschaftliche wie auch die natürliche Welt zum Gegenstand technischpraktisch orientierter Reformen machende Bewegung andererseits - sind folglich in ihrer Entwicklungsdynamik strukturell, institutionell und personell miteinander verflochten. Dies bedeutet nicht, daß etwa von einer bewußten Konzeptionalisierung oder gar Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Akteure gesprochen werden könnte. Sehr wohl aber müssen die Faktoren des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses und die aus ihnen resultierenden praktischen Forderungen an die Gestaltung der Wirklichkeit in ihrer,materiellen' Bedeutung für die Entstehung und Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft und , ihres Staates' erkannt werden. Ohne diese ,ideellen Faktoren' kann ein angemessenes Verständnis der Subjektivität und Objektivität prägenden Prozeßstrukturen des Zeitalters der Aufklärung nicht gewonnen werden. Infolgedessen sind die je konkreten Bedingungen und Praktiken zu analysieren, die für das jeweilige Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Diskurs-, Praxis- und institutionellen Formen der aufklärerischen Analyse und Kritik verantwortlich sind. Aufklärung als real-, als ideen- und als sozialgeschichtlicher Prozeß ist somit nicht nur von sachlichem Interesse für die Entstehung der modernen Gesellschaft, sondern von gleichsam exemplarischer Bedeutung für ein umfassendes Verständnis geschichtlicher Prozesse und des in ihnen bestehenden Zusammenhangs von

33

Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 181 f.; Leonhard Bauer/Herbert Matis, Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft, München 1988, S. 259 ff.

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materiellen' und , intellektuellen' Faktoren, Dynamiken und Praktiken. Denis Richet hat betont, daß die in der Neuzeit zu beobachtenden „modifications de la pratique ont conditionné, mais ont été conditionnées par , des changements fondamentaux des structures mentales et idéologiques".34 Dieser wechselseitige Zusammenhang läßt sich besonders deutlich anhand der im 17. und 18. Jahrhundert unternommenen Versuche nachvollziehen, in politischer Theorie wie zum Teil in der politischen Praxis den Anforderungen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft gerechtzuwerden und sie im Hinblick auf die je für fundamental gehaltenen Prinzipien und Zielsetzungen aktiv zu gestalten. V. Politische Theorie der Aufklärung als politische Wissenschaft Im Zeitalter der Aufklärung wird die Dynamik der europäischen Gesellschaften bei allen Unterschieden im einzelnen durch zwei komplementäre Prozesse bestimmt: durch die Herausbildung einer neuen Form der Organisation, der Vermittlungsweisen, der Subjekte und Leitbilder der Gesellschaft auf der einen Seite, durch die Zentralisierung der politischen Macht und des Rechts im Staat und dessen sich professionalisierenden Apparaten auf der anderen Seite. Die Einrichtung von Staat und Gesellschaft wird hinsichtlich ihrer Ursprünge und Zweckbestimmung in einer neuen Weise rechenschaftspflichtig, denn die souveräne Macht des modernen Staates bezieht ihre ,raison d'état nun zunehmend aus dem Anspruch, daß die Stärke und der Wohlstand des Staates zugleich Bedingung für die Freiheit und den Wohlstand der einzelnen Gesellschaftsmitglieder wie auch der Gesellschaft als ganzer ist und somit im vernünftigen Interesse aller liegt. Wie auf diese Weise die (zu rationalisierende) Praxis des expandierenden Staates zur (rationalistischen) Theorie drängt, so tendiert umgekehrt im Aufklärungszeitalter die neuzeitliche Theorie zur Praxis. Der Anspruch der modernen Philosophie und Wissenschaft, die Natur, Gesellschaft und individuellem Wollen und Handeln zugrundeliegenden Prinzipien, Regel- und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, um sie vernünftig beherrschen zu können und nicht länger unbekannten Mächten ausgeliefert zu bleiben, barg von Anbeginn an den nicht nur theoretischen, sondern auch praktischen Anspruch auf eine verwirklichte Rationalität der Welt in allen ihren Bereichen. Mit der Aufklärung tritt das Element der freien Aktivität, des praktischen Handelns und Gestaltens, der Umsetzung des als vernünftig Erkannten nicht nur in den Vordergrund, sondern es wird zum Kernstück des philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Denkens. Das praktisch gerichtete Denken der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft über Staat und Politik führt dabei zu einem neuen, äußerst komplizierten Verhältnis zwischen beiden. Der sich im Fortgang des 18. Jahrhunderts immer stärker ausweitenden und radikalisierenden Kritik an über-

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Denis Richet, La France Moderne: L'esprit des institutions, Paris 1973, S. 54 f.

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kommenen Traditionen, Autoritäten und als unvernünftig qualifizierten Zuständen in Gesellschaft und Staat korreliert umgekehrt der Anspruch, eine neue, den Anforderungen vernünftiger Begründung genügende Theorie und Praxis gesellschaftlicher und politischer Institutionen und Verfahren entwickeln und vorantreiben zu können. Die Darstellung der aufklärerischen Sozietäten und der sociabilité des Aufklärungszeitalters allgemein und der sich entfaltenden Strukturen der bürgerlichen Öffentlichkeit' jenseits der Sphäre des Privaten und des staatlichen Handelns im besonderen35 bildet dabei die Komplexität der Beziehungen zwischen Aufklärung, Politik und Staat nur unvollständig ab. Insbesondere ist diese neue Form von bürgerlicher Öffentlichkeit' kein Indiz für eine prinzipiell,anti-staatliche' Wendung aufklärerischen Denkens, das vielmehr mit einer oftmals engen Verbindung zum ,politisch-administrativen System' und zu seiner aktiven Vermittlung mit einer Politik einhergegangen ist, die bereit war, die aufklärerischen Refórmperspektiven aufzugreifen. Es ist eine der wesentlichen Konsequenzen aufklärerischen Denkens, daß nunmehr- in spezifischer Weiterführung der im 16. und 17. Jahrhundert entwickelten Ansätze politischer Theorie - der Versuch unternommen wird, eine neue Gestalt einer Wissenschaft von der Politik zu begründen, die sich ,nicht nur' kritisch, sondern auch ,positiv' und konstruktiv auf den im Formationsprozeß befindlichen Staat bezieht. Besteht nämlich eines der vornehmsten und erklärten Ziele neuzeitlicher Wissenschaft in der Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens und wird hierfür der sich herausbildende moderne Staat mit seinen neuartigen Mitteln legitimer Machtausübung und Gestaltung als die letztlich verantwortliche Instanz ausgemacht, dann muß der praktische Impetus aufklärerischen Denkens gleichsam in einer neuen ,science politique ' im Sinne einer ,science du gouvernement ' kulminieren. 36 Dabei erwachsen aus den genannten Spezifika des Denkens der Aufklärung in methodischer und inhaltlicher Hinsicht besondere Anforderungen an ein angemessenes, wissenschaftliches Verständnis von Politik. Zu denken ist in diesem Zusammenhang vor allem an die folgenden Aspekte und Aufgabenstellungen einer aufgeklärten science politique : - Politik und politische Einrichtungen bedürfen der vernünftigen Begründung, d.h., ihre Grundlagen basieren nicht auf unhinterfragbaren oder nicht erfaßbaren - sei es traditionalen, geoffenbarten oder anderweitig hergeleiteten - transzen-

35

Hierzu inzwischen klassisch Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1992; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 17. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1987. 36 So der Abbé de Saint-Pierre im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts; Nachweise bei Asbach, Die Zähmung der Leviathane (wie Anm. 3), S. 71 ff.

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denten Autoritäten, sondern müssen Resultat einer Vernunft sein, die von den Individuen nachzuvollziehen und anzuerkennen ist. - Daraus folgt, daß Politik und politische Einrichtungen hinsichtlich ihrer Ziele und Zwecksetzungen in jenem Sinne vernünftig bestimmbar sein müssen: ihr Zweck muß rational sein im Sinne des Bezuges auf den Zweck der Gründung politischer Strukturen und in ihrer Beziehung auf das Ganze des gesellschaftlichen Zusammenhangs. - Aufgeklärte Politik bedarf aus diesem Grunde der umfassenden Kenntnis der empirischen Wirklichkeit wie auch der Gesetze, die das Verhalten der Menschen innerhalb der Gesellschaften und die Beziehungen zwischen ihnen bestimmen; nur vermittels der Kenntnis der empirischen Mannigfaltigkeit und bestehender Gesetzmäßigkeiten ist es möglich, die Zwecke des politischen und gesellschaftlichen Zusammenhangs zu realisieren. - Politische Wissenschaft zielt auf die Rationalisierung der politischen und staatlichen Einrichtungen und Verfahren, um dadurch die Regelung der allgemeinen Angelegenheiten dem Spiel des Zufalls oder der Willkür der jeweils Mächtigen zu entziehen. Aufklärung bedeutet im Hinblick auf politische Institutionen und politisches Handeln, daß die Kontinuität der Sammlung und Verarbeitung des Wissens über gesellschaftliche Ressourcen, Interessen, Zielsetzungen, Handlungsmöglichkeiten etc. gewährleistet wird. Diese Aufgabe insbesondere ist es, die die aufgeklärte ,science politique' zur ,science du gouvernement', also zu einer wesentlich auf den Staat bezogenen Wissenschaft macht. Diese methodischen Anforderungen an eine aufgeklärte politische Wissenschaft' korrelieren ersichtlich mit den Erfordernissen der »Realpolitik' und den Reformtendenzen innerhalb der Staaten und ihrer sich ausdifferenzierenden administrativen Apparate in den europäischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Entwicklung der modernen Staatlichkeit und der politischen Theorie der Aufklärung sind offenbar Prozesse, die miteinander verschwistert sind, - und dies bedeutet, wie es bei geschwisterlichen Verhältnissen der Fall zu sein pflegt, nicht notwendig Harmonie, sondern umfaßt die ganze Bandbreite möglicher Beziehungen bis hin zu erbitterter Konfrontation und prinzipiellem Widerspruch. 37 Diese Spannbreite gründet nicht zuletzt darin, daß die Rationalisierung, die der Staat der Neuzeit mit sich bringt, gleichzeitig ein Prozeß der »Befreiung' und der Etablierung neuer Formen von Herrschaft ist, und dieser ist historisch und systematisch zu erfassen.

37

Exemplarisch für die Entwicklung in Frankreich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Olaf Asbach, Staat und Politik zwischen Absolutismus und Aufklärung. Der Abbé de SaintPierre und die Herausbildung der französischen Aufklärung (i.E.), Hildesheim 2005.

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VI. Politische Theorie der Aufklärung und die Zähmung des Leviathan Im souveränen, rechtlich nicht mehr an partikulare (feudale) Mächte im Inneren gebundenen und nach außen hin keiner (päpstlichen oder kaiserlichen) Oberhoheit unterworfenen Staat der Neuzeit kommt das von den Vertretern der Staatsraison wie auch des modernen Naturrechts ins Zentrum gerückte Staatsverständnis praktisch zur Entfaltung. Zugleich tritt in genau diesem Zusammenhang eine neue Dimension des politiktheoretischen Denkens in den Vordergrund. Sie ergibt sich aus der veränderten Situation und Aufgabenstellung politischer Theorie und Praxis im Zeitalter der Aufklärung. In dem Moment nämlich, in dem der mächtige l e v i a t han' des modernen Staates auf den Plan tritt, sich erfolgreich gegen die traditionellen Mächte behauptet und der sich entfaltenden „Eigentumsmarktgesellschaft" 38 die allgemeinen Gesetze der freien Ausübung der individuellen Willkür gibt, stellt sich in einer neuen Weise die Frage seiner Organisations- und Handlungsformen. Unübersehbar wird nun die Kehrseite oder doch zumindest die Folgeproblematik seiner erfolgreichen Etablierung. Die neuzeitliche Politiktheorie hatte deutlich gemacht, daß die traditionellen Formen religiöser und ständischer Bindung der Staatsgewalt die Erfüllung der an sie gerichteten Anforderungen - die Sicherung des Rechtsfriedens und den Schutz von Leben und Freiheit der Bürger - verhinderten und deshalb aufgehoben werden mußten. Nur wenn der Staat eine Instanz ist, die unabhängig und oberhalb von allen religiösen und sozialen Gruppen und Interessen und den daran gekoppelten Bindungen existiert und selbst einzige und oberste Instanz der Bestimmung über Recht und Eigentum ist, kann er gesellschaftliche Friedens- und Rechtsverhältnisse stiften und für die dauerhafte Regelung und Überwindung der gesellschaftlichen Konfliktursachen sorgen. 39 Die rechtliche Absolutheit und die Unwiderstehlichkeit der Zwangsgewalt des souveränen Staates ist insofern notwendige Bedingung des Funktionierens gesellschaftlichen Friedens und Wohlstands, von life, liberty and estate (Locke). Zugleich aber gilt letztlich auch für die Verfechter des »absoluten Staates', daß die Autonomie und Souveränität, die unbezwingbare Machtfülle und die Rechtssetzungs- und Zwangskompetenzen des Staates nichts daran ändern, daß er selbst nur Mittel und Instrument des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Bürger ist. Er ist in seiner Existenz funktional auf die Setzung der Rahmenbedingungen des Lebens und der freien Interessenverfolgung der Individuen bezogen,40 so daß die vermeintlich absolute raison d'état insofern nur ein Moment innerhalb

38 Crawford Β. Macpherson , Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1980. 39 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M., S. 100 ff. 40 In diesem Sinne etwa formuliert in Hobbes, De cive/Vom Bürger (wie Anm. 22), S. 255 (Kap. X X X . 1-2).

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einer neuen gesamtgesellschaftlichen Rationalität ist. Trotz der von der Theorie der Staatsraison erklärten Bedeutung des Staates als eines normfreien Gebildes, das sich selbst der einzige und letzte Zweck zu sein behauptet, und trotz der naturrechtlich konsequenten Erklärung, außer- und oberhalb des Staates könne es keine Instanz der Bestimmung von Recht und Unrecht geben, die ihn zwingen könnte, sich bestimmten Zwecken oder als gut oder richtig qualifizierten Zielen zu unterwerfen: Die politische Theorie des aufgeklärten Zeitalters steht vor dem Problem, die Anerkennung der Notwendigkeit der Absolutheit und Unhintergehbarkeit des souveränen staatlichen Willens mit seiner Verpflichtung auf die Verwirklichung von Vernunft und Gemeinwohl zu vereinbaren. Wenn also die Notwendigkeit absoluter staatlicher Macht für die Existenz von bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlicher Freiheit theoretisch und praktisch etabliert ist, geht es der politischen Theorie der Aufklärung gleichsam um das Anschluß- oder Folgeproblem: Wie kann nach der Etablierung des souveränen Staates sichergestellt werden, daß auch der faktische Staat - bzw. die ihn leitenden Individuen und Gruppen - seine ihm systematisch und faktisch zukommende Funktion erfüllt, d.h. sie erfüllen will und dazu auch in der Lage ist? Eine aufgeklärte, den gesellschaftlichen wie den wissenschaftlichen Ansprüchen genügende politische Theorie mußte demnach eine zunehmend komplexe systematisch-theoretische Grundlegung des politischen Gemeinwesens und der empirischen Realisationsbedingungen der Institutionen, Kompetenzen, Instrumente und Mechanismen des politischen und administrativen Systems liefern. In diesen Bereichen werden in den unterschiedlichen politiktheoretischen Ansätzen des Jahrhunderts der Aufklärung die Karten der bis dahin entwickelten Konzeptionen von Staatsraison, naturrechtlicher Begründung staatlicher Souveränität, republikanisch konstituierten Gemeinwesen und christlich-aristotelischer Gemeinwohlorientierung der Politik neu gemischt. Dies betrifft insbesondere drei verschiedene Dimensionen, die zugleich als analytische Folie für die Untersuchung der Spezifik, der Gemeinsamkeiten und der Differenzen der verschiedenen Konzeptionen politischer Theorie und Wissenschaft dienen können: Konstitutiv für die Ansätze der politischen Theorie der Aufklärung ist erstens die Ebene der rationalen Begründung der Notwendigkeit und der Vernünftigkeit Staats und der von ihm gesetzten und durchgesetzten allgemeinen, die Gesellschaft strukturierenden Rechtsordnung. Dabei können die methodischen und inhaltlichen Bestimmungen dieser Begründung von Staatlichkeit deutlich voneinander abweichen und einander sogar widersprechen; die Spannbreite reicht hier von der naturrechtlichen Analyse über anthropologische und geschichtsphilosophische Bestimmungen bis hin zur Untersuchung historisch-gesellschaftlich wirksamer Gesetzmäßigkeiten und daraus ableitbarer institutioneller Voraussetzungen gesellschaftlichen Lebens. Eine wichtige Rolle spielt sodann zweitens die Bestimmung der Staats- und Regierungsform, d.h. die Untersuchung der Fragen, wer legitimerweise befugt ist, die das gesellschaftliche Ganze strukturierenden und regelnden allgemeinen

des

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Gesetze zu erlassen, und wie die Ausübung der staatlichen Macht organisiert sein muß, um seinem Gründungszweck zu entsprechen. Hier liegt eine der zentralen Problemstellungen des republikanischen Denkens der Aufklärungsbewegung: Wie ist der absolute staatliche Wille mit der ihm zugrundliegenden und ihn erzeugenden Vernunft in dauerhafte Übereinstimmung zu bringen und auf sie zu verpflichten? Ins Zentrum dieser Vermittlungsproblematik rücken die Fragen nach den Formen und der Rationalisierung der Institutionen des Staates. Bei den Versuchen, institutionelle Wege der Bindung der Staatsmacht an die vernünftigen (allgemeinen) Interessen der Bürger zu sichern, lassen sich in einer ersten Annäherung zwei Herangehensweisen unterscheiden, die auch für die weitere Entwicklung politischen Denkens als paradigmatisch angesehen werden können: Fürpartizipatorisch orientierte Theorien ist die Einbeziehung der Bürger in den Prozeß der staatlichen Willensbildung und/oder Entscheidungsfindung unverzichtbar. Dabei wird anzugeben versucht, wie die am Bildungsprozeß des allgemeinen Willens beteiligten partikularen Interessen Allgemeinheit und allgemeine Zustimmung produzieren können, da der von der Gesellschaft abstrahierende und verselbständigte Staat gerade Resultat des Umstands ist, daß die bürgerliche Gesellschaft das Allgemeine aus sich heraus gerade nicht zu erzeugen vermag. Eher ,technokratisch ' ausgerichtete Konzeptionen von Politik und Staat legen den Schwerpunkt hingegen auf die Entwicklung institutioneller Strukturen und Verfahren einer wissenschaftlich informierten und geleiteten, professionalisierten und rationalen Organisation des politischen und administrativen Systems. Auf diese Weise könnte auch und gerade auf dem Wege der systematischen Ausschaltung von subjektiven Interessen und Willkür - also des partizipatorischen Elements - der als rational konstruierte und arbeitende Maschine verstandene Staat auf die Erfüllung der gesellschaftlichen Ansprüche und Interessen verpflichtet werden, nämlich die allgemeinen Bedingungen der Realisierung des Gemeinwohls zu garantieren. Der Gegensatz beider Herangehensweisen ist jedoch nicht zu hypostasieren: ,partizipatorische' und »technokratische4 Elemente überschneiden und verbinden sich bei den verschiedenen politischen Theoretikern und Praktikern des Aufklärungszeitalters auf vielfache Weise, und beide Richtungen verfolgen den Zweck, den Staat so zu gestalten, daß er im Prozeß seines praktischen Funktionierens den Bezug zu seinem Ursprung und Zweck nicht verliert, sondern ihn stets neu bestätigt. Schließlich ist drittens die Ebene der verschiedenen Gegenstandsbereiche staatlichen Handelns und der Techniken von Regierung und Verwaltung zu nennen. Wenn es hierbei vor allem um die Mittel, die Instrumente und Bereiche des staatlichen Handelns in bezug auf die Gesellschaft geht, so ist damit nicht nur ein in quantitativer Hinsicht äußerst bedeutsames Feld bezeichnet. Es geht um weit mehr als um die Frage nach einer vermeintlich neutralen Sachlogik moderner Regierungstechnik. In Theorie und Praxis zeigt sich hier in besonderer Prägnanz der qualitative Wandel, den der moderne Staat sowohl in seinem Aufbau und seiner internen Struktur als auch in seiner Bedeutung für die Gesellschaft auszeich-

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net und die Ausbildung einer neuen , Wissenschaft von der Politik' erforderlich macht, dies aber gleichsam auch als eine »Wissenschaft in der Politik' bzw. ,im Staat' als derjenigen Instanz, die nunmehr die Politik monopolisiert. Denn die prima vista bescheiden und formal wirkende Funktionszuweisung an den Staat, die objektive Rechtsordnung und die Bedingungen für die subjektive Rechts- und Freiheitsausübung der Bürger zu garantieren, begründet und rechtfertigt realiter seine umfassende, potentiell alle Bereiche des gesellschaftlichen und individuellen Lebens einbeziehende Regelungskompetenz. Im neuzeitlichen Staat als gesamtgesellschaftlichem Akteur werden Verantwortung und Macht zentralisiert, um für die Herstellung der Bedingungen individueller Freiheit und der Chancen auf Erwerb und Sicherung von Eigentum, Wohlstand und Glück zu sorgen. Trotz des Anscheins, nur formale Möglichkeitsbedingungen gesellschaftlichen Handelns zu erzeugen, implizieren die zu diesem Zweck durch den Staat geschaffenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen eine materielle Umgestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst. Der Staat wirkt „gesellschaftsdurchdringend", 41 und zwar hinsichtlich der gesellschaftlichen Objektivität wie auch hinsichtlich der Subjekte, der vergesellschafteten Individuen. So wie die Schaffung oder die Aufhebung spezifischer Formen von sozialen Rechten, Privilegien, Eigentumsformen, ökonomischen Bedingungen etc. die Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs umwälzt, so werden durch Gesetze, pädagogische Einrichtungen oder Institutionen der sozialen Fürsorge neue Formen von Subjektivität, von gesellschaftlichen Normen und kulturellen Beziehungen zum Teil indirekt, zum Teil aber auch systematisch und planvoll geschaffen. 42

41

Michael Th. Greven, Die politische Gesellschaft, Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, Opladen 1999, S. 42. 42 Dem Prozeß der Herausbildung des modernen Subjekts, der schon für Marx „mit Zügen von Blut und Feuer" „in die Annalen der Menschheit" geschrieben wurde (Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, in: ders.lF. Engels Werke, Bd. 23, Berlin/DDR 1983, S. 743), sind zahlreiche Untersuchungen gewidmet worden; nur exemplarisch genannt seien zum Zivilisationsprozeß Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Sozio- und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1982; zu Psychiatrie, Straf- und Überwachungssystem Michel Foucault , Wahnsinn und Gesellschaft. Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969, ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976; zur SoziMiszipYmieningGerhardOestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 187 ff; zur Armenfürsorge Christian Sachße/ Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd.l, Stuttgart 1998. Für einen Überblick über die wichtigsten Bereiche staatlicher Reformpolitik im Zeitalter der Aufklärung vgl. Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung (wie Anm. 33), S. 209-230.

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V I I . Politische Theorie der Aufklärung zwischen Herrschaft und Befreiung Das politische Denken der Aufklärung ist in seinen unterschiedlichen Varianten nur zu erfassen, wenn man es im Zusammenhang mit der Gesamtheit der Entwicklungen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Es ist Ausdruck einer produktiven Auseinandersetzung mit der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, ihren spezifischen Formen von Subjektivität, gesellschaftlicher Rationalität und den Formen der politischen Vermittlung, insbesondere der skizzierten Rolle des modernen Staates als der zentralen Instanz der Setzung und Durchsetzung von Rechtsverhältnissen als allgemeiner Bedingungen des gesellschaftlichen Verkehrs. Zugleich ist es gerade diese Beziehung auf die entstehende bürgerliche Gesellschaft, die diesem Denken bis heute seine Bedeutung verliehen hat. Denn das politische und wissenschaftliche Denken dieser Zeit reflektiert und beeinflußt Bedingungen, Faktoren und Optionen, aber eben auch Probleme, die für die moderne Gesellschaft prägend geworden sind. Dies gilt vor allem in zweierlei Hinsicht, einerseits in bezug auf Probleme und Widersprüche, die die Stellung der denkenden und handelnden Subjekte zur gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit betreffen (7.1), andererseits solche der konstitutiven Struktur und Spannungen innerhalb dieser Wirklichkeit selbst, aus denen wiederum Reichweite und Probleme ihrer theoretischen und praktischen Bearbeitung und Veränderung resultieren (7.2). 1. Aufklärung und die Herrschaft

der Vernunft

Das aufklärerische Denken ist von Anfang an von einer fundamentalen Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite versteht es sich als Arbeit der Kritik an überkommenen und bestehenden Verhältnissen: seine Tätigkeit ist primär kritisch und analysierend, insofern die Wirklichkeit hinterfragt und die bestehenden Autoritäten negiert werden. Demzufolge ist die Praxis dieser Kritik wesentlich theoretisch, insofern sie in der Analyse und Kritik des Bestehenden im Lichte der als vernünftig erkannten Prinzipien und Zielsetzungen besteht. Daraus folgt aber auf der anderen Seite durchaus nicht schon die Ablehnung einer positiven Beziehung auf die bestehenden Institutionen und der Mitwirkung in ihnen. Der Kritik entspricht prinzipiell das Bestreben, an konkreten Versuchen der Reform der Verhältnisse von Staat und Gesellschaft teilzunehmen. Nur der auf die Endphase des französischen Ancien Régime und seine revolutionäre Überwindung fixierte Blick kann überdecken, daß „la politique éclairée ne fut pas la politique révolutionnaire". 43 Personell wie inhaltlich ist die wechselseitige Nähe von Staat und aufklärerischer Bewegung nicht zu übersehen, eine Nähe, die einerseits aus dem aufklärerischen

43

José Maria Portillo Valdés , Politique, in: Vincenzo Ferrone/Daniel Roche (dir.), Le monde des Lumières, Paris 1999, S. 125.

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Projekt resultierte, die menschlichen Verhältnisse umfassend zu reorganisieren und vernünftig zu gestalten, andererseits aus dem allseitigen Reformbedürfiiis des modernen Staates und dem daraus erwachsenden Bedarf an Sammlung und systematischer Verarbeitung von Wissen über Natur, Mensch und Gesellschaft. 44 Schon für die prominenteren Vertreter des philosophischen und politischen Denkens des 17. und 18. Jahrhunderts läßt sich bis auf wenige Ausnahmen die Nähe und die Bereitschaft zur politischen und staatlichen Praxis zeigen, und dies gilt noch in weit größerem Maße für die breite Masse der Anhänger aufklärerischer Positionen in den verschiedensten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, des Staates, der zentralen oder lokalen Verwaltungen oder sonstiger Einrichtungen der angesprochenen Formen aufgeklärter »Geselligkeit4. Die zum Teil scharfe Kritik an den traditionellen Strukturen politischer und sozialer Herrschaft ist keine Kritik an Herrschaftsverhältnissen selbst; sie zieht vielmehr ein oft ebenso vehementes Plädoyer für neue, als vernünftig deklarierte Formen von Herrschaft bzw. das der Herrschaft der Vernunft selbst nach sich.45 Besonders deutlich zeigt sich dieser »Herrschafts-', und ,Zwangscharakter' der aufgeklärten Vernunft dort, wo versucht wird, die angestrebte neue Ausrichtung in Gesellschaft und Staat institutionell zur Geltung zu bringen. Die rationale Analyse und Kritik der bestehenden Verhältnisse und die Erkenntnis der Gesetze und Dynamik menschlichen und gesellschaftlichen Handelns werden zu Instrumenten, um , von oben' Gesellschaft und Individuen radikal zu transformieren und in neue, »vernunftgemäße' Bahnen zu lenken. Die Problematik der Konsequenz eines solchen, auf praktische Nützlich- und Anwendbarkeit ausgerichteten »politikwissenschaftlichen' Denkens liegt auf der Hand: Aufklärung wird Teil eines Systems rationaler herrschaftlicher Verfügung über den gesellschaftlichen Zusammenhang. Verselbständigt sich diese Tendenz, so wird das aufgeklärte, gegen die prämodernen Zustände in Denken und Sein radikal kritische Denken zum beliebig fungiblen Element des sozialtechnologischen Instrumentariums des modernen Staates, so etwa, wenn dieser durch Arbeits- und Sozialgesetzgebung das ,freie Subjekt' der Moderne produziert, durch die Regelung der gesellschaftlichen Eigentums- und Verkehrsverhältnisse die Bestimmung bürgerlicher Freiheit festlegt, durch Institutionen der sozialen Kontrolle und Fürsorge die Formierung des als rational

44

In Frankreich zeigt sich in der Zeit der »Régence4 nach dem Tode Ludwigs X I V . 1715 diese Nähe in besonderer Weise; vgl. Asbach, Staat und Politik zwischen Absolutismus und Aufklärung (wie Anm. 37), v.a. Kap. V. 45 Werner Schneiders, Die Philosophie des aufgeklärten Absolutismus. Zum Verhältnis von Philosophie und Politik, nicht nur im 18. Jahrhundert, in: Hans Erich Bödeker/Ulrich Herrmann (Hrsg.), Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, Hamburg 1987, S. 33; Iring Fetscher, Politisches Denken im Frankreich des 18. Jahrhunderts, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. von Iring Fetscher u. Herfried Münkler, Bd. 3: Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, München 1985, S. 463.

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qualifizierten Charakters und Verhaltens der Individuen sanktioniert. 46 In diesem Sinne hat die politische Philosophie nicht nur „seit der Entwicklung des modernen Staats und der politischen Lenkung der Gesellschaft [...] die Funktion, die Machtausübung der politischen Rationalität zu begrenzen", 47 sondern eben auch die Funktion, neue Herrschaftsverhältnisse durchzusetzen und zu etablieren. 2. Aufklärung und der Doppelcharakter des modernen Staates Damit ist die zweite, auf fundamentale Strukturprinzipien der modernen Gesellschaft verweisende Dimension der politischen Theorie der Aufklärung als praktischer Wissenschaft' angesprochen: Sie wirkt mit bei der Herausbildung und Entwicklung eines neuen gesellschaftlichen Zusammenhangs, der selbst von tiefgreifenden Ambivalenzen geprägt ist. Der Freisetzung von überkommenen Formen gesellschaftlicher Herrschaft und dem Entstehen neuer Formen und Möglichkeiten individueller Freiheit und Entwicklung steht die Erzeugung der Bedingungen für eine neue Gestalt von Herrschaft über Natur, Gesellschaft und Individuen gegenüber. Dies ist dem Denken der Aufklärung nicht äußerlich oder lediglich als Abweichung von ihm zu sehen, sondern konstitutiv mit ihm verbunden. Dennoch ist daran zu erinnern, daß im Übergang zur modernen Gesellschaft nicht einfach nur eine besondere Form gesamtgesellschaftlicher Herrschaftsbeziehungen durch eine andere ersetzt wird. Vielmehr wird nunmehr historisch erstmalig der Prozeß der Begründung, Einrichtung und Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Resultat des Willens und Handelns der Gesellschaftsmitglieder begriffen. Die neuzeitliche Gesellschaft wird selbstreflexiv, d.h., die Individuen gelten als Grundlage und Schöpfer der gesellschaftlichen Einrichtungen und damit als verantwortlich für ihre Gestaltung und weitere Entwicklung. Ausgangspunkt und Basis des gesellschaftlichen Systems wird nunmehr die Subjektivität: Die Rechte und die Freiheit der Individuen sind nicht mehr bedingte und abgeleitete Funktionen, die ihnen zur Erfüllung einer transzendenten Ordnung oder eines Plans der Heilsgewinnung verliehen werden, sondern sie sind in der Natur und der Vernunft der Individuen selbst verankert. Dies bedeutet natürlich nicht, daß Herrschaft und Zwang gegenüber Individuen ausgeschlossen oder auch nur kritisch zur Diskussion und Disposition gestellt würde. Übereinstimmend betonen die unterschiedlichen Vertreter des neuzeitlichen philosophischen und politischen Denkens, daß die unbeschränkte, »natürliche' Freiheit keine hinreichende Basis für ein konfliktfreies gesellschaftliches Zusammenleben darstellt und sogar selbst

46

Michael Sonntag, ,Das Verborgene des Herzens 4. Zur Geschichte der Individualität, Reinbek 1999, S. 127 ff.; Richard van Dülmen, Die Entdeckung des Individuums 15001800, Frankfurt/M. 1998. 47 Michel Foucault , Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L Dreyfus/Paul Robinow/ Michel Foucault , Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987, S. 244.

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unvernünftig ist. Es geht nicht um die Frage der Sprengung und Abschaffung der „Ketten" politischer Herrschaft, sondern darum, die weiterhin als notwendig erachteten Formen politischer Herrschaft und den damit verbundenen Verlust natürlicher Freiheit neu und rechtmäßig zu begründen und zu gestalten.48 Unter der Bedingung der Anerkennung freier Subjektivität ist dies nur möglich, sofern gesellschaftliche und politische Ungleichheit, Rechte und Pflichten, Herrschaft und Zwang aus dem (vernünftigen) Willen der Individuen hergeleitet werden und als durch ihn gewollt und anerkannt gelten können. Hierin allein haben die Zwecke der gesellschaftlichen Einrichtungen, Gesetze und Regeln ihren legitimen Ursprung, und in ihm finden sie somit auch ihre Grenzen. Realisierungsbedingung dieser neuen, Freiheit und Herrschaft konstitutiv aneinander bindenden Form von Subjektivität ist der Staat, der aus dieser neuartigen Begründung seinen eigentümlichen Doppelcharakter erhält, zugleich allmächtiger leviathan 4 und Instrument subjektiver Interessenverfolgung zu sein. Dieser Doppelcharakter reflektiert gleichsam den »objektiven Tatbestand4 der modernen Gesellschaft: Die neue Gestalt von subjektiver Freiheit und Gleichheit und der auf ihr basierenden politischen, rechtlichen und sozialen Ordnung beschreibt theoretisch die Durchsetzung einer neuen historischen Gesamtverfassung des gesellschaftlichen Zusammenhangs, die auf der Freiheit subjektiver Aneignung und Verfügung basiert, in der die gesellschaftliche Vermittlung und die soziale Positionierung der einzelnen über die Institutionen von Markt und Staat verläuft. Diese Ermächtigung und Bindung zugleich bedeutende - Rolle des Staates führt, wie Foucault es treffend bezeichnet hat, zu einer neuen ,gouverne-mentalité', die eine „zugleich individualisierende und totalisierende Form der Macht" darstellt. 49 Totalisierende Macht ist der Staat, insofern er die legitime Instanz ist, in der sich der Wille und die Macht der gesamten Gesellschaft fokussiert und zum Ausdruck bringt. Er ist nicht nur befugt, sondern sogar verpflichtet, die allgemeinen Regeln und Strukturen gesellschaftlichen Handelns zu setzen, unter Einsatz seiner gesamten Macht zur Geltung zu bringen und dafür zu sorgen, daß die notwendigen subjektiven und objektiven Voraussetzungen dafür hergestellt werden, um das Erreichen der ihm aufgegebenen Ziele zu sichern. 50 Die in diesem Begriff liegende Tendenz zur Allzuständigkeit und Allmacht des Staates ist paradoxerweise konsequent im Sinne seiner ,deontologischen\ subjektiven Grundlegung. Jede Beschränkung des Staates durch rechtlich, religiös oder historisch begründete Vorbehalte würde ein Einfallstor für die Zerstörung des Gemeinwesens bedeuten. Da der Staat die Allgemeinheit verkörpert, die sich notwendigerweise gegen die

48

So etwa Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (1762), übers, u. hrsg. von Hans Brockard, Stuttgart 1977, S. 5 (Kap. I. 1). 49 Foucault, Das Subjekt und die Macht (wie Anm. 47), S. 248. 50 So auch und gerade bei Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. u. eingel. v. Iring Fetscher, Frankfurt/M. 1984, S. 255 (Kap. XXX).

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partikularen Interessen der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen verselbständigt, gleichzeitig aber zu ihrer Realisierung unabdingbar und einzig zu diesem Zweck konstituiert worden ist, können Wille und Macht des Staates durch keine äußere Macht beschränkt werden. 51 Der empirische Verfügungsanspruch und die quasi-,absolutistische' politisch-rechtliche Macht und Regelungskompetenz des Staates gegenüber der Gesellschaft ist mithin nicht Ausdruck einer spezifischen Übergangsphase zwischen feudalem Stände- und modernem Rechts- und Verfassungsstaat, sondern zählt zu den Grundstrukturen des neuzeitlichen Staates selbst. Die ,totalisierende Macht' des Staates ist das Ergebnis des Umstandes, daß er die unhintergehbare Gestalt der Allgemeinheit und Selbstbestimmung der Gesellschaft rechtlich freier und gleicher, einander gesellschaftlich nur mehr als unabhängige Produzenten und Eigentümer gegenübertretender Subjekte ist. 52 Damit wird zugleich deutlich, in welchem Sinne der Staat auch individualisierende Macht ist. Wenn seine Legitimität auf der Funktion beruht, die allgemeinen Bedingungen für die individuelle Freiheitsausübung und Interessenverfolgung und die Verwirklichung und Sicherung individuellen Wohlstands und Glücks zu schaffen und zu garantieren, so hat er deshalb doch keine bloß rahmensetzende Rolle, die die gesellschaftlichen Inhalte unberührt lassen würde. Dem Staat kommt die Aufgabe zu, aktiv die materialen Voraussetzungen dieser neuen Form gesellschaftlicher Beziehungen zu schaffen. Er hat neben der und durch die Herausbildung der angemessenen Voraussetzungen und Institutionen der gesellschaftlichen Produktions-, Lebens- und Kommunikationsverhältnisse eben auch die Herstellung jener neuen Form von Subjektivität und subjektiver Rationalität befördert, die der modernen Gesellschaft zugrundeliegen. Über die sich im wesentlichen auf die Rahmenbedingungen und allgemeinen Prinzipien des modernen Staates konzentrierende naturrechtliche Tradition des 17. Jahrhunderts hinaus sucht die aufgeklärte, auf praktische Reformierung des gesellschaftlichen und politischen Systems abzielende politische Theorie des 18. Jahrhunderts nach den Instrumenten, Verfahren und inhaltlichen Zielen staatlichen Handelns. Für eine aufgeklärte science politique oder science du gouvernement geht es dabei gewissermaßen um die Verantwortlichkeit des Staates, aktiv dafür Sorge zu tragen, daß die Subjekte, die individuellen und kollektiven Akteure gesellschaftlich so »funktionieren', d.h. agieren wollen und können, wie es der Rationalität einer auf besagten Prinzipien begründeten Gesellschaft entspricht. Daraus folgt die Aufgabe des Staates, über die Schaffung und Förderung der rechtlichen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen und Einrichtungen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft hinaus die subjektiven Faktoren' auf sie hin zu bilden. Hier reicht die Spanne von mehr oder weniger rigiden Formen staatlicher Kontrolle wie der Strafkompetenz oder unterschiedlicher, zumindest auch der Sozialdisziplinierung

51 Vgl. etwa Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (wie Anm. 48), S. 20 (Kap. I. 7), 32,35 Kap. II. 4) u.ö. 52 Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus (wie Anm. 38), S. 15.

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dienender Aufgaben der sozialen Fürsorge, der Familien- und Bevölkerungspolitik bis hin zu direkten oder indirekten Formen der Bildung angemessener , Sozialcharaktere' und Weltbilder durch Institutionen der Erziehung, der Schul-, Bildungs- und Kulturpolitik. 53 Und es ist eben dieser „strukturpolitische Vorgang der Fundamentaldisziplinierung in Staat und Kirche, in Wirtschaft und Kultur", 54 wie er im 17. und 18. Jahrhundert stattgefunden hat, der die entscheidende Voraussetzung für die Herausbildung der Strukturen von Staat und Gesellschaft der Moderne gewesen ist. V I I I . Bedingungen und Aufgaben politischer Theorie Die Untersuchung des politischen Denkens der Aufklärung muß also das komplexe Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher und individueller Emanzipationsbewegung und dem Prozeß der Vereinheitlichung und Zentralisierung im und durch den modernen Staat insgesamt in den Blick nehmen. Die Auflösung der ,mittelalterlichen Ordnung' führt zu einer strukturellen Umwälzung und Politisierung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse: Nicht nur „objektiv", d.h. retrospektiv und vom analytischen Beobachterstandpunkt aus gesehen, waren alle gesellschaftlichen Verhältnisse, Einrichtungen, Wert- und Lebensvorstellungen neu zu bestimmen. Auch ihrer internen, „subjektiven" Organisationsweise nach ist die in der Neuzeit sich herausbildende Gesellschaft in einer historisch neuartigen Form politisch, insofern in ihr alles zum Gegenstand der kritischen Reflexion und praktischen Änderung werden kann. Daher verbietet sich von vornherein die Beschränkung der Analyse auf die Ebene des Staates. Gleichzeitig ist unverkennbar, daß für diese Politisierung der Gesellschaft in der Neuzeit gerade der Staat jene Institution darstellt, durch die einerseits die gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen geschaffen und durchgesetzt, andererseits ihre »Resultate' allgemeingültig und -verbindlich formuliert und zur Geltung gebracht worden sind. Dies bedeutet für die politische Theorie der Aufklärung und die der Neuzeit allgemein, daß die „Verengung des Politikbegriffs auf den staatlichen Handlungsbereich" 55 im Hinblick auf das Verständnis seiner Begründung und Funktion wie auch der sich vollziehenden Umbrüche insgesamt verfehlt und erkenntnishemmend wäre. Nichtsdestotrotz aber ist es inhaltlich gerechtfertigt und sogar geboten, sich dem Staat und dem - sei es kritisch oder affirmativ-konstruktiv - auf ihn bezogenen Denken zuzuwenden, da sich durch ihn theoretisch und praktisch die Transformation und »Politisierung' der gesellschaftlichen Verhältnisse wesentlich vollzieht.

53

Vgl. hierzu Bauer/Matis, Geburt der Neuzeit (wie Anm. 33), S. 298 ff. Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus (wie Anm. 42), S. 195. 55 Hans Erich Bödeker, Überlegungen zu einer Geschichte der Politisierung der Aufklärung, in: ders., Etienne François (Hrsg.): Aufklârung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, S. XIII. 54

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Der moderne Staat ist mithin das zentrale Feld der Vermittlung und Bestimmung der allgemeinen Bedingungen und Inhalte des neu entstehenden gesellschaftlichen Zusammenhangs, in welchem er zur gleichen Zeit all- und übermächtig und doch nur abgeleitetes Instrument zu sein scheint, nämlich in einer,dienenden Funktion4 gegenüber der Gesellschaft und der sie bildenden Individuen. Aus diesem Grund ist weder ein angemessenes Verständnis des Staates noch der auf ihn bezogenen politischen Theorie der Aufklärung möglich, solange an Abstraktionen und Gegensätzen festgehalten wird, die unterschiedliche Perspektiven, Ideologien oder (Selbst-)Mißverständnisse hypostasieren oder reproduzieren; hierzu gehört, so sollten die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, auf der einen Seite die Vorstellung einer sich jenseits der historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickelnden und ihre Maßstäbe an sie herantragenden politischen Theorie. Auch und vor allem aber muß auf der anderen Seite die Idee eines Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft in der Moderne, wie er etwa in der Entgegensetzung von staatlicher Macht und Zwangsbefugnis und individueller und gesellschaftlicher Freiheit zum Ausdruck zu kommen scheint, aufgehoben werden. Demgegenüber ist der neuzeitliche Staat erst aus dem Zusammenhang der sich ändernden gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse heraus zu erkennen, insofern er gerade die spezifisch neuartige Gestalt ist, in der sich die entwickelnde Gesellschaft auf sich bezieht, in der sie sich allgemein gültige Gesetze jenseits von Tradition und Religion gibt, durch die sich die Gesellschaft fortwährend dynamisieren und neu strukturieren, umbilden und re-formieren kann. Welche konkrete Rolle der Staat dabei jeweils spielt, inwiefern er der Gesellschaft »absolutistisch4, »kooperativ' oder als »liberaler Nachtwächterstaat' gegenübertritt, ob er die subjektiven und korporativen Freiheiten und die gesellschaftliche Selbstregulierung betont oder die obrigkeitsstaatliche Autorität in Gestalt der ,Reform von oben' hervorkehrt, ist dann, so zeigen schon die divergierenden Entwicklungen Englands und Frankreichs, 56 aus den unterschiedlichen historischen und sozialen Voraussetzungen, Kräfteverhältnissen, Interessen und politischen Entscheidungen heraus zu untersuchen. Der Staat ist hierbei zwar die zentrale, doch deshalb nicht weniger variable und schon gar nicht aus sich selbst heraus verständliche Kategorie der politischen Theorie und Praxis in der Neuzeit. 57 Die Eigentümlichkeit der politischen Theorie der Aufklärung in ihren verschiedenen Strömungen und Ausprägungen kann erst in eben diesem systematischen, historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang erkenn- und bestimmbar werden: Welche Schwerpunkte werden jeweils gesetzt, welche Begründungs- und Lösungsversuche in der Analyse und Bestimmung der gesellschaftlichen Probleme, Per-

56

Vgl. Robert Mandrou, Staatsräson und Vernunft 1649-1775, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981. 57 Vgl. Michel Foucault , Staatsphobie (1984), in: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, hrsg. v. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/ Thomas Lemke, Frankfurt/M. 2000, S. 69 f.

Die Konstitution politischer Freiheit

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spektiven und erforderlichen Reformen vorgelegt? Auf welche Art und Weise verhalten sich die verschiedenen Vertreter aufklärerischen politischen Denkens theoretisch und praktisch zur Wirklichkeit? Wenden sie sich resignativ von ihr ab? Setzen sie Hoffhungen auf die Bewegungen und auf real existierende Möglichkeiten zur strukturellen Reform in Politik und Gesellschaft, oder plädieren sie gar für ihre revolutionäre Umwälzung? Daß die politische Theorie der Aufklärung trotz ihres universalistischen Anspruchs auf die Erkenntnis und Verwirklichung einer vernunftgemäßen Organisation der gesellschaftlichen Beziehungen durch diese Bindung an ihre spezifischen historischen und gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge,relativiert' wird, ist dabei gewissermaßen notwendig. Die ,vernünftige Allgemeinheit' der entstehenden modernen Gesellschaft, die Bestimmungen ihrer allgemeinen Institutionen und Verfahren, Gesetze und Ziele ist schließlich erst das Ergebnis der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, Diskurse und Praktiken unter den gegebenen Verhältnissen, und sie kann auch prinzipiell nichts anderes sein. Das politische Denken und Handeln als eines der Elemente dieses praktischen Konstitutionsprozesses gesellschaftlicher Wirklichkeit und ihrer Dynamik zu erkennen, bedeutet nicht die Negation der Ansprüche einer aufgeklärten politischen Theorie, sondern ist die Voraussetzung dafür, ihre Bedingungen, Grenzen, Ambivalenzen, aber auch Potentiale zu erkennen. Dies gilt vor allem für die Ansprüche auf - die rationale Begründungspflichtigkeit aller gesellschaftlichen Verhältnisse und Einrichtungen, - die Realisierung individueller Freiheit und die Sicherung ihrer Voraussetzungen, - die Möglichkeit, die allgemeinen gesellschaftlichen Angelegenheiten selbst gestalten zu können. Ganz gleich, wie man diese Ansprüche im einzelnen definieren und ausfüllen mag: daß diese Anforderungen einer aufgeklärten politischen Theorie gerade in Zeiten, in der sich die seit der Neuzeit entwickelten Voraussetzungen rationaler Politik im Prozeß der Auflösung zu befinden scheinen, in hohem Maße aktuell und bedeutsam für die künftige gesellschaftliche Entwicklung sind, läßt sich schwerlich bestreiten. Gerade wenn die bisherigen politischen Formen gesellschaftlicher Selbstbestimmung unter dem Druck der sich globalisierenden ökonomischen und ökologischen Phänomene und Probleme zunehmend entleert und dysfunktional zu werden scheinen, wird es um so notwendiger, an die hier entstandenen Anforderungen an eine aufgeklärte politische Theorie und Praxis zu erinnern.

„Natürliches44 Recht in „positivierter" Gestalt, das sich aus Pflichten herleitet? Von der Paradoxie der Menschenrechte Von Lothar R. Waas Angesichts des etwas kapriziös formulierten Titels wird sich der eine oder andere Leser dieses Aufsatzes fragen: Worauf will der Autor eigentlich hinaus? Will er die Menschenrechte als „natürliche", dem Menschen als Menschen zustehende Rechte diskreditieren, indem er sie in einen Zusammenhang mit Begriffen bringt, die ihnen zu widersprechen scheinen, oder folgt er lediglich der Devise, daß eine Sache um so interessanter wird, je mehr man sie in ein ungewöhnliches Licht rückt - frei nach dem Motto Sören Kierkegaards, ein Philosoph ohne ein Paradoxon sei wie ein Liebender ohne Leidenschaft? Der Versuchung nachzugeben, ein wenig das Spiel dessen zu wagen, der die Liebe zur Sache auf die Spitze treibt, fällt beim Thema „Menschenrechte" in der Tat nicht schwer. Als ein Objekt der Neugierde - um nicht zu sagen: Begierde sind die Menschenrechte ob all ihrer provozierenden Unbescheidenheit (ihrem Anspruch auf kultur-, ja epochenübergreifende Geltung) zu faszinierend und skeptisch stimmend zugleich, um dazu nicht geradezu herauszufordern. Vielleicht - so die Hoffnung insgeheim - erfährt man auf diese Weise eben doch mehr, als man erfahren würde, wenn man sich die Annäherung an sie zu einfach macht. Wie in allen anderen Fällen, wo es um etwas geht, das man schätzt und liebt, so wird man vielleicht auch hier der Sache am besten gerecht, indem man mit ihr nicht wie mit etwas völlig Selbstverständlichem umgeht. Und wie im Falle eines Aufsatzes von Otfried Höffe zum Thema „Menschenrechte", mit dem im folgenden da und dort die eine oder andere Übereinstimmung besteht, soll dies auch hier in sieben Thesen geschehen.1 Die erste These, die man ihrer Trivialität wegen eigentlich gar keine These nennen dürfte, lautet:

1 Siehe Otfried Höffe, „Sieben Thesen zur Anthropologie der Menschenrechte", in: Der Mensch - ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, hrsg. von Otfried Höffe, Stuttgart 1992, S. 188-211.

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Wir können nicht von Menschenrechtsverletzungen was Menschenrechte sind.

sprechen, ohne zu wissen,

Daß diese triviale Feststellung gleich zu Beginn so hervorgehoben wird, hat gleichwohl einen guten Grund. Wann immer von Menschenrechten die Rede ist, sieht es nämlich ganz so aus, als ob das einzige wirkliche Problem, das diesbezüglich heute noch besteht, dasjenige wäre, wie sich der staatlich garantierte Schutz dieser Rechte auch überall dort durchsetzen und erzwingen läßt, wo von einer solchen Gewährleistung bislang noch keine Rede sein kann. Daß es sich bei der Menschenrechtsproblematik nicht nur um ein Problem ihrer Durchsetzung handeln könnte - nicht nur um eine Frage der universellen Verwirklichung dieser Rechte, notfalls auch durch internationale Schutz-, Hilfs- und Zwangsmaßnahmen - , scheint uns (uns „Westeuropäern" und allen anderen, für die nach einem Wort Max Webers die Menschenrechte längst schon so „trivial" geworden sind, „wie das Schwarzbrot für den, der satt zu essen hat") 2 hingegen ein einigermaßen eigenartiger Gedanke zu sein. Oder, um die These noch einmal in eine Frage zu kleiden, die nicht nur rhetorisch zu verstehen ist: Was, außer den Menschenrechtsverletzungen selbst, sollte an den Menschenrechten problematisch sein? Die Geschichte der Menschenrechte ist allen ihren Anfechtungen zum Trotz zweifellos eine so beispiellose Erfolgsgeschichte, daß es inzwischen in der Tat schwer fällt, von der Geltung der Menschenrechte nicht als etwas völlig Selbstverständlichem auszugehen. Vor dem Hintergrund einer imposanten Zahl historisch höchst bedeutsamer Menschenrechtserklärungen, einer erdrückenden Fülle einschlägiger internationaler Übereinkommen und Konventionen und einer gar nicht mehr zu überblickenden Menge von nationalen Verfassungen, in denen sich nahezu gleichlautend stets aufs neue ein Bekenntnis zu „unveräußerlichen", „unverletzlichen", „natürlichen", „angeborenen" Menschenrechten „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" (Art. 1, Abs. 2 GG) findet, 3 befinden wir uns heute ganz offensichtlich mehr als je zuvor in der Lage, im Brustton festester Überzeugung auszusprechen, was bereits Thomas Jefferson 1776 in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung erstmals in die Worte gekleidet hat: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are Life,

2

Siehe Max Weber , „Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland", in: ders., Gesammelte Politische Schriften, 2. erw. Auflage, neu hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1958, S. 59. 3 Vgl. diesbezüglich Wolfgang Heidelmeyer (Hrsg.), Die Menschenrechte. Erklärungen, Verfassungsartikel, Internationale Abkommen, vierte, erneuerte und erweiterte Auflage, Paderborn 1997.

„Natürliches" Recht in „positivierter" Gestalt, das sich aus Pflichten herleitet?

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Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the Governed." 4

Trotz dieser Selbstverständlichkeit - dieser „Selbst-Evidenz" - , die den Menschenrechten vorausgeht und anhaftet, möchte ich jetzt jedoch so kühn sein dürfen, auf die scheinbar triviale erste These eine weitaus weniger triviale zweite folgen zu lassen. Diese zweite These lautet:

Ob es Menschenrechte gibt und was Menschenrechte sind, geht aus Menschenrechtserklärungen, wie sie sich in nationalen Verfassungen und internationalen Übereinkommen finden, nicht ohne einen fundamentalen Selbstwiderspruch hervor. Was ist damit gemeint? - Zwei Dinge sollte man sich hier vor Augen halten: 1. Menschenrechte werden, wo und wann immer von ihnen die Rede ist, als „überpositive" Rechte verstanden, die unabhängig von jeder staatlichen Setzung oder Versagung gültig sind. In allen Menschenrechtserklärungen, nationaler wie internationaler Provenienz, heißt es deshalb ja auch, daß sie „unveräußerlich" und „unverletzlich" seien - daß sie allen Menschen als Menschen mithin „von Natur zukommen" würden und nicht durch staatliche Setzung. 2. Alle diese Menschenrechtserklärungen selbst sind allerdings alles andere als Rechtsquellen „überpositiver" Art. Was in allen diesen Fällen das Menschenrecht zu einem Recht macht, das als ein solches (als ein sog. Grundrecht) auch identifizierbar ist, ist vielmehr die Tatsache seiner Positivierung, d. h. seiner Erklärung, Vereinbarung oder Setzung im Kontext nationaler oder internationaler Kodifizierungen. Diesen fundamentalen Selbstwiderspruch zwischen diesen beiden Gesichtspunkten schlagwortartig noch einmal zusammengefaßt, könnte man die zweite These im Sinne eines Paradoxons daher auch folgendermaßen umformulieren:

Wir haben die Menschenrechte nicht, weil sie in den Menschenrechtserklärungen stehen, sondern sie stehen dort, weil wir sie haben. Daß wir sie haben, wüßten wir aber nicht, wenn sie dort nicht stünden. Erstmals zum Ausdruck gebracht findet man dieses Paradoxon 1787/88 im Streit zwischen den Federalists und den Anti-Federalists um die Frage, ob die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika eine Menschen- bzw. Grundrechteerklärung beinhalten sollte. Alexander Hamilton sprach sich im 84. Artikel der Federalist-Papers mit dem Argument dagegen aus, daß das Volk - der Souverän - es nicht nötig habe, sich Rechte gegenüber den staatlichen Gewalten vorzubehalten, die es ohnedies nicht aufgebe. Gleichwohl drangen die Anti-Federalists (an ihrer Spitze Thomas Jefferson) darauf, daß sie als „fetters against doing evil" in die Verfassung nachträglich doch noch aufgenommen werden sollten, was dann 1791

4 Zitiert nach The Political Writings of Thomas Jefferson. Representative Selections, edited, with an introduction, by Edward Dumbauld, New York 1955, S. 3.

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unter der Federführung von James Madison in Form der ersten zehn Zusatzartikel (Amendments) auch tatsächlich geschah.5 Mit dem besagten Paradoxon, demzufolge wir von den Menschenrechten als „natürlichen" Rechten nur in „positivierter" Gestalt wissen, hängen nun drei Dinge zusammen: 1. Die Menschenrechte sind in ihrer „positivierten" Gestalt ein Produkt der Geschichte, obwohl sie als „natürliche" Rechte geschichts- bzw. zeitlos sind. Genau genommen gab es sie mithin immer schon, obwohl sie politisch erst mit den Bills of Rights der Neu-England-Staaten, der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Déclaration des Droits de L ' Homme et du Citoyen von 1789 die uns bekannte Bedeutung gewannen. 2. Obwohl sie als „natürliche" Rechte geschichts- bzw. zeitlos sind, ist das, was man von ihnen in „positivierter" Gestalt kennt, nicht immer ein und dasselbe. Was alles zu den Menschenrechten, die vom Staat zu gewährleisten sind, gehört, kann nach Ort und Zeit höchst umstritten sein. Man muß nur daran denken, daß in den letzten gut 200 Jahren der Umfang und der Inhalt der Menschenbzw. Grundrechteerklärungen nicht nur dem Wortlaut nach unterschiedlich groß und unterschiedlich gewichted war, sondern auch dem Sinn ihrer Worte nach eine sehr unterschiedliche Auslegung fand. Dem Umfang und Inhalt nach wäre an die Unterschiede zwischen den Menschenrechten „erster", „zweiter" und „dritter Generation" zu erinnern; an die Unterschiede also zwischen den klassisch-liberalen, den wirtschaftlich-sozialen und den kollektiv-ökologischen Rechten des Menschen. Der Auslegung nach ließe sich von den Menschenrechten als bloßen „Abwehrrechten" oder aber als „Teilhaberechten" oder sogar als „Solidarrechten" sprechen, mit der Folge, daß „Rechtsstaatlichkeit" und „Sozialstaatlichkeit" vielleicht sogar durch internationale-intergenerationelle „Solidarstaatlichkeit" zu ergänzen wären. Und ideen- wie realgeschichtlich stehen hinter alledem natürlich Aufklärung und bürgerliche Revolution, AntiSklaverei- und Frauenrechtsbewegung, Arbeiterbewegung, Anti-Kolonialismus, Bürgerrechts- und Umweltschutzbewegung. 3. Selbst die Tatsache, daß die Menschenrechte in Menschen- bzw. Grundrechtserklärungen aufgeführt sind, sagt noch nichts Genaues über ihre Geltung im konkreten Fall aus. Gesetze gelten zwar nach Maßgabe der Grund- bzw. Men-

5

Siehe Alexander Hamilton/James Madison/John Jay , Die Federalist-Artikel, hrsg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn 1994, 84. Artikel, S. 523; sowie The Political Writings of Thomas Jefferson (Anm. 4), S. 138 (Brief an Α. Donald vom 7. 2. 1788, den Patrick Henry bei der Abstimmung über die Verfassung vor dem Ratifikationskonvent von Virginia zitierte) sowie S. X X V I I (Briefe an J. Priestely und J. Madison), wo es heißt: „[...] written constitutions may be violated in moments of passion or delusion, yet they furnish a text to which those who are watchful may again rally and recall the people; they fix too for the people the principles of their political creed" bzw. vom „legal check" die Rede ist, „which it (eine „bill of rights", L. W.) puts into the hands of the judiciary".

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schenrechte, aber diejenige Instanz, die darüber rechtmäßig wacht, ist unter der Bedingung des modernen, freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaats eine durch das Verfassungsrecht ebenso festgesetzte staatliche Institution (sei es ein Verfassungsgericht, die Legislative selbst oder das Institut des Volksentscheids) wie es im internationalen Kontext von den Staaten gemeinschaftlich gebilligte und gebildete Organe sind, die darüber autoritativ befinden. Auch im ganz konkreten Fall weiß man von dem, was das „natürliche" Recht des Menschen ist, also nur in „positivierter" Gestalt, was oft genug dazu führt und geführt hat, daß es im einzelnen vielfach nicht dasselbe ist und war, was unter das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum fällt. Dies zeigen beispielsweise die Unterschiede, die hinsichtlich der Einstellung zur Todesstrafe zwischen Amerika und Europa und zwischen den europäischen Staaten von heute und denjenigen von vor 50/100 Jahren bestehen. Dies zeigen in allen modernen, freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaaten aber auch die Unterschiede hinsichtlich des Ausmaßes an Liberalität der Gesetzgebung, wenn es um Fragen wie Abtreibung, Embryonenforschung, therapeutisches Klonen, aktive Sterbehilfe oder Homound Lesben-„Ehe" geht oder um die Frage, was alles durch das Recht auf Glaubens-, Meinungs-, Versammlungs-, Kunst- und Pressefreiheit gedeckt und geschützt ist. Und im internationalen Vergleich dreht sich der Streit vielfach um die Frage des Vorrangs zwischen den klassisch-liberalen und den wirtschaftlichsozialen Rechten. Angesichts dieser drei Implikationen des besagten Paradoxons, demzufolge wir von den Menschenrechten als „natürlichen" Rechten immer nur in „positivierter" Gestalt wissen, stellt sich die Frage: Woher wissen wir eigentlich, daß das, was uns, die wir in der Tradition der amerikanischen Verfassungsväter stehen, „seifevident" zu sein scheint, auch wirklich ein wirkliches Wissen ist und nicht nur ein vermeintliches oder ganz und gar eingebildetes? Kann die beispiellose Erfolgsgeschichte der Menschenrechte in ihrer „positivierten" Gestalt schon als Beweis genug für ihre Geltung im „überpositiven" Sinne angesehen werden - wenigstens im Hinblick auf das, was man auch ihren „Wesensgehalt" (Art. 19, Abs. 2 GG) nennt? Daß Menschen etwas wissen, was Generationen vor ihnen kein Mensch wußte, ist bekanntlich ebensowenig ungewöhnlich, wie es ungewöhnlich ist, daß sich Menschen zeitgleich auf unterschiedlichen Wissensniveaus befinden - je nach individueller Begabung, sozialem Status oder kultureller Zugehörigkeit. Trotzdem wird man nicht behaupten können, daß der Entstehungszusammenhang des jeweiligen Wissens sich nicht von seinem Begründungszusammenhang trennen ließe. Was wissens- und wissenschaftssoziologisch betrachtet die Genese des Wissens ausmacht, läßt sich prinzipiell erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch von dessen Geltung unterscheiden. Und obwohl universale, kultur- und epochenübergreifende Geltungsansprüche oft genug nicht leicht einzulösen sind, steht man doch nicht an, von Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt selbst dann noch zu sprechen, wenn beides über eine rationale Kluft hinweg - mit Thomas S. Kuhn gesprochen: durch

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einen revolutionären „Paradigmenwechsel" - erfolgt. 6 Warum sollte sich gerade für die Menschenrechte also nicht in Anspruch nehmen lassen, was zumindest für die Naturwissenschaften gilt? Die dritte These lautet daher: Auch von den sog. Gesetzen der Natur, die Galilei, Kepler und Newton entdeckten, hat man vor dem 17. Jahrhundert nichts gewußt, ohne daß man sagen könnte, es hätte sie nicht immer schon gegeben. Was spricht also dagegen die Menschenrechte für ebenso „natürlich" zu halten wie die sog. Naturgesetze? Diese These, so wird man sagen, verrät bereits durch ihre Formulierung in rhetorischer Frageform, daß sie höchst problematisch, wenn nicht falsch sein dürfte. Wären die Menschenrechte „natürliche Gesetze" vergleichbar den physikalischen Gesetzen, so wäre es ja ganz unmöglich Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Das menschliche Handeln wäre dann diesbezüglich ebenso determiniert wie alles andere, was den Menschen zu einem Teil der Natur macht, angefangen bei der Schwerkraft des menschlichen Körpers und endend bei seiner Sterblichkeit. Nicht auf einen solchen, in der Tat ganz unsinnigen Vergleich kommt es hier jedoch an, sondern darauf, daß die Menschenrechte „natürliche" Rechte in dem Sinne sind, daß sie sich aus „Gesetzen" herleiten, die den Menschen moralisch verpflichten - „Gesetze" also, die der Mensch zwar mißachten kann, aber nicht mißachten sollte. Selbstverständlich wäre es spätestens jetzt angebracht kurz über John Locke zu sprechen, der in die Geschichte bekanntlich als derjenige einging, der - so der italienische Rechtshistoriker und Rechtsphilosoph Noberto Bobbio - „die wichtigste Quelle für die ersten Gesetzgeber (ist), die sich an Menschenrechten orientierten." 7 Und tatsächlich ist es auch nicht schwer, anhand von Textpassagen aus dem Second Treatise of Government aufzuzeigen, daß dieser sog. „Vater des modernen Naturrechts" das Recht des Menschen auf Leben, Freiheit und Eigentum aus Pflichten herleitete - aus dem sog. „natürlichen Gesetz" nämlich, daß „niemand einem anderen, [...], an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll." 8 Das Problem im Falle Lockes ist nur, daß man an Gott glauben können muß, um dieses „natürliche Gesetz" als verpflichtend für sich zu erkennen. Daß jeder Mensch die besagten Pflichten gegenüber jedermann hat, begründet Locke in dem soeben zitierten Zusammenhang ja damit, daß „alle Menschen das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers

6

Siehe Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, zweite, revidierte Auflage, Frankfurt/M. 1979. 7 Noberto Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte, aus dem Italienischen von U. Hausmann, Berlin 1998, S. 51 und S. 11. 8 John Locke, Über die Regierung, hrsg. von P. C. Mayer-Tasch, Stuttgart 1974, Kap. II, § 6 (S. 6 f.) sowie Kap. XI.

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(sind), die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden". 9 Mit anderen Worten: Wer mit dem Locke'schen Text in der Hand den Beweis dafür zu erbringen sucht, daß der Mensch als Mensch Rechte in dem Maße hat, wie er von Gott auferlegte Pflichten hat und diesen Pflichten auch nachkommt, geht das Risiko ein, als jemand dazustehen, der die Überzeugungen eines Christenmenschen vorschnell verallgemeinert. Ja, man kann sich sogar fragen, ob nicht ein islamischer Fundamentalist, der im Namen Allahs und der Shari'a seinerseits an die Einheit von göttlichem Willen und menschlicher Rechtsordnung glaubt, den Locke'schen Text sehr viel leichter noch unterschreiben könnte als ein moderner, aufgeklärter Europäer oder Amerikaner, für den die Worte „Gott" und „Pflicht" nur noch mehr oder weniger leere Vokabeln sind. Zu dem, was laut Locke das „natürliche Gesetz" den Menschen lehrt, gehört ja nicht nur der Glaube an Gott, sondern auch die Pflicht, „sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen" (also eine Art Selbstmord-Verbot), die Pflicht, denjenigen zu töten, der die Pflicht, nicht zu töten, mißachtet hat (gemäß dem Satz aus der Genesis: „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden"), sowie vielleicht sogar das Gebot, Diebstahl mit dem Abhacken der Hand zu bestrafen, da Locke wortwörtlich schreibt, man sollte „niemanden seines Lebens oder dessen, was zur Erhaltung des Lebens dient: seiner Freiheit, seiner Gesundheit, seiner Glieder oder seiner Güter berauben oder sie beeinträchtigen es sei denn, um an einem Verbrecher Gerechtigkeit zu üben." 10 Die vierte These läßt sich deshalb jetzt zu der Aussage zusammenfassen: Geht man von der Bedeutung aus, die John Locke im Rahmen der Entstehungsgeschichte der Menschenrechte gerade durch seinen Einfluß auf die amerikanischen Verfassungsväter zukommt, dann leiten sich die Rechte des Menschen zweifellos aus den Pflichten her, die Gott dem Menschen als seinem Geschöpf auferlegt hat. Man muß aber schon an Gott glauben können (genauer gesagt: an den jüdisch-christlichen Gott), um die sog. „natürlichen Gesetze" entsprechend auszulegen und als solche anzuerkennen. Was den universalen Geltungsanspruch betrifft, der mit den Menschenrechten verbunden ist, dürfte Locke daher nur schwerlich als der Galilei, Kepler oder Newton der Menschenrechte in Frage kommen. Wenn sich der universale Geltungsanspruch der Menschenrechte auf diese Weise nur schwer einlösen läßt, scheiden dann aber nicht auch alle übrigen entstehungsgeschichtlichen Aspekte der Menschenrechte als begründende Faktoren aus, denen im Kontext des Christentums im allgemeinen und der protestantischreformatorischen Bewegung im besonderen ein hoher Stellenwert zukam?

9

Ebd., Kap. II, § 6, S. 6/7. Ebd., Kap. II, § 6, S. 7 und § 11, S. 106.

10

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Es ist an dieser Stelle zweifellos angebracht, kurz noch ein Wort darüber zu verlieren, in welcher Weise John Locke in seiner Schrift A Letter concerning Toleration von 1685/86 das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit begründet hat. Immerhin ließe sich ja behaupten, daß sich zumindest diese Toleranzforderung aus keiner vom jüdisch-christlichen Gott auferlegten Pflicht herleiten lassen würde, da ihr das Gebot Gottes aus dem Dekalog Mose „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir" entgegensteht. Tatsächlich stützt sich Locke bei seiner Begründung des Rechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit aber erneut auf eine von Gott gebotene Pflicht - nur daß es nicht die Pflicht zum (jüdisch-christlichen) Monotheismus des ersten der Zehn Gebote ist, sondern die Pflicht zur „Duldung", da Locke mit Blick auf Jesu „Güte", „Sanftmut" und „Barmherzigkeit" die „Duldung für das hauptsächlichste Kennzeichen der wahren Kirche" hält.11 Desgleichen ist bemerkenswert, daß er sich für seine Argumentation auf einen Begriff von „Kirche" stützt, bei dem er nicht (wie die katholische Kirche) von einem privilegierten Zugang zu den Glaubenswahrheiten durch Priester und Bischöfe ausgeht (gemäß dem Wort Christi: „Petrus, du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche bauen werde"), sondern unter „Kirche" vielmehr den freiwilligen Zusammenschluß von Menschen versteht, demzufolge da, „wo immer zwei oder drei versammelt sind in Seinem Namen, Er mitten unter ihnen sein werde" (Matt. 18, 20). Zum Glauben, so das rein logische Argument von Locke, kann man nämlich nicht gezwungen werden, da Glaube ein „Fürwahrhalten" ist, und ein Glaube ohne die „innere und vollkommene Gewißheit des Urteils" insofern kein Glaube wäre. 12 Alle diese Argumente laufen bei Locke zugleich dann aber auch darauf hinaus, daß es zum einen gegenüber denjenigen, die in Glaubensfragen selbst nicht tolerant sind (also gegenüber der römisch-katholischen Kirche), keine Toleranz geben darf, und zum anderen, daß „[...] diejenigen ganz und gar nicht zu dulden (sind), die die Existenz Gottes leugnen", da „Versprechen, Verträge und Eide, die das Band der menschlichen Gesellschaft sind, keine Geltung für einen Atheisten haben (können)." 13 Das ist aber wiederum nichts anderes als ein Beleg dafür, daß sich laut Locke von Rechten nur sprechen läßt, wenn sie aus Pflichten hergeleitet werden können, die im Glauben an Gott begründet sind. 14

11

Siehe John Locke, Ein Brief über Toleranz, hrsg. von Julius Ebbinghaus, Hamburg 1996, S. 3 ff. 12 Ebd., S. 15-21. 13 Ebd., S. 95; siehe und vgl. dazu auch die Einleitung von Julius Ebbinghaus, S. L I X LXIV. 14 Selbst Jean-Jacques Rousseau, der im Emile der „natürlichen Religion" den Vorzug vor jeder Offenbarungsreligion gibt („Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars") und insofern auch im Contract social von den „Menschenrechten" ohne Bezug auf den jüdischchristlichen Gott spricht (I. Buch, 4. Kap.), wollte von einer Toleranz gegenüber denjenigen nichts wissen, die an die „Dogmen" dieser „natürlichen" bzw. „bürgerlichen" Religion nicht glauben, da es seines Erachtens in einem solchen Fall „unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein." (IV. Buch, 8. Kapitel).

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Natürlich könnte man einwenden, daß die Grund- bzw. Menschenrechtserklärungen moderner Verfassungen und internationaler Übereinkommen schon längst über John Locke insofern hinaus sind, als in ihnen zumeist zwar nicht der Gottes-Bezug fehlt, wohl aber die Bezugnahme auf Pflichten, und zwar in dem Maße, wie das Bekenntnis zu den Menschenrechten in ihnen unter Berufung auf die „Würde des Menschen" erfolgt (Art. 1, Abs. 1 GG), sie mithin von der „Erkenntnis" ausgehen, „daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten", wie es wortwörtlich in der Präambel der beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 heißt. Ideologiekritisch gesehen ist allerdings auch diese Fundamentierung der Menschenrechte nicht unproblematisch bzw. voraussetzungslos, da der Begriff der „Würde" als einem allen Menschen von Natur zukommendem Wesensmerkmal, wie ihn erstmals die Stoa kannte, erst durch das Christentum voll zur Entfaltung kam, wo aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und aus dem Erlösungsakt Christi auf die Vorrangstellung des Menschen in der Natur geschlossen wurde. Dies gilt selbst noch für Pico della Mirandolas Würde-Begriff in seiner Schrift De dignitate hominis von 1486, der dem Menschen - im Unterschied zur mittelalterlichen Bestimmung - zwar „kein deutlich unterscheidbares Bild" mehr zuweist, dafür aber von der menschlichen Willensfreiheit als einer Selbstbestimmungsfähigkeit ausgeht, die den Menschen „in die Unterwelt des Viehes" entarten oder zu einem „Gott mit menschlichem Fleische umkleidet" aufsteigen lassen kann. Im Mittelpunkt der Schrift, die als Einführung zu einer öffentlichen Disputation in Rom gedacht war, in der Pico die innere Übereinstimmung der verschiedensten philosophischen und theologischen (christlicher wie jüdischer wie heidnisch-antiker) Lehren unter Beweis zu stellen suchte, steht nämlich erneut der Mensch als ein von Gott so und nicht anders gewolltes Geschöpf. 15 Was nichts anderes heißt, als daß sich ohne diese Art der Begründung auch behaupten ließe, daß „Würde" kein angeborenes Wesensmerkmal des Menschen sei, sondern eine Eigenschaft, die als Ergebnis von Tugend bzw. moralischer Leistung nur demjenigen zukommt, der so handelt und handeln kann, wie er dem Telos des Menschen entsprechend handeln sollte, um wirklich Mensch zu sein. Genau das erklärt ja auch, warum die Antike Menschenrechte nicht kennt bzw. zwischen vollwertigen Menschen (Freien) und Menschen minderen Rechts (Sklaven von Natur) unterscheidet. 16 Ist es zur Einlösung des universalen Geltungsanspruches also nicht von vorneherein angebracht, wenn überhaupt, dann auf diejenigen entstehungsgeschichtlichen Aspekte zu rekurrieren, die im Prinzip sowohl frei von religiösen Prämissen waren als auch von alledem, was man unter einem anthropologisch-teleologischen

15

Siehe Giovanni Pico della Mirandola , Über die Würde des Menschen, übertragen von H. W. Rüssel, Zürich 1988, insbes. S. 8-13. 16 Siehe in diesem Sinne auch O. Höffe, „Sieben Thesen zur Anthropologie der Menschenrechte" (Anm. 1), S. 193-199.

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Denken (einem „normativen Begriff des Humanuni") versteht? Und kommt dafür dann nicht letztlich alles das in Frage, was aus der englischen Rechtstradition (der Magna Charta Libertatum, der Petition of Rights, der Habeas Corpus- Akte oder der Bill of Rights von 1689) von Einfluß auf die ersten Erklärungen der Menschenrechte in dem Sinne war, daß es sich dabei um Rechte handelt, die sich die Menschen wechselseitig aus ganz elementaren und profanen Gründen verleihen? Wie sich dem schon erwähnten 84. Artikel der Federalist-Papers und dessen Bezugnahme auf William Blackstones Commentaries on the Laws of England von 1765 entnehmen läßt, stellten für Alexander Hamilton die „Grundrechteerklärungen" der Engländer „ihrem Ursprung nach vertragliche Abmachungen zwischen Königen und ihren Untertanen" dar. Warum sollten sich also da, wo von vorneherein von Königen keine Rede mehr sein kann, da alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht („Verfassungen [...] auf der Macht des Volkes basieren"), die Menschenrechte nicht ihrerseits als das Ergebnis einer vertraglichen Abmachung (einer wechselseitigen Übertragung von Recht) der Menschen untereinander begreifen lassen?17 Die fünfte These lautet jetzt:

Was den universalen Geltungsanspruch betrifft, der mit den Menschenrechte als „natürlichen ' Rechten einhergeht, dürfte Thomas Hobbes sehr viel eher als der Galilei, Kepler oder Newton der Menschenrechte in Frage kommen als John Locke. Im Gegensatz zu Locke hat Hobbes unter einem „ Gesetz der Natur " jedenfalls eine „von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel' ver standen, die sich aus dem „natürlichen Recht" als der „Freiheit eines jeden' ergibt, „ seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetst Mittel ansieht. " 18 Diese These scheint auf den ersten Blick wiederum höchst gewagt zu sein. Zum einen steht Hobbes nicht gerade in dem Ruf, ein Theoretiker rechtsstaatlichen

17

Siehe A. Hamilton/J. Madison/J Jay, Die Federai ist-Artikel (Anm. 5), 84. Artikel, S. 522/523; vgl. dazu auch William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Oxford 1765, Book I, Chap. I, S. 123 ff. - Daß sich beides, das Verständnis der „rights and liberties of every Englishman" als das Produkt „vertraglicher Abmachungen" und als ein Derivat von Gott gebotener Pflichten ideengeschichtlich nicht strikt voneinander trennen läßt, zeigen allerdings gerade auch die Commentaries on the Laws of England, wo Blackstone im Kapitel „ O f the Nature of Laws in General" schreibt: „This law of nature, being coeval with mankind and dictated by God himself, is of course superior in obligation to any other. It is binding over all the globe, in all countries, and at all times: no human laws are of any validity, if contrary to this; and such of them as are valid derive all their force, and all their authority, mediately or immediately, from this original." (s. ebd., Book I, Introd., §2, S. 41). 18 Siehe Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. von Iring Fetscher, Kap. 14, S. 99.

„Natürliches" Recht in „positivierter" Gestalt, das sich aus Pflichten herleitet?

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Gedankenguts zu sein, und zum anderen finden sich zweifellos auch bei ihm viele verstreute Bemerkungen, ja ein ganzes Kapitel (das 31. Kapitel des Leviathans), denen bzw. demzufolge die im vierzehnten und fünfzehnten Kapitel aufgezählten „natürlichen Gesetze" gleichzeitig als „göttliche Gesetze" zu verstehen sind. Was sollte einen Souverän daher davon abhalten, von der ihm übertragenen (staatlichen) Gewalt uneingeschränkten Gebrauch zu machen, wenn nicht allenfalls die Pflicht, sich ebenso wie jeder andere auch an die „natürlichen Gesetze" deshalb halten zu müssen, weil sie Gebote Gottes sind?19 Ohne auf Fragen der Hobbes-Exegese hier näher eingehen zu können, als angesichts des generellen Gegensatzes zwischen einer „säkularen" und einer „religiösen" Interpretationsrichtung wünschenswert wäre, 20 sei zum Beleg dafür, daß es sich bei den Grenzen, die dem Souverän durch die „natürlichen Gesetze" gezogen sind, nicht nur um moralische Verpflichtungen handelt, die sich aus dem Glauben an Gott ergeben, sondern zugleich um Rechte, die seine Untertanen gegen ihn ebenso wie einander gegenüber geltend machen können, darauf verwiesen, was Hobbes im 14. Kapitel des Leviathans im Zusammenhang mit dem „zweiten Gesetz der Natur" über die Möglichkeit und die Grenzen der (Selbst-)Verpflichtung durch Rechtsverzicht und Rechtsübertragung schreibt. Demnach legt die Vernunft es nicht nur jedermann nahe „[...] freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles [zu] verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält" (was nichts anderes heißt, als daß sich jedermann „mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben" sollte, „wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde"), sondern diese Möglichkeit der (Selbst-)Verpflichtung durch Rechtsverzicht und Rechtsübertragung ist gleichzeitig auch immer dann ausgeschlossen, wenn nicht angenommen werden kann, daß der betreffende Mensch „dadurch nach einem Gut für sich selbst" strebt. Im Sinne eines „natürlichen Rechts" als eines unveräußerlichen Rechts heißt es bei Hobbes:

19

Im 21. Kapitel des Leviathan, das „Von der Freiheit der Untertanen handelt", schreibt Hobbes (ebd., S. 165): „[...] es wurde schon gezeigt, daß die souveräne Vertretung einem Untertan nichts zufügen kann, was aus irgendeinem Grund zu Recht Ungerechtigkeit oder Unrecht genannt werden könnte, da jeder Untertan Autor jeder Handlung des Souveräns ist. So fehlt diesem das Recht auf alles nur insofern, als er selbst Untertan Gottes und dadurch zur Einhaltung der natürlichen Gesetze verpflichtet ist." 20 Für einen Versuch einer systematischen Aufarbeitung dieses Gegensatzes, der gleichzeitig selbst in der Nachfolge der „religiösen" Interpretation eines Α. E. Taylor und H. Warrender steht, siehe Α. P. Martinich, The Two Gods of Leviathan. Thomas Hobbes on Religion and Politics, Cambridge/Mass. 1992. Für eine erste umfassendere Darlegung meines eigenen Verständnisses von Thomas Hobbes als eines „Vordenkers der liberalen Demokratie" siehe Lothar R. Waas, „Der »gezähmte4 Leviathan des Thomas Hobbes. Oder ist der Theoretiker des Absolutismus eigentlich als ein Vordenker der liberalen Demokratie zu verstehen?", in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 88, Heft 2, 2002, S. 151-177.

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Lothar R. Waas

„Immer wenn jemand sein Recht überträgt oder darauf verzichtet, so tut er dies entweder in der Erwägung, daß im Gegenzug ein Recht auf ihn übertragen werde, oder weil er dadurch ein anderes Gut zu erlangen hofft. Denn es handelt sich um eine willentliche Handlung, und Gegenstand der willentlichen Handlungen jedes Menschen ist ein Gut für ihn selbst. Und deshalb gibt es einige Rechte, die niemand durch Worte oder andere Zeichen aufgegeben oder übertragen haben kann, da sich diese Auslegung verbietet. Erstens kann niemand das Recht aufgeben, denen Widerstand zu leisten, die ihn mit Gewalt angreifen, um ihm das Leben zu nehmen, da nicht angenommen werden kann, er strebe dadurch nach einem Gut für sich selbst. Dasselbe gilt fur Verletzungen, Ketten und Gefängnis, einmal deshalb, weil eine solche Duldung keinen Vorteil nach sich ziehen würde wie etwa die Duldung, daß ein anderer verletzt oder eingesperrt wird, zum anderen auch, weil niemand sagen kann, wenn er Leute mit Gewalt gegen sich vorgehen sieht, ob sie seinen Tod beabsichtigen oder nicht. Und letztlich sind Motiv und Zweck, um derentwillen Rechtsverzicht und Rechtsübertragung eingeführt worden sind, nicht anderes als die Sicherheit der Person hinsichtlich ihres Lebens und der Mittel, das Leben so erhalten zu können, daß man seiner nicht überdrüssig wird." 21 V o m (säkularen) Standpunkt der Vernunft aus ist es also nicht ein Gebot Gottes, w o h l aber der Klugheit, wenn jeder auf sein „natürliches Recht" i m Sinne eines „Rechts auf alles, selbst auf den Körper eines anderen" verzichtet und sich „ m i t soviel Freiheit" (sprich: „natürlichen Rechten", L. W.) „gegenüber anderen zufrieden" gibt, „ w i e er anderen gegen sich selbst einräumen würde", „(d)enn solange jemand das Recht beibehält, alles zu tun, was er w i l l , solange befinden sich alle Menschen i m Kriegszustand." 2 2 Daß sich auch diese Methode, den universalen Geltungsanspruch der Menschenrechte einzulösen, nicht ohne weiteres von selbst versteht, sei allerdings gleichwohl nicht verschwiegen. Wenn, wie Hobbes sich ausdrückt, die „Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen, die Todesfurcht (ist), das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können", 2 3 dann, so könnte

21

Siehe Th. Hobbes, Leviathan (Anm. 18), Kap. 14, S. 100 und S. 101/102. - Im Zusammenhang mit dem zehnten „natürlichen Gesetz" („Beim Eintritt in den Friedenszustand soll niemand verlangen, sich ein Recht vorzubehalten, wenn er nicht damit einverstanden ist, daß es auch allen übrigen Menschen vorbehalten werden sollte."), das aus dem neunten „natürlichen Gesetz" („Jedermann soll den anderen für Seinesgleichen von Natur aus ansehen.") im Sinne eines Menschenrechts auf Gleichheit folgt, schreibt Hobbes noch einmal höchst verdeutlichend im Sinne eines Menschenrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum: „Wie es für alle Friedensuchenden notwendig ist, gewisse natürliche Rechte niederzulegen, das heißt nicht mehr die Freiheit zu haben, alles zu tun, was einem gerade einfällt, so ist es für das menschliche Leben notwendig, einige Rechte beizubehalten, wie das Recht, über den eigenen Körper zu herrschen, das Recht auf Luft, Wasser, Körperbewegung, auf Verbindungswege von Ort zu Ort, sowie auf alle Dinge, ohne die ein Mensch nicht oder nicht angenehm leben kann." (s. ebd., Kap. 15, S. 118). 22 Ebd., Kap. 14, S. 100. 23 Ebd., Kap. 13, S. 98.

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man einwenden, dürften selbstverständlich für jeden, der diese „Leidenschaften" nicht kennt, auch die besagten „natürlichen Gesetze" als Gebote der Klugheit („Schlüsse oder Lehrsätze, die das betreffen, was zur Erhaltung und Verteidigung der Menschen dient" 24 ) nicht gelten und sich insofern auch der Verzicht auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum nicht verbieten. Miißte man daher nicht doch von einer regelrechten Pflicht zur Selbsterhaltung ausgehen, um die Menschenrechte als universale Rechte begründen zu können - jedenfalls sofern und insoweit sich nicht von einem allen Menschen gemeinsamen Interesse an Selbsterhaltung ausgehen läßt? Daß die „Leidenschaften", die Hobbes dem Menschen generell zuschreibt, lediglich kulturell bedingt sein könnten, glaubte bekanntlich lange vor C. B. Macpherson bereits Karl Marx erkannt zu haben.25 Trotzdem: Ist es nicht so, daß selbst der, dessen „Leidenschaften" nicht individualistisch-possessiver (um nicht zu sagen: besitzindividualistischer) Natur sind, zumindest ein Interesse daran hat, selbst entscheiden zu können, wofür er sein Leben und/oder die besagten Annehmlichkeiten hingeben möchte? Derjenige, für den das (angenehme) Leben nicht der Güter höchstes ist, und der deshalb auch bereit ist, für die Durchsetzung seiner (religiösen, politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder sonstigen) Ideale, Ziele, Wünsche zu sterben oder zumindest das, was zu einem „angenehmen Leben" gehört, zu opfern, reklamiert als ein Recht letztlich jedenfalls genau das für sich, was er demjenigen, der „weder Täter noch Opfer von Gewalt" sein möchte, bestreitet: die Möglichkeit, sich frei entscheiden zu können. Und insofern widerlegt sich die „Sowohl Täter als auch Opfer von Gewalt"-Option damit auf die gleiche Weise, wie sich derjenige selbst widerspricht, der töten, rauben und schänden können möchte, ohne dergleichen selbst fürchten zu müssen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es daher vielleicht lediglich besser bzw. weniger mißverständlich, von einem allen Menschen gemeinsamen Interesse an „Handlungsfähigkeit" (O. Höffe) zu sprechen und nicht, wie Hobbes dies vorzugsweise tut, von einem allen Menschen gemeinsamen Interesse an „Selbsterhaltung", auch wenn der Begriff der „Selbsterhaltung" auf dasselbe hinauslaufen dürfte, da sich dabei

24

Ebd., Kap. 15, S. 122. In seiner Schrift „Zur Judenfrage" von 1843 spricht Karl Marx nicht nur davon, daß die (freiheitlich-bürgerlichen) Menschenrechte nichts weiter als die „Freiheit des egoistischen Menschen" institutionalisierten, sondern versteht diesen „Egoismus" auch als ein Säkularisationsphänomen. „Das Christentum ist aus dem Judentum entsprungen. Es hat sich wieder in das Judentum aufgelöst", heißt es da und damit ist zugleich gemeint: „Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel." (siehe K. Marx, Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 171-207, insbes. S. 194-199 und S. 204-206; sowie C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford 1962, Kap. II. 2). 25

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sowohl an das „physische" wie das „moralische Selbst" des Menschen denken läßt. 26 Als sechste These ließe sich daher jetzt sogar auch ohne die Annahme einer regelrechten Pflicht zur Selbsterhaltung formulieren:

Engführung der Menschenrechte Zu einer eurozentristisch-kulturalistischen besteht vom Hobbes 'sehen Begründungsverfahren aus ebensowenig Grund wie zu ihrer rein liberalistischen, da Leben, Freiheit und Eigentum nicht nur unverzichtbare Bedingungen menschlicher Handlungsfähigkeit in der Hinsicht sind, daß niemand ein Interesse daran haben kann, ihrer beraubt zu werden, sondern auch in dem Sinne, daß man nicht wollen kann, daran durch schicksalhafte Umstände nicht teilzuhaben. Hobbes selbst hat im 30. Kapitel des Leviathan , das „Von der Aufgabe der souveränen Vertretung" handelt, das sozialstaatliche Moment in die Worte gefaßt: „Und da viele Menschen durch unvermeidbare Zufälle unfähig werden, sich selbst durch eigene Arbeit zu ernähren, sollten sie nicht der Wohltätigkeit von Privatpersonen überlassen, sondern auf Grund staatlicher Gesetzgebung wenigstens mit dem Lebensnotwendigsten versorgt werden. Denn ist es von jedermann hartherzig, wenn er sich um den Schwachen nicht kümmert, so ist es dies auch vom Souverän eines Staates, wenn er sie der zufälligen und so unsicheren Wohltätigkeit überläßt." 27

Sollte man angesichts des universalen (rechts- wie sozialstaatlichen) Geltungsanspruchs der Menschenrechte also nicht sehr viel mehr in Thomas Hobbes als in John Locke den sog. „Vater des modernen Naturrechts" sehen, auch wenn selbst Hobbes keineswegs der erste war, der die „natürlichen" Rechte als primäre und nicht als (von Pflichten) abgeleitete Größe begriff? 28 - Mit Hobbes lassen sich die Menschenrechte jedenfalls als das Ergebnis einer vertraglichen Abmachung der Menschen untereinander verstehen (als ein Konstrukt, von dem sich denken läßt, daß es im Rahmen der Möglichkeiten und Grenzen von Rechtsverzicht und Rechtsübertragung im je eigenen Interesse zustande kommen könnte) - mithin dem Prinzip nach genau so, wie Alexander Hamilton dies im 84. Artikel der FederalistPapers andeutet. Und es gibt sogar noch einen zweiten Grund, der für diese Auf-

26

Siehe O. Höffe, „Sieben Thesen zur Anthropologie der Menschenrechte" (Anm. 1), S. 203-208. 27 Th. Hobbes, Leviathan (Anm. 18), Kap.30, S. 264. 28 Dazu, daß diese Ehre Hugo Grotius gebührt, in dessen Tradition Hobbes auch steht, ohne daß der gerade einmal fünf Jahre ältere Grotius, dessen 1625 erschienene Schrift De Iure Belli ac Pacis umgehend große Popularität erlangte, von Hobbes namentlich auch nur einmal erwähnt wird, siehe Knud Haakonssen, Natural Law and Moral Philosophy. From Grotius to the Scottish Enlightenment, Cambridge/Mass. 1996, S. 26-35; sowie Richard Tuck, Hobbes, aus dem Englischen von S. Krause und Κ. Malowitz, Freiburg/Br. 1999, S. 39 ff. und S. 85 f. Dazu, daß demgegenüber Lockes Position in unmittelbarer Tradition von Samuel Pufendorfs Naturrechtslehre steht, siehe ebenfalls Κ Haakonssen, S. 37-43 und S. 51-58.

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fassung spricht, obwohl es sich paradoxerweise auch hier entstehungsgeschichtlich gerade andersherum verhält, wenn man bedenkt, daß ausgerechnet Paul Johann Anselm Feuerbach als der Begründer der modernen (relativen) Strafrechtslehre 1798 ein Buch mit dem Titel Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn publizierte. Schon der oben zitierte Text von John Locke hat gezeigt, daß mit dem Recht auf Leben die Todesstrafe durchaus vereinbar sein kann, da zu den Geboten Gottes nicht nur die Pflicht, nicht zu töten, gehört, sondern auch die Pflicht, Übel mit Übel zu bestrafen. Bei Hobbes hingegen kann von einer Befürwortung der Todesstrafe im Sinne des von Locke aus der Genesis übernommenen Satzes „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden" keine Rede sein, obwohl gerade Hobbes immer leicht unter den Verdacht gerät, ein Befürworter der Todesstrafe zu sein. Im 21. Kapitel des Leviathan findet sich immerhin die aufreizende Formulierung: „Denn es wurde schon gezeigt, daß die souveräne Vertretung einem Untertan nichts zufügen kann, was aus irgendeinem Grund zu Recht Ungerechtigkeit oder Unrecht genannt werden könnte, da jeder Untertan Autor jeder Handlung des Souveräns ist. [...] Und deshalb kann es geschehen, wie es tatsächlich in Staaten oft vorkommt, daß ein Untertan auf Befehl des Souveräns getötet wird und doch keiner dem anderen ein Unrecht zufügt [...]". 29 Was Hobbes im Unterschied zu Locke hier im Auge hat, ist jedoch nicht die Todesstrafe als eine von der Gerechtigkeit nach dem Talionsprinzip gebotene Vergeltung, sondern allenfalls die Todesstrafe zum Zweck der Abschreckung, wenn sie denn diesen Zweck im Sinne von General- und/oder Spezialprävention überhaupt zu erfüllen vermag. Das siebente, von der Vernunft nahegelegte „natürliche Gesetz" lautet dementsprechend auch: „ Bei Rache - der Vergeltung eines Übels durch ein Übel - soll man nicht auf die Größe des früheren

Übels, sondern auf die des künftigen Nutzens sehen. Hierdurch wird uns

verboten, eine Bestrafung in anderer Absicht zu verhängen als der der Besserung des Täters und der Anleitung anderer. Denn dieses Gesetz folgt aus dem vorhergehenden, das Vergebung aufgrund einer Sicherheitsleistung für die Zukunft befiehlt. Außerdem ist Rache, die nicht im Hinblick auf das Beispiel und den künftigen Nutzen genommen wird, Triumph oder Sich-Brüsten mit der Verletzung eines anderen, die zwecklos sind, denn ein Zweck ist immer etwas Zukünftiges. Zweckloses Sich-Brüsten ist aber Prahlerei und widerspricht der Vernunft, und unvernünftiges Verletzen führt zum Krieg. Dies läuft dem natürlichen Gesetz zuwider und wird gemeinhin als Grausamkeit bezeichnet."30 Daß ein Mörder rechtmäßig (ohne eine „Grausamkeit" zu begehen) mit dem Tode bestraft werden kann, ist bei Hobbes also nur insoweit gerechtfertigt, wie die

29

Th. Hobbes, Leviathan (Anm. 18), Kap. 21, S. 165. Ebd., Kap. 15, S. 117. - Vgl. demgegenüber J. Locke, Über die Regierung (Anm. 8), Kap. II, §§ 11 und 12, wo zwar auch vom „Recht, zu bestrafen, um abzuschrecken" (S. 10), die Rede ist, gleichzeitig aber auch davon, den „Rechtsbrecher seine Tat teuer bezahlen zu lassen" (S. 11). 30

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Todesstrafe ein geeignetes Mittel zur Verhütung künftiger Verbrechen ist und damit im Interesse der Menschen im Hinblick auf Frieden und Sicherheit. Gleichzeitig verstößt die Todesstrafe (selbst als reine Abschreckungsstrafe) immer noch gegen die raison d'être der Staatsgründung - gegen die Autorisierung staatlicher Gewalt im je eigenen Interesse - , „da nicht angenommen werden kann, er (in diesem Fall der Mörder, L. W.) strebe dadurch nach einem Gut für sich selbst. Dasselbe gilt für Verletzungen, Ketten und Gefängnis [...]." Analog zu dieser bereits oben vollständig zitierten Passage aus dem 14. Kapitel schreibt Hobbes daher auch folgerichtig im 28. Kapitel, demjenigen Kapitel, das „Von Strafen und Belohnungen" handelt: „Bevor ich aus dieser Definition Schlüsse ziehe (der Definition von Strafe als einem „Übel, das die öffentliche Autorität demjenigen auferlegt, der getan oder unterlassen hat, was diese Autorität als Gesetzesübertretung beurteilt [...]", L. W.), ist eine Frage von großer Wichtigkeit zu beantworten, nämlich, durch welche Tür das Recht oder die Gewalt, in allen Fällen zu strafen, hereingekommen ist. Denn dem bisher Gesagten zufolge kann von niemandem angenommen werden, daß er vertraglich verpflichtet sei, der Gewalt keinen Widerstand zu leisten, und folglich kann man auch nicht sagen, er habe einem anderen das Recht gegeben, ihm Gewalt anzutun. Bei der Schaffung eines Staates gibt jeder das Recht auf, einen anderen zu verteidigen, aber nicht das Recht der Selbstverteidigung. Auch verpflichtet er sich, dem Inhaber der Souveränität bei der Bestrafung eines anderen beizustehen, nicht aber bei der eigenen Bestrafung. [...] Aber ich habe oben ebenfalls gezeigt, daß vor Errichtung des Staates jedermann ein Recht auf alles und zur Vornahme alles dessen hatte, was ihm zu seiner Selbsterhaltung notwendig schien, nämlich zu diesem Zweck jeden zu unterwerfen, zu verletzen oder zu töten. Und dies ist der Grund des in jedem Staat ausgeübten Strafrechts. Denn die Untertanen gaben dem Staat dieses Recht nur dadurch, daß sie ihm durch Aufgabe ihres Rechtes die Machtstellung einräumten, sein eigenes Recht nach seinem Gutdünken zum Schutz aller anzuwenden."31 Den Sinn dieser Passage anschaulich zusammengefaßt, heißt das: Wir sind zwar nicht daran interessiert, in einem Staat zu leben, in dem Mörder und andere Straftäter frei herumlaufen können; wenn wir selbst Mörder oder in anderer Weise Straftäter wären, hätten wir aber auch kein Interesse daran, mit dem Tod, einer Freiheits- oder auch nur einer Geldstrafe belangt zu werden. Da, wo man sich für die Geltung der Menschenrechte nicht auf Gott beruft, sondern auf eine Art „Vertrag" zwischen den Menschen im wechselseitigen Interesse, haben wir es deshalb auch nicht mit dem Paradoxon zu tun, daß sich die Menschenrechte eigentlich aus Pflichten herleiten würden, dafür aber mit dem Paradoxon, daß es sich nicht nur bei der Todesstrafe, sondern auch bei jeder Freiheits-, ja Geldstrafe im Grunde genommen um eine Menschenrechtsverletzung handeln müßte, wenn ja wenn das Paradoxon nicht wäre, daß wir von den Menschenrechten als „natürlichen" Rechten doch immer nur Sicheres und Genaues in „positivierter" Gestalt

31

Th. Hobbes, Leviathan (Anm. 18), Kap. 28, S. 237.

„Natürliches" Recht in „positivierter" Gestalt, das sich aus Pflichten herleitet?

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wissen können. Damit schließt sich aber der Kreis, da die siebente These an dieser Stelle in die beiden ersten Thesen übergeht. Die siebente These lautet:

Menschenrechte bedürfen zu ihrer Anwendung der autorisierten Auslegung. Und insofern wissen wir von ihnen als „natürlichen " Rechten Sicheres und Genaues auch und selbst dann nur in „positivierter" Gestalt, wenn sie sich nicht aus Pflichten herleiten.

Vom Lügen - in Zeiten des Kommunismus Von Steffen Dietzsch Von Georg Lukâcs, dem wohl bedeutendsten Theoretiker des Kommunismus im Jahrhundert des Weltbürgerkrieges, ist zur alten Frage: Ob man aus Menschenliebe - und der Kommunismus war ja prima vista der exemplarische Fall der Menschenliebe überhaupt! - auch lügen und täuschen dürfe, eine bemerkenswerte Antwort überliefert. „Die kommunistische Ethik", so war von ihm gesprächsweise zu hören, „mache die Anerkennung der Notwendigkeit, Böses zu tun, zur höchsten Pflicht." Dies, so Lukâcs, sei das größte Opfer, das uns die Revolution abverlange. „Der wahre Kommunist sei davon überzeugt, daß sich das Böse durch die Dialektik der Geschichte in Gutes verwandle." 1 Der , Große Krieg der Weißen Männer 4 (Arnold Zweig) war nur ein letztes lautstarkes - Menetekel für diesen geschichtlichen Auftrag. Die Zeitenwende schien nah. An dieser Welt war nichts mehr zu retten und also auf nichts mehr Rücksicht zu nehmen. Die alte Welt ist aus den Fugen, also muss sie wieder zurecht gerückt werden. Die aus Exil oder Verbannung zurückkehrenden Revolutionäre vom Herbst 1917 in Petrograd - Lenin, Trotzky, Rakowski, Joffe, Kamenev und ihre Freunde hatten „bis dahin im Leben des Volks noch nicht irgendwie Wurzeln schlagen können. So wurden, wohl nach dem Muster des französischen Syndikalismus, als die revolutionäre Organisation für das ganze Reich die Arbeiter- und Soldatenräte [,Sowjets'] gebildet. Die meisten ihrer Mitglieder kamen sozusagen noch mit der rauchenden Flinte in die Heimat aus dem großen Weltmorden, das nicht gerade eine Hochschule für Schonung von Menschenleben und Privateigentum genannt werden kann. [... ] Das verprügelte Rußland nimmt seitdem Rache an dem prügelnden Rußland und läßt auch seinerseits nach dem Brauch der Väter Gewalt vor Recht gehen."2 Dies charakterisiert ganz unverstellt die moralphilosophische

1

Mitgeteilt v. Franz Borkenau, The Communist International, London 1939, S. 87. Vgl. dazu auch den Vortrag von Georg Lukâcs , Taktik und Ethik (1919), und seine Aufsätze: Der Bolschewismus als moralisches Problem, (ursprünglich) in: Szabadgondolat, Dez.-Heft 1918, und: Die moralische Sendung d. kommunistischen Partei, in: Kommunismus 1 (1920), H. 16/17, S. 482 ff. 2 Kurt Aram, Zur Vorgeschichte des Bolschewismus, in: Süddeutsche Monatshefte 16 (1919), Januar-Heft, S. 225 f.

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Aufbruchsmentalität, mit der die unterschiedlichsten Leute aus den verschiedensten Gegenden Alteuropas am Ende des Ersten Weltkrieges - der ,Urkatastrophe' des XX. Jahrhunderts - nach Sowjetrussland strebten und sich daranmachten, den Einen Großen Plan zu verwirklichen - die endgültige Befreiung der Menschheit in Gang zu setzen (nicht nur diese oder jene Freiheiten zu erkungeln oder zu erklügeln). Dass solche dialektischen Volten in jener erlösungssüchtigen Zeit nichts Ungewöhnliches waren, davon zeugt auch eine Tagebuchsequenz von Gershom Scholem. Unter den 27. Juni 1919 schrieb er in sein Tagebuch: „Idee einer messianischen Bewegung aus dem Gaunertum: zulänglicher Grund für ins Volk gehen. [...] Die Gauner als Gottes Volk, diese wäre eine Bewegung."3 Wie sollte das bewerkstelligt werden? Jene Visionäre wollten eines jedenfalls nicht, nämlich etwa in der Kontinuität herkömmlichen politischen (und moralischen) Wirkens bleiben, also handeln im Rahmen von Parlamentarismus, Kompromissen, Gewaltenteilung etc. Es galt demgegenüber, einen radikalen Bruch aller historischen Kontinuität zu organisieren und zu befestigen. Wie aber ginge das? Indem man jetzt der alten verrotteten Gesellschaft ihre eigene groteske Melodie, nämlich die der Lüge, Heuchelei und Gewalt, vorspielt, bringt man, so versprach es jenes dialektische Programm, die Verhältnisse zum Tanzen. So schien es möglich, indem man selbst tief in die Sünde hineinging, die Sünde an der Wurzel packen zu können. Es ging, wie Boris Pasternak gezeigt hat, zuallererst um „die um der Barmherzigkeit willen herausgearbeitete helfende Erbarmungslosigkeit [...] um als verkörperte Vergeltung für alles Geschehene über das Alte herzufallen [...] damit es keine Rückkehr zur Vergangenheit mehr geben konnte."4 Man wusste: Bei dieser Erlösungsaufgabe ist es, wie Lukâcs vermutete, „unmöglich zu handeln, ohne Schuld auf sich zu laden", und dass jene Erlöser „zwischen zwei Arten, schuldig zu werden, zu wählen hätten", und wobei es aber auch ein Kriterium richtigen und falschen Handelns gäbe: „Dieser Maßstab heißt: Opfer. Und so, wie der einzelne [...] dann die richtige Wahl trifft, wenn er auf dem Altar der höheren Idee sein minderwertiges Ich opfert, besteht eine Kraft darin, dieses Opfer auch für das kollektive Handeln zu ermessen."5 Ab jetzt, so das ungeschriebene Gesetz revolutionären Handelns, wird nicht mehr etwa bloß aufgeklärt, nicht mehr lediglich an das Gute als ein Sollen appelliert, sondern das Gute und das Vernünftige werden - gefasst als Kultur und Zivilisation - ihrerseits zuallererst als Lüge identifiziert, d. h. entlarvt und so selber

3

Gershom Scholem, Tagebücher 1917-1923 [Eintrag v. 27. Juni 1919], hg. v. Karlfried Gründer, Herbert Kopp-Oberstebrink u. Friedrich Niewöhner, 2. Halbband, Frankfurt/M. 2000, S. 462. 4 Boris Pasternak, Doktor Schiwago, dt. v. Thomas Reschke, Frankfurt/M. 1992, S. 632. 5 Georg Lukâcs , Taktik und Ethik, in: ders., Schriften zur Ideologie und Politik, Neuwied/Berlin 1967, S. 10.

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zur Disposition von Umkehrung gestellt. - Ein anderer Mandarin der Emanzipation, Theodor W. Adorno, hat die Aufnahme der Institution Lüge ins Arsenal eingreifenden Denkens viel später noch so begründet: „Da jedoch der freie und gerechte Tausch selber die Lüge ist, so steht was ihn verleugnet, zugleich auch für die Wahrheit ein: der Lüge der Warenwelt gegenüber wird noch die Lüge zum Korrektiv, die jene denunziert" 6 - Somit hat der, der für den Kommunismus kämpft, nur eine einzige Tugend: dass er für den Kommunismus kämpft! Dies war - seit ihn Bertolt Brecht in Umlauf brachte - der Topos für die alltägliche moralische Selbstpreisgabe bzw. Selbsthingabe derer, die sich unter dem Banner der Aurora versammelten - für eine historische Morgenröte. Könnte man aber mit dieser Praxis und dieser geistig-moralischen Disposition, die Konfigurationen der Lüge durch Lügen abzubauen, tatsächlich einer bedürftigen Welt auf die Beine helfen? Könnte der Einfall, Ähnliches durch Ähnliches zu therapieren, wirklich tragen? Ist also der Kommunismus tatsächlich eine Art gesellschaftlicher Alternativmedizin, mithin so etwas wie eine ,homöopathische 4 Antwort auf die Krankheiten der modernen Gesellschaft - letztlich dann aber nicht sozusagen eine gigantische Placebo-Kur? Der polnisch-jüdische, kommunistische Schriftsteller Alexander Wat, der im Frühjahr 1940 in Lemberg vom Geheimdienst NKWD verhaftet wurde, berichtet in seinen Erinnerungen von einem Gefängnisdialog über die Abstrusitäten und Monstrositäten des sowjetischen Alltags. Dasjenige was man ihnen und den Menschen ,draußen4 an Verdächtigungen und Anklagen über Personen und Sachverhalte als ,wahr' und zu, gestehen4 zumutete, überstieg jedes Fassungsvermögen. Aber waren das noch einfache Lügen? „Nein, nein, das sind keine Lügen. Das ist kein Nonsens44, so mussten sie allmählich erschreckend erkennen. „Alle Aussagen des Kommunismus sind jenseits von Wahrheit und Lüge. Das ist kein Widersinn, sondern ein Sinn außerhalb jeder Ordnung: das ist nicht Wahnsinn, sondern Methode.447 I. Alle bisherige Menschengeschichte, so die augenfällige erste Wahrnehmung, auch aller Weltverbesserer natürlich, ist eine Geschichte von Gewalt, Niedertracht, Verrat und Totschlag. Die Geschichte ist, wie Marx' Zeitgenosse Georg Büchner (der schon Feder und Degen zugleich sein wollte) einmal verzweifelt schrieb, „vom lieben Herrgott nicht zu einer Leetüre für junge Frauenzimmer geschaffen

6 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 4, Frankfurt/M. 1980, S. 49. 7 Alexander Wat , Jenseits von Wahrheit und Lüge. Erinnerungen, Frankfurt/M. 2000, S. 373.

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worden" 8 ; man werde nämlich „wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte"9 zurückgelassen. Der Büchner-Leser Elias Canetti greift diese Erfahrung für unsere Zeit auf und macht sie als immer währende namhaft: „Quälen und töten, töten und quälen, und ich lese es auf tausend Arten immer wieder, immer dasselbe."10 Das sollte und musste endlich, endlich einmal vorbei sein! Das, was noch nie guter Wille oder entschlossene Idee zustande gebracht hatte, weder mit Gottesfurcht noch aus Rechtsbegriffen, nämlich dass Menschen freundlich, frei und satt werden könnten auf Erden, das verkündete und begründete jetzt der Kommunismus. Der versprach - durch Marx - zweierlei: zunächst jede praktische Angelegenheit künftig an der Wurzel zu packen, also radikal zu sein, und also dann »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" 11 . - Alle Verhältnisse meint hier eben genau alle - vom Eigentum, Geld & Kapital, dem geistig-kulturellen,Überbau' bis hin zur Kultur privaten Miteinander-Umgehens. Denn, und dieser revolutionären Konfession - auch noch hundert Jahre nach Marx - war einst auch der NKWDHäftling Alexander Wat verpflichtet: „Worauf fußt der Glaube des Revolutionärs? Um etwas Neues zu errichten, muß man das Alte bis auf die Grundfesten zerstören. Die Wurzeln ausreißen. Die Grundfesten sprengen." 12 Dieser Umsturz aller Verhältnisse war aber erfolgreich zu vollziehen nur, wenn entweder (a) dies wirklich alle wollen (also alle dieselben Interessen hätten) oder eben (b), wenn dies ein paar zu allem Entschlossene wollen. Da die Option (a) den nötigen Umsturz auf den St. Nimmerleinstag verschieben würde, liegt es also nahe, organisatorische Vorkehrungen für Fall (b) zu treffen. Das aber ist die Geburtsstunde der Idee und Praxis der Avantgarde-Partei als einer Partei ,neuen Typus': für Rußland schufen - 1903 - genau dies Lenin und seine Bolschewiki. Es galt also, die Macht zu erringen, um genau das zu tun: alles umzustürzen, d. h. abzuschaffen, was offensichtlich den Menschen von seinesgleichen entfremdet (und was diese Entfremdung ideell verklärt), allem voran die Eigentums- und Geldverhältnisse, das damit überkommene Recht, Handel, Administration, Parlamentarismus, natürlich die Kultur dieses,Alten', gleichermaßen allen persönlichen Anstand wie selbstverständlich Religion, Kunst, Pädagogik, Philosophie etc. pp. Dieser so intendierte ganz andere Umsturz der sozialistischen

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Georg Büchner an die Familie, 28. Juli 1835, in: Georg Büchner, Briefwechsel. Kritische Studienausgabe, hg. v. Jan-Christoph Hauschild, Frankfurt/M. 1994, S. 74. 9 Georg Büchner an Wilhelmine Jaeglé, 10./20. Jan. 1834, in: Briefwechsel, a.a.O., S. 34. 10 Elias Canetti , Aufzeichnungen 1942-1985, München 1993, S. 182. 11 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe [MEGA], Berlin 1982,1. Abt., Bd. 2, S. 177. 12 Alexander Wat , Jenseits von Wahrheit und Lüge. Gesprochene Erinnerungen. In: Sinn & Form 52 (2000), H.4, S.549f.

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Revolution, dies hatte schon Bucharin 1919 deutlich gemacht, „ist vor allen Dingen eine Revolution der Produktionsverhältnisse, denn sie verändert nicht die Klassenherrschaft über die Produktionsmittel - sie vernichtet diese Herrschaft. Das ist kein Austauschen der Eigentümergruppen - das ist ihre Expropriation," 13 Hierzu war natürlich der zu erwartende Widerstand alles Alten radikal zu brechen, mit, wie Lenin 1920 gefordert hat, durch „nichts eingeschränkte, durch keinerlei Gesetze, absolut durch keinerlei Regeln gehemmte, sich unmittelbar auf die Gewalt stützende Macht." 14 Ein zeitgenössischer proletarischer Poet aus Ungarn, Aladar Komjât, machte jenes Programm anschaulich, als er schrieb: „Aus dem Ordnung gehöhnten blutigen Chaos Muß eine neue Ordnung in die Welt! Zu Gran zerscherbe das Seiende. Denn kein Quentchen ist gesund: Keine Zelle unvergiftet. Und nur das Gegenteil von allem: gut." 15

Wie die radikale Praxis jenes ,Gegenteils von allem 4 über die Jahre dann weltweit - aussah, das ist neuerdings bilanziert worden im Livre noir du communisme. Das Nachsichtigste, was man von heute her noch über jene außer Rand und Band geratenen Leute - von Lenin bis Lin Piao, von Molotow bis Mielke, von Berija bis »Presidente Gonzalo' - , die alle so oder so Söhne des Roten Oktober waren, zusammenfassend sagen könnte, das war allerdings schon bei Dostojewskij in den Brüdern Karamasow nachzulesen, nämlich: Sie waren „nicht gewachsen dem Aufruhr, den sie selber anzettelten"16. So fasst sich das Problem sozialistischer Revolutionen in der Neuzeit von allem Anfang an als ein tragisches in diesem Diktum zusammen: „Die Illusion der Revolution besteht darin zu glauben, daß die Opfer der Gewalt, da sie unschuldig sind an den aufgetretenen Greueltaten, mit der Gewalt gerecht umgehen werden, wenn man sie ihnen in die Hand gibt." 17

13

Nikolai Bucharin, Von der Diktatur des Imperialismus zur Diktatur des Proletariats, Berlin 1919, S. 104. 14 Wladimir /. Lenin, Geschichtliches zur Frage der Diktatur. Lenin, Werke, Berlin 1963, Bd. 31, S. 343. 15 Aladar Komjât, Bolschewiki [dt. v. St. J. Klein], in: Arbeiter-Literatur [Wien], Nr. 9, 1924, S. 486. 16 Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, dt. v. Karl Nötzel, Fünftes Buch, 5. Abschn. (Der Großinquisitor), in: Sämtliche Romane und Novellen, Bd. 23, Leipzig 1921, S. 468. 17 Simone Weil, Aufzeichnungen 1942. In: Sinn und Form, 48 (1996), H. 1, S. 95.

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Wieso misslang aber jener hochgestimmte Befreiungsschlag? War man nicht radikal genug beim Zerstören des Alten? Waren der Schrecken und die Lügen zum Heile der Welt am Ende noch nicht groß genug? Oder - horribile dictu - stimmte womöglich jene Dialektik von Verdammnis und Erlösung, die den jungen Lukâcs so fasziniert hatte, gar nicht - ,sie mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis'? Es schien also: Vom aus einer bestimmten handlungsorientierten DostojewskiLektüre, u. a. einem aus Schuld und Sühne entlehnten Programm des Sichdurchlügen-bis-zur-Wahrheit blieb im Praktischen nur die Lüge übrig. Die Bilanz des kommunistischen Alltags jedenfalls, die man ζ. Β. 1937, zwanzig Jahre nach dem Großen Oktober, also doch schon aus einem historischen Abstand machen konnte, sieht dementsprechend gar nicht gut aus: Man lebt erbärmlich, schicksalergeben oder in Angst, man ist administrativ an seinen Ort gefesselt, aber ständig verschwinden Leute, und alltäglich hört man, was man nicht sieht: ,Das Leben ist schöner geworden' (Stalin). Dieses Jahr siebenunddreißig war, wie es der russische Schriftsteller Juri Dombrowskij (1909-1978) einmal nannte, „ein böses, heißes Jahr, Vorbote künftigen Unheils." 18 Kurz: 1937, in diesem Jubiläumsjahr der Revolution, „war die Sowjetunion kein glückliches Land." 19 Diese Zeit des exzessiven, nach innen gerichteten und längst nicht mehr schichten-, sozial- oder klassenorientierten Massenterrors in den Dreißigern markiert einen definitiven Bruch in der Kultur sozialer Revolutionen überhaupt. Dieser Kulturbruch ist also nicht schon in den Gräueln des Roten Terrors unmittelbar nach der Oktoberrevolution (bis 1921 ) zu sehen. Der - wenn man ihn mit ,kaltem' Blick betrachten könnte - der blinde, verzweifelte Blutrausch eines ums Überleben kämpfenden Neuen war und der am ehesten noch mit Robespierres Terror von 1794 zu vergleichen, wenn auch nicht zu entschuldigen wäre. Der deutsche Schriftsteller Alfons Paquet, der die Geburt des Neuen Russland ,vor Ort' erleben wollte, nahm dies wahr als ,Bartholomäusnacht'; er schrieb in seinen „Briefen aus Moskau": „Der Terror schüttelt ganz Moskau wie ein Fieber. Gewiß, er ist in erster Linie eine Ausgeburt der Rache. Die von den Bolschewiki verkündete Diktatur des Proletariats ist nach den Attentaten [vom Sommer 1918] auf Uritzki [dem Petrograder Tscheka-Chef] und Lenin, nach den Enthüllungen des von Engländern und Franzosen unterstützten neuen Umsturzversuches, rasch und heftig zum Massenterror gesteigert worden." 20

18

Jurij Dombrowskij, Die Fakultät unnützer Dinge [Paris 1978], übersetzt v. Heddy Pross-Weerth, Frankfurt/M. 1990, S. 595. 19 George F. Kennan, Memoiren eines Diplomaten 1925-1950, übersetzt v. Heidi v. Alten, Stuttgart 1968, S. 501. Sein Rückblick aus dem Jahre 1944: „Diese ,Säuberungen4 hatten unendliche Zerstörungen angerichtet'(ibid.). 20 Alfons Paquet , Im kommunistischen Rußland, Jena 1919, S. 113.

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Vor diesem Grauenvollen konnte rudimentär immerhin noch am Ort des Geschehens öffentlich gewarnt werden, wie etwa in Maxim Gorkis Zeitung Nowaja shisn21 [Neues Leben] zwischen Winter 1917 und Sommer 1918 oder wie von Jewgenij Samjatin, der (unter dem Pseudonym ,Michail Platonow') 1918/1919 zeitkritische Aufsätze in der Zeitung Narodnoje Delo [Volks-Sache] schrieb und von dem überhaupt die erste weltliterarisch bedeutsame Warnung vor einem Totalitarismus der sog. , Vernunftherrschaft 4 stammt, nämlich sein Roman Wir 2 2 [1920], der übrigens erst 1988 in einem sowjetischen Verlag erscheinen konnte. Zudem gab es hier im wild gewachsenen Kriegskommunismus - als eine Mischung von Behauptungstrotz und Warnung an den (vor allem inneren) Feind immerhin noch eine gewisse grausige ,Glasnost' durch die Publikation einschlägiger wöchentlicher und lokaler 7!scAefo7-Bulletins 23. Auch erreichten noch besorgte Stimmen von Sympathisanten die Akteure der Revolution, so schrieb beispielsweise der alte Wladimir Korolenko im Sommer 1920, kurz vor seinem Tode, an den Volkskommissar Anatoli Lunatscharski: „Ich bin der Ansicht, daß nicht alle Mittel dem Wohl des Volkes dienen, und für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß Erschießungen auf dem Verordnungsweg, zum System erhoben und nun schon seit über einem Jahr praktiziert, nicht zu diesen Mitteln gehören." 24 Auf diese Weise verblasste aber natürlich sehr schnell der Charme universel d'Octobre - ein nostalgisches Bild, mit dem François Furet jüngst zutreffend die ursprüngliche Faszination jener Revolution veranschaulicht hatte. II. Was aber seit dem Mord an Kirow (Dez. 1934) an Schrecken die Sowjetunion überzog, verweigerte sich jedem Begreifen. Auch heute noch! Wie könnte aber dennoch eine hermeneutische Annäherung an das mental (und natürlich auch exis-

21 Vgl. die deutsche Ausgabe dieser Zeitungsartikel u. d. T.: Maxim Gorki , Ein Jahr Russische Revolution, in: Süddeutsche Monatshefte, Okt.-Heft 1918, S. 6-62. 22 Vgl. die dt. Ausgabe, hg. v. Karlheinz Kasper, im Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig/Weimar 1991. Der Roman endet mit einer schwarzhumorigen Situationsbeschreibung im Kampf der Vernunft gegen das Chaos, die Zukünftiges schon vorwegnahm: „Aber es ist uns gelungen, auf dem quer verlaufenden 40. Prospekt eine provisorische Mauer aus Hochspannungswellen zu errichten. Und ich hoffe - wir werden siegen. Mehr noch: Ich bin sicher, daß wir siegen. Weil die Vernunft siegen muß"(a.a.O.,S. 243). 23 Vgl. Dimitrij Gawronsky, Die Bilanz des Russischen Bolschewismus, Berlin 1919, S. 73 f., und SergeijP. Melgunow, Der rote Terror in Rußland 1918-1923, Berlin 1924, sowie Alfons Paquet , Im kommunistischen Rußland, a.a.O., S. 120-125. 24 Wladimir Korolenko an Anatoli W. Lunatscharski, 19. Juni 1920, in: Sowjetliteratur 42(1990), H. 1,S. 116.

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tenziell) Abgründige der Jeshowshina 25, wie die Russen jene Zeit des Großen Terrors selber nennen, provisorisch aussehen? Ein häufig verwandter Topos der kritischen Wahrnehmung des Neuen Russland ist das Bild von der Großen Lüge. Das ist nun gar nicht weit hergeholt. Man könnte sich dabei auf ein Diktum Leo D. Trotzkis berufen, immerhin einer der Programmatiker und auch Praktiker jenes dann schnell aus dem Ruder laufenden Fundamentalumsturzes, jener Revolution also, der sie alle ihr Leben widmeten und die ihnen allen (fast allen) ihr Leben nahm. Trotzki nämlich schrieb einmal an einen Freund, es war kurz vor dem Großen Krieg, „das ganze Gebäude des Leninismus ist gegenwärtig auf Lüge und Fälschung aufgebaut und trägt den giftigen Keim der eigenen Zersetzung in sich." 26 Zum Erschrecken und zur Furcht, die wie ein Schatten zu allem Terror gehören, kam jetzt noch die universelle Lüge hinzu. Sie wurde seither die Verkehrsform aller gesellschaftlichen Diskurse in den Diktaturen des Proletariats. Die Lüge ist es, die sich mit jenem verhängnisvollen Bruch in der Revolutionskultur entwickelte, und die Lüge ist es, die wie ein undurchdringlicher Nebel alle gesellschaftlichen Verhältnisse einhüllte, ja sie entwirklichte - nur unmittelbare Nähe wie Liebe oder Freundschaft konnte in jenem Dunst als Wahrhaftiges überstehen. Eine literarische Stimme aus dem Inneren dieses Gebirges der Lüge hat das einmal so beschrieben: „Die gewöhnliche, menschliche Welt war verschwunden. An ihre Stelle war eine Welt der Lüge entstanden, die alles beherrschte. Es logen die Spitzel, die völlig Unschuldige denunzierten; es logen die Untersuchungsrichter, die falsche Beschuldigungen erhoben, es logen die Zeugen, die etwas bezeugten, was nie gewesen war [...], und es logen schließlich sogar die Beschuldigten, die Verbrechen gestanden, die sie gar nicht begangen hatten. [...], aber eine unbekann-

25 Der sowjetische Diplomat Alexander Barmine, der unter dem Eindruck des Großen Terrors 1937 die Sowjetunion verließ, machte in seinen Erinnerungen das momentan Undenkbare dieser neuartigen allumfassenden Vergeltungswut, die sich gar nicht mehr in das ehemalige Koordinatensystem von revolutionärer Härte und Unbarmherzigkeit gegenüber dem Klassenfeind einfügen ließe, jetzt, 20 Jahre nach dem Oktober, namhaft: „In den ersten Jahren wurden viele antibolschewistische Sozialisten lediglich des Landes verwiesen. Der Prozess gegen die sozialistischen Revolutionäre des Jahres 1922 hatte nur bedingte Todesurteile gebracht, obwohl die Angeklagten tatsächlich mit der Waffe in der Hand zur Zeit des Bürgerkrieges gekämpft und einen Anschlag gegen Lenin vorbereitet hatten. [...] Die Helden des Ramsinprozesses, die sich schuldig bekannten [...] wurden nach kurzer Gefängnisstrafe pardonniert und wieder in ihre früheren Stellungen eingesetzt. Die russischen Menschewiken [...] hatten lediglich lange Gefängnisstrafen erhalten. [...] Nein, Stalin würde es nie über sich bringen, das Blut seiner früheren Gefährten zu vergießen [...]." (Alexander Barmine, Einer der entkam, übersetzt v. T. Fabian, Wien [ 1948], S. 405 f.). 26 Leo D. Trotzki an Nikolai S. Tscheidse, 1. Apr. 1913, Erstdruck in: Der Kämpfer (Chemnitz), 13. Jan. 1925.

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te Macht zwang die Menschen, an diese Lüge zu glauben, obgleich sie wußten, daß alles Lüge war." 27 Dieses umfassende Potenzial von Lügen, d. h. sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation cum intentione fallendi, die Macht also von Täuschungen bzw. Selbsttäuschungen erreicht hier in der stalinistisch gesteigerten Phase des Bolschewismus, im, wie Furet diese Zeit nennt, „zweiten Bolschewismus"28, namentlich eben seit dem Großen Terror, eine historisch singulare Ausgestaltung. Alexander Wat, der als junger Kommunist 1940 in das Labyrinth des Gulag geriet, bemerkte zuerst im Alltag der Verfolgung diese alltägliche Verinnerlichung von Täuschung, die es z.B. „meinem Untersuchungsführer gestattete, mit den perfidesten Lügen zu operieren und sich gleichzeitig mit einem reinen Gewissen zu brüsten." 29 Dieses Exorbitante der Lüge unterscheidet den Stalinismus, den ich eine , Erlösungsdiktatur4 nennen will, auch von anderen zeitgenössischen Gewaltherrschaften, von Rassen- oder Religionsdiktaturen, die man »Behauptungsdiktaturen4 nennen könnte. „Die Lüge des Kommunismus44, so nahm es jedenfalls schon der russische Philosoph Nikolai Berdiajew bereits zu Beginn jener Schreckenszeit in den Dreißigern wahr, „ist aber gewaltiger als alle seine Wahrheiten. Sie ist vor allem eine geistige, nicht eine soziale Lüge. Falsch und ungeheuer ist der Geist des Kommunismus selbst.4430 Hier wäre also eine Funktion von Lüge namhaft zu machen, die mit dem Schicksal des Kommunismus heute in enger Verbindung steht - nämlich die Virtualisierung und letztlich die Auflösung (bzw. alltagspraktische Vergleichgültigung) der politisch-administrativen, künstlerischen, wissenschaftlichen u. a. Sphären jener Diktatur. Diktatur eben, die schon von allem Anfang an, wie Rosa Luxemburg mit einem Blick auf Lenins gesellschaftliche Missgeburt konstatierte, zur „Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne führt [...]. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, wird zum Scheinleben [hervorgehoben von mir - St. D.], einige Dutzend Parteiführer [...] dirigieren und regieren, und", so Rosa Luxemburg weiter, „von Zeit zu Zeit muß man den Reden der Führer Beifall klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft. [...] Solche Zustände müssen eine Verwilderung des

27

Nikolaij Narokow, Wenn das Salz schal wird, dt. v. Siegfried v. Vegesack, Graz/ Wien/Köln 1957, S. 137. 28 François Furet , Das Ende der Illusion, München/Zürich 1998, S. 180. 29 Alexander Wat , Jenseits von Lüge und Wahrheit, a.a.O., S. 350. 30 Nikolaij Berdiajew, Wahrheit und Lüge des Kommunismus, übersetzt v. Jewsei (Jehoshua) Schor, Luzern 1934, S. 25.

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öffentlichen Lebens zeitigen." 31 - In den Endphasen dieser Diktaturen führten dann auch die geringsten Zumutungen ,νοη oben' bei den Leuten ,unten' zu gähnender Abwendung - bis alle jene entleerten staatlichen und gesellschaftlichen Apparate implodierten. Der Stalinismus als höchste Form des Marxismus-Leninismus wird zu einem Gegenstrom der Historizität, wird zu jener kriminellen Imitation von Revolution, in der nicht die Untertanen die Obrigkeit austauschen, sondern die Obrigkeit ihre Untertanen opfert. In dieser - mit Verlaub - »Gesellschaft' und ihrer „Philosophie der souveränen Lüge" 32 , wo also, wie schon ein früher Sympathisant bemerkte, „die Lüge Allgemeingut und Bürgerpflicht ist" 33 , herrscht neben dem permanenten Mangel an Gütern für das alltägliche Leben vor allem auch ein Mangel an symbolischen Gütern. Diese aber sind für die Mentalität und Identität, für den Zusammenhalt und die Resistenz eines Gemeinwesens schlechthin entscheidend. Die Lügengeschichten von der Weisheit und den Leistungen des Einen Führers müssen jetzt all die traditionellen Großen Erzählungen (in Religion, Mythos und Kunst) ersetzen. Diese Lügen etablieren sich schnell und mit Gewalt als Gegen-Wahrheit. Diese ,Gegen-Wahrheiten', d. h. diese Surrogate symbolischer Güter, haben einen unübersehbar nihilistischen Impetus: Sie polen nämlich alle bisher verbindlichen Werte (von wahr und falsch, gut und böse, schön und hässlich etc.) um. Dieser Mechanismus ist glänzend beschrieben worden von George Orwell 34 oder auch von Czeslaw Milosz 35 .

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Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution [1918]. Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 362. Gerade diese Warnungen der Luxemburg werden sofort nach ihrem Bekanntwerden vom jungen Lukâcs deutlich kritisiert: „Ihre [Luxemburgs],Kritik 4 der Diktatur ist also keine Selbstkritik des Proletariats [...] sondern eine Zersetzungstendenz im Dienste der Bourgeoisie" (Georg Lukâcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 297). Für Lukâcs dagegen war die proletarische Diktatur so etwas wie die Praxis des Jüngsten Gerichts! - Die Luxemburg konnte sich allerdings einer Autorität wie Friedrich Engels versichern, der sichfrühzeitig gegen jene wandte, die die Revolution als „Handstreich einer kleinen revolutionären Minderzahl aufgefaßt" hatten, woraus nämlich „von selbst die Nothwendigkeit der Diktatur nach dem Gelingen (folgt): der Diktatur, wohlverstanden, nicht der ganzen revolutionären Klasse, des Proletariats, sondern der kleinen Zahl Derer, Engels, Flüchtlings-Literatur [1874]. die den Handstreich gemacht haben" (Friedrich MEGA, I. Abt., Bd. 24, Berlin 1984, S. 373). 32 Güstow Herling, Tagebuch bei Nacht geschrieben, übersetzt v. Nina Kozlowski, München/Wien 2000, S. 81; vgl. auch ibid., S. 341. 33 François Furet, Das Ende der Illusion, a.a.O.,S. 369. 34 Vgl. George Orwell, 1984 [London 1949], Zürich 1950, übersetzt v. Kurt Wagenseil, bes. 3. Teil, 3. Kap. 35 Vgl. Czeslaw Milosz, La Pensée captive [Paris 1953], dt. u. d. T.: Verführtes Denken, übersetzt v. Alfred Loepfe, Frankfurt/M. 1974, bes. S. 16-37.

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Kurz: Diese ,Neuen Wahrheiten' mumifizieren, d. h. entwirklichen schließlich auch die Erinnerungen, das Wissen und sogar die schriftlichen bzw. bildlichen Dokumente vom eigenen revolutionären Herkommen. Dass man jetzt (1936-1938) gerade zuerst die Sieger im russischen Bürgerkrieg in die Hölle schickte, hatte lügenpraktisch also durchaus einen Sinn. Waren sie es doch, die kompetent und mit großer Autorität jene zweite Lüge von der Erfindung der Sowjetunion durch den Triumvirn STALIN (neben den längst toten Lenin und Dzierzynski) hätten zurückweisen können. Die erste Lüge von der Erfindung der Sowjetunion durch die Volksmassen war seit 1927 im Umlauf - begründet, inszeniert und zelebriert durch Sergej Eisensteins Film Oktober, dessen authentische Fassimg im Übrigen auch sofort beanstandet wurde. Als Anté Ciliga, Mitbegründer der jugoslawischen Kommunistischen Partei sowie Komintern-Mitarbeiter und zwischen 1927 und 1935 in Moskau und im Gulag, im Jahre 1938 in Paris bei Gallimard seine Memoiren veröffentlicht, gibt er ihnen einen Titel, der den geistigen Zustand des Sowjetkommunismus in jener Epoche erfahrungsgesättigt zusammenfasst - „Au pays du grand mensongeu36. In den Macht- und Schreckenslügen des Stalinismus wird der Horizont der klassischen politischen Lüge weit überschritten. Schon ein ganz früh Enttäuschter des Kommunismus, Pierre Pascal, der lange an exponierter Stelle in Moskau lebte, musste wahrnehmen, „daß dieses Regime nicht nur ein geplatzter Traum, sondern eine organisierte Lüge ist." 37 Oder an anderer Stelle: „Noch nie gab es ein Regime, das derart verlogen war." 38 Die Lüge ,νοη oben' tritt jetzt aus dem Dunkel des Geheimnisses heraus, es beginnt eine neuartige, abseitige Verschmelzung von Öffentlichkeit und Lüge. Dieser Mechanismus ist ein paar Jahre nach dem Großen Terror erstmals beschrieben worden von Alexandre Koyré, im Jahre 1943. Die Überwältigung des Common Sense durch die terrorgestützte Macht-Lüge bezeichnete Koyré als „Verschwörung im vollen Lichte des Tages."39 Kann man das aber überhaupt noch, so fragt Koyré, sinnvollerweise mit dem Begriff Lüge bezeichnen? Ist nicht dies aber eben der Preis, wenn man Brüche im historischen Kontinuum organisieren will? Ist nicht diese universelle Täuschung eigentlich sinngleich mit der eben nur

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In deutscher Sprache u. d. T.: Im Land der verwirrenden Lüge, übersetzt v. Hansjürgen Wille u. Barbara Klau, Köln 1954. - Anté Ciliga wurde in der Prawda v. 21.7.1937 („Internationale der Spione") neben Ruth Fischer, Andres Nin und Lâzaro Cârdenas [der als mexikanischer Präsident 1939 Trotzki Asyl gewährte] als Trotzkist »entlarvt 4; vgl. Wadim S. Rogowin, 1937. Jahr des Terrors, übersetzt v. Hannelore Georgi u. Harald Schubärth, Essen 1998, S. 378. 37 François Furet , Das Ende der Illusion, a.a.O.,S. 158. Sowjetrussland hatte sich zum Entsetzen vieler also geradezu „als Land der Staatslüge schlechthin entpuppt" (ibid., S. 363). 38 Zit. bei François Furet , a.a.O.,S. 152. 39 Alexandre Koyré , Reflections on Lies [1943], dt. Erstdruck u. d. T.: Betrachtungen über die Lüge, in: Freibeuter (Berlin), H. 72, Juni 1997, S. 12.

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im Bolschewismus intendierten Wesensumkehr aller gesellschaftlichen Gestaltformen, mit totalem Umsturz des Bestehenden? „So scheint sich die Lüge", meinte neuerdings Furet, „auf der das sowjetische Herrschaftssystem basiert, unter dem Banner der Revolution allgemein zu verbreiten." 40 Wir bemerken hier im Bolschewismus eine exorbitant entwickelte Scheinkultur mit, wie es Max Scheler genannt hat, „dunklem Bewußtsein in einer unechten Scheinwelt, ohne Macht, durch sie hindurchzudringen und zu sehen, was ist." v / Diese Konstellation nennt Scheler „organische Verlogenheit" 42 . Auf diese Weise aber wurde mit der Vergangenheit (die es eigentlich immer bloß als Projektion der Gegenwart des Einen Führers gab!) auch die Gegenwart in jener Gesellschaft natürlich immer scheinhafter, immer virtueller. Der politische Alltag wurde gleichermaßen empfindlich wie resistent gegen historisches Nachfragen. Die Protagonisten dieser Scheinwelten waren von ihrem gesetzmäßigen unaufhaltsamen Fortschreiten felsenfest überzeugt, und doch konnte gleichzeitig ein Gedicht, ein Flugblatt, ein Bild oder ein Witz hysterische Angstanfälle bei ihnen hervorrufen. In dieser Unberechenbarkeit vegetierte jene Kultur der Imagination und Improvisation, in der sich eine umfassende Entwirklichung aller Lebens- und Denkverhältnisse vollzog, bis hin zum endlichen Kollaps. Auch diesen Zusammenhang hat Leo Trotzki, freilich auch erst wieder ,νοη außen', als Exilant, als eine innere geistige Konfiguration der bolschewistischen Gesellschaft genau beschrieben: „Die Zwangslüge durchdringt die gesamte offizielle Ideologie. Menschen denken das eine und sprechen und schreiben ein anderes. Da die Kluft zwischen Wort und Tat immer mehr wächst, müssen die heiligsten Formeln fast jedes Jahr revidiert werden [...] Lüge und Fälschung sind somit kein zufälliges Kampfmittel gegen politische Gegner, sondern sie ergeben sich organisch aus [...] der Sowjetgesellschaft." 43 Eine lange (noch bei Koyré) unbeachtet gebliebene Pointe jenes Mechanismus der Lüge als mentaler Betriebsform jener Erlösungsgesellschaften war es, dass sich dieser Prozess ab einer bestimmten Stufe gewissermaßen ,subjektfrei' vollzog, d. h., niemand war oder ist noch Herr der Lüge. Jean-Paul Sartre hat diese Konstellation einmal zutreffend beschrieben: „Und glauben wir nur nicht, daß die leitenden Männer die Wahrheit kannten und verbargen: Die Wahrheit existierte ganz einfach nicht, und niemand verfügte über die Mittel, ihr auf die Beine zu helfen." 44

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François Furet, Das Ende der Illusion, a.a.O.,S. 469. Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, Bern 1955, S.51. 42 Ibid., S. 67. 43 Leo D. Trotzki, Stalins Verbrechen [1937], übersetzt v. Alexandra Pfemfert, Berlin 1990, S. 48 f. 44 Jean-Paul Sartre, Der Sozialismus, der aus der Kälte kam, ders., Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1950-1973, hg. von Vincent v. Wroblewsky, [Gesammelte Werke in Einzelausgaben; Politische Schriften, Bd. 6], Reinbek b. Hamburg 41

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Dieser Mechanismus der Selbsttäuschung ist es, der wesentlich sowohl zur mentalen , Technik' des Überstehens (beim Einzelnen) gehört wie eben aber auch - als kollektives Klima in jenen Gesellschaften - dazu führt, den Terror gegen seinesgleichen ungebremst, ohne schlechtes Gewissen, uferlos zu exekutieren. Es ist diese „Arbeit der self-deception eine kollektive Arbeit und wird von einem ganzen Ensemble von sozialen Hilfsinstitutionen getragen, deren erste und mächtigste die Sprache ist." 45 Der bedeutende russische Altphilologe Dimitri Lichatschow hat unlängst beschrieben, wie er - Anfang der Dreißiger - diesen Kommunikationsmechanismus im Alltag der Lüge und Täuschung auch außerhalb der Gulag-Zäune wahrgenommen hat: „Eine Dame in unserem Verlag meinte:, Wenn morgen die Isaak-Kathedrale [in Leningrad] nicht mehr an ihrem Platz steht, werden alle so tun, als sei nichts geschehen'. Und das stimmte! Niemand hat sich [zum Verschwinden anderer] irgendwie geäußert." 46 Auch in einem der klassischen fiktionalen russischen Texte zum Bolschewismus wird diese Täuschungsoptik namhaft gemacht. Boris Pasternak beschrieb sie als „den revolutionären Aberwitz der Epoche: In ihren Gedanken waren die Menschen anders als in ihren Worten und in ihren äußeren Erscheinungen. Niemand hatte ein reines Gewissen. Jeder konnte sich begründetermaßen schuldig fühlen, als heimlicher Verbrecher, als nicht entlarvter Betrüger. [...] Die Menschen phantasierten, beschuldigten sich nicht nur aus Angst, sondern auch aus einer zerstörerischen, krankhaften Neigung, freiwillig, in einem Zustand [...] leidenschaftlicher Selbstzerfleischung." 47 - Im Übrigen eine mentale Disposition der russischen Massen, über die man sich schon im 19. Jahrhundert von Puschkin hätte belehren lassen können: „Gott behüte uns vor einem wirklichen Aufstand des russischen Volkes, der Vernunft- und erbarmungslos verlaufen müsste."48 III.

Wie übersteht man diese Gegen-Welt des Schreckens und der Lüge? Durch Verweigern? Mitmachen? Protestieren? Intrigieren? Exilieren? Ob man an der Großen Lüge mitwirkte oder ob man an ihr litt - es gab keine kalkulierbare Weise,

1995, S. 368. Und: „Diese konfektionierten Menschen verkehrten untereinander nur durch die Vermittlung des dem Menschen entgegengesetzten anderen" (ibid., S. 363 f). 45 Pierre Bourdieu , Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, übersetzt v. Hella Beister, Frankfurt/M. 1998, S. 194. 46 Dimitri S. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika, übersetzt v. Thomas Wiedling, Ostfildern v. Stuttgart 1997, S. 237. 47 Boris Pasternak, Doktor Schiwago, a.a.O.,S. 626. 48 Zit. bei Ilja Britan, Die russische Staatsidee und der Bolschewismus, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, hg. v. Walter Strich, 3. Bd., München 1924, S. 163. Vgl. auch: L. Sosnowski, Warum Lenin Puschkin liebte, in: Arbeiter-Literatur 1 (1924), H. 9, S. 545 ff.

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dem zu entkommen, keinerlei Gewähr fürs Überleben. Als man Ilja Ehrenburg einmal fragte, wie es komme, dass er, der Jude, Kosmopolit, der lieber im Pariser Bistrot als in der Moskauer ,Kommunalka4 lebte, ein Freund Bucharins, den Großen Terror überlebt hat, viele der jungen Wölfe 4 Stalins aber nicht, da konnte er nur die Achsel zucken - Zufall [...]. 4 9 Wie aber wäre dies nun zu erklären? - Ein neuerdings erhobener alberner Ton in der (deutschen) Kommunismusforschung rekurriert als, Erklärung 4 auf „zynisches Mordverlangen 4450 ; mit solchem kriminologischen Kitsch käme man wohl nicht einmal einem Fritz Haarmann auf die Spur, geschweige denn jenen weltgeschichtlichen politischen Verbrechen. Auch die schlichte Erklärung: Kommunismus ist eben bloß anders ,gefärbter 4 Nazismus, beide sind totalitäre Gewaltformen, klärt über beide fast nichts. Es wird da also eine Totalitarismus-Theorie kaum weiterhelfen, die sich um einen vereinheitlichbaren Begriff von Diktatur bemühte. Weder eine strukturelle 4 (Hannah Arendt) noch eine ,historisch-genetische4 (Ernst Nolte) Variante. Denn deren Begriffe und Methoden müssen (und wollen) die höchst unterschiedlichen historischen, empirischen und kulturellen Sachverhalte in den totalitären Gesellschaften auf Vergleichbares reduzieren. Dabei bleiben häufig nur ein paar augenfällige Übereinstimmungen in der ,Ästhetik4 und dem Gepränge der Macht übrig - Aufmärsche, Propagandageschrei, Gemeinschaftstümelei etc.; es wäre ein wenig so, als würde man einen ,Panje-Wagen4 und einen ,Daimler 4 als Fahrzeuge aufeinander reduzieren wollen. Wenn ein Zugewinn an Erkenntnissen über die je unterschiedlichen inneren Formen jener Gewaltherrschaften zu machen wäre, dann wohl nur unter Berücksichtigung des Diktums von Helmut Fleischer: „Jeder Totalitarismus ist singular. 4451 Gelänge es allerdings, das Verstehen beider Diktaturen auf das Problem der Selbsterhaltung des Einzelnen zu fokussieren, würden viele Unvergleichbarkeiten deutlich. Der Einzelne nämlich hat es im Stalinismus z. B. mit ungleich unverlässlicheren Institutionen (etwa in Betrieb, Verwaltung, Partei, Recht oder Militär) zu tun als in jeder anderen Diktatur. Egal, ob man parteiloser Arbeiter, General, Bauer, Rückkehrer, Professor, Polarflieger oder Volkskommissar für Inneres wäre, es gab im Stalinismus keine kalkulierbare Lebens- oder Berufsform, mit der man sich vor dem gewaltsamen Tod (verursacht durch die eigenen ,Gleichgesinnten4) hätte bevorzugt schützen können. Der Staatsterror hier war spätestens seit Stalins (innerparteilichem) Triumph 1934 - dem ,Jahr der Sieger4 - längst nicht mehr an soziologischen ,Klassen4Kriterien orientiert, sondern wütete nun übergreifend zwischen allen Schichten

49

Vgl. Ilja Ehrenburg, Menschen, Jahre, Leben. Memoiren, Bd. 2, Berlin 1978, S. 462. Stéphane Courtois u. a., Le livre noir du communisme, deutsche Ausgabe, München/Zürich 1998, S. 834. 51 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 22. April 1998. 50

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jener unglücklichen Gesellschaft, in allen Berufen und Regionen, bei Privilegierten ebenso wie bei entlegenen sibirischen Ethnien, bei Siegern wie Besiegten im Bürgerkrieg, unter den ,Erbauern des Kommunismus4 ebenso wie natürlich unter Abtrünnigen. Gerade in der Zeit des Großen Terrors wurden hier Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, Improvisationen und ein unübersehbares Täuschungschaos offenbar, von dem man nichts weiß, wenn man alles über die Justiz- und Verwaltungsformen in Nazi-Deutschland (besonders vor dem Krieg) wüsste. Das, was beispielsweise Roland Freister bei seinem offiziellen Besuch des ersten Moskauer Schauprozesses 1936 hätte lernen können, war schlechterdings auf die zeitgleiche Prozesskultur im nationalsozialistischen Deutschland nicht anwendbar - weniger aus mentalen Gründen (der hatte sicherlich die gleiche kriminelle Energie wie Wyschinskij) als vielmehr aus Gründen einer völlig anderen, nämlich weitgehend noch - mit Ausnahme des Parlamentarismus - intakten und (von den Deutschen!) mehrheitlich freiwillig und als selbstverständlich akzeptierten autoritär-bürgerlichen Herrschaftsform, eines Lebens (für Deutsche!) in obrigkeitsstaatlicher Normalität und Sekurität (und selbst dort, wo seit der Kaiserzeit die preußische Gefängnisordnung galt, wurde der -deutsche! - Gefangene, anders als im KZ, als bürgerliche Person behandelt. Der Nazijurist Freister hätte niemals (wie in Moskau 1936/1938 geschehen) in Friedenszeiten die staats- und ideologietragende Militär-, Partei- oder Diplomatenelite des ,Dritten Reichs' wie „tollwütige Hunde allesamt erschießen" 52 lassen können. Und umgekehrt fänden die Schrecken der rassistischen, xenophobischen Auslöschungsexzesse des deutschen Nationalsozialismus (allen voran gegen Juden, Slawen und Zigeuner) keine hinreichende Erklärung, wenn man die Gründe und Formen des ,Klassenkampfes 4 (exemplarisch gegen die »Kulaken4), die der Stalinismus aufbot, zum Verstehen etwa von Auschwitz heranzöge. Das Konzept des Totalitarismus erlaube zwar, so betonte neulich François Furet zutreffend, „zu vergleichen, was vergleichbar ist, aber es reicht nicht aus 4453 , weder was die Ursprünge, die Verläufe noch vor allem was den Alltag beider betrifft. Dass es dort um den Kampf gegen Rassen, hier um den Kampf gegen Klassen ging, macht beide Diktaturen nicht schon symmetrisch. Die Judenfrage als Rassenproblem zu lösen, das hieß schon in jenen »Theorien4: die Juden zu exterminieren; aber die Kulaken als Klasse zu beseitigen, das hieß nach der Lehre von Lenin und Stalin: die Kulaken zu expropriieren. Der Unterschied ist zunächst immerhin der zwischen Tod und Leben.

52 53

Andreij Wyschinski,

Gerichtsreden, Berlin 1951, S. 543.

François Fur et/Ernst Nolte, »Feindliche Nähe4. Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel, München 1998, S. 33.

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Jedoch: Die stalinistische Gewalt-Kampagne, die Bauern in kürzester Zeit und massenhaft von ihrem Eigentum zu trennen, hatte allerdings unter Sowjetbedingangen sofort einen Verwaltungs-, Verkehrs- und Ernährungskollaps zur Folge, der von ,oben' her kaum noch zu beherrschen war; da kam auch der Bremsversuch von Stalin - „des Sowjetvolkes großer Ernteleiter" 54 - mit seinem Appell Vor Erfolgen von Schwindel befallen 55 von 1930 zu spät. Die grauenhafte Folge mit Millionen von Hungertoten (Anfang der Dreißiger) hatte natürlich das ganze Land zu tragen und nicht etwa ,nur' die Zielgruppe der Enteigneten. Dieser Vorgang eines im Grunde genommen , inneren' Bürgerkriegszustandes ist im Ganzen von den Gründen, Umständen und Ausmaßen her in keiner Weise kopiegleich mit dem gezielten Verhungernlassen jüdischer Ghettos in den von Deutschland besetzten fremden Ostgebieten (zu Beginn der Vierziger). Zumal jene verhängnisvollen politischen Entscheidungen in der Sowjetunion gegen die Bauern von damals das ganze Land seither (nicht nur in Kriegszeiten) in einen anhaltenden Zustand universeller Mangelversorgung, regional auch schon immer wieder einmal an die Grenze des Hungers, gebracht haben. Diese Umstände chronischer Unterversorgung - versprochen worden sind Äpfel, ausgeblieben ist Brot 36 - hielten an bis zum Ende des Kommunismus und trafen auf fast alle Länder des Kommunismus zu. Das Verhungernlassen der Juden in den Ghettos hatte dagegen keinerlei Versorgungsauswirkungen auf das Nazi-Reich, die Grenze zwischen hungrig und satt war immer die Grenze des Ghettos. Allerdings: Eine hinreichende prinzipielle Erklärung des Warums jenes kommunistischen Leviathanismus bleibt noch immer aus. Weder Merleau-Pontys geschichtsphilosophischer Hinweis (1946) auf die „Vorstellung einer dialektischen Geschichte"57 noch ein halbes Jahrhundert später Courtois' Beschreibung (1997) der „typisch russischen Dimension" 58 jener formidablen Henker erfasst auch nur annähernd die Gründe dieses Zivilisationsbruchs. IV. Es bleibt die Frage: Ist das Den-Kommunismus-Denken immer noch eine Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens im Horizont des Wünschenswerten auch angesichts seiner praktischen Unmöglichkeit? Von allem Anfang an wissen wir doch, u. a. seit Maxim Gorki, Dimitri Gawronsky, Pierre Pascal, Sergeij Melgunow, Boris Souvarine, Victor Serge bis hin zu

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Bertolt Brecht, Die Erziehung der Hirse, Vers 20, Berlin/Leipzig 1951, S. 12. Vgl. Josef W. Stalin, Werke, Bd. 12, Berlin 1954, S. 168 ff. 56 Bertolt Brecht, Die Gewichte auf der Waage, in: Ders., Werke, hg. v. Werner Hecht u.a., Berliner & Frankfurter Ausgabe, Bd. 15 (Gedichte 5), Frankfurt/M. 1993, S. 302. 57 Maurice Merleau-Ponty, Humanismus und Terror, übersetzt v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 1990, S. 66. 58 Stéphane Courtois, Das Schwarzbuch, a.a.O.,S. 823. 55

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Alexander Solschenizyn, dass die Neue Sowjetwelt keine rechtsgestützte Zivilgesellschaft war, sondern die Ordnung einer Strafkolonie hatte, mit erbarmungslosem Terror, paramilitärischer Zwangsarbeit und einer gewaltbereiten Besserungsmanie. Das Erschrecken, den Kommunismus zu denken, macht sich wohl breit bei der Ahnung, dass seine pathogenen Passionen nicht bloß üble und übliche Begleitumstände bei der Geburt von etwas ,Neuem' sein werden, gleichermaßen fruchtbares wie furchtbares Chaos, sondern dass seine Konstruktionsidee, die Idee des Kommunismus selbst von allem Anfang an falsch sein könnte. Dass womöglich Verbrechen als Verkehrsform der kommunistischen Lösung der sozialen Frage zu begreifen wären; nämlich als die immer währende, alltägliche empirische Negation aller zivilgesellschaftlichen Konventionen, ohne die es eben niemals auch nur kurzfristig gelingen könnte, das (marktunfähige) Gemeineigentum als Lebensform vorzuschreiben. Es wäre der Terror des Bolschewismus also die erste, bald ständige Erfahrung des Scheiterns der alten Idee des Politischen als der Kunst des Möglichen und des Scheiterns des modernen Projekts von Gesellschaft als einer formal-rechtlich verfassten Assoziation von austauschenden Individuen. Wenn es denn überhaupt nur ein Scheitern war und nicht vielmehr eben in der Absicht lag, genau jenes kulturell ,Ganz Andere' mit ganz anderen Mitteln zu realisieren! An die Stelle des Politischen (als machbar Gegenwärtigem) jedenfalls tritt die Engführung des Blicks aufs allein Künftige (weit über das Morgen hinaus), also: Das Utopische substituiert das Politische und die ,Gemeinschaft' die »Gesellschaft'. Dies allerdings ist ein übergreifendes Motiv aller radikalen, erlösenden Kapitalismuskritik. Jene ,soteriologischen' Zivilisationskritiker monieren auch heute gelegentlich die vermeintliche Begriffsverwirrung bei den Kritikern des Kommunismus. Bei denen gingen Kommunismus, marxsche Theorie, MarxismusLeninismus, Bolschewismus absichtsvoll durcheinander bzw. würden als Synonyme behandelt. Man solle aber doch gefälligst das Theorie-Programm von der revolutionären Praxis deutlich abheben. Ein Begehren allerdings, das den schon ursprünglichen Anspruch der Marx-Engels-Theorie deutlich zu reduzieren geeignet ist. Denn: Im Selbstverständnis der originär marxschen Theorie will sich diese Theorie, gerade anders als jede andere Theorieform vorher, immer mit der revolutionären Praxis - gefasst als eingreifendes Denken - verkoppelt wissen. Diese Theorie kann demzufolge auch rechtens als Bedingung und Konsequenz des umstürzenden Handelns geprüft werden. Dies war nicht nur ihren Selbstauskünften zu entnehmen. Als der geistig sehr integre Harry Graf Kessler ganz früh schon einmal (in einer Diskussion im Berliner Auswärtigen Amt am 16. Nov. 1918) einer allzu verständnislosen Kritik am Bolschewismus - er sei ohne jede Idee und Bedeutung - entgegentrat, da wollte er dessen „Zertrümmerungstheorie im Gegenteil auf eine Grundanschauung von Karl Marx und eine Tendenz der ganzen modernen intellek-

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tuellen Welt zurückführen." 59 Kurz: Es ist diese revolutionierende Theorie also doch wohl auch in irgendeiner Weise für die dann revolutionierte Praxis zuständig und namhaft zu machen; das wollte sie immer auch selbst, wenn es um ihre Erfolge' ging, sollte nun aber auch hinsichtlich ihrer ,Verfehlungen 4 gelten dürfen. Ganz so, wie Dimitri Lichatschow noch unlängst in seinen Erinnerungen vermutete, nämlich „daß die Organisation der Lager jedoch eine direkte Folge des aggressiven ideologischen Schemas des Marxismus sei (oder dessen, was für Marxismus gehalten wurde)." 60 Die ursprüngliche Marx-Engels-Theorie und ihre Weiterentwicklungen (in verschiedene Staats-, Partei- oder Ökonomietheorien) sind doch nicht zu verstehen als gewissermaßen platonischer Ideenbestand, der, was immer auch ,unten' in der Wirklichkeit passiert, als Idee rein bleibt. Es verbieten sich deshalb natürlich auch alle (vor allem nach 1990 politisch motivierten) Nahrückungen der Marx-EngelsTheorie an - man rieb sich ungläubig die Augen - religiöse Texte wie die Bergpredigt, die auch nicht durch die blutige Kirchen- und Religionsgeschichte zu blamieren seien. „Kaum sind die Priester mit ihrem Märchen vom Paradies am Ende", so hat Stanislaw Lee diese Ideenkonvertierung im jüngsten Zeitenwechsel einmal kommentiert, „schon fangen die Marxisten damit wieder von vorn an." 61 Man vergaß hierbei ganz die eine Folgelast, die beim Abwerfen aller Transzendenz dennoch bleibt, dass nämlich denen, die die Aufhebung aller Entfremdung, das Heil als irdische, zeitliche, praktische Aufgabe (d. i. als Revolution) und nicht als spirituelle Aufgabe (im Glauben) sich aufgegeben hatten, alle Verfehlungen und Fehler zu diesem Ziel als additive Last hier auf Erden aufgebürdet bleiben. Die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie und ihrer Schreckenspraxis muss allerdings ein Phänomen in Rechnung stellen, das die Wirkungsgeschichte moderner geistiger Strömungen schlechthin zu kennzeichnen scheint: die Wandlungen, Richtungsänderungen, ja Verkehrungen ihrer ursprünglichen Intentionen und Inhalte; ihre Metamorphose in - dann auch wortwörtlich (Tot-)Schlagworte.

Dieser Vorgang ist in der Geschichte des Kommunismus auf die Spitze getrieben worden. In den diversen Versuchen der praktisch-politischen Machtbehauptung des real existierenden Sozialismus wurde die marxsche Kritik der Politischen Ökonomie bloß noch als Zitatenpool benutzt. Aus einer Emanzipationsidee, die sehr im Wesen unserer westlichen Kultur steht und eine demokratische Kraft fü sich hat (Ignatio Soleto), wird im 20. Jahrhundert ein ideologisches Formierungsinstrument für eine antiwestliche, d. h. antidemokratische und innovationsfeindliche, gegenmoderne Bewegung.

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Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937 [Eintrag v. 4. Febr. 1919], hg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt/M. 1982, S. 119. 60 DimitrijS. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika, a.a.O.,S. 148. 61 Stanislaw J. Lee, Alle unfrisierten Gedanken, München 1991, S. 277.

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Die ganz unterschiedlichen Revolutionäre unseres Jahrhunderts verbindet geistig und kulturell sicher nur wenig mit dem frühen Kommunismus, aber sie sind alle doch »Kommunisten4 in dem einzigen Sinne, dass sie nämlich die sog. soziale Frage radikal zu lösen gedenken unter der Bedingung der Aufhebung des Privateigentums zugunsten des Gemeineigentums. Dies aber ist die kommunistische Option beim Lösen der sozialen Frage. Das setzte allerdings, wenn es überhaupt je lebensfreundlich funktionieren sollte, eine weltrevolutionäre Idee und Praxis voraus. Also: Den Aufbau des Sozialismus/Kommunismus betreiben zu wollen unter der (wenn auch erzwungenen) Hinnahme des Weiterwirkens eines immer moderneren weltmarktwirtschaftlichen Austausches im »Rest' der Welt, also die Idee des Sozialismus in einem Lande (Stalin), also einen Nationalsozialismus (so Trotzki über Stalin!) aufzubauen, war unter den historischen Konstellationen nach dem Ersten Weltkrieg - tragischerweise - genauso (theoretisch) absurd wie (praktisch) unausweichlich. Wie da jetzt in Russland die kommunistische Lösung der sozialen (und nationalen!) Frage in Angriff genommen wurde, das gehört zum Wandlungs- und Entstehungsprozess des realen Kommunismus und ist nicht etwa bloß eine mentale (oder kriminelle) Schwäche seiner Exekutoren. Das man hier etwas - aus Menschenliebe! - unternahm, und zwar von vornherein (d. h. vom originären Marx her gedacht!) ohne Hoffnung auf Erfolg, das gehört zur Tragik jener Weltverbesserer und erklärt ein wenig ihre schreckliche Rat- und Erfolglosigkeit. Lenin schien etwas davon geahnt zu haben (erinnert sei an seine ständigen nutzlosen Warnungen vor der Sowjetbürokratie); sein letzter Auftritt in einem Sowjetkongress (am 19. Nov. 1922) erschöpfte sich am Ende in einem irren Lachen.62 Die Notwendigkeit, die nun für die Menschen neu anbrechende Leidenswelt des alltäglichen ökonomischen und kulturellen Scheiterns der Befreiung durch eine alltägliche Lügenwelt zu überdecken, gehört seither zur Alltagsarbeit jedes sich sozial alternativ zum Kapitalismus verstehenden Gesellschaftsversuchs - vom Kriegs- und »Steinzeit'-Kommunismus eurasischer Prägung über den Realsozialismus bis hin zu den heutigen nah-mittelöstlichen Theokratien. Kommunismus als übergreifenden Begriff zu verwenden für so unterschiedliche (und sich auch politisch bekämpfende) politische Strömungen wie Bolschewismus, Polpotismus, Maoismus, Titoismus, »Resozismus' oder »Leuchtender Pfad' ist erlaubt aus dem einen Grund: Es geht allen um eine Lösung der sozialen Frage unter der Voraussetzung der Negation des Privateigentums. Diese kommunistisch zu nennende Fluchtlinie ins Gemeineigentum aber hat eben immer die Abschaffung der Gesellschaft (als einer auf juristisch gestützten Austausch von Individuen begründeten Lebensform) zugunsten der Gemeinschaft (als einer auf Verteilung beruhenden Lebensform) zur Folge.

62 Vgl. Ivan V. Pouzyna , Lénine ,le Grand' - l'homme, sa doctrine, son action, Paris 1950, S. 87 f.

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Diese Abschaffung der (Markt-)Gesellschaft aber ist das, was man kommunistischerseits die Beendigung der Vorgeschichte der Menschheit genannt und betrieben hat. Die Verlaufsformen dieser Radikalen Gesellschaftskritik sind, schon weil sich viele der,alten Adame4 wehren werden, genuin mit Taten verbunden, die wir herkömmlich als Verbrechen gegen Sachen, Leib und Leben bezeichnen dürfen. Die Klage (und das Leiden) angesichts der jüngsten Hinweise auf die - unfassbaren - Verbrechen des Kommunismus ist bei den Gebildeten unter seinen Anhängern natürlich emotional verständlich. Wird man uns, befürchten sie, die wir gerade auch heute angesichts einer schreiend ungerechten Welt radikale soziale Alternativen ermöglichen wollen, mit Hinweis auf Verbrechen jener blutigen Befreier von einst nun auch Verbrecher nennen dürfen? Das wird zumal im politischen Gerangel umständehalber gewiss geschehen, wäre aber vergleichsweise doch praktisch folge- und belanglos. Es gibt im Übrigen, und das müssen jene ertragen lernen, mindestens seit der Französischen Revolution kein Recht auf Revolution. Nur durch einigermaßen sichtbar zivilisierte (Rechts-)Folgen wäre sie praktischgeistig zu rechtfertigen. Nun sollte allerdings das bis heute verbreitete vegetative Wachhalten des Programms jener sog. sozialen ,Befreiung' gar nicht, gewissermaßen nebenbei, zum kognitiven Abusus beim Erinnern an jene gigantischen Bluttaten des ,Befreiens' führen. Und es sollte auch nicht - wie es allerdings Stephane Courtois seit der Veröffentlichung des Livre noir du communisme gerade in Deutschland erleiden muss - zur intellektuellen Diskreditierung derer führen, die sich der deprimierenden Erinnerungsarbeit stellen. Gänzlich,schief wäre schließlich jede »eindämmende', »historisierende' Argumentation seitens der Freunde des Verewigten (Kommunismus), das ganze Unternehmen der Kommunismuskritik mit einem Hinweis auf die weltweiten Toten des kolonialen, imperialen und globalen Kapitalismus überhaupt infrage stellen zu wollen. Dass viele nun auf jene Verbrechen verweisen werden, ist eben leider kein entlastender Hinweis für den Kommunismus. Denn der Kommunismus wollte doch nicht etwa bloß die zweitschlechteste,,zweitblutigste' Menschenordnung sein, sondern eben alle menschengemachte Menschenfeindlichkeit von ehedem gerade vernünftig überwinden. Was dort zur Kapitallogik und zur Profitmacherei gehören mag, könnte hier doch nur zynisch in Anschlag gebracht werden - wo gehobelt wird, fallen Späne. Die Marktwirtschaften - wenn jeder für sich gut sorgt, ist schon gut für alle gesorgt - wollten im Übrigen auch nie die soziale Ungerechtigkeit beseitigen, sondern sie erträglich, lebbar machen, also mildern. Gerade mit diesen ,halben Sachen' aber konnten sich Kommunisten aller Länder nie abfinden. Lieber war man doch Totengräber der alten Ordnung, als ,Arzt am Krankenbett des Kapitalismus'. Die Anklage gegen den Kommunismus ist also spezifischerweise wegen seiner Differenz - und seiner Lüge! - von Programmatik und Praxis so durchdringend, zutreffend und notwendig. Die gute Absicht für sich sei dieser sozialen Bewegung allemal geschenkt.

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Was aber bleibt übrig? Es bleibt als eine praktische massenhafte Erfahrung des Menschengeschlechts eine grauenvolle Bilanz jener Großen Revolution, die menschliche und materielle Zerstörungen ebenso umfasst wie eine anhaltende Verwahrlosung des moralischen Bewußtseins. So dass, in den Worten Immanuel Kants, „ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmal unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde", denn: Wollte der etwa noch einmal, wie noch Immanuel Kant von der Französischen Revolution vielleicht vermuten konnte, wieder auf eine „moralische Anlage im Menschengeschlecht"63 abheben? Hier dürfte doch inzwischen jeder, Dispositionskredit 4 für Diskontinuitätsprojekte überzogen sein. Wenn nach Auschwitz noch nicht einmal mehr ein Gedicht sollte möglich sein, so sei dann nach dem Gulag aber trotz alledem immer wieder eine Revolution zu denken? Das kann doch zumindest nicht selbstverständlich sein! Eine radikal apologetische Fraktion der Freunde des Verewigten bestreitet immer wieder jedes Kritikbegehren am Kommunismus mit dem Hinweis, es habe ihn doch noch gar nicht gegeben. - Hat es also noch nie einen »Kommunismus4 gegeben? - Nun, dabei sollten wir es auch belassen!

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Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, hg. v. Steffen Dietzsch, Leipzig 1992, S. 84.

Zukunft durch Verspätung Helmuth Plessners Vision eines deutschen Beitrages zum politischen Humanismus Westeuropas Von Kai Haucke Im Vergleich zu den anderen alten westlichen Nationen ist Deutschlands Anderssein kaum sinnfälliger ausgedrückt worden als durch Helmuth Plessners Formulierung von der verspäteten Nation.1 Die geschichtlichen Fakten sind geläufig: Verwüstet durch den dreißigjährigen Krieg, danach zersplittert in viele Kleinstaaten, gelingt erst Ende des 19. Jahrhunderts die Gründung eines Nationalstaates - und dies auch nur halbwegs: nur als eine kleindeutsche Variante, die ein schlechter Kompromiss mit der alten Reichstradition ist und sich dem modernen Nationalstaatsmodell nicht fügen will; zudem eine Staatsbildung, von der Plessner sagt, sie sei ohne eine politische und ethische Idee erfolgt, die mehr enthält als bloße machtpolitische Selbstbehauptung: „Das neue Reich appellierte nicht wie Frankreich und England an die Phantasie der Völker, an ihre Zukunftserwartung, ihren Menschheitsglauben. Es diente keinem werbenden Gedanken. Es stand für nichts, von dem es überragt wurde." (VN, 47) Nach verlorenem Krieg schreiben die Westmächte in Versailles Deutschlands Anderssein fest. Und Hitler schließlich liefert den Beweis, dass der so genannte deutsche Sonderweg ins Verderben führt. Plessners 1935 erstmals erschienene Deutschlandstudie sucht rückblickend zu verstehen, warum der Nationalsozialismus erfolgreich sein konnte, warum es Deutschland nicht gelang, zu einer eigenen, auch andere anziehenden politischen Idee zu finden, mit der ein Anschluss an den politischen Humanismus des Westens möglich gewesen wäre: ein Nach- und Aufholen, eine Verwandlung der Verspätung in Normalität. Insofern ist dieses Buch vor allem eine Diagnose des deutschen Andersseins, der deutschen „Misere", geschrieben im Exil, Abschied nehmend in dem Bewusstsein, dass durch den Nationalsozialismus in Deutschland die „bürgerliche Epoche" am

1 H. Plessner , Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1959), Frankfurt/Main 1974, im Folgenden abgekürzt durch VN. Erstauflage unter dem Titel: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich und Leipzig 1935. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Ausgabe von 1974.

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Ende ist. Es ist getragen von einer fast kühlen Distanz, aus der heraus die faktische geschichtliche Situation anerkannt wird. Aber es zeichnet keinen Automatismus nach: Es ist so gekommen, hätte aber anders sein und werden können. Auch in der Betrachtung post festum bleibt für Plessner Geschichte ein offener Prozess; und eben diese Geschichte, so heißt es noch 1931, fällt kein Urteil ohne Revisionsmöglichkeit.2 Das Signum einer verspäteten Nation ist für Plessner kein fatales Zeichen, wenn es auch dem „deutschen Geist" schicksalhafte Züge einprägt. In Plessners Deutschlandstudie ist vielmehr eine politische und ethische Vision spürbar, eine Hoffnung, die sich mit Deutschland verbindet, auch wenn nunmehr, ab 1933, ihre Verwirklichung unmöglich geworden ist. Diese Vorstellung von einer politischen und ethischen Idee, die dem Deutschen Reich von 1871 wie der Weimarer Republik gefehlt hat und deren Abwesenheit den Nationalsozialismus mit ermöglichte - eine solche Vorstellung ist in dieser Schrift hintergründig präsent, zeigt sich vor allem in der Ambivalenz, mit der Plessner von einer „verspäteten Nation" spricht. Zweifellos ist Deutschland im Verzug, gemessen an einer scheinbar gültigen Norm, dem Standard der westlichen Nationen, dem es zu genügen gilt. Und dieser Rückstand ist ein Mangel - weniger technologisch, ökonomisch und militärisch als politisch und ethisch. Deutschland, dem die Verankerung in der Frühaufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts fehlt, muss an die Traditionen des politischen Humanismus Westeuropas Anschluss finden. Und zwar aus eigenem, nationalem Interesse: „Ein großes Volk kann nicht gegen eine Koalition von Weltmächten, deren Basis im 17. und 18. Jahrhundert liegt, mit dem Argument seiner puren Existenz sich durchsetzen." (VN, 49) Aber Verspätung hat zudem einen eminent positiven Sinn. Das Unzeitgemäße im Vergleich zu den alten, saturierten westlichen Nationen bedeutet für Plessner auch jung zu sein, heißt Zukunft haben, Möglichkeiten besitzen, die noch unausgeschöpft sind und von den anderen kaum mehr wahrgenommen werden. Zu diesem Jungsein gehört eine Vielfalt einander widerstreitender Traditionen, die unausgegoren sind, noch keine Eintracht, keinen Ausgleich gefunden haben und Deutschland im frühen 20. Jahrhundert zu einer ungesicherten Nation machen, die andere bedroht; durch die es aber auch eine wertschöpfende geschichtliche Rolle spielen könnte. Nicht nur eine aufholende Anpassung an die „Normalität" Westeuropas, sondern ein möglicher Beitrag zur Erneuerung des politischen Humanismus - das ist die Vision, die man in Plessners Schriften aus den zwanziger und dreißiger Jahren

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Vgl. H. Plessner , Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: Gesammelte Schriften Bd. V, hg. von G. Dux/O. Marquard/E. Ströker, Frankfurt/Main 1981, S. 232. Im Folgenden abgekürzt durch MN.

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finden kann.3 Dies könnte der deutschen Staatsbildung eine politisch-ethische Idee geben, die über eine machtpolitische Selbstbehauptung hinaus ginge, damit Deutschland zu einer gleichberechtigten Nation neben anderen werden kann. In einer bloßen Anpassung an die westlichen Nationen kann eine solche Idee nicht aufgehen. Die Orientierung Deutschlands an den Werten der westeuropäischen Zivilisation ist notwendig, aber nicht ausreichend. Eine solche Idee darf sich, will sie die Deutschen national integrieren, nicht allein äußeren Maßstäben verdanken, sondern muss aus eigenen Traditionsbeständen heraus einen Zugang zu den zivilisatorischen Potentialen Westeuropas eröffnen - schon daher, weil nach 1918 die Entente-Mächte Deutschland isolieren und Ressentiments evozieren, die eine unmittelbare Hinwendung an Westeuropa erschweren. Aber die Besinnung auf eigene zivilisatorische Möglichkeiten ist nicht nur aufgrund solcher pragmatischer Überlegungen geboten. Man gewinnt nicht die Achtung anderer Nationen, wenn man sie bloß nachahmt, ihr Modell aufnimmt. Man versichert sich so vielleicht ihrer Akzeptanz. Bewunderung und Respekt erwirbt man sich auf diese Weise kaum. Ein „Volk unter Völkern" kann „nur soweit notwendig sein, als es sich nötig und notwendig macht" (MN, 232) insofern es einer ethischen Idee folgt, die auf andere ausstrahlt, sie anzieht; einer Idee, die im Wettstreit der Nationen die eigene Besonderheit in ihrer Bedeutung für andere erfahrbar werden lässt. Und ein weiterer Grund verhindert einen umstandslosen Rückgriff auf den politischen Humanismus Westeuropas. Es ist nicht allein die politische Situation nach 1918, nicht nur die geschichtliche Verzögerung Deutschlands, die hier ein Anknüpfen hemmen. Eine unbefangene Wiederholung des vertragstheoretisch und naturrechtlich begründeten politischen Humanismus des 17. und 18. Jahrhunderts ist nach der Entdeckung der Geschichtlichkeit im 19. Jahrhundert kaum mehr möglich. Historismus und in seiner Folge der Relativismus entziehen diesem Humanismus seine Legitimation, lassen die „Normalität" westeuropäischer Standards zum status quo einer vergangenen Epoche werden. Und durch die Fortschritte der Erfahrungswissenschaften, in denen der Mensch zunehmend zu einem wissenschaftlichen Objekt neben anderen wird, werden Ideen wie Freiheit, Menschenrechte, Würde fraglich. Sie geraten unter Ideologieverdacht. Einer bestimmten Zeit und Kultur entsprungen, büßen sie an Geltungskraft ein, wird ihr Anspruch auf Universalität als relativ und partikular sichtbar, erfahrungswissenschaftlich durch nichts zu rechtfertigen. Eine paradoxe Dynamik beginnt sich abzuzeichnen, die nach einer erneuernden Aufnahme des politischen Humanismus verlangt und eine bloße Adaption nicht zulässt. Einerseits verdanken Mathematik und Physik ihre Erfolge der „Anwen-

3 Eine detaillierte Darstellung der Entwicklung von Plessners Deutschlandvision gibt K. Schüßler, Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie, Berlin/Wien 2000, S. 117-160.

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dung des Prinzips der Menschenwürde auf ihr eigenes Verfahren." (MN, 178/79) Aber dieser die neuzeitliche Erfahrungswissenschaft ermöglichende Anthropozentrismus, in dem der Mensch sich von der Natur emanzipiert, um sie zu kontrollieren, zu manipulieren und zu simulieren, widerstreitet zum anderen sich selbst. Denn: „Vertrauenswürdig ist der Mensch in diesem exaltierten Sinne nur als freies, geistiges und gottebenbildliches Wesen, das bei aller Naturgebundenheit in seinem eigentlichen Sein der Natur weder entstammt noch verpflichtet ist." 4 Und eben dieser Mensch entzieht sich der erfahrungswissenschaftlichen Sicht auf die Natur, wird von ihr vorausgesetzt und bleibt ihr verborgen. „Die Entgötterung des Lebens, im Zeichen der Erhöhung des Menschen begonnen, rächt sich an ihm, da sie im Zeichen seiner Erniedrigung endet."5 Angesichts dieser Probleme des politischen Humanismus wäre der Versuch, Deutschlands Verspätung durch eine vorbehaltlose Übernahme des westlichen Modells zu bewältigen, ein Tausch zwischen zwei Anachronismen. Dass Deutschland im Vergleich zu den etablierten europäischen Nationen politisch zu spät gekommen ist, bedeutet eben auch, dass diese Nationen veralten und ihre Vorbildfunktion zunehmend einbüßen. „Bismarcks Reich ist nicht umsonst eine Gründung des späten 19. Jahrhunderts gewesen. Die Zeichen dieser Zeit sind ihm eingeprägt, wie denn schließlich jeder Staat die führenden Gedanken der Epoche, in der er entstand, im Grundstein seines Gebäudes bewahrt. Für diese Zeit naturwissenschaftlich-historischer Spätaufklärung mit ihrer fortschrittlichen Industrieperspektive ist der Mangel eines ethisch, eines humanistisch gerechtfertigten Staatsgedankens bezeichnend. Sie zehrt günstigstenfalls von den Idealen der Frühaufklärung". (VN, 92) Die politisch-ethische Idee, die in Plessners Deutschlandstudie hintergründig präsent ist und sie motiviert, ist daher keine erhabene Vorstellung, sondern zunächst Benennung von Problemen, die es wert sind, gelöst zu werden, wenn man der humanistischen Perspektive Zukunft sichern will. Und man kann in Plessners Arbeiten zwei Aufgaben erkennen, auf die diese Idee antworten soll:

4 H. Plessner/F.JJ. Buytendijk, Tier und Mensch (1938), in: H. Plessner , PolitikAnthropologie-Philosophie. Vorträge und Aufsätze, hg. von Salvatore Giammusso/HansUlrich Lessing, München 2001, S. 144-167, S. 144. 5 Ebenda. Ohne Bezug auf Plessner, aber in seinem Sinne formuliert Kurt Bayertz dieses Paradox scharf: „Indem der Mensch sich selbst zum Gegenstand der (Natur)Wissenschaft macht, macht er sich selbst zu einem Stück Natur. Und dies betrifft ihn nicht nur äußerlich [...] Die Wissenschaft kennt keine Subjektivität und keine Spontaneität [...] Die scharfe Differenz zwischen Subjektivität und Natur, auf der der Begriff der Menschenwürde beruht, verschwindet. In einem wissenschaftlichen Bild vom Menschen ist für die Idee der Menschenwürde daher kein Platz. In seiner wissenschaftlichen Selbstinterpretation verortet der Mensch sich selbst als jenseits von Freiheit und Würde 4 .", K. Bayertz, Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 81 (1995), S. 465-481, S. 476.

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Zum einen geht es darum, Deutschland durch eine Besinnung auf spezifisch deutsche Traditionen der westlichen Zivilisation zu öffnen. Zum anderen aber ist ein solcher Anschluss nur dann ein auch für Deutschland gangbarer Weg, wenn der politische Humanismus eine Erneuerung erfährt, wenn er die Herausforderungen von Historismus wie Naturalismus zu integrieren vermag. In dem Maße, so das Versprechen, wie es Deutschland gelingt, aus seiner eigenen Tradition heraus einen Beitrag zur europäischen Zivilisation zu leisten, könnte es sein Anderssein gegenüber den alten Nationen einbringen, ohne ein bedrohlicher und unberechenbarer Sonderling zu sein. Dieses zweifache Anliegen bestimmt die Argumentationsstruktur in der Verspäten Nation. Hier skizziert Plessner einerseits jene Probleme, die sich aus der spezifisch deutschen Entwicklung ergeben haben. Politisch, so Plessner, versucht Deutschland seinen Anachronismus durch die zweifelhafte Idee des Volkes zu kompensieren; ethisch durch die Idee einer Kulturnation, die eine Alternative zur westeuropäischen Zivilisation behaupten soll (Abschnitt 1). Andererseits geht Plessner stufenweise der Legitimationskrise des politischen Humanismus nach - ein gesamteuropäisches Phänomen, das aber in Deutschland an Schärfe gewinnt und jene Atmosphäre mitbestimmt, aus der heraus hier ein rassistischer, völkischer Biologismus Resonanz gewinnen kann (Abschnitt 2). Plessners Antworten auf diese Problemlage sind in der Verspäteten Nation nur angedeutet, aber vor allem in zwei früheren Schriften von ihm ausgearbeitet worden. In den Grenzen der Gemeinschaft von 1924 versucht er, die für Deutschland verhängnisvolle Alternative zwischen Kultur und Zivilisation, inniger (Volks-) Gemeinschaft und oberflächlicher, egoistischer Gesellschaft zu unterlaufen. Diese Abhandlung lässt sich daher auf die spezifisch deutsche Problemdiagnose in seiner Deutschlandstudie von 1935 beziehen. In seinem Essay über Macht und menschliche Natur von 1931 hingegen ist die Legitimationskrise des politischen Humanismus zentral, und zwar als ein Problem des gesamten abendländischen Kulturkreises, das in Deutschland allenfalls eine Zuspitzung erfährt. In dieser Schrift geht es um einen Begriff von Menschlichkeit und Würde, der dezidiert die Geschichtlichkeit menschlicher Existenz integriert und sich daher dem historistischen Relativismus wie auch dem szientistischen Naturalismus entzieht, ohne beide zu ignorieren. 6 Der Humanismus, so Plessner, ist nicht nur ein geschichtlich gewordenes Selbstverständnis und darin partikular, sondern in seinem universellen Geltungsanspruch auf eine Bejahung der Geschichtlichkeit, Offenheit und Prozesshaftigkeit menschlichen Daseins angewiesen. Plessner sucht gerade in der vorbehaltlosen Bejahung

6 Eine Lektüre beider Schriften im Kontext der politischen Philosophie der Weimarer Zeit unternimmt J. Fischer, Plessner und die politische Philosophie der zwanziger Jahre, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1992, hg. von V. Gerhardt/H. Ottmann/M. P. Thopmson, Stuttgart/Weimar 1991, S. 53-77.

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der Geschichtlichkeit, in der Steigerung der historistischen Skepsis die liberalen Werte als universelle zu rechtfertigen, ohne diese Universalität mit einer überzeitlichen Geltung zu verwechseln. Hier, so kann man das Anliegen dieser Schrift verstehen, werden die Konturen eines deutschen Beitrages zur gesamteuropäischen Kultur deutlich und gewinnt Plessners politisch-ethische Vision einer staatsbildenden Idee an Gestalt (Abschnitt 3). Sowohl die Argumentationen in den Grenzen der Gemeinschaft als auch in seinem Machtaufsatz konvergieren in einem liberalen Ethos. Der Liberalismus erscheint bei Plessner als eine Lebensweise, die auf ein inhaltlich offenes, aber zugleich bestimmtes Ideal guten Lebens bezogen ist, das er Würde nennt. Und dieses Verständnis impliziert eine liberale Kritik am Liberalismus selbst, insofern die liberalen Werte strebensethisch und nicht kontraktualistisch, deontologisch oder utilitaristisch begründet werden. Die Stärke dieser Lebensform liegt daher auch nicht in kluger Rationalität, in moralischer Vernunft, auch nicht alleinig in technologischer und ökonomischer Effizienz, sondern in ihrem werbenden, gewinnenden, inspirierenden Charakter. Strebensethisch erscheint der Liberalismus als eine attraktive Lebensform, die im Wettstreit mit anderen Lebensweisen ihre Überlegenheit nur in dem Maße entfaltet, wie sie auf möglichst viele andere dauerhaft eine Anziehungskraft auszuüben vermag. Dieses strebensethische Verständnis des Liberalismus behält über Plessners zeitgenössischen Kontext hinaus Bedeutung. Auch das wiedervereinte Deutschland, die Berliner Republik, erscheint bisweilen als Staatsgründung ohne leitende Idee - zumindest ist derzeit noch vage, wie eine solche Idee aussehen könnte. Wendet man sich in dieser neuen deutschen Situation Plessner zu, dann ergeben sich einige aufschlussreiche Parallelen (Abschnitt 4). I. Die politische und ethische „Tragik" der Deutschen: „Volk" und „Kultur" Plessner beschreibt das Schicksal der Deutschen als Tragik - und zwar zweifach - als eine politische und eine ethische Tragik. Politisch besteht der „tragische Grundkonflikt seiner Geschichte" (VN, 37) in der Unvereinbarkeit von alter Reichsidee und Nationalstaatlichkeit, in der unausgeglichenen Spannung zwischen seiner Geschichte und seinen Zukunftsmöglichkeiten (vgl. VN, 38); eine innere Spannung, die sich im äußeren Verhältnis zu den alten, saturierten Nationen wiederholt: Deutschland befindet sich in Opposition zum politischen Humanismus des Westens, weil es ihm in seiner Unausgeglichenheit nicht vergönnt ist, all seine Vielfalt an Traditionen nationalstaatlich zu bündeln. Sein Kampf gegen den Westen, sein äußerliches Anderssein ist nur der Widerschein des Anderen in ihm selbst. Es führt auch nach der Niederlage von 1918 den Krieg weiter, schreibt Plessner, „als einen Protest in Wahrheit gegen sein eigenes Geschick" (VN, 40). Und die tragische Ausweglosigkeit, der „Widersinn, zwischen zwei Traditionen zu

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stehen, ohne die Möglichkeit zu haben, mit einer von ihnen zu leben" (VN, 40), bildet die Quelle des deutschen Radikalismus. Formal gleichwohl ein Nationalstaat, bleibt Deutschland eigentümlich ein Staat ohne Staatsidee: Ein Anknüpfen an die alte Reichstradition ist ihm als Selbstverständlichkeit verwehrt, der politische Humanismus des 17. und 18. Jahrhunderts ist ihm keine Alternative, und als Gründung des späten 19. Jahrhunderts entsteht der deutsche Nationalstaat in einer Zeit der vorgeschrittenen Skepsis am Wertsystem des westlichen Humanismus (vgl. VN, 41). „Die Geburtsstunde des Reiches", heißt es bei Plessner, „fiel in eine zu aufgeklärte, in eine schon nicht mehr an die innerweltliche Autorität von Vernunft und der Weltgeschichte glaubende Zeit." (VN, 42) Als Ersatz bleibt Deutschland allein der romantische Begriff des Volkes. Die Wirklichkeit des Volkes sollte genügen, um einen Machtstaat ohne humanistisches Rechtfertigungsbedürfnis tragen zu können. Aber die Idee des Volkes ist vage, dunkel und vieldeutig und daher kaum geeignet, eine politische Idee auszubilden, die mit dem Humanismus vergleichbar wäre. Denn der westliche Humanismus leistete die Bildung von Nationen im Namen eines übernationalen Wertes: der Menschheit. Darin lag seine Legitimationskraft. In der Verschränkung von Nationalität und Universalität gründete der globale Erfolg westlicher Zivilisation. Die deutsche Idee des Volkes hingegen ist zu schwach, um eine innere Einheit zu stiften; und sie ist zugleich zu exklusiv, um eine Chance zu haben, sich international zu behaupten. Deutschlands Anderssein, seine Tragik, aber ist mehr als nur eine politische. Sie ergibt sich nicht allein aus der „unglücklichen Verzögerung der deutschen politischen Geschichte" (VN, 58). Sie ist zugleich Ausdruck eines tragischen ethischen Bewusstseins, so dass es keine politische Lösung des deutschen Problems geben kann, wenn eine solche Lösung nicht zugleich auch eine ethische ist. Und diese ethische Tragik, obzwar verbunden mit der politischen Geschichte, besitzt zugleich eine Eigenständigkeit, die es Plessner erlaubt, sie in das Zentrum seiner Betrachtungen zu stellen. Plessners Stichworte für Deutschlands ethische Tragik heißen Luther, Weltfrömmigkeit, Kultur und Gemüt. „Protestantismus ist" für Plessner „die Religion der Konzessionslosigkeit, weil jeder Mensch unmittelbar zu Gott ist, und damit ein Bruch mit der Wirklichkeit." 7 Während im Calvinismus der weltliche Handlungserfolg als Zeichen der Gnade Gottes erscheint, führt das Ethos Luthers zu einem „tragizistischen Dualismus ewiger Unvereinbarkeit zwischen den Forderungen der sündigen Realität und den Geboten Gottes" (GG, 20). „Lutherischer Christ sein, und darum ist diese Religiosität im tiefsten deutsch, heißt alle Wertforderungen gleich tief, gleich unmittelbar, gleich ernst erleben". (GG, 22) Die Synthese zwischen dem Profanen und Heiligen wird dem Lutheraner nicht abgenommen, „sie wuchtet mit unermeßlicher Schwere

7

//. Plessner, Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: Gesammelte Schriften Bd. V, a.a.O., S. 20. Im Folgenden abgekürzt durch GG.

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auf seinem Gemüt, er selbst, der Mensch, soll Schauplatz des Kampfes und der Versöhnung aller Gegensätze in Gott sein." (GG, 22) Innerlichkeit und Wirklichkeit, Politik und Moral, Gottesreich und Staatsmacht, Kultur und Zivilisation, Seele und Körper lauten die sich ausschließenden Alternativen, die je zusammengefügt werden müssen. Jedes Handeln im Profanen muss durch die Gesinnung geheiligt sein. Nur wenn sich die Gesinnung im Handeln zur Geltung bringt, hat es einen Wert; der bloße Erfolg zählt kaum (vgl. VN, 73). Die Selbstbefragung des Gewissens, ob man auch aus den rechten Motiven gehandelt hat, bringt eine Willensschwäche, eine Zögerlichkeit und ein Zaudern der Entschlusskraft, ein Tun, das stets begleitet ist vom schlechten Gewissen. Diesem Protestantismus erwachsen seine religiösen Kräfte aus „dem Bewußtsein der Fraglichkeit der eigenen Konfession" (VN, 66). Sein Individualismus, seine Zweifel, sein Zögern, die Distanz zu allem Gegebenen, ermöglichen schonungslose Kritik, aber keine entsprechende Praxis. Mit einer solchen Mentalität ist kein moderner Staat zu machen, zumal in Deutschland die Selbstverständlichkeit im Religiösen allein schon durch die äußerliche Glaubensspaltung aufgehoben ist (vgl. VN, 65). Die politische Entwicklung ist daher in Deutschland weitgehend abgekoppelt von religiösen Energien. Und in Preußen, der einzigen deutschen Macht, in der die Fähigkeit zur Nation heranwächst, scheitert der Versuch, Staat und religiöse Motivation zusammenzubringen. Plessner spricht hier von einer evangelischen Zwangsstaatskirche (vgl. VN, 65), die dem Individualismus und der Innerlichkeit des lutherischen Protestantismus widerspricht und zu einer Verschiebung der religiösen Energien führt, zu einem säkularisierten Protestantismus, einer „weltfrommen Haltung, die nach weltanschaulichem Ausdruck ringt" (VN, 69), zu einer „Intensität der Wissenschaften und der Philosophie" (VN, 69). Aus dieser Verschiebung geht das hervor, was die Deutschen Kultur nennen. Diese „Kultur ist säkularisiertes Luthertum [...] Sie atmet in ihrer Innerlichkeit und Freude am Schöpferischen, in ihrem Pathos der persönlichen Ursprünglichkeit, in ihrem kämpferischen Enthusiasmus, ihrer spekulativen Tiefe und dem leidenschaftlichen Ungenügen an einer bestehenden Ordnung lutherischen Geist ewigen Protestantentums." (VN, 79) Wie das „Volk" zur politischen Idee der Deutschen avanciert, so bildet der Begriff der Kultur eine ethische Idee aus, die nicht minder problematisch ist. Sie erscheint geradezu als das ethische Pendant des politischen Dilemmas. Nach außen hin grenzt der Kulturbegriff ab. Er ist analog dem Volksbegriff ein exklusiver. Er ist gerichtet gegen den (französisch geprägten) Adel, gegen die höfische Gesellschaft; er wendet sich ebenso gegen das (englische) Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, das individuelle, eigennützige Erfolgsstreben. 8

8 Vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Erster Band, Frankfurt/Main 1976, S. 1-64.

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Nach innen hin vermag Kultur jedoch keine Einheit zu stiften. Sie findet ihren höchsten Ausdruck in der Dunkelheit der deutschen Philosophie, die erst dort für Plessner beginnt, „wo die Rede zerbricht" (VN, 103). Sie entsteht aus einer „wirklichen Einsamkeit, die nur da möglich ist, wo Traditionen nicht stark und fraglos genug sind, um den einzelnen von Anfang an zu einem Gesellschaftswesen zu prägen" (VN, 103), aus einer Einsamkeit, die sich nicht mit einfachen Worten mitteilen lässt, die nicht zur schlichten Klarheit des Wortes, zum common sense der Angelsachsen führt, weil das Bedürfiiis nach dem Wort aus der Zerrissenheit entsteht.9 Kultur ist daher für die Deutschen weniger eine identitätsstiflende ethische Idee als ein Problem - außen- wie innenpolitisch. Sie isoliert Deutschland gegenüber dem Westen und kann doch innerlich weder die alte Reichstradition fortführen noch das moderne Nationalstaatsprinzip tragen. II. Legitimationsprobleme des politischen Humanismus Dass Deutschland sich nicht einfachhin dem politischen Humanismus der westlichen Zivilisation anschließen kann, ist jedoch nur teilweise der spezifisch deutschen Situation geschuldet. Eine einfache Hinwendung zu Humanismus und Zivilisation ist ebenso erschwert durch einen sich für Plessner ankündigenden Niedergang der europäischen Vormachtstellung (vgl. VN, 32). Es ist nicht Schwäche, sondern der Erfolg der westlichen Zivilisation in der Welt, der nunmehr auf sie zurückschlägt: Die Welt emanzipiert sich von Europa mit europäischen Mitteln, „seine Übertragbarkeit auf nichtchristliche Kulturen wird ihm zum Schicksal." (VN, 35) Denn in diesem Prozess verliert sich das europäische humanistische Ethos. Die westliche „Expansion ist nur möglich gewesen und praktisch unbegrenzt, weil die Ergebnisse der Wissenschaft in ihren Anwendungsmöglichkeiten aufgehen und die Handhabung der Apparate und Maschinen zwar an das Verständnis der Theorie, aber nicht an das Verständnis für das humanistische Ethos der Theorie gebunden ist." (VN, 34) „ A u f der Ablösbarkeit der technischen Anwendung von der Theorie beruht der industrielle Fortschritt, auf der Neutralisierbarkeit der Theorie gegen das sie tragende Ethos, gegen die sie führenden Erkenntnisse beruht die Europäisierung der Erde." (VN, 34) „Nur um den Preis seiner Mechanisierung und In-

9 Lucien Goldmann hat das zwiespältige Verhältnis der Deutschen zum common sense prägnant beschrieben: „ A u f eine Tatsache kann man sich nur berufen, wenn sie schon wirklich und allgemein bekannt ist, nicht aber, wenn man sie erst für die Zukunft erwartet oder gar nur wünscht", L. Goldmann, Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Philosophie Immanuel Kants (1945), Frankfurt/Main und New York 1989, S. 27. Aus dieser Unsicherheit folgert Goldmann den Vorrang des Moralischen in der deutschen Philosophie, des Sollens vor dem tatsächlichen Sein (S. 30); und zugleich die Suche nach einem Absoluten, das mehr als nur wirklich und faktisch ist, vgl. S. 35.

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strumentalisierung erobert der Europäismus die Welt." (VN, 35) Es bekommt politische, ökonomische und technologische Konkurrenz (Plessner verweist hier auf Japan), und der in der christlichen Tradition verankerte Humanismus verliert an Geltung - ob und wieweit Europa noch eine Führungsposition innehat, wird zu einer bloßen Frage des besseren Könnens, zu einer Machtfrage, ohne noch von einer Ethik begleitet zu sein. Plessner verfolgt detailliert die Entwicklung, in deren Verlauf sich der politische Humanismus erschöpft und sein ethisches Potential verliert: „Die überweltliche Heilsordnung", schreibt er, „weicht der Vernunft, diese der Geschichte, diese der Ökonomie und Gesellschaft, und ihre Stelle nimmt schließlich das Blut ein. Für die himmlische Verheißung und Erlösung gibt es die innerweltliche Verheißung und Erlösung in einer Evolution des Wissens und Könnens, und als es mit dem Glauben an den Fortschritt schließlich zu Ende ist, die vor- und untermenschliche Sicherung des Menschen im Volkstum." (VN, 119) Und eingelassen in diesen Prozess der „Entgötterung und Entmenschung" (VN, 101) ist eine alles treibende „Logik der Verdächtigung und Entlarvung" (VN, 105), die sich steigert und der , jedes Gesicht als Maske" erscheint und „hinter allen Masken nach dem wahren Gesicht" (VN, 105) fahndet. Sie wendet sich zunächst gegen die christliche Transzendenz; dann gegen den Anspruch der Vernunft und die ihr inhärierende Hoffnung auf Fortschritt in der Geschichte; bis schließlich der „Wettstreit der innerweltlichen Sehfelder" (VN, 137) da ist, der „Perspektivismus im Horizont der Geschichte und der Biologie" (VN, 137). In einem allumfassenden Relativismus beginnt sich der Humanismus selbst aufzulösen: „Eine Wirklichkeit", so Plessner, „eine Vernunft, ein Sittengesetz für alle Menschen sind ebenso problematisch geworden wie die Menschlichkeit selber. Jeder Gegenstand in seinem Weltverband ist auf den Kategorialapparat eines Bewußtseins ,destruierbar\ ,funktionalisierbar'. Ihm kann seine jeweilige Welt zugerechnet werden, denn es ist die Ursprungsstätte des jeweils führenden Normen- und Kategoriensystems." (VN, 137) Die Rückführung allen Bewusstsein auf die „Ebene des UntermenschlichTierischen" (VN, 140) bildet den Schlusspunkt dieser Destruktion und vollendet und überwindet den Relativismus. Ihm entkommt man, wenn man sich von Vernunft und Bewusstsein lossagt, sich der Sphäre nackter Vitalität anvertraut, der Tat und der dezisionistischen Entschlossenheit die Führung übergibt (vgl. VN, 142). „Nur dieses Maß der Entgötterung und Entmenschung macht es begreiflich, daß gerade hochzivilisierte Nationen zur Selbsthilfe einer künstlichen autoritären Bindung im Politischen greifen, um die elementaren Daseinsinstinkte vor den nihilistischen und defaitistischen Schlußfolgerungen der Intelligenz zu schützen." (VN, 101) „Rasse" und „Blut" sind daher Erben des politischen Humanismus. Dieser „Verfall des heilsgeschichtlichen Bewußtseins" ist für Plessner „ein Schicksal der ganzen abendländischen Kulturgemeinschaft" (VN, 117). Aber es ist Deutschland, das zum Zentrum der Skepsis avanciert (vgl. VN, 35), weil Deutschland im Vergleich zu den alten Nationen den Verfall zugleich als eigenes politi-

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sches Schicksal erfährt. Ihm fehlt die Tradition der Frühaufklärung, die in den alten Nationen „immer noch eine machtvolle Hemmung gegen den biologischen Naturalismus" ist. „Sie verzögert jedenfalls die praktische Nutzanwendung der in der Logik des Verfalls liegenden Rückführung des Menschen auf seine rein vitalen Schichten." (VN, 117) Deutschland ist daher für Plessner anders als die anderen, weil es aufgrund seiner Ungesichertheit eine erhöhte Sensibilität hat für die Probleme, die die ganze abendländische Zivilisation prägen. Deutschland ist das Land der Mitte - was hier geschieht, geht alle an. Der Nationalsozialismus erscheint in dieser Sicht als spezifisch deutsches Phänomen und zugleich als Produkt der zivilisatorischen Logik selbst. Es zeigt den alten Nationen ihre eigene Zukunft, die in Deutschland zur Gegenwart wird. Und Plessners Hoffnung auf eine deutsche Sendung gründet sich auf diese antizipatorische Funktion: Wenn Deutschland im Bösen die Zukunft Europas ist, dann wiegt ein deutscher Beitrag zum politischen Humanismus umso mehr, dann könnte Deutschland auch, wenn es denn einen inneren Ausgleich zu finden vermag, die europäische Zivilisation vor ihrer eigenen Logik bewahren. Deutschland, das Zentrum der abendländischen Skepsis, hat das Zeug zum radikalen Dogma ebenso, wie die Chance, aus der extremen Skepsis einen vollbringenden Skeptizismus werden zu lassen, der aus dem totalen Relativismus ein neues humanistisches Maß zu gewinnen versteht. I I I . Plessners Versuch einer philosophischen Erneuerung des politischen Humanismus Wie ein spezifisch deutscher Beitrag zum Humanismus Westeuropas hätte aussehen können, der zugleich Deutschlands Verspätung überwindet, lässt sich der plessnerschen Deutschlandstudie nur andeutungsweise entnehmen. Bezieht man aber die hier gegebenen Problembeschreibungen auf zwei frühere Arbeiten, dann gewinnt Plessners Vorstellung von einer politisch-ethischen Idee Kontur. In den Grenzen der Gemeinschaft von 1924 versucht Plessner, zentrale Momente der deutschen Kulturidee zu wenden, um die liberale gesellschaftliche Öffentlichkeit ethisch zu rechtfertigen. Gesellschaftlichkeit, so Plessner, ist weder ein moralisch indifferentes oder gar wertloses System egoistisch interagierender Einzelner, sondern ein eigenständiges Ethos. Wie später in seiner Deutschlandstudie, wo er von einer deutschen Tragik spricht, so werden auch in dieser Schrift die tragischen Implikationen der deutschen Gemeinschaftssehnsucht thematisiert, aus der heraus soziale Radikalismen entspringen. Moralphilosophisch, so Plessner, werden die verhängnisvollen Alternativen von Kultur und Zivilisation, ethisch wertvoller Gemeinschaft und moralisch zweifelhafter Gesellschaft durch ein dualistisches Dispositiv legitimiert, das seine Ursprünge im lutherischen Protestantismus hat und in Kants Philosophie prägnant zum Ausdruck kommt. Dass aber dieser Zwiespalt der deutschen Seele zwischen Neigung und Pflicht, Sein und Sollen als tragisch empfunden wird, zeugt bereits von ihrem

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Zusammengehören und unterläuft die Exklusivität ihrer Entgegensetzung. Denn tragisch sind Konflikte zwischen Mächten, die gleicherweise berechtigt sind und die in ihrer Kollision ihre Zusammengehörigkeit bekunden. Und hier zeigt sich neben der Betonung einer Tragik eine weitere Entsprechung zwischen den Grenzen der Gemeinschaft und dem Schicksal deutschen Geistes: 1935 heißt es, dass Deutschland heterogen ist, „nicht aus einem Zuwenig, sondern einem Zuviel, aus dem Wettstreit zu vieler, gegeneinander nicht ausgleichbarer Traditionen" (VN, 95/96) besteht. Ein „Wettstreit der Perspektiven, ein innerer Partikularismus" ist die Folge, „der das Verlangen nach Einheit, und zwar in allen Schichten der menschlichen Existenz, weckte" (VN, 96) - ein Streben, das weder durch die politische Illusion einer homogenen Volksgemeinschaft noch durch die Vorstellung einer Kulturgemeinschaft aller Deutschen erfüllt werden kann. Analog dazu weist Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft von 1924 die Vorstellung einer schlichten Einheit der Seele zurück, deckt sie als den Grund der deutschen Tragizismen auf. Denn tragisch entzweit sich die Seele nur dann, wenn sie Momente auszuschließen sucht, die untrennbar zu ihr gehören. Er entwickelt in dieser Schrift eine Philosophie der „ontologisch zweideutigen Seele", die sich gegen das Wunschbild unvermittelter Einheit kehrt, aber das Begehren nach seelischem (und: nationalem) Einklang ernst nimmt. Tragisch und bisweilen komisch können die seelischen Antagonismen nur dann erscheinen, wenn und soweit sie kontrastiv auf eine Idee gelingender Integration, auf eine Vorstellung guten Lebens bezogen sind, deren Unwirklichkeit, deren Verzerrung und Zerstörung als tragisch und darin unerträglich erfahren werden. Diese Idee nennt Plessner Würde, terminologisch Kant folgend, aber dem Sinngehalt nach aristotelisch: Würde ist „die Idee einer Harmonie der Seele und zwischen Seele und Ausdruck, Seele und Körper [...] Würde betrifft stets das Ganze der Person, den Einklang ihres Inneren und Äußeren, und bezeichnet jene ideale Verfassung, nach der die Menschen streben, die aber nur wenigen verliehen ist." (GG, 75/76) Würde enthält den Anspruch, „auch in seinen Möglichkeiten geachtet zu werden" (GG, 81) als eine Einheit von „Werden und Sein" (GG, 62). Sie ist daher nicht im faktischen Sein, sondern „in der Unendlichkeit und Unantastbarkeit der persönlichen Seele gegeben, die, wenn sie auch nicht jeder in voller Wirklichkeit besitzt, doch jeder haben möchte bzw. deren Besitz er prestigiert." (GG, 82) Der Begriff der Würde ist hier anders als in der Moralphilosophie Kants nicht auf Vernünftigkeit beschränkt, sondern betrifft das Zusammenstimmen der Person als Ganzer, als Einheit von Körper, Seele und Geist. Sie erscheint zudem nicht deontologisch als eine Pflicht, die Gehorsam verlangt, sondern als ein attraktives Strebensziel, das um seiner selbst willen begehrenswert ist. Und die Bezüge zur aristotelischen Ethik werden explizit, wenn Plessner vom „Ideal der edlen Mitte, der Ausgewogenheit und des Ausgleichs" spricht, das „die Alten Μεσότη* nannten" (GG, 130): „Maß und Begrenzung ist das Höchste für menschliches Streben."

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(GG, 131) Und mit Blick auf sein Deutschlandbuch von 1935 nimmt diese ethische Idee der Würde auf ein deutsches, geopolitisches Selbstverständnis Bezug, gewinnt der Topos vom Land der Mitte eine ethische, humanistische Bedeutung. Nun ist Würde im plessnerschen Sinn mehr als nur ein Wunsch, den man hegt. Wünschen kann man auch Unmögliches. Sie ist aber auch kein einfacher Zweck, der sich willentlich verwirklichen lässt. Sie ist ein Strebensziel, das nicht direkt zu erreichen ist; kein Zustand der Seele, sondern Vorstellung eines guten Lebens Vollzuges, in dem die verschiedensten seelischen Bestrebungen, Sehnsüchte, Wünsche, aber auch die willentlichen Zwecke und Vorhaben prozessual integriert werden können. Das aber scheint zunächst auch nur ein Wunsch zu sein, dem es an Realisierungsfähigkeit mangelt. Denn man will vieles, aber nicht alles was man will, fügt sich auch. Es gibt Zwecke die sich neutralisieren, gegenseitig ausschließen; es gibt unerfüllbare Wünsche, die man mit Zwecken verwechselt, so dass man sich an etwas Aussichtslosem versucht: etwas Unmögliches zu verwirklichen, was zur „Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe der Idee" (GG, 17) führen kann und damit die Idee als Illusion erweist. Würde aber ist für Plessner kein Ideal, das wie Kants Sollen der Wirklichkeit entgegensteht, sondern ein „Ethos" (GG, 102), wirklich als eine Lebensweise, deren Führung sich an einem Einklang mit sich selbst orientiert, der weitgehend unbestimmt lässt, was inhaltlich ein gelingendes Lebens ist. Möglich und mehr als ein bloßer Wunsch wird dieses Ethos jedoch nur dann, wenn die vielfältigen Expressionen der Seele, ihre Sehnsüchte und Zwecke eine Verwandlung erfahren, in der sie erhalten bleiben, aber gemäßigt werden, so dass sie bei aller Differenz und Konkurrenz zusammenstimmen können. Plessner nennt diese Verwandlung Irrealisierung und versteht darunter eine darstellerische Transformation der psychischen Expressivität, einen „Motivwandel der Spielfunktion" (GG, 94). Die zweideutige, antagonistische Seele braucht „Bekleidung mit Form" (GG, 72), bedarf der Maskierung und des Schauspiels, um zu einem ausgleichenden Einklang mit sich selbst zu finden, um nicht in einem tragischen Kollidieren unterzugehen oder in radikalistischer Vereinfachung ihre Seinsfülle zu verlieren. Plessners Würdeverständnis ist daher nicht einfach ein Strebensziel, sondern beschreibt eine Form guten Lebens. Ein gelingendes Leben, ein Leben im Einklang mit sich selbst bedarf der Verhaltenheit, der Distanz zu sich selbst, aus der heraus sich die Person spielerisch, theatralisch hervorbringen kann. Bei aller Nähe zum aristotelischen Ethikmodell wahrt daher dieser Ansatz zugleich ihm gegenüber einen Abstand. Würde ist für Plessner kein inhaltlich feststehender Endzweck, in dem alle Bewegung zur Ruhe kommt, alles Streben erlischt, sondern Moment einer prozessual geöffneten Strebensethik, die die vitale Expressivität des Strebens und Begehrens nicht negiert, sondern darstellerisch integrieren will.

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Exemplarisch wird dieses durch Darstellung ermöglichte Einvernehmen mit sich selbst am Phänomen der Maske (persona) anschaulich. Die Maskierung erlaubt eine Vereindeutigung, klare Erkennbarkeit für andere, die gleichzeitig Schutz bietet vor Verletzung durch andere. Die Maske bringt zur Erscheinung und verbirgt zugleich und stellt dar, dass sie beides tut, dass das, was sie zeigt, nur ein Aspekt ist von dem, was sie abschirmt. Sie vereinseitigt die seelische Fülle und erhält sie und ermöglicht so eine seelische Integrität. Sie ist, bezogen auf die anthropologische Trinität von Körper, Seele und Geist, „eine Sehnsucht der Seele, aber eine Erfindung des Geistes und eine Durchführung des Körpers: Sie ist eine künstliche Ausdrucksgrenze" 10 - und in dieser Künstlichkeit gespielter Ausdruck oder Darstellung, die eine Distanz noch zum Ausdruck selbst voraussetzt. Theatralität und darstellerisches Spiel erscheinen bei Plessner als individuelle ethische Tugenden, als Medien guten Lebens, die zugleich eine „Logik der Öffentlichkeit" (GG, 102) fundieren, eine zivilisierte, liberale Gesellschaftlichkeit: „Die Gesellschaft lebt allein vom Geist des Spiels." (GG, 94) Im Unterschied zu deontologischen Moralauffassungen erscheint hier eine bestimmte ethische Vorstellung individuellen guten Lebens als Bedingung moralischer Achtung zwischen Personen: „Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen". (GG, 109) Insofern Plessners Philosophie der Seele sowohl die heterogenen Traditionen Deutschlands als auch das Verlangen nach Einheit ernst nimmt, weist sein theatralisches Ethos der Würde die Deutschen daraufhin, dass sie selbst einer liberalen Gesellschaft bedürfen, dass ihre Orientierung an der Alternative zwischen Kultur und Zivilisation die eigene Pluralität ebenso verkennt wie einen möglichen Ausgleich verhindert - einen inneren wie einen außenpolitischen, europäischen. „In uns selbst liegen neben den gemeinschafisverlangenden und gemeinschaflsstützenden die gesellschaftsverlangenden, distanzierenden Mächte des Leibes nicht weniger wie der Seele, in jeder Sozialbeziehung wartet die eine, wenn noch die andere gilt, auf ihre Erweckung." (GG, 115) Plessners Betonung des Spielerischen und der Theatralität weisen zwar Bezüge zum englischen Witz wie zum französischen Esprit auf. Aber Plessner bewegt sich geistesgeschichtlich im Diskurs der deutschen Klassik, auf die sich auch die emphatische Rede von einer deutschen Kultur beruft. Schillers Vision der Schaubühne als moralische Anstalt, sein von Kant inspirierter Spielbegriff, der den ganzen Menschen einbezieht („Anmut"), aber auch die klassische Bildungsidee, wie sie etwa in Goethes Wilhelm Meister der politischen, sozialen wie individuellen Fragmentierung entgegengesetzt wird, sind in Plessners Argumentationen spürbar und in seinen Begriff der Würde eingegangen.

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J. Fischer, Panzer oder Maske. Verhaltenslehre der Kälte 4 oder Sozialtheorie der ,Grenze', in: W Eßbach/J. Fischer/H. Lethen, Plessners „Grenzen der Gemeinschaft". Eine Debatte, Frankfurt/Main 2002, S. 80-102, S. 97.

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Plessners theatralisches Ethos der Würde ist eine ethisch-politische Idee, die auf die spezifisch deutsche Problematik reagiert, sich aber zugleich als eine Antwort auf die Legitimationskrise des politischen Humanismus Europas verstehen lässt, wie sie von Plessner 1935 in seiner Verspäteten Nation beschrieben wird. Dieser Humanismus verliert sich zunehmend in einer alle Autoritäten zersetzenden Logik der Verdächtigung und Enttarnung. Und die das 19. Jahrhundert prägende „Tendenz zur Entlarvung" (VN, 105) „verdächtigt jedes Gesicht als Maske und fahndet hinter allen Masken nach dem wahren Gesicht." (VN, 105) Dieser Logik tritt das theatralische Ethos der Würde entgegen. Es gibt kein wahres Gesicht ohne Maske; man verkennt das Phänomen der Maskierung, sieht man es nur als eine äußerliche, akzidenzielle Verhüllung. Begreift man die menschliche Geschichte als „eine große Maskerade der Zufälligkeiten, hinter der sich das eine unbewegliche Antlitz der Menschheit verbirgt" (MN, 191), dann beseitigt man die persona und mit ihr verlieren Ideen wie Personalität und Würde zunehmend ihren Sinn. Der Mensch, so Plessner 1935, ist kein „bloßer Schauspieler [...] der die Szenen der Weltgeschichte in verschiedener Kostümierung und Maske spielt und sich nur abzuschminken braucht, um als das zu erscheinen, was er wirklich ist;" (VN, 159) der Mensch ist vielmehr die „Aufführung selber" und gehört mit allem, was er ist, der Geschichte an - „selbst mit der Idee vom Menschen" (VN, 159). Plessners theatralische Würdeauffassung, die strebensethisch begründet ist, richtet sich gegen Konzeptionen, die ein ahistorisches menschliches Wesen postulieren, damit auch gegen den klassischen politischen Humanismus, der sich auf ein zeitloses Natur- oder Vernunftrecht beruft. Sie hält aber ebenso Distanz gegenüber einer historistischen Nivellierung, in der die menschliche Geschichte nach dem Vorbild der Naturwissenschaften zur Empirie wird. Strebensethisch erscheint menschliches Leben als geschichtlich, weil es Werden und Sein ist, erst (noch) werden und erreichen muss, was es (schon) ist, weil es expressiv ist und der Darstellung bedarf, um gelingen zu können. Würde ist daher für Plessner nicht nur ein historisch entstandenes Konzept, sondern in seinem Geltungssinn geschichtlich etwas Errungenes, Erstrebtes, das wieder verloren werden kann, eine Chance, die aktiver Wahrnehmung bedarf, um wirklich zu sein. Ein solches Würdeverständnis lässt sich nicht mit schlagenden Argumenten begründen. Seine Geltung beruht auch nicht darauf, dass es für alle Menschen faktisch auch erstrebenswert ist. Würde ist vielmehr ein Wert, der Geltungskraft nur insoweit hat, als er auf möglichst viele verschiedene Menschen eine Anziehungskraft ausübt. Man kann die mit ihm verbundene liberale Lebensform anderen nahelegen, sie empfehlen, ihnen ansinnen - dass es für sie gut wäre, so zu leben. Die Bejahung dieses Wertes bleibt an eine freie Entscheidung gebunden, schon daher, weil das Ideal der Würde impliziert, dass ein menschliches Leben nur dann ein gutes sein kann, wenn es selbstbestimmt geführt wird. Das werbende Überreden, nicht im zweifelhaften Sinne rhetorischer Nötigung, sondern als Inspiration der Imagination, als Anregung des Möglichkeitssinnes ist

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diesem Wert und dem ihm entsprechenden Menschenbild angemessen. Menschliches Leben ist auf Führung angewiesen, steht unter einem kategorischen Konjunktiv, wie Plessner prägnant formuliert, bewegt sich daher immer schon in einem Feld von Möglichkeiten, einem Spielraum, kann daher nie auf nur eine bestimmte Weise gelingen. Daher ist das plessnersche Ethos offen für eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Vorstellungen guten Lebens, schätzt eine solche Pluralität, ohne doch mit jeder menschenmöglichen Lebensform vereinbar zu sein. In Macht und menschliche Natur nennt Plessner die freie Entscheidung für dieses Ethos,Anerkennung der Verbindlichkeit des Unergründlichen" (MN, 182): „Nur sofern wir uns unergründlich nehmen, geben wir dem eigenen noch zu lebenden Leben, geben wir dem vom Menschen gelebtem Leben das Gegengewicht des Ernstes, der ihm infolge der Durchrelativierung seiner geistigen Welt und ihrer Demaskierung als seines von ihm hervorgebrachten Jenseits verlorenzugehen droht." (MN, 163) „Wenn wir es überhaupt als einen Fortschritt, eine Entdeckung gelten lassen, daß wir im Unterschied zu außer- und vorchristlichen Völkern es zum Begriff ,des Menschen4 als einer gegen religiöse und rassenmäßige Unterschiede indifferenten weltbildenden Wirklichkeit gebracht haben, dann sind wir nach Maßgabe dieser Universalperspektive gerade nicht allein dazu verpflichtet, unsere Kultur als absolutum den,Heiden' zu bringen, sondern ebenso unsere Kultur und Welt gegen die anderen Kulturen und Welten zu relativieren. Vielleicht ist das der erste Schritt zu ihrer Preisgabe. Aber um diesen Schritt kommen wir nicht herum, wenn wir an unserer Entdeckung [...] festhalten wollen." (MN, 148) Dieser Verzicht auf eine Verabsolutierung der eigenen Wertvorstellungen ist für Plessner die Voraussetzung eines zukunftsfähigen politischen Humanismus: „Europa siegt, indem es entbindet." (MN, 164) Es gewinnt an Kraft durch „die Freigabe des Horizontes des eigenen Menschentums auf einen Wettbewerb mit den anderen Möglichkeiten des Menschseins." (MN, 193) Folgt man diesem Vorschlag, dann liegt der Sinn nationalstaatlicher Politik darin, „mit und gegen die anderen seine Tradition durchzusetzen als den Horizont, aus dessen Vertrautheit heraus es sich mehr als nur dies Volk, als es sich die Menschheit in ihrer eigentlichen Gestalt ist. Aus dem Bewußtsein der Zufälligkeit aber des eigenen Volkstums, die ihm in der Durchgegebenheit auf die gleiche Zufälligkeit des fremden Volkstums als Partikularität der eigenen Position gegen die übergreifende Universalität der Menschheit faßlich wird (wenn das Volk an der abendländischen Tradition des Menschen als dem Mächtigen und Verantwortlichen festhält), beschränkt sich zugleich die Politik zur eigentlichen Kunst des Möglichen in der Richtung nicht auf das Maximum, sondern Optimum für die eigene Daseinslage. Mit der allmählichen Überwindung der Absolutheit des eigenen Volkstums, das gleichwohl seinen Absolutheitsaspekt hat - in der Sphäre seines sich je schon Erschlossenseins und Verstandenhabens - , zivilisiert sich die Politik. Die Kampfmittel werden andere, und die Ziele werden relativer. Aber der

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Kampf verliert weder seine Schärfe noch sein Gewicht für die letzten menschlichen Entscheidungen." (MN, 233) IV. Zur Aktualität der plessnerschen Bestimmungen nach 1989 Anders als für die Weimarer Republik steht die Westbindung des wiedervereinigten Deutschlands außer Frage, ist es eine liberale Demokratie geworden. Dennoch gibt es bei allen zeitgeschichtlichen Unterschieden Parallelen, werden vor dem Hintergrund der plessnerschen Überlegungen gegenwärtige geschichtliche Chancen sichtbar, deren Wahrnehmung mit darüber entscheidet, von welcher politisch-ethischen Idee sich die Berliner Republik leiten lässt. So kehrt in den Verhaltensstilen und Mentalitäten zwischen Ost und West die alte Dichotomie von Kultur und Zivilisation wieder, wenn sie auch kaum mehr so bezeichnet wird. Es scheint, als würde nun innerhalb Deutschlands der Konflikt zwischen alten und verspäteten Nationen nachgeholt, der für Plessner stets schon ein Konflikt der Deutschen mit sich selbst gewesen ist. Aus westdeutscher Sicht erscheint der Osten automatisch als noch nicht zivilisiert - als der „wilde" Osten, der eine Entwicklung nachzuholen hat, die selbstverständlich die Entwicklung des Westens ist. Und was technologisch noch stimmen mag, ist in der Übertragung auf Fragen kultureller Identität schon mehr als zweifelhaft, zumal die Wiedervereinigung in einer Situation vollzogen wird, in der im Westen selbst Veränderungen anstehen. Aus ostdeutscher Sicht musste und muss solches Verhalten zwangsläufig als Zumutung erscheinen - als eine Anmaßung, die nun ihrerseits mit Klischees beantwortet wird: Die Westdeutschen werden als kühl, berechnend, Masken tragend, egoistisch empfunden - und d. h. vor allem als „unmoralisch" erlebt. Die zivilisatorischen Umgangsformen wirken oberflächlich, ohne die Substanz einer inneren Gesinnung, dafür aber umso erfolgreicher; und die ihnen innewohnende Distanziertheit wird schnell als Kränkung erfahren. Aus der anderen Sicht erscheinen die Ostdeutschen naiv, unerfahren und unbeholfen, als Neulinge eben - komisch gar angesichts ihrer ernsthaften Angestrengtheit. Ihr Bestehen auf „innere" Werte, die sich der Präsentation entziehen, wirkt anachronistisch in einer Welt der bunten Bilder, die ein Bekenntnis zum Schein verlangt. Denn was sich nicht zu präsentieren vermag, das existiert nicht auf dem Markt und in der Öffentlichkeit. Dass sich dieser Konflikt zwischen Kultur und Zivilisation, Gemeinschaft und Gesellschaft nunmehr unverhüllt als ein innerdeutscher darstellt, ist historisch gesehen ein Novum, das Plessners Anliegen in seinen Grenzen der Gemeinschaft entgegenkommt: Die Differenz zwischen Kultur und Zivilisation verliert durch die neue Einheit den Charakter einer exklusiven und externen Alternative und wird zu einer Ambivalenz. Und hier liegt eine der Chancen des neuen Deutschlands: sein immer noch Anderssein endlich als Teil der eigenen Identität begreifen zu lernen.

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Aber auch Plessners Verständnis des Liberalismus als einer Lebensform ist im Prozess der Wiedervereinigung aktuell und lässt einen Konvergenzpunkt zwischen Ost und West sichtbar werden, eine gemeinsame, unerledigte Aufgabe, die sich jeweils anders stellt. Denn dass die für Ostdeutschland neue liberale Gesellschaftsordnung eine bestimmte Lebensweise ist, das ist in den neuen Bundesländern unmittelbar positiv wie negativ erfahrbar. Das neue Rechtssystem, die Wirtschaftsordnung, die politischen Strukturen sind kulturell keineswegs neutral und fordern daher das Einüben nicht nur von anderen Verhaltensweisen, sondern einer neuen Lebensform, die nur bedingt eine Kontinuität zum Bisherigen erlaubt und deren Attraktivität sich erst langsam erschließt. Zugleich aber kann diese ostdeutsche Erfahrung des Liberalismus als eine andere, (noch) nicht (und so vielleicht niemals) eigene Lebensform nur bedingt artikuliert werden, weil sie auf Widerstände trifft, u. a. auf ein im Westen gelebtes liberales Selbstverständnis, das die rechtliche und politische Gleichheit als eine ethisch neutrale und darin kulturübergreifend universale Struktur begreift statt als Ausdruck einer bestimmten Lebensform neben vielen anderen. Viele der Konflikte und Missverständnisse zwischen Ost- und Westdeutschland sind in der einen oder anderen Weise mit diesem „falschen" Selbstbild des Liberalismus verbunden. 11 Und hierin bestünde eine zweite Chance, deren Bedeutsamkeit sich nicht auf Deutschland beschränkt: Im innerdeutschen Integrationsprozess könnten beide Seiten lernen, den Liberalismus (wieder oder erstmals) als eine Lebensform zu entdecken, die auf ein bestimmtes, wenn auch weitgehend offenes Ideal guten Lebens bezogen ist. Und sie müssen es in gewisser Weise auch, wenn der Vereinigungsprozess gelingen soll. In einer solchen strebensethischen Auffassung finden die liberalen Werte ihrer selbst wegen Anerkennung durch die Einzelnen, sind Gewaltenteilung und politische Partizipationsrechte mehr als nur Mittel, um ungestört die eigenen Zwecke und Interessen verfolgen zu können. Und erst aus einem solchen Selbstverständnis heraus erscheint die liberale Gesellschaft als etwas, das es zu verteidigen und zu bewahren lohnt - in schwereren Zeiten, also auch dann, wenn sie angegriffen wird,

11

„Liberale Demokratien zeichnen sich nach ihrem Programm und Selbstverständnis dadurch aus, dass sie allen den gleichen politischen Status zubilligen, ungeachtet ihrer kulturellen Unterschiede [...] Wo auch immer wir kulturell stehen, politisch haben wir die gleichen Rechte. Ob wir jemand anderem kulturell nah oder fern, vertraut oder fremd sind, betrifft nicht die Rechte, die wir alle gleichermaßen haben. Das heißt aber umgekehrt auch, dass die Rechte, die wir politisch haben, mit keiner der kulturellen Sicht- und Wertungsweisen verknüpft sind, die im Privaten unsere Verhältnisse von Nähe oder Fremdheit ausmachen. Die gleichen politischen Rechte sollen kulturell strikt neutral sein. So verstehen sich liberale Demokratien. So verstehen sie sich aber selbst nicht richtig: Sie verstehen nicht, wie sie tatsächlich funktionieren.", Ch. Menke, Fremdenfeindlichkeit in der liberalen Demokratie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 49 (2001), Heft 5, S. 761-767, S. 764.

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wenn die ökonomische Leistungsfähigkeit nachlässt und die liberalen Institutionen immer weniger „Dienstleistungen" erbringen, die dem privaten Wohl nutzen. Und auch hier gibt es Parallelen zu plessnerschen Motiven. Plessners Versuch einer strebensethischen Fundierung der liberalen Werte, sein „ethischer Liberalismus", entspringt einer klaren Einsicht in die Gefährdungen einer liberalen Gesellschaft, die sich wie die Weimarer Republik nicht als eine Ethosform verstehen kann. Ohne Verankerung in einem liberalen Ethos der Würde werden die institutionellen Sicherungen (Gewaltenteilung, demokratische Partizipationsverfahren) zu einer Mechanik, zu Mitteln für partikulare Ziele und Interessen und erscheinen daher in Plessners Diagnose als zu schwach, um sich dauerhaft gegen andere politische Lebensformen durchsetzen zu können.12 Dieses Problem ist im deutschen Vereinigungsprozess präsent, sichtbarer vielleicht als anderswo, aber nicht auf Deutschland beschränkt. Insbesondere die Angriffe auf New York im Herbst 2001 provozieren eine Besinnung auf die ethischen, nicht nur moralischen und rechtlichen Grundlagen liberaler Gesellschaften. Die Attacken galten weniger einer kulturell und ethisch neutralen liberalen Gesellschaftsordnung als einer bestimmten liberalen Lebensweise, die von den Attentätern als unvereinbar mit ihrer eigenen Vorstellung guten Lebens empfunden wurde. Möglicherweise führen sie zu einem Wandel im Selbstverständnis liberaler Demokratien, der Plessners Vision einer Erneuerung des politischen Humanismus nahekommen könnte, statt zu einer enthusiastischen Radikalisierung, die die liberalen Werte innen- und außenpolitisch gefährdet und neuen, nichtliberalen, etwa populistischen Demokratieformen den Weg ebnet, neuen Diktaturen von Mehrheiten, die wieder nach revolutionärer Dynamik und essentialistischen Freund-Feind-Unterscheidungen verlangen. Der Liberalismus beruht auf ethischen Werten, deren Bejahung weder physisch noch argumentativ erzwungen werden kann. Für diese Werte kann man nur werben, sie empfehlen, ansinnen und andere einladen, einen Versuch zu wagen. Und das schließt die Bereitschaft ein, sie auch militärisch zu verteidigen - ohne sie wäre man kaum für andere glaubwürdig.

12

Dass Plessner andere liberale Prinzipien wie etwa die Gewaltenteilung oder die Legitimation durch demokratische Verfahren unterschätzt hat, ist bekannt, hat ihm den Vorwurf eines Aristokratismus eingebracht und ihn in die Nähe von Denkern wie Carl Schmitt gerückt. Ihn dennoch in die Tradition liberaler politischer Philosophie zu stellen, dafür gibt es viele gute Gründe. Vgl. zu dieser Debatte das - vorläufige - Resümee von N. A. Richter, Unversöhnte Verschränkung. Theoriebeziehungen zwischen Carl Schmitt und Helmuth Plessner, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 49 (2001), Heft 5, S. 783-799. Vgl. zu Plessners Verständnis des Liberalismus £ Hauche, Das liberale Ethos der Würde, Würzburg 2003.

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Ein Wettstreit um die Möglichkeiten des Menschseins, ohne sich auf eine natürlich oder geschichtsphilosophisch gesicherte Überlegenheit einer Lebensform berufen zu können (vgl. MN, 193), ein solches fair play , wie es Plessner 1931 skizziert hat, kann es nur dann geben, wenn sich liberale Demokratien als historisch errungene Lebensformen neben anderen begreifen. Sie würden dann besser verstehen - sich selbst, aber auch inwiefern sie auf andere Kulturen anziehend wirken können, und dass dies nicht automatisch der Fall ist, nicht allein aus ökonomischer oder militärischer Überlegenheit folgt, nicht aus kaum einlösbaren Versprechen auf vergleichbaren Wohlstand, sondern nur dann, wenn die liberalen Werte über eine machtpolitische Selbstbehauptung hinaus auf andere inspirierend wirken, ihre Phantasie anregen, an ihren Möglichkeitssinn appellieren. Der Westen selbst braucht heute eine Idee, die ihn überragt.

Vom Sinn einer philosophischen Theorie der Politik Bemerkungen zum Theoriebegriff bei Hans Buchheim und Michael Oakeshott* Von Michael Henkel Respekt vor dem Gang der Welt steht am Anfang der Politikwissenschaft. (Frei nach Hegels zehnter Habilitationsthese: „Principium scientiae moralis est reverentia fato habenda.")

Volker Gerhardt kritisierte vor einiger Zeit im Merkur, daß die neueste politische Philosophie „nicht, wie man erwarten sollte (und wie es ihrem Selbstverständnis entspräche), die Politik als ganze - und zwar als realen Gegenstand, als Problemfeld oder als Bereich der Wirklichkeit" behandle. Vielmehr begnüge sie sich mit der Selbstbeschränkung „auf einen einzigen Aspekt, nämlich auf den der Legitimation." Man empfände es keineswegs als Skandal, so Gerhardt weiter, „daß eine , Theorie der Gerechtigkeit 4 [...] schon für eine Theorie der Politik gehalten" würde. Solcher Blickverengung entspreche auch eine philosophiegeschichtliche Verkürzung der eigenen Tradition, „aus allem" nämlich würde „eine Vorgeschichte der Legitimitätstheorie." Schließlich konstatiert Gerhardt: „Niemand fragt, was die Politik ist und wie sie sich von dem, was ihr durchaus nahesteht, nämlich Moral, Recht und Ökonomie, unterscheidet."* Man wird Gerhardts pauschalen Befund zwar etwas relativieren müssen - gerade mit Blick auf seine eigenen Bemühungen um den Begriff der Politik oder auch angesichts der entsprechenden Arbeiten beispielsweise von Ernst Vollrath oder Thomas Petersen. Gleichwohl - und hieraufkommt es an - trifft Gerhardts Diagnose zweifellos den gegenwärtigen „Mainstream" in der politischen Philosophie, charakterisiert sie treffend die zumindest hierzulande dominanten Diskurse in diesem Feld. Demnach bestimmen Fragen der Legitimation politischer Ordnung und politischen Handelns die Diskussion, und es herrscht ein normativer Theorietypus vor, dem Politik im Grunde nur in der Frage nach ihrer Gerechtigkeit und Rechtlichkeit begegnet.

* Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine überarbeitete Fassung eines Beitrages zu der von Stephanie Zibell besorgten und im Privatdruck erschienenen Festgabe von Schülern Hans Buchheims anläßlich seines 80. Geburtstages am 11. Januar 2000. 1 Volker Gerhardt, „Politik ist mehr als die Summe von Moral und Recht", in: Merkur 54 (2000), 265-270, hier: 265.

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Nun kann man auch von der gegenwärtigen Politikwissenschaft kaum behaupten, daß ihr „die Politik als ganze" besonders am Herzen liege. Als „Expertenwissenschaft" blendet sie vielmehr die grundsätzlichen Fragen und den Blick auf die umfassenderen Zusammenhänge allzugerne aus. Gleichwohl liegt aus der Feder zumindest eines deutschen Politikwissenschaftlers eine Theorie vor, die ausdrücklich „die Politik als ganze" zum Gegenstand hat, nämlich Hans Buchheims2 Theorie der Politik. Diese beabsichtigt, „unter allen denkbaren Varianten" personaler Interaktion „eine zu finden, die einerseits sämtliche als politisch' zu bezeichnende Gegebenheiten umfaßt und andererseits gegenüber allen anderen Elementargegebenheiten der sozialen Realität als eine bestimmte besondere abgegrenzt werden kann. Diese Variante wäre der Kerntatbestand der Politik, und nach dessen Inhalt und Umfang bestimmte sich der Begriff politisch'." 3 Eine derart umfassende Theorie der Politik scheint geeignet, die von Volker Gerhardt konstatierte Blickverengung aufzuheben und der politischen Philosophie einen weiteren Horizont zu vermitteln, der auch dem überkommenen Selbstverständnis der Philosophie gerecht würde. 4 Die Buchheimsche Theorie verdient vor dem Hintergrund des Gerhardtschen Befundes mithin gerade heute die erhöhte Aufmerksamkeit all derer, die nicht schon etwa eine Gerechtigkeitstheorie für eine Theorie der Politik halten, sondern die vielmehr an der Frage interessiert sind, was Politik in Wirklichkeit ist. Die Beantwortung dieser Frage aber zielt auf einen ganz anderen Theorietypus als den einer normativen Theorie. Setzt man Gerhardts Bestandsauf-

2 Geboren am 11. Januar 1922 in Freiberg/Sachsen, studierte Buchheim 1940/41 in Leipzig, nach der Kriegsteilnahme 1946-1950, in Heidelberg Klassische Philologie, Alte Geschichte und Philosophie. Er wurde mit einer althistorischen Arbeit promoviert und war von 1951 bis 1963 Mitarbeiter am Münchener Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Zeit, das später in Institut für Zeitgeschichte umbenannt wurde. Von 1963 bis 1969 forschte er im Bundeskanzleramt in Bonn. 1966 wurde er schließlich Professor für Politikwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, wo er auch nach seiner Emeritierung bis heute in jedem Semester ein volles politikwissenschaftliches Lehrprogramm absolviert. 3 Hans Buchheim, Theorie der Politik, München, Wien 1981,11; im folgenden zitiert als „TdP". Zu dem Buch siehe die Besprechung von Peter GrafKielmansegg in: Der Staat 23 (1984), 281-283. 4 Obgleich die Buchheimsche Theorie der Politik aus der empirischen Beobachtung der politischen Praxis schöpft und insoweit eine empirische Theorie ist, ist sie aufgrund ihres umfassenden Anspruches und des ihr zugrundeliegenden Theorieverständnisses letztlich philosophischer Natur. Buchheim selbst weist gelegentlich daraufhin, daß sein Interesse an Politik ein philosophisches sei, und die Feststellung, politische Theorie sei für ihn „stets politische Philosophie" (so Christi Blank/Oscar W. Gabriel in ihrem Vorwort zu: Oscar W. Gabriel et al. (Hrsg.), Der demokratische Verfassungsstaat. Theorie, Geschichte, Probleme. Festschrift für Hans Buchheim zum 70. Geburtstag, München 1992, V f., hier: V), trifft dementsprechend Buchheims Selbstverständnis ebensowohl wie den Anspruch seiner politiktheoretischen Arbeiten.

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nähme als zutreffend voraus, so scheint der entsprechende Theorietypus in der politischen Philosophie der Gegenwart allerdings fast ganz in Vergessenheit geraten zu sein. Deshalb ist es im folgenden nicht so sehr darum zu tun, der inhaltlichen Frage nach der Politik im ganzen nachzugehen und Buchheims Theorie im einzelnen zu rekonstruieren. 5 Vielmehr soll der Frage nach dem Sinn einer philosophischen Theorie der Politik in Buchheims Verständnis nachgegangen, also die Eigenart seiner Theorie ausgeleuchtet und damit der Diskussion in der politischen Philosophie (wie in der Politikwissenschaft) ein - im übrigen traditionsreicher -Theoriebegriff in Erinnerung gerufen und neu angeboten werden. Ein solches Unternehmen stößt allerdings auf eine Schwierigkeit: Sucht man nämlich in Buchheims Theorie der Politik oder in seinen anderen Schriften nach einer näheren Erläuterung dessen, was politische Philosophie in seinem Sinne bedeutet, was die Eigenart einer philosophischen Theorie der Politik nach seiner Vorstellung ausmacht, so findet man hierzu lediglich wenige, vereinzelt im Œuvre verstreute Hinweise6, aber nirgendwo eine systematische Explikation seines Begriffs einer philosophischen Theorie der Politik. Metatheoretische Abhandlungen sind Buchheims Sache nicht - er geht in seinen Texten stets umstandslos in médias res. Eine Möglichkeit, dennoch genauer zu bestimmen, was nach Buchheimschem Verständnis eine philosophische Theorie der Politik, was ihre Aufgabe und ihr Anspruch ist, besteht aber darin, Buchheims politisches Denken im Vergleich mit demjenigen anderer Theoretiker näher zu charakterisieren und auf diesem Wege gewissermaßen indirekt den der Buchheimschen Theorie zugrundeliegenden Theoriebegriff herauszuarbeiten. Für eine derartige vergleichende Betrachtung bietet sich das Werk des in Deutschland nach wie vor kaum bekannten englischen Politikwissenschaftlers und Philosophen Michael Oakeshott in besonderer Weise an: Augenscheinlich nämlich ist Oakeshott derjenige zeitgenössische Denker, dessen politiktheoretisches Werk mehr als das jedes anderen mit Buchheims politischer Theorie Gemeinsamkeiten im Grundsätzlichen wie auch in zahlreichen Einzelheiten aufweist. Von besonderem Interesse ist dabei für die hier verfolgte Frage, daß Oakeshott sich mehrfach und ausfuhrlich mit dem Begriff der politischen Philosophie auseinandergesetzt hat. Es liegt daher nahe, Oakeshotts Konzeption mit Buchheims Theorieverständnis zu vergleichen.

5 Inzwischen liegen einige Darstellungen der Buchheimschen Politikwissenschaft vor: Siehe (neben der in Fn. 3 genannten Arbeit von Kielmansegg) Armin Klein, „Hans Buchheim, Was heißt und wie lehrt man politisch denken?", in: Hans Karl Rupp/Thomas Noetzel (Hrsg.), Macht, Freiheit, Demokratie, Bd. 2: Die zweite Generation der westdeutschen Politikwissenschaft, Marburg 1994, 145-158; Rolf Gröschner, „Zur Ontologie der Politik. Hans Buchheims Politiktheorie im interdisziplinären Dialog", in: ZPol 7 (1997), 519-532;. Michael Henkel, „Politische Theorie als Theorie der politischen Praxis: Hans Buchheims Politikwissenschaft", in: ZfP 50 (2003), 74-90. 6 Wichtig sind hier vor allem die Ausführungen in den Vorbemerkungen zur Theorie der Politik: TdP 9-14.

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U m die Plausibilität des Vergleichs Oakeshott-Buchheim nachvollziehbar zu machen, ist zunächst Oakeshotts Werk in groben Zügen vorzustellen (I.). I m nächsten Schritt sind einige Gemeinsamkeiten zwischen Oakeshotts und Buchheims politischem Denken zu explizieren (II.). Sodann sind wichtige Charakteristika der Oakeshottschen Konzeption einer philosophischen Theorie der Politik herauszuarbeiten, die m i t Buchheims politischem Denken konfrontiert werden. Bei diesem Vergleich wird von den hier relevanten Buchheimschen Arbeiten in erster Linie die Theorie der Politik in den B l i c k genommen. Der Vergleich offenbart die großen Übereinstimmungen in den Theoriekonzeptionen der beiden Gelehrten. Er ermöglicht ferner, diese Konzeptionen als dem klassischen Theoriebegriff entsprechend auszuweisen (III.). Zum Schluß wird ein B l i c k auf die praktische Dimension der Buchheimschen Theorie geworfen (IV.). I. U m den Vergleich des Theorieverständnisses Buchheims mit demjenigen Oakeshotts vorzubereiten, ist ein knapper Blick auf das hierzulande weitgehend unbekannte Werk Oakeshotts zu werfen. 7

7

Michael Oakeshott, 1901 geboren, lehrte nach seinem Studium, das er zum Teil in Deutschland absolviert hatte, seit 1927 zunächst überwiegend moderne Geschichte an der Universität in Cambridge. Nach seiner Teilnahme am Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Cambridge zurück, dozierte dann für kurze Zeit am Nuffield College in Oxford, bevor er 1950 als Nachfolger Harold Laskis den Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der London School of Economics übernahm, den er bis 1968 innehatte. Oakeshott starb 1990. Eine umfangreiche Bibliographie der Werke Oakeshotts und von Arbeiten über Oakeshott ist online veröffentlicht unter www.michael-oakeshott-association.org. Einen Überblick über Leben und Werk Oakeshotts gibt Robert Grant in der Introduction und dem Kapitel „Life & Works" des Buches Oakeshott, London 1990, online veröffentlicht unter dem Titel „Life and Works" bei: www.michael-oakeshott-association.org. Eine knappe Darstellung der politischen Philosophie Oakeshotts gibt femer Kenneth Minogue, „Michael Oakeshott: the boundless sea of politics", in: Anthony de Crespigny/Kenneth Minogue (Hrsg.), Contemporary Political Philosophers, London 1976, 120-146. Ausfuhrliche Interpretationen sind Paul Franco, The Political Philosophy of Michael Oakeshott, New Haven, London 1990; Steven Anthony Gerencser, The Skeptic's Oakeshott, New York 2000 und Terry Nardin, The Philosophy of Michael Oakeshott, University Park 2001. In deutscher Sprache erschienen bisher lediglich zwei Werke Oakeshotts, um deren Publikation sich insbes. Wilhelm Hennis verdient gemacht hat: Michael Oakeshott, Rationalismus in der Politik, Neuwied, Berlin 1966 und ders., Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik, mit einem Vorwort von Wilhelm Hennis, hrsg. von Timothy Fuller, Berlin 2000. Rationalismus in der Politik ist die Übersetzung des zuerst 1962 erschienenen Aufsatzbandes Rationalism in politics and other essays. Dieses Buch wurde zwischenzeitlich in erweiterter Fassung neu veröffentlicht: Michael Oakeshott, Rationalism in politics and other essays, Foreword by Timothy Fuller, new and expanded edition, Indianapolis 1991. Nach der neuen Ausgabe wird im folgenden mit der Sigle „RP" zitiert. Eine

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Oakeshotts erste monographische Arbeit, Experience and its Modes (1933) 8 , beschäftigt sich mit den Unterschieden und der Art der Beziehungen zwischen den Erfahrungsweisen der Naturwissenschaft, der Geschichtsschreibung, der Praxis und der Philosophie. Es geht ihm in dem Buch darum, die Besonderheit und Eigenständigkeit philosophischen Denkens in der von Wissenschaft und Technik geprägten modernen Welt aufzuweisen. In dieser Absicht entfaltet Experience and its Mode eine Theorie des (philosophischen) Wissens, die in scharfem Gegensatz insbesondere zum philosophischen Positivismus der damaligen Zeit steht und die an Hegel und die Tradition des englischen Idealismus anknüpft (s. EM 6). Die philosophische Erfahrung gilt Oakeshott in dem Werk als konkrete Erfahrung, als das reflektierte Ganze der Erfahrung. Diese unterscheidet er von den abstrakten Erfahrungsmodi, welche das Ganze der Erfahrung aus einer nur partikularen, eingeschränkten Perspektive in den Blick bekommen. Praktische Erfahrung etwa gilt Oakeshott als abstrakt, weil sie die Welt unter dem Gesichtspunkt des Wollens, der Interessen, Absichten, Neigungen etc. in den Blick nimmt (s. insbes. EM 258), die Welt also von dort her beurteilt, wie sie zu verändern ist. Der in Experience and its Modes entwickelte Begriff der Philosophie bildet den Kern des politischen Denkens, das Oakeshott in den folgenden Jahrzehnten entfaltet. 9 Seine Aufmerksamkeit gilt dabei zum einen den Klassikern des politischen Denkens, allen voran Thomas Hobbes, dessen Leviathan Oakeshott mit einer von ihm verfaßten umfangreichen Einführung 1946 herausgibt und dessen Werk er sich immer wieder aufs neue zuwendet. Zum anderen aber setzt sich Oakeshott mit dem politischen Denken seiner Zeit auseinander. In den vierziger und fünfziger Jahren gilt sein Interesse besonders den rationalistischen Vorstellungen von einer quasi technischen Planbarkeit der Gesellschaft und einer die rationalistische Sozialplanung umsetzenden Politik. Solche Doktrinen waren im England der späten vierziger Jahre nicht zuletzt als Folgewirkung der Organisation der Kriegswirtschaft verbreitet und fanden ihren intellektuellen Ausdruck in Büchern wie demjenigen Karl Mannheims über Man and Society in an Age of Reconstruction (1940, dt. bereits 1935). In kritischer Auseinandersetzung mit solchen Ideen erforscht Oakeshott die Eigenart praktischer

deutschsprachige Einfuhrung in Oakeshotts Werk gibt jetzt (unter einem etwas in die Irre führenden Titel) Michael Becker, „Die politische Theorie des Konservatismus: Michael Oakeshott", in: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart I. Eine Einführung, Opladen 2002, 221-251. 8 Michael Oakeshott, Experience and its Modes (1933), Cambridge et al. 1991 ; zitiert als „EM". 9 Der Philosophiebegriff Oakeshotts erfuhr im Laufe der Jahrzehnte einige kleinere Modifikationen, die hier nicht berücksichtigt werden können. Auch der Genese des Oakeshottschen Philosophiebegriffs kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Siehe dazu im einzelnen Franco, The Political Philosophy of Michael Oakeshott, a.a.O., passim, insbes. 161 ff. sowie Ν ardin, The Philosophy of Michael Oakeshott, a.a.O., insbes. 44-53 und passim.

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Rationalität. Praktische Rationalität kommt nach Oakeshott in dem Umgang von Menschen miteinander zum Ausdruck, der der überkommenen Art und Weise entspricht, wie diese ihr Zusammenleben gestalten, der also ihren Traditionen des Zusammenlebens korrespondiert. Indem Oakeshott die praktische Rationalität gegen einen technizistischen Rationalismus in Stellung bringt, für den Rationalität in der Anwendung von geeigneten Mitteln zur Erreichung gegebener Ziele besteht, macht er sich keineswegs zum Anwalt eines starren oder rückwärtsgewandten Traditionalismus. Oakeshott ist kein Gegner von gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. Es geht ihm in erster Linie darum zu zeigen, daß solche Veränderungen nur dann als vernünftig betrachtet werden können, wenn sie sich an den Lebensweisen einer Gesellschaft orientieren, wenn sie berücksichtigen, wie die Menschen ihr Zusammenleben tatsächlich gestalten. Aus der Perspektive einer Zweckrationalität muß solches als geradezu irrational erscheinen. Doch umgekehrt liegt für Oakeshott auf der Hand, daß Handeln irrational wird, wenn es unter zweckrationalen Gesichtspunkten die Sachgerechtigkeit denjenigen Vorstellungen überordnet, die die Menschen davon haben, welcher Ort den Sachen in ihrem Zusammenleben zukommt - oder vereinfachend ausgedrückt: wenn die Sachlogik über die Menschen gestellt wird. Und dies gilt besonders auch für die Politik. In seiner Auseinandersetzung mit rationalistischen Konzepten ist es Oakeshott nicht zuletzt ein entscheidendes Anliegen, die im praktisch-rationalen Handeln beschlossene Humanität aufzuweisen. Sie resultiert daraus, daß praktisch-rationales Handeln das Selbstverständnis der Menschen in Rechnung stellt, das sich in Sitten und Gewohnheiten der Gemeinschaft manifestiert. Sitten und Gewohnheiten werden dabei den abstrakten moralischen Regeln und Idealen gegenübergestellt, denen es in Oakeshotts Augen an Flexibilität in bezug auf die sich verändernden Verhältnisse mangelt. So laufen die moralischen Regeln und Ideale stets Gefahr, um ihres Geltungsanspruchs willen die Situation ihrer Anwendung und die in dieser Situation handelnden Menschen außer acht zu lassen. Sitten und Gewohnheiten hingegen sind „always adaptable and susceptible to the nuance of the situation" (RP 471). Die wichtigsten Arbeiten, in denen sich Oakeshott mit der Problematik rationaler Praxis beschäftigt, vor allem die Aufsätze Rationalism in politics ( 1947), The tower of Babel (1948), Rational conduct (1950) und Political education (1951), wurden 1962 in dem Sammelband Rationalism in Politics veröffentlicht. In den Kontext der genannten Aufsätze gehört auch der Text On being conservative (1956), in dem Oakeshott die Eigenart konservativer Wesensart in enger Anlehnung an seine Charakterisierung praktischer Rationalität entwickelt. Aus dieser Arbeit sei eine längere Passage zitiert, die auch ein schönes Beispiel für den literarischen Stil des Engländers darstellt. Zunächst stellt Oakeshott dort fest, daß die allgemeinen Charakteristika der konservativen disposition nicht schwer einzusehen seien, auch wenn sie oft mißverstanden würden. Dann stellt er diese Charakteristika vor: „They centre upon a propensity to use and enjoy what is available rather than to wish for or look for something else; to delight in what is present rather than what was or what may be. Reflection may bring to light an appropriate gratefulness for what is available, and

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consequently the acknowledgment of a gift or an inheritance from the past; but there is no mere idolizing of what is past and gone. What is esteemed is the present; and it is esteemed not on account of its connections with a remote antiquity, nor because it is recognized to be more admirable than any possible alternative, but on account of its familiarity: not, Verweile doch, du bist so schön, but, Stay with me because I am attached to you. [...] To be conservative, then, is to prefer the familiar to the unknown, to prefer the tried to the untried, fact to mystery, the actual to the possible, the limited to the unbounded, the near to the distant, the sufficient to the superabundant, the convenient to the perfect, present laughter to Utopian bliss. Familiar relationships and loyalties will be preferred to the allure of more profitable attachments; to acquire and to enlarge will be less important than to keep, to cultivate and to enjoy; the grief of loss will be more acute then the excitement of novelty or promise. It is to be equal to one's own fortune, to live at the level of one's own means, to be content with the want of greater perfection which belongs alike to oneself and one's circumstances" (RP 408 f.).

Konservativ zu sein bedeutet demnach, der praktischen Ratio zu folgen, gegenüber irdischen Verheißungen und einem Vertrauen in die technische Machbarkeit gesellschaftlicher Angelegenheiten skeptisch zu sein. Oakeshott leuchtete die Unterschiede zwischen Rationalismus und praktischer Ratio, zwischen Vernunftoptimismus und Skepsis in weiteren Arbeiten und unter Verwendung einer mehrfach modifizierten Terminologie in unterschiedliche Richtungen aus. Dabei wandte er sich mehr und mehr der Erforschung des Umstandes zu, daß der Dualismus der beiden Haltungen bzw. Auffassungen für die moderne politische Geschichte Europas prägend war. Eine erste umfassende Bearbeitung dieser Thematik, das vermutlich 1952 abgeschlossene Manuskript The Politics of Faith and the Politics of Scepticism, veröffentlichte Oakeshott nicht 10 ; vielmehr präsentierte er erst 1975 seine Überlegungen in ausgereifter Form, nämlich in seinem Hauptwerk On Human Conduct. 11 Dieses Buch ist der Entwurf einer philosophischen Theorie des modernen Staates auf der Grundlage einer Konzeption menschlichen Handelns bzw. einer Konzeption der Praxis. In ihm unterscheidet Oakeshott zwei Arten menschlicher association , nämlich civil association und enterprise association. Erstere ist ihrer Natur nach nicht-instrumental, während letztere um der Erreichung gemeinsamer Zwecke willen besteht. Der moderne Staat vereint beide Assoziationsformen in sich, wobei je nach den Umständen der Zeit einmal diese, einmal jene in den Vordergrund tritt. Es kommt Oakeshott jedoch darauf an zu zeigen, daß es die civil association ist, welche das Zusammenleben der Menschen in Freiheit gewährleistet. Die civil association konstituiert und verfolgt keine gemeinsamen Zwecke (s. OHC 147 f.), sondern sie beruht auf Regeln des öffentlichen Zusammenlebens, die als verbindlich angesehen werden, weil sie die allen gemeinsame Lebensweise der betreffenden Gesellschaft zum Ausdruck bringen - weshalb Oakeshott sie respublica nennt, „the

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Die Schrift wurde erst postum veröffentlicht (hrsg. von Timothy Fuller, New Haven 1996) und liegt inzwischen in einer deutschen Übersetzung vor: Oakeshott, Zuversicht und Skepsis, a.a.O. 11 Michael Oakeshott, On Human Conduct (1975), Oxford 1991, hier zitiert als „OHC".

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public concern or consideration of cives " (OHC 147). „What relates cives to one another and constitutes civil association is the acknowledgement of the authority of respublica and the recognition of subscription to its conditions as an obligation" (OHC 149). Die Autorität der respublica und der sie konstituierenden Regeln wird von der Staatsleitung und der Verwaltung gewährleistet und durchgesetzt; den rules der respublica entsprechen ein ruling und ein apparatus of rule. Auf der Grundlage der civil association , in der sich jeder als Bürger wiederfindet, ist es jedem möglich, als Privatmann seinen eigenen Zwecken nach eigenem Gutdünken zu folgen. Wie schon in Experience and its Mode ist auch in On Human Conduct Hegel ein entscheidender Gewährsmann Oakeshotts. Hatte er sich für die im Buch von 1933 präsentierte Argumentation vor allem mit Hegels Phänomenologie auseinandergesetzt, gilt seine Aufmerksamkeit nun den Grundlinien der Philosophie des Rechts, denen Oakeshott auch eine ausführlichere Interpretation widmet (OHC 257-263). Nicht nur diese Interpretation, sondern der Argumentationsgang der gesamten Arbeit läßt erkennen, daß Oakeshott das gleiche Anliegen teilt, das auch Hegel bewegte, nämlich den modernen Staat als die Verwirklichung der Freiheit zu begreifen. 12 IL

Wenn man sich die Titel von Arbeiten Buchheims vor Augen führt (etwa: Wie der Staat existiert, Rationales Handeln bei Thukydides, Moderner Konservativismus), so legt bereits die knappe Darstellung des Oakeshottschen Werkes die Verwandtschaft Oakeshotts und Buchheims in bezug auf thematische Interessen nahe. Aber es sind nicht nur gleiche Interessen, sondern vielmehr tatsächliche inhaltliche Übereinstimmungen, die zwischen den Arbeiten der beiden Gelehrten bestehen. An vier exemplarischen Themen sind diese Übereinstimmungen nunmehr etwas eingehender zu verdeutlichen. Eine ausführlichere Erörterung der Parallelen, die über das hier Anzudeutende deutlich hinausgehen, ist an dieser Stelle ebensowenig zu leisten wie eine genauere Diskussion der Unterschiede, die zwischen den Ansätzen der beiden Theoretiker bestehen. - Gemeinsam ist den beiden Politikwissenschaftlern die Art der Auseinandersetzung mit den Klassikern des politischen Denkens. In Form von separaten Interpretationen oder im Rahmen systematischer Arbeiten widmen sich Oakeshott wie Buchheim dem Denken Thukydides', Marsilius' von Padua, Machiavellis, Hobbes', Rousseaus, Kants, Hegels und anderer. 13 Das Studium der Klassiker wird von ihnen als unumgänglich

12

Paul Franco hält Oakeshotts On Human Conduct für eine „purer, slimmed down version of the Philosophy of Right (Franco, The Political Philosophy of Michael Oakeshott, a.a.O., 209). 13 Siehe etwa Michael Oakeshott , „John Locke", in: Cambridge Review 54 (1932/33), 72 f.; ders., „The new Bentham" (1932), in: RP 132-150; ders., Hobbes on Civil Association, Oxford 1975; ders., OHC, 109 ff. (Aristoteles), 216 ff. (Marsilius), 257 ff. (Hegel); Hans Buchheim, Der demokratische Verfassungsstaat und das Problem der Demo-

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für die Verfolgung des theoretischen Anliegens aufgefaßt, die politischen Grundprobleme der modernen Gegenwart besser verstehen zu können. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß die Tradition der westlichen politischen Philosophie gewissermaßen ein die Generationen übergreifendes Gespräch über das sich gleichbleibende Problem des öffentlichen Zusammenlebens in Freiheit darstellt; ein Gespräch, in dem die theoretischen Überlegungen der früheren Denker die Anknüpfungspunkte für die späteren darstellen. Die Tradition der politischen Philosophie ist aus dieser Perspektive nicht einfach ein Sammelsurium von nur noch doxographisch zu referierenden Ideen, sondern ein unabgeschlossener Diskurs um die Frage, wie das öffentliche Zusammenleben in Frieden und Freiheit möglich ist. 14 Eine solche Auffassung von der Geschichte des politischen Denkens hat zur Folge, daß die von den Klassikern vorgebrachten Argumente erstens zwar für sich und in ihrem je eigenen Kontext zu interpretieren sind, daß sie aber zweitens stets vom Standpunkt der Gegenwart aus neu durchdacht werden müssen und sie dementsprechend für das heutige Nachdenken als revisionsfähig anzusehen sind. Aus dem zweiten Gesichtspunkt resultiert, daß konstruktive Argumente der Klassiker heute nicht einfach ohne weiteres übernommen werden können, sondern die entsprechenden Überlegungen, soweit sie auch für die Gegenwart Geltung beanspruchen können, im jeweils eigenen theoretischen Ansatz „aufgehoben" werden müssen. - Ein zentrales Interesse Oakeshotts wie Buchheims besteht in der Erforschung der Eigenart praktischer Ratio. Der Mensch gilt ihnen als das inter homines sich im Handeln verwirklichende Wesen. Ihr besonderes Augenmerk richten sie in den jeweils einschlägigen Arbeiten auf die Herausarbeitung des sittlichen Charakters praktischrationalen Handelns15, wobei sich die Argumentationen durchaus voneinander

kratisierung der Gesellschaft, o.O. (Mainz) 1975, 19 ff. (Marsilius), 21 ff. (Jean Bodin), 23 f. (Johannes Althusius), 26 ff. (Rousseau), 33 ff. (Marx); ders., „Anmerkungen zu Machiavellis ,11 Principe 4 ", in: Der Staat 25 (1986), 207-231 (*); ders., „Rationales Handeln bei Thukydides", in: Der Staat 30 (1991), 323-347 (*); ders., „Zu Hobbes' »Leviathan4", in: Politisches Denken. Jahrbuch 1993, Stuttgart, Weimar 1994,47-57; ders., „Zur Interpretation von Rousseaus ,Du contrat social"', in: Der Staat 3 5 (1996), 389-409. Die hier und im folgenden mit einem Asterisc gekennzeichneten Arbeiten Buchheims finden sich auch abgedruckt in: Hans Buchheim, Beiträge zur Ontologie der Politik, München 1993. 14 In diesem Sinne ausdrücklich Buchheim, Der demokratische Verfassungsstaat, a.a.O., 2. 15 Siehe insbesondere Oakeshott, „The tower of Babel", in: RP 465-487; Hans Buchheim, Die Rationalität der politischen Vernunft. Über unlogische Vernunft und unvernünftige Logik, hrsg. und mit einem Nachwort von Michael Henkel, Berlin 2004; ders., TdP, passim; ders., „Die Ethik der Macht", in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Wirtschaftliche Entwicklungslinien und gesellschaftlicher Wandel, Köln 1983,43-60 (*); ders., „Person und Politik", in: Volker Gerhardt (Hrsg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, 95-108 (*); ders., Politik und Ethik, München 1991 ; ders., „Der Ort des Moralischen in der Politik", in: Akademie für politische Bildung Tutzing (Hrsg.), Politik und Moral. Ein Symposium, Tutzing 1991, 1-6; ders.,

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unterscheiden, die jeweiligen Ergebnisse jedoch weitgehend übereinstimmen - nämlich darin, daß praktisch-rationales Handeln an sich einen sittlichen Sinn hat, der daraus resultiert, daß sich solches Handeln an den personalen Umständen orientiert, also stets mit Blick auf den Anderen erfolgt. Die Konzeptionen Oakeshotts und Buchheims richten sich dabei kritisch nicht nur gegen einen moralischen Subjektivismus einerseits und einen moralischen Formalismus andererseits, sondern auch gegen Ansätze, welche die Rationalität des Handelns am Paradigma einer instrumenteilen oder konstruktivistischen Vernunft messen. - Oakeshott ebenso wie Buchheim sehen die praktische Rationalität als für den Konservativismus typisch an. Konservativismus gilt ihnen dabei nicht als eine durch bestimmte inhaltliche Überzeugungen gekennzeichnete Doktrin, sondern vielmehr als eine bestimmte Art und Weise, über die Welt nachzudenken und in ihr zu handeln. Die konservative Denkweise und Einstellung besteht in der „alltagspraktischen Vernünftigkeit" 16 , das heißt in einer Vernünftigkeit, die die jeweils gegebenen Umstände in Rechnung stellt, die sich nicht von Verheißungen leiten läßt und nicht starr an Regeln festhält und die sich darum ihre Humanität bewahrt - wohingegen das Streben nach Umsetzung von als gewiß geltenden moralischen Regeln - der Rigorismus - „zum Widersacher nicht nur der Wirklichkeit, sondern auch der Mitmenschlichkeit werden kann." 17 Der von Oakeshott und Buchheim explizierte Begriff des Konservativismus weist nicht nur die antirigoristische und antiradikale Eigenart konservativer Mentalität auf, sondern er ist auch geeignet, den Konservativismus vor Selbstmißverständnissen zu bewahren. Letzteres ist vor dem Hintergrund der Geschichte des deutschen Konservativismus insbesondere Buchheims Anliegen.. Er versteht seine in dem Aufsatz über den Modernen Konservativismus entfaltete Konzeption als diejenige eines über sich selbst aufgeklärten und darum modernen Konservativismus, eines Konservativismus', der weder in eine „Überbewertung von Tradition und Autorität", noch in eine Gemeinschaftsideologie verfällt 18 und sich nicht in einen Kult des Ewig-Gültigen, der Nation oder der Geschichte ergeht. - Zentral für Oakeshott und Buchheim ist ihre Beschäftigung mit der Eigenart des modernen Verfassungsstaates. Beide entwickeln eine Theorie desfreiheitlichen Staates bzw. des modernen politischen Verbandes, Oakeshott vor allem in On Human

„Hans Globke - oder die Kunst des Möglichen im Verfassungsstaat und unter totalitärer Herrschaft", in: Karl Graf Ballestrem (Hrsg.), Sozialethik und politische Bildung. Festschrift für Bernhard Sutor zum 65. Geburtstag, Paderborn et al. 1995, 77-92. 16 Siehe Hans Buchheim, „Moderner Konservativismus", in: Manfred Mols et al. (Hrsg.), Normative und institutionelle Ordnungsprobleme des modernen Staates. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Hättich am 12. Oktober 1990, Paderborn et al. 1990, 13-23, hier: 13 und 22. Buchheim zitiert in dieser wie in einigen anderen Arbeiten Oakeshott als Gewährsmann seiner Argumentation (und zwar die deutsche Übersetzung von Rationalism and politics). 17 Ebenda, 22. 18 Ebenda, 19.

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Conduct , Buchheim insbesondere in der Theorie der Politik und in dem Aufsatz Wie der Staat existiert. 19 Mit diesen Arbeiten stellen sie sich in die Tradition des politischen Denkens, deren Grundfrage Rousseau im Contrat social (1,6) paradigmatisch formulierte: „Wie findet man einen Zusammenschluß, der mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Hab und Gut jedes Gesellschaftsmitgliedes verteidigt und schützt, wobei dieses, obgleich es sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt, wie zuvor?" Die praktische Antwort auf diese Frage ist in der Moderne der Verfassungsstaat westlicher Prägung. Diesen zu verstehen und seine Existenzweise zu erklären, ist die immer wieder neu gestellte Aufgabe der modernen politischen Theorie. In der Bewältigung dieser Aufgabe gehen Oakeshott und Buchheim einen über weite Strecken gemeinsamen Weg, wenngleich es hier in ihren theoretischen Entwürfen auch signifikante Unterschiede gibt. 20 Ein wichtiges gemeinsames Kennzeichen ihrer Überlegungen ist der Verzicht auf eine naturrechtliche Perspektive. Die Existenz des Staates als der Instanz, die die gemeinsame Freiheit aus Freiheit gewährleistet, wird theoretisch aus der Eigenart der menschlichen Intelligenz hergeleitet, aus der sich wiederum die Charakteristika menschlicher Praxis ergeben. Die entscheidende Eigenart menschlicher Intelligenz faßt Buchheim im Begriff der Intention, während Oakeshott von „intelligence" (oder „reflective consciousness") spricht 21, wobei diese Konzepte die Aspekte des menschlichen Erkennens und freien Wollens umfassen. Zwar sind die jeweiligen Begriffe nicht völlig identisch, doch sind sie offenkundig nahe verwandt; aus beiden resultiert, daß sich der Mensch in der Verwirklichung seiner Absichten, Ziele, Interessen etc. mit den Absichten, Zielen, Interessen etc., die andere zu verwirklichen trachten, konfrontiert sieht.22 Die soziale Welt wird demnach durch das Handeln konstituiert, für das die (letztlich allseitig) wechselseitige Konditionierung der aktualisierten Absichten, Ziele, Interessen etc. bestimmend ist. Von diesen fundamentalen Überlegungen ausgehend, wird von Oakeshott wie von Buchheim Schritt für Schritt in Form einer Theorie des modernenfreiheitlichen Staates

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Hans Buchheim, „Wie der Staat existiert", in: Der Staat 27 (1988), 1-21 (*); siehe insbes. auch ders., „Probleme der Juridifizierung der Verfassung", in: Detlef Merten/Rudolf Morsey (Hrsg.), 30 Jahre Grundgesetz. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 47. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1979 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1979,19-34; ders., Der demokratische Verfassungsstaat, a.a.O. und ders., „Der Einzelne und die Politik", in: Günther Rüther (Hrsg.), Politik und Gesellschaft in Deutschland. Grundlagen, Zusammenhänge, Herausforderungen, Köln 1994, 26-30. 20 Während beispielsweise Oakeshott seine Theorie anhand von Interpretationen der historischen Entwicklung des modernen Staates entfaltet und immer wieder die Historie bemüht, abstrahiert Buchheim in TdP bei der Ausführung der Theorie vollständig von historischen Erläuterungen und entwickelt die Theorie ausgehend von einer Elementarlehre der Sozialität streng systematisch. 21 Siehe Buchheim, TdP 15 f.; ders., „Person und Politik", a.a.O., 99 ff.; Oakeshott, OHC 33, 36. 22 Siehe dazu Buchheim TdP, 47 ff.; Oakeshott, OHC 39.

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die Antwort auf die von Rousseau formulierte Frage gegeben, ohne dabei zusätzliche Annahmen wie etwa die einer apriorischen Pflicht zum Staat oder der Existenz natürlicher Rechte machen zu müssen. Die vorstehenden vergleichenden Betrachtungen vermitteln einen ersten Eindruck von der Verwandtschaft des Oakeshottschen und des Buchheimschen politischen Denkens und zeigen, daß beide Theoretiker die politische Welt von der gleichen Perspektive ausgehend in den Blick nehmen.23 Vor dem Hintergrund dieser Feststellung kann nunmehr näher auf Buchheims Begriff einer philosophischen Theorie der Politik eingegangen werden, indem die Charakteristika der Buchheimschen politischen Theorie mit Oakeshotts Überlegungen zum Begriff der politischen Philosophie konfrontiert werden. Dabei zeigt sich zwischen beiden eine weitgehende Übereinstimmung im Verständnis dessen, was eine philosophische Theorie der Politik ist. III. Wenn die Oakeshottsche wie die Buchheimsche Theorie des modernen Staates auf im weitesten Sinne naturrechtliche Prämissen verzichten, bedeutet dies, daß sie in der Theorie des Staates - weder auf einen Naturzustand rekurrieren, in dem die Geltung vorstaatlicher Rechte angenommen wird, welche der via Vertrag zu konstituierende Staat zu achten und zu schützen verpflichtet sei, - noch eine vorausgesetzte, von allen Gesellschaftsmitgliedern akzeptierte Konzeption des Guten annehmen, die im Sinne eines inhaltlichen Konsenses die Integration der Gesellschaft im Staat erst ermögliche. Statt derartige normative Prämissen vorauszusetzen, gehen Oakeshott wie Buchheim von der Beobachtung faktischer Effekte des (durch die Eigenart menschlicher Intelligenz geprägten) Zusammenlebens von Menschen aus. Die Tatsache, daß Menschen in Gesellschaft miteinander umzugehen gezwungen sind, weil sie unwillkürlich aufeinandertreffen, führt demnach zur Ausbildung von Modi des Umgangs miteinander im öffentlichen Raum und zur Notwendigkeit, diese Modi verbindlich durchzusetzen. Im modernen Staat werden die Arten des öffentlichen Umgangs miteinander unter Rückgriff auf das Konzept der Freiheit thematisiert, das seine konkrete Gestalt in der Verfassung gewinnt. 24 Das Konzept der Freiheit als

23

Die Theorien Oakeshotts und Buchheims sind völlig unabhängig voneinander erarbeitet worden. Ihre große Übereinstimmung resultiert vermutlich aus zwei Umständen: Sowohl Oakeshott als auch Buchheim studierten die Historie unter dem Gesichtspunkt der politischen Praxis; vor allem aber vermittelte offenkundig das Studium Hegels die gleiche Perspektive im Blick auf die politische und soziale Welt. 24 Siehe dazu bes. Hans Buchheim, „Freiheiten unserer Zeit. Was das Grundgesetz fordert und ermöglicht", in: Die politische Meinung 23 (1978), 13-23.

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dasjenige des öffentlichen Zusammenlebens ist hier nicht eine normative Forderung der Theorie selbst, sondern es wird in der Theorie als Resultat der historischen Entwicklung des Westens ausgewiesen, als eine spezifische politische Kulturleistung. 25 Mithin handelt es sich bei den Ansätzen Oakeshotts und Buchheims nicht um normative Theorien, nicht um Theorien, die den Staat oder Prinzipien der öffentlichen Ordnung zu legitimieren versuchen. Vielmehr geht es ihnen um die Beschreibung und um das Begreifen der politischen Ordnung des modernen Staates unter Annahme der allgemeinen Voraussetzung einer Konzeption des Menschen als erkennendes undfrei wollendes Wesen und unter Berücksichtigung des gesellschaftlich-politischen Selbstverständnisses, das im modernen Staat zum Ausdruck kommt. Die Theorien Oakeshotts und Buchheims unterscheiden sich also im Grundsätzlichen von normativen Ansätzen in der politischen Philosophie, insbesondere von vertragstheoretischen Entwürfen. Zu letzteren stellte Wolfgang Kersting einmal fest, daß es „in der politischen Philosophie des Gesellschaftsvertrages [...] freilich nicht um Probleme der angemessenen Beschreibung sozialer Wirklichkeit und der Erklärung gesellschaftlicher Kohärenz" gehe, „sondern um Probleme der Legitimation staatlicher Herrschaft, der Begründung politischer Obligation und der Rechtfertigung sozialer Normen und politischer Organisationsformen." 26 Ein solches Verständnis von politischer Philosophie als normativer Theorie kontrastiert sehr deutlich mit der Konzeption Oakeshotts, wenn dieser einmal ausführt: „Philosophy is [...] saying something such that, i f true, things would be as they are." 27 Einer politischen Philosophie in diesem Sinne geht es also nicht darum, den Staat - und allgemeiner: die politische Welt - nach normativen Kriterien zu bewerten, sondern sie in ihrem Sosein, ihrer eigenartigen Existenzweise rechenschaftsfähig zu erklären. Solches bedeutet nicht die bloße Darstellung von Gegebenheiten, sondern es bedeutet das Aufdecken der Hintergründe, Bedingungen und Zusammenhänge jener Gegebenheiten, das vorbehaltlose Weiterfragen bis zu dem Punkt, an dem die Einsicht komplett und distinkt ist. Diese Art vollständiger und nicht weiter hintergehbarer Einsicht ist für Oakeshott konkretes Wissen, philosophisches Wissen oder - in der Sprache von Experience and its Modes : sie ist philosophical experience. Gegenüber dem philosophischen Erfahrungsmodus bleiben alle anderen Modi, wie Oakeshott in der frühen Arbeit ausführt, abstrakt, weil sie das Ganze der Erfahrung stets aus einer bedingten Perspektive, also eingeschränkt und insofern defizitär, in den Blick bekommen. Dies gilt auch für den Modus der praktischen Erfahrung. Letzterer kommt die Welt aus der Perspektive ihrer Veränderbarkeit durch wollendes Handeln in den Blick. Die Welt ist für die Praxis die Welt, wie sie sein soll: „In

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Siehe Hans Buchheim, Europa. Zu seinen geistigen und ethischen Grundlagen, Köln 1990. 26 Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994,41. 27 Michael Oakeshott, „Besprechung von J. D. Mabbott, The State and the Citizen", in: Mind L V I I I (1949), 378-389, hier: 384.

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practice a coherent world of experience is achieved by means of action, by the introduction of actual change into existence. And the aspect of mind involved is the will; practical thought is volition; practical experience is the world sub specie voluntatis " (EM 258). Demgegenüber hebt die philosophische Erfahrung alle einschränkenden Perspektiven auf: „Philosophical experience [...] I take to be experience without presupposition, reservation, arrest or modification. Philosophical knowledge is knowledge which carries with it the evidence of its own completeness. The philosopher is simply the victim of thought. [...] In philosophy (seldom desired and less often achieved), what is satisfactory is only what is positive and complete. And when philosophy is sought, it must be sought for its own sake. It depends for its existence upon maintaining its independencefrom all extraneous interests, and in particular from practical interest."28 Philosophie in diesem Sinne muß systematische Philosophie sein, das heißt: die begrifflichen Zusammenhänge ihrer zentralen Konzepte müssen in einer Weise expliziert werden, daß jeder einzelne dieser Begriffe sich als ohne alle anderen Begriffe nicht verstehbar erweist. 29 Das bedeutet auch, daß letztlich jede philosophische Subdisziplin wie die politische Philosophie über sich hinausweist auf das Ganze der Philosophie. Ein derart strenger Philosophiebegriff wie der Oakeshottsche fordert zwar nicht, daß stets eine vollständige Philosophie auszubuchstabieren wäre, doch verlangt er, daß in der jeweiligen philosophischen („Sub-") Theorie kenntlich gemacht wird, wo und inwiefern sie über sich hinausweist, wo ihre eigenen Begrenzungen und Bedingungen bestehen, wo sie für weiterführendes Philosophieren offen ist. Innerhalb der so ausgewiesenen Grenzen ist dann eine Vollständigkeit in dem Sinne möglich, daß die philosophische Theorie - also etwa eine philosophische Theorie der Politik oder des Staates - ihre Prämissen als für ihren Geltungsbereich notwendig und hinreichend erläutert und diesen Geltungsbereich markiert. Die politische Philosophie hat für Oakeshott von der Alltagserfahrung, von der vor-philosophischen Welt der sozialen und politischen Praxis auszugehen und muß dort ihr Nachdenken beginnen, denn es geht darum, deren implizite Bedingungen, Zusammenhänge und Prinzipien aufzudecken. Dieses Nachdenken nötigt zur Klärung der Begriffe und dazu, das Zufallige und Unwesentliche auszuklammern und für die gewonnenen Einsichten eine angemessene Sprache zu finden. So erweist sich das Philosophieren aus der Perspektive der Alltagserfahrung und der Welt der Praxis seinerseits als ein Prozeß der Abstraktion, und tatsächlich kann man im Sinne dieses

28

E M 2 f., siehe dazu insbesondere auch Michael Oakeshott , „What is Political Theory?" (1973), in: ders., What is History? and other essays, edited by Luke Ο'Sullivan, Exeter, Charlottesville 2004, 391-402, hier: 394 f. und 379. 29 Die in diesem Absatz folgenden Ausführungen sind eine Interpretation der Oakeshottschen Konzeption und orientieren sich an Alexander Wieharts Erläuterungen des Begriffs einer systematischen Philosophie in: Rolf Gröschner et al., Rechts- und Staatsphilosophie. Ein dogmenphilosophischer Dialog, Berlin et al., 270 f.

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Philosophiebegriffs sagen, daß „der Weg zum Konkreten [...] über Abstraktion" 30 fuhrt. Damit aber transformiert die Philosophie die Alltagserfahrung und ihre Einsichten werden „unpraktisch". Diesen Punkt betont Oakeshott immer wieder und macht ihn auf verschiedene Weise plausibel. An einer Stelle etwa übernimmt er ein Bild des Politiktheoretikers John David Mabbott, der den Philosophen mit jemandem vergleicht, der den Turm einer Kathedrale ersteigt:, A t each level the view changes, new things come into range and old things [...] change their appearance. He may tire and stop half way, he may suffer from vertigo, and he has no means of knowing when he has got to the top - but he does his best."31 - Anders als Mabbott ist Oakeshott überzeugt, daß die in der Höhe erreichten Aussichten nach der Rückkehr auf den Boden nicht „angewandt" werden können und er fragt daher rhetorisch: „When one reaches the ground again, in what sense can we »apply4 the view we had from the top of the tower?" 32 An einer anderen Stelle (OHC 27-31) bemüht Oakeshott das Höhlengleichnis Platons. In diesen Veranschaulichungen geht es ihm darum zu zeigen, daß philosophische Erfahrung die vor-philosophische Erfahrung der Praxis transformiert oder aufhebt, diese aber nichtsdestoweniger keineswegs ersetzt und die Praxis auch nicht zu leiten vermag: „Philosophical reflection is recognized here as the adventure of one who seeks to understand in other terms what he already understands and in which the understanding sought (itself unavoidably conditional) is a disclosure of the conditions of the understanding enjoyed and not a substitute for it" (OHC viii). Und:, A philosophy of politics [...] is unable to give guidance for action, and it cannot be supposed to fail as a philosophy because it fails to give guidance for action/' 33 Ein Blick auf Buchheims theoretische Arbeiten, insbesondere auf die Theorie der Politik offenbart nun rasch, daß dem Buchheimschen Ansatz offenkundig genau der gleiche, von Oakeshott explizierte Begriff einer philosophischen Theorie zugrundeliegt: Der Anspruch der Theorie der Politik ist ausdrücklich, eine „positive and complete" Bestimmung sämtlicher Erscheinungsformen des Politischen zu geben, nämlich sämtliche als „politisch" zu bezeichnenden Gegebenheiten theoretisch zu fassen und sie zugleich gegenüber allen anderen Elementargegebenheiten der sozialen Realität abzugrenzen (siehe TdP 11), das heißt: zu explizieren, was Politik ist und worin die Eigentümlichkeit politischen Handelns besteht. Hierzu setzt Buchheim bei Einzel-

30 So Niklas Luhmann, „Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme", in: ders., Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, 74-103, hier: 74. 31 Oakeshott, „Besprechung von J. D. Mabbott", a.a.O., 383. 32 Ebenda, 384. 33 Michael Oakeshott, „The Concept of a Philosophy of Politics" (1946), in: ders., Religion, Politics and the Moral Life, edited by Timothy Fuller, New Haven, London 1993, 119-137, hier: 137. Siehe zum Verhältnis von Philosophie und Praxis bei Oakeshott ausführlich neuerdings Roy Tseng, The Sceptical Idealist. Michael Oakeshott as a Critic of the Enlightenment, Thorverton, Charlottesville 2003, 160 ff.

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erscheinungen der politischen Praxis an und erläutert seine Argumentation immer wieder an alltagspraktischen Beispielen oder an solchen aus der historischen oder zeitgenössischen politischen Praxis, doch erhebt sich die Theorie begrifflich über die besonderen Erscheinungsformen von Politik, um den hinter der Vielheit der politischen Phänomene stehenden Kerntatbestand identifizieren zu können, der alle einzelnen politischen Gegebenheiten überhaupt als politisch zu qualifizieren erlaubt. Die Erarbeitung des politischen Kerntatbestandes, nämlich daß Politik „primär situativ orientierte Interaktion" ist (siehe insbes. TdP 104 f.), kommt in den Blick durch die Abstraktion von den Bedingungen und Kontexten, die das je Besondere der einzelnen politischen Phänomene ausmachen. Die Abstraktion legt das Gemeinsame der politischen Phänomene frei. Dies Gemeinsame, der politische Kerntatbestand, ist als solcher wegen seiner Allgemeinheit in der täglichen Praxis nicht erfahrbar, er kann nur im und durch das Denken erfaßt und identifiziert werden - auf dem Weg der abstrahierenden Klärung dessen, was man bereits als politisch kennt. Die für die Theoriebildung notwendige Abstraktion erfordert ganz im Sinne des Oakeshottschen Philosophiebegriffs eine klare Terminologie, da die alltäglichen Begriffe der Präzision und Allgemeinheit theoretischer Begriffe entbehren (siehe TdP 13). Obgleich es sich bei Buchheims Theorie der Politik um eine Theorie der politischen Praxis handelt, ist sie dementsprechend aufgrund der Abstraktheit ihrer Terminologie und wegen ihrer Allgemeinheit, wie Buchheim ausdrücklich vermerkt, eine „praxisferne Theorie" (TdP 14,105). So geht es ihr weder darum, praktisch „anwendbar" zu sein, noch darum zu sagen, was sein soll. Sie erklärt vielmehr, wie sich die Dinge verhalten und warum die politischen Gegebenheiten sind, wie sie sind. Dies entspricht ganz dem Oakeshottschen Diktum, Philosophie sage etwas derart aus, „that, i f true, things would be as they are." Buchheims Theorie der Politik verfolgt entsprechend dem ihr zugrundeliegenden strengen Begriff einer philosophischen Theorie einen systematischen Anspruch, wobei einerseits der Geltungsbereich der Theorie genau bestimmt (siehe TdP 104), andererseits die Grenze der Theorie expliziert und schließlich ausgewiesen wird, wo die Theorie über sich selbst hinausweist und aus sich heraus einen umfassenderen Entwurf fordert. Dieser umfassendere Entwurf wird im Grunde vorausgesetzt, wäre aber selbst nicht mehr eine Theorie der Politik sondern eine allgemeinere, die Theorie der Politik aufhebende Theorie, und zwar eine allgemeine Theorie der personalen Interaktion und des sozialen Seins (siehe TdP 12). Buchheim führt diese allgemeinere Theorie nur so weit aus, als dies für die Theorie der Politik notwendig ist. Es ist nicht schwer, Oakeshotts und Buchheims Begriff der philosophischen Theorie in einen größeren geistesgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Im Grunde handelt es sich dabei um den vor dem Hintergrund moderner Entwicklungen neu formulierten klassischen Begriff der theoria (des Anschauens, der Schau) wie er von Platon und vor allem von Aristoteles bestimmt und namentlich von Hegel neu formuliert wurde. Theorein gilt den Alten als das von allem Praktischen, vom Willen zur Veränderung und von äußeren Zwecken absehende Hinschauen auf die Wirklichkeit; als eine Schau,

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die ihren Zweck nicht außerhalb ihrer selbst findet, die nicht zweckdienlich ist, sondern die ein in sich selbst sinnvolles, ein freies T u n darstellt 3 4 - wie Oakeshott formuliert: „sought for its own sake." W i e sehr Buchheims Theorieverständnis dieser klassischen Konzeption entspricht, spiegelt sich auch darin, daß er stets betont, seine Theorie sei nicht Theorie i m Sinne des an der Eigenart der Naturwissenschaften orientierten neuzeitlichen Theoriebegriffs, sondern eine Beschreibung. „Es w i r d etwas beschrieben", so Buchheim, „was der Alltagserfahrung nicht unmittelbar zugänglich ist, aber es ist Beschreibung von Wirklichkeit."35 Die Beschreibung der hinter der Alltagserfahrung liegenden Wirklichkeit mittels einer artifiziellen Terminologie 36 hat nicht nur zur Folge, daß der Leser nur mit großer

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Siehe auch Oakeshotts Rückgriff auf das klassische Verständnis von theoria in: Oakeshott, „What is Political Theory?", a.a.O., 391 ff. In jüngerer Zeit haben in Deutschland namentlich Hans-Georg Gadamer und Josef Pieper das klassische Theorieverständnis expliziert und aktualisiert: Siehe etwa Hans-Georg Gadamer, „Lob der Theorie" (1980), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, Neuere Philosophie II. Probleme, Gestalten, Tübingen 1999, 37-51 ; Josef Pieper, Was heißt philosophieren? Vier Vorlesungen, mit einem Nachwort von T.S. Eliot (1948). Pieper hebt hervor, daß philosophische Theorie Freiheit voraussetzt und nur in Freiheit und als freies Tun möglich ist. Philosophie ist demnach nicht möglich, wenn sie einem anderen Zweck als der Erkenntnis um der Erkenntnis selbst willen dienen soll oder wenn sie sich selbst in den Dienst von der Erkenntnis äußerlichen Zwecken stellt. In diesem Sinne führt er aus: „Philosophieren ist die reinste Gestalt von theorein, von speculari, von rein empfangendem Hinblicken auf die Wirklichkeit, worin die Dinge allein maßgebend sind, die Seele aber ausschließlich maßempfangend. Wo immer ein Seiendes in den philosophischen Blick genommen wird, da wird ,rein theoretisch* gefragt, auf eine Weise also, die von allem Praktischen, von allem Veränderungswillen unberührt ist und ebendann hinausgehoben über alle Zweckdienlichkeit. [...] »Theoretisch4 in diesem unabgeschwächten Sinn wird der Blick des Menschen nur dann sein können, wenn das Seiende, die Welt ihm etwas anderes ist und mehr als das Feld, das Material, der Rohstoff menschlicher Aktivität." (Pieper, Was heißt philosophieren?, hier zit. nach Josef Pieper, Lesebuch, Vorwort von Hans Urs von Balthasar, 3. Auflage, München 1990, 134). An anderer Stelle beschreibt Pieper in Anknüpfung an die Tradition theoria als Haltung, in welcher es „primär nur auf Eines abgesehen" sei: „auf Wahrheit, darauf also, daß die Wirklichkeit sich, soviel als möglich, so zeige, wie sie ist. Mit theoria ist eine Haltung gemeint, die frei ist von jeglichem auf die Praxis gerichteten ,um zu 4 , in der nicht ein Hauch der von Descartes proklamierten Intention zu spüren ist, durch Erkenntnis zum ,Herrn und Eigentümer der Natur 4 [...] zu werden. 44 (Josef Pieper, Philosophie - Kontemplation - Weisheit, Freiburg 1991,88). Die Parallelen zu Oakeshotts und Buchheims oben skizziertem Theorieverständnis liegen auf der Hand. 35 Hans Buchheim, Interview mit Michael Henkel, geführt am 21. April 1999, zitiert nach der von Hans Buchheim korrigierten und autorisierten Abschrift. 36 Durch seine Anlehnung an historische Vorgänge braucht Oakeshott (in OHC) weniger als Buchheim auf eine künstliche Terminologie zurückzugreifen. In OHC benutzt er jedoch verschiedene lateinische Termini, um nicht begrifflichen Befangenheiten zu erliegen. Demselben Anliegen dient die artifizielle Theoriesprache in Buchheims TdP.

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Mühe Zugang zur Theorie der Politik findet - was Buchheim durchaus bewußt ist. Vielmehr drängt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage auf, wie eine so abstrakte Theorie der Politik mit Blick auf die Interpretation und Deutung konkreter politischer Ereignisse und Gegebenheiten fruchtbar gemacht werden kann. Diese Frage gilt für die Politikwissenschaft noch mehr als für die politische Philosophie. Wenn es beider Aufgabe ist, auch zu gegenwärtigen politischen Vorgängen (etwa einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts) Stellung zu beziehen, sie zu interpretieren, zu theoretisieren und sie auch einem breiteren Publikum verständlich zu machen, bedarf es einer Sprache, deren Abstraktionshöhe einerseits geeignet ist, das Prinzipielle und Wesentliche hinter den Zufälligkeiten sichtbar werden zu lassen, die aber andererseits zugleich unmittelbar an die Sprache der Praxis - also etwa an Äußerungen von Politikern, an diplomatische und völkerrechtliche Dokumente, an Entscheidungstexte des Bundesverfassungsgerichts - anknüpfen kann. Die Sprache der Buchheimschen Theorie der Politik ist keine solche Sprache. Sie ist vielmehr eine Sprache, die ihrerseits die Interpretationen von Vorgängen und Gegebenheiten der politischen Praxis zu orientieren und ordnen vermag, nämlich in Richtung auf die für Buchheim aller politikwissenschaftlichen Detailforschung zugrundeliegende Frage, was Politik ist. Es ist also nur konsequent, wenn Buchheim seine Theorie der Politik ausdrücklich als eine „Hintergrundtheorie" 37 bezeichnet. Als eine solche Hintergrundtheorie fordert sie von sich aus gewissermaßen die „Rückübersetzung" in eine Sprache geringerer Abstraktionshöhe. Aus diesem Grund stellt Buchheim einerseits in verschiedenen nach 1981 erschienenen Arbeiten Aspekte seiner Theorie veranschaulichend und in einfacherer Terminologie dar 38 , andererseits tritt die Theoriesprache in Arbeiten zu einzelnen politischen Vorgängen und Gegebenheiten stark in den Hintergrund. In den solcherart weniger theoretischen Texten dient die Theorie vor allem der Leitung und Orientierung des forschenden Blicks hin auf das jeweils in der Praxis politisch Wesentliche und ist so nur indirekt präsent. Zugleich aber vermittelt sie diesen Arbeiten ihre theoretische Relevanz, die über ihren Sinn als wissenschaftliche Erläuterungen einzelner politischer Gegebenheiten und Vorgänge ins theoretisch Grundsätzliche hinausweist. So bleibt es stets der Anspruch Buchheimscher Politikwissenschaft, eine theoriegeleitete - u n d das heißt: von theorieexternen Interessen unabhängige - Beschreibung

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Buchheim, Interview vom 21. April 1999, a.a.O. So jetzt insbesondere in Buchheim, Die Rationalität der politischen Vernunft, a.a.O.; ferner etwa in ders., „Person und Politik", a.a.O.; ders., „Wie der Staat existiert", a.a.O.; ders., „Von der Föderation zur Republik souveräner Staaten", in: Peter Haungs et al. (Hrsg.), Civitas. Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, Paderborn et al. 1992, 203-210 (*); ders., „Konrad Adenauer oder was Politik ist und wie sie gemacht wird", in: Helmut Kohl (Hrsg.), Konrad Adenauer 1876 / 1976, Stuttgart 1976, 181-188. Die politische Theorie steht auch im Hintergrund der durchgehend empirischen Studie Hans Buchheim, Deutschlandpolitik 1949-1972. Der politisch-diplomatische Prozeß, Stuttgart 1984. 38

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der politischen Welt und des Staates zu präsentieren, allgemein oder anhand einzelner Vorgänge und Gegebenheiten der Praxis zu bestimmen, was Politik ist und wie sie tatsächlich gemacht wird. IV. Es bleibt die Frage, ob eine philosophische Theorie der Politik, wie sie Buchheim und Oakeshott betreiben, als „ l 'artpour I ' art " nicht ihre politische und gesellschaftliche Aufgabe vernachlässige. Aus der Perspektive einer „praktischen" Einstellung, nach welcher die Humanwissenschaften der Verbesserung der Welt, der Emanzipation des Menschen, dem Frieden, der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der europäischen Integration etc. zu dienen haben - nach der also Wissenschaft im Dienst von Zwecken (namentlich: im Dienste einer Verbesserung der Politik durch deren Verwissenschaftlichung) steht - , aus der Perspektive einer solchen Einstellung wird die philosophische Theorie im Sinne Buchheims oder Oakeshotts auf den ersten Blick als „quietistisch" erscheinen. Für Buchheim ist tatsächlich die theoretische zuerst einefreie Tätigkeit, die keinem bestimmten außer ihr liegenden Zweck zu dienen hat. Die theoretische Existenz ist ihm diefreie Existenz des kontemplativen Lebens, das seinen Sinn und sein Vergnügen in Einsicht und Erkenntnis als solchen findet - es ist die Existenz des Gelehrten, der als Bürger nicht mehr und nicht weniger Verantwortung hat als andere. Gleichwohl wäre die Beurteilung der Buchheimschen Theoriekonzeption als „quietistisch" unangemessen, weil diese Konzeption keineswegs zu einem Desinteresse gegenüber den praktischen Problemen der Politik oder zu deren Geringschätzung führt. Denn Theorie in Buchheims Sinne hat als solche einen praktisch-aufklärerischen Aspekt. Die frei gewonnene Erkenntnis hat demnach nicht zuletzt das Potential, zu einer angemesseneren politischen Urteilsbildung des Bürgers zu verhelfen. Die Chance auf die Entwicklung einer solchen Urteilsfähigkeit kann aus der Perspektive der Theoriekonzeption allerdings nicht darin bestehen, daß die Bürger gleichsam ex cathedra „belehrt" würden. Sie besteht vielmehr vor allem darin, daß der allgemeine und grundsätzlich humane (Freiheits-) Sinn von Politik und politischer Rationalität offengelegt, daß das Selbstverständnis der politischen Zivilisation des Westens expliziert wird 39 und daß der einsichtsfähige Bürger von seinem Begreifen der entsprechenden Sachverhalte ausgehend zu eigenen Urteilen zu gelangen vermag. Mithin vermag die Theorie zur bürgerlichen Selbstverständigung beizutragen. 40

39

Siehe dazu Buchheim, Europa, a.a.O. Auch Oakeshotts theoretisches Anliegen hat in diesem Sinne einen praktisch-aufklärerischen Aspekt, wie etwa seine Arbeit „Political education" (1951), in: RP 43-69, insbes. 61 ff., verdeutlicht. 40 Nicht zuletzt als politische Aufklärung in diesem Sinne kann man Buchheims Tätigkeit in der katholischen Laienarbeit ansehen. Als langjähriger Vorsitzender zunächst des Beirates für politische Fragen und später der Kommission Politik, Verfassung, Recht des Zentralkomitees der deutschen Katholiken wirkte Buchheim bei der politischen Selbstver-

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Michael Henkel

Gerade das Abheben auf die allgemeinen Aspekte der Politik, auf das es der Theorie ankommt, ist so eine Bedingung dafür, daß die politische Aufklärung vermittels politischer Theorie als Allgemeinbildung möglich ist. In einem Text über politische Bildung schreibt Buchheim in diesem Sinne: „Wenn [...] das spezifisch Politische hineinreicht in den Elementarbereich unserer personalen Existenz, dann sind die Fragen, auf die es der politischen Bildung ankommt, [...] von elementarer und damit allgemeiner Bedeutung. Dann genügt es nicht, der politischen Bildung auch eine allgemeinbildende Seite abzugewinnen. Sondern dann erreicht politische Bildung ihren Gegenstand überhaupt erst, wenn sie zu dessen Elementen durchstößt, mithin sich im Feld der Allgemeinbildung bewegt. Erst wenn man die Fragen, die im Unterricht über Politik immer wiederkehren, als Fragen der Allgemeinbildung begreift und behandelt, vermag man sie plausibel zu beantworten."41 -„Plausibel beantworten" meint hier: Nicht im Sinne etwa parteipolitischer Einflußnahme oder im Sinne von bevormundender Belehrung beantworten, sondern in einer Weise, die den allgemeinen, für alle gleichermaßen relevanten Sinn der Politik offenlegt. Theorie im Sinne Buchheims verzichtet also nicht nur einerseits auf praktische „Einflußnahme", sondern sie ist andererseits ein Garant gegen die Politisierung der Wissenschaft und den damit einhergehenden Verzicht auf Wahrheitssuche. 42 Dem aufklärerischen und in diesem Sinne praktischen Charakter einer strengen philosophischen Theorie der Politik wird diese Theorie also gerade dann am meisten gerecht, wenn sie nichts anderes als Theorie sein will. Der Wille zu einer solchen Theorie scheint eine bestimmte Disposition des Theoretikers vorauszusetzen: Das theoretische Schauen und Beschreiben, das von allen außertheoretischen Interessen abstrahiert, erfordert nämlich eine Haltung des Absehens auch von den eigenen Belangen und praktischen Überzeugungen, erfordert eine Haltung, die Welt so zu nehmen und gelten zu lassen, wie sie von sich aus begegnet. Es geht also um Unbefangenheit der theoretischen Haltung gegenüber der Welt. In diesem Sinn

ständigung und Positionsbestimmung der deutschen katholischen Laien in Fragen von Politik, Staat, Verfassung und Recht mit, und die entsprechenden Verlautbarungen des Beirates bzw. der Kommission tragen denn auch erkennbar Buchheims Handschrift. Siehe die Texte in Hans Buchheim/Felix Raabe (Hrsg.), Christliche Botschaft und Politik. Texte des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zu Politik, Staat, Verfassung und Recht, Paderborn et al. 1988, insbes. auch die Einführung Buchheims (9-11). 41 Hans Buchheim, „Politische Bildung als Allgemeinbildung - die Perspektive des Politikwissenschaftlers", in: dersJErich E. Geißler/BernhardSutor, Politische Bildung als Allgemeinbildung, München 1985, 27-37, hier: 27. 42 In seiner Diskussion verschiedener Auffassungen von Politikwissenschaft und der mit diesen jeweils einhergehenden Gefährungen schreibt Helmut König: „ A n die Stelle der Verwissenschaftlichung der Politik, so scheint es, ist die Politisierung der Wissenschaft getreten: Die Wissenschaft stellt sich in den Dienst von politischen Interessen. Der frühere exklusive Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit hat sich im Meer der politischen Interessen und Kräfte aufgelöst" (Helmut König, Orientierung Politikwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 1999, 25).

Vom Sinn einer philosophischen Theorie der Politik

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schreibt Josef Pieper einmal: „Philosophieren verlangt die volle Unbefangenheit des Blickes, die mit keinem Vorbehalt zusammen bestehen kann" 43 - was sich mit Oakeshotts bereits zitierter Aussage über die philosophische experience trifft, daß diese nämlich sei „experience without presupposition, reservation, arrest or modification." Solches meint Buchheim wohl, wenn er (unter Hinweis auf einen Ausspruch des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt) von sich selbst feststellt, er verfüge mit Blick auf die Wissenschaft über eine „robuste Naivität". „Naivität" ist hier nicht zuletzt im Sinne jener theoretischen Unbefangenheit zu verstehen, als Offenheit, Überraschungsfähigkeit, staunende Neugierde und Gelassenheit.44 Wollte die gegenwärtige politische Philosophie „die politische Praxis - also das, was die Politik ausmacht, das, woraus sie einzig und allein besteht" wieder „zum Problembestand der philosophischen Theorie" 45 machen und, wie Volker Gerhardt es einfordert, ihre Politikvergessenheit überwinden, so könnte sie sich anregen lassen von Hans Buchheims unbefangenem Blick und der diesem geschuldeten philosophischen Theorie der Politik, die nicht weniger beansprucht, denn „die Politik als ganze - [ . . . ] als realen Gegenstand, als Problemfeld oder als Bereich der Wirklichkeit" 46 zu erforschen.

43

Pieper, Philosophie - Kontemplation - Weisheit, a.a.O., 27. „Das würde ich für mich auch in Anspruch nehmen - eine robuste Naivität. Und damit hängt es glaube ich zusammen, daß man auch einmal nur naiv existieren kann, ohne stets an Wissenschaft zu denken [...]", Buchheim, Interview vom 21. April 1999, a.a.O. Schadewaldt erwähnt die „robuste Naivität" in: Wolfgang Schadewaldt, „Einblick in die Werkstätte meiner Arbeit", in: ders., Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, 2., neugestaltete und vermehrte Ausgabe, Bd. II, Zürich, Stuttgart 1970, 598-607, hier: 602. 45 Gerhardt, „Politik", a.a.O., 265. 46 Ebenda. 44

II. Nachrufe

Vom Nutzen und Nachteil der Philosophie für die Politik Laudatio auf Norberto Bobbio zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart* Von Henning Ottmann Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, der Philosoph Pascal hat einmal geschrieben, alles Unglück der Menschen stamme daher, „daß sie nicht in ihren Zimmern bleiben". Vermutlich wußte der Philosoph gerade als Philosoph, warum er das schrieb. Den Philosophen, die ihre Zimmer verlassen, muß unser Mitgefühl und unsere Sorge ein steter Begleiter sein. Sobald sie ihre Zimmer verlassen, fallen sie in Gruben und werden deshalb verlacht. Sobald sie sich in die Stadt begeben und sich mit ihren Fragen unter die Bürger mischen, handeln sie sich Prozesse mit Todesurteilen ein. Philosophen müssen mit dem Schlimmsten rechnen, wenn sie nicht mehr in ihren Zimmern sind. Die Frage, die sich daran anschließt, ist, ob, was den Philosophen geschieht, ihre Schuld oder die Schuld der Verhältnisse ist. Platon hat aus dem Todesurteil für Sokrates den Schluß gezogen, daß die Stadt, die den einzig Gerechten verurteilt, sich damit selber gerichtet hat. Eine Erholung vom Übel für Staaten und Menschen wollte er nur noch erhoffen, wenn die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen geworden sind. Platons Philosophen müssen aus der Höhle heraus, und sie müssen wieder in diese zurück. Sie gehen damit einen Weg, der nicht nur beschwerlich, sondern auch hochgradig gefährlich ist. Wer mit Platon auf- und absteigen will, muß etwas ganz und gar Unwahrscheinliches für möglich halten. Er muß es für möglich halten, daß die Mächtigen die Vernünftigen sind oder die Vernünftigen die Mächtigen. Beides hat die Welt noch nicht gesehen. Es widerspricht, wie Platon selbst es formuliert, jeder Meinung, jeder doxa. Es ist paradox. Nun sind Philosophen durchaus in der Lage, sich auch Paradoxes zu wünschen. Wie Platon oder auch Rousseau lieben sie, was aller Meinung widerspricht. Wie die Intellektuellen können sie in die Gefahr geraten, „Konformisten des Nonkonformismus" zu sein. Aber selbst wenn wir das Paradoxe der Platonischen

* Die Laudatio des Jahres 2000 wird hier an Stelle eines Nachrufs für den 2003 verstorbenen Philosophen veröffentlicht.

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Politik einmal außer acht lassen - eine Herrschaft der Philosophen ist, selbst wenn sie möglich wäre, keineswegs zu wünschen. Sie ist nicht zu wünschen, weil, wie Kant mit Recht gegen Platon einwendet, „der Besitz der Gewalt das freie Urteil unvermeidlich verdirbt". Philosophen, die sich wie Machiavelli in die Vorzimmer der Macht drängen, erniedrigen die Philosophie zur Magd der Höfe und Kanzleien. Philosophen, die wie Heidegger versuchen, den Führer zu führen, offenbaren damit nur, daß sie nicht wissen, was der Unterschied zwischen Palast und Hörsaal oder zwischen Palast und Schwarzwaldhütte ist. Philosophie und Politik stehen zueinander in einem Verhältnis eigenartiger Distanz. So wie die Philosophie ihre Zeit nur dann in Gedanken erfassen kann, wenn sie nicht nur zeitgemäß ist, so kann die Philosophie gerade dadurch politisch nützlich sein, daß sie nicht unmittelbar nützlich zu sein hat. Ansonsten ist es schwierig, politisch zu werden und doch ein Philosoph zu bleiben. Ja, man darf fragen, ob der Begriff „Politische Philosophie" nicht ein Widerspruch in sich selbst ist. Die Frage ist schwierig, die Antwort jedoch - zumindest heute Abend - einfach. Denn wenn wir heute zusammengekommen sind, um Norberto Bobbio zu ehren, dann haben wir in ihm den lebenden Beweis vor uns, daß das scheinbar Unvereinbare doch vereint werden kann. Norberto Bobbio ist Philosoph und Politiker. Er ist ein Professor für Rechtsphilosophie und Politische Philosophie, der zum Senator auf Lebenszeit ernannt worden ist, ja, der sogar einmal im Gespräch war als Präsident der italienischen Republik. Norberto Bobbio ist ein Philosoph und ein Publizist, dessen Werke in Italien Auflagen von weit über 100.000 Exemplaren erreichen. Theorie und Praxis, Philosophie und Politik - das scheinbar Unvereinbare wird hier vereint, und so wie der Regisseur Truffaut Alfred Hitchcock einmal gefragt hat: „Wie haben Sie das nur gemacht?", so möchte man Norberto Bobbio fragen: Wie haben Sie das nur gemacht? Wie haben Sie das Unvereinbare vereint: Philosophie und Politik, Intellektualität und Tatkraft, geistigen Anspruch und publizistische Wirkung? Wie haben Sie das nur vereint? Norberto Bobbio kam zur Politik auf einem Wege, den man den Weg des Sokrates nennen kann. Die Politische Philosophie beginnt mit Sokrates. Sie wurde mit Sokrates geboren, weil der Philosoph sich in die Stadt begab und sich dort unterredet hat. Er tat dies aus Sorge um die Stadt, die in eine Krise geraten war. Norberto Bobbio kommt zur Politik in der Krise seines Vaterlandes. Er wird für das politische Leben geboren im Widerstand gegen die faschistische Diktatur. Sein politisches Denken entsteht aus dem Geist der resistenza , dem Geist des Widerstands. Sein früheres Leben, schreibt Bobbio in seiner „Autobiographie", sei nur ein „Vorgriff" gewesen auf sein „eigentliches Leben", das mit dem Widerstand begann. Nun muß man kein Philosoph sein, um der Diktatur zu widerstehen. Aber neben der allgemein-bürgerlichen Pflicht zum Widerstand gibt es auch eine spezielle Verpflichtung der Philosophen. Die Diktatur zerstört - neben allem, was sie sonst noch vernichtet - auch die Bedingungen, unter denen die Philosophie selber

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möglich sein kann. Philosophie und freiheitliche Ordnung sind natürliche Verbündete. Beide können ohne die Freiheit des Denkens und der Rede nicht lebensfähig sein. In der Diktatur überlebt die Philosophie bei jenen, die widerstehen und die damit die Platzhalter künftiger Freiheit und künftigen Denkens sind. Im Fall des Falles muß auch der Philosoph politisch werden. Da hat er keine Wahl. Die Frage freilich bleibt, wie politisch er werden kann, wenn er die Philosophie nicht aufs Spiel setzen will. Eines der Bücher Bobbios ist Carlo Cattaneo gewidmet, dem Anführer des Mailänder Aufstandes von 1848. Es trägt den Titel „Una filosofia militante". Angesichts dieses Titels kann man fragen, wie militant, wie kämpferisch darf Philosophie denn sein. Wird sie, wenn sie militant ist, nicht verwickelt in die Kämpfe ihrer Zeit? Wird sie nicht zu einer bloßen Waffe im politischen Kampf? Der junge Marx hat glänzend analysiert, was geschieht, wenn die Philosophie versucht, unmittelbar praktisch zu werden. Auf dem Wege von der klassischen reinen zur kritischen Theorie verliert sie ihre vormalige „Exclusivität". Sie wird „zu einer Seite der Welt", und es wird fraglich, ob sie, verwickelt in die Kämpfe der Zeit, noch wahrhaft Philosophie sein kann. „Una filosofia militante" - bei Bobbio besteht die Militanz der Philosophie darin, daß sie das leistet, was ihre Aufgabe als Philosophie ist: ein Begreifen der Wirklichkeit zu sein. Nichts ist in der Tat kämpferischer als der unverstellte Blick auf die Wirklichkeit, die durch Ideologien und Parteien, durch Leidenschaften und Interessen verzerrt und verschleiert wird. Der politische Philosoph ist kein Ideologe und kein bloßer Parteimann. Er ist auch nicht einfach nur engagiert, wenn unter Engagement ein Ersatz für theoretische Kompetenz zu verstehen ist, ein Rabatt aufs Begreifen, dessen Mängel der gute Wille kompensieren soll. Der politische Philosoph muß das Kunststück vollbringen, Stellung zu beziehen und doch Philosoph zu bleiben. Er muß die perspektivische Verengung des politischen Standpunktes vereinen mit der Weite des philosophischen Blicks. Läßt sich beides vereinen? Die Perspektivität des Standpunktes und der philosophische Überblick? Militantes Denken und philosophisches Begreifen? Ich denke, Norberto Bobbio hat uns auch das bewiesen, wenn er seine politische Philosophie zwischen rechts und links, zwischen oben und unten an einem eigenen Ort angesiedelt hat. Norberto Bobbio hat politisch Stellung bezogen. Er gehört zu den Mitbegründern der partito d'azione , der Aktionspartei. Sein politisches Denken ist geprägt durch den Liberalsozialismus, wie er durch Gobetti, Rosselli und Calogero begründet worden ist. Aber der Standpunkt Bobbios ist kein bloß parteilicher. Im Hintergrund seiner politischen Standortnahme steht eine Philosophie der modernen Politik, in der auch für andere Formen der Politik Platz ist, wenn sich nur alle treffen auf dem gemeinsamen Boden moderner Liberalität. „Rechts und Links" - in seinem gleichnamigen Buche ist es Norberto Bobbio gelungen, uns noch einmal für Begriffe zu interessieren, die ihren Geschmack schon seit langem verloren hatten. Sie müssen, sollen sie heute überhaupt noch

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nach irgend etwas schmecken, so wie bei Bobbio, gefüllt werden durch eine Theorie von Rechtsstaat und Demokratie, von Menschenrechten und Toleranz, und nach Bobbio ist es die allgemeine Anerkennung der Menschenrechte, in der der politische Fortschritt des vergangenen Jahrhunderts zu erblicken ist (ZEIT-Interview vom 29.12.1999). Die Demokratie kann ohne den Rechtsstaat und die Errungenschaften des Liberalismus nicht sein. Der Rechtsstaat wiederum bedarf der Verlebendigung durch die Demokratie. Mehr als rechts und links bewegt den italienischen Philosophen das oben und unten, das Verhältnis von Arm und Reich, von Machtlosen und Ohnmächtigen. Was ihm heute Sorgen bereitet, ist nicht die Zukunft des Rechtsstaates. Sorgen bereitet ihm, welche Zukunft die Demokratie noch hat, wenn die Grundlagen des sozialen Lebens erodieren, wenn Bürgersinn und Gemeinsamkeit eher verhöhnt als gepriesen werden und das politische Leben in einem neuen Korporatismus erstarrt. Norberto Bobbio und Hegel - zunächst müßte man, es ist nicht zu leugnen, wohl andere Denker nennen, denen Bobbio verpflichtet ist. In seiner Liberalität ist er beeinflußt von Locke, Kant und Mill sowie von einem liberal gelesenen Hobbes. Politik nähert sich bei Bobbio eher dem liberalen Rechts- und Vertragsdenken als einer Hegeischen Theorie der Sittlichkeit. Da gibt es Einflüsse von Kelsen, aber auch von Carl Schmitt, den Bobbio seit seinem Studium in Deutschland kennt und mit dem er auch nach dem Kriege korrespondiert. Bobbio ist ein linksliberaler Antipode Schmitts. Dessen Entgegensetzung von Demokratie und Rechtsstaat, von Liberalismus und Demokratie hat Bobbio gerade zu überwinden versucht. Zu Hegel gefunden hat Bobbio vermutlich über den von ihm verehrten Croce und durch die Beschäftigung mit Marx, dessen Frühschriften er übersetzt und herausgegeben hat. Hegels Philosophie als Ende und Vollendung des Naturrechts, die Bedeutung der Hegeischen Analyse des modernen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft - das wird bei Bobbio gegen die Legenden vom faschistischen, preußischen oder revolutionären Hegel ausgespielt. Wenn Hegels politische Philosophie jene Voraussetzungen der modernen Freiheit bewahren will, die diese aus sich selbst nicht garantieren kann, dann treffen sich Hegel und Bobbio, der eine von rechts, der andere von links kommend, dort, wo so oder so die Mitte der Moderne ist. Sie ist überall dort, wo man versucht, die liberalen Errungenschaften der Moderne vor deren selbstdestruktiven Tendenzen zu schützen. In diesem Sinne ist Bobbio ein Hegelianer, da seine Sorge der Rettung jener Bedingungen gilt, unter denen die Moderne sich selber aushalten kann. Philosophen möchten wohl gern in ihren Zimmern bleiben. Aber die Zeiten sind nicht immer so, daß ihr Wunsch in Erfüllung gehen kann. Der Ernstfall freiheitlicher Ordnungen ist zugleich der Ernstfall der Philosophie, und wie für den Bürger so ist auch für den Philosophen der Ernstfall der Testfall, an dem er sich zu bewähren hat. In den glücklichen Zeiten freiheitlichen Lebens dürfen Philosophen hoffen, daß ihre Stimme im öffentlichen Diskurs gehört wird, ein willkommener Beitrag ist bei den Einübungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Daß die Philosophen gehört werden, setzt freilich voraus, daß ihre Stimme Autorität hat, und Autorität

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ist nicht zu erwerben, wenn Philosophen nur Archivare und Verfasser historischer Wörterbücher, nur Trüffelschweine der Hermeneutik und Über-Feuilletonisten, beamtete Ober-Gurus oder Pausenclowns der Talkshows sind. Distanziert vom bloß Zeitgemäßen und nicht unmittelbar praktisch, aber doch verankert zu sein im gemeinsamen Leben - dieses Kunststück zu vollbringen, ist die Leistung aller echten Politischen Philosophie. Wer von einer Gemeinschaft gehört werden will, muß in dieser auch verankert sein. Der politische Philosoph ist kein Prophet, der auf Berge steigt und den Menschen das Gesetz Gottes bringt. Er ist auch kein gottähnlicher Demiurg oder Konstrukteur, der die Gesellschaft erst einmal zu entwerfen und dann irgendwie in die Wirklichkeit zu bringen hat. Der politische Philosoph ist, um einen Begriff Michael Walzers zu verwenden, ein „Interpret" der Gemeinschaft, in der er lebt. Er interpretiert, was an gemeinsam geteilten Überzeugungen und Erfahrungen in einer Gemeinschaft schon vorhanden ist. Die moderne Gesellschaft lebt in einem Konflikt der Prinzipien. Sie muß weltoffen und universal und doch zugleich solidarisch und verortet sein, eine Gesellschaft von Menschen und Bürgern. „Der Mensch gilt sd\ heißt es bei Hegel, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist." (Rph § 209 A) Die moderne Emanzipation hat den Menschen aus den Bindungen der Herkunft befreit. Aber diese Befreiung wird terroristisch, wenn der einzelne in der Moderne nicht mehr bleiben darf, was er kraft Herkunft schon ist: Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. Bei gelingender Emanzipation stünde dies frei. Aus diesem Grunde kann die Politische Philosophie heute nicht nur eine Philosophie des Menschen und einer immer mehr sich vereinenden Welt sein. Vielmehr hat sie auch und gerade heute ihren Ort. Das Wort „Ethos" kommt bekanntlich von „Gewohnheit", „Wohnen", „Standort". Und wer möchte schon immer nur reisen, ohne je irgendwo zuhause zu sein? Was es heute heißt, an seinem Ort zu stehen und standzuhalten, ein seiner Gemeinschaft verbundener Denker und zugleich ein weltoffener Philosoph zu sein, dafür steht das Leben und Lehren Norberto Bobbios. Ich beneide Italien um diese Persönlichkeit, und ich wünsche dem Geehrten und uns, daß die Kunst des Abschiednehmens, die Bobbio in seinem Buch „Vom Alter" demonstriert hat, uns noch lange erspart bleiben wird.

βουλεύεσθαι καλώς Zum Tode von Ernst Vollrath Von Heinz-Gerd Schmitz Die in den,Federalist Papers' zu findende, aber auf David Hume zurückgehende These, daß jede Regierung auf der Meinung beruhe, stand im Zentrum des Denkens des am 30.1.2004 nach langer, mit bewundernswerter Tapferkeit ertragener Krankheit gestorbenen und am 5.2. auf dem Kölner Melaten-Friedhof zu Grabe getragenen Philosophen Ernst Vollrath. Es war ein recht weiter Weg von seinen philosophischen Wurzeln bis zu diesem dem angelsächsischen Denken entstammenden, freilich über Hannah Arendt auch dem kontinental sozialisierten Philosophen vermittelten Standpunkt. Ihren Anfang nahmen Ernst Vollraths wissenschaftliche Publikationen mit seiner Dissertation ,Studien zur Kategorienlehre des Aristoteles', in welcher eine ontologische Deduktion der Aristotelischen Kategorien vorgelegt wird, mit der - in Abgrenzung von Kant - ihre Rechtmäßigkeit unter dem Horizont des Aristotelischen Denkens erwiesen werden soll. Wie auch die 1970 erschienene Habilitationsschrift ,Die These der Metaphysik. Zur Gestalt der Metaphysik bei Aristoteles, Kant und Hegel' steht das Aristoteles-Buch noch deutlich in der Tradition eines an Heidegger geschulten, auf die großen ontologischen Fragen in Antike und Neuzeit gerichteten Denkens. Zu seinem Lebensthema findet Ernst Vollrath mit einer kleinen Schrift:,Lenin und der Staat. Zum Begriff des Politischen bei Lenin' (1970). Die Arbeit steht zwar noch im Schatten der Frage nach der Metaphysik und ihrer Geschichte, deutlich macht sich hier aber schon der Einfluß Hannah Arendts bemerkbar, für deren philosophische Rezeption in Deutschland Ernst Vollrath in seinen Büchern und Aufsätzen danach so Erhebliches geleistet hat. Im Titel seines vierten Buches von 1977 klingt dann eines der großen Themen an, welche Ernst Vollrath in seiner politischen Philosophie behandelt hat - ,Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft'. Hier wird den drei theoretischen Ansätzen des Politischen, welche auf Platon/Aristoteles, auf Hobbes und auf Hegel/Marx zurückgehen, eine dezidiert nicht-objektive Theorie des Politischen gegenübergestellt, die nicht das Sein der Menschen ins Zentrum rückt, sondern ihr Handeln in der Welt. Das Buch ist in engem Kontakt mit Hannah Arendt entstanden, die Ernst Vollrath während seines zweiten großen Auslandsaufenthaltes in New York kennengelernt hat. Nach einem Jahr im Senegal als ,professeur titulaire' an der Universität Dakar - der Aufenthalt mußte 1968 wegen revolutionä-

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rer Unruhen in dem afrikanischen Land abgebrochen werden - lehrte Vollrath von 1973 bis 1976 als , Visiting Professor' und als ,Theodor-Heuss-Professor' an der »Graduate Faculty' der ,New School of Social Research' - der Hochschule, an der Hannah Arendt seit 1967 eine Professur innehatte. Die Zusammenarbeit mit der in Deutschland zunächst im wesentlichen nur als politische Publizistin rezipierten Arendt war deshalb so fruchtbar, weil sie selbst an einem Buch arbeitete, welches neben dem Denken und Wollen auch das Urteilen zum Gegenstand haben sollte. Es konnte nur in seinen beiden ersten Teilen - , T h i n k i n g ' , , Willing' - erscheinen, zum letzten Band ist die Autorin nicht mehr gekommen. Ronald Beiner hat dann 1982 ihre Seminarmaterialien zu Kant herausgegeben (Lectures on Kant's Political Philosophy). Ganz in Übereinstimmung mit Arendts Auffassung betont Vollrath in seiner Abhandlung über die politische Urteilskraft die Kontingenz, der alles Handeln unterliegt. Diese macht es unmöglich, das Handeln kausal zu erklären, da so auch dies ein Arendtsches Theorem - das Faktum verdunkelt wird, daß alles Handeln auf einem Anfangen-Können beruht, denn Handeln unterbricht natürliches und gesellschaftliches Sein. Geleitet wird es von einem besonderen Wissen eben der Urteilskraft. Hier nimmt Vollrath Arendts nicht ausgearbeiteten Hinweis vom politischen Charakter des ersten Teils der Kantischen, Kritik der Urteilskraft' auf und belegt seine These, bei Kant liege die Rekonstruktion der Urteilskraft bereits vor, welche weit über das hinausrage, was der unterbestimmten Aristotelischen Phronesis-Konzeption entnommen werden könne. Scharf hat sich Ernst Vollrath immer wieder von allen Versuchen abgegrenzt, das Politische von einer transzendentalen Kommunikationsgemeinschaft her begründen zu wollen, in der er nichts anderes zu erblicken vermochte als die Tyrannis einer identitären Vernunft, welche gegen das von ihm gern zitierte Demokritische βουλεύ εσθαι καλώς mit den Zwangsgesetzen der Logik Einheit zu stiften beabsichtigt. Die Maxime der Urteilskraft ist eben die der Kantischen erweiterten Denkungsart; sie lautet nicht jederzeit mit sich einstimmig denken', sondern ,sich in die Stelle jedes anderen denken'. Hier geht es nicht um Wahrheit, sondern um wohlbegründete Meinungen, die Quelle, aus der sich das Politische speist: All governments rest on opinion. Die in der Abhandlung über die politische Urteilskraft umrissene Theorie des Politischen hat Ernst Vollrath in seinen letzten beiden Büchern weiter ausgearbeitet, vertieft und begründet. Die 1987 publizierte »Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen' treibt die Reinterpretation der Kantischen Lehre von der Urteilskraft weiter voran, stellt den Typus des politischen Denkens des deutschen dem des anglo-amerikanischen Kulturkreises gegenüber und entwickelt - insbesondere auch in der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt - eine hermeneutische Phänomenologie des Politischen, die nicht nach Wesen, Essenz oder Substanz der Politik sucht, sondern nach der Modalität und Qualität solcher Phänomene fragt, die den Anspruch erheben, politischen Charakter aufzuweisen. In Abgrenzung zu Heideggers Bestimmung des Phänomenbegriffs und wiederum

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in der Fortführung Arendtscher Hinweise entwickelt Vollrath hier eine eigene Lehre vom phänomenalen Charakter alles weltlichen Geschehens überhaupt und insbesondere des Politischen. Das letzte, unter schwersten Bedingungen der Krankheit abgerungene Buch ,Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung' aus dem Jahre 2003 erweitert den Ansatz noch einmal, indem die Differenz, die zwischen der Politik und dem Politischen anzusetzen ist, als politische Differenz' entfaltet wird. Obendrein erfährt der Begriff des Politischen eine Erweiterung, die sich in einzelnen Aufsätzen schon angekündigt hatte und die im Titel der Abhandlung eigens herausgestellt ist: Alles Politische ist immer in kulturelle Kontexte eingebettet, in denen sich seine jeweilige Wahrnehmung ausdrückt. Eine hermeneutische Phänomenologie des Politischen ist daher ohne Berücksichtigung seiner Apperzeptionen, i.e. seiner kulturellen Gegebenheits- und Erscheinungsweisen, nicht möglich. Ernst Vollraths Politiktheorie ist gewiß nicht ohne Hannah Arendts Einfluß denkbar - seine Verdienste um Erforschung und Weiterentwicklung ihrer Philosophie sind im Jahre 2001 mit der Verleihung des ,Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken' gewürdigt worden. Aber auch Montesquieu, Shaftesbury, Edmund Burke und Tocquille haben Ernst Vollrath sichtbar geprägt. Erst dieser weite, die Begrenzungen der deutschen politischen Kultur hinter sich lassende Blick ermöglichte es ihm, einen nicht von Staat und Staatlichkeit her konzipierten Politikbegriff zu thematisieren, der seine Wurzeln im angelsächsischen Denken hat - bei Locke, Hume, Adam Smith und insbesondere bei den Federalists. Die ,Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens' verliert mit Ernst Vollrath eines ihrer Gründungsmitglieder, das Philosophische Seminar der Universität zu Köln einen hoch geachteten Emeritus, die Politische Philosophie in Deutschland einen originellen Denker, der weit Bedeutsameres geleistet hat, als uns beizubringen, daß Hannah Arendt mehr als eine politische Publizistin ist. Er hat gezeigt, daß es jenseits von Empirie und Geschichtsmetaphysik durchaus einen genuin philosophischen Zugang zu den Phänomenen des Politischen gibt, wenn man sie nur als solche aufzufassen bereit ist. Was die Studenten seiner Lehrveranstaltungen wie die Leser seiner Bücher und Aufsätze bei Ernst Vollrath haben lernen können, läßt sich so resümieren: Man vermag das Politische nur dann zutreffend zu erfassen, wenn man sich seines phänomenalen Charakters bewußt ist, wenn man die daraus resultierende Partikularität nicht als defizitären Modus einer anzustrebenden Totalität verkennt, sondern gerade umgekehrt als Quelle bürgerlicher Freiheit.

I I I . Rezensionen

Dorothee Kimmich/Alexander Thumfart (Hg.): Universität ohne Zukunft?, Frankfurt/M. (Suhrkamp-Verlag) 2004,271 Seiten

Die Herausgeber Dorothee Kimmich und Alexander Thumfart konstatieren in analytischer Sondierung der Debatte zunächst eine fundamentale Krise und Infragestellung der alten „Autonomie" der Universität und die „Umstellung der normativen Ausrichtung und Beurteilungskriterien" auf „Nachfrageorientierung" (27). Die Rolle der Geisteswissenschaften wird ihnen dann zum Prüfstein der heutigen „Idee der Universität". Dabei ergreifen sie fur die Geisteswissenschaften Partei und verteidigen deren Bildungsfunktion: „Die Geisteswissenschaften verhindern, dass Universitäten zu Betrieben werden" (30). Die meisten Beiträge des Bandes folgen dieser Richtung. Dieter Langewiesche verteidigt zwar nicht den heutigen Fächerkanon und Bestand, argumentiert aber mit Odo Marquard für „Vielfalt" unter Verweis auf die „erstaunliche berufliche Offenheit unserer geisteswissenschaftlichen Absolventen" (47). Klaus Landfried betont ebenfalls die „Zukunft" der alten Universität unter Hinweis auf eine polykompetente Verwendbarkeit der geisteswissenschaftlichen Absolventen, die vermutlich in den kommenden Jahren aber immer weniger nachgefragt werden wird. Dan Diner feiert dann die Fülle möglicher neuer Forschungsthemen. Hauke Brunkhorst lässt sich nicht auf euphemistische Reformrhetorik ein, sondern hält dagegen und verteidigt den „produktiven Darwinismus" der demokratischen „Massenuniversität" als Form der Erfüllung aufgeklärter Ideale von der Bildungs- und Forschungsuniversität. Er argumentiert für die überlieferte normative Orientierung an der Wissenschaft als Lebensform. Die „geisteswissenschaftliche" Kompensationstheorie dagegen verteidigt die alte Bildungsidee nur mit dem Arsenal der Gegner: mit dem Hinweis auf eine generalistische Verwendbarkeit ihrer Abgänger. Das Argument ist ziemlich schwach. Es ist oft nicht einmal ausgemacht, ob die Absolventen trotz oder wegen ihres geisteswissenschaftlichen Studiums unterkommen. Jedenfalls arbeiten sie jenseits der Universität kaum noch als Wissenschaftler in ihrem Fach. Beide Argumentationen aber richten sich deutlich gegen eine Reduktion der Universitäten zum Ausbildungsbetrieb. In der Tat: Das soll die Wirtschaft selbst machen (und bezahlen), weil sie es besser kann. Nicht die Bildungsfunktion, sondern die Ausbildungsfunktion der Universitäten ist bei der Dynamik der Berufswelt heute überholt. Frank Meier und Uwe Schimank erörtern Konsequenzen der Einführung des „Management-Modells" der Steuerung für die Geisteswissenschaften. Deren geläufige „Verfahren und Formeln zur Leistungsermittlung" in der „Ressourcenkonkurrenz", wie etwa Drittmitteleinwerbung, seien auf die Geisteswissenschaften kaum übertragbar, weshalb sie sich stärker um eine Operationalisierung ihres Beitrags bemühen sollten, bevor sie am fremden Leisten gemessen werden. Walter Erharts sehr lesenswerter Beitrag räumt dann zunächst mit - auch bei Kompensationstheoretikern anklingenden - Illusionen über die „Ruinen" der traditionellen Universität auf und skizziert dann die „Managerin" und den „Mönch" als idealtypische Leitbilder der Reaktion, die zusammen erst ein Überleben in neu gestuften Studiengängen mit einem „neuen kulturwissenschaftlichen Grundstudium" (139)

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ermöglichen. Hier deutet sich eine neue Rechtfertigung der Geisteswissenschaften an, die über die kompensationstheoretische Verteidigung der Bildungsidee hinausgeht und ihnen neue Aufgaben jenseits unspezifischer „formaler Bildung" zuweist. Albrecht Koschorke bietet dann eine leicht satirische Abrechnung mit dem gegenwärtigen Betrieb. Als „Grundparadox" der jüngsten Entwicklungen stellt er heraus, dass Innovation nicht evaluierbar sei, weshalb der gegenwärtige Trend zur zentralisierten Wissenschaftsforderung nur in einen neuen Konformismus münde (151). Kaschorke empfiehlt dagegen eine „Strategie der Deflation' (156) von akademischer Betriebsamkeit. Dieter Herz berichtet anschließend instruktiv vom „Reformkonzept der Universität Erfurt", das u. a. ein Studium Fundamentale innerhalb des B. A.-Studiengangs vorsieht und so auch den Geisteswissenschaften neue Aufgaben einräumt. Max Kaase stellt dann die International University Bremen in ihrer Gründungsgeschichte, ihren Leitlinien und ihrer Finanzierung vor. Ansgar Nünning und Roy Sommer werben in eingehender Bestandsaufnahme der „Defizite und Desiderate der deutschen Doktorandenausbildung" für ihr Giessener Graduiertenkolleg als Antwort. Diese drei Beiträge zeigen, dass es tatsächlich interessante Reformansätze und Experimente mit neuen Perspektiven auch für Geisteswissenschaftler gibt. Zum Abschluss plädiert Ernst Peter Fischer für mehr Anstrengungen insbesondere der Naturwissenschaften zur Vermittlung ihrer Einsichten in der Öffentlichkeit und schlägt die Einrichtung eines „Lehrstuhls für Wissenschaftsgestaltung" vor. Detlev Schöttker schließlich blickt auf die jüngst vergangenen goldenen Zeiten des FAZ-Feuilletons als Refugium hoch begabter, doch universitär entorteter Geisteswissenschaftler zurück. Der Titel des Sammelbandes ist etwas forsch. Es geht nur um die Zukunft der Geisteswissenschaften, an der nach Auffassung der Herausgeber aber die Idee der Universität insgesamt hängt. Philosophie ist freilich keine historisch-philologische Geisteswissenschaft. Die alte Idee einer philosophisch integrierten Forschungsuniversität ist deshalb auch kompensationstheoretisch nicht adäquat zu fassen. Eine „philosophische" Ausrichtung der Universität hat noch andere rechtfertigende Gründe als die erörterten. „Bildung" ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Ziel. Universitäten steigern die Standards des humanen Selbstverständnisses von Gesellschaften und „kultivieren" so das Leben. Sie rechtfertigen auch dann ihre staatliche Finanzierung als „öffentliches Gut", wenn ihre Abgänger davon beruflich nicht profitieren. Diese transindividuelle Rechtfertigung der Universität als Bildungseinrichtung wird heute kaum noch verstanden und klingt auch im Sammelband kaum an. Seine Lektüre lohnt dennoch sehr. Denn der Band markiert ein Ende aller Unklarheiten über den epochalen Wandel der heutigen Universität. Er macht klar, dass die Epoche Humboldts, der alten „Forschungsuniversität", heute wohl vorbei ist. Die Transformation der Universitäten von Bildungs- in Ausbildungsstätten und auch der Ausstieg des Staates aus der öffentlichen Förderung ist mittlerweile derart fortgeschritten, dass man mit den jüngsten, von SPD und Grünen beschlossenen Entwicklungen ein Ende der universitätsgeschichtlichen Epoche datieren muss, die, so Brunkhorst, von der preußischen „Eliteuniversität" zur „Massenuniversität" reichte. Der Band markiert aber nicht nur diesen Wandel, sondern bietet darüber hinaus auch theoretische und institutionelle Ansätze möglicher Reformen. Er zeigt das offene Visier der Wissenschaft, die viel Kritik an ihrer „Reformunföhigkeit" widerlegen kann und als Scheingefecht entlarvt. Er ist ein Teil der Ehrenrettung, die heute ansteht. In traditionalen Gesellschaften war es bisweilen üblich, dass ein Kämpfer seinen tapferen Gegner dadurch ehrte, dass er sich nach errungenem Triumph entleibte. Den Totengräbern der ehrwürdig überkommenen Forschungsuni-

Rezensionen versität aber fehlt schon zumeist das akademische Format dafür, sich ihre Leiche anzuschauen und ihre Tat zu verstehen. Sie sollten den Band lesen. Reinhard Mehring, Berlin

Georg Meggle (Hg): Terror & der Krieg gegen ihn. Öffentliche Reflexionen, Paderborn (mentis Verlag) 2003,334 Seiten Was ist Terrorismus? Wie kann man Terrorismus erklären und verstehen? Wie ist Terrorismus moralisch, rechtlich und politisch zu beurteilen? Und wie geht man mit Terroristen am besten um? Das sind die von dem Herausgeber Georg Meggle genannten zentralen Fragen, die in dem Band untersucht werden sollen. Dabei wird eine rationale Auseinandersetzung mit dem Thema angestrebt, doch, gibt Meggle zu bedenken, „wer Distanz und Mut im Kontext Terrorismus manifestiert, gilt rasch als politisch inkorrekt und unzuverlässig" (11). Und in der Tat sind fast alle zwanzig Beiträge in dem Band (die hier natürlich nicht alle besprochen werden können) von politischer Korrektheit weit entfernt. Besonders exemplarisch für die Stoßrichtung des Bandes - gegen Doppelmoral - ist der Beitrag von Igor Primoratz, dem, neben Tony Coady, international führenden Exponenten einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Thema Terrorismus. Er formuliert zum Zwecke einer rationalen Analyse und im Anschluß an Coady einen politisch und moralisch neutralen Terrorismus-Begriff, welcher zur Identifizierung terroristischer Taten nicht auf die Identität des Täters rekurriert, sondern auf den Charakter der Tat, und zudem die moralische Verdammung nicht von vornherein mit in die Definition aufnimmt: „Terrorismus - das ist die wohlüberlegte Anwendung (bzw. Androhung) von Gewalt gegenüber unschuldigen Dritten mit dem Ziel andere mittels Einschüchterung zum Vollzug von Handlungen zu bewegen, die sie sonst nicht tun würden(55) Und er erklärt: „Von Aufständischen gegen Soldaten oder Polizeioffiziere gerichtete Angriffe, die von Seiten der staatlichen Führung und den Medien als terroristisch dargestellt werden [...], würden dieser Definition nach nicht als terroristisch zählen, sondern als politische Gewalt oder als Guerilla-Kriegsführung. Die Bombardierung von deutschen und japanischen Städten im zweiten Weltkrieg oder die zahlreichen Angriffe der israelischen Armee gegen den Libanon hingegen [...] würden nach meiner Definition aber als Terrorismus zählen. [...] Ob die Bombe mit der Hand piaziert oder von einem Flugzeug abgeworfen wird, und wer das Sagen hat oder nicht, das kann in moralischer Hinsicht kaum eine Rolle spielen." (56f.) Diese Einschätzung wird von anderen Philosophen in dem Band geteilt. Darüber hinaus führt Primoratz vier Gründe an, aus denen Staatsterrorismus moralisch noch schlechter ist als nichtstaatlicher: Die Destruktivität des Staatsterrorismus ist um ein vielfaches höher; der Staatsterrorismus kann sich zu seiner terroristischen Strategie im Gegensatz zum nichtstaatlichen nicht offen bekennen, ist also auf Scheinheiligkeit angewiesen; Staaten brechen mit ihren terroristischen Akten internationale Verträge und Konventionen, die sie selbst unterschrieben haben; und es scheint „praktisch unmöglich zu sein, daß sich ein Staat in Umständen wiederfindet, in denen ihm keine Alternative zum Terrorismus verbleibt". Demgegenüber könnte die Verfolgung einer ethnischen oder religiösen Gruppe „einen derart extremen Punkt erreichen, daß sogar den Terrorismus in Betracht zu ziehen in Ordnung sein könnte" (62). An dieser Stelle freilich widersprechen andere Autoren in dem Band entschieden. So meint Marcelo Dascal, der in seinem Beitrag den „pseudo-mora-

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lischen und pseudo-kommunikativen" Charakter terroristischer Akte zu entlarven sucht, daß die Anwendung des Arguments im konkreten Fall zu prüfen erfordere, ob es hier tatsächlich keine andere Alternative gibt und ob Terrorismus vom Standpunkt der MittelZweck-Rationalität hier überhaupt eine Alternative, sprich: aussichtsreich ist. „Da bei diesem Argument in seiner üblichen Form auf diese Bedingung jedoch fast nie eingegangen wird, kann es die moralische Rechtfertigung, die es zu liefern beansprucht, nicht geben [...]." (142) Hier ist jedoch erstens daraufhinzuweisen, daß in diesem Sinne auch fast alle Kriegsrechtfertigungen pseudo-moralisch sind - die Kriterien des gerechten Krieges werden beschworen, aber ihre Erfüllung nicht geprüft, sondern kurzerhand vorausgesetzt. Und zweitens ist Dascals Argument aufgrund des Wörtchens „fast" ein non sequitur. In jedem Fall ist, wie Primoratz feststellt, die Frage der Wirksamkeit des Terrorismus „eine empirische und kann daher nicht ein für allemal entschieden werden" (62). Coadys Kritik ist im Vergleich zu Dascals grundsätzlicher: „Das Verbot der absichtlichen Tötung unschuldiger Menschen fungiert in unserem moralischen Denken als so etwas wie der Prüfstein für moralische und intellektuelle Gesundheit." Seine Aufhebung beinhalte daher „den Umsturz unserer ganzen moralischen Perspektive" (83). Freilich könnte man sich mit einigem Recht fragen, wie es um die moralische und intellektuelle Gesundheit etwa eines Politikers bestellt ist, der lieber eine Million unschuldiger Menschen sterben läßt, bevor er einen einzigen Unschuldigen direkt tötet. Gehört nicht auch der mehr oder weniger utilitaristische Grundsatz „Zahlen zählen" zu unserer moralischen Perspektive? Andere Beiträge versuchen, den kulturellen Hintergrund einer bestimmten Art von Terrorismus zu beleuchten, nämlich des islamistischen. So postuliert der Philosoph Barry Smith einen tiefgreifenden welthistorischen Unterschied zwischen Ost und West. Das Christentum habe im Verlauf seiner Geschichte einen Wechsel von einer sozusagen apokalyptischen zu einer amelioristischen Weltanschauung vollzogen, der zufolge das Leben auf der Erde durchaus Sinn mache und durch den Gebrauch der Vernunft Schritt für Schritt verbessert werden könne und solle, während in der islamischen Welt dieser Wandel versäumt worden sei. Und dies erklärt für ihn irgendwie, warum der „organisierte terroristische Selbstmord" (110) ein ausschließlich nicht-okzidentales Phänomen sei. Einzuwenden ist, daß weder Barrys Prämissen sonderlich plausibel noch seine Folgerungen logisch schlüssig erscheinen. Die Ansätze anderer Autoren sind differenzierter und durchweg aufschlußreich. Die Religionssoziologin Monika Wohlrab-Sahr etwa äußert zwar Verständnis für den nach dem 11. September häufig anzutreffenden Versuch, religiösen Legitimationen von Gewalt den Boden zu entziehen, indem man „wirkliche" Religion als friedlich apostrophiert, doch wie sie zeigt, hilft bei dem Unternehmen, „den inneren Sinn" - und die Dynamik - „des gewalttätigen Handelns, das sich selbst als religiös bezeichnet, zu rekonstruieren, [...] die Unterscheidung von Religion und Gewalt nicht weiter" (173). Das gilt freilich nicht nur für islamistisches gewalttätiges Handeln. Sie zitiert und analysiert unter anderem eine berühmte Rede von George W. Bush und schließt: „Das Frappierende [...] ist, dass die Logik der religiösen Begründung von Gewalt, zu der den Terroristen das Recht abgesprochen wurde, hier - positiv gewendet - wieder auftaucht." (175) In diese Kerbe schlägt kraftvoll der Friedensforscher Johan Galtung. Er diagnostiziert eine „an Identität grenzende Ähnlichkeit des Wahhabismus mit dem US-amerikanischen Puritanismus" (281) und stellt die manichäische Art und Weise des US-Fundamentalismus einerseits und des islamischen Fundamentalismus andererseits, sich selbst und „die anderen" zu sehen, als zwei Seiten derselben Medaille einander gegenüber. Aus dieser Opposition und „Terrorismus Matrix" (289) heraus führt für ihn nur rationale Analyse und friedliches Handeln, deren Charakteristika er darlegt. Der Islamwissenschaftler Holger Preissler wiederum zeichnet die Geschichte des Terrors im Nahen Osten nach und belegt und moniert, daß bei deren Analyse inzwischen

Rezensionen allzuoft „nicht mehr zuerst und differenziert nach konkreten Ursachen, Vorbereitungen und Anlässen gesucht, sondern im Islam eine quasi-allgemeingültige Erklärung vermutet" wird (185). Für sich diesem Trend widersetzende Differenzierungen votiert auch der Arabist Eckehard Schulz. Er stellt fest: „Die Islamisten wollen die korrupten prowestlichen Regimes beseitigen, nicht vor allem deshalb, weil diese Regimes prowestlich sind, sondern weil diese die Probleme der Länder nicht lösen; sie wollen Reformen im Verwaltungssektor und bei den sozialen Einrichtungen und sie wollen auch Technologietransfer, weil sie meinen, damit die existentiellen Probleme ihrer Völker lösen zu können." (194) Da ihrer Wahrnehmung nach Kolonialismus, Kapitalismus und Sozialismus ihre Probleme nicht gelöst, sondern vergrößert hätten, sähen sie nun im Islam die Lösung. Nichtsdestoweniger: Obwohl „Demokratie nach westeuropäischem Muster in all diesen Gruppen auf Ablehnung stößt", seien sie durchaus demokratiefähig, „wenn man davon ausgeht, dass wir keine 100%-Kopie unseres Demokratieverständnisses erwarten können und sollten" (196). Diesen Gedanken erläutert er dann genauer. Der Demokratisierungsberater Wolfgang Sachsenröder schließlich beschreibt die desolate Situation - etwa gemessen an Freiheit, Alphabetisierungsrate und sozialer Gerechtigkeit - des Nahen Ostens, welche den Islamisten Zulauf verschaffe und im übrigen vom Westen zum Teil mitzuverantworten sei. Wie nun aber geht man mit Terrorismus am besten um und wie ist der „Krieg gegen den Terrorismus" zu bewerten? Der Pfarrer Christian Wolff kann sich unter Berufung auf Dietrich Bonhoeffers Aussage, daß man seine persönliche Unschuld nicht über seine Verantwortung für die Menschen stellen dürfe, nicht zu einem absoluten Pazifismus durchringen. Vielmehr vertritt er eine Position, die im angelsächsischen Raum als „war pacifism" bekannt ist. Tödliche Gewaltanwendung ist unter bestimmten Umständen zulässig, aber nicht in Form von Krieg. Der Kriegspazifismus speist sich natürlich aus der Überzeugung, daß man keine Unschuldigen töten dürfe - auch nicht als „Kollateraleffekt". Doch was, wenn man in einer bestimmten Situation eine größere Zahl Unschuldiger nicht retten kann, ohne dabei eine kleinere Anzahl Unschuldiger als Nebeneffekt seiner Rettungsaktion zu töten? Wenn man eine derartige, u. U. kriegerische Rettungsaktion grundsätzlich ausschließt - stellt man dann nicht ebenfalls seine persönliche Unschuld über seine Verantwortung fur die anderen? Freilich, obgleich dieses Argument nahelegt, daß man auch Krieg nicht verantwortlicherweise als Mittel grundsätzlich ausschließen kann, so zeigt es mitnichten, daß Krieg im Kampf gegen den Terrorismus ein angemessenes Mittel ist. Der General Wolf-Dieter Löser meint jedoch bei seiner Analyse der Rolle der Bundeswehr in diesem Kampf, daß militärische Aktionen - komplementär zu politischen Maßnahmen durchaus geeignete Mittel seien. Allerdings sei der „Kampf gegen den internationalen Terror [...] kein Kriegseinsatz im herkömmlichen Sinne", denn es sei „nicht angemessen, Verbrecher in den Rang von Kriegfuhrenden zu erheben." Außerdem könne es für ihn persönlich „keine Umwandlung der Täter/Opfer-Beziehung geben [...], die sich in einigen Medien mehr oder weniger verbrämt breit macht, je länger und opfervoller der Kampf gegen den Terror andauert. Der internationale Terror kämpft jenseits der durch Völkerrecht und Kriegsvölkerrecht gezogenen Grenzen." (257) Gegen diese Sicht der Dinge läßt sich gerade unter Rückgriff auf andere Autoren des Bandes viel sagen. Von einem Zweiten Weltkrieg etwa dürfte man nach Lösers Logik gar nicht reden, da sowohl die deutsche Seite in ihrem Vernichtungskrieg im Osten als auch die Alliierten mit ihren Flächenbombardements deutscher Städte - welche von Coady und Primoratz völlig zu Recht als Staatsterrorismus klassifiziert werden - auf Massenmord abzielten und sich jenseits des Völkerund Kriegsrechts bewegten. Nach derselben Löserschen Logik wäre übrigens der Ausdruck „Kriegsverbrechen" ein Widerspruch in sich. Natürlich läßt sich darüber streiten, ob AlQuaida als kriegführende Partei qualifiziert werden kann, doch der von Löser angeführte

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Grund zieht nicht. Im übrigen hatten die von verschiedenen Autoren in dem Band genannten 5000 afghanischen Zivilisten, welche von den alliierten Angriffen getötet wurden, mit dem Anschlag auf das WTC gar nichts zu tun. Dabei muß man zudem bedenken, daß sich diese Zahl nur auf die direkten Opfer militärischer Angriffe der Alliierten bezieht. Rechnet man die Opfer der kriegsbedingten weitgehenden Einstellung internationaler Hilfslieferungen an Afghanistan und die Opfer der Fluchtbewegungen hinzu, dürfte die Zahl der ums Leben gekommenen Zivilisten noch beträchtlich höher liegen. Wer hier Täter und wer Opfer ist, sollte klar sein. Folglich bezeichnet Galtung den Afghanistankrieg der Alliierten auch rundheraus als „Staats-Terrorismus" (275), während Coady, Meggle und Primoratz ihn für nicht viel weniger schlecht als den Staatsterrorismus halten, und zwar aufgrund des unverhältnismäßigen Ausmaßes der sogenannten „Kollateralschäden", unter anderem zurückführbar auf Flächenbombardements und den Einsatz von Streubomben (beides übrigens, so viel sollte Löser wissen, jenseits des Kriegsvölkerrechts). Entsprechend sind sich auch insbesondere die Philosophen in dem Band einig in ihrem Ekel darüber, „dass wir uns Tag für Tag mit moralischen Verurteilungen des Terrorismus ausgerechnet von den Repräsentanten derjenigen Staaten überzogen sehen, die nach eben diesen Maßstäben selber viel Dreck am Stecken haben" (Primoratz, 65). Für diesen „Dreck am Stecken" - der nicht nur die Praktizierung oder Unterstützung von Staatsterrorismus, sondern auch die von subnationalem Terrorismus mit einschließt - fuhrt der Band zahlreiche Beispiele an. Und so wollen die meisten Autoren militärische Aktionen gegen den Terrorismus - wo sie solche, nicht zuletzt aus Zweckmäßigkeitserwägungen, nicht ganz ausschließen - auch lieber in der Hand der Vereinten Nationen sehen. Allgemein geben sie aber polizeilichen Aktionen den Vorzug, welche zudem von flankierenden politischen Maßnahmen begleitet sein müßten, wie ja auch Löser sie fordert. Eine besonders wichtige Maßnahme freilich und Voraussetzung dafür, daß die übrigen wirklich greifen können, statt - berechtigten Ressentiments zu begegnen, ist die Praktizierung eines konsequenten Universalismus, sprich, die Aufgabe der Doppelmoral. Dieser Band leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Es handelt sich, und das läßt sich ohne Übertreibung sagen, um das derzeit beste deutsche Buch zum Thema „Terrorismus und der Krieg gegen ihn". Uwe Steinhoff,

Berlin/Oxford

Hans-Joachim Pieper (Hg.): „Hat er aber gemordet, so muß er sterben.44 Klassiker der Philosophie zur Todesstrafe, Bonn 2003 (DenkMal Verlag), 201 Seiten Mit dieser Anthologie zur Ethik der Todesstrafe hat der DenkMal Verlag Bonn den ersten Band einer neuen Reihe mit dem Titel „KlassikerDewfert" vorgelegt, deren Ziel darin besteht, klassische philosophische Texte zu aktuellen Problemen zu präsentieren, damit das „kritische Potential der Klassiker neu entdeckt werden kann". Der Band will die bedeutendsten Philosophen, die sich seit der Antike zum Problem der Todesstrafe geäußert haben, zu Wort kommen lassen. Die Sammlung vereinigt zwölf Texte von Platon über Thomas von Aquin, Morus, Beccaria, die deutschen Idealisten und Schopenhauer bis zu Camus; der größte Anteil kommt dabei dem 18. und dem 19. Jahrhundert zu. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass in diesem Zeitraum die Rechtsphilosophie eine Blütezeit erlebte und intensiv über die Reform des Strafrechts debattiert wurde. Jedem Textausschnitt

Rezensionen ist eine Einführung vorangestellt, die über den Autor und seine wichtigsten Werke informiert sowie die ausgewählte Passage in ihren Kontext einordnet. In seiner Einführung stellt der Herausgeber zunächst die politisch-ethische Bedeutung der Problematik heraus. Zwar ist in Europa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ein Rückgang der Todesstrafe zu verzeichnen. Andererseits steigt jedoch in den USA, China und anderen Staaten die Zahl der verhängten Todesstrafen. In der Praxis ist also das letzte Wort über die Berechtigung der Todesstrafe noch nicht gesprochen. Dies allein dürfte Grund genug dafür sein, in der Geschichte der Philosophie Auskunft über die Gründe, die sich für und wider diese Art der Strafe anfuhren lassen, einzuholen. Dabei kommt man Pieper zufolge nicht umhin, sich mit drei grundsätzlichen Fragen zu befassen, von deren Beantwortung das Urteil über die Rechtmäßigkeit der Höchststrafe abhänge: Worin besteht Sinn und Zweck des Strafens? Was ist Wesen und Aufgabe des Staates? Und: Inwiefern ist der Mensch frei und daher verantwortlich für seine Verbrechen? (S. 12) Zumindest in Bezug auf die ersten beiden Probleme wird dieses Urteil durch die Lektüre der Texte bestätigt. Warum jedoch die Frage nach der Willensfreiheit in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sein sollte, ist nicht ohne Weiteres einsichtig. Piepers Behauptung, dass die Unsicherheit der Freiheit gegen die Anwendung der Todesstrafe spreche (S. 20), lässt sich bekanntlich Folgendes entgegenhalten: Entweder sind Menschen im Allgemeinen frei und verantwortlich - dann kann man sich gegen die Berechtigung einer bestimmten Art der Strafe nicht auf die Unfreiheit des Täters berufen; oder das Handeln der Menschen ist natürlich determiniert - in diesem Falle wäre es unmöglich, die Praxis absichtlich und freiwillig zu ändern, außerdem wären dann weder Täter noch Richter und Henker für ihre Taten verantwortlich. Pieper weist auf diesen Gedanken selbst hin (S. 20), zieht aus ihm aber eine schwer nachvollziehbare Schlussfolgerung: Die Unentscheidbarkeit der Frage nach der Willensfreiheit „sollte Grund vorsichtiger Zurückhaltung sein". Dieser Appell an unsere Einsicht ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn wir uns als freie und zurechnungsfähige Wesen begreifen. Es ist nicht einzusehen, warum wir Straftäter von dieser Freiheitsunterstellung ausnehmen sollten. Der Herausgeber weist außerdem daraufhin, dass die philosophische Reflexion über die Todesstrafe zwei einschränkenden Bedingungen zu unterwerfen sei. Erstens dürfe man ihre Statthaftigkeit nur als ultima ratio für schwerwiegendste Verbrechen in Erwägung ziehen, zweitens komme die Möglichkeit der ethisch gerechtfertigten Todesstrafe nur im Hinblick auf demokratisch legitimierte Rechtsstaaten in Betracht, weil nur in diesen die Gleichheit vor dem Gesetz gewährleistet und Justizirrtümern und Missbrauch so weit wie möglich vorgebeugt sei (S. 21). Bei der zweiten von Pieper genannten Bedingung handelt es sich offenbar um eine Anwendungsbedingung, und es ist zu vermuten, dass sich in der philosophischen Debatte zwei Arten von Gründen pro und contra die Todesstrafe finden lassen: einerseits prinzipielle Überlegungen und andererseits Argumente, welche die gerechte Anwendbarkeit der Strafe betreffen. Die Lektüre der ausgewählten Texte bestätigt diese Vermutung. Als wichtigstes prinzipielles Argument für die Berechtigung der Todesstrafe erweist sich die Berufung auf das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis); das stärkste Bedenken gegen ihre Zulässigkeit ergibt sich hingegen aus dem empirischen Hinweis auf die Fehlbarkeit der Richter und die Gefahr des Missbrauchs dieser Strafart. Überblickt man die Geschichte der philosophischen Stellungnahmen zur Todesstrafe, dann fallt auf, dass lange Zeit ihre Befürwortung dominierte. Allerdings variiert die Art der Begründung ihrer Rechtmäßigkeit. Platon lässt Sokrates im Gorgias zunächst den allgemeinen ethischen Grundsatz aufstellen, dass das größte Übel, was einem Menschen widerfahren kann, darin besteht, dass das von ihm verübte Unrecht ungestraft bleibe. In

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Analogie zur Medizin wird die Bestrafung hier als Heilung des Verbrechens aufgefasst. In den Nomoi werden dann die todeswürdigen Straftaten bestimmt. Zu ihnen zählen u. a. die Tötung eines Herrn durch seinen Sklaven und der im Zorn verübte Vater- oder Muttermord (S. 37f.). Thomas von Aquin fuhrt später drei Gründe fur die Statthaftigkeit der Todesstrafe an. Erstens deutet er das Fünfte Gebot so, dass es nicht alle, sondern nur ungerechte Tötungen verbiete. Zweitens beruft er sich auf eine Analogie zur Selbsterhaltung der Lebewesen. So wie ein Organismus u. U. sein Leben nur mittels der Amputation eines faulen Gliedes retten kann, so müsse sich auch die Gemeinschaft im Notfall der Glieder entledigen dürfen, die den Bestand des Ganzen gefährden (S. 48). Auch in der Neuzeit wurde die Berechtigung der Todesstrafe zunächst nicht in Frage gestellt. Nach Locke folgt aus dem unantastbaren Recht auf Selbsterhaltung, dass ein Mensch im Naturzustand befugt ist, jeden, der ihm durch ein Verbrechen oder dessen Androhung den Krieg erklärt, zu töten (S. 11t). Durch die Aufgabe des natürlichen Rechts zu strafen beim Eintritt in den Staat geht das Recht, die Todesstrafe zu verhängen, auf die Exekutive über. Ähnlich argumentiert Rousseau. Ihm zufolge erklärt ein Verbrecher durch seine Tat dem Staat den Krieg und schließt sich daher selbst aus der Gemeinschaft aus; seine Tötung sei nichts anderes als die Ausübung des Kriegsrechts (S. 90). Der erste bedeutende Autor, der die traditionelle Rechtfertigung der Todesstrafe in Frage stellte, war Cesare Beccaria. In seinem 1764 erschienenen Werk Von Verbrechen und Strafen bringt er mehrere Gründe gegen die Kapitalstrafe vor. Erstens impliziere das strikte moralische Verbot der Selbsttötung, dass kein Mensch das Recht habe, sich zu töten folglich könne er ein solches auch nicht an den Staat abtreten. Zweitens bezweifelt er, dass die Strafe den mit ihr verfolgten Zweck der Prävention erreichen könne, weil die lebenslange, mit Zwangsarbeit verbundene Haft abschreckender wirke als der Augenblick des Todes. Schließlich sei die Tötung des Verbrechers selbst grausam (S. 96ff.). Diese Einwände gegen die Todesstrafe wurden in der Folgezeit von Denkern wie Voltaire, Fichte und Camus aufgegriffen. Letzterer betont darüber hinaus, dass sich im Falle der Todesstrafe die stets möglichen Justizirrtümer besonders stark auswirkten (S. 188). Immanuel Kant, der Beccaria „teilnehmende Empfindelei" und „affektierte Humanität" vorwarf, hat eine Begründung der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe gegeben, die insofern originell ist, als sie sich nicht auf die abschreckende Wirkung der Strafe beruft. Strafen dürften schon deshalb keinem Zweck dienen, weil der kategorische Imperativ es verbiete, einen Menschen - in diesem Falle den Verbrecher - nur als Mittel zu benutzen (S. 119). Der Verbrecher werde vielmehr bestraft, weil er das Gesetz gebrochen hat, und als „Befriedigung der Gerechtigkeit" sei die Strafe Zweck an sich. Das Strafmaß sei dabei gemäß dem Gesetz der Wiedervergeltung, auf das schon Locke verwiesen hatte, zu bemessen (S. 120). Fichte hat dann Kants berühmteste moralphilosophische Einsicht gegen ihren Entdecker gewendet: Das Sittengesetz verbiete die Tötung eines Menschen schlechthin, somit auch die Todesstrafe (S. 140). Außerdem weist er zu Recht daraufhin, dass Kant das Wiedervergeltungsrecht nicht begründet hat (S. 142). Bei Hegel schließlich wird besonders deutlich, dass die Beurteilung der Todesstrafe maßgeblich von der Bestimmung des Wesens des Staates abhängt. Er verwirft die von Locke, Rousseau, Beccaria und Fichte vertretene kontraktualistische Staatstheorie ebenso wie die Annahme, dass der Zweck des Staates im Schutz der Bürger bestehe (S. 158). Die Lehre von der Wiedervergeltung reinterpretiert er so, dass der Verbrecher durch seine Tat zugleich seinen Willen, bestraft zu werden, und folglich das Recht auf seine Bestrafung gesetzt habe.

Rezensionen Es dürfte deutlich geworden sein, dass tatsächlich - wie vom Herausgeber betont - die Bestimmung des Staats- und Strafzwecks unabdingbar für ein wohlbegründetes Urteil über die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ist. Somit verweist die vorliegende Anthologie auf die Notwendigkeit grundsätzlicher moral- und rechtsphilosophischer Erörterungen, die der Anwendung auf das Problem der Todesstrafe vorausgehen müssen. Diese Aufgabe geht jedoch über das Thema des Bandes hinaus. Seinen Zweck, einen handlichen und repräsentativen Überblick der philosophischen Debatte über die Todesstrafe zu geben, erfüllt er vollauf. Héctor Wittwer,

Berlin

Autorenverzeichnis PD Dr. Olaf Asbach, Universität Hamburg, Institut für Politische Wissenschaft, AllendePlatz 1, 20146 Hamburg Horst Denzer, Olympiastraße 17a, 86179 Augsburg Prof Dr. Steffen Dietzsch, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Philosophie, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Dr. Kai Haucke, Universität Hamburg, Institut für Philosophie, Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam Dr. Michael Henkel, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, 07740 Jena Dr. Dieter Hüning, Philipps-Universität Marburg, Institut für Philosophie, 35032 Marburg PD Dr. Reinhard Mehring, Rheinallee 122, 40545 Düsseldorf Prof. Dr. Henning Ottmann, Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Oettingenstraße 67, 80538 München Prof Dr. Wolfgang H. Pleger, Universität Koblenz-Landau, Seminar für Philosophie, Universitätsstraße 1, 56070 Koblenz Dr. Heinz-Gerd Schmitz, Vogelsanger Straße 15, 50823 Köln Dr. Uwe Steinhoff University of Oxford, Department of Politics and International Relations, George Street, Oxford, OX1 2RL PD Dr. Lothar R. Waas, Hauptmannstraße 27, 49143 Bissendorf Prof Howard Williams, University of Wales, Department of International Politics, Penglais, Aberystwyth, Ceredigion, SY 23 3 DA, Wales, United Kingdom PDDr. Mirko Wischke, Martin-Luther-Universität Halle, Institut für Philosophie, Schleiermacherstr. 1, 06114 Halle/S. Dr. Héctor Wittwer, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Philosophie, Unter den Linden 6, 10099 Berlin