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German Pages 212 Year 2015
Anne-Berenike Rothstein Poetik des Überlebens
Europäisch-jüdische Studien Beiträge
Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß
Band 26
Anne-Berenike Rothstein
Poetik des Überlebens
Kulturproduktion im Konzentrationslager
ISBN 978-3-11-041521-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041486-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041490-5 ISSN 2192-9602 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: Michael Peschke, Berlin Printing: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Anne-Berenike Rothstein Einleitung „Ewig kann’s nicht Winter sein“ – Kulturproduktion im Konzentrationslager Ottmar Ette ÜberLebenSchreiben im Angesicht des Todes Von den Lebenslandschaften der Literatur am Beispiel der Lyrikerin Emma Kann 10 Peter Kuon Weihnachten im Konzentrationslager Festkultur und Kulturproduktion 33 Heidi Aschenberg Sprachterror und Sprachbewahrung im Konzentrationslager
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Dieter Ingenschay Die Erfahrung des Lagers in zwei argentinischen Gegenwartstexten Ariel Magnus’ La abuela und Susana Romano Sueds Procedimiento
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Constanze Jaiser Benennen und Bewahren Poetische Zeugnisse aus Konzentrationslagern und ihre Rezeption
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Anne-Berenike Rothstein Die Erschaffung eines Kulturraumes im Raum der Unkultur Germaine Tillions Le Verfügbar aux enfers (1944) 103 Anja Tippner Aneignungen Dina(h) Gottliebová-Babbitts Zeichnungen aus Auschwitz (1943/1944) und ihr kulturelles Nachleben in Polen und den USA 123 Stefanie Endlich Bilder des Lagers und ihre Rezeption von der Nachkriegszeit bis heute
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Inhalt
Joseph Jurt Erinnern, überleben, bezeugen Werkverzeichnis
185 197
Abbildungsverzeichnis Autorenverzeichnis Personenregister
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Einleitung
„Ewig kann’s nicht Winter sein“1 – Kulturproduktion im Konzentrationslager
Hinführung Apathisch abwartend lebte ich in einer Landschaft von Toten und Sterbenden. […] Überall lagen Leichenhaufen. […] Zaghaft fange ich zu zeichnen an. Vielleicht hilft es mir zu überleben. […] und bald werde ich von einer unglaublichen, rasenden Lust zu zeichnen gepackt.2 Qu’il parlait bien, Alceste. Que sa langue était précise et ferme, que son allure était simple [...] J’ai appris Le Misanthrope par cœur, un fragment chaque soir, que je me répétais à l’appel du lendemain matin. […] Et jusqu’au départ, j’ai gardé la brochure dans ma gorge.3 On réussit à écrire, à prendre des notes, à exercer sa mémoire avec des rêves.4 Ich stand vor ihnen, vor diesem elenden Publikum, in den Lagerlumpen, die Füße durch die schwere Last der Holzschuhe wie am Boden angewachsen. […] Ich bat die Mädchen, mir als Begleitung brumendo einen langsamen Walzer zu singen. Sie fingen an, und ich begann pantomimisch unser gemeinsames Lied zu gestalten. […] Mein Tanz endete in dem Gefühl, daß wir alle ein Körper und eine Seele seien und uns gemeinsam dem Leid entgegenstellten.5
Aus den Zitaten, die von Überlebenden der Konzentrationslager stammen, geht hervor, dass Kulturproduktion – im vorliegenden Fall Literatur-, Kunst- und Musik-/Tanzproduktion, aber auch interaktive Literaturrezeption wie bei Charlotte Delbos Zitat – immer Zeichen (geistigen) Überlebens-Willens ist und sich oftmals als kollektiver kreativer Akt erweist. Das Thema Kulturproduktion im Konzentrationslager ist ein noch relativ junges Forschungsgebiet, das derzeit den Fokus der Fachöffentlichkeit auf sich zieht.6 Gerade in der immer zentraler werdenden Erinnerungs- und Gedenkstät1 Lagerlied von Börgermoor: „Die Moorsoldaten“. http://www.diz-emslandlager.de/moorlied. htm (08.10.2014). 2 Musič, Zoran: Die späten Jahre. Ostfildern 1995, S. 41–44. 3 Delbo, Charlotte: Auschwitz et après (Une connaissance inutile). Paris 1970, S. 124f. 4 Resnais, Alain: Nuit et Brouillard (Frankreich 1955). 5 Kuna, Milan: Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen. Frankfurt 1998, S. 107. 6 So veranstaltete das Jüdische Museum im März 2014 einen Thementag zur Kultur in Theresienstadt einschließlich einer Exkursion; das Militärhistorische Museum Dresden erinnerte im Januar 2014 mit seiner Ausstellung Schuhe von Toten – Dresden und die Shoah an das im Konzen-
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tenarbeit gewinnt das Thema der Aufbereitung von Artefakten aus den Lagern an Aufmerksamkeit. Ein wichtiger Teil des „univers concentrationnaire“7, das wissenschaftlich bereits äußerst vielschichtig aufbereitet wurde, ist auch die Kulturproduktion, die bislang kaum Systematisierungen aus der Perspektive unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen erfahren hat.8 Der Titel des Sammelbandes Poetik des Überlebens verweist auf eine Beschäftigung mit Kultur in der Unkultur, d.h. der Analyse von Produktion, und, soweit eruierbar, Rezeption von Kultur im konzentrationären Universum (in Form von Literatur und Kunst, aber auch in Form der Festkultur). Es entstehen dort mitunter neue Formen der Kreativität, eine eigene konzentrationäre Darstellungsweise, ja eine „art lazaréen“ (Jean Cayrol)9, die einer näheren strukturellen Analyse bzgl. transdisziplinärer und übergreifender Motive, Themen, literarischer und visueller Topoi unterzogen werden. Poetik des Überlebens verweist auch auf eine Diskussion über die Zeitgebundenheit und Überzeitlichkeit der Werke, eine Analyse rezeptionsästhetischer Verfahren mit konzentrationär-kulturellen Werken nach 1945. Die Beiträge diskutieren, inwiefern die Artefakte als „in situ“-
trationslager Majdanek verfasste Gedicht Schuhe von Toten eines dort gestorbenen anonymen Mädchens. 7 Vgl. Pollak, Michel: L’expérience concentrationnaire. Essais sur le maintien de l’identité sociale. Paris 1990. 8 Die bisherigen einschlägigen Arbeiten widmen sich v.a. der Erfassung der konzentrationären Artefakte, arbeiten aber explizit weniger interdisziplinär wiederkehrende oder übergreifende Motive oder Themen heraus (vgl. Kühn-Ludewig, Maria u. Rainer Dehmlow: Bücher und Bibliotheken in Ghettos und Lagern (1933–1945). Hannover 1999; Noltenius, Rainer (Hrsg.): Alltag, Traum und Utopie. Lesegeschichten – Lebensgeschichten. Essen 1988; Minhoff, Susanne: ‚Ein Symbol der menschlichen Würde.‘ Kunst und Kultur im KZ Ravensbrück. In: Füllberg-Stolberg, Claus (Hrsg.): Frauen in Konzentrationslagern. Bergen-Belsen. Ravensbrück. Bremen 1994, S. 207–220; Rahe, Thomas: „Kultur im KZ. Musik, Literatur und Kunst in Bergen-Belsen“. In: Füllberg-Stolberg, Claus (Hrsg.): Frauen in Konzentrationslagern. Bergen-Belsen. Ravensbrück. Bremen 1994, S. 193–206; Seela, Torsten: Bücher und Bibliotheken in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Das gedruckte Wort im antifaschistischen Widerstand der Häftlinge. München 1992; Blatter, Janet: Art from the Whirlwind. In: Art of the Holocaust. Hrsg. von Blatter, Janet u. Sybil Morton. London 1981, S. 20–36; Costanza, Mary S.: Bilder der Apokalypse. Kunst in Konzentrationslagern und Ghettos. München 1983; Szymańska, Sirena: Kunst im Konzentrationslager Auschwitz. In: Dachauer Hefte, 18 (2002), S. 73–97; Haibl, Michaela: Bildwerke aus Konzentrationslagern als Forschungsgegenstand und Dokumentationsobjekt. Mit besonderer Berücksichtigung der Arbeiten von Francziszek Znamirowski. In: Überleben durch Kunst: Zwangsarbeit im Konzentrationslager Gusen für das Messerschmittwerk Regensburg. Hrsg. von Hanausch, Reinhard. Regensburg 2012, S. 243–256). 9 Vgl. Kuon, Peter (Hrsg.): „Les mots sont aussi des demeures“. Poétiques de Jean Cayrol. Bordeaux 2009. Diese Poetik, die sich über die biblische Figur des Lazarus – ebenso wie die Überlebenden der Lager ein „mort-vivant“ – definiert, bildet eine „romanesque lazaréen“, die für jegliche Beschäftigung mit der literarisch umgesetzten konzentrationären Welt (stil-)prägend ist.
Einleitung
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Genre10 gedacht sind, d.h. lediglich auch zur sofortigen (und ggf. einmaligen) Rezeption angelegt sind und beschäftigen sich damit, welche Aufbereitungsmöglichkeiten für die Artefakte heute bestehen und wie zeitgenössische Künstler die damaligen Artefakte reflektieren. Ein Schwerpunkt des Sammelbandes ist das Konzentrationslager Ravensbrück und seine spezifischen Bedingungen (auch als Frauenkonzentrationslager) für das kulturelle Schaffen. Der Band bietet ein breites Spektrum an Zugängen zur Thematik aus literatur-, kultur- und kunstwissenschaftlicher Perspektive mit einem zugrundeliegenden Werkcorpus, das von visuellen Formen über nicht-literarische Zeugnisse, lyrische Texte, satirische Zugänge, einer Operette bis hin zu einer Darstellung der Lagerrealität in der konzentrationären Literatur und der Diskussion um das Verwalten von Artefakten reicht. Kultur in ihrer reflexiven Ausprägung – sei es als Selbstportrait oder als Gesellschaftssatire – erweist sich als (individuelle und kollektive) Überlebensstrategie, Kultur im Sinne der Festkultur ebenso als kollektiver Akt der Häftlinge.
Darstellung und Problematik des Forschungsgegenstandes Im abgeriegelten Kosmos Konzentrationslager, einem geschlossenen Sozialsystem11 des Terrors mit unüberwindbaren Grenzen, scheint die Koexistenz von Unmenschlichkeit, grausamen Verbrechen und Kultur absurd: In den Konzentrationslagern war es, als ob die Kultur und Zivilisation insgesamt weggefegt waren […] schien es, als sei die Menschheit in die Zeit zurückgeworfen worden, bevor unsere Zivilisation begann. Schien es, als ob die Geschichte der Menschheit wieder von vorn beginnen müsste.12
10 „[…] art, music, theater, cabaret,and dance created and sometimes performed in situ by professional artists and talented amateurs in Nazi Germany and occupied Europe, 1933–1945. In situ means that these works were produced by the victim artists incarcerated in ghettos, transit camps, prisons, concentration camps, and hiding places”. Milton, Sybil H.: Epilogue: Lost, Stolen, and Strayed: The Archival Heritage of German-Jewish History. In: Rovit, Rebecca u. Alvin Goldfarb (Hrsg.): Theatrical Performances during the Holocaust: Texts, Documents, Memoirs. Baltimore 1999, S. 274–291, hier: S. 287. 11 Vgl. Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M. 2002, S. 24. 12 Bericht Aat Breur (1983). Zitiert nach Minhoff, Susanne: ‚Ein Symbol der menschlichen Würde.‘ Kunst und Kultur im KZ Ravensbrück. In: Füllberg-Stolberg, Frauen in Konzentrationslagern (wie Anm. 8), S. 207–220, hier: S. 212.
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Gängige Kulturbegriffe und -modelle lassen sich demnach nur bedingt auf den Sterbe- und Über-Lebensraum Konzentrationslager übertragen (jeder Häftling hat seine eigene Sozialisation, sein „cultural behaviour“, wobei das gesamte Repertoire der Umgangs- und Bildungsmechanismen im KZ andere Ausdrucksformen erhält). Eine Diskussion über die Ausprägung von Kreativität unter katastrophalen Bedingungen kann nur behutsam geführt werden, ist doch (immer noch) eine gewisse Vorsicht vorhanden, sich mit dem Thema auseinander zu setzen: zum einen besteht eine Scheu, Arbeiten nach ästhetischen Kategorien zu beurteilen, die unter Todesangst entstanden sind, zum anderen haben die Überlebenden selbst ihre Vorsicht bekundet, über Kulturproduktion im Lager zu sprechen aus Angst, die Lagerrealität dadurch zu verharmlosen.13 Die Frage nach der historischen Genauigkeit (Authentizität der Werke) und ihrer Beweisfunktion (direkte Illustration der Vergangenheit) wurde v.a. von geschichtswissenschaftlicher Seite gestellt. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive gibt es Vorbehalte, die Kunst aus den Lagern als Forschungsthema überhaupt anzuerkennen. Zu problematisieren ist auch die kunst-, literatur- oder auch musikgeschichtliche Einordnung der Artefakte in bestehende Traditionen.14 Kulturelle Aktivitäten müssen in Interaktion mit den Spezifika der einzelnen Lager diskutiert werden sowie in Abhängigkeit der individuellen, physischen (Stellung im Lager) und psychischen Situation (Solidargemeinschaft der Häftlinge) des „Künstlers“. Beispielsweise gab es in Ravensbrück von Beginn an ein verborgenes kulturelles Leben, innerhalb dessen Singen und Tanzen eine bedeutende Rolle spielten (Ravensbrück-Lied). Durch die Omnipräsenz des Todes in einem ganz spezifischen Raum-Kontinuum („Der Terror prägt sich dem Raum auf und verwandelt ihn zum Medium seiner selbst“15) und Zeit-Kontinuum („[…] die Zeit im Lager bemächtigt sich der biographischen Zeit und der Bewegungen des Geistes“16), das das Lager darstellt, ist jede Form der Kulturproduktion durch die Extremsituation konnotiert.
Kulturelle Aktivitäten im Konzentrationslager Zunächst gibt es die von der Kommandantur geduldete Kultur, die sogenannte Lagerkultur, die die Ausnahme – bspw. mit Weihnachten als offizieller kultureller 13 Vgl. hierzu auch Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem. München 2007 und Young, James Edward: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a.M. 1992. 14 Vgl. Kaumkötter, Jürgen: Ein schmaler Grat. In: Dachauer Hefte 18 (2002), S. 34–41, bes. S. 36f. 15 Sofsky, Ordnung (wie Anm. 11), S. 61. 16 Sofsky, Ordnung (wie Anm. 11), S. 88.
Einleitung
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Aktivität – bildet; und die geförderte oder verordnete Kultur (v.a. in den Bereichen Musik und Kunst) als Macht- und Herrschaftsinstrument des NS-Regimes auf der Ebene des Befehls zur Zweckentfremdung und Instrumentalisierung. Hauptbestandteil des Sammelbandes ist die klandestine, illegal manchmal unter Lebensgefahr geschaffene Kultur – individuell oder kollektiv – auf der Ebene der Selbstbestimmung. Diese Kulturproduktion ist – im Gegensatz zur gezielt betriebenen Entmenschlichung des NS-Regimes – Ausdruck von Identität und Intellekt. Dabei bleiben traditionelle Ausdrucksmöglichkeiten in Literatur, Kunst und Musik ebenso bestehen, wie es auch eine Überformung tradierter künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten gibt. Neben Literatur bilden Musik und Kunst wichtige Bestandteile im kulturellen Leben der Häftlinge, das sich im Geheimen abspielte. Zwei Textgattungen beherrschen die literarische Produktion im Konzentrationslager: Gedicht- und Tagebuchform. Neben der Literaturproduktion ist Literaturrezeption und besonders interaktive Literaturrezeption17 von entscheidender Prägung für die Insassen. Musik, als Quellenzeugnis kaum erhalten, bietet ein breites Spektrum durch sämtliche Genres und besticht v.a. durch die Hybridität der Gattungen. Im umfassenden Liedrepertoire der Häftlinge wurden im gemeinsamen Singen vorkonzentrationäre sowie konzentrationäre Liedtexte variiert, Vor-Kriegslieder mit aktuellen Texten versehen, vereinzelt Lied-Neuschöpfungen geschaffen (am bekanntesten wohl das Börgermoorlied von 1933 aus dem Konzentrationslager Börgermoor). Das künstlerische Schaffen weist ebenfalls ein breites Spektrum auf: Portraitzeichnungen, Glückwunschkarten und gemalte Träume für eine bessere Zukunft, die auf kleinen Papierstückchen angefertigt oder in Notizheften festgehalten wurden. Dies sind Artefakte, die sich also nicht explizit im dokumentarischen Sinne mit den katastrophalen Zuständen im Konzentrationslager auseinandersetzen. Verbotene Zeichnungen – zeichnerische Dokumente der Lagerrealität – sind seltener erhalten. Die im Lager entstandenen Werke stellen einerseits bereits durchaus kritische Aufarbeitungen der grausamen Lagerrealität dar, andererseits beinhalten sie bewusst gestaltete Gegenwelten zum konzentrationären Alltag. Diese Gegenwelten lassen sich als Außenräume, Heterotopien18, 17 Aus der Interaktion zwischen dem Text und der Welt des Lesers wird eine selbstreflexive Bewusstheit geweckt: Man denke an Primo Levis berühmte Analogie von Dantes Inferno mit Auschwitz in Se questo è un uomo? Primo Levi erfährt durch das Wiederholen von Versen der Divina Commedia seine Umgebung neu. Durch Kommunikation über den Text gewinnt Primo Levi eine veränderte Haltung zum Geschehen, wobei zugleich eine neue Bedeutungsschicht am Text freigelegt wird. Rezeption wird so zur Produktion, in der sich der Text und das Subjekt in seiner Situation gleichermaßen erschließen. Levi, Primo: Se questo è un uomo [1957]. In: ders: Opere I. Torino 1987, S. 5–169, hier: S. 109. 18 Vgl. Heterotopia (griech.: ,Anders-Ort‘) ist im literarischen Sinne nach Michel Foucault ein Anders-Ort, eine Gegenplatzierung, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte. Vgl. Foucault,
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definieren, die bewusst, meist in der Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses, von den Lagerinsassen erschlossen werden.19 Die Artefakte sind zielorientierte, bildlich gewordene Lebenszeichen im Sinne des Selbstbehauptungswillens und des geistigen wie emotionalen Überlebens der Häftlinge als „Kulturwesen“20 und haben damit auch autotherapeutische Funktion. Allen kulturellen Formen gemein ist, dass sie Akte des geistigen Widerstandes, „mentale Bewältigungsstrategien“21 darstellen, Bestandteile für das kollektive Sein und Erinnern bilden und zur (Wieder-)Herstellung des kulturellen Gedächtnisses dienen und damit Teil der im Lager entwickelten Überlebensstrategien sind. Kulturgeprägte Wertnormen sind (überlebens-)wichtige Taktiken zur Erhaltung der individuellen Identität (durch Rekurs auf kollektive Identität). Das künstlerische Schaffen an sich steht für die Lagerinsassen hierbei weniger im Mittelpunkt als vielmehr die mentale Verarbeitung von Verletzungen und Todesangst mit Mitteln der Kultur durch einen persönlichen Blickwinkel, Spiegel des Überlebensdranges. Zugleich stellen sie eine Informationsquelle dar,22 also einen Versuch, den Geist wachzuhalten, und zeigen die Mitinhaftierten nicht als (wie von der Nazi-Ideologie gewünschte) Nummern, sondern als Persönlichkeiten. Im Konzentrationslager entstehen andere Formen des kulturellen Schaffens, oftmals kollektiv memoriertes Kulturerbe, das v.a. auf (illiterale) Oralität abzielt, indem beispielsweise Verse der Literaturgeschichte gemeinschaftlich zitiert werden Michel: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt a.M. 2005; Foucault, Michel: „Andere Räume“. In: Stadt-Räume. Hrsg. von Wentz, Martin. Frankfurt 1991, S. 65–72. 19 Vgl. ausführliche Erläuterungen im vorliegenden Sammelband bei Rothstein, Anne-Berenike: Die Erschaffung eines Kulturraumes im Raum der Unkultur – Germaine Tillions ‚Le Verfügbar aux enfers‘ (1944) sowie die Erläuterungen über Formen und Funktionen von Heterotopien in Film und Literatur in Binder, Anne-Berenike: „Mon ombre est restée là-bas“ – Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit. Tübingen 2008. 20 Daxelmüller, Christoph: Kulturelle Formen und Aktivitäten als Teil der Überlebens- und Vernichtungsstrategie in den Konzentrationslagern. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager 1933 bis 1945. Entwicklung und Struktur. Hrsg. von Herbert, Ulrich. 2 Bände. Göttingen 1998, S. 983–1005, hier: S. 993. 21 Fackler, Guido: „Des Lagers Stimme“ – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933–1936. DIZ-Schriften Band 11. Bremen 2000, S. 181. 22 Berühmtes Beispiel ist das Bildertagebuch mit dem umfangreichsten Bestand von Zeichnungen von Zsuzsa Merényi (1925–1990), die Ende 1944 von Budapest aus zusammen mit ihrer Schwester in das KZ Bergen-Belsen deportiert wurde. Es umfasst alltägliche Probleme und Lebensbedingungen der Häftlinge und war auch Teil des sozialen Lebens in der Baracke. Vgl. Rahe, Thomas: Kultur im KZ. Musik, Literatur und Kunst in Bergen-Belsen. In: Füllberg-Stolberg, Frauen in Konzentrationslagern (wie Anm. 8), S. 193-206, hier: S. 202.
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(berühmteste Beispiele sind Primo Levi23 oder Jorge Semprún24) oder indem durch gemeinsames Singen (sowohl bei Charlotte Delbo als auch bei Béatrix de Toulouse-Lautrec wird mehrfach die Marseillaise angestimmt25) das kulturelle Erbe mündlich und imaginär rekonstruiert wird und sich oftmals als Kampf gegen die Diktatur äußert.
Zu den Beiträgen Die folgenden Beiträge gehen größtenteils auf eine Konferenz zurück, die unter dem Titel Poetik des Überlebens – Kulturproduktion im Konzentrationslager im Februar 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Das interdisziplinäre Symposium beschäftigte sich zum einen mit der Poetik der Artefakte, mit übergreifenden konzentrationären Ausdrucksformen und Darstellungsweisen in literarischen und künstlerischen Zeugnissen; zum anderen stand die Rezeption der Artefakte, sowohl im Konzentrationslager, als auch Rezeptions- und Adaptionsmöglichkeiten heute im Fokus. Ottmar Ettes Beitrag „ÜberLebenSchreiben im Angesicht des Todes. Von den Lebenslandschaften der Literatur am Beispiel der Lyrikerin Emma Kann“ eröffnet den Sammelband. „Literatur ist […] die Darstellung gelebter oder auch erlebbarer Wirklichkeiten“. Mit dem Begriff der Landschaft als „komplexes System der Wechselwirkungen und des Zusammenwirkens unterschiedlicher Kräfte und Faktoren“ erläutert Ette nicht nur die Landschaften des Schreibens, die literarisch entfalteten Lebenslandschaften der 1940 ins Internierungslager Gurs deportierten Lyrikerin Emma Kann, sondern etabliert zugleich für alle nachfolgenden Beiträge Sinn und Funktion der Kulturproduktion im Lager in der Erläuterung der engen Relation zwischen ÜberLebenSchreiben und ÜberLebensWissen. In „Weihnachten im Konzentrationslager. Festkultur und Kulturproduktion“ greift Peter Kuon ein Thema auf, das in ganz besonderer Weise die gemeinsame Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses im Lager widerspiegelt: Weihnachten 23 Levi, Uomo, (wie Anm. 17). 24 Jorge Semprún, der 1944 als Mitglied der Résistance nach Buchenwald deportiert worden war, nutzte die Lagerbibliothek in Buchenwald, um die philosophischen Lektüren seiner Studienzeit (Kant, Schelling, Fichte, Hegel, Heidegger) fortzuführen und zu vertiefen. Die Philosophie bot ihm die Möglichkeit, sich dem Lageralltag zu entziehen bzw. eine lebensrettende Distanz zwischen sich und dem Lager aufzubauen. Vgl. Jorge Semprún: L’écriture ou la vie. Paris 1994. 25 Vgl. ausführliche Erläuterungen im vorliegenden Sammelband bei: Rothstein, Anne-Berenike: „Die Erschaffung eines Kulturraumes im Raum der Unkultur – Germaine Tillions Le Verfügbar aux enfers (1944)“.
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in seiner Festinszenierung unter den Häftlingen wird mit der Fremdinszenierung von Weihnachten der Lagerleitung und den Kapos kontrastiert. Textgrundlage für seine Untersuchung sind zweihundert zumeist veröffentlichte Überlebendenberichte in französischer Sprache aus den Beständen des Salzburger Archivs KZ-memoria scripta, anhand derer Kuon Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Erinnerung sowie zwischen literarischer und nicht-literarischer Verschriftlichung herausarbeitet. Verständnis der deutschen Sprache war im Konzentrationslager eine wichtige Voraussetzung zum Überleben. Das Sprechen der eigenen Sprache war untersagt, umso wichtiger war die Memorierung des eigenen kulturellen Erbes: Heidi Aschenberg untersucht in „Sprachterror und Sprachbewahrung im Konzentrationslager“ aus sprachwissenschaftlicher Perspektive verschiedene Ausdrucksformen von Sprachbewahrung vor dem Hintergrund der Alltagskommunikation im nationalsozialistischen Konzentrationslager. Dabei beschränkt sie sich – auf der Grundlage der Berichte von Überlebenden aus Frankreich, Italien und Spanien – nicht nur auf poetische Texte, sondern integriert in ihre Analyse auch eine Betrachtung der nicht-poetischen, spontanen (Alltags-)Äußerungen der Häftlinge im für sie sprachlichen Niemandsland: dem deutschen Konzentrationslager. In „Die Erfahrung des Lagers in zwei argentinischen Gegenwartstexten: Ariel Magnus’ La Abuela und Susana Romano Sueds Procedimiento“ richtet Dieter Ingenschay seinen Blick auf die literarische Verarbeitung der konzentrationären Erfahrung von zwei argentinischen Schriftstellern. Er erweist Magnus’ literarisiertes Interview mit einer Auschwitz-Überlebenden (Magnus’ „abuela“) nicht nur als Beispiel einer aktualisierten Memoria-Kultur, sondern zugleich als lateinamerikanische Testimonialliteratur; geradezu konträr zur „vielleicht übertriebenen Dosis Ironie“ (Magnus) von La Abuela ist das andere Beispiel für eine lateinamerikanische Testimonialliteratur: Susana Romano Sueds Ringen um Versprachlichung in ihrem Experimentaltext Procedimiento behandelt (ihre) traumatische(n) Erfahrungen in einem argentinischen Internierungslager. „Im Gedicht, noch im negativen Gedicht, ist ein letzter Glaube an den Menschen, an seine Anrufbarkeit“ (Hilde Domin). Den existenziellen Funktionen lyrischer Texte, die im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück entstanden sind, widmet sich Constanze Jaiser in ihrem Beitrag „Benennen und Bewahren: Poetische Zeugnisse aus Konzentrationslagern und ihre Rezeption“. Hierbei fokussiert sie weniger Kulturgut, das häufig rezitiert und rezipiert wurde, sondern untersucht Sprache, Motive und Symbole der „Gebrauchslyrik“ und reflektiert die Schwierigkeiten einer literaturwissenschaftlichen Analyse. Anne-Berenike Rothsteins Untersuchung konzentriert sich auf die Frage des Raumes und der Räumlichkeit anhand von Germaine Tillions 1944 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück entstandenen „opérette-revue“ Le Verfügbar aux
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enfers und ihrer Rezeption und Adaption im 21. Jahrhundert („Die Erschaffung eines Kulturraumes im Raum der Unkultur – Germaine Tillions Le Verfügbar aux enfers (1944)“). Hierbei wird die Operette nicht nur als besondere Form der Kulturproduktion erkannt, sondern als eigener Kulturraum definiert, der durch die einzigartige Zusammenstellung von Musik, Literatur, Performanz, kulturellem Erbe und Gegenwartskritik sogar die Möglichkeit zur zeitgenössischen Adaption eröffnet. Die Geschichte der 1943–1944 in Auschwitz inhaftierten Künstlerin Dina Gottliebová-Babbitt verbindet Kunst und Literatur, Kulturproduktion im Lager und Rezeption heute, Bewahrung und Bemächtigung des kulturellen Gutes sowie verschiedene Erinnerungskulturen auf ganz besondere Weise: Anja Tippners Beitrag „Aneignungen. Dina(h) Gottliebová-Babbitts Zeichnungen aus Auschwitz (1943/1944) und ihr kulturelles Nachleben in Polen und den USA“ konzentriert sich zum einen auf die Analyse der Narrativierung der Lebensgeschichte Gottliebová-Babbitts, zum anderen auf die Zuschreibungen von Bedeutungen, die Gottliebová-Babbitts in Auschwitz erstellte Bilder erfahren haben. Dabei erläutert sie, wie ein konzentrationäres Artefakt Gegenstand für ein „kompetitives Erinnerungskonzept“ werden kann. Textgrundlagen bilden neben Gottliebová-Babbitts eigenen Aussagen im Rahmen ihres Zeitzeugenberichts für die USC Shoah Foundation Lidia Ostałowskas literarische Reportage Farby wodne ‚Wasserfarben‘ (2011) sowie der Kurzcomic eines Autorenkollektivs über Gottliebová-Babbitt. Stefanie Endlich widmet sich in „Bilder des Lagers und ihre Rezeption von der Nachkriegszeit bis heute“ in einem Überblick den Kunstwerken, die im Lager entstanden sind, sowie den Beweggründen und Bedingungen für ihre Entstehung, konstatiert verschiedene Themenbereiche und erläutert ihre Aussagekraft. „Zakhor“ („erinnere Dich“) – mit diesem Appell, der geradezu als Schlussplädoyer für den Sammelband gesehen werden darf, erinnert Joseph Jurt in seinem Beitrag „Erinnern, überleben, bezeugen“ an die Notwendigkeit und die Pflicht zur Zeugenschaft und zur Erinnerung – insbesondere für „das Volk der Erinnerung par excellence“ (Jacques Le Goff), das jüdische Volk. Er konstatiert kulturelles Schaffen im Konzentrationslager als Überlebensstrategie und verweist v.a. auf die unterschiedlichen Arten von Träumen als Mittel der Aufarbeitung, betont aber auch die Wichtigkeit der solidarischen Aktionen der Häftlinge untereinander und die Notwendigkeit der Zeugenschaft für die Überlebenden.
Ottmar Ette
ÜberLebenSchreiben im Angesicht des Todes Von den Lebenslandschaften der Literatur am Beispiel der Lyrikerin Emma Kann
Landschaften der Lyrik / Landschaften der Theorie Der Mensch, der Gedichte schreibt, ist in eine Landschaft integriert, eine geographische Landschaft, eine Gefühlslandschaft, eine Landschaft der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Begegnungen, selbst in eine Landschaft der Lebensstufen. Unendlich viel strömt in solch einen Menschen ein, auch in den Einsamsten. Fast immer wird ein Dichter als Teil seiner Arbeit die Begegnung suchen: die Sicht des Anderen, den Zusammenprall mit dem Anderen, die Liebe zu dem Anderen und alles, was daraus resultiert bis hin zur bittersten Enttäuschung und Verzweiflung. Er wird dieses Erleben, gemäß den Eigenheiten seiner Natur verarbeiten und es wird Inhalt und Form seiner Gedichte prägen.1
In diesem incipit eines kurzen, auf 1987/1988 datierten poetologischen Textes, den die 1914 in Frankfurt am Main geborene und 2009 in Konstanz verstorbene Lyrikerin Emma Kann in den ersten Teil ihres noch unveröffentlichten Konvoluts Autobiographisches Mosaik aufnahm, entfaltet die Verfasserin des wenig später, im Jahre 1990, erschienenen Gedichtbandes Im Anblick des Anderen2 eine Grundbedingung ihres Schreibens, ja eine der Grundbedingungen verdichteten Schreibens überhaupt. Denn gleich zu Beginn dieses nur eine einzige Seite umfassenden Textes mit dem Titel Der Mensch, der Gedichte schreibt rückt die Dichterin in ausgeprägter Lexemrekurrenz den Begriff der Landschaft in den Fokus, der in unterschiedliche geographische, soziale, politische, emotionale oder lebensal1 Kann, Emma: Der Mensch, der Gedichte schreibt. In: dies.: Autobiographisches Mosaik, S. 1. Ich zitiere nach einer mir von der Autorin überlassenen Fotokopie des unveröffentlichten Manuskripts; alle unveröffentlichten Schriften Emma Kanns finden sich leicht zugänglich im Nachlass der Autorin im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main (Archivnr.: Emma Kann NL 046 / A.02.01.01–03). Diese veröffentlichte auch einen Nachruf, der unter dem Titel „Zum Tod der Lyrikerin Emma Kann“ abrufbar ist unter http://www.d-nb.de/sammlungen/dea/nachrexil/emmakann.htm. Dem Autobiographischen Mosaik Emma Kanns widmet sich die Ende 2013 erschienene schöne Studie von Hilmes, Carola: Unzeitgemäß: Emma Kanns „Autobiographisches Mosaik“. In: Repräsentationen des Ethischen. Festschrift für Joanna Jablkowska. Hrsg. von Kupczynska, Kalina u. Artur Pelka. Frankfurt a.M./Bern/New York 2013, S. 141–149. 2 Kann, Emma: Im Anblick des Anderen. Gedichte 1989. Konstanz 1990.
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terbezogene Zusammenhänge hineingestellt wird. Welche Funktion aber kommt diesen Landschaften des Lebens, der Geographie sowie der inneren oder äußeren Bewegung zu? Landschaft, so wird von Beginn an deutlich markiert, ist von dem Menschen, der Gedichte schreibt, nicht zu trennen: und weniger noch von jener Kraft, die diesen Menschen und weit mehr noch seine Gedichte beständig vorwärtstreibt: „Das ist ein Vorwärtstasten, ein Vorwärts-Geschoben-Werden durch eine Kraft, die man kaum kennt und die man mühsam zu beherrschen sucht“.3 Die Landschaft wird zum Bewegungsraum dieser Kraft und zugleich jenes „Erleben[s]“, das sich im obigen Zitat findet und – auch hier in einer sich anschließenden Lexemrekurrenz – das Schreiben der Gedichte mit dem Leben (und nicht in erster Linie mit der Wirklichkeit) in eine intime Beziehung setzt. Denn Literatur ist keineswegs in ihrem Kern eine „dargestellte Wirklichkeit“, wie es der Titel von Erich Auerbachs Meisterwerk Mimesis4 zu verkünden scheint, sondern die Darstellung gelebter oder auch erlebbarer Wirklichkeiten. Die Landschaften des Schreibens, die literarisch entfalteten Lebenslandschaften, bilden hierfür die vielleicht entscheidende vitale Konfiguration. Was aber ist eine Landschaft und wie könnte man eine Landschaft definieren? Und lässt sich die Frage nach den Bestimmungen und Theorien der Landschaft auch kategorial umkehren, so dass man von einer Landschaft oder von Landschaften der Theorie sprechen könnte? Der Begriff und mehr noch das Konzept einer Landschaft der Theorie5 führt zwei Terme zusammen, deren Zusammendenken auf den ersten Blick innerhalb des hier ausgespannten Rahmens überraschen mag. Gleichwohl ist eine derartige Engführung sehr wohl bereits in Joachim Ritters klassisch gewordenen Ausführungen über Petrarcas Zuwendung zur Natur als Landschaft6 enthalten, wird dort doch im Zusammenhang mit der Frage nach der Funktion des Ästhetischen – in der Betrachtung der Natur als Landschaft – die Verortung der „Theorie“ in der „Sphäre des Festes und des 3 Kann, Der Mensch, der Gedichte schreibt (wie Anm. 1), S. 1. 4 Vgl. Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1946. 5 Zu einer ersten Einführung, Begründung und Anwendung dieses Konzepts vgl. die Kapitel 1, 2 und 11 von Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist 2001; im Kontext meiner Überlegungen zur Entfaltung einer polylogischen Ausrichtung der Philologien habe ich den Begriff Landschaft der Theorie weiterentwickelt in meinem Band Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur. Berlin 2013, S. 36–46. An diese Reflexionen knüpfe ich hier an. 6 Ritter, Joachim: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M. 1974, S. 142.
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festlichen Spieles“7 von Aristoteles hergeleitet und im weiteren Fortgang der Argumentation mit einem modernen, wesentlich von Friedrich Schiller geprägten Begriff der Freiheit verbunden. Damit wird Landschaft potentiell zum Ort und vielleicht mehr noch zur Spielfläche einer Theorie, aber auch einer künstlerischen oder literarischen Praxis, welche als Frei-Raum nicht unter dem Diktat einer wie auch immer gearteten unmittelbaren Zweckrationalität stehen. Die von Emma Kann skizzierte Landschaft der Lyrik, also der Landschaft des „Menschen, der Gedichte schreibt“, teilt mit der Landschaft der Theorie nicht nur den hohen Verdichtungsgrad des jeweiligen Schreibens, sondern vor allem auch den Spielcharakter im Sinne jenes kreativen Spiele(n)s und Experimentierens, das ebenso dem Schreiben von Lyrik wie dem Schreiben von Theorie zukommt. Petrarca selbst könnte für diese Doppelung und Verdoppelung von Landschaften der Lyrik und Landschaften der Theorie einstehen. Sein Mont Ventoux ist Poetik und Poetologie zugleich. Die Beziehungen zur geographischen Dimension von Landschaft, wie sie von Emma Kann gleich zu Beginn ihrer Überlegungen eingeblendet werden, sind sehr leicht herstellbar. Denn sind Ritters Erörterungen zweifellos auch tiefer im Naturverständnis Alexander von Humboldts, auf dessen Kosmos wiederholt verwiesen wird, verwurzelt als dies im allgemeinen wahrgenommen wurde; und steht Joachim Ritter damit Carl Ritter, der gemeinsam mit Humboldt zum eigentlichen Begründer der modernen Geographie geworden ist, deutlich näher, als dies die an der Konstituierung von Individuum und Subjektivität ausgerichteten Reflexionen dieses einflussreichen Aufsatzes über „Landschaft“ zu erkennen geben; so ist doch deutlich zu beobachten, wie sehr es Joachim Ritter darum zu tun ist, sich von einer geographischen Definition von Landschaft zu distanzieren, wie er sie gleichwohl in einer Fußnote seines Aufsatzes anzuführen nicht vergisst. Entscheidend für uns ist: Geographisches und philosophisches Denken, Lyrik und Theorie sind im Kontext der immer neuen Konstituierung von Landschaft(en) des Schreibens nicht voneinander zu trennen. Eine Landschaft der Lyrik ist stets auch eine Landschaft der Theorie, nicht selten auch ihrer Theorie. Im Begriff der Landschaft sind beide aufs Engste miteinander verwoben, eine Tatsache, die für Poetik und Poetologie, aber auch für Lebenswissen und ÜberLebensWissen jener Schriftstellerin, die 1942 mit dem letzten Schiff von Casablanca nach Havanna der nationalsozialistischen Verfolgung in Europa entkam, von fundamentaler Bedeutung ist. Wie aber kann Landschaft weitaus mehr als eine geographische Einheit bilden und doch mit dieser räumlichen Anschauung des Landschaftsbegriffs verbunden bleiben?
7 Ritter, Landschaft (wie Anm. 6), S. 144.
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Für Joachim Ritter steht Carl Trolls einflussreicher geographischer Begriff der Landschaft im Kontext von wissenschaftlichen Bemühungen, das Verständnis von Landschaft „aus dem für ihn selbst so wichtigen „Zusammenhang des ‚Subjektiven‘ und des ‚Ästhetischen‘“8 im Sinne der Naturwissenschaften herauszulösen. Troll hatte aus spezifisch geographischer, für andere Herangehensweisen aber durchaus anschlussfähiger Perspektive die Landschaft als einen Teil der Erdoberfläche definiert, „der nach seinem äußeren Bilde und dem Zusammenwirken seiner Erscheinungen sowie den inneren und äußeren Lagebeziehungen eine Raumeinheit von bestimmtem Charakter bildet und der an geographischen natürlichen Grenzen in Landschaften von anderem Charakter übergeht“.9 Damit ist Landschaft nie als abgeschlossene, separate Einheit statisch denkbar – in ihr wirkt immer die Kraft die vorwärtsschiebt, die vorwärtsdrängt, die nach den Grenzen fragt und über sie hinausweist. Und könnte nicht das von Carl Troll so benannte „Zusammenwirken“ der Erscheinungen jene Spielfläche der Theorie eröffnen, die freilich als Frei-Raum nicht mehr notwendig an den Begriff der Subjektivität und weniger noch an jenen einer im modernen Subjekt verankerten Zentralperspektive zurückgebunden werden müsste? Mit anderen Worten: Ließe sich hier nicht eine Kraft des Ästhetischen als ästhetische Kraft10 denken, ohne den Begriff der Landschaft an die Zentralperspektive eines Subjektes zu ketten? Denn bei Emma Kann ist das Schreiben stets ein Schreiben im Anblick des Anderen und zugleich der Versuch, im Spiel von Strom und Gegenstrom11 zwischen den Perspektiven des lyrischen Ich und jener des Anderen, des Fremden, zu oszillieren. Nicht umsonst hatte die Lyrikerin ihrem Brief vom 17. Januar 1992 an keinen Geringeren als den französischen Philosophen Emmanuel Lévinas ihren Gedichtband Im Anblick des Anderen beigelegt und zugleich betont, dass das „Problem des ‚Anderen‘“ für sie immer „eine Rolle gespielt“ habe.12 Und sie vergaß gegenüber Lévinas nicht hinzuzufügen, dass der Titel ihres eigenen Bandes „auf Ihren Ausdruck im Angesicht des Anderen“13 zurückverweise. Landschaften schließen für Emma Kann ganz in dem Sinne, den sie in Der Mensch,
8 Ritter, Landschaft (wie Anm. 6), S. 179. 9 Troll, Carl: Die geographische Landschaft und ihre Erforschung. In: Studium Generale (Hamburg) 3 (1950), S. 163–181, hier: S. 165. 10 Vgl. zu diesem Begriff Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008. 11 Kann, Emma: Strom und Gegenstrom. Gedichte. Konstanz 1993. 12 Kann, Emma: Brief vom 17. Januar 1992 an Emmanuel Lévinas. Archivnummer: Emma Kann NL 046 / B.01 Lévinas; hier zitiert nach Hilmes, Carola: Unzeitgemäß: Emma Kanns Autobiographisches Mosaik, S. 145. 13 Kann, Brief vom 17. Januar 1992 (wie Anm. 12).
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der Gedichte schreibt entwickelte, die Präsenz des Anderen und mehr noch die Perspektivik des Anderen mit ein. Der Begriff der Landschaft ist keineswegs notwendig mit dem Blickwinkel eines einzelnen Subjekts oder gar mit der Herausbildung einer Zentralperspektive verbunden, wie sie sich in Architektur und Malerei im interkulturellen Blickwechsel zwischen Orient und Okzident im Italien des frühen 15. Jahrhunderts entwickelte.14 Bis heute schwingt in den geographischen Definitionen von Landschaft das Humboldtsche Theorem der Vielverbundenheit mit. Folgt man einschlägigen Handbüchern der Geographie, so bezieht sich der Begriff auf „das Zusammenwirken der beteiligten Komponenten und Geofaktoren“, wobei die entsprechende Landschaft nicht die Summe dieser Geofaktoren meine, „sondern ihre Integration zu einem geographischen Komplex oder Geosystem“.15 „Landschaft“ stehe neben den Begriffen „Stoff“ und „Leben“, wobei es um den „Zusammenhang der verschiedenen in einer Landschaft vereinigten“ Erscheinungen sowie deren Wechselwirkung gehe.16 Der Begriff der Landschaft meint mithin ein komplexes System der Wechselwirkung und des Zusammenwirkens unterschiedlicher Kräfte und Faktoren, die keineswegs auf eine bestimmte Physiognomik, auf eine bestimmte Bedeutung reduziert werden dürfen. Die ästhetische Kraft einer derartigen Konfiguration von Wechselwirkungen ist in Emma Kanns Dichtung wie in ihrer Prosa allgegenwärtig und zeigt sich gerade auch in jenen überlebenswichtigen Situationen, in denen die bestialischen Praktiken jener nationalsozialistischen Diktatur aufscheinen, welche die junge, in einer liberalen jüdischen Familie in Frankfurt aufgewachsene Frau 1933, also noch im Jahr der sogenannten „Machtergreifung“, ins Exil zwangen. In einem undatierten Text aus dem zweiten Teil des Autobiographischen Mosaiks wird unter dem Titel Fahrt in den Frühling von einer Reise der damals achtzehnjährigen Ich-Erzählerin mit einer Freundin in die Schweiz berichtet, wo man in der idyllischen Landschaft des Zürichsees bei einer Fahrt im offenen Wagen urplötzlich mit einer Stimme konfrontiert wird, die unüberhörbar und mit großer Gewalt alles in ihren Bann zieht. Daraus entsteht im ÜberLebenSchreiben der Autorin eine vektorielle Konfiguration, wie wir sie in verschiedenen Passagen des literarischen Werkes von Emma Kann wiederfinden können:
14 Vgl. hierzu Belting, Hans: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München 2009. 15 Neef, Ernst (Hrsg.): Das Gesicht der Erde. Leipzig 1956, S. 700. 16 Neef, Gesicht (wie Anm. 15), S. 700.
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Dort hörten wir durch das offene Fenster eines Wirtshauses die Stimme von Josef Göbbels, dessen Rede am Radio übertragen wurde. Wir hielten an und hörten von der Straße aus zu. Es war eine erschreckende Rede, voll von Drohung und Haß. Das Schlimmste war, daß dies nun nicht mehr der Propaganda einer Oppositionspartei entsprang, die nach Macht strebte, sondern das Programm einer Regierung darstellte, welche die Macht bereits fest in den Händen hielt. […] Das Gasthaus stand nahe am Seeufer. Ich blickte hinüber auf die Ufenau, wo Ulrich von Hutten seine Zuflucht gefunden hatte, und dachte an Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Huttens letzte Tage“. […] Conrad Ferdinand Meyer war damals einer meiner Lieblingsdichter. Nicht weit von mir, auf dem Pflaster des Platzes, taten eine männliche und eine weibliche Taube das, was dem Leben von Generation zu Generation Dauer verleiht. Die Sonne schien und der See funkelte. Es war ein herrlicher Tag. Und Göbbels redete und schrie und höhnte und triumphierte. Wir standen und lauschten, wir waren zur Hilflosigkeit verdammt.17
Die nachhaltige Faszinationskraft dieser Passage beruht auf einer verdichtenden Engführung sich gänzlich widerstrebender Geschehnisse und Erlebnisse. Denn gegen die Angst einflößenden und das Ich schon bald aus Deutschland vertreibenden Hasstiraden des propagandistischen Sprachrohrs der Nazi-Diktatur wird hier eine Landschaft des Schweizer Voralpenlands gestellt, die nicht allein in ihrer sinnlichen Schönheit eingeblendet, sondern zugleich durch ihre Bezüge zur Lyrik Conrad Ferdinand Meyers ästhetisch verdichtet wird. So wird eine Landschaft der Lyrik gegen eine Sprache der Barbarei errichtet, die im lodernden Zeichen der Bücherverbrennungen dem frei sich gestaltenden Leben unbarmherzig den Kampf ansagte. Emma Kanns ÜberLebenSchreiben greift hier auf jenes ÜberLebensWissen zurück, das ihr in entscheidenden Situationen wohl das Leben rettete. Denn im Angesicht des angedrohten Todes erscheint eine Landschaft, in der die friedliche Zeugung des transgenerationellen Lebens ebenso hineingesenkt ist wie die ästhetische Kraft, in der sich die Kräfte des Lebens – und in der intertextuellen Einblendung der Literatur gerade auch jener künstlerischen Aktivitäten, die über die Zeit hinausgehen – zu bündeln vermögen. Es ist ein ÜberLebenSchreiben, das auf subtile Weise nach den Gründen für das eigene Überlebthaben fragt. Damit rückt die Erfüllung jener Funktion und Aufgabe ins Blickfeld, welche Emma Kann in einem Interview des Jahres 1991 der verdichteten Sprache im allgemeinen und der Lyrik im besonderen zuweist - nämlich das zu schaffen, „was
17 Kann, Emma: Fahrt in den Frühling. In: dies., Autobiographisches Manuskript (wie Anm. 1), S. 9f. Vgl. zu dieser Passage aus dem Autobiographischen Mosaik aus anderer Perspektive Ette, Ottmar: Lager Leben Literatur. Emma Kann und Jorge Semprún in Gurs: Im Spannungsfeld von Erleben und Erfinden. Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Hrsg. von Lehnert, Gertrud. Bielefeld 2011, S. 229–258.
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über die Zeit hinausgeht“.18 Dies aber – so heißt es in Der Mensch, der Gedichte schreibt, abschließend – vermöge das gelingende Gedicht zu leisten, gehe es doch darum, „die gültige Form zu finden, die etwas so aussagt, daß es zu den anderen Menschen sprechen kann in der eigenen Zeit und im besten Fall über die eigene Zeit hinaus“.19 Diese prospektive Dimension der Lyrik aber ist es, die das Lebenswissen in ein ÜberLebensWissen verwandelt, schon weil es sich beständig der Grenzen des die Gegenwart (totalitär) Beherrschenden versichert, um daraus jene Kraft zu entfalten, das zu schaffen, was über die individuelle wie die kollektive Zeit hinausgeht. Diese bisweilen vorwärtstastende, bisweilen vorwärtsdrängende und treibende ästhetische Kraft basiert bei Emma Kann nicht auf einer Ästhetik des Widerstands, sondern auf der Widerständigkeit einer Ästhetik, die sich in einer Landschaft der Lyrik, einer Landschaft des Lebens stets auf neue Weise zu verkörpern sucht.
Lebenslandschaft/Überlebenslandschaft Versuchen wir daher, den Begriff der Landschaft aus nochmals verändertem Blickwinkel weiter auszufalten. Aus kulturwissenschaftlicher und mehr noch kulturtheoretischer Perspektive wachsen dem Begriff der „Landschaft“ in dieser komplexen Relationalität weitere Aspekte und Dimensionen zu, die für die Frage nach der Funktion von Landschaft im Schreiben Emma Kanns, aber auch in einem konzentrationären Schreiben überhaupt von großer Relevanz sind. Im Sinne des Kunst- und Bildtheoretikers W.J.T. Mitchell entwickelt sich eine Landschaft stets aus einem triangulären Kräftefeld, das sich durch den Bezug zu den Termen place und space, Ort und Raum, herstellt.20 Unter Rückgriff auf die längst klassischen Studien von Michel de Certeau21 und Henri Lefebvre22 unternimmt der US-amerikanische Bildwissenschaftler den Versuch, die Beziehungen zwischen Orten und Räumen in ein Kräftedreieck einzuspannen, das mit Blick auf die Orte von Lokalität und mit Blick auf die Räume von Mobilität geprägt sei,
18 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Was über die Zeit hinausgeht. Interview mit der Lyrikerin Emma Kann (Konstanz, 24.4.1991). In: Exil XIII, 2 (1993), S. 33–40. 19 Kann, Der Mensch, der Gedichte schreibt (wie Anm. 1), S. 1. 20 Vgl. hierzu Mitchell, W.J.T.: Preface to the second edition of „Landscape and Power”. In: ders. (Hrsg.): Landscape and Power. Second edition. Chicago/London 2002, S. vii-xii. 21 Vgl. Certeau, Michel de: Pratiques d’espace. In: ders.: L‘invention du quotidien. Bd 1: Arts de faire. Paris 1990, S. 139–191. 22 Vgl. Lefebvre, Henri: La production de l’espace. Paris 1974.
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so dass der Begriff der Landschaft erst aus diesem Zusammenhang heraus seine eigentliche Gestalt erhält. Mit Blick auf die von Emma Kann in Fahrt in den Frühling entfaltete Landschaft gilt es die schon im Titel aufscheinende mobile Perspektivik zu bedenken, insofern die voralpine Landschaft rund um den Zürichsee aus der Bewegung, aus dem offenen Wagen, wahrgenommen wird. Das dem Begriff der Landschaft auch im Sinne von Mitchell innewohnende Bewegungsmoment, das sich im Spiel von Orten und Räumen, von places und spaces, notwendig vektoriell ausprägt, erweist sich bei Emma Kann als pertinent, zumal sich die literarischen Bewegungen einschließlich der in der Figur Ulrich von Huttens aufgerufenen historischen (Flucht-) Bewegungen vielschichtig und prospektiv integrieren lassen: Auch die Ich-Erzählerin selbst steht kurz vor ihrer eigenen Flucht. Landschaft ist ohne die Einbeziehung von Vektorizität nicht denkbar: Sie ordnet sich als Bewegungsbegriff einer weiter voranzutreibenden Poetik der Bewegung23 zu und entfaltet immer auch eine prospektive Bezüglichkeit, in der das Vergangene in der Gegenwart aus der Perspektivik des Künftigen fokussiert wird. Schon für Petrarcas berühmten Aufstieg vom 26. April 1336 zum Mont Ventoux darf gelten, dass sich der Begriff der Landschaft nur aus der Bewegung entfalten lässt und zugleich mit der Ausübung von Macht – einer Macht des Überblicks, der Relationierung, aber auch mit einer (Gegen-) Macht subjektiver Freiheit – verbunden ist. Versucht man zudem, Landschaften als lesbare Texte zu begreifen24 und ihre Lesbarkeit aus den Blickwinkeln unterschiedlichster Disziplinen – von der Geometrie und Geographie bis hin zu Kunstgeschichte und Bildwissenschaft – zu durchdenken, dann sind die vektoriell stark aufgeladenen Modellierungen einer Landschaft – auch des im französischsprachigen Raum zunehmend erforschten paysage littéraire25 – im engeren Sinne als Landschaften der Theorie lesbar zu machen. Was aber wird genau in derartigen Landschaften lesbar und plastisch vorstellbar gemacht? Die in einem Prosatext, einem Gedicht oder einem Gemälde entworfenen Landschaften führen in ihrer Modellierung ein Modell vor Augen, 23 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ZwischenWelten der Literatur(wissenschaft): Auf dem Weg zu einer Poetik der Bewegung im Kontext der TransArea Studies. In: Cultures à la dérive – cultures entre les rives. Grenzgänge zwischen Kulturen, Medien und Gattungen. Festschrift für Ursula Mathis-Moser zum 60. Geburtstag. Würzburg 2010, S. 41–57. 24 Vgl. hierzu Mitchell, W.J.T.: Imperial landscape. In: ders., Landscape and Power (wie Anm. 20), S. 5 sowie Mitchells Einführung in dem von ihm herausgegebenen Band (S. 1–4). 25 Aus der mittlerweile recht umfangreichen Forschungsliteratur, die freilich nicht selten eher statischen Landschaftskonzeptionen anhängt, seien hier nur genannt Schama, Simon: Paysage et mémoire. Paris 1999 sowie Desportes, Marc: Paysages en movement – Transports et perception de l‘espace, XVIIIe - XXe siècles. Paris 2005.
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das ihre komplexe Theorie und Epistemologie buchstäblich frei-legt und (bis zu einem gewissen Grade auch) frei-setzt. Die Theorie „in“ und nicht nur „hinter“ den Gedichten und Prosastücken Emma Kanns wird mit den Mitteln verdichteter Sprache nicht nur visualisiert, sondern vor allem so visibilisiert, dass sie literarisch durcherlebbar und nacherlebbar wird. Theorie ist – vor allem, wenn es sich um gelebte Theorie handelt – ihrerseits lebbar, erlebbar und nacherlebbar. Gleichviel, ob es sich bei diesen in welchem künstlerischen Medium auch immer entworfenen Landschaften der Theorie um Landschaften des Alpenvorlands oder des Voralpenlands, um Gärten oder andere abgegrenzte Bereiche, um menschenleere Wüsten oder dicht bevölkerte Archipele, um einsame Bergregionen oder überschwemmte Flusslandschaften handelt: Stets verkörpern und inszenieren diese Landschaften das Bewegungsmodell von Lebensformen und Lebensnormen, in denen sich historische Bahnungen und zeitgenössische Brechungen in ein mobiles Netz von Koordinaten eintragen, um die von ihnen angestrebten hermeneutischen Verstehensbewegungen sinnlich nachvollziehbar zu choreographieren. Landschaften sind Bewegungs-Bilder des Imaginierens und Denkens, des Schreibens und Lebens: Sie reflektieren das Vergangene in seinen Bahnungen zu einem Künftigen hin. Denn sie sind – nicht nur aus geographischer oder kunsttheoretischer, sondern gerade auch aus philologischer Sicht – voller Leben und setzen auch in dieser Hin-Sicht Bewegungen im Sinne von Motionen und Emotionen voraus. Literarische Landschaften verdichten vektoriell die Formen und Normen, aber auch die Deformationen und Transformationen des Lebens. Dies gilt auch und gerade für jene geographischen, politischen, sozialen, emotionalen oder auf Lebensstufen bezogenen Landschaften, die in Emma Kanns Schreiben ausgefaltet werden. Dabei fällt in der oben angeführten Passage aus dem zweiten Teil des Autobiographischen Mosaiks auf, dass der Bewegung, der Fahrt in den Frühling, ein scharf umgrenzter Raum gegenübertritt, aus dem die Stimme Joseph Göbbels’ ertönt. Es ist die Stimme eines im negativsten Sinne Anderen, der sich die auf ihrer Fahrt Befindlichen kurzfristig aussetzen. Bei dem Raum, aus dem diese Stimme dringt, handelt es sich um einen statischen Raum, der sich ganz der Vektorizität aller anderen Bestandteile dieser Landschaft entgegensetzt, um einen Raum, der zwar mit Öffnungen versehen ist, aus denen die Stimme nach außen dringt, der aber eine im Grunde verschlossene Welt bildet, vor deren Türen, vor deren Fenstern die Bewegung der Fahrt nicht zu einem dauerhaften Stillstand gelangt. Die Fahrt wird in der Folge fortgesetzt und buchstäblich fortgeführt, führt sie doch in ein prekäres, lange Zeit bedrohtes Exil. Denn bald schon stand Emma Kanns Name auf den Listen der von den Nazischergen Gesuchten.
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Mit dieser vektoriellen Konfiguration lässt sich ein anderes BewegungsBild aus dem Autobiographischen Mosaik strukturell in Verbindung bringen, in dem sich erneut die intime Relation zwischen ÜberLebenSchreiben und ÜberLebensWissen erkennen lässt. In dem auf das Jahr 1995 datierten Text mit dem so kurzen wie bedeutungsschweren Titel Gurs, der sich an der viertletzten Stelle der insgesamt vierzehn Texte des zweiten Teils des Mosaiks befindet, wird die Deportation der mit einem belgischen Staatenlosen-Pass ausgestatteten Ich-Erzählerin ins Frauenlager von Gurs von Beginn an in ein höchst intensives Erleben der Landschaft des Pyrenäenvorlands hineingestellt: Am nächsten Tag holte man uns ab, brachte uns zurück ins Stadion. Diesmal klappte die Internierung. Die Gruppe, die einige Tage später in das zentrale Frauenlager von Gurs gebracht wurde, bestand aus Frauen deutschen und österreichischen Ursprungs, fast ausschließlich Jüdinnen. [...] Wir fuhren durch eine atemberaubend schöne Landschaft. Dann bogen wir ab in eine Straße, die mit Stacheldraht abgegrenzt war. Hinter dem Stacheldraht standen Frauen. Sie winkten uns und riefen uns zu: „Wo kommt Ihr her?“ Wir antworteten „Aus Toulouse“. Ich habe ähnliche Szenen später oft von der anderen Seite des Stacheldrahts her beobachtet. Dann brachte man uns in das Lager und verteilte uns auf die Baracken. […] Das Lager von Gurs war ein Jahr vorher als Auffanglager für Flüchtlinge eingerichtet worden, die am Ende des spanischen Bürgerkriegs zu Tausenden über die Pyrenäen kamen. Noch immer waren Spanier und Mitglieder der Internationalen Brigade hier untergebracht. Wir sahen sie nur, wenn sie irgendwelche Reparaturen an den Baracken ausführten. Denn das Lager hatte Unterabteilungen, sogenannte Ilots, die mit Stacheldraht voneinander abgegrenzt waren. Man kannte daher praktisch nur das Ilot, in dem man selbst sich befand.26
Untersucht man diesen Text auf seine Bewegungsstrukturen, so wird von Beginn an deutlich, dass sich die atemberaubende Schönheit des Pyrenäenvorlands aus der Bewegung einer Fahrt ergibt, die der Statik und Abgegrenztheit des Lagers gegenübergestellt wird, welches sich seinerseits in einzelne, strikt voneinander abgetrennte und isolierte Inseln teilt: ein Archipel der Angst, bevor all dies zu einem Archipel des Grauens wird. Das Abbiegen der hierher Deportierten ist zugleich auch ein Vom-WegAbkommen, steht für die Überführung aus einer (zumindest scheinbar noch gegebenen) Freiheit in eine Lagersituation, der sich die hierher verbrachten und in Gurs konzentrierten Frauen bei ihrer Ankunft offenkundig noch nicht bewusst sind. Die vektorielle Analogie zwischen diesen Inszenierungen des Schweizer Alpenvorlands und des französischen Pyrenäenvorlands sind freilich deutlich erkennbar und lassen die Folgenschwere des fast nebensächlich geschilder26 Kann, Emma: Gurs. In: dies., Autobiographisches Mosaik (wie Anm. 1), S. 2. Eine korrigierte und leicht veränderte Fassung dieses Prosatextes findet sich in Kann, Emma: Meine Erinnerungen an das Lager Gurs. In: Exil XV, 2 (1995), S. 25–28.
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ten Vorgangs erkennen. Anders aber als in der Schweiz verleibt sich der Raum des Anderen die gerade Angekommenen ein und verwandelt sie in Internierte, deren Inklusion für viele die Exklusion aus dem Bereich der Lebenden bedeuten sollte. Auch hier besticht die literarische Darstellung durch die Beleuchtung einer scheinbar harmlosen Alltäglichkeit. Man würde diesen Text folglich in einer fundamentalen Weise missverstehen, würde man ihm einen wie auch immer gearteten Versuch einer Verharmlosung der Lagerrealität unterstellen. Es geht hier vielmehr um die ästhetische Entfaltung eines Erlebenswissens, das dem Lesepublikum ermöglicht zu begreifen, wie leicht die Grenze von der Bewegung zum Stillstand, vom Leben zum Tode zu überschreiten ist. Unmerklich fast, so als wäre das Lager eine historisch erklärbare Selbstverständlichkeit, so als könnte man sich von diesseits und jenseits des Zaunes freundlich grüßen. Gerade die Bewegungselemente zeichnen aber en filigrane ein Erleben der Annäherung an einen Todesort nach, der sich uns in einer scheinbaren landschaftlichen Idylle präsentiert. Aber blickt nicht im Atemberaubenden der Schönheit dieser Landschaft bereits das Angesicht des Todes hervor? Kein Zweifel: Es handelt sich hier um ein Bild des Lebens im Angesicht des Todes – ohne dass wir das Antlitz des Todes bereits deutlich erkennen könnten. Anders als der erste Teil, der den Titel Betrachtungen trägt, präsentiert sich der zweite Teil des Autobiographischen Mosaiks unter der Überschrift Erlebnisse – und genau dieses Erlebenswissen, das sich im Schreiben konfiguriert, kann für das Lesepublikum nacherlebbar gemacht werden. Entscheidend dabei ist aus Sicht einer Poetik der Bewegung, dass die Vektorizität im Text in Gestalt von hermeneutischen Verstehensbewegungen choreographiert wird. Nicht nur die Landschaften von Alpenvorland und Pyrenäenvorland überlagern sich, sondern auch die Bewegungsmuster – und mit ihnen die nahegelegten Verstehensmuster. Die Bewegungen im Text lösen Bewegungen im Lesepublikum aus. So kann Schönheit auch rezeptionsseitig „atemberaubend“ werden. Im Erlebenswissen des Literarischen ist aber nicht nur ein vielstimmiges Lebenswissen, sondern auch ein ÜberLebensWissen gespeichert und für künftige Transfers wie Transformationen angelegt, wobei die Elemente oder Grundbausteine dieses ÜberLebensWissens hier als Gnoseme bezeichnet werden sollen. Mit Blick auf das survival knowledge bilden derartige Überlebens-Gnoseme in Verbindung mit bestimmten Lexemen die Grundelemente eines Wissens vom Leben im Leben, das sich für das Leben als ein Wissen vom Überleben positioniert. Emma Kanns ÜberLebensSchreiben fahndet nach diesen Überlebens-Gnosemen und arbeitet sie literarisch heraus. Denn gerade in der Situation höchster Lebensbedrohung vermag die Ich-Erzählerin spezifische Verhaltensformen an sich zu entdecken, die in einem autobiographischen Auseinandertreten der Figurationen des Ich auch jenseits der „klassischen“ Verbindung von erzählendem
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Ich und erzähltem Ich analysierbar werden. Das entsprechende Gnosem wird von der Erzählinstanz bereits in der Fahrt in den Frühling reflektiert: Trotzdem war ich fähig, gewissermaßen mit einem anderen Teil meines Ichs, diesen Ferienaufenthalt voll zu genießen und jeder Einzelheit mein Interesse und mein Empfinden entgegenzubringen. Diese Spaltung fiel mir damals zum ersten Mal auf. Ich habe sie in den Kriegsjahren und später häufig in mir beobachtet, eine Elastizität, in der Leiden und Freude gleichzeitig nebeneinanderher existieren in einer intensiven Lebenslust trotz aller Trauer und Gefahr.27
Die Entstehung einer immensen Lebenslust gerade inmitten von Trauer und Gefahr stellt ein zentrales Gnosem des Lebenswissens und vor allem ÜberLebensWissens der Erzählerin dar und führt vor Augen, wie der Lebensbedrohung eine Widerständigkeit des Ästhetischen entgegengesetzt wird, die im Angesicht des Todes die Zeichen des Lebens vervielfacht. Im Kontext dieser nicht nur geographischen oder topographischen Landschaft, sondern dieser „Gefühlslandschaft“ im Angesicht des Anderen wird die erlebte Landschaft erlebbar gemacht als eine Überlebenslandschaft, in der sich die Vitalität einer Lebenslust manifestiert, gerade weil der Weg dieses Lebens von einer dunklen Macht, vom Grauen einer neuen Barbarei, zum Stillstand gebracht werden soll. In den Umrissen des Wirtshauses, vor dessen Klanglandschaft der offene Wagen auf der Fahrt in den Frühling zu stehen kommt, werden bereits die Umrisse jenes Lagers erkennbar, in das die IchErzählerin auf einer anderen Fahrt, in einer anderen Landschaft gebracht wird. Doch die Todeslandschaft von Gurs verwandelt sich in eine Lebenslandschaft, deren Schönheit die Erzählerin in vielfacher Hinsicht bewegt. Unter der unmittelbar sichtbaren Landschaft liegen andere Landschaften, die in Wechselbeziehung zueinander stehen und gleichsam ein Paradigma intensiven ästhetischen Erlebens eröffnen. Damit wird diese Lebenslandschaft zu einer lebendigen Landschaft, die sich dem von den Machtstrukturen zugewiesenen und eingefriedeten, umzäunten und bewachten Ort des Lagers entgegenstemmt und durch die Relationalität der Orte unter den Orten, der Worte unter den Worten einen künstlerischen Raum der Freiheit schafft, der in die sichtbare Landschaft eingeschrieben wird. Was zunächst als anderer Teil des Ich und als Spaltung des Ich umschrieben wird, erscheint wenige Zeilen später in Emma Kanns Formulierungen als eine Elastizität, die es erlaubt, das Gegensätzlichste gleichzeitig vorzufinden und zu erfinden, zu leben und zu erleben. Das Ich erfährt die Konvivenz und das Zusammenleben unterschiedlicher Logiken und erlebt diese viellogische Strukturierung als eine Lebensbejahung, als eine Lebenslust, die auch im Lager nicht zu 27 Kann, Fahrt in den Frühling (wie Anm. 17), S. 8.
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unterdrücken ist. Der aufoktroyierten einzigen, totalitären Logik wird ein VielLogisches entgegengestellt, das lebensrettend wirkt. Dabei steht die gnosematische Dimension für ein Wissen vom und über das Leben, aber auch im und zum Leben, das nicht zum Stillstand, nicht zu Tode gebracht werden kann. Mit dem Lexem der Landschaft ist folglich nicht allein das Gnosem des Ästhetischen oder einer Ästhetisierung verknüpft, sondern auch das einer Verlebendigung, die sich aus einer viellogischen Relationalität unterschiedlicher Landschaften ergibt. Das konzentrationäre Leben im Lager von Gurs wird in seiner ganzen Entwürdigung alles Menschlichen sinnlich vor Augen geführt. Gurs bleibt dabei als Ort der Deportation, der Einsperrung und Bedrohung eingebettet in eine Landschaft, die als Lebenslandschaft andere Landschaften aufruft, welche sich dank ihrer Wechselbeziehungen in Überlebenslandschaften verwandeln. Dabei werden die Verhältnisse im Lager keineswegs beschönigt. Die Schilderung der primitiven Zustände in einem Lager mit Latrinen, die ständig „hoffnungslos verschmutzt“28 waren, geht jedoch sogleich über in eine auf den ersten Blick vielleicht überraschende Reflexion: Ich sah keine Bäume in dem Lager von Gurs. Nur unter der Stacheldrahtbarriere wuchs ein wenig Gras. Der Boden war lehmig. Wenn es regnete, was häufig geschah, wurde es so schlammig, daß ich meist barfuß ging, da es unmöglich war, sich die Schuhe sauber zu halten. Zum Glück war es Sommer – Ende Mai, Juni, die erste Juliwoche.29
Wie ich in einem früheren Beitrag zu zeigen gesucht habe30, verweisen die Elemente von Baum und Gras – gerade auch in ihrer Nicht-Existenz oder Seltenheit – auf jenen paradieshaften Garten zurück, den im familiären Umfeld und vor den Toren von Frankfurt Emmeles Garten für die Ich-Erzählerin darstellte. Gerade weil in diesem Stück wohldurchdachter literarischer Prosa, das sich an zweiter Stelle im zweiten Teil des Autobiographischen Mosaiks befindet, der Garten der Kindheit und der Unschuld am Ende von der braunen Flut, von den unaufhaltsam aufstrebenden Schergen des Nationalsozialismus bedroht und letztlich auch beseitigt wird, kann Emmeles Garten auf das Lager von Gurs, aber auch das Lager von Gurs auf Emmeles Garten verweisen. Erneut sind es diese literarischen Wechselwirkungen, welche in die erbarmungslose und entwürdigende Landschaft des Lagers die Züge einer Lebenslandschaft und einer Überlebenslandschaft hinein28 Kann, Gurs (wie Anm. 26), S. 2. 29 Kann, Gurs (wie Anm. 26), S. 2. 30 Vgl. Ette, Ottmar: In Emma Kanns Garten. Vom Erlebens- und Überlebenswissen der Literatur. In: Exil XXIX, 1 (2009), S. 87–95; vgl. zur Bedeutung der Dichterin auch ders.: „Ein stets sich erneuerndes Buch“. Warum es an der Zeit ist, Emma Kann zu entdecken. In: Orientierung LXXI, 8 (April 2007), S. 93–96.
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projizieren. Die gezielte Überlagerung unterschiedlichster Landschaften bildet ein Überlebens-Gnosem, das in seiner lebenserhaltenden Kraft kaum überschätzt werden kann. In einem in Konstanz am 10. Oktober 2003 geführten Gespräch teilte mir die Autorin in bewegenden Worten mit, dass sie die Gedichte, die sie in Gurs verfasste, in Ermangelung eines Tisches entweder auf den Lehmwällen, die rund um die Baracken liefen, oder unter einer Decke, die sie als Schutz gegen Wind und Wetter über die Einzäunungen warf, auf den kleinen Grasflächen nahe der Stacheldrahtbarrieren niedergeschrieben habe.31 So könnte man durchaus im Lager von Gurs in jenen kleinen bedrohten Grasstreifen, auf denen Emma Kann einige ihrer Gurs-Gedichte verfasste, noch die Gegenwart von Emmeles Garten erblicken, in der sich die Präsenz der verschiedenartigsten Bäume, Früchte und Pflanzen, aber auch die Erinnerung an den wohlproportionierten Rasen mit jenem erstmaligen Erscheinen der eigenen Lyrik, mit der Niederschrift der ersten eigenen Gedichte verbindet. Denn im Prosatext Emmeles Garten wird erstmals eine Landschaft der Lyrik ausgespannt, aus der sich in der Folge eine Landschaft der Theorie, zugleich aber auch eine Lebens- und Überlebenslandschaft entwickeln sollte, die Emma Kanns gesamtes literarisches Schaffen durchzieht.
ÜberLebenSchreiben / Lyrik im Lager Beim komplexen Begriff der Landschaft, dies sollte deutlich geworden sein, geht es nicht in erster Linie um eine Verräumlichung, um eine simple Spatialisierung, mit deren Hilfe die theoretischen Grundlagen eines künstlerischen, wissenschaftlichen oder technischen Entwurfs sichtbar gemacht werden sollen. Der sogenannte spatial turn, der wohl in erster Linie von den USA der achtziger Jahre ausging, hat bei allen Vorzügen hinter den von ihm konstruierten und inszenierten Räumen allzu häufig die Bewegung, die Räumen eingeschriebene und diese erst hervorbringende Vektorizität, zum Verschwinden gebracht. Die Sichtbarmachung im Sinne einer Visualisierung und Visibilisierung, wie sie im vorliegenden Artikel im Vordergrund steht, betrifft jedoch vorrangig die Vektorisierung in der Form einer Landschaft der Theorie, insofern hier Bewegungsorte und Bewegungsräume als hochmobile Choreographien erscheinen, in deren (lebendige) Vektoren die historisch akkumulierten Bewegungen ebenso eingegangen sind wie die prospektiv zu erwartenden Bewegungen des Künftigen. Denn eine 31 Weitere Erinnerungen an das Lager in Gurs finden sich auch in dem bereits angeführten Interview vom 24. April 1991; vgl. Ette, Was über die Zeit hinausgeht (wie Anm. 18).
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Landschaft ist – selbst und gerade auch im konzentrationären Schreiben – dank ihres hohen Bewegungskoeffizienten, der die Fest-Stellung, die Internierung im Lager unterläuft, immer auch auf Zukunft gestellt: Sie erkundet das, was die sich unablässig bewegenden Horizonte, die Landschaften jenseits der Landschaft, immer wieder anders freigeben und freilegen. Gerade im Prospektiven jeglicher Bewegung wird in der Landschaft ein Stück dieser fundamentalen Freiheit zum Vorschein gebracht. Denn es macht gerade die ästhetische Dimension und die spezifische Freiheit von Kunstwerken aus – und Lyrik wie Prosa Emma Kanns bilden hier gewiss keine Ausnahme –, dass sie sich nicht allein von ihrer Präsenz und Präsentation auf eine Vergangenheit des Re-Präsentierten und damit auf ihre zweifellos wichtige Memoria-Funktion hin öffnen. Die von Emma Kann im Lager verfassten Gedichte reduzieren die Gegenwart, das Präsens, nicht auf das Präsentische, sondern verweisen auf die Präsenz des Vergangenen wie des Künftigen in der gegenwärtigen Form, die bei Emma Kann so oft auch eine geistesgegenwärtige Form ist. Dabei geht das Erleben einer extremen Reduktion von Raum – wie sie am Ort des Schreibens, auf den letzten Resten eines „Gartens“, augenfällig ist – mit dem Erleben einer extremen Reduktion der Zeit oftmals einher. In einem Schreiben vom 16. Oktober 2003 übersandte mir Emma Kann, verbunden mit Erläuterungen, die den historischen Kontext zu rekonstruieren suchten, mit dem für sie charakteristischen Understatement […] einige Gedichte die, soweit ich mich erinnere, in Gurs entstanden sind. Sie sind aus sehr verschiedenen Stimmungen heraus geschrieben und spiegeln wahrscheinlich wider, was sehr viele andere Frauen im Lager auch empfanden. An jemand Fremdes hat damit zu tun, daß wir nicht erfahren konnten, was mit uns nahestehenden Personen geschehen war. Die Männer, Söhne, Brüder oder Lebensgefährten vieler dieser Frauen waren ja bereits zu Anfang des Krieges interniert worden und in Lager gekommen, von denen viele wahrscheinlich bei dem Vormarsch der Deutschen diesen bereits in die Hände gefallen waren. Man wußte nicht, welche Folgen das haben könnte: Meine Schwester und ihr Mann wohnten in Rotterdam, das sehr heftig bombardiert worden war. Morgenwäsche auf der Flucht ist die Erinnerung an den kurzen Aufenthalt in einem französischen Ferienort am Fuß der Pyrenäen, in den wir nach der langen Fahrt von Brüssel als belgische Flüchtlinge gebracht worden waren. Der Vagabund ist möglicherweise ganz kurz nach der Entlassung aus Gurs geschrieben, als ich wieder als belgischer Flüchtling in einem Dorf in der Nähe von Gurs untergebracht worden war. Der Kontrast zwischen dem Kriegsgeschehen, zu dem die Internierung in Gurs ja auch gehörte, und dem zumindest an der Oberfläche, und dem ganz normalen weitergehenden täglichen Leben in der schönen und fruchtbaren Landschaft ringsum erstaunte und beeindruckte mich immer wieder.32 32 Kann, Emma: Brief vom 16.10. 2003 an Ottmar Ette (Original im Besitz des Verfs.). Der mit der Blindenschreibmaschine erstellte Brief enthält zahlreiche Tippfehler, die hier stillschweigend korrigiert wurden.
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Jenseits der historischen Kontextualisierung spielt auch in diesen Erläuterungen die Landschaft der Pyrenäen eine entscheidende Rolle. Ohne an dieser Stelle alle im Lager von Gurs entstandenen Gedichte vorstellen zu können, sei doch beispielhaft für die lyrische Form des ÜberLebenSchreibens im Lager zunächst das Gedicht Morgenwaesche33 angeführt, in dem es um eine Episode im Leben der nach Südfrankreich Deportierten unmittelbar vor ihrer Internierung in Gurs geht, wo das auf 1940 datierte Gedicht laut Emma Kann schließlich entstand: Ich wusch frueh morgens mich am Strand. Ich war allein mit Luft und Wind. Mit Huegeln, deren Waelder noch Vom Werk des Gruenens flimmernd sind. Das Spiegelbild der Wolken stritt Sich in den Wogen mit dem Schein Der flachen Steine auf dem Grund Und ritt ins Grau des Sees hinein: Und während langsam meine Haut Im Wasser neuen Glanz gewann, Fing in dem ungewissen Herz Ein Reinigen, ein anderes, an.34
Die prospektive Dimension besteht hier anders als im bereits erwähnten und noch zu besprechenden Gedicht Der Vagabund nicht in der Vektorisierung aller Lebenswege, sondern in einem Akt innerer und äußerer Reinigung, der auf das Künftige vorbereitet. Haut und Herz verweisen nicht nur auf Oberfläche und Tiefe, Innen und Außen, sondern auf das Zusammenspiel einer Körperlichkeit, die gerade diese simplen Trennungen unterläuft. Der Körper des lyrischen Ich antwortet gleichsam auf die ihn umgebende Landschaft der Hügel, Wälder und Seen. Dabei steht dieser Reinigungsprozess in einem scharfen Kontrast zur Verschmutzung, zum Dreck und Lehm, zu den Latrinen und dem Fäkaliengestank, von denen Emma Kann in einem vorgängigen Zitat aus Gurs berichtete. Und der dem Ich widerfahrenden Internierung widersetzen sich die Elemente einer Landschaft, die mit ihren grünenden Wäldern auf den Vorgang eines sich immer wieder erneuernden, eines sich stets von neuem zeugenden flimmernden Lebens verweist. So ist gerade in den Elementen dieser Landschaft, deren Schönheit die Dichterin oftmals beschrieb, die prospektive Kraft einer Widerständigkeit enthal33 Ich übernehme hier den im Manuskript genannten Gedichttitel unter Weglassung der im obigen Schreiben genannten Erweiterung. 34 Kann, Emma: Morgenwaesche. Zit. nach der mir übersandten und mir vorliegenden Fassung.
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ten, die durch das Schreiben im Lager in dieser Lyrik zu einer ästhetischen Widerstandskraft gerinnt. Diese vorwärtsdrängende Kraft wird zum Überlebens-Gnosem der im Lager von Gurs Schreibenden, wobei im Gedicht Der Vagabund erneut der Landschaft die entscheidende Dimension der Freiheit eingeschrieben ist: Die Schnecke streckt aus ihrem Haus Behutsam beide Fühler aus. Sie sieht nicht, wie im Morgenlicht Aus Wald und Wiesen Schönheit bricht. Denn ihr ist Gott und Welt das Blatt An dem sie Halt und Speisung hat. Ich hab kein Haus, das mit mir geht, Und keines, das im Fernen steht. Ein hoher Berg, ein grünes Feld, Ein schöner Blick ist meine Welt. Doch ein Ziel hat auch meine Fahrt: Die Freiheit, die mein Geist sich wahrt.35
Hier wird die Landschaft ganz im Sinne Joachim Ritters, der in seiner Deutung von Subjektivität und Freiheit auf den Schillerschen Begriff zurückgriff, unmittelbar mit jener (geistigen) Freiheit verbunden, die zum eigentlichen Ziel jedweder Bewegung des Ich avanciert. Die sich in diesen Versen zugleich geradezu aufdrängende Beziehung zu den Literaturen ohne festen Wohnsitz, denen sich das Schreiben von Emma Kann in deutscher wie in englischer Sprache als translinguale Praxis zuordnen lässt, soll an dieser Stelle aus der hier gewählten Frageperspektive zurücktreten hinter der ästhetischen Kraft einer Landschaft, die stets auf einer „Fahrt“ durchquert wird und gerade aus der Beengtheit und Reduktion auf eine totalitär unterdrückende Lagerstruktur – die in anderen Gurs-Gedichten wie etwa Frieden im Krieg deutlich thematisiert wird – den Raum immer als einen Bewegungs-Raum entwirft. Landschaft entsteht bei Emma Kann als Raum nur aus der Bewegung: gerade auch im Lager, im Angesicht des Todes. Denn dem Ort des Todes, dem Ort der Internierung, der nur eine einzige Logik kennt, wird ein Raum gegenübergestellt, der einzig aus den Bewegungen entsteht, die ihn queren. Freiheit wird im Lager als Bewegungs-Freiheit inszeniert und doch nicht darauf reduziert. So entsteht eine Überlebenslandschaft als Landschaft einer Theorie, die zu verstehen gibt, wie das Leben sich der Unterdrückung, der Verfolgung, der Exilierung und Internierung noch im Angesicht des Todes lebendig entgegenstellt. Landschaft wird zum Frei-Raum, zu einer Lebenslandschaft im Zeichen eigener 35 Kann, Emma: Der Vagabund. Zit. nach der mir übersandten und mir vorliegenden Fassung.
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Freiheit aus der Bewegung. Das Prospektive verkörpert sich in den Elementen einer Landschaft, die nur von einem Blick zu erfassen sind, der in der Bewegung verankert ist und aus der Bewegung eine Prospektion entwirft, die im Zeichen nicht zu bändigender Hoffnung auf Freiheit steht. Landschaften sind in diesem Sinne Bewegungs-Bilder des Bevorstehenden, des Kommenden, des Auf-demWege-Seins. Sie ermöglichen die prospektive Organisation von Horizonten – und damit die Erfindung von Freiräumen gerade dort, wo sie in radikalster und menschenverachtendster Weise entzogen wurden: im Lager. Emma Kann gelang es im Juli 1940, wie Hannah Arendt (die sie im Lager von Gurs kennengelernt hatte36) in den Wirren um den Vormarsch der Deutschen und die Teilung Frankreichs in eine „besetzte“ und eine „freie“ Zone, Entlassungspapiere zu erhalten und damit jene nur kurz sich bietende Chance zu nutzen, die nur von wenigen rechtzeitig erkannt wurde. Denn schon – wie Hannah Arendt es treffend formulierte – nach „einigen chaotischen Tagen war alles wieder sehr geordnet und Flucht nahezu unmöglich“.37 Die „Rückkehr zur Normalität“38 – einer Normalität des (im Sinne von Giorgio Agamben verstandenen) Ausnahmezustands39 – ließ nicht lange auf sich warten. Dieser Normalität im Angesicht des Todes vermochte Emma Kann zu entrinnen und nach dem Verlassen von Gurs und den Weg über Casablanca und Kuba die USA zu erreichen. Ihr Verlassen des Lagers von Gurs hat Emma Kann einmal mehr literarisch in die Entfaltung einer Landschaft des Überlebens eingebettet: Ich verließ dann das Lager allein und lief die Straße hinunter nach Oloron, dem nächsten größeren Ort, etwa vierzig Minuten zu Fuß. Es war ein herrliches Gefühl, den Stacheldraht hinter mir zu lassen und durch diese schöne und fruchtbare französische Landschaft zu gehen. Überall arbeiteten Frauen in dunkler Kleidung auf den Feldern.40
Immer wieder wird der ästhetische Genuss der Landschaft, der sich – wie wir sahen – auch mit Lektüreerinnerungen verbinden kann, zu jenem entscheidenden Movens, welches das Ich davor schützt, in Verzweiflung, aber auch in Tatenlosigkeit zu verfallen. Die Schönheit der Landschaft: Sie erscheint aus der Bewegung. Nur wenige Frauen wagten es wie Hannah Arendt und Emma Kann, das Lager von Gurs zum damaligen Zeitpunkt hinter sich zu lassen. Und doch sollte es nur dieses eine kleine Zeitfenster geben, um der Welt der Konzentrations- und 36 Vgl. hierzu Kann, Gurs (wie Anm. 26), S. 3. 37 Zit. nach Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. Frankfurt a.M. 2000, S. 226. 38 Young-Bruehl, Hannah Arendt (wie Anm. 37), S. 226. 39 Vgl. Agamben, Giorgio: Stato di eccezione. Homo sacer, II, I. Torino 2003. 40 Kann, Gurs (wie Anm. 26), S. 4.
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Vernichtungslager zu entgehen. Die Lust an der Schönheit, an der ständigen Horizonterweiterung einer Landschaft aus der Bewegung, bildet – zumindest dann, wenn wir Emma Kanns Gedichten und ihrem Autobiographischen Mosaik folgen – die Grundlage für jene sanfte Kraft, die sich wirkungsvoll der Unterwerfung unter eine totalitäre Macht, unter ein scheinbar vorgegebenes Schicksal, widersetzt. Neben Ästhetisierung und Verlebendigung wird – zweifellos mit beiden zusammenhängend – die Vektorisierung aller Lebensbezüge zum dritten ÜberlebensGnosem par excellence. Unmittelbar nach dem Entkommen aus dem Lager von Gurs verfasste Emma Kann das Gedicht Frieden im Krieg, das sie auf das Jahr 1940 und den kleinen Ort Precilhon datierte, wo sie gemeinsam mit anderen Flüchtlingen vorübergehend aufgenommen und sogar zu einem gemeinsamen Abendessen in der Gemeinschaft des Dörfchens eingeladen wurde. Der Titel des noch immer unveröffentlichten Gedichts macht nicht umsonst auf die paradoxe Situation des Ausnahmezustands aufmerksam: Ein jeder Tag ragt wie ein Pfahl Über dem Meer von Blute, Das unser Dasein überschwemmt. Nichts bleibt als die Minute, Die grade ist. Der Bauer dreht Zum Sonnenlicht die Garben. Das Land dehnt zu den Bergen sich In scharfen, klaren Farben. Das Gestern starb. Das Morgen starb. Das Sehn vertrieb das Denken, Und zwischen Tod und Tod genießt Es war die Stunden schenken.41
Dies ist ein Gedicht der Widerständigkeit, des Überlebenswillens, der Entschlossenheit, dem (eigenen) Untergang die Zeit und auch die Zeiten abzutrotzen, die im Genuss, im Genießen dem Tod das eigentliche Herzstück des Lebens entgegenzusetzen vermögen. Denn der Allmacht und Allgegenwart des Todes wird aus dem Präsentischen heraus ein Erleben und ein Erlebenswissen scharf gegenübergestellt, das in geradezu idyllischen Bildern die Schönheit einer belebten, bearbeiteten Landschaft beschwört, in der Natur und Kultur, Landschaft und Mensch miteinander versöhnt zu sein scheinen. Wiederum wird gerade die Landschaft des Pyrenäenvorlands zum Bewegungsraum dieser Bilder, die aus dem Erleben 41 Kann, Emma: Frieden im Krieg; ich zitiere nach dem mir vorliegenden unveröffentlichten Manuskript.
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der Internierung, des Lebens im Lager, umso klarer und kontrastreicher gestaltet werden. In „scharfen, klaren Farben“ wird dem „Meer von Blute“ eine unbändige Lebenslust präsentiert, die sich im Angesicht des eigenen Todes nur umso entschlossener der Widerständigkeit des Ästhetischen bedient. Die eigene Zeit erscheint als gestundet: Umso mehr wird sie als verdichtetes Erleben von Zeit im Gedicht zur Feier eines umfassenden Erlebenswissens und Erlebenswillens, die im Zeichen des Genießens stehen. Vergangenheit und Zukunft sind in der abschließenden Strophe auf eine Gegenwart zusammengeschmolzen, deren Gegen-Wert als Gegenstand des Gedichts ein möglichst unvermitteltes Erlebenswissen ist, das sich auf die Lücke zwischen den Toden, zwischen den Toten konzentriert. Doch gerade aus dem Zwischen-Raum erwächst das Geschenk einer Intensivierung des Lebens, einer Verdichtung der Zeit, einer Vertreibung des Denkens, des Intellekts, durch das Sinnliche, durch das Visuelle. Die atemberaubenden Bilder, die in die Normalität des Ausnahmezustands wie absichtslos eingelegt sind, inszenieren die Spaltung und mehr noch die fundamentale Elastizität, die sich im Lebens- und Überlebens-Gnosem der Dichterin Emma Kann literarisch verdichten. Dieses vierte Überlebens-Gnosem ist hier kein anderes als das verdichtende Genießen. Es kündet von der Kunst, aus dem eigenen Erleben wie aus dem eigenen Überleben das zu schaffen, was im Präsens (dem das Gestern wie das Morgen starben) eingezwängt ist und doch über die Zeit hinausgeht.
Vom Leben der Literatur im Angesicht des Todes Der zwanzigste der insgesamt zweiundzwanzig „Betrachtungen“ des ersten Teils von Emma Kanns Autobiographischem Mosaik widmet sich dem „Versuch, etwas über Schönheit zu schreiben“. Dabei betont die Autorin, die im Mai 1981 wieder aus den USA nach Deutschland zurückkehrte, dass sie sich mit der Frage der Schönheit ihr „ganzes Leben lang“42 auseinandergesetzt habe, um danach fortzufahren: Das Erlebnis der Schönheit habe ich von Kindheit an gekannt und auch schon sehr früh bewußt wahrgenommen in der Natur, in einer Landschaft, in einem Kunstwerk und in entscheidenden Augenblicken in einer menschlichen Beziehung. Für Augenblicke wurde mir das Erlebnis des Schönen zur Wirklichkeit.43
42 Kann, Emma: Versuch, etwas über Schönheit zu schreiben. In: dies., Autobiographisches Mosaik (wie Anm. 1), S. 1. 43 Kann, Versuch (wie Anm. 42), S. 1f.
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Unverkennbar wird hier, dass aus dem Blickwinkel der Dichterin nicht das Schöne „an sich“ oder dessen philosophische Kategorisierung, sondern das Erleben des Schönen und dessen Transfer in die Kunst oder aus der Kunst im Mittelpunkt steht. Dieses am Schönen ausgerichtete Erlebenswissen bezieht sich dabei nicht allein auf unterschiedliche Ausdrucksformen von Kunst und Literatur, sondern gleich zu Beginn dieser Ausführungen auf die Landschaft, in der sich alles zu bündeln scheint. Wenn hier das Naturschöne und das Kunstschöne in einer Abfolge mit der Schönheit zwischenmenschlicher Beziehungen genannt werden, so kommt doch dem Begriff der Landschaft hier wie im gesamten Werk Emma Kanns eine herausragende Signifikanz zu. Denn im Begriff der Landschaft als einem Bewegungsbegriff für die unterschiedlichsten Wechselwirkungen erscheint gleichsam die sich verändernde Spielfläche einer Relationalität, welche die unterschiedlichsten Bereiche miteinander in Austausch setzt. Dies mag erklären, warum der Begriff der Landschaft sich an einer Vielzahl bereits angeführter Textstellen mit jenem der Schönheit verbindet. Schönheit wird so zur Wirklichkeit und vermag sich so an jene Stelle zu setzen, die dem monologischen Diktat der einen und einzigen Realität zu unterliegen scheint. Ist an dieser Stelle aber nicht dringlich geboten, die eine Wirklichkeit in ihrer monologischen Struktur durch die offene, viellogische Strukturierung vieler gelebter oder erlebbarer Wirklichkeiten zu ersetzen? Der zweitletzte Abschnitt dieses auf Ende 1997 – Anfang 1998 datierten Textes führt diese gleich zu Beginn eingeblendeten Gedanken fort: Ich gehe durch eine Landschaft mit ihren Hügeln, ihren Feldern, mit einzelnen Häusern, vielleicht einem Fluß. Für einen Augenblick bleibe ich stehen, denke nicht mehr an mein Ziel und den Weg, den ich gehen muß und an die Zeit, die ich dafür benötige. Ich gebe mich dem Anblick der Landschaft hin. Sie wird zu etwas Lebendigem mit eigenem Rhythmus des Werdens und Vergehens. Ich nehme in mich auf, was ich sehe, rieche, höre. Ich bin kein Fremder, sondern etwas, das die Landschaft in sich aufgenommen hat und zu dem sie spricht. Trotzdem bleibe ich ich selbst. Wenn ich weitergehe meinem Ziel zu, werde ich diesen Augenblick mit mir tragen, vielleicht mein Leben lang ihn bewußt oder unbewußt in mir aufbewahren, mich an ihn erinnern als an etwas sehr kostbares, zerbrechlich und doch mit Dauer erfüllt wie wenige andere Augenblicke des Lebens.44
Deutlich wird hier ausgehend von der erlebten, gelebten Landschaft eine unmittelbare Verbindung zum gelebten Leben hergestellt, gleichsam das Erlebenswissen in einen direkten Bezug zum Lebenswissen gebracht. Die Vektorizität dieser Beziehung ist offenkundig, wird hier doch der Weg durch eine Landschaft mit dem Lebensweg an sich verknüpft. Dabei wird das stets Prekäre, Zerbrechliche dieser 44 Kann, Versuch (wie Anm. 42), S. 5.
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Wahr-Nehmung einer Landschaft aus der Bewegung gerade durch den Akt des Verweilens herausgearbeitet: im auf Dauer gestellten Augen-Blick, den die Jahrzehnte zuvor erblindete Lyrikerin gelassen hervorhebt. Somit wird kraft der paradoxen Beziehung von Zerbrechlichkeit und Dauer jene transitorische Transzendenz erzeugt, die Kunst und Literatur (welche stets fragil sind) auszeichnen. Die literarischen wie die künstlerischen Praktiken schreiben sich so in eine Dauer ein, die jene selbst der stabilsten politischen Reiche und Imperien um ein Vielfaches übersteigt. Die in diesen Zeilen Emma Kanns evozierte Lebenslandschaft erwirbt sich Dauer, erwirbt sich ein Überdauern gerade aus dem Bewusstsein ihrer Fragilität, ihrer Zerbrechlichkeit: ihrer Entstehung im Angesicht des eigenen Todes. Die Intensität des Erlebens der Landschaft als eines vektoriell bestimmten Bewegungs-Raumes, dessen Transzendenz sich gerade aus dem Transitorischen ergibt, verweist auf die nicht weniger paradoxe Relation, die sich aus der Sehnsucht nach dem, was über die Zeit hinausgeht, in ihrer Verknüpfung mit dem klaren Bewusstsein ergibt, im Angesicht des eigenen Todes zu schreiben. Das Durcherleben45 dieser Relation in der Extremsituation des Lagers verwandelt die künstlerische beziehungsweise literarische Arbeit an dieser Paradoxie in ein komplexes ÜberLebensWissen, das seine ungeheure Kraft im ÜberLebenSchreiben gerade aus dem Wissen zieht, dass das Leben im Lager, das Leben in einer totalitären Zwangsgesellschaft, unvermittelt zu Ende sein kann. ÜberLebenSchreiben wird hier, an diesem Punkt, zum Schreiben ums (eigene) Überleben. Dies zeigen die im Lager von Gurs geschriebenen Gedichte Emma Kanns in aller Deutlichkeit, aber auch mit aller Komplexität. In ihrem lapidar auf „1940 Frankreich“ datierten Gedicht Der Tod ist mir ein Kamerad... wird dieses Schreiben wie das ÜberLebensWissen im Angesicht des Todes in zwei Strophen durchgespielt, die das Spannungsfeld von Lager und Tod, von Reise und Welt, von Leben und Lyrik im vektoriellen Raum einer letzten Reise durcherleben lassen: Der Tod ist mir ein Kamerad Seit meine Fahrt begann. Oft, wenn mir etwas wehe tat, Sah ich ihn fragend an, Doch er war still. Er winkte nicht. Er blieb nur bei mir stehen Und ließ in seinem Angesicht Mich seine Ruhe sehen. Und wie ein Mann, der Kraft verspürt, Auch schweigend Frieden gibt 45 Vgl. Dilthey, Wilhelm: Goethe und die dichterische Phantasie. In: ders.: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen 1985, S. 139.
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Dem, der den Weg, der zu ihm führt, Aus ganzem Herzen liebt, So wußte ich: es ist noch nicht Jetzt Zeit zur letzten Tat. Doch wenn die Welt mein Wollen bricht, Bleibt mir mein Kamerad.46
Das Schreiben vom Tod aus tödlicher Bedrohung wird in diesen Versen zu einem Leben mit dem Tod, das aus der Ruhe, aus der Stille des Todes die Bedingungen für ein neues Zusammenleben zimmert. Im Schrei des Schreibens aus der Todeslandschaft des Lagers entfaltet sich ein Leben, das im Angesicht des Todes seine Kraft aus jenem Lebenswissen gewinnt, das die eigene Fahrt, die eigene Reise immer weiter vorwärtstreibt. Die hier entfalteten Gnoseme dieses Lebenswissens, Erlebenswissens und Überlebenswissens sind untrennbar mit der Kunst, mit der Literatur, mit einem verdichteten Schreiben verwoben, das sich gerade in den konzentrationären Gedichten aus Gurs der Dauerhaftigkeit versichert, die über das hinausgeht, was allein der Zeit, was allein dem Ort, was allein dem Lager zuzurechnen ist. Es sind Gedichte, die das eigene Leben – das mehr ist als das eigene Überleben – sichern. Wenn Literatur, wenn Kunst im Konzentrationslager ein konzentriertes ÜberLebensWissen ist, dann kann dies nur in jenem Maße gelten, in dem ästhetische Kraft sich in ästhetische Widerständigkeit übersetzt und übersetzen lässt. Dabei geht es um eine Widerständigkeit, die sich ebenso diesseits wie jenseits jenes Augenblicks, jener Bruchlinie ansiedelt, „wenn die Welt mein Wollen bricht“.47 Denn ein derartiges Schreiben ist auf paradoxe Weise Begleitung in den Tod und Überwindung dieses Todes zugleich. Die konzentrationäre Kunst kann dank ihrer verdichteten Widerständigkeit eine doppelte, ja eine viellogische Zeitlichkeit erschaffen, die an die Zeit gebunden ist und sich doch eben dieser Zeit entzieht, die in eine Landschaft gestellt ist und doch in ihr die anderen Landschaften lebt und erlebt. Und sie ist paradox, weil sie sich jeglicher Herrschaft, jeglicher Doxa, jeglicher totalitären Logik zu entziehen vermag und aus der Verpflanzung ihre Fortpflanzung sichert. Vital und lebensnotwendig ist diese Kunst durch jene Kraft, die über das Leben hinausgeht und auf jene Konvivenz abzielt, die aus dem Zusammenleben mit dem Tod den Funken künftiger Kunst und damit künftigen Lebens schlägt.
46 Kann, Emma: Der Tod ist mir ein Kamerad. Zit. nach der mir übersandten und mir vorliegenden Fassung. 47 Kann, Der Tod ist mir ein Kamerad (wie Anm. 46).
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Weihnachten im Konzentrationslager Festkultur und Kulturproduktion Wer die Texte durchblättert, die die Überlebenden der Konzentrationslager hinterlassen haben, wird feststellen, dass es nur wenige Momente kollektiver Erinnerung gibt, die das Kontinuum des Lageralltags durchbrechen: die Ankunft, Weihnachten, Ostern, die Befreiung. Diese Momente sind immer mit Inszenierungen, also – im weiteren Sinne – mit Kulturproduktion verbunden. An Weihnachten verschränkt sich die Festinszenierung der Lagerleitung und der Kapos mit der Festinszenierung der Häftlinge. Wie lässt sich das Fest der Liebe im, wie Hannah Arendt sagt, „Laboratorium“ der totalen Macht feiern?1 Die eigenartige Spannung von Heteronomie und Autonomie möchte ich im Folgenden unter dem Aspekt der Kulturproduktion und, sofern diese Ausdruck selbstbestimmten Handelns der Häftlinge ist, unter dem Aspekt der Resilienz untersuchen. Als Material dienen mir ungefähr zweihundert zumeist veröffentlichte Überlebendenberichte in französischer Sprache aus den Beständen des Salzburger Archivs KZ-memoria scripta.2 Ich werde mich auf Texte aus den Lagerkomplexen Mauthausen, Ravensbrück und Auschwitz-Birkenau konzentrieren und auf Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Erinnerung sowie zwischen literarischer und nicht-literarischer Verschriftlichung achten.
1 Fremdinszenierungen: Die Weihnachtsfeiern von SS-Offizieren und Kapos Kein Weihnachten ohne Christbaum! Zahlreiche Häftlinge erinnern sich, dass in den verschiedensten Lagern, vom Loibl-Pass an der österreichisch-sloweni1 Siehe Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft (1951). Frankfurt a. M. 2005, S. 907: „Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist“. 2 Die interdisziplinäre Forschungsgruppe KZ-memoria scripta an der Paris Lodron-Universität Salzburg sammelt seit 2004 veröffentlichte und unveröffentlichte Zeugnisse in deutscher, englischer, französischer, italienischer und spanischer Sprache von Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager und wertet sie unter textanalytischen Gesichtspunkten aus. Der Bestand umfasst derzeit rund 500 Originaltexte (siehe http://www.kz.memoria.net).
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schen Grenze3 bis nach Jawiszowice bei Auschwitz4 riesige Tannenbäume auf den Appellplatz gestellt und mit bunten Lichterketten geschmückt wurden.5 Der französische Karikaturist Jean Bernard-Aldebert, der deportiert wurde, weil er Hitler als Schimpansen zeichnete, fragt sich im Begleittext zu seiner Skizze des Weihnachtsbaums in Gusen (Abb. 1), einem berüchtigten Nebenlager von Mauthausen, wer für diese kleine Aufmerksamkeit wohl verantwortlich war: „A qui le devons-nous?... Aux S.S., aux autorités civiles du camp? ... De toutes façons, l’attention est touchante!“6 Den Häftlingen war bewusst, dass der monumentale Weihnachtsbaum auf dem Appellplatz keine religiöse, sondern eine politische Dimension hatte, dass er die überlegene Kultur der Herrenrasse machtvoll zur Schau stellen und die Gefühle der Arbeitssklaven verhöhnen sollte. Der französische Offizier Georges Loustaunau-Lacau, der Weihnachten 1944 in Wiener Neustadt, einem Nebenlager von Mauthausen, erlebte, unterstreicht die Scheinheiligkeit dieser Symbolisierung eines christlichen Festes, die ja in diametralem Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie steht: O dérision, le commandant des S.S. a fait édifier en plein milieu de la place un arbre de Noël, tout luisant de lampes multicolores. Il y a une telle opposition entre l’horreur habituelle du lieu et ce symbole traditionnel de paix et de charité qu’il nous prend l’envie de tailler en pièces cet arbre insolent et d’en briser ainsi les lumières. Toute l’hypocrisie allemande est là, dans cette singerie familiale et ce faux rappel de l’Amour.7
3 Siehe Charlet, Gaston G.: Karawanken. Le bagne dans la neige. Limoges 1955, S. 125. 4 Siehe Chauvin, Jean-René: Un trotskiste dans l’enfer nazi: Mauthausen-Auschwitz-Buchenwald (1943–1945). Paris 2006, S. 196. 5 Siehe u.a. Bouteille-Garagnon, Marie-Jeanne: Infernal Rébus. Moulins 1946, S. 259; Gille, René: Au-delà de l’inhumain. S. l. [Périgueux] s.a. [1948] (unveröff. Manuskript), S. 46; Varnoux, Jean-Baptiste: Clartés dans la nuit. La résistance de l’esprit. Journal d’un prêtre déporté. Neuvic-Entier 1995, S. 131; Cognet, Bernard: Mémoires de révoltes et d’espérance. Saint-Jean-deBraye 1997, S. 157–158; Fichter, Charles: Entre parenthèses. Souvenirs 1939–1945. Bar-le-Duc 1998, S. 106; Dumoulin, Jean-Claude: Du côté des vainqueurs (Au crépuscule des crématoires). Paris 1999, S. 61 und Marcou, Georges: Souvenirs de mon vécu…au Camp de Gusen I. „Une parenthèse... 1942 à 1945. L’ordinaire de notre souffrance à Mauthausen“. Gradignan 2010, S. 154. 6 Bernard-Aldebert, Jean: Chemin de croix en 50 stations. De Compiègne à Gusen II en passant par Buchenwald, Mauthausen, Gusen I. Paris 1946, S. 96: „Wem verdanken wird das?... S.S. und Lagerwaltung?... Wie auch immer, die Aufmerksamkeit ist rührend!“ (Falls nicht anders angegeben, sind alle Texte von mir übersetzt.) 7 Loustaunau-Lacau, Georges: „Chiens maudits“. Souvenirs d’un rescapé des bagnes hitlériens. Pau 1945, S. 74: „Zum Hohn hat der SS-Kommandant mitten auf dem Platz einen Weihnachtsbaum aufgestellt, voller farbiger Glühbirnen. Der Gegensatz zwischen dem ortsüblichen Horror und diesem traditionellen Symbol des Friedens und der Nächstenliebe ist so eklatant, dass wir diesen unverschämten Baum am liebsten in Stücke hauen und seine Lichter zerstören würden.
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Abb. 1: Jean Bernard-Aldebert: Chemin de croix en 50 stations (1946)
Hier findet sich die ganze deutsche Scheinheiligkeit, in dieser vorgetäuschten Familienstimmung und falschen Evokation der Liebe“.
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In manchen Lagern zeigte der Lichterbaum denn auch sein wahres Gesicht, wenn er nämlich zur Hinrichtungsstätte wurde. In Melk, einem weiteren Nebenlager von Mauthausen, wurden am Heiligabend 1944 zwei flüchtige Russen in einer theatralischen Inszenierung zum Galgen geführt. Ob sie, wie Jean-Claude Dumoulin schreibt, umgebracht8 oder, wie andere Überlebende bezeugen, in extremis begnadigt und erst ein paar Tage später ermordet wurden,9 lässt sich nicht mehr klären. In Ebensee wurde am Heiligabend 1944 ein junger Italiener bestialisch gefoltert und erhängt.10 Der Weihnachtsbaum auf dem Appellplatz ist ein Machtsymbol des totalitären Terrors. Die Inszenierung wird im Innern der Baracken fortgesetzt. In dem vorwiegend von Polen bevölkerten Lager Gusen ließen es sich die Kapos nicht nehmen, jede Baracke mit einem eigenen Tannenbaum auszustatten. Bernard-Aldebert schildert voller Ironie, wie sich die schlimmsten Schläger in treusorgende Familienväter verwandeln, die am Weihnachtsabend ihren Christbaum schmücken und die für die Wundversorgung vorgesehenen sterilen Papierverbände zu LamettaErsatz zerschneiden: Depuis plusieurs jours, toute la canaille des triangles verts s’est agitée. Elle veut fêter dignement ce Noël. Chaque groupe de bandits qui préside la destinée d’un Block s’ingénie à parer le mieux possible le coin de la baraque où il a fait son gîte. Petits sapins enrubannés, décorés de pacotilles étincelantes, guirlandes de papiers, éclairages savants, lampes de couleur. Nous avons vu Maryan et Yanouch, le couple de monstres polonais, passer des journées entières à découper, coller, peindre des étoiles d’or empanachées de traînées écarlates où s’étale le mot „Glorya“. Si les bandes de pansement de papier ne recouvrent plus depuis longtemps nos plaies, elles tombent ici en cascades serrées. Dans chaque Block, c’est le même déploiement de couleur, de papier, de lumière, cependant que les tortures infligées aux hommes continuent. 11 8 Siehe Dumoulin, Du côté des vainqueurs (wie Anm. 5), S. 63. 9 Siehe Gille, Au-delà de l’inhumain (wie Anm. 5), S. 46, Varnoux, Clartés dans la nuit (wie Anm. 5), S. 133 und Dumoulin, Du côté des vainqueurs (wie Anm. 5), S. 62–63. 10 Siehe Tillard, Paul: Mauthausen. Paris 1945, S. 68f. sowie Freund, Florian: „Arbeitslager Zement“. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung. Wien 1989 (Industrie, Zwangsarbeit und Konzentrationslager in Österreich), S. 225 und Anm. 108 und Kuon, Peter: L’écriture des revenants. Lecture de témoignages de la déportation politique. Paris 2013 (Entre Histoire et Mémoire), S. 320–324. 11 Bernard-Aldebert, Chemin de croix (wie Anm. 6), S. 94: „Seit einigen Tagen ist das ganze Pack der grünen Winkel in Aufruhr. Es möchte Weihnachten würdig feiern. Jeder Banditentrupp, der das Geschick eines Blocks lenkt, gibt sich alle Mühe, den Winkel der Baracke, in dem er Quartier bezogen hat, möglichst schön auszuschmücken. Kleine Tannenbäume, die mit Bändern und glänzendem Schnickschnack dekoriert sind, papierene Girlanden, ausgeklügelte Beleuchtungen, farbige Birnen. Wir haben gesehen, wie Maryan und Yanouch, die beiden polnischen Ungeheuer, ganze Tage damit zubrachten, goldene Sterne auszuschneiden, zusammenzukle-
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Die Häftlinge werden in die Rolle von Kindern versetzt, die mit staunenden Augen den Lichterglanz erleben sollen, den die Erwachsenen produzieren. Gabentisch und Festessen fallen in dieser zynischen Inszenierung aus. Während die Häftlinge im besten Falle eine etwas nahrhaftere Suppe erhalten, endet das große Fressen der Kapos in einem allgemeinen Besäufnis. Die ganze Weihnachtsinszenierung, schreibt Gaston Charlet über das Lager am LoiblPass, sei nur ein Vorwand, um die Orgien zu rechtfertigen, denen sich die Kapos und ihre Helfershelfer in ihrem Teil der Baracke hingeben.12 Das Weihnachtsfest, das erneut Bernard-Aldebert in seinem Kapitel „Noël aux Enfers“ beschreibt, erinnert eher an einen Hexensabbat: L’orchestre, qui fait le tour du camp, va dans chaque Block répandre sa cacophonie qui veut être du jazz, un jazz à l’allemande. Il couvre pour un temps le râle des mourants qui monte du fond du Block. L’orchestre parti vers une autre baraque, c’est l’Oberkapo polonais qui, très mystique, a lâché la schlague pour l’archet. C’est lui qui guide et accompagne au violon les chants religieux repris en choeur par ses compatriotes. Après, c’est l’accordéon et les danses; tard dans la nuit les couples de bandits tournent en hurlant. [...] Tout à leur plaisir, nos bourreaux nous oublient: ce sera notre plus beau cadeau de Noël et c’est autant de gagné.13
An die „ignoble comédie“ der musikalischen Darbietungen kunstsinniger Kapos sowie an den Lärm von Bumsmusik und Gegröhle erinnern sich mehrere Überlebende aus unterschiedlichen Lagern.14
ben, anzumalen und mit scharlachroten Streifen zu schmücken, auf denen das Wort ‚Gloria‘ prangt. Wenn die Papierverbände schon längst nicht mehr unsere Wunden bedecken, so fallen sie hier in engen Kaskaden. In jedem Block gibt es Farbe, Papier, Licht im Überfluss, während die Foltern, die den Menschen auferlegt werden, andauern“. Siehe auch Charlet, Karawanken (wie Anm. 3), S. 125–126. 12 Siehe Charlet, Karawanken (wie Anm. 3), S. 125. 13 Bernard-Aldebert, Chemin de croix (wie Anm. 6), S. 96: „Das Orchester, das im Lager die Runde macht, verbreitet in jedem Block seine Katzenmusik, die Jazz sein will, Jazz auf deutsche Art. Es überdeckt eine Zeitlang das Röcheln der Sterbenden hinten im Block. Als das Orchester zu einer anderen Baracke aufgebrochen ist, hat der polnische Oberkapo, in einer mystischen Laune, den Knüppel gegen einen Bogen ausgetauscht. Er ist es, der die religiösen Gesänge anstimmt und auf der Violine begleitet, die seine Landsleute im Chor aufnehmen. Danach spielt das Akkordeon zum Tanz auf; spät in der Nacht drehen die Banditen paarweise mit großem Geschrei. [...] Über ihrem Vergnügen vergessen uns unsere Henker. Das wird unser schönstes Weihnachtsgeschenk sein, und das ist immerhin etwas“. 14 Siehe Charlet, Karawanken (wie Anm. 3), S. 126; Degroote, Jean: Prisons de la Gestapo et camps de concentration. In: Prisons de la Gestapo et camps de concentration suivi de Mauthausen. Des pierres qui parlent. Steenvorde-Paris: Foyer Culturel de l’Houtland-Amicale des
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2 Selbstinszenierungen: Die Weihnachtsfeiern der Häftlinge Setzten die Häftlinge diesem fremden, ihnen aufgezwungenen Weihnachtsfest, eine selbstbestimmte eigene Feier entgegen? Eine ganze Reihe von Überlebenden berichtet von revueartigen Spektakeln in Mauthausen, Dachau, Melk, Ebensee und am Loibl-Pass.15 Natürlich musste dafür beim Lagerkommandanten um Genehmigung angesucht werden, denn die Häftlinge durften sich nicht auf eigene Initiative in einer Baracke versammeln und von einer zur anderen gehen.16 Die Ambivalenz einer solchen genehmigungspflichtigen Veranstaltung geht aus der Bemerkung von René Gille hervor, dass die Revue, die die Franzosen in Melk aufgeführt hätten, sehr gelungen und gut besucht gewesen sei und viel Applaus gefunden habe, „même parmi les nombreux étrangers et S.S“.17 Die Mitwirkenden gingen das Risiko ein, auch zur Belustigung des Wachpersonals und der Lagerverwaltung aufzutreten, was von einigen Kameraden durchaus kritisch gesehen wurde. So schreibt der kommunistische Häftlingsarzt des Lagers Ebensee, Gilbert Dreyfus, etwas säuerlich: „Une troupe d’artistes amateurs est recrutée dans le camp et nous sommes conviés à des représentations de music-hall“.18 Der als französischer Widerstandskämpfer deportierte Brite Robert Sheppard umreißt das Programm einer solchen Veranstaltung in Mauthausen: À quelque temps de là, à Noël, Mardaga, une basse chantante de l’Opéra Comique de Paris, nous a interprété quelques airs du répertoire dont celui de „La Calomnie“ du Barbier de Séville. Un trompettiste belge de talent a joué quelques solos. On cherche à oublier, à ne plus penser.19
Déportés et Familles de Mauthausen 1995, S. 61 und Denis, Henry: Le cahier vert d’Henry Denis. S.l. [Toulon], s.d. [1989], S. 10. 15 Siehe auch Fichter: Entre parenthèses (wie Anm. 5), S. 106 und Pierre Saint Macary: Mauthausen: percer l’oubli. Mauthausen, Melk, Ebensee. Paris 2004, S. 89f. 16 Siehe Breton, Louis: Mes bagnes de la Loire au Danube. Orléans 1986, S. 180. 17 Gille, Au-delà de l’inhumain (wie Anm. 5), S. 45: „selbst bei den zahlreichen Ausländern und den S.S“. 18 Debrise, Gilbert: Cimetières sans tombeaux. Paris 1945, S. 155: „Im Lager wird eine Truppe von Amateurkünstlern ausgehoben und wir werden zu Music-Hall-Darbietungen geladen“. 19 Robert Sheppard: Missions secrètes et Déportation 1939–1945. Les roses de Picardie. Bayeux 1998, S. 366: „Ein wenig später, an Weihnachten, hat uns Mardaga, ein Bassist der Komischen Oper in Paris, einige Melodien seines Repertoires vorgetragen, darunter die ‚Verleumdungsarie‘ aus dem Barbier von Sevilla. Ein talentierter belgischer Trompeter hat einige Solo-Stücke gespielt. Man versucht zu vergessen, nicht mehr nachzudenken“.
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Die Nummern dieser Aufführungen rufen im Nachhinein Erstaunen hervor, wenn man etwa aus dem Lager am Loibl-Pass erfährt, dass neben Gesangseinlagen, Tanzdarbietungen, Gedichtrezitationen, Kabarettszenen auch Boxkämpfe das Programm bereicherten.20 Zur Erklärung muss man wissen, dass das Lager am Loibl-Pass eher einem harten Arbeitslager als einem Konzentrationslager glich und seine Population einen hohen Anteil an Kleinkriminellen aufwies. Aus Sicht der Mitwirkenden an einer solchen Revue war wichtig, dass diejenigen, die noch genug Kraft und Energie hatten, ihren Kameraden Mut machten. „C’est là“, schreibt Louis Breton, „que les plus forts jouaient un rôle important, apportant espoir et apaisement“.21 Gaston Charlet, sein Mitgefangener am Loibl-Pass, vergleicht Weihnachten 1943, als er noch kräftig war, an der Revue mitwirkte, gegen den Stachel der Zensur löckte und das Bad in französischen Liedern und gallischem Humor als einen wahren Zaubertrank, einen „philtre vivifiant“22, genoss, mit Weihnachten 1944, als er krank im Revier lag und mühsam aus dem Gedächtnis das Gedicht rekonstruierte, das er den Kameraden an Heiligabend hätte vortragen wollen.23 Weihnachten als einen kulturellen Ritus zu inszenieren und zu feiern, sich auf diese Weise der eigenen Identität zu versichern und Anderen, Schwächeren, Hoffnung zu machen, blieb denen vorbehalten, die physische und psychische Reserven hatten.24
3 Selbstinszenierungen: Die Weihnachtsfeiern im Frauenlager Ravensbrück Auch in Frauenlagern wurde Weihnachten gefeiert25. Marie-Jo Chombart de Lauwe, die aktuelle Präsidentin der Fondation pour la Mémoire de la Déportation, beschreibt die Weihnachtsfeier 1943 in einer Baracke in Ravensbrück: 20 Siehe Breton, Mes bagnes de la Loire au Danube (wie Anm. 16), S. 180. 21 Breton, Mes bagnes de la Loire au Danube (wie Anm. 16), S. 180: „Da spielten die Stärksten eine wichtige Rolle, indem sie Hoffnung und Linderung spendeten“. 22 Charlet, Karawanken (wie Anm. 3), S. 127. 23 Siehe Charlet, Karawanken (wie Anm. 3), S. 127–132. 24 Zur Kulturproduktion als Resilienzfaktor, siehe Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 10), S. 170–216. 25 Vgl. den kurzen Hinweis in Binder, Anne-Berenike: „Mon ombre est restée là-bas“ – Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit. Tübingen 2008 (Romania Judaic), S. 99, die das Zeugnis von Béatrix de Toulouse-Lautrec: La Victoire en pleurant... Souvenirs de captivité. Rouen 1967, S. 272 zitiert.
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Dans la soirée, on se réunit sur les châlits par petits groupes; on chante quelques Noëls, des chants de nos provinces, des chants de marche, on échange des cadeaux: Bébé a une chemise pour Maman et pour moi, elle les a volés au Betrieb. Je lui donne un oignon, que j’ai ,organisé‘, et pour Maman, j’ai une petite croix que Charlie a faite. Nous nous réconfortons les unes les autres: ,Imaginez-vous que l’année prochaine, nous serons à la maison, en famille, chez nous, libres! On ne peut pas le réaliser, mais pourtant, nous y serons sûrement, à la vitesse avec laquelle les Russes avancent!‘ Alors on sort la carte, car nous avons une petite carte, et nous regardons le front russe. Maman, persuasive, explique les positions.... qui seront vraies dans quelques semaines. Dans le Lagerraum, les volontaires dansent, à moitié déshabillées.26
Was ist hier anders als bei den Männern? Die Weihnachtsfeier hat keinen öffentlichen, sondern einen privaten Charakter. Während die Männer zu einer Revue einladen, versammeln sich die Frauen um einen geschmückten Gabentisch und singen Weihnachtslieder. Die Geschenke sind disparat und reichen von gestohlenen Kleidungsstücken über seltene Nahrungsmittel – die Zwiebel – bis zu selbstgebastelten Gegenständen. Die Feier geht dann für die einen in unbeschwerten Tanz über, für die anderen in die politische Analyse, um sich gegenseitig aufzurichten. Die Autorin, die zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt war, schreibt, wie viel Mühe es sie gekostet hat, an der Feier teilzunehmen, da die Weihnachtslieder in ihr ein unerträgliches Heimweh auslösten: Ce soir-là, je me suis mêlée aux groupes en réaction contre moi-même, j’ai tellement envie de rester en boule dans un coin, sans trop penser. Ces vieux Noëls de France me rappellent trop de souvenirs, ils sont trop douloureux; ici, il faut vivre et pour accepter le présent, il ne faut pas faire du passé quelque chose de trop sensible.27
26 Chombart de Lauwe, Marie-Jo: Toute une vie de résistance. Paris 1998, S. 84: „Am Abend versammelt man sich in kleinen Gruppen auf den Bettstellen; man singt ein paar Weihnachtslieder, Heimatlieder, Märsche, man tauscht Geschenke aus. Bébé hat für Mama und für mich ein Hemd, sie hat sie im Betrieb gestohlen. Ich gebe ihr eine Zwiebel, die ich organisiert habe, und für Mama habe ich ein kleines Kreuz, das Charlie gebastelt hat. Wir machen uns gegenseitig Mut: ‚Denkt daran, das wir nächstes Jahr zuhause sein werden, in unseren Familien, bei uns, frei! Man kann es sich kaum vorstellen, aber wir werden sicher zurück sein bei der Geschwindigkeit, mit der die Russen vorrücken!‘ Und dann holen wir die Karte hervor, denn wir haben eine kleine Karte, und schauen uns die russische Front an. Mama erklärt voller Überzeugungskraft die Positionen, die sich in einigen Wochen bewahrheiten werden. Einige, denen der Sinn danach steht, tanzen kaum bekleidet im Lagerraum“. 27 Chombart de Lauwe, Toute une vie de résistance (wie Anm. 26), S. 85:„An diesem Abend habe ich mich nur widerwillig den Gruppen angeschlossen, viel lieber würde ich mich in einer Ecke zusammenrollen, ohne viel zu denken. Diese alten Weihnachtslieder aus Frankreich wecken zu viele Erinnerungen, sie sind zu schmerzhaft. Hier muss man in der Gegenwart leben, man darf aus der Vergangenheit nichts allzu Sentimentales machen“.
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Suzanne Wilborts, die Mutter von Marie-Jo, erwähnt in ihrem Bericht die Weihnachtsfeier 1943 mit keiner Silbe, stattdessen erinnert sie sich an die Flammen des Krematoriums – ein Lagermythos28 – und die Strafaktion des verweigerten Kaffees.29 Die Weihnachtsfeier 1944, von der wiederum nur ihre Tochter berichtet, die mittlerweile als Krankenschwester die Kinderstation betreut, steht erneut im Zeichen der selbst gebastelten Geschenke: Au Block 32, chacune a préparé, depuis longtemps le cadeau qu’elle fera à une amie, quelque objet fabriqué chez Siemens: croix, croix de Lorraine, étoile rouge minuscule, suivant les opinions de chacune, un numéro symbolique en miniature, épingles à cheveux, ou encore mouchoir finement brodé, quelque lainage ,organisé‘ dans les réserves. La veille de Noël, je reste de garde auprès des enfants, si lourdement chargée de leurs souffrances innocentes. [...] Il vaut mieux ne pas trop penser que c’est Noël, le jour le plus attendu de l’année, le centre de nos espérances: ,Être Noël à la maison‘. Le but tant espéré, encore une fois déçu.30
Die Geschenke symbolisieren ideologische Einstellungen. Überhaupt ist die Feier, nachdem die Hoffnung des Vorjahres, an Weihnachten wieder zuhause zu sein, fehlgeschlagen ist, insgesamt politischer und nähert sich dadurch den öffentlicheren Veranstaltungen in den Männerlagern an. Marie-Jo hat sich inzwischen der Gruppe um Mila Racine angeschlossen, einer französischen Jüdin, die aufgrund ihres mutigen Auftretens Marianne genannt wurde. Es handelt sich um eine Gruppe junger Frauen, die über sprachliche und ideologische Grenzen hinweg, ihre rare Freizeit zur kulturellen Fortbildung nutzen, vor allem aber als 28 „La nuit de Noël se passe dans le noir; seule, une énorme cheminée vomit de grandes flammes rouges qui éclairent les baraques de lueurs sinistres“ / „Heiligabend findet im Dunkel statt; nur ein riesiger Kamin speit große rote Flammen in den Himmeln, die die Baracken mit ihrem unheilvollen Licht erhellen“. Wilborts, Suzanne: Pour la France. Angers – La Santé – Fresnes – Ravensbrück – Mauthausen. Paris 1946, S. 103. Diese Flammen, von denen zahlreiche Überlebende berichten, entsprechen laut Philippe Mesnard: Témoignage en résistance. Paris 2007 (Un ordre d’idées), S. 140–158, nicht der Lagerwirklichkeit; vielmehr sind sie eine Metapher, die den gewaltsamen Tod im Lager durch Rückgriff auf die kollektive Vorstellung der christlichen Hölle zu rationalisieren sucht. 29 Siehe Wilborts, Pour la France (wie Anm. 28), S. 103. 30 Chombart de Lauwe, Toute une vie de résistance (wie Anm. 26), S. 119: „Im Block 32 hat jede schon seit langem das Geschenk vorbereitet, das sie einer Freundin machen will, irgendeinen bei Siemens hergestellten Gegenstand: ein Kreuz, ein lothringisches Kreuz, einen winzigen roten Stern, wie es den Überzeugungen einer jeden entspricht, eine kleine symbolische Zahl, Haarspangen oder ein fein gesticktes Taschentuch, irgendeine in den Vorratskammern organisierte Wollsache. An Heiligabend habe ich Dienst bei den Kindern, die so schwer an ihren unschuldigen Leiden tragen. […] Ich will nicht zuviel daran denken, dass es Weihnachten ist, der Tag, auf den man das ganze Jahr über gewartet hat, der Mittelpunkt unserer Hoffnungen: ‚Weihnachten wieder zuhause sein‘. Das erhoffte Ziel, wieder enttäuscht“.
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eine Art Partisanenchor agieren, mal hier mal dort auftauchen, a capella Widerstandslieder singen und auseinandergehen, bevor die Lagerpolizei eingreift. Das Weihnachtsprogramm der Gruppe um Marianne sucht, wie die Veranstaltungen in den Männerlagern, durch künstlerische Aktivität vom Alltag abzulenken und Zusammenhalt zu stiften: L’après–midi [...], je rejoins Marianne et le groupe, et nous chantons au 32 l’air triste et doux de Saint Michel en grève, La Ravine, et nos chœurs habituels, chants scouts, chants de vie et de joie. Ensuite, Madeleine Vincent et son groupe (Ajistes-communistes) mettent une note gaie et jeune avec leurs marches et leurs vieux chants de province. Madeleine Tambour, montée sur une table, nous déroule des poèmes qu’elle seule pouvait rendre si lumineux. Déjà Marianne nous entraîne; au Block voisin, on nous attend, toutes les nationalités sont là, surtout Russes et Tchèques. Nous chantons pour leur livrer un peu de l’âme française qu’elles vénèrent. À son tour, le chœur tchèque (le meilleur du camp) nous apporte sa pureté harmonieuse et profonde comme des chants de moines. Sur les lits, les placards, les tables, des centaines de femmes, les yeux humides devant la beauté, écoutent en silence, dans l’oubli de leurs misères, de leurs aigreurs. L’art permet quelques minutes d’évasion.31
Madeleine Aylmer-Roubenne, die schwanger nach Ravensbrück kam, muss an der von Marie-Jo Chombart de Lauwe geschilderten Weihnachtsfeier teilgenommen haben. Sie war aber offenbar weniger politisch als religiös eingestellt und achtet auf andere Elemente, wie beispielsweise das Modellieren von Krippenfiguren aus Brot32, das Schmücken eines Christbaum-Ersatzes, das Schwelgen in Kochrezepten. In Erinnerung bleibt ihr, dass ihr eine Freundin zwei Ölsardinen geschenkt hat, eine für sie und eine für ihr ungeborenes Kind.33
31 Chombart de Lauwe, Toute une vie de résistance (wie Anm. 26), S. 120: „Nachmittags gehe ich zu Marianne und ihrer Gruppe, und wir singen in der Baracke 32 die traurige und sanfte Melodie von Saint Michel en grève, La Ravine, und unsere üblichen Chorlieder, Pfadfindergesänge, Lieder voller Leben und Freude. Dann fügen Madeleine Vincent und ihre Gruppe aus der Jugendherbergsbewegung mit ihren Märschen und alten Liedern aus den französischen Provinzen eine muntere und frische Note hinzu. Madeleine Tamour deklamiert auf einem Tisch Gedichte, die sie allein so zum Leuchten bringen kann. Schon zieht uns Marianne wieder mit sich; im Nachbarblock wartet man auf uns. Alle Nationen sind vertreten, vor allem Russen und Tschechen. Wir singen, um ihnen etwas von der französischen Seele, die sie verehren, weiterzugeben. Der tschechische Chor, der beste im Lager, schenkt uns seinen reinen und tiefen Klang, der an Mönchsgesänge erinnert. Auf den Betten, den Pritschen, den Tischen lauschen Hunderte von Frauen in aller Stille, die über soviel Schönheit feuchte Augen bekommen und ihr Elend, ihre Bitternis vergessen. Die Kunst erlaubt einige Minuten der Evasion“. 32 Siehe auch Pagniez, Yvonne: Scènes de la vie du bagne. Paris 1947, S. 184. 33 Siehe auch Aylmer-Roubenne, Madeleine: J’ai donné la vie dans un camp de mort. Paris 1997, S. 112f.
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Im Vergleich zu den männlichen Überlebenden fällt auf, dass es kaum Frauen gibt, die in ihren Zeugnissen nicht auf Weihnachten zu sprechen kommen. Die Feiern, von denen sie erzählen, haben insgesamt einen intimeren Charakter: Es geht offenbar darum, die aus der Vergangenheit vertraute Familienatmosphäre im Lager zu simulieren, die selbst gebastelte Krippe, den sorgfältig geschmückten Tisch, den Austausch der Geschenke, das liebevoll zusammengestellte Festmenü. Aus einem Außenkommando des KZ Buchenwald, Apteroda, ist folgende Speisekarte überliefert: Potage à la prisonnière. Saucisson façon Aptéroda. Pommes de terre, don de la „Reine-Mère“ Les Margarines. Café offert par la maison pénitentiaire. Le tout arrosé du Grand Cru des Lavabos 44.34
Was als ein Rückzug ins Private gedeutet werden könnte, ist in Wirklichkeit ein Akt des Protestes, denn es geht auch im Frauenlager darum, gegen das fremdbestimmte Fest, das die Erniedrigung der hungernden Häftlinge durch das zynische Symbol des Lichterbaums steigert, ein selbstbestimmtes Fest zu organisieren, das durch praktizierte Nächstenliebe Weihnachten seinen wahren Sinn zurückgewinnt und die eigene kulturelle Identität gegen barbarische Unkultur affirmiert. Dieser Protest lässt sich unter anderem daran festmachen, dass die in mehreren Lagern vor Weihnachten verteilten Adventskränze links liegen gelassen oder zerstört wurden, weil diese typisch deutschen, also fremden, Kulturgegenstände die Französinnen an Grabschmuck erinnerten.35
4 Literarisches Schreiben: Heiligabend 1943 in Raisko Ähnliche Weihnachtsfeste werden aus anderen Frauenlagern berichtet. Simone Alizon feiert Heiligabend 1943 in Raisko, einer Außenstelle von Auschwitz34 Andrée [Carliez Lambert de Loulay] Wanda: Déportée 50.440. Paris 1945, S. 145–146: „Gefangenensuppe/Apteroder Wurst/Kartoffeln, Geschenk der ‚Königinmutter‘/Margarine/Kaffee/ Gruß des Zuchthauses/Dazu ein/Grand Cru der Waschbecken 44“. 35 Siehe Blanc, Solange: Femmes à tuer. Paris 1984, S. 246 und Bouteille-Garagnon, Infernal Rébus (wie Anm. 5), S. 260.
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Birkenau, gemeinsam mit Charlotte Delbo, die sie – fälschlich – als Jüdin und – richtig – als eine der erfahrensten Gefangenen im Lager bezeichnet. Delbo habe für Weihnachten die Aufführung einer aus der Erinnerung rekonstruierten Fassung des Malade imaginaire geplant,36 die dann, wie in Une connaissance inutile berichtet wird,37 am Sonntag nach Weihnachten, also am 26. Dezember, stattfand. Ich will aber nicht auf diese hochkulturelle Theateraufführung eingehen,38 sondern auf die unterschiedliche Erinnerung und Erzählung ein und derselben Feier an Heiligabend. Simone Alizon erinnert sich, dass Französinnen und Polinnen ein Festessen „wie zuhause“, „comme à la maison“,39 vorbereitet und an langen Tischen angerichtet hatten. Sie ist sich nicht mehr sicher, ob es einen Weihnachtsbaum in der Stube gab; doch Geschenke wurden ausgetauscht: „Modestes présents, soit ‚organisés‘ selon les possibilités, soit exécutés par nous-mêmes avec des morceaux de tissu, quelques brins de laine ou de papier“.40 Alle hätten sich im Rahmen der Möglichkeiten, die die Lagersituation zuließ, festlich angezogen und, so gut es ging, geschminkt: Après l’agitation des vœux et des échanges de cadeaux, nous avions pris place à table. Une gaieté empruntée nous anima un moment. Des anecdotes d’un passé plus heureux furent contées. Puis, à plusieurs reprises, l’évocation presque involontaire d’une de nos disparues, un souvenir resurgi, de l’une ou de l’autre, nous plongeaient dans un silence difficile à rompre. Chaque fois, une courageuse, celle-ci ou celle-là, par un violent effort de la volonté arrivait à délier nos gorges nouées avec le récit d’une historiette amusante. Nous nous retrouvions à rire.41
36 Siehe Alizon, Simone: L’exercice de vivre. Paris 1996, S. 281. 37 Siehe Delbo, Charlotte: Une connaissance inutile. Paris 1970 (Trilogie Auschwitz et après), S. 92. 38 Vgl. hierzu Binder, „Mon ombre est restée là-bas“ (wie Anm. 19), S. 102–103. 39 Alizon, L’exercice de vivre (wie Anm. 36), S. 284. 40 Alizon, L’exercice de vivre (wie Anm. 36), S. 284: „Bescheidene Geschenke, die entweder, wie sich die Gelegenheit ergab, ‚organisiert‘ oder von uns selbst aus Stofffetzen, Wollfäden oder Papierstücken verfertigt worden waren“. 41 Alizon, L’exercice de vivre (wie Anm. 36), S. 285: „Nach dem Hin und Her der Wünsche und dem Austausch der Geschenke nahmen wir am Tisch Platz. Eine künstliche Fröhlichkeit hauchte uns für eine kurze Zeit Leben ein. Anekdoten aus einer glücklicheren Vergangenheit wurden erzählt. Dann ließ uns mehrfach der unwillkürliche Gedanke an eine unserer Vermissten oder eine plötzliche Erinnerung an die eine oder die andere in ein Schweigen fallen, das nur schwer zu brechen war. Jedesmal fand sich eine unter uns, die den Mut hatte, unsere Zungen wieder zu lösen, indem sie, mit größter Selbstüberwindung, eine lustige Geschichte erzählte. Wir konnten wieder lachen“.
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Simone Alizon bezeichnet dieses Fest als „Le plus étonnant Noël de toute ma vie. Le plus bouleversant“.42 Der Leser wird diese Bewertung nachvollziehen können, wenn er Lagermisere und Festritual, Frohsinn und Totengedenken ins Verhältnis setzt. Die Autorin scheint freilich mehr für sich selbst als für den Leser zu schreiben. Ganz anders Charlotte Delbo: Sie lässt sich nicht von ihren Erinnerungen treiben, vielmehr legt sie ihre Erzählung darauf an, die Erschütterung im Leser zu provozieren43. Auch sie schildert das armselige Festessen, geht auf Gesang und Geschenke ein, um dann aber in einem narrativen crescendo den Moment, in dem sich die Häftlinge als Kulturwesen affirmieren, auf die Folie des omnipräsenten Todes zu projizieren. Das Licht ging aus, die Kerzen am Christbaum wurden angezündet, der Chor der Polinnen fing an zu singen: Elles chantaient. Nous glissons dans le rêve. Rêver, un soir de Noël, là-bas. Dans notre rêve, nos souvenirs et nos espoirs devenaient lointains et fragiles. Et nos camarades qui n’avaient pas la chance d’être avec nous dans ce commando privilégié? Comment passait-on Noël au camp de la mort? Au camp de la mort, il y avait, depuis la mi-décembre, planté sur la place, un grand sapin couvert de vraie neige. Au faîte du sapin, une étoile rouge qu’une ampoule électrique éclairait. Le sapin était dressé près de la potence.44
Der Gesang löst ein Sinnieren aus, das die Weihnachtsfeier im Außenkommando Raisko, in einer warmen Stube bei reichlichem Essen ins Verhältnis setzt zu Weihnachten im Stammlager Auschwitz-Birkenau, wo alles, auch der mächtige Weihnachtsbaum, im Schatten des Todes steht. Das Gedenken an die im Todeslager weilenden Kameradinnen rückt den Fortgang der Feier, das fröhliche Auspacken der Geschenke: eine Seife, eine aus Lumpen gefertigte Puppe, eine Klöppelarbeit, ein Flechtgürtel, eine verziertes Notizbuch, in ein neues Licht. Das Weihnachtsfest in Raisko ist ein Luxus privilegierter Häftlinge.
42 Alizon, L’exercice de vivre (wie Anm. 36), S. 284: „Das erstaunlichste, das erschütterndste Weihnachten meines ganzes Lebens“. 43 Zu den Erzählverfahren, die Charlotte Delbo einsetzt, um den Leser zu erreichen, siehe Binder, „Mon ombre est restée là-bas“ (wie Anm. 25), S. 44–55, die aber auf die Weihnachtsszene in Raisko nicht näher eingeht. 44 Delbo, Une connaissance inutile (wie Anm. 37), S. 85–86: „Sie sangen. Wir gleiten in den Traum. Träumen, dort, an Heiligabend. In unserem Traum wurden unsere Erinnerungen und Hoffnungen fern und fragil. Und unsere Kameradinnen, die nicht das Glück hatten, mit uns in diesem privilegierten Kommando zu sein? Wie verbrachte man Weihnachten im Todeslager? Im Todeslager stand, seit Mitte Dezember eine große Tanne auf dem Platz, die mit wirklichem Schnee bedeckt war. Am Wipfel, ein roter Stern, den eine elektrische Birne erleuchtete. Die Tanne stand neben dem Galgen“.
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Die in der Aufzählung wie en passant genannte „poupée de chiffon“ steht für eine Kategorie von Geschenken, die es in anderen Lagern nicht gab. Die Erzählerin fokussiert einen solchen Kulturgegenstand und zoomt ihn heran: Au bout de la table, une jeune fille caressait un petit ours qu’elle avait reçu. Un ours de peluche rose avec une faveur au cou. ,Regarde, me dit Madeleine, regarde! C’est un nounours! Un nounours d’enfant.‘ Et sa voix s’altéra. Je regardai l’ours de peluche. C’était terrible.45
Was an dem Plüschbär, über den sich das junge Mädchen freut, so schrecklich ist, wird erst in der übergangslos angeschlossenen Rückblende deutlich. Der Blick auf den Bär löste unwillkürlich eine traumatische Erinnerung aus: Un matin que nous passions près de la gare pour aller au champs, notre colonne avait été arrêtée par l’arrivée d’un convoi de juifs. Les gens descendaient des wagons à bestiaux, se rangeaient sur le quai aux ordres que hurlaient des SS. Les femmes et les enfants d’abord. Au premier rang, donnant la main à sa mère, une petite fille. Elle avait gardé sa poupée qu’elle serrait contre elle. Voilà comment une poupée, comment un ours en peluche arrivaient à Auschwitz. Dans les bras d’une petite fille qui laisserait son jouet avec ses vêtements bien pliés, à l’entrée de la douche. Un prisonnier du commando du ciel, comme on nommait ceux qui travaillaient aux crématoires, l’avait trouvé parmi les vêtements entassés dans l’antichambre de la douche et échangé contre des oignons.46
Für Madeleine hat der Plüschbär dieselbe Funktion wie die Puppe für das jüdische Kind: Er ist ein affektbesetzter Stellvertreter der Eltern, der, wo diese schwächeln oder ausfallen, in unübersichtlichen Situationen Halt gibt. Madeleine scheint 45 Delbo, Une connaissance inutile (wie Anm. 37), S. 86: „Am Ende des Tisches streichelte ein junges Mädchen einen kleinen Bär, den sie bekommen hatte. Einen rosa Plüschbär mit einer Schleife um den Hals. / ‚Schau‘, sagte Madeleine zu mir, ‚schau! Ein Teddybär! Ein Kinderbär.‘ Und ihre Stimme wechselte. / Ich schaute den Plüschbär an. Es war schrecklich“. 46 Delbo, Une connaissance inutile (wie Anm. 37), S. 87:„Eines Morgens, als wir am Bahnhof vorbei gingen, um auf die Felder zu gehen, wurde unsere Kolonne von der Ankunft eines Judentransportes aufgehalten. Die Leute stiegen aus den Viehwaggons, stellten sich auf der Rampe in Reih und Glied auf, folgten den Befehlen, die ihnen die SS-Offiziere zubrüllten. Frauen und Kinder zuerst. In der ersten Reihe, an der Hand seiner Mutter, ein kleines Mädchen. Es hatte seine Puppe behalten, die es an sich presste. / So also kamen eine Puppe, ein Plüschbär nach Auschwitz. In den Armen eines kleinen Mädchens, das sein Spielzeug zusammen mit seinen sauber gefalteten Kleidern am Eingang der Dusche zurücklassen würde. Ein Gefangener aus der Himmelskommando, wie man die nannte, die bei den Krematoriumsöfen arbeiteten, hatte es unter den aufgehäuften Kleidungsstücken im Vorraum zur Dusche gefunden und gegen ein paar Zwiebeln eingetauscht“.
Weihnachten im Konzentrationslager
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eigentlich schon zu alt zu sein, um sich mit einem Plüschbären abzugeben, aber sie braucht ihn, weil sie im Lager allein ist. Deshalb bricht ihr die Stimme. Für Delbo sind Bär und Puppe ebenfalls Stellvertreter: Sie stehen für zwei in der Gaskammer von Birkenau ermordete jüdische Kinder. Der gewaltsame Tod eines Kindes ist Voraussetzung dafür, dass Madeleine einen Bär auf dem Gabentisch finden kann. Das Fest der Liebe, mahnt die Erzählerin unerbittlich, ist im Lager nicht ohne den Tod zu haben. Alles andere wäre eine große Illusion. Auf diese Botschaft zielt eine Erzählstrategie ab, die, anders als es bei Simone Alizon geschieht, die Feier an Heiligabend nicht zum Abschluss bringt. Vielmehr bricht die Schilderung in dem Moment ab, da das erzählte Ich beim Anblick des Plüschbären von einem traumatischen flashback an das jüdische Mädchen mit der Puppe im Arm überwältigt wird. Dem erzählten Ich wird in diesem Augenblick schlagartig bewusst, was die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Weihnachtsgeschenkes ist. Das erzählende Ich – genau hier lässt sich die Differenz zwischen literarischem und nicht-literarischem Schreiben markieren47 – macht es sich zur Aufgabe, den Schrecken dieser Erkenntnis („C’était terrible“.) für den Leser erfahrbar zu machen. Ihre Erzählung nimmt den Leser (im doppelten Wortsinn) mit, weil sie ihn zwingt, sich das vorzustellen, was der Text ausspart. Der Tod des Mädchens ist in dem Wort „Dusche“ enthalten, das, wie der Leser wissen muss, ein Euphemismus für die Gaskammer ist. Die Überblendung von abgelegter Puppe und gezeigtem Bär muss der Leser selbst vornehmen, auch wenn ihm die Erzählerin eine plausible Erklärung für den Weg solcher Gegenstände ins Lager liefert. Vor allem aber setzt das erzählende Ich den Leser am Ende einer Schockerfahrung aus, die der des erlebten Ichs durchaus analog ist. Worin besteht der Schock dieser brutalen Gleichsetzung des rosa Plüschbären mit ein paar Zwiebeln? Auf dem Schwarzmarkt eines Konzentrationslagers hat ein Teddybär keinen Wert, da er nicht überlebensnotwendig ist. Das Mitglied des Sonderkommandos, das ihn aufhebt, spekuliert darauf, dass es Häftlinge gibt, die es sich leisten können, auf überlebensnotwendige Nahrungsmittel zu verzichten, um einen Gegenstand zu erstehen, der einen bloß symbolischen Wert besitzt, um sich selbst oder einem Mitgefangenen eine Freude zu machen. Der Preis für den kulturellen Luxusgegenstand ist ein natürlicher Luxusgegenstand: die Zwiebeln. Die Erzählerin, die nicht wissen kann, ob Madeleines Plüschbär gegen Zwiebeln oder gegen Zigaretten eingetauscht wurde, wählt Zwiebeln, weil diese in der zivilisierten Welt außerhalb des Lagers eines der billigsten und banalsten Nahrungsmittel sind und daher in maximaler Distanz zu einem Objekt stehen, das metonymisch ein ermordetes jüdisches Kind vertritt. Diese Gleichsetzung zwingt den Leser zum Nachvollzug der Erkenntnis des erlebten Ichs, das Heiligabend 1943 47 Vgl. hierzu Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 10), S. 339–362.
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Peter Kuon
schockartig begriff, dass ein jüdisches Kind sterben musste, damit eine jüngere Kameradin einen Teddybär geschenkt bekommen konnte. Es ist interessant, dass Charlotte Delbo vom autobiographischen Erzählen ihrer Mitgefangenen Simone Alizon abweicht, um ihre Leser erreichen zu können. Ihr geht es nicht um die subjektiv richtige Erinnerung einer bewegenden Weihnachtsfeier im Lager. Ob die Gabenverteilung in Wirklichkeit vor dem Essen stattfand, wie Alizon schreibt, oder nach dem Essen, spielt keine Rolle. In der narrativen Logik Delbos muss die Gabenverteilung am Schluss stehen, damit der Leser mit den Mitteln einer literarischen Rhetorik zur schockartigen Erkenntnis der Bedingungen einer nur scheinbar gelungenen Weihnachtsfeier im Lagerkomplex Auschwitz gebracht werden kann. Une connaissance inutile ist eines der Bücher, denen es gelingt, das „savoirdéporté“,48 von dem Anne-Lise Stern spricht, an den Leser zu vermitteln. So richtig es ist, die Weihnachtsfeiern als kulturelle Gegenentwürfe zu begreifen, in denen sich die Häftlinge als Kulturwesen affirmieren, so wichtig ist es, daran zu erinnern, dass diesen überlebensnotwendigen „Heterotopien des Lagers“49 der Tod immer inhärent war. Diese Dialektik erklärt die Vorsicht, ja das Unbehagen, mit dem viele Überlebende über das Fest an Heiligabend schreiben. Charlotte Delbo gelingt es, durch ihre „écriture littéraire“ die unauflösbare Einheit von Fest und Vernichtung als Wahrheit der Lagererfahrung, als „vérité essentielle de l’expérience“50 erfahrbar zu machen.
48 Stern, Anne-Lise: Le savoir-déporté. Camps, histoire, psychanalyse. Paris 2004 (La librairie du XXIe siècle), S. 108. 49 Binder, „Mon ombre est restée là-bas“ (wie Anm. 19), S. 3 (im Rückgriff auf Michel Foucault). 50 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie. Paris 1994, S. 136.
Heidi Aschenberg
Sprachterror und Sprachbewahrung im Konzentrationslager Szenario 1: Auschwitz-Monowitz Considerate la vostra semenza: Fatti non foste a viver come bruti, Ma per seguir virtute e conoscenza.1
Eine Terzine aus Dantes Divina Commedia, aus dem sechsundzwanzigsten Kapitel des „Inferno“. Odysseus spricht über seine letzte Fahrt. Eingebettet ist dieser Text in Primo Levis Bericht über den Lageralltag in Se questo è un uomo: es ist Mittag. Suppeholen. Die beiden Häftlinge gehen langsam, um die Zeit bis zur Rückkehr in die Arbeit hinauszuzögern. Der Berichtende schildert, wie er auf diesem Weg in einem Tunnel plötzlich Fragmente aus dem Gesang des Odysseus zitierte und einem Mithäftling zu erklären versuchte. Ecco, attento Pikolo, apri gli orecchi e la mente, ho bisogno che tu capisca […]. Come se anch’io lo sentissi per la prima volta: come uno squillo di tromba, come la voce di Dio. Per un momento, ho dimenticato chi sono e dove sono.2
Szenario 2: Gandersheim Dimanche, il faudra faire quelque chose, on ne peut pas rester comme ça. Il faut sortir de la faim. Il faut parler aux types. Il’y en a qui dégringolent, qui s’abandonnent, ils se laissent crever. Il’y en a même qui ont oublié pour quoi ils sont là. Il faut parler. Ça se passait dans le tunnel, et ça se disait de bête de somme à bête de somme. Ainsi, un langage se tramait, qui n’était plus celui de l’injure ou de l’éructation du ventre, qui n’était pas non plus les aboiements de chiens autour du baquet de rab […].3
1 Levi, Primo: Se questo è un uomo [1957]. In: ders: Opere I. Torino 1987, S. 5–169, hier: S. 109. 2 Levi, Se questo (wie Anm. 1), S. 109. Diese eindringlich geschilderte Szene ist in der Fachliteratur mehrfach kommentiert worden, vgl. Parrau, Alain: Écrire les camps. Courtry 1995, S. 254–261; Garrido Villariño, Xoán Manuel: The paratranslation of the works of Primo Levi. In: Translating Dialects and Languages of Minorities. Challenges and Solutions. Hrsg. von Federici, Federico M. Oxford u.a. 2011, S. 65–88, hier: S. 78. 3 Antelme, Robert: L’Espèce humaine. Paris 1957, S. 201.
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Heidi Aschenberg
Die Häftlinge bauen am vereinbarten Sonntag ein improvisiertes Podest, von dem aus Lieder und Poesie vorgetragen werden. Francis monta sur la planche. […] Heureux qui comme Ulysse a fait un beau voyage… Il disait très lentement, d’une voix monocorde et faible. – Plus fort! criaient des types au fond de la chambre. …Et puis est retourné plein d’usage et raison […].4
Inmitten der Trostlosigkeit des Lageralltags: Odysseus. Odysseus, dessen Irrfahrten lange Jahre dauern, der nach Hause zurückkehrt. Der folgende Vers des bei Les abus de la mémoire zitierten Sonnets von Du Bellay Vers lautet: „Vivre entre ses parents le reste de son âge“. Sprachbewahrung im Konzentrationslager hat viele Formen. Das Zitieren poetischer Texte ist nur eine von ihnen: die Referenz auf literarische Texte eröffnet, wie die Berichte von Levi und Antelme zeigen, eine Dimension der Verständigung, in der die Sprache des Lageralltags und die mit ihr verbundenen Lebenssituationen ausgeblendet werden. Die Häftlinge verwenden oder zitieren bewusst eine andere Sprache. Und das bedeutet für sie, wenngleich auch nur für eine kurze, begrenzte Zeit: Verdrängung von Gedanken an Gewalt und Entbehrung; Ignorieren des Hungers; gedankliche Rückkehr zur zivilen Welt und ihrer Kultur; Zurückweisung der Häftlingsidentität und Bewahrung der zivilen Identität, oder: Überlebenwollen. Im Folgenden sollen verschiedene Ausdrucksformen von Sprachbewahrung vor dem Hintergrund der Alltagskommunikation im nationalsozialistischen Konzentrationslager sprachwissenschaftlich kommentiert werden. Damit ist die Untersuchung nicht auf Kulturproduktion resp. poetische Texte im engeren Sinn eingegrenzt, sondern berücksichtigt auch nicht-poetische Äußerungen, in denen die Betroffenen in der Reaktion und Reflexion auf die ihnen aufgezwungenen barbarischen Lebensumstände diese sprachlich zu überwinden versuchen. Mein Textkorpus umfasst Berichte insbesondere von Überlebenden, die aus Frankeich, Italien und Spanien stammen. Diese Personen befanden sich wie alle, deren Muttersprache nicht Deutsch war, in einer besonderen sprachlichen Situation: offizielle Sprache in allen Lagern war Deutsch. Die eigene Sprache zu verwenden war
4 Antelme, L’Espèce humaine (wie Anm. 3), S. 204.
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den Häftlingen nicht-deutscher Herkunft untersagt.5 Sprachbewahrung hatte für sie schon aus diesem Grund eine besondere Bedeutung.6
Kommunikation im Konzentrationslager: Sprachterror – eine Skizze7 Im nationalsozialistischen Konzentrationslager als Ort einer industriell betriebenen Massenvernichtung entwickelten sich bekanntlich Lebensformen, wie es sie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gegeben hatte. Das Kalkül der Nationalsozialisten zielte auf maximale Ausbeutung von Arbeitskraft bei gleichzeitiger Destruktion menschlicher Individualität und Würde ab.8 Der Lageralltag veränderte grundlegende Orientierungen sozialen Lebens, die sich in den lagerspezifischen Kommunikationsformen unmittelbar widerspiegelten: Die Welt der Konzentrationslager brachte nicht nur abweichende Verhaltensstereotype [...] hervor, auch die dort praktizierte Art der Verständigung trug in Wortschatz und Stilistik eigene Züge. Die sprachlichen Kontakte im Lager waren von der unmenschlichen Situation geprägt und mit Brutalismen, mit ordinären Verwünschungen und Ausrufen gesättigt. Man kann diese entartete lagerszpracha [Lagersprache] [...] als sprachpathologisches, bereits Geschichte gewordenes Phänomen ansehen, denn es gibt nicht mehr viele ehemalige Häftlinge, die sich im engen Kreis noch dieses Jargons bedienen.9
5 Vgl. dazu die Schilderungen in Levi, Se questo (wie Anm. 1), S. 32. Wie Levi ebenfalls ausführt, konnte das Nichtverstehen deutscher Kommandos tödliche Folgen haben. Viele Italiener seien aus diesem Grund im Lager umgekommen. Vgl. Levi, Primo: I sommersi e i salvati [1986]. In: ders.: Opere II. Torino 1988, S. 997–1153, hier: S. 1064. 6 Ich werde in diesem Aufsatz relativ häufig aus den Quellentexten wörtlich zitieren: die Äußerungen der Überlebenden sollen zunächst für sich selbst sprechen. 7 Ausführlich habe ich dieses Thema in einem Aufsatz untersucht: Aschenberg, Heidi: Sprachterror. Kommunikation im nationalsozialistischen Konzentrationslager. In: Zeitschrift für romanische Philologie 118, Heft 4 (2002), S. 529–571. Ich werde mich im Folgenden auf einige Abschnitte dieser Studie beziehen, um anschließend Motive und Ausdrucksformen der Sprachbewahrung im Lager klarer konturieren zu können. 8 Vgl. dazu die philosophische Analyse von Reinhold Aschenberg: Ent-Subjektivierung des Menschen. Lager und Shoah in philosophischer Reflexion. Würzburg 2003. 9 Jagoda, Zenon, Stanislaw Klodzinski u. Jan Maslowski: ‚bauernfuss, goldzupa, himmelautostrada‘. Zum ‚Krematoriumsesperanto‘ der Sprache polnischer KZ-Häftlinge. In: Die AuschwitzHefte. Texte der polnischen Zeitschrift Przeglad Lekarski über historische, psychologische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Hrsg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Aus dem Polnischen übersetzt von Jochen August. Weinheim/Basel 1987, 2, S. 241–260, hier: S. 241.
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Heidi Aschenberg
Wie u.a. Sofsky in seiner soziologischen Analyse gezeigt hat,10 wurden durch die Ordnung des Terrors alle Lebensbereiche im Konzentrationslager reglementiert, zum Beispiel die folgenden: –– Raum: die Lager bilden geschlossene, von der Außenwelt abgeschottete Räume; –– Zeit: Zeit ist strikt reglementiert durch Appelle und lange Arbeitsphasen; es gibt keine Zukunftsperspektive; –– Arbeit: Arbeit bedeutet nicht Sicherung des Lebensunterhalts, sondern Überlastung und Einbindung in z.T. sinnlose, oft todbringende Tätigkeiten; –– soziale Beziehungen: die Häftlinge sind von ihren Familien getrennt, alle Sozialkontakte unterliegen strenger Kontrolle; die Häftlinge leben in ständiger Bedrohung durch Gewalt und willkürliche, brutale Bestrafungen.11 Der in diesem Sinn durch Terror beherrschte Lageralltag einer multilingualen Lagersozietät12 erzeugt veränderte Kommunikationsformen und eine veränderte Haltung des Einzelnen gegenüber seiner Sprache. Die einzigartigen Lebensbedingungen der Lager artikulieren sich in einer ebenso einzigartigen sprachlichen Situation. Um diese entsprechend der Analyse von Sofsky zu qualifizieren, habe ich den Begriff Sprachterror gewählt. Voraussetzung von Sprachterror ist eine extrem asymmetrische Kommunikationssituation, die der sozialen Polarisierung in Lagerpersonal und Häftlinge entspricht.13 Sprachterror bedeutet u.a.: Kommunikationsverbot während der Arbeit; Vorschrift, die deutsche Sprache zu verwenden; Verbot für die nicht-deutschen Häftlinge, ihre Muttersprachen zu gebrauchen; Unterbindung von Ausdrucksformen der zivilen Welt; sprachliche Diskriminierung. Die im Konzentrationslager verwendete Sprache ist depraviert und reduziert, phonetisch, lexikalisch, syntaktisch und pragmatisch (s.u.). In linguistischer Hinsicht lassen sich zunächst drei sprachliche Varietäten isolieren:14
10 Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M. 1997. Sofsky untersucht nicht ein bestimmtes Lager, es handelt sich vielmehr um eine prototypische Analyse. 11 Vgl. Aschenberg, Sprachterror (wie Anm. 7), S. 532f. 12 In den Konzentrationslagern waren, je nach Standort, Häftlinge aus bis zu vierzig verschiedenen Nationen interniert. Vgl. Oschlies, Wolf: ‚Lagerszpracha‘. Zur Theorie und Empirie einer KZ-spezifischen Soziolinguistik. In: Zeitgeschichte. 13. Jahr, Heft 1, S. 1–27, hier: S. 3. 13 Dabei wird nicht übersehen, dass ein Teil des Lagerpersonals aus dem Häftlingskollektiv rekrutiert wurde, zum Beispiel die Kapos; diese verhalten sich sprachlich zumindest dann, wenn sie beobachtet werden können, wie das übrige Lagerpersonal. 14 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Aschenberg, Sprachterror (wie Anm. 7), S. 549–566; auf diesen Seiten finden sich zahlreiche Beispiele und Belege für die im Konzentrationslager verwendeten Sprachen und Sprechweisen.
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1. die deutsche Sprache als offizielle Sprache der Lager: sie wird verwendet in administrativen Schriftstücken, zum Teil auch in der mündlichen Kommunikation. Die neuen Realitäten werden mit neuen, kryptischen Begriffen benannt, deren sondersprachliche Bedeutung nur denjenigen verständlich ist, die die Situation im Lager kennen: Effektenkammer, Sonderbehandlung, Sonderkommando, Gaskammer, abtransportieren etc. 2. Sprachverwendung des Lagerpersonals: das Lagerpersonal spricht grundsätzlich nur Deutsch mit den Häftlingen, allerdings ein depraviertes, vulgäres Deutsch; auch im sprachlichen Umgang mit den Häftlingen äußern sich die auf Destruktion ihrer Personalität abzielenden Strategien der Lagerbetreiber: die Häftlinge wurden nicht mit ihren Namen angesprochen, sondern diskriminiert durch die Anrede mit Stück, Hund, der Nummer ihrer Tätowierung und die Verwendung skatologischer Lexeme. Ein Wort wie Scheisse war im Lageralltag omnipräsent: „A Mauthausen, Ebensee et d’autres bagnes, Scheisse ponctuait toutes les conversations, était le condiment obligatoire de tous les discours, soulignait les brèves injonctions des S.S., les ordres des capos, les remarques des surveillants et les réflexions des déportés de langue allemande“.15 – Vorherrschende Sprechakte im Sprachgebrauch des Personals sind Befehle und Drohungen. Die Sprechweise des Personals wird in den Texten der Überlebenden häufig mimetisch nachgeahmt, die in diesem Zusammenhang verwendeten redeaktbezeichnenden Verben sind schreien, heulen, anschnauzen, brüllen usw. 3. Sprachverwendung der Häftlinge: hier ist natürlich genauer nach Häftlingsgruppen zu differenzieren. Dazu nur ein paar allgemeine Bemerkungen. Die nicht-deutschen Häftlinge sprechen, sofern sie nicht schon vor der Einlieferung ins Lager über Deutschkenntnisse verfügen, ein in jeder Hinsicht stark reduziertes Deutsch, das sie im Lager erlernen und das durch sondersprachliche Elemente geprägt ist. Untereinander, wenn die Situation es erlaubt, verwenden sie ihre Muttersprache, wobei auch das Sprechen in der Muttersprache häufig mit Lexemen aus dem Lagerargot durchsetzt ist, denn nur so können die Häftlinge über die mit den Konzentrationslagern entstandenen Lebensbedingungen kommunizieren.16 Außerdem finden sich in den Berich15 Maurice Defieu, Récit d’un revenant, zit. nach: Tragédie de la déportation 1940–1945. Témoignages de survivants des Camps de concentration allemands. Hrsg. von Wormser, Olga u. Henri Michel. Paris 1954, S. 66. Das Wort Scheisse wurde außerdem mit einer sondersprachlichen Bedeutung verwendet, nämlich als Bezeichnung für Leichen, insbesondere für Kinderleichen. Vgl. dazu Borwicz, Michel: Écrits des condamnés à mort sous l’occupation nazie (1939–1945). Saint-Amand 1996, S. 200. 16 Cf. dazu Cressot, Marcel: Le parler des déportés français de Neuengamme. Le Français Moderne XIV, 1946, S. 11–17; Esnault, Gaston: L’argot des déportés en Allemagne. En marge de
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ten von Überlebenden Hinweise auf einen deutschbasierten internationalen Sabir,17 der sich aus Elementen verschiedener Sprachen zusammensetzt und zwischen Häftlingen unterschiedlicher Nationalität verwendet wird: zum Beispiel „nix verstehen, nix compris“ (nix wird durchgängig als Negationspartikel gebraucht), avanti wird aus dem Italienischen entlehnt, organisieren aus dem Französischen mit der Bedeutung „stehlen“.
Beschreibung der sprachlichen Situation im Konzentrationslager durch die Überlebenden In den Texten Überlebender finden sich in der Regel vielfältige sprachliche und metasprachliche Verfahren, um die im Lager erlebte Situation mitzuteilen. Auch diejenigen, die in ihrem zivilen Leben sich nicht aus beruflichen Gründen oder aus Interesse mit Sprache beschäftigt haben, sind sich der depravierten Kommunikation im Lager und deren destruktiver Auswirkungen bewusst. Sie beobachten den Sprachgebrauch im Alltag, denken über ihn nach und leiden an ihm. Die Spannweite der Ausführungen zur Sprache im Lager reicht von Beschreibungen und Kommentaren zur Kommunikation,18 über szenische Darstellungen bis hin zu Reflexionen über die Frage, inwieweit die Erfahrung des Lagers überhaupt mitteilbar sei. Dazu ein paar ausgewählte Beispiele: Ein besonders tiefer Einschnitt für alle Betroffenen war die Ankunft im Lager. Antelme beschreibt den Schock beim erstmaligen Anblick eines Arbeitskommandos in Buchenwald folgendermaßen: „Quand on a vu en arrivant à Buchenwald les premiers rayés qui portaient des pierres ou qui tiraient une charrette à laquelle ils étaient attachés par une corde, leurs crânes rasés sous le soleil d’août, on ne s’attendait pas à ce qu’ils parlent. On attendait autre chose, peut-être un mugissement ou un piaillement“.19 Diese knappen Sätze halten die ersten Eindrücke der barbarischen Lebensumstände im Lager in klaren Worten fest: der Neuankömmling nimmt die schon länger im Lager lebenden und arbeitenden Häftlinge Neuengamme. Le Français Moderne XIV, 1946, S. 165–167; Eyot, Y.: L’argot de Dachau. Le Français Moderne XIV, 1946, S. 167–168. 17 Unbegaun, B.-O.: Les argots slaves des camps de concentration. In: Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg 108. Mélanges 1945. Études linguistiques. Paris 1947, S. 177–193. 18 Cf. dazu insbes. die Ausführungen von Levi im Kapitel „Comunicare“ in: Levi, I sommersi (wie Anm. 5), S. 1059–1072 und die bereits zitierte Studie von Borwicz, Écrits (wie Anm. 15); vgl. ebenfalls die Aufsätze von Cressot, Esnault und Unbegaun (vgl. Anm. 16 und 17). 19 Antelme, L’Espèce humaine (wie Anm. 3), S. 100f.
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bar aller menschlichen Qualitäten und Würde wahr. Wie Tiere kommen sie ihm vor, wie Arbeitstiere, so dass ihm angesichts ihres Anblicks Tierlaute erwartbarer erscheinen als menschliche Rede. – Dass der Verlust der Kommunikationsfähigkeit oder auch die Verweigerung von Kommunikation im Lager tatsächlich eintreten konnten, wird durch Levi bestätigt. Er weist darauf hin, dass es ein bedrohliches Symptom war, wenn ein Häftling nicht mehr kommunizierte: „l’accettare l’eclissi della parola […] segnalava l’approssimarsi dell’indifferenza definitiva“.20 Der Verzicht auf Kommunikation ist Anzeichen für die Selbstaufgabe des Häftlings: Sprachverlust bedeutet Identitätsverlust. Ein weiterer, tiefer Schock, der in vielen Texten von Überlebenden beschrieben wird, resultiert aus der unmittelbar bei der Ankunft im Lager sich einstellenden Erkenntnis, dass die Pervertiertheit und Brutalitäten des Lagerlebens in den Sprachen der zivilen Welt nicht aussagbar sind. Dazu schreibt Neus Català, Herausgeberin einer Anthologie von Berichten spanischer Frauen aus der Résistance, die in Ravensbrück interniert gewesen waren: „Ravensbrück (Puente de los cuercos). ¿Quién será capaz de describir un día la primera impresión? No he encontrado a nadie que haya dado la respuesta, ni por aproximación, de lo que sentí al traspasar las puertas de un campo de exterminio. No se han inventado palabras para describirlo“.21 Die Diskrepanz zwischen dem Erlebten und der Schwierigkeit, es sprachlich zu vermitteln, wird keineswegs als bloß transitorisch erfahren, sie vertieft sich vielmehr noch im Lauf eines längeren Aufenthalts im Lager, wie Antelme feststellt: Et dès les premiers jours cependant, il nous paraissait impossible de combler la distance que nous découvrions entre le langage dont nous disposions et cette expérience que, pour la plupart, nous étions encore en train de poursuivre dans notre corps. [...] Cette disproportion entre l’expérience que nous avions vécue et le récit qu’il était possible d’en faire ne fit que se confirmer par la suite.22
Für die Betroffenen selbst stellt sich das Auseinanderklaffen zwischen Sprache und Erleben zunächst als ein semantisches Problem dar. Dies betrifft nicht nur die Bezeichnung der mit den Lagern entstandenen Realitäten, die mit dem Wortschatz der zivilen Sprachen allenfalls paraphrasierend denotiert werden können und in der Regel in den deutschen wie in den nicht-deutschen Texten mit den lagerspezifischen Lexemen benannt werden, sondern auch die Semantik der 20 Levi, I sommersi (wie Anm. 5), S. 1069. 21 Català, Neus (Hrsg.): De la resistencia a la deportación. 50 testimonios de mujeres españolas. Barcelona (o.J.), S. 23. 22 Antelme, L’Espèce humaine (wie Anm. 3), S. 9.
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gemeinsprachlichen Wörter.23 So bemerkt Levi, dass Lexeme wie Hunger, Müdigkeit, Angst, Schmerz, Winter als Elemente der zivilen Sprachen gar nicht ausdrücken können, was sie im Lager wirklich bedeuten.24 Ein häufig gewähltes Verfahren, um die Lebensverhältnisse im Lager sprachlich zu vermitteln, ist, wie bereits erwähnt, die szenische Darstellung in direkter Rede. Sie erlaubt es, die im Umgang mit den Häftlingen sprachlich reduzierten Drohungen und Befehle des Lagerpersonals ebenso nachzubilden wie die defizitäre, durch sondersprachliche Elemente und Polyglossie bestimmte Kommunikation der Häftlinge untereinander. Dazu eine kleine Szene noch einmal aus Antelme: – Qu’est-ce qué tou as? demande le toubib en français. [...] – Vas-tou té réléver? Le stubendienst italien intervient en italien: – Veux-tu obéir au docteur? [...] – Tou peux té rhabiller. Le vieux enfile sa chemise et sa veste. Il est prêt, il attend. – Qu’est-ce qué tou attends? demande le toubib. Il se risque: – Schonung? – Schonung? Allez, allez lavorare Mussolini, lavorare....25
Diese Szene, die sich zwischen einem spanischen Arzt, einem italienischen „Stubendienst“ und einem italienischen kranken Häftling abspielt, zeigt durch metasprachliche Markierung das Aufeinandertreffen und die Vermischung von Elementen aus verschiedenen Sprachen, die in eine rudimentäre Syntax eingebunden erscheinen. Die Interferenzen zwischen dem Spanischen und dem Französischen werden im Sprechen des Arztes phonetisch gekennzeichnet (tou, té, qué); die auf Französisch wiedergegebene Äußerung des „Stubendienstes“ wird durch einen Kommentar als eigentlich italienisch qualifiziert und das einzige, in einer Einwortfrage geäußerte Wort des Kranken (Schonung) ist bezeichnenderweise ein kursiv hervorgehobenes deutsches sondersprachliches Lexem, das
23 Als stellvertretendes Beispiel sei der von David Rousset bereits 1945 verfasste und in drei Folgen ab Dezember 1945 in der Revue Internationale verfasste Text L’Univers concentrationnaire (Neudruck Paris 1965) genannt, in dem lagerspezifische Realienbenennungen wie Krematorium (S. 32), Vorarbeiter, Meister (S. 34), Sonderkommando (S. 56), Arbeitseinsatz (S. 134) erstaunlicherweise ohne weitere Erläuterung für den französischen Leser verwendet werden. 24 Vgl. Levi, Se questo (wie Anm. 1), S. 119f. 25 Antelme, L’Espèce humaine (wie Anm. 3), S. 173f.
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seine Hoffnung auf zeitweilige Befreiung von der Arbeit und einen Aufenthalt im „Revier“ (in der Krankenstation) zum Ausdruck bringt. Natürlich erhalten wir durch derartige Zeugnisse kein authentisches Sprachmaterial, das uns eine empirisch zufriedenstellende Basis für linguistische Analysen liefern könnte. Auf der Grundlage vieler Einzelbeobachtungen26 und sprachlicher Nachbildungen können wir jedoch Eindrücke gewinnen von der lagerspezifischen Kommunikation, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: das durch Terror reglementierte Leben im Konzentrationslager, die maximale Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge und die auf Destruktion von Subjektivität und Menschenwürde abzielenden Organisationsformen des Lagerlebens und Verhaltensweisen des Lagerpersonals haben das soziale Leben und die Kommunikationsformen der im Lager internierten Menschen zutiefst beschädigt. Sondersprachliche Lexeme und Phraseologismen, skatologische Ausdrücke, eine rudimentäre Syntax, Befehle und Drohungen als vorherrschende Sprechakte des Lagerpersonals, die unzulängliche Beherrschung der „offiziellen“ Sprache Deutsch in einer Situation extremer Polyglossie sind typische Elemente des verrohten Sprachgebrauchs, Ausdruck der Lebensumstände im Lager. Die Häftlinge sind sich dessen bewusst. Sie erleben die Sprache als eine weitere Komponente der Beschädigung ihrer Personalität. In den Berichten der Überlebenden wird in vielfältiger Weise darauf hingewiesen: durch Zitat, Kommentar, Reflexion und szenische Nachbildung. Vor dem Hintergrund dieser Situation artikuliert sich das für linguistische Analysen in jeder Hinsicht relevante Sprachbewusstsein einer Gemeinschaft im Falle der Lagersozietät jedoch auch noch auf andere Art: unter dem Titel Sprachbewahrung sollen im Folgenden weitere sprachliche Verhaltensweisen der Betroffenen auf den Alltag im Konzentrationslager aufgezeigt werden.
Sprachbewahrung im Lager Wie in den Berichten von Überlebenden übereinstimmend dargelegt wird, gab es seitens der Häftlinge in den Konzentrationslagern vielfältige Versuche, Kulturformen der zivilen Welt aufleben zu lassen, um sich von der aufgezwungenen Häftlingsexistenz wenigstens zeitweilig zu distanzieren. Insbesondere in den wenigen Stunden, die nicht mit Arbeit ausgefüllt waren, also bevorzugt abends
26 Vgl. dazu auch die in meinem Aufsatz Sprachterror (wie Anm. 7) auf S. 568f. in der Bibliographie aufgeführten Quellentexte und Dokumente.
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und an Sonntagen, führten die Häftlinge wissenschaftliche Diskussionen, veranstalteten Konzerte und Theatervorführungen und rezitierten poetische Texte.27 Den Begriff Sprachbewahrung möchte ich in diesem Zusammenhang verwenden, um diejenigen sprachlichen Ausdrucksformen der Häftlinge zu bezeichnen, mit denen sie sich von ihrem Alltag abzuwenden oder ihn zu beherrschen versuchen. Distanzierung vom im Lageralltag üblichen Sprachgebrauch ist, mehr oder weniger bewusst, eine von vielen Überlebensstrategien, die die Betroffenen ergreifen, um nicht zu resignieren und um das Leben im Lager überhaupt zu ertragen. So heißt es bei Parrau: „Écriture, lecture, mémoire ravivée d’œuvres littéraires: ces activités, avec les risques qu’elles comportent, témoignent de la persistance acharnée d’un lien à la littérature comme résistance à l’oppression, affirmation d’une liberté“.28 Welche Ausdrucks- und Diskursformen die Häftlinge jeweils suchten, ob alltagssprachliche Ausdrucksverfahren, ob Rezitation von literarischen Texten, ob Abfassung von eigenen Liedern und Texten – all dies hat mit ihrer Herkunft, ihrem Alter und mit ihrer Bildung zu tun. Wiederum sollen im Folgenden die Texte zunächst durch sich selbst sprechen; anschließend werden die in ihnen sich jeweils artikulierenden Formen von Sprachbewahrung kurz erläutert.
Alltagssprache Sprachbewahrung im Lager kann sich in der Alltagskommunikation manifestieren, sie resultiert dann aus einer bewussten Haltung gegenüber der Lagersituation und der Sondersprache des Lagers. Aus der Einstellung der Häftlinge gegenüber den im Lager verwendeten sprachlichen Varietäten (language attitudes) entwickeln sich sowohl individuelle wie auch innerhalb der Lagersozietät usualisierte sprachliche Strategien und Verfahren. Das erste Beispiel stammt wieder aus Antelme. Der Berichtende beobachtet sein eigenes Sprachverhalten im Lager und bemerkt dazu: Quand je suis près d’un Allemand, il m’arrive de parler le français avec plus d’attention, comme je ne le parle pas habituellement là-bas; je construis mieux la phrase, j’use de toutes les liaisons, avec autant de soin, de volupté que si je fabriquais un chant. [...] Ils peuvent beaucoup mais ils ne peuvent pas nous apprendre un autre langage qui serait celui du détenu […].29
27 Vgl. dazu u.a. Borwicz, Écrits (wie Anm. 15), S. 127–138. 28 Parrau, Écrire les camps (wie Anm. 2), S. 225. 29 Antelme, L’Espèce humaine (wie Anm. 3), S. 51.
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Die Bemühung um die eigene Sprache, den Willen, im Lageralltag sorgfältiger Französisch zu sprechen als in Frankreich – phonetisch, syntaktisch und stilistisch – deutet der Berichtende selbst als Widerstand gegen die aufoktroyierte Häftlingssprache und -identität. Durch den reflektierten Gebrauch des Französischen, der wegen der Regelungen im Lager nicht jederzeit und an jedem Ort möglich ist, entzieht sich der Berichtende dem deutschen Lagerjargon und der Verrohung, deren Ausdruck er ist. Das folgende Beispiel stammt aus der bereits zitierten, von Olga Wormser publizierten Anthologie Tragédie de la Déportation. „A Ravensbruck, fleurit la poésie, et, plus fréquent et aussi tonique, le bobard“: unter diesem Titel steht ein Auszug aus dem Bericht der Ärztin Paulette Don Zimmet über das Leben der Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück. Die Zuflucht zur Dichtung und zum bobard wird von der Ärztin als “une sorte de thérapie psychique“ beschrieben, die von den Frauen eingesetzt wird, um sich psychisch zu schützen und den Mut nicht zu verlieren. Besonders interessant ist, dass mit dem bobard eine besondere Textform vorliegt, die in Ravensbrück eine wichtige Funktion im Lageralltag hatte. Der bobard ist eine Bezeichnung aus dem „langage familier“, die Definition lautet: „propos fantaisiste et mensonger qu’on imagine par plaisanterie pour tromper ou se faire valoir; fausse nouvelle“.30 Wie beschreibt die Autorin Bedeutung und Funktion des bobard im Konzentrationslager? Le ,bobard‘ naît on ne sait d’où; c’est souvent un produit d’imagination qui éclôt à la faveur d’un mot entendu, d’un lambeau de phrase interprété. Comme dans la vie normale, dans les camps d’hommes, dans les camps de femmes, il y a deux sortes de ,bobards‘ dépendant du psychisme de ceux qui l’engendrent, le propagent, l’écoutent, l’amplifient et y croient: le bobard né de l’espoir et celui né de la crainte. […]. En prison, au camp, le bobard pessimiste, le bobard-tant-pis est rare. S’il éclôt, il est violemment combattu. […] par contre, né de la misère, le bobard optimiste éclôt, se propage en grandissant et réconforte toujours. […]. Combien de fois avons-nous été réconfortées par ce ,bobard‘: ,On a lancé des tracts dans le camp!‘ ,Alors ils pensent à nous‘, était notre réponse.31
Besonders zur Zeit des Vorrückens der Roten Armee im Sommer 1944 haben die zahlreichen bobards im Konzentrationslager Ravensbrück, wie die Autorin ausführt, zu großer Aufregung geführt, zum Beispiel als eine Insassin eines Tages erklärt habe: „J’ai reçu un télégramme du maréchal Staline ainsi conçu: ‚Mesdames de Ravensbruck, n’allez pas plus vite que l’Armée Rouge‘“.32 30 Petit Robert. Paris 2011, S. 269. 31 Zitiert nach Wormser/Michel (wie Anm. 15), Tragédie, S. 280. 32 Zitiert nach Wormser/Michel (wie Anm. 15), Tragédie, S. 281.
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Die kurzen, syntaktisch und semantisch einfach formulierten Botschaften der bobards waren sicherlich schon aufgrund ihrer sprachlichen Beschaffenheit bestens geeignet, schnell verbreitet zu werden, ohne die Aufmerksamkeit des Wachpersonals zu erregen. Flüsternd wurden sie weitergegeben, auch wenn berechtigte Zweifel an der Authentizität der Nachricht bestanden. Besonders die Kranken seien, wie Paulette Don Zimmet berichtet, empfänglich für die bobards gewesen, und sie habe sie oft gegenüber ihren an Tuberkulose erkrankten Mithäftlingen verwendet: „Le bobard fut utile. Il nous a distraites et bien souvent nous a redonné du courage“.33
Literaturzitate Literaturzitate, eine weitere Form der Sprachbewahrung, haben für die Häftlinge je nach Situation verschiedene Bedeutungen: Anknüpfen an kulturelle Traditionen der zivilen Welt, Schutz der eigenen Identität im Lageralltag und, besonders wichtig, Einbindung des Einzelnen in eine solidarische Gemeinschaft durch Rekurs auf ein gemeinsames kulturelles Wissen. Dies zeigt sich bereits in den eingangs wiedergegebenen Textpassagen von Levi und Antelme. In der von Levi geschilderten Szene bewirken die vom berichtenden Ich spontan zitierten und dem Mithäftling erklärten Verse aus Dantes Divina Commedia ein punktuelles Abrücken von der erlebten Realität, und, auch wenn die Passage nur bruchstückhaft ins Gedächtnis gerufen werden kann, Selbstvergewisserung des Ich; bei Antelme findet das Zitieren von Literatur an einem Sonntag in einer von den Häftlingen eigens organisierten Zusammenkunft statt, um Hunger, Entbehrung und Gewalt für begrenzte Zeit zu vergessen. Über die Frauen in Ravensbrück berichtet Paulette Don Zimmet, dass sie literarische Zitate im Flüsterton während der Morgenappelle in der Kälte kursieren ließen: „Les matins glacés à l’appel, des réminiscences de vers de Verlaine couraient à mots chuchotés dans les rangs. Le poème étant tant bien que mal reconstitué“.34 Dies sei eine der „Therapien“ gewesen, mit der sich die Frauen dem Hunger, dem Elend und der Demoralisierung widersetzt hätten. Und schließlich werden literarische Texte in den ganz extremen Situationen des Lagerlebens zitiert, nämlich dann, wenn ein Mithäftling stirbt. Dazu zwei Beispiele aus Semprúns L‘écriture ou la vie. In der ersten Passage wird das Sterben
33 Zitiert nach Wormser/Michel (wie Anm. 15), Tragédie, S. 280. 34 Zitiert nach Wormser/Michel (wie Anm. 15), Tragédie, S. 279.
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von Maurice Halbwachs35 geschildert. Der Berichtende ist sich der „nécessité d’une prière“ bewusst, spricht jedoch ein Gedicht von Baudelaire, da ihm nichts anderes, das zur Situation passen könnte, einfällt: Ô mort, vieux capitaine, il est temps, Levons l’ancre… Le regard de Halbwachs devient moins flou, semble s’étonner. Je continue de réciter. Quand j’en arrive à … nos cœurs que tu connais sont remplis de rayons, un mince frémissement s’esquisse sur les lèvres de Maurice Halbwachs. Il sourit, mourant, son regard sur moi, fraternel.36
In der zweiten Passage begleitet das berichtende Ich das Sterben von Diego Morales. Hier ist es ein Gedicht zum spanischen Bürgerkrieg, von César Vallejo, das er für den Sterbenden spricht, der auf der Seite der Republikaner gekämpft hatte: Non, je ne voyais qu’un seul texte à lui réciter. Un poème de César Vallejo. L’un des plus beaux de la langue espagnole. L’un des poèmes de son livre sur la guerre civile, España, aparte de mí este cáliz: Al fin de la batalla, Y muerto el combatiente, vino hacia él un hombre Y le dijo: „No mueras, te amo tanto!“ Pero el cadáver ¡ay! siguió muriendo…37
Anstelle eines Gebets: Gedichtverse in der Muttersprache der Sterbenden, aus dem Literaturkanon spontan erinnert, der Situation und dem sterbenden Freund jeweils entsprechend. Anstelle des Schweigens: Poesie, Sprachbewahrung angesichts des Todes im Lager. Es ist ein Versuch, den Freunden in der Stunde ihres Sterbens mit Versen aus der französischen und spanischen Dichtung das Leben in der zivilen Welt und die Zugehörigkeit zu dieser Welt aufscheinen zu lassen. Ihre Würde soll unter den unwürdigsten Umständen geschützt werden.
35 Maurice Halbwachs hatte als Professor für Soziologie an der Sorbonne gelehrt. Seine Söhne hatten sich der Résistance angeschlossen und Halbwachs wurde in „Sippenhaft“ genommen und nach Buchenwald deportiert. Dort erkrankte er und starb an den Folgen der Überlastung durch Arbeit. 36 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie. Paris 1994, S. 37f. 37 Semprún, L’écriture (wie Anm. 36), S. 251.
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Häftlingspoesie Das Bemühen der Häftlinge, durch Bewahrung der eigenen Sprache der lebensbedrohenden Situation im Konzentrationslager zu begegnen, äußert sich nicht zuletzt in den vielen Texten, die in den Lagern verfasst worden sind. Die Texte der Häftlinge entstehen unter besonderen Bedingungen. Dies hängt zum einen mit den extremen Lebensumständen zusammen, denen sie ausgesetzt sind, zum anderen aber auch mit den daraus folgenden konkreten Umständen des Schreibens und den materiellen Gegebenheiten. Wann überhaupt haben die Betroffenen Zeit, Texte zu entwerfen, sich mit dem Erlebten – in welcher Form auch immer – diskursiv auseinanderzusetzen? Wo gibt es Raum und Abgeschiedenheit, dies zu tun? Viele Texte entstehen am Abend oder in der Nacht. Wegen des Mangels an Papier und Bleistiften ist die bevorzugte Gattung das Gedicht. Dazu heißt es bei Parrau: „La poésie, en particulier, prend une importance cruciale, parce qu’elle se révèle beaucoup mieux adaptée aux conditions du camp que la prose. […] Grâce à sa concision, le poème peut s’imposer dans les circonstances les plus dures, surgir à la conscience et y inscrire le rythme même de la parole qui dit le refus d’une condition“.38 Die Häftlinge schreiben auf Toilettenpapier, sie ritzen ihre Botschaften in Wände und Mauern. Einige Häftlinge können ihre Gedichte gar nicht aufschreiben, der Ort ihrer Texte ist das Gedächtnis.39 Die Verfasser kommen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten, sie haben Erfahrung mit dem Schreiben oder auch nicht. Ihre Texte sind sehr verschiedenartig.
Belzec Als erstes Beispiel sei hier ein kleines Lied zitiert, das von einem elfjährigen Mädchen im Lager Lwow/Lemberg auf Polnisch verfasst und aufgeschrieben wurde. Ich gebe die bei Borwicz im Kapitel „Écrits des condamnés-enfants“ auf Französisch zitierten Verse wieder: Vers Belzec, vers Belzec, vers Belzec A la mort, à la mort, à la mort.40
Borwicz bemerkt zu diesen Versen, dass sie nach dem Modell eines in Polen vor dem Krieg allgemein bekannten Kinderlieds abgefasst worden seien. Das mit „Lokomotive“ betitelte Lied sei in seiner Originalfassung fröhlich, durch onoma38 Parrau, Écrire (wie Anm. 2), S. 223. 39 Vgl. Borwicz, Écrits (wie Anm. 15), S. 374. 40 Borwicz, Écrits (wie Anm. 15), S. 357.
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topoetische Effekte geprägt und – dies lässt sich auch der französischen Version entnehmen – durch einen schlichten, eingängigen Rhythmus. Das Mädchen habe die makabren Bilder des im Lager Erlebten mit der Struktur des Kinderlieds verschmolzen: „C’est ainsi que son ouvrage constitue un mélange de deux réalités excessivement différentes: l‘,érudition‘ d’un petit enfant d’avant-guerre, appliquée aux expériences des enfants de l’an de grâce 1942-43“.41 Mit diesem und anderen Textbeispielen will Borwicz zeigen, dass sowohl bei den ungeübten wie auch bei den erfahrenen oder gar professionellen Verfassern von Texten die Rückbesinnung auf ihnen aus der eigenen Kultur und Sprache bekannte volkstümliche oder genuin literarische Textmuster eine wichtige Grundlage für das eigene Schreiben boten.
Otage Der folgende Text stammt aus der 1946 von André Verdet veröffentlichten Anthologie des poèmes de BUCHENWALD,42 er wurde von Yves Boulogne, einem jungen Lehrer, verfasst: OTAGE Il a connu les jours sans pain, les jours sans fin Il a connu les poux Il a connu les coups, Mais la mort, il ne sait pas. On lui a dit: „Demain, à l’aube…“ Et ses dents ont meurtri son cœur. Il songe… Il songe à ses camarades, A ceux qu’il a connus, Les justes, les lâches À ceux qui luttent par le monde, Libres… Il songe surtout à sa mère et à ce beau sourire…
Et sa bouche a un goût d’aigrelle.
41 Borwicz, Écrits (wie Anm. 15), S. 358. Zu den Zeugnissen von Kindern über die Lager führt Borwicz aus, dass diese meist mündlich waren und nach dem Krieg von Erwachsenen redigiert wurden. Borwicz verweist in diesem Zusammenhang auf zwei erhaltene Tagebücher von polnischen Kindern. Vgl. dazu das Kapitel „Écrits des condamnés-enfants“, in: Borwicz, Écrits (wie Anm. 15), S. 384–394. 42 Verdet, Henri (Hrsg.): Anthologie des poèmes de BUCHENWALD. Paris 1946, S. 18f.
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Demain, à l’aube… C’est drôle une mort anonyme Au petit jour. Il chantera, peut-être criera-t-il ? Il voudrait un peu de lumière, un morceau d’azur. Il voudrait… Somme toute, c’est bien ainsi. Il a fait ce qu’il fallait faire. D’autres iront sur la route, la grand’route.
Der Text erhält seine Versstruktur maßgeblich durch die Zeileneinteilung und ihre Anordnung im Druckbild. Die Diktion ist schlicht: eine einfache Syntax, die dominante Struktur sind Parallelismen; vier Ellipsen im gesamten Text indizieren Nicht-Gesagtes: Antizipiertes (die Hinrichtung bzw. Ermordung im Morgengrauen), Erinnertes (die Freunde, die Mutter) und Gewünschtes (il voudrait…). Tempora und Modi sind diesen drei angezeigten Lebensperspektiven angepasst: das Futur bezeichnet das Verhalten während der Hinrichtung (il chantera, il criera, durch peut-être modalisiert); mit der Angabe des Sprechzeitpunkts im Präsens wird über das Verb songer die Dimension der Erinnerung eröffnet; das Konditional (letzte Strophe) drückt die Sehnsüchte aus. In der ersten Strophe wird mit dem passé composé eine unmittelbar zurückliegende Vergangenheit bezeichnet. In der letzten Strophe erscheinen alle im Gesamttext verwendeten Tempora und Modi miteinander verbunden (in der Abfolge: Konditional, Präsens, passé composé, das Futur bezeichnenderweise im letzten Vers). Auffällig sind die nähesprachlich konnotierten Verse in direkter Rede: „Mais la mort, il ne sait pas“; „c’est drôle une mort anonyme“. Reime finden sich in der ersten Strophe (Vers 1 enthält einen Binnenreim) und in der letzten ebenfalls („somme toute / „grand‘route“). Semantisch zentral und wesentlich für die Konstitution des Textsinnes ist la mort. Das Lexem ist gegenüber den vorangehenden drei Versen exponiert, abgesetzt nicht nur durch mais, sondern auch durch den Zeileneinzug; die durch die folgende Ellipse dem Leser abverlangte Inferenzziehung, dass nämlich der Tod des Gefangenen am folgenden Morgen stattfinden wird, ist aufgrund des unmittelbaren Kotextes wie auch der Einbindung des Textes in eine Anthologie von Gedichten über Buchenwald nicht schwierig. Außerdem wird la mort wiederholt in une mort anonyme. Alle anderen im Text angesprochenen Lebensperspektiven sind um den Tod herumgruppiert: die ihm vorangehenden Erfahrungen des Konzentrationslagers, Erinnerungen, Angst, der Blick in die Zukunft.
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Obwohl der Text keineswegs kunstvoll ist, entfaltet er vor dem Hintergrund seines Entstehungsortes gerade durch seine Schlichtheit und die nähesprachlich konnotierten Ausdrucksmittel die ihm eigentümliche Wirkung.
Qu’attendez vous de moi… Der letzte Text, der hier kurz besprochen werden soll, ist in Mauthausen-Gusen geschrieben worden. „Ces textes que l’auteur se refuse à considérer comme des poèmes, ont été écrits dans un atelier d’une petite usine du camp de Guzen-Mauthausen“, bemerkt der Autor, Jean Cayrol, in seinem Vorwort.43 Jean Cayrol hatte schon vor seinen Aktivitäten in der Résistance zwei Lyrikbände veröffentlicht. Die Texte aus Alerte aux ombres (1944–1945) sind nach der Befreiung des Lagers zunächst verloren gegangen, erst 1955 hat Cayrol sie aus Deutschland zurückerhalten, ohne dass sich der Absender zu erkennen gegeben hätte. Eine Veröffentlichung des Bandes in den fünfziger Jahren sei, so der Autor, nicht opportun gewesen: die Überlebenden waren zu dieser Zeit gehalten, das Erlebte zu vergessen und nicht darüber zu schreiben. Alerte aux ombres erschien zum ersten Mal 1997, die Texte wurden in ihrer ursprünglichen Fassung, ohne weitere Bearbeitung oder Korrektur, veröffentlicht. Qu’attendez vous de moi quand la nuit m’a blessé? Je vais errant sans retrouver ma mère L’effroi d’un grand oiseau pèse encore sur la terre Et l’herbe a dévoré un enfant qui dormait. Qu’attendez-vous de moi quand la nuit m’a délivré ? Comme une lame ancienne oubliée dans mon corps La mer venait d’entrer dans les ruines d’un port Le ciel s’endormait sur une blanche armée. Ecoute-moi tant que le ciel est bleu si près de nous Nous n’avons qu’un vieil arbre où disposer nos voix mon ombre désolée nous retrouve à genoux Quand Dieu est dans le vent nous disant: „Je vous crois“.44
Es ist unschwer zu erkennen, dass der Autor mit der Abfassung von Texten Erfahrung hat. Im Vergleich zu Otage wirkt dieses Gedicht strukturell und in der Konstruktion seiner Metaphorik elaboriert. Es handelt sich um Verse ungleicher Länge, in den Strophen zwei und drei sind sie in ein regelmäßiges Reimschema eingefasst. Die beiden ersten Strophen erscheinen durch den Parallelismus in 43 Cayrol, Jean: Alerte aux ombres. Paris 1997, s.p. 44 Cayrol, Alerte (wie Anm. 43), S. 45.
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der einleitenden Frage miteinander verbunden. Wie der Imperativ in der ersten Zeile wenden sie sich an einen kollektiven Adressaten. Die Syntax ist schlicht, die Sätze – abgesehen von den Fragen – sind nicht durch Interpunktion voneinander getrennt, so dass ein fließender Duktus entsteht. Überwiegend entsprechen die Sätze nur einem Vers. Zur Semantik: es gibt keinerlei Hinweis auf die Umstände der Entstehung dieses Textes, keinerlei direkte Referenz auf das, worauf Metaphern und Vergleiche bloß verweisen können. Die Szenerie ist düster: die Bilder und Vergleiche, alle aus der Natur stammend (un grand oiseau, l’herbe, le corps, le ciel etc.), sind so kombiniert und arrangiert, dass sie für das sprechende Ich wie auch für das kollektive nous Dunkelheit, Bedrohung, Schmerz und Einsamkeit bedeuten. Wie in Otage wird auch in diesem Text die Mutter evoziert: das Ich sucht sie vergebens. Trotz aller Düsternis und Bedrohlichkeit artikuliert sich im letzten Vers auf christlichen Glauben gestützte Zuversicht: Gott ist nicht abwesend, sondern spricht zu denjenigen, die ihre Stimme am alten Baum ablegen, niederknien, ihn suchen: „Je vous crois“. Peter Kuon hat die Texte aus Alerte aux ombres mit den nach dem Krieg entstandenen Gedichten Larmes publiques verglichen.45 Während die Texte Cayrols aus der Nachkriegszeit eine viel deutlichere Todesnähe zum Ausdruck brächten, stehe sein Schreiben im Lager im Dienste einer Strategie des individuellen und kollektiven Überlebens. Ich gebe verkürzt das Fazit der Analyse wieder: Les textes d’Alerte aux ombres sont l’expression non pas d’un je qui, au moment de l‘écriture, est lui-même embarqué dans la situation depuis laquelle il parle. Son écriture sert une stratégie de survie individuelle et collective qui vise à mobiliser, par la magie de la parole poétique, les ressources intérieures du détenu afin qu’il puisse continuer sa lutte quotidienne pour la survie. Le mouvement caractéristique des textes, de la nuit à la lumière, de la menace à la paix, du présent au passé, de la dystopie à l’usotopie, de la croix à la rédemption, ne prétend en aucun cas à une vérité sur les camps, mais procède de l’impératif de soutenir l’espoir dans une situation de détresse absolue. […] La poésie, dans le camp, s’avère instrument de résilience.46
45 Sie bilden einen Teil der 1946 veröffentlichten Sammlung Poèmes de la nuit et du brouillard. 46 Kuon, Peter: L’écriture des revenants. Lecture de témoignages de la déportation politique. Paris 2013, S. 323f.
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Schluss Die im Konzentrationslager praktizierten Formen der Verständigung spiegeln die verschiedenen Facetten des Lebens in einer „Zwangsgemeinschaft“, wie Adler es genannt hat,47 unmittelbar wider. Ausgehend von den Begriffen Sprachterror und Sprachbewahrung haben wir einander diametral entgegengesetzte Kommunikationssituationen, Sprecherhaltungen und sprachliche Verhaltensweisen analysiert. Sprachterror bedeutet: Entzug der Freiheit zu kommunizieren; Einsetzen des Deutschen mit seinen sondersprachlichen Elementen als ausschließlich zu verwendende Sprache; Verbot für die Häftlinge, in den Arbeitskommandos miteinander zu sprechen; Verhinderung zivilisierter sprachlicher Umgangsformen; sprachliche Diskriminierung. Dem Sprachterror widersetzen die Häftlinge sich durch Versuche der Sprachbewahrung. Sie distanzieren sich von den depravierten, beschädigten Kommunikationsformen und der in ihnen sich artikulierenden Barbarisierung sozialen Lebens. Die Voraussetzung von Sprachbewahrung ist Sprachbewusstsein. Dass die Häftlinge – auch diejenigen, die in ihrem Alltag normalerweise nicht über Sprache nachdachten – die Bedeutung und die Auswirkungen des im Lager grundlegend veränderten sprachlichen Umgangs wahrnahmen, wird in vielen Berichten von Überlebenden deutlich. Die Reaktionen auf diesen Tatbestand sind verschiedenartig, Sprachbewahrung hat viele Gesichter. Sie kann, unabhängig vom Sozialstatus der Häftlinge, grundsätzlich von jedem sprachfähigen Individuum praktiziert werden. Sprachbewahrung äußert sich im Achthaben auf die eigene Sprache, in der Praktizierung gemeinschaftsstiftender, usualisierter Äußerungsformen (bobards), in Zitaten aus dem literarischen Kanon und schließlich in der Produktion von Texten. Selbst in den Versen eines Kindes leuchtet sie auf. Warum die Häftlinge versuchten, ihre Sprache vor Beschädigung zu bewahren, wurde in den zitierten Texten immer wieder deutlich. Sprachbewahrung sollte die Würde menschlichen Subjektseins schützen sowie individuelle Identität und kollektive Solidarität festigen. Für das Überleben im Lager waren die genannten Praktiken von großer Bedeutung.
47 Vgl. Adler, H.G.: Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tübingen 1960.
Dieter Ingenschay
Die Erfahrung des Lagers in zwei argentinischen Gegenwartstexten Ariel Magnus’ La abuela und Susana Romano Sueds Procedimiento Unter allen Ländern Lateinamerikas weist Argentinien bekanntlich die stärkste Präsenz jüdischer Kultur auf, was aus der spezifischen Immigrationsgeschichte dieses Teils der Welt resultiert. Buenos Aires ist, nach New York, die Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde in den Amerikas. Inzwischen sind die literarischen Ausdrucksformen jüdischen Selbstbewusstseins auch in anderen Ländern des südamerikanischen Subkontinents gewachsen, was die Produktion angeht, und diese Literatur wird erheblich besser erforscht als vor einigen Jahrzehnten, als Saúl Sosnowski in seiner grundlegenden Studie La orilla inminente den „Bindestrich-Begriff“ jüdisch-lateinamerikanisch als unerwartet und außergewöhnlich charakterisierte.1 Mit Recht lässt sich gegenwärtig von einem gewissen Boom jüdischer Thematik in der jüngeren lateinamerikanischen Literatur sprechen, (auch wenn sich diese gelegentlich auf bloß folkloristische oder exotisierende Verwendungsformen beschränkt)2, ein Boom, der auch die Literaturwissenschaft betrifft3. Der Versuch, die jüdisch-lateinamerikanischen Literaturen (jenseits der ‚nationalen‘ Zuordnungen) zu verorten oder grundsätzlich zu charakterisieren, erweist sich schon aufgrund der hybriden Determinanten der Kulturen Südamerikas als äußerst schwierig; einzig der implizite oder explizite Bezug auf die Erfahrung von Shoa und Holocaust scheinen auch für Sosnowski einen unhinterfragbaren Horizont ‚jüdisch-lateinamerikanischen‘ Schreibens darzustellen. Die beiden äußerst unterschiedlichen Texte, die in der Folge vorgestellt werden sollen, bestätigen dies; auch wenn es verschiedene Lager sind, die in ihnen the1 Vgl. Sosnowski, Saúl: La orilla inminente. Escritores judíos argentinos. Buenos Aires 1987, bes. Kap. 1, S. 17–36. 2 Als Beispiel sei der soeben in deutscher Sprache erschienene (fälschlich als „Roman“ ausgewiesene) Erzählband des jüdisch-guatemaltekischen Autors Eduardo Halfón erwähnt (Halfón, Eduardo: Der polnische Boxer. München 2014). 3 Zur „jüdisch-lateinamerikanischen“ (bzw. „jüdisch-argentinischen“) Literatur vgl. ferner Lindstrom, Naomi: Jewish Issues in Argentine Literature. From Gerchunoff to Szichman. Columbia 1989; Sheinin, David u. Lois Baer Barr, (Hrsg.): The Jewish Diaspora in Latin America. New Studies on History and Literature. New York/London 1996 sowie Dolle, Verena (Hrsg.): Múltiples identidades: Literatura judeo-latinoamericana de los siglos XX y XXI. Madrid/Frankfurt a. M. 2012.
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matisiert werden, sind sie beide Ausdruck der Erfahrung des Lagers im Sinne des (seit David Rousset so genannten) univers concentrationnaire.
Verklärtes Erinnern? Der Dialog von Großmutter und Enkel über Auschwitz und die Folgen: Ariel Magnus, La abuela (2006) Eine der unglaublichen Lebensgeschichten... An einem Tag zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geht eine junge Frau – damals hätte man sie wohl ein Fräulein genannt –, die soeben ihre Ausbildung als Krankenschwester hatte abschließen können, zum Bahnhof Wuppertal-Elberfeld und verlangt eine Fahrkarte nach Theresienstadt. Auf die Frage des Schalterbeamten, ob sie eine einfache oder eine Hin- und Rückfahrt wolle, bestellt sie eine einfache Fahrt, sie wolle nur ihre blinde Mutter besuchen und habe für eine Rückfahrkarte nicht genug Geld. Als die Mutter, die sie im Lager Theresienstadt trifft, von dort weiter nach Auschwitz deportiert wird, folgt sie ihr freiwillig an den gefürchteten Ort der Vernichtung. Durch einen puren Zufall – ein Wachmann verletzt sie versehentlich mit dem Gewehrkolben und sie gelangt auf die andere Seite des Konvois – wird sie gleichsam auf der Schwelle der Gaskammer von ihrer Mutter und all den Anderen getrennt, die in den Tod gehen. Sie wird in Bergen-Belsen überleben, an dem schrecklichen Todesmarsch am Ende des Zweiten Weltkriegs teilnehmen, wird mit falscher Identität Schweden erreichen, von wo sie über Frankreich in die USA reisen möchte, doch letztlich nach Südamerika gelangen wird, um sich in Brasilien niederzulassen. Dort wohnt sie bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren, während ihre Kinder früh nach Argentinien gingen, wo auch die Enkel aufwuchsen. Im Sinne der Bewahrung persönlicher Erinnerungen an den Holocaust hatte die Shoa-Stiftung 1996 diese Überlebende ausführlich interviewt, aber die eigenwillige alte Dame war enttäuscht von ihrem brasilianischen Gesprächspartner, der – wie sie klagte – nicht einmal den Namen Hitler richtig aussprechen konnte. Doch einige Jahre später kam einer ihrer Enkel, der damals in Berlin wohnende, 1975 geborene argentinische Schriftsteller Ariel Magnus, auf den Gedanken, seine Großmutter nach Berlin einzuladen und in persönlichen Gesprächen diese Interviews zu vertiefen. Das Resultat ist das Buch La abuela, Ende 2006 bei Planeta
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veröffentlicht,4 in dem zwar die „Oma“, wie sie auch im spanischen Original genannt wird, ihre eigene Stimme erhält, in dem aber zugleich auch der Enkel nie an eigenen Situierungen der Aussagen noch an Kommentaren spart. In Lateinamerika fand der Band La abuela ein sehr positives Echo; der Autor wurde in die jüdischen Gemeinden zahlreicher Städte des ganzen Subkontinents eingeladen. Dieser Erfolg mag sich der Tatsache verdanken, dass es sich um ein äußerst untypisches Buch in der literarischen Kette von Produktionen über den univers concentrationnaire handelt. Ariel Magnus’ Oma scheint – aller Freud’schen Theorie zuwider – kaum mehr traumatisiert zu sein von ihrer Erfahrung. Sie, die große Teile ihrer Familie, darunter ihre Schwester und Mutter, verloren und unvorstellbares Leid erfahren hat, klagt in den langen Gesprächen und Selbstreflexionen nicht die Deutschen, selten die Nazis und nur sehr vereinzelt ihre Schergen wirklich an. Sie propagiert zwar nicht den Wunsch zu vergessen, lässt sich aber dennoch mit sehr unterschiedlicher Bereitwilligkeit auf die Fragen des Enkels ein, ein Aspekt, der die Diskrepanz zwischen der vergangenen Erfahrung und der gegenwärtigen Erinnerung daran verdeutlicht, welche Michel Pollak anhand der Lebensberichte inhaftierter Frauen aufgezeigt hat.5 Gleich zu Beginn, „Vorweg gesagt“, wie das Vorwort in der deutschen Ausgabe überschrieben ist, setzt sich der Autor deshalb von der bestehenden Lager-Literatur ganz explizit ab: Es gibt reichlich Literatur von den und über die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungslager. Dieses Buch ist nicht aus dieser Literatur hervorgegangen und möchte ihr auch kein weiteres Werk hinzufügen. Ich habe nicht vor, über den Holocaust zu reflektieren oder für die Annalen die Geschichte einer weiteren Überlebenden erzählen. Stattdessen geht es um eine Großmutter und ihren Enkel, in diesem Fall um meine Oma (die Auschwitz überlebt hat) und um mich (der ich manchmal über Dinge reflektiere, von denen ich wenig Ahnung habe.6
Diese Verbindung der Erfahrung einer Großmutter mit der Weltsicht eines Enkels, dem Auschwitz fremd ist, könnte man als Entstehen einer aktualisierten (und daher für die Gegenwart relevanten) Memoria-Kultur betrachten, wie sie Tzvetan Todorov in Les abus de la mémoire postuliert hat,7 und doch fällt zugleich auf,
4 Magnus, Ariel: La abuela. Buenos Aires 2006, dt. Fassung: Zwei lange Unterhosen der Marke Hering. Die erstaunliche Geschichte meiner Großmutter, deutsch von Silke Kleemann. Köln 2012. In der Folge zitiere ich durchgängig nach der deutschen Ausgabe. 5 Vgl. Pollak, Michel: L’expérience concentrationnaire. Essais sur le maintien de l’identité sociale. Paris 1990. 6 Magnus, Zwei lange Unterhosen (wie Anm. 4), S. 5. 7 Todorov, Tzvetan: Les abus de la mémoire. Paris 1998.
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dass die Auschwitz betreffenden Passagen des Buches die heikelsten sind, dass das Sprechen darüber der berichtenden Oma, im Text wird sie Emma genannt, schwer fällt, dass sie in den Nächten, die diesen Gesprächen folgen, schlecht schläft, und dass auch der Enkel eine Rechtfertigung dafür sucht, dass er zu diesem Komplex besonders viele Fragen stellt.8 Hier wird deutlich, dass das Trauma bekanntlich jenseits der Sprache liegt, und Magnus trägt dem durch die Schilderung außersprachlicher Reaktionen der Oma Rechnung. Zugleich behält er aber auch hier den Gestus bei, der von Beginn an das Buch kennzeichnet: eine Art sympathetischen Humors, der gerade die Schrullen der alten Dame ins Zentrum stellt, ihre anhaltende Faszination von deutscher Wertarbeit, die sie veranlasst, als Mitbringsel für ihren Enkel lange Unterhosen der vermeintlich deutsch-brasilianischen, de facto nur brasilianischen Marke Hering zu kaufen, ihre Besuche im KaDeWe, im Jüdischen Museum, bei den versprengten Verwandten. Nach der Fertigstellung des Manuskripts räumt der Autor der Oma gegenüber ein, er habe, wie er im Nachwort der deutschen Ausgabe schreibt, dieses Buch „mit einer vielleicht übertriebenen Dosis Ironie geschrieben“.9 Ich möchte diese Ironie in einem sehr klassischen Sinne als Verweigerung semantischer Eindeutigkeit werten. Freilich ist nicht immer Ironie die dominante Perspektive; es finden sich die authentisch und ernst klingenden Berichte über Not, Leiden, Hunger, Qual, Krankheit, Verlust und Trauer, aber es wirkt fast immer ‚verarbeitet‘, ‚bewältigt‘. Exemplarisch sei eine kurze Passage zitiert, in der im sprachlichen Gestus der betroffenen Verwirrung die Ankunft in Auschwitz geschildert wird: Aber ich bin daraufhin freiwillig nach Auschwitz, ich wusste nicht, was Auschwitz ist, also ich wusste, dass es ein Arbeitslager war, sonst nichts. Dann hatte ich mein Leben lang ein ruhiges Gewissen. Ich hab als Kind meine Pflicht getan und deshalb bin ich manchmal böse, wenn die eigenen Leute sich so hässlich verhalten. Verstehst Du? Weil ich hätte mein Leben gelassen, ich hätte auch umkommen können. Ich war mit meiner Mutter und den anderen Blinden in dem Transport, alles um mich herum Blinde, drei Tage lang, und die hatten Hunger, was machst Du da? Und wie der Viehwagen in Auschwitz aufgemacht wurde, hat man die Leute rausgerissen und meine Mutter hat ‚Emma, Emma‘ gerufen und ich wollte zu ihr, da gab mir einer einen Schlag, da bin ich auf die andere Seite, die Rettungsseite. Weil ich war, wirklich, ich hab nicht so weit.... ich hab als Kind meine Pflicht getan.10
Ariel Magnus’ Großmutter hat in Theresienstadt und Auschwitz als Krankenschwester gearbeitet, sie war (im Sinne einer Kulturproduktion im Lager) nicht 8 Vgl. Magnus, Zwei lange Unterhosen (wie Anm. 4), S. 119–122. 9 Magnus, Zwei lange Unterhosen (wie Anm. 4), S. 165. 10 Magnus, Zwei lange Unterhosen (wie Anm. 4), S. 120.
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künstlerisch tätig, sie hat keine Gedichte verfasst, sondern lediglich rezitiert und manchmal ein wenig modifiziert, was auf einen eigenen, kreativen Umgang mit Sprache deutet: In Theresienstadt hab ich mich an ein paar Verse von Chamisso erinnert, die ich in der Schule gelernt habe: Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer/Du fragest nach den Menschen, du findest sie nicht mehr. In dem Gedicht heißt es Riesen statt Menschen, aber das hab ich geändert.11
Im Sinne der Pflege von Erinnerungskulturen wollte ich, dass La abuela – ein in Lateinamerika gerade in jüdischen Zirkeln stark rezipiertes Buch – auch die des Spanischen nicht kundige deutsche Leserschaft erreicht. Daher schlug ich einem Verlagsvertreter, den ich kenne, vor, eine deutschsprachige Publikation dieses Bandes zu realisieren. Ich war angesichts des in dem vorliegenden Band thematisierten Aspekts der „überlebten Erinnerung“ erstaunt, dass dieser Versuch nicht erfolgreich war, dass mir vielmehr erwidert wurde, Deutsche wollten über Auschwitz nichts mehr lesen. Dass dann der Verlag Kiepenheuer & Witsch 2012 eine deutsche Übersetzung edierte, verdankt sich möglicherweise der Tatsache, dass für den Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse der argentinische Staat literarische Übersetzungen ins Deutsche mit stattlichen Geldmitteln förderte. Vielleicht liegt der Grund auch darin, dass dieses Kölner Verlagshaus zuvor Ariel Magnus’ ‚multikulturellen‘ Roman Ein Chinese auf dem Fahrrad (Un chino en bicicleta), für den er einen anerkannten Literaturpreis „La otra orilla“ erhielt, publiziert hatte. Die deutsche Ausgabe von La abuela trägt nun den (recht abwegigen) Titel Zwei lange Unterhosen der Marke Hering und den etwas oberflächlichen Untertitel „Die erstaunliche Geschichte meiner Großmutter“. In der Mitte des Bandes befinden sich in beiden Ausgaben zwölf Seiten mit Fotos aus dem bewegten Leben der Oma. Eine kurze Recherche ergibt, dass es etwa zwölf Besprechungen in Presse und Rundfunk gibt, die meist Ton und Gestus loben.12
11 Magnus, Zwei lange Unterhosen (wie Anm. 4), S. 142. 12 Beispielhaft seien unter den deutschen Rezensionen erwähnt: die Besprechung von Doris Wieser in CulturMag vom 10.10.2012 (http://culturmag.de/rubriken/buecher/ariel-magnus-zweilange-unterhosen-der-marke-hering/59097 (25.10.2014)), die Rundfunkbesprechung „Nach Osten deportiert“ im Deutschlandfunk von Uwe Stolzmann, gesendet am 5.10. 2012 (http:// www.deutschlandradiokultur.de/nach-ostendeportiert.950.de.html?dram:article_id=223224 (25.10.2014)), das Interview von Stefan Kuzmany in Spiegel Online Kultur vom 8.10. 2012 „Argentinischer Autor Magnus: Alle wollen, dass du nicht Deutscher bist“ (http://www.spiegel.de/kultur/literatur/argentinischer-autor-magnus-alle-wollen-dass-du-nicht-deutscher-bist-a-721615. html (25.10.2014)).
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Eine neue Form der Testimonialliteratur? Die Testimonialliteratur des 20. Jahrhunderts hat zwei große Paradigmen: die verschriftlichte Erinnerung an den Holocaust einerseits sowie die lateinamerikanische Literatur im Anschluss an die kubanische Revolution und die sozialen Bewegungen der 1960er Jahre andererseits. La abuela ist aus der Perspektive des mit Lateinamerika befassten Literaturwissenschaftlers ein mögliches Beispiel der lateinamerikanischen Testimonialliteratur insofern, als es auch (wie einst der Anthropologe Miguel Barnet oder Elisabeth Burgos) die mit einem Informanten bzw. einer Informantin aufgezeichneten Gespräche zu einem ästhetisch ansprechenden Text verarbeitet, für den der/die Schreibende letztlich die ‚schriftstellerische Verantwortung‘ trägt, die er aber hinter der angeblichen Faktizität des Dargestellten gern verbirgt. Im Falle der bekannten Testimonios (El cimarrón von Miguel Barnet/Esteban Montejo und Me llamo Rigoberta Menchú vom Elisabeth Burgos/Rigoberta Menchú) hat dies zu spezifischen Verwirrungen und handfesten Streitereien geführt. In jüngerer Zeit orientiert sich aber auch für Lateinamerikanisten der Genrebegriff des testimonio mitunter an Zeugnisberichten aus dem univers concentrationnaire, die parallel zu den von Lawrence L. Langer beschriebenen Holocaust Testimonies gesetzt werden.13 Gerade in Argentinien und Chile liegt eine enorm starke Literaturproduktion vor, die aus Zeugnissen von Opfern der Lager besteht oder diese Erfahrung in der einen oder anderen Form verarbeitet. Die argentinische Literaturwissenschaftlerin Leonor Arfuch setzt diesen Boom in einen direkten Zusammenhang mit den traumatischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, einer Periode, in der – nach Leigh Gilmore14 die Ära des Erinnerns und die des Traumas zusammenfallen –, und Arfuch verweist auf den Faktor Zeit bei der Umkreisung des Unsagbaren durch das Wort.15 Auch der argentinische Kulturwissenschaftler Mario Bomheker betrachtet das testimonio als größte Herausforderung der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur und setzt es in die Fortsetzung der mit Alain Resnais, Primo Levi, Elie Wiesel, Paul Celan, Jean Améry u. A. abgesteckten Tradition.16 Anders als die auf politische Wirkung zentrierten testimonios der 1960er/70er Jahre, geht es in den testimonios des Lagers um höchst komplizierte Fragen, um die Möglichkeiten von
13 Langer, Lawrence L.: Holocaust Testimonies. The ruins of Memory. Yale 1993. 14 Gilmore, Leigh: The limits of Autobiography. Trauma and Testimony. NewYork/Ithaca 2001. 15 Arfuch, Leonor: Narrativas del yo y memorias traumáticas. In: Tempo e Argumento. Revista do Programa de Pós-Graduação em História, v. 4, no. 1, 2012, S. 45–60, hier: S. 48. 16 Bomheker, Mario: Testimonio y Representación. III Congreso Internacional de la Asociación Argentina de Estudios de Cine y Audiovisual. http://www.asaeca.org/aactas/bomheker_mario_-_ ponencia.pdf (10.02.2014).
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Leben und Überleben, um das Problematische des Erinnerns und Erzählens. Im Sinne Ottmar Ettes teilen die Testimonialtexte mit fiktiven Texten, die ebenfalls jenen von Giorgio Agamben so bezeichneten „Ausnahmezustand“ in den Diskurs setzen,17 ihre Funktion als Teile eines „Über-Lebens-Wissens“, wie er es in dem 7., dem Lager gewidmeten Kapitel des so betitelten Buchs dargelegt hat.18 In Agambens Ansatz, dessen biopolitische Komponente Ottmar Ette hervorhebt, ist nicht nur das Lagerleben selbst Ausnahmezustand, sondern zugleich die Zeugenschaft eine unmögliche, weil jeder Gerettete beweist, dass ein Zeugnis fehlt. Ähnlich hatte auch Primo Levi jeden Zeugenbericht als einen gebrochenen bezeichnet, der zugleich die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit der Zeugenschaft impliziert.19 Es scheint mir bezeichnend, dass auch unter der bewusst gewählten, sich leicht gebenden Oberfläche des Magnus’schen Textes diese Problematik des Testimonialen durchbricht. Ariel Magnus schreibt in diesem testimonio „Ich hatte mich immer mehr als ein Sohn der ESMA denn als Enkel von Auschwitz gefühlt, um es so zu sagen“20, und in dem Interview mit Spiegel Online betont er, er werde lieber als Schriftsteller wahrgenommen, denn als Enkel einer Auschwitz-Überlebenden (s. Anm. 12). Ihm sei die ESMA, das in einer früheren Militärakademie, der Escuela de Mecánica de la Armada, untergebrachte bekannteste Folterzentrum der Militärdiktatur in Buenos Aires, das vollständig zur Gedenkstätte umgebaut ist, viel präsenter als die Vernichtungslager der Nazis. Damit deutet er direkt auf den häufig postulierten Konnex zwischen den Lagern des Nationalsozialismus und der Militärdiktaturen Lateinamerikas. Auch der eine Generation ältere Mario Bomheker, um nur ihn zu nennen, behandelt Konzentrationslager und die Centros Clandestinos de Detención zusammen, vor allem unter dem Aspekt der Omnipräsenz des Todes, aber auch bezüglich der Unkommunizierbarkeit des Abgrunds, der die sogenannte normale Welt von der Lagerwelt trennt.21 Argumentiert etwa Primo Levi gegen die These von der Unsagbarkeit der Holocaust-Erfahrung, so brechen Bomheker und Magnus – beide nicht-orthodoxe Juden – (und wie sie viele Andere) die These von der absoluten Unvergleichbarkeit des systematischen Genozids an den europäischen Juden, welchen der Nationalsozialismus zu verantworten hat. Vergleichbar sind zwar nicht die Systeme, die Diktaturen selbst, jedoch werden die individuellen und kollektiven Folgeerscheinungen mit vergleichbaren Kategorien 17 Vgl. Agamben, Giorgo: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt/M. 2003. 18 Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin 2004. S. 189–226. 19 Vgl. dazu Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1990. 20 Magnus, Zwei lange Unterhosen (wie Anm. 4), S. 134. 21 Bomheker, Testimonio y Representación (wie Anm. 16).
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erfasst: Kategorien der Trauerarbeit, der Traumatisierung, der Schuld und – im literarischen testimonio – der Sagbarkeit.22 Die Lager, welche die südamerikanischen Militärregierungen in Argentinien unter General Videla oder in Chile unter General Pinochet eingerichtet hatten, werden in der heutigen Aufarbeitung oft mit dem historisch irreführenden Begriff Konzentrationslager bezeichnet; als Beleg verweise ich auf die deutsche Version des Erfahrungsberichts des chilenischen Schriftstellers Hernán Valdés, der zuerst 1976 in der nordamerikanischen Zeitschrift Time erschienen, dann im gleichen Jahr auf Deutsch als Rowohlt-Taschenbuch unter dem Titel Auch wenn es nur einer wäre... Tagebuch aus einem chilenischen KZ veröffentlicht wurde.23 Diese Bezeichnung halte ich für falsch, weil es sich – bei aller Grausamkeit der angewandten Methoden – nicht um Vernichtungslager handelt, sondern um Internierungsund Folterstätten, von denen aus die Insassen im schlimmsten Fall ‚verschwunden gemacht‘ wurden.
Kampf um Erinnerung und Ausdruck. Susana Romano Sued, Procedimiento (2007)24 Erinnerung an die Lager Das zweite Paradigma argentinischer Lagerliteratur ist von der versöhnlichen, heiteren und historisierenden Perspektive der Abuela denkbar weit entfernt, zugleich aber auch von dem auf konkrete Empirie gerichteten Bericht eines Hernán Valdés, der seinem Buch sogar Zeichnungen der exakten Situierung von Bäumen und Latrinen innerhalb des Lagers beigibt. Ich gehe in der Folge vielmehr auf ein Testimonio ein, das möglicherweise gar nicht ein solches ist, auf Procedimiento, ein Buch der jüdischen Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin Susana Romano Sued, 1947 im argentinischen Córdoba geboren, wo sie auch ihre Hochschulabschlüsse in Psycho22 Zur Vergleichbarkeit der Diktaturerfahrung in verschiedenen Gesellschaften vgl. Ingenschay, Dieter u. Janett Reinstädler: Culturas del después: acercamientos a la poducción literaria y cultural en Europa e Hispanoamérica“. In: Escribir después de la dictadura. La producción literaria y cultural en las posdictaduras de Europa e Hispanoamérica. Hrsg. von Reinstädler, Janett. Madrid/Frankfurt am M. 2011. S. 9–24. 23 Valdés, Hernán: Auch wenn es nur einer wäre... Tagebuch aus einem chilenischen KZ. Reinbek 1976. 24 Romano Sued, Susana: Procedimiento. Memoria de La Perla y La Ribera. Córdoba 2007. Da keine Übersetzung ins Deutsche vorliegt, stammen die weiteren Translationen von mir (D.I.).
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therapie und Literaturwissenschaften erwarb. Nach ihrer Inhaftierung und Folterung durch die Schergen der Diktatur ging sie nach Deutschland ins Exil, wo sie in Mannheim promovierte; später kehrte sie als Professorin und Forscherin an die Universität Córdoba zurück. Zu ihren Tätigkeitsfeldern gehört die Auseinandersetzung mit moderner Lyrik; sie hat Gedichte von Celan und Rilke, Max Bense (sowie auch englisch- und portugiesischsprachige Lyrik) ins Spanische übersetzt. Dass es sich um den Text einer Frau handelt, ist dabei eine erste Partikularität. Unter den Berichten und Literarisierungen der Erfahrung des Lagers fällt die große Anzahl weiblicher Erzählerinnen auf, wie schon Michel Pollak (s. Anm. 5) oder Anne-Berenike Binder25 feststellten; für die lateinamerikanischen Literaturen sei auf die ausführliche Aufzählung bei Leonor Arfuch verwiesen26. Procedimiento, 2007 erschienen, ist keine Sachschilderung, sondern ein lyrisch überformter Experimentaltext. Der titelgebende Begriff ist schwer zu übersetzen; Procedimiento hat zunächst allgemein den Sinn von „Verfahren“ oder „Verfahrensweise“, wurde aber im Jargon der argentinischen Militärs, die ihr eigenes historisches Tun Proceso de Reorganización nacional (‚Prozess der nationalen Reorganisation‘) nannten, zur Bezeichnung jenes gesamten Aufgabenkomplexes benutzt, in dessen Rahmen die Entführung von Menschen, Organisation der Verhöre und Folterungen, Beschlagnahmung des Vermögens usw. geregelt wurden. Mit dieser Art von ‚Verfahren‘ geht in Susana Romanos Text die Suche einher nach der geeigneten Form für einen ganz anderen Prozess, nämlich für die Versprachlichung erinnerter Erfahrung bzw. erfahrener Erinnerung, die, gemäß ihrer Vorstellung, zugleich eine Überschreitung des Erinnerten und Erfahrenden impliziert. Das Werk ringt in der Materialität seines Textes um eine adäquate Erfassung der unfassbaren Geschehnisse, welche die Autorin Susana Romano selbst in zwei Internierungslagern, La Perla und la Ribera, in der Nähe ihrer Heimatstadt Córdoba erlebt hat. Es sind zwei jener typischen centros de detención y tortura, Inhaftierungsund Folterzentren, wie sie die argentinischen oder auch die chilenischen Militärs zu Hunderten über Stadt und Land verteilt eingerichtet hatten. Vor den eigentlichen Text setzt die Autorin eine (in 3. Person verfasste) konkrete Lokalisierung der beiden Lager: la Ribera, von den Handlangern der Diktatur zu „la Escuelita“, die kleine Schule, euphemisiert, liegt an der städtischen Peripherie, neben dem alten Friedhof San Vicente. (In einer Besprechung von Procedimiento berichtet Esther Andradi im Detail von Massenerschießungen, die dort stattfanden.27) La Perla, wo 25 Binder, Anne-Berenike: „Mon ombre est restée là-bas“ – Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit. Tübingen 2008. 26 Vgl. Arfuch, Narrativas del yo (wie Anm. 15), S. 49. 27 Andradi, Esther: Das zerrissene Wort: Susana Romano Sued und ihr Roman Procedimiento. In: Ila Bd. 339. 2010, S. 53–56.
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zeitweise mehr als 3.000 Menschen inhaftiert waren, befindet sich zwölf Kilometer von der argentinischen Großstadt Córdoba entfernt; auch hier liegt ein Friedhof in der Nähe, wie Susana Romano in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página 12 berichtet: es ist der an den Friedhof San Jerónimo angrenzende jüdische Friedhof, auf dem ihre verstorbenen Verwandten begraben sind.28
Jenseits des Narrativen Der eigentliche Text des Buches ist umgeben von systematisch organisierten Paratexten: einem Vorwort der bekannten argentinischen Lyrikerin Luisa Valenzuela, in dem sie – unter dem Aspekt der Zeugenschaft – Susana Romano mit Primo Levi und Jorge Semprún vergleicht und das Buch als ‚Fresko der Schreckensjahre‘ bezeichnet. In 3. Person folgt die erwähnte Ortsbeschreibung der beiden Lager, eine weitere Kommentierung, die auf die Unmöglichkeit der Repräsentation jener Grenzerfahrungen hinweist, denen die Stimmen des Textes ausgesetzt sind, und letztlich einem Motto von Elie Wiesel (dazu gleich mehr). Am Ende wird – typographisch abgesetzt – die Frage nach dem Verschwinden der Stimme der Erzählerin angeschlossen, bevor ein Gedicht von Paul Celan den Epitaph abschließt (mehr zu diesen Paratexten bei María A. Semilla Durán29). Charakteristisch für den im Untertitel „Memoria de la Perla y la Ribera“ angekündigten Gedächtnisdiskurs ist das Verhältnis von lyrischem Sprechen, das eben doch anders ist als „Sprache um ihrer selbst willen“ (im Sinne Roman Jakobsons), und Narration, also das Schwanken zwischen poetischer und narrativer Anlage. Die narrative Intention wird deutlich in einem Motto, das dem Text vorausgeht, in dem Susana Romano eine Passage aus Elie Wiesels Esperar a pesar de todo (Hoffnung. Bleib dem Leben treu) zitiert, in der es heißt: ...una forma de conservar el dolor del recuerdo en la cultura, significa en cuanto a la narración una coalición entre los que viven actualmente y los que ya han muerto, los olvidados, los sacrificados, vencidos. [...] Eso sólo es posible narrando en contra del tiempo, y por eso hay que intentar contar, contar una y otra vez.30 28 Engler, Verónica: La palabra dislocada. In: Página 12 vom 20. März 2009. http://www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/las12/13-4804-2009-03-22.html (10.2. 2014). 29 Semilla Durán, María A.: Diálogos descarnados con la Historia: Procedimiento, de Susana Romano Sued. In: Helix. Dossiers zur romanischen Literaturwissenschaft 5 (2012), S. 104–123. 30 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), o.S., „...eine Form, den Schmerz der Erinnerung in der Kultur zu bewahren, bedeutet bezüglich der Erzählung eine Koalition zwischen denen, die jetzt leben, und denen, die schon gestorben, vergessen, geopfert, besiegt sind. [...] Dies ist nur möglich, wenn man gegen die Zeit erzählt, und deshalb muss man versuchen zu erzählen, ein ums andere Mal zu erzählen“.
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Das Innere selbst ist in 45 Kapitel aufgeteilt, denen Überschriften vorangestellt sind, die eine zeitliche Orientierung insinuieren und zugleich verweigern, lauten diese Angaben doch zum Beispiel „Tag sechs einhalb, Uhrzeit des Dursts und der Wunden“, „20. Tag vierzehn“, „0.76 am Tag zehn“, „Tag 9 und soundsoviel“, „Tag minus sechs, eine Stunde“, „Tag zwanzigtausend. Zwei Stunden“, d.h. eine Abfolge im Sinne der zeitlichen Chronologie wird hier gerade nicht vermittelt, vielmehr wird die Zeitlosigkeit bzw. Zeitenthobenheit und damit zugleich die fundamentale Desorientierung der Eingesperrten verdeutlicht – ein wiederkehrendes Moment im discours concentrationnaire Südamerikas, das sich zugleich lesen lässt als Illustration der Feststellung Agambens von der permanenten Wiederkehr Auschwitz’. Dank der narrativen Anteile lässt sich erkennen, dass der Leser an den Erfahrungen Anteil nimmt, denen die in den beiden Lagern inhaftierten Frauen ausgesetzt sind. Aber es handelt sich um eine höchst indirekte bzw. regelwidrige Narration. Im Text wechseln sich Passagen in 1. mit anderen in 3. Person ab, ferner Dialogpassagen mit nichtdialogischen Teilen, nämlich Fetzen von Reflexionen und Schilderungen. Dadurch entsteht ein spezifisch fragmentarisierter Rhythmus; erst bei genauer Lektüre fällt auf, dass sich dieser u.a. der Tatsache verdankt, dass das gesamte Buch auf die Verwendung von (bestimmten oder unbestimmten) Artikeln verzichtet; (ich versuche das in meinen Übersetzungen in der Folge nachzuahmen). Ebenso wenig formieren sich die Kapitel oder Kapitelteile zu kohärenten Erzählachsen; vielmehr entsteht eine Textorganisation, die ohne solche ordnenden Hierarchien auskommt, dadurch eine tatsächlich zirkuläre Struktur erreicht und praktisch den Einstieg an jeder Stelle des Textes erlaubt. Und der Text selbst benennt konkret das, was durch ihn entsteht, nämlich „zusammenhanglose Inseln von ausgezehrten Grammatiken und fehlender Narration“ („islotes inconexos de escuálidas gramáticas y carente narración“31). Die Stimmen gehören nicht nur der Ich-Erzählerin (oder einem lyrischen Ich, je nach Interpretation), die in der Schilderung ihrer Erfahrungen immer zugleich an deren Versprachlichung verzweifelt, sondern zugleich jenen Frauen, die hier mit ihr gefangen gehalten, gefoltert und der Gehirnwäsche unterzogen werden. Nur eine von ihnen wird mit dem symbolischen Namen Ella (der dem spanischen Personalpronomen der weiblichen 3. Person entspricht) versehen. Völlig unvermittelt treten neben die Stimmen der Opfer jene der Täter, von denen einige mit faktischen Namen („Menéndez“) oder Spitznamen („padre Ernesto“„El Profesor“ oder der als besonders grausam geltende „Roter“...) benannt sind. Im Zentrum stehen – so vermittelt es sich der Leserin/ dem Leser – Erfahrungskonfigurationen der inhaftierten Frauen, die sich einerseits auf psychische 31 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 43.
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oder physische Zustände (Angst, Hunger, Schmerz), andererseits auf spezifische Aspekte einer explizit weiblichen Körperlichkeit (in geschlechtsspezifischem Blick auf Scham, Brustwarzen) beziehen. In ihrer Analyse der Zeugenberichte von Frauen aus argentinischen Lagern weist Leonor Arfuch auf die Schwierigkeit hin, gerade weibliche Körperlichkeit, das Sexuelle, das Fleischliche, zwischen Imagination und Äußerungsakt zu verstetigen.32 Dies schließt nicht nur die Erfahrung der Entpersönlichung („soy número“, „ich bin Nummer“) ein, sondern auch der Folter, etwa der völlig emotionslos am Rande erwähnten Elektroschocks33. Durchgängig sind die Gefangenen einer Art Hirnwäsche ausgesetzt, die mit (ideologisch durchsetzten) Schuldgeständnissen gespickt sind und meist von religiösen Diskursformen, von Beichte und Absolution, bestimmt werden. In der Grobstruktur mehrerer der Kapitel wird eine lokale (und zugleich translokale) Opposition von acá – allá („hier“ – „dort“) auffällig, in der die Ortsangabe acá (hier) sich auf das Folterzentrum und auf das, was in ihm geschieht, bezogen ist, während allá (dort) die Welt ‚draußen‘ bezeichnet. Das allá, so konkretisiert Susana Romano in ihrem Interview mit Verónica Engler in der Bonarenser Zeitung Página 12, ist zugleich die Gemeinschaft, die polis, auch der Friedhof, aber der, auf dem jeder seinen Stein und seinen Namen hat, während das acá (hier) einen Ort unaufhebbarer Agonie darstelle.34 Solche Hilfskonstrukte für einen sinnvollen Leseprozess können nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Buch vom Leser/der Leserin nicht nur höchste Konzentration und die Bereitschaft verlangen, sich auf einen extrem schwierigen Text einzulassen, es ist darüber hinaus ein Diskurs, der oft die Grenzen eindeutiger Semantiken überschreitet. Dabei macht er immer wieder seine eigene Konstitution insofern zum Thema, als hier eine ‚Textur‘ entsteht, ein „Erzählgewebe, das mit aller nachdrücklichen Kraft weitererzählt, im Kampf mit Anfällen von Gedächtnisverlust und Erinnerungen an Akte und Gesten, die sich mit Elan jeglichem Werden entgegenstellen“ („tejido de narrar mantenido a fuerza de insistencia de contar, de pugna con acosos de amnesia de recuerdos de actos y de gestos que van descabalgándose con brío de todo devenir“35). Es ist ein Diskurs, der sich verzweifelt bemüht, in aller poetischen Entrücktheit der Aufgabe der Zeugenschaft nachzukommen, wie dieser Dialog zeigt: Ich weiß nicht, warum wir aufschreiben, wenn niemand lesen oder hören wird. – Sammelt Zeugnisse, bewahrend und ertragend; häuft sie an in von Resten übervollen, von Plunder vollgestopften Gräben, die auch voll sind von Zeichen und Spuren für Andere die kommen und 32 Arfuch, Narrativas del yo (wie Anm. 26), S. 55. 33 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 42–43. 34 Engler, La palabra dislocada (wie Anm. 28). 35 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 22.
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ausgraben und suchen werden. – Schätze von Erinnerung, Fragmente, welche zur Rekonstruktion notwendige Schlüssel anbieten. – Komm, gib mir, hilf mir nicht zu vergessen zu erzählen niederreißend ausgeklügelte Verhandlungen, geschaffen von Henkershänden in Ungläubigkeit. No sé por qué anotamos, si nadie va a leer ni a escuchar. – Recojan testimonios guardando y aguantando; acopien adentro de trincheras repletas de restos colmadas de despojos, también llenas de trazos y huellas para otros que vendrán y excavarán y buscarán. – Tesoreos de memoria, retazos ofrecidos de claves necesarias para reconstruir. – Vení, dame, ayudame a no olvidar a narrar derribando empolladas negaciones criadas por manos de verdugos en incredulidad.36
Bedenkt man die Tatsache, dass Susana Romano Sued vor allem in Theorie und Praxis Lyrikerin ist, so kommt einem die Konstitution moderner Lyrik in multiplen oder polyphonen Kontexten in den Sinn, zugleich aber auch eine Verschiebung, die Giorgio Agambem als einen für das Schreiben über das Lager symptomatischen Prozess bezeichnet hat, nämlich die Verschiebung von der logischen (wenn man so will: narrativen) Unmöglichkeit zu einer ästhetischen (wenn man so will: lyrischen) Ermöglichung durch Gesang und Metapher. Für diesen Prozess der Ersetzung der narrativen Logik durch eine eigengesetzliche poetische liefert Procedimiento ein anschauliches Beispiel. Auch hier handelt es sich nicht (im Sinne der Thematik dieses Bandes) um eine im Lager selbst produzierte Literatur (welche aufgrund zahlreicher spezifischer Umstände, etwa der kurzen Aufenthaltsdauer, der obligaten Augenbinde usw. in Lateinamerika extrem selten ist), jedoch um Literatur, die das Schreiben im Lager als Modell bedient, ein Schreiben, welches das Ringen um Modi der Versprachlichung dieser Erfahrung zu einem ihrer Hauptthemen macht und das damit auf ein grundlegendes Problem der Literatur- und Kulturproduktion im Lager und über das Lager verweist, ein Problem, das wir auch als die Inkommensurabilität des discours concentrationnaire bezeichnen können. Sie bewirkt, dass – nach Leonor Arfuch – es keine ‚reinen‘ testimonios außerhalb des eigenen Äußerungsrahmens gibt.37 Damit nähert sich dieser Diskurs der Eigengesetzlichkeit lyrischer Texte an. Und es wird deutlich, wieso ich die testimonios von Susana Romano Sued und Ariel Magnus für vergleichbar halte: beide konstituieren sich unter den Bedingungen einer ungewöhnlichen bzw. vieldeutigen Semantik: der Ironie im einen, der lyrischen Autonomie im anderen Falle.
36 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 41. 37 Arfuch, Narrativas del yo (wie Anm. 26), S. 58: „no hay testimonio ‚puro‘ fuera del marco de su enunciación“ („es gibt kein ‚reines‘ Testimonio außerhalb seines Äußerungsrahmens“).
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Religiöse Sprache und jüdische Identität Neben Menéndez und dem ‚Profesor‘, der in ein peinlich infantil wirkendes Schulespielen verfällt, ragt unter den Folterern die Figur des Padre Estéban heraus. In ihm äußert sich ein religiös inspirierter Sprachduktus, der praktisch seit dem Beginn den lyrischen Ausdruck von Procedimiento charakterisiert. Dieser wird zuerst im Gestus der Beichte manifest: „bedenken Sie Ihre Taten und ihre schlechten Gedanken, aus irgendeinem Grund sind Sie hier“ („mediten en sus actos y malos pensamientos, por algo están acá“38). Wie die meisten thematischen Komplexe, wird auch dieser vielfach wiederholt, teils die Schuld-Thematik variierend: „Hier gibt es keine Unschuldigen, auch keine fälschlich Verdächtigten, aus irgendeinem Grund sind Sie hier“ („Aquí no hay inocentes, tampoco perejiles, por algo están acá“39). Nachdem der Folterer zunächst kurz auf ideologische ‚Verfehlungen‘ eingeht: „Sie haben viel Cortázar und Marx im Kopf, Sie sind krank“ („Ustedes tienen mucho Cortázar y mucho Marx en la cabeza, están enfermos“40), schwenkt er auf den Prozess einer ‚geistigen Reinigung‘ innerhalb des Reedukationsprozesses, worauf hin die Gefangene sich als monja, als Nonne bezeichnet. Sodann wird der Gesang thematisiert, der zunächst vom nahe gelegenen Friedhof San Vicente herüberzukommen scheint: Man hört Gesänge drüben, und hier auch, vermischt, Folklore-Tänzchen mit Trauergesang und Wehklagen, deren Echos zu San Vicente wehen, mit Reißgeräuschen, die auf altem Friedhofsgrund kratzen für Verstorbene so zahlreicher Credos, die in Erde gelegt sind, oder in Pantheons mit Steinen und Fotos, mit Blumen, andere nur mit Kieselsteinen, je nach Ritual, grüne Blattgirlanden umrahmen kleine Pfade und dekorieren Abwesenheiten... – Hier entwirren wir Klage in Chören, trennen Heulen von Tänzen, von Märschen, von Hymnen, von Wiegenliedern, und wir wissen vom Dort, dass Hände, Gaben, Geldbeträge, ungesunde Scheiterhaufenbücher zittern. Se oyen cantos allá, y también acá, mezclados, bailecitos de folclor con endechas, lamentaciones que dan ecos a San Vicente, en tonos de rasguido rasgados sobre fondos de viejo cementerio para difuntos de tantos credos, acogidos en tierra o en panteones, con lápidas y fotos; con flores, otros con meros guijarros, según ritual; festones de hojas verdes peregrinas bordean senderitos decorando ausencias.... – Acá desmadejamos lamentación en coros, separamos lloros de zambas, de marchas, de himnos, de cánticos acunadores, y sabemos de allá que tiemblan manos, dotes, dineros, malsanos libros de hoguera.41
38 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 21. 39 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 21. 40 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 16. 41 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 17.
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Deutlich eignet diesem Singen eine eher liturgische als rein künstlerische Machart; sie verstärkt sich über die folgenden drei Seiten, bis (stets noch in diesem erhabenen Stil) eine Friedhofszeremonie unter den geordnet Sterbenden thematisiert wird, welche mit den vegetierenden halbtoten Frauen des Lagers kontrastieren, jenen semimuertas, in denen die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben scheint, wie es Adorno (in seinen Aufzeichnungen zu Kafka42) als spezifisch für die Konzentrationslager beschrieben hat. Und innerhalb dieser Seiten erscheint eine neue Insassin „Soy nueva“, die auf die Aufforderungen zum Gebet hin klarstellt, dass sie Jüdin ist: „Yo soy israelita“. Dies ist kein vereinzeltes Auftreten dieses Themas, vielmehr wird es vielfach variiert und taucht zum Beispiel knapp 20 Seiten später wieder ähnlich dialogisch auf: „Ich bin Nonne, wir waren mehrere“ („Soy monja, éramos varias“) mit der Replik „Du bist Nonne, ich bin Jüdin“ („Sos monja, yo soy israelita“)43. Gerade angesichts von Verunsicherungen, welche das lyrische Sprechen allein nicht aufzuheben vermag („Professor, hören Sie meine Verse, ich bin mein Double“ / „Profesor, oiga mis versos, soy mi doble“44) kontrastiert die Rekurrenz jener in dem Bekenntnis zu jüdischer Identität aufgerufenen Selbstversicherung („yo soy israelita“) mit dem Schwund sämtlicher anderer fixierbarer Äußerungen. Dadurch wird dieses Thema in die privilegierte Rolle eines Schlüssels zur Interpretation dieses Textes gehoben, sofern wir überhaupt bereit sind, hinter der lyrischen Polyphonie eine konsistente persönliche Stimme zuzulassen. Dies ist sinnvoll durch die Friedhofsthematik, in der eine familiäre Zusammengehörigkeit im Positiven aufscheint, die durch eigenwillige sprachliche Kombination von Diskursen des Rassismus und der Erbsünde konterkariert wird: Wir bezahlen und bezahlen untilgbare Schulden um unserer mit verdammten Gedanken infizierten Abstammung willen kontaminiert mit elterlicher Sünde Pagamos y pagamos incancelables deudas por nuestra descendenica infectada de malditos pensamientos contagiada de pecado parental.45
Dass diese Sätze den Folterern in den Mund gelegt sind, macht die bewusst dem Logischen enthobene Textstruktur nicht klar. Es holt aber auch die Folterer in genealogische Muster hinein und ordnet sie zugleich der nur ästhetisch möglichen Ordnung des Lyrischen ebenso unter wie die (eher christlichen) Folterer 42 Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka, zuerst in Die Neue Rundschau 64,3 (1953), S. 325–353. 43 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 35f. 44 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 23. 45 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 40.
Die Erfahrung des Lagers in zwei argentinischen Gegenwartstexten
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in jüdische Weltsicht hineingeholt werden, wenn auf ein „Soy judía“ („Ich bin Jüdin“) die Aussage folgt „Cristo fue judío“ („Christus war Jude“)46. So weit entfernt auch Susana Romano Sueds furiose Lagerlyrik von der gebundenen Poesie Emma Kanns sein mag, welche Ottmar Ette als ein herausragendes Paradigma einer das ÜberLebensWissen vermittelnden Literatur ausgewählt hat, so sehr zeigen sich Parallelen, wenn man den Blick auf das Versprachlichte und auf die thematisierten existentiellen Erfahrungen wendet, also etwa auf die Abwendung vom Denken und die Hinwendung zu semantischer Oszillation usw. Dabei zeigt sich in der Vergleichbarkeit der historisch wie geographisch so entfernten Zeugnisse des Überlebens, dass sich dieser Diskurs durch seine Eigengesetzlichkeit stets neu erfindet, dass er in diesem Sinne nie eine ‚überlebte‘ Kunst werden kann.
46 Romano Sued, Procedimiento (wie Anm. 24), S. 131.
Constanze Jaiser
Benennen und Bewahren Poetische Zeugnisse aus Konzentrationslagern und ihre Rezeption Dichten, ein „Atemraum“ für Freiheit, selbst unter Bedingungen, in denen der Mensch unterdrückt, verfolgt und zerstört wird? Die Lyrikerin Hilde Domin spricht in ihren lyriktheoretischen Betrachtungen über den Schaffensprozess des Dichtens, der einem Innehalten abgerungen werde, einem „Hinhören auf die stimmlose Stimme des Herzens“.1 Es erfordere Mut zu benennen, was ist, betont Domin; erst recht unter Haftbedingungen ohne Aussicht auf Befreiung oder Zukunft, möchte man hinzufügen. Doch beim Versuch, auch noch die unerträglichsten Erfahrungen genau zu benennen, würden sie, so Domin, von der Seite des Menschlichen her gelebt, nicht der des Verdinglichten.2 Diesem Prozess wohnt etwas Heilendes inne, der Mensch befreit sich aus seinem Objektsein und aus seinem Stummsein, zum anderen aber befreit er sich aus seiner Isolation von anderen Menschen: Die benannte Erfahrung tritt dem Menschen gegenüber als etwas Objektives und wird auf eine neue Weise vollzogen: als sein Eigenstes, das aber doch auch andern widerfährt, ihn mit der Menschheit verbindet, statt ihn auszusondern. Er ist einbezogen und mitgemeint. Das erregt und befreit zugleich.3
Es handelt sich freilich um eine paradoxe Bewegung, die Wirklichkeit und Illusion zugleich ist, einerseits vollzogen wird, andererseits nur utopisch angestrebt werden kann. Domin nennt den Prozess des Gedichteschreibens eine Katharsis, die Monolog und gleichzeitig Aufhebung des Monologs ist: „Im Gedicht, noch im negativen Gedicht, ist ein letzter Glaube an den Menschen, an seine Anrufbarkeit“.4 Solche existentiellen Funktionen lyrischen Schaffens können mit Bezug auf die nationalsozialistischen Lager kaum überschätzt werden. In allen Konzentrationslagern der Nationalsozialisten wurden Gedichte geschaffen und rezitiert. Griffen 1 Domin, Hilde: Wozu Lyrik heute? Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 47f. 2 Domin, Hilde: Anstelle einer Einleitung. Das Gedicht als Begegnung. In: Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache. Poesietherapie, Bibliotherapie, Literarische Werkstätten. Hrsg. von Petzold, Hilarion G. u. Ilse Orth. Paderborn 1995, S. 11–17, hier: S. 12. 3 Domin, Wozu Lyrik heute? (wie Anm. 1), S. 28. 4 Domin, Gedicht als Begegnung (wie Anm. 2), S. 13.
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die Häftlinge zunächst meist auf bekanntes Kulturgut zurück, das sie im Gedächtnis behalten hatten, so kamen sie im Laufe der Haft häufig dazu, vorhandene Texte umzudichten, mitunter sogar zu vertonen. Schließlich begannen einzelne damit, eigene Verse zu schaffen. Es entstand eine Gebrauchslyrik, die sehr eng an ihren Entstehungskontext gebunden war, mit spezifischen Motiven und Symbolen, mit einer eigenen Sprache (Lagerjargon) – lyrische Texte in allen Sprachen, die im Lager vorhanden waren, darunter auch Werke von besonderer ästhetischer Qualität. Im Folgenden möchte ich Ihnen auf der Grundlage poetischer Zeugnisse aus dem Frauen-KZ Ravensbrück – in dem, soweit ich das erforschen konnte, immerhin 1.200 Gedichte entstanden –, etwas über die existentiellen Funktionen dieser Lyrik vermitteln sowie einige grundlegende Schwierigkeiten reflektieren, diese Texte aus literaturwissenschaftlicher Sicht systematisieren zu wollen, um schließlich sechs Thesen zur Funktion und zur heutigen Rezeption dieser Zeugnisse zur Diskussion zu stellen. Das Benennen und Bewahren spielt dabei, wie zu zeigen sein wird, sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsebene eine Rolle (Abb. 1).
Reise Ich flüchte heimlich, in tiefer Nacht, in die Welt mit dem Wind, meine Augen besäen blinde Sterne, die ich zu Tausenden find’. Streifen werde ich kühn die Gipfel im Nebel schlummernder Höhen, und horchen in silberner Ferne wie die Wälder wehen. Schlafende Seen töten Mahre. An ihnen mach’ ich halt, durchdring’ das Dunkel, und auf dem Grund erblick’ ich stummes Grab …5 Abb. 1: Grażyna Chrostowska: Podróż – Reise (um 1942). Das Gedicht wurde aus dem Lager herausgeschmuggelt und 1975 bei Burg Stargad ausgegraben. 5 Oleksy, Krystyna u. Irena Polska (Hrsg.): „Aby świat się dowiedział …“: Nielegalne dokumenty z obozu Ravensbrück. Panstwowego Muzeum w Oświęcimiu. Oświęcim 1980 (dt. Arbeitsübersetzung im Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Ü 80-23-4). Eine Neuübersetzung und Bearbeitung der polnischen Edition durch Inge Gerlinghoff und Barbara Lubos-Kroll unter dem Titel „Damit die Welt es erfährt …“: Illegale Dokumente aus dem Konzentrationslager Ravensbrück, wird demnächst im Berliner Metropol Verlag erscheinen.
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Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesem Gedicht ziehen, so wie es jetzt hier zu lesen ist? Wo wurde es geschrieben? Von wem? Einer Frau? Einem Mann? Ein lyrisches Ich streift durch die Nacht, ein schlafender See beendet jäh das Traumbild. Der Blick in die Tiefe eröffnet die Aussicht auf ein Grab – ein Grab, das nicht für sich selbst sprechen kann? Oder eines, das zum Verstummen führt? Erst am Ende möchte ich nochmals auf das Zeugnis zurückkommen. Zunächst geht es um die Frage: Warum überhaupt wurden im Konzentrationslager so viele Gedichte verfasst? Die Frauen, die Ravensbrück überlebten, weisen in ihren eigenen Antworten erstens auf eine dokumentarische Absicht und zweitens auf einen stark biografischen Bezug. Sie wollten die Lagerwirklichkeiten dokumentieren, und die Gedichte drückten nach ihren Aussagen das aus, was viele empfanden. Der Drang, ausgerechnet Gedichte zu schreiben wird damit begründet, in knapper Form wesentliche Dinge sagen und sich diese so besser einprägen und mitteilen zu können. Vor allem aber entstanden sie, weil sie entstehen mussten: Das Gedicht „passierte“, so die polnische Literaturwissenschaftlerin und Ravensbrück Überlebende Urszula Wińska – „die Reime schmiedeten sich wie von selbst“.6 Nimmt man diese Aussagen ernst, so ergeben sich einige Schwierigkeiten für die Deutung dieser Texte. Als Poesie genommen, fällt es schwer, sie in ihrer einfachen, ja oft trivialen Ausgestaltung auf ihren ästhetischen Gehalt hin zu befragen. Von einigen Ausnahmen abgesehen fallen in den Texten weder eine ausgesuchte metaphorische Sprache noch außergewöhnliche Stilmittel auf. Es gibt zahlreiche Gedichte, die an Beschwörungsrituale erinnern. So der im Jahr 1942 von einer unbekannten Österreicherin verfasste Text (Abb. 2):
6 Wińska, Urszula: Zwyciężyły wartości. Wspomnienie z Ravensbrück [Die Werte siegten. Erinnerungen an Ravensbrück]. Gdańsk 1985, S. 264, nach der Arbeitsübersetzung im Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
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Abb. 2: Unbekannt: Kopf hoch! (1942). Kopf hoch! Welch Fäden auch das Schicksal spinnt, Kopf hoch und straff gespannt die Nerven! Denn nichts vermag uns umzuwerfen, wenn wir nur bleiben, die wir sind. Nach außen still, im Sinn der Haft, die zu Gehorsam uns verpflichtet, doch innerlich hoch aufgerichtet, im Wissen um die eigne Kraft. So wollen wir, solang sich‘s fügt, uns beugen vor dem Zwang, dem harten und gläubig auf das Leben warten, das jenseits der Baracken liegt.7 7 Dieses Gedicht war vielen Frauen bekannt, vgl. den Bericht Rita Sprengels, die die dritte Strophe etwas veränderte: „So müssen wir, solang sich’s fügt […] und doch ständig für das Leben
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Daneben finden sich auch viele liedhafte, gebetartige, tagebuch- oder briefähnliche Formen. Jedoch verhilft eine solche Einteilung nach Gattungen, die die Texte prägen, nicht wirklich zu weiterführenden Erkenntnissen, denn die interpretatorischen Kriterien für diese Formen greifen oft nicht: So fehlen bei mutmaßlich vertonten Gedichten in der Regel die Noten. Ein im Konzentrationslager gedichtetes Gebet wird oft nicht an Gott, sondern an die Toten oder an verschiedene Naturelemente wie den Himmel, die Sterne, den Wind, einen Vogel gerichtet. Briefe an die Mutter oder die Kinder wurden verfasst in dem Wissen, dass sie nie abgeschickt werden können. Deutlich wird angesichts dieser Formen allerdings, dass viele Gedichte keinen rein selbstreflexiven Bezug herstellen, sondern vielmehr eine kommunikative Absicht haben. Ebenfalls nur bedingt tauglich ist eine inhaltliche Systematisierung, welche zum Beispiel religiöse und politische Texte unterscheidet, oder eine, die nach anderen Kriterien ordnet, beispielsweise auf die Heimat einerseits, auf das Lager andererseits bezogene Gedichte. Die Lager-Lyrik, so zeigt die Lektüre, zeichnet sich geradezu aus durch das gleichzeitige Reden in Oppositionen von Heimat – Konzentrationslager, von einem Früher und einem Jetzt. Und sowohl in religiösen als auch in politischen Gedichten findet sich häufig am Ende der Ausblick auf eine unbestimmte Zukunft. Diese Zukunft ist im religiösen Gedicht, respektive Gebet, auffällig stark im Diesseits verankert. Nehmen wir beispielsweise das christliche Vater unser, das im Lager umgedichtet wurde (Abb. 3). Das Original beginnt: Vater unser im Himmel Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe […]
In dem von Urszula Wińska im Dezember 1941 in Ravensbrück verfassten LagerVaterunser heißt es: Vater unser, der Du bist im Himmel Und siehst unser heimatloses Leben, Nimm uns in Obhut, Deine treuen Kinder, Stille die Tränen, die unsere Seele trüben. Geheiligt sei Dein Name hier auf fremder Erde,
wirken“. In: Jacobeit, Sigrid: Kreuzweg Ravensbrück. Lebensbilder antifaschistischer Widerstandskämpferinnen. Leipzig 1987, S. 182.
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Das Original endet mit den Worten: denn dein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen Der Text der Polinnen endet: vor allen Bösen rette uns vielmehr Und gib uns eine glückliche Heimkehr.8
Abb. 3: Zofia Pociłowska-Kann: Anhänger (um 1941). Zofia Pociłowska-Kann schnitzte für ihre Mithäftlinge Kreuze, Medaillons und andere Miniaturen aus Zahnbürstengriffen. Damit sie die Kunstwerke heimlich während der Arbeitszeit anfertigen konnte, übernahmen ihre Kameradinnen ihre Aufgaben. Den im Original etwa 3 cm großen Anhänger ließ sie ihrer Mutter in Warschau zukommen.
Entscheidend, so lernen wir, ist in der Lagerrealität kaum mehr der „im Himmel wie auf Erden“ geschehende göttliche Wille, sondern die unmittelbar auf das individuelle und kollektive Schicksal bezogene Veränderung der Leidenssituation auf Erden. Die eschatologische Dimension des Glaubens ist verloren gegangen und wird durch die Form ersetzt. Bei dem Lager-Vaterunser geht es gerade nicht mehr darum, das Reich Gottes auf Erden sichtbar zu machen, sondern darum, dass Gott selber die Gefahr abwenden muss, in der seine Schöpfung unter der Übermacht des Bösen und unter der Verzweiflung zusammenzubrechen droht. Die Frauen flehen darum, aus der Fremde heimkehren zu dürfen, und nur indirekt klingt darin auch die Heimkehr in den Glauben, die Heimkehr in das Reich Gottes an.
8 Wińska, Die Werte siegten (wie Anm. 6), S. 565.
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Im Gegensatz dazu nun ein kleines typisches Beispiel für viele politisch motivierte Verse. In diesen lässt sich häufig ein religiöses Moment entdecken: Eine jenseitige Zukunftshoffnung, mehr noch: eine Art Auferstehung hinein in eine (paradiesische) neue Welt. So heißt es, unter Verwendung des Brautmotivs, das in biblisch-religiösen Zusammenhängen für das himmlische Jerusalem bekannt ist, in einem slowenischen Partisanengedicht Naše brigade (Unsere Brigade) aus dem Jahre 1942 (Abb. 4):
Abb. 4: Vera Hozáková: Zeichnung Widerstand (1943/44). Es wird der Tag kommen, da wir mit Ljublijana, der derzeit verkauften Braut, vor den Altar der Freiheit treten werden, und von des Gastmahls Reste werden wir denen hinwerfen, die heute unser Herr sind!9 9 Das Lied, bekannter unter dem Titel „Hej, Brigade“, stammt von Vladimir Pavšič, der in dieser Zeit unter dem Pseudonym Matej Bor veröffentlichte. Slowenische Frauen brachten es mit nach
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Gibt es also in vielen gebetähnlichen Texten ohne reale, existentiell gemeinte Rettung keine Möglichkeit das Reich Gottes zu preisen – weder im Himmel noch auf Erden –, zwingt in den politischen Versen wiederum die real sich am Körper vollziehende Ohnmacht gegenüber den Peinigern häufig dazu, eine gerechte Welt in eine andere Zeit zu transzendieren. Was sich an gemeinsamen Merkmalen entdecken lässt und diese Lager-Poesie charakterisiert, ist neben den einfachen Reimformen und wiederkehrenden redundanten Bildern und Symbolen das Reden in Oppositionen.
Abb. 5: Vera Hozáková: Illustration und Gedicht (1942/1944). Vera Hozáková war eine junge tschechische Architekturstudentin, die wegen politischer Widerstandsarbeit ins KZ Ravensbrück deportiert worden war.
Als weiteres Merkmal fällt in vielen im KZ verfassten Texten ein Verlust des lyrischen Ich ins Auge. Häufig erscheint das lyrische Ich entweder als kollektives Wir oder wird gar nicht mehr direkt benannt. Sehr häufig ist es fragmentiert in Bilder Ravensbrück, wo es bei vielen heimlich organisierten Gelegenheiten rezitiert wurde. Vollständig abgedruckt und übersetzt von Silvjia Kavčič in: Jaiser, Constanze u. Jacob David Pampuch (Hrsg.): Europa im Kampf 1939–44. Internationale Poesie aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Faksimile einer Handschrift aus dem KZ von Vera Hozáková und Vlasta Kladivová, Begleitband und Hör-CD mit Stimmen von Überlebenden. Berlin 2009, S. 77, S. 134f.
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wie Herz, Seele, Hand, Augen – individuell oder kollektiv gemeint. Beispielsweise beginnt ein Gedicht („Die Ankunft“) der Tschechin Vera Hozaková mit den Worten (Abb. 5): Die Nacht war sternenhell, da brannte das Herz noch, die Nacht war sternenhell und leuchtete über die Erde. Hinter dem Stacheldraht neigte sich der Kopf wund von unerfüllter Liebe.10
Als weiteres, konstitutives Merkmal kommt der für alle selbst verfassten Gedichte geltende Entstehungskontext des Konzentrationslagers hinzu. Dieser bedeutete reduzierte Ausdrucksmöglichkeiten, da sich die Erfahrbarkeit von Ich und Welt auf einen hermetischen Raum und einen Zustand der Zerstörung und des Todes beziehen musste. Gleichzeitig aber wird über eine paradoxe Sprache das Verhältnis von biographischem Ich und von realem Lebensumfeld im KZ immer wieder neu ausgelotet. Im geradezu leiblichen Sinne wird immer wieder neu der Versuch unternommen, über Benennen und Reimen von Versen einen radikalen Vernichtungsprozess abzuwehren. In dem folgenden Gedicht von Zofia Pienkiewicz, das im polnischen Original im Kreuzreim gedichtet ist, lässt sich dieser Prozess sehr bildlich nachvollziehen (Abb. 6): „Niebo nad Ravensbrück“ – Der Himmel über Ravensbrück Es gab keine Vögel über Ravensbrück Manchmal, wenn der Himmel mit Morgendämmerung aufgraute, klang irgendwo der Schrei von Fledermäusen, flatterte ekelhafter Leib. In der Luft hing schwarzer Staub, und die schönsten Sonnenuntergänge, mit der süßen Erinnerung an die weiten Meere, erweckten eine einfache Sehnsucht – Wasser! Aus der Höhe hörte der verbannte Gott, Schreie der Verzweiflung, Ächzen des Leides. Es gab keinen Platz für das Knicken der Beine, es gab in den Seelen kein demütiges Vertrauen. Ein menschliches Reptil kroch und die Läuse fraßen es, Hunger und Kälte verdaute es11, seine Besorgnis quälte12
10 Jaiser/Pampuch, Europa im Kampf (wie Anm. 9), S. 7, S. 29f. 11 D.i. „musste es durchstehen“. 12 Auch im Sinne von „demütigen“.
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Und nur der Himmel – kreuz und quer War so schön wie die Augen Gottes. Und nur der Himmel und die Nacht kannten den Zustand, wie Rost die Seele fraß, wie sich die Gewalt innerlich zusammentat, um nicht auseinander zufallen, um weiter fortzubestehen.13
Abb. 6: Zofia Pienkiewicz: Niebo nad Ravensbrück – Der Himmel über Ravensbrück (um 1944/45). Das Gedicht entstand 1944/45 im KZ Ravensbrück.
Das Gedicht vermittelt eine apokalyptische Endzeitstimmung. Das Leben gibt sich nur noch manchmal zu erkennen durch Schreie von Fledermäusen, deren Leiber als ekelhaft bezeichnet werden. Dass sie auch auf die leidenden Frauen in Ravensbrück zu beziehen sind, zeigen die Schreie, die in der dritten Strophe als „Schrei der Verzweiflung“ zu Gott gesandt werden. Lediglich ein „menschliches Reptil“ bewegt sich durch die Szenerie. Es ist von Läusen zerfressen und lebt irrsinnigerweise von Hunger und Kälte. Sich noch immer zu sorgen, d. h. Hoffnungen zu hegen, überleben zu wollen, quält und wird als Demütigung empfunden – denn das Ich, das nicht mehr direkt, als humanes Wesen anwesend ist, sorgt 13 „Niebo nad Ravensbrück“ (Der Himmel über Ravensbrück), Ravensbrück 1944/45, gefunden in einem kleinen Notizheft im Archiv des United States Holocaust Museums in Washington D.C., im Nachlass des Künstlers und Sachsenhausen Überlebenden Aleksander Kulisiewicz, USHMM, RG 55.002* M 27. Für die Übertragung ins Deutsche danke ich Iwka Kahlauch.
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sich paradoxerweise um seinen Zustand, für den Bilder des konkreten Verfalls (Läuse, Rost, Hunger, Kälte) bereits das Ende, den Tod nahe legen. Nur noch der apokalyptische Himmel und die Finsternis, die an diesem Ort herrschen, wissen um die äußerste Anstrengung, die es bedeutet, dem Verfall Einhalt zu gebieten. Der Himmel, in dem Gott in Verbannung lebt und zwar noch etwas hört, aber nicht eingreift, kommt in dieser Situation als einziges und letztes Gegenüber überhaupt in Frage. Über ihn werden noch „süße Erinnerungen“ geweckt, er vermittelt Schönheit und erscheint als Teil von Gott („wie die Augen Gottes“) bzw. seiner Schöpfung. Dadurch, dass er sichtbar ist und Teil hat an der Welt außerhalb der Lagermauern, ist er ansprechbar und kann auch Anteil nehmen an einem Zustand, der ihm (über das poetische Sprechen) benannt wird. Zofia Pienkiewicz gelingt es mit diesem Bild, den Zustand der Häftlinge, ihre empfundene Endzeitstimmung, den Widerstreit von Hoffnungslosigkeit und immer wieder hervorbrechender Sehnsucht zu benennen. Im Anschluss an Hilde Domins Lyriktheorie würde ich sagen: Das Benennen des Grauens fordert dem dichtenden Ich ein genaues Hinsehen ab, um wirklich sagen zu können, was ist. Wie gefährlich dies unter den Umständen der Lagerhaft ist, davon zeugen andere Texte und auch die Erinnerungen von Überlebenden, die betonen, dass zu viel Emotion, ob Hass oder Verzweiflung geradezu tödlich sein konnte. Die Realität der KZ-Haft in die lyrische Form zu bringen, heißt aber eben auch, sich im Moment des kreativen Prozesses von ihr zu distanzieren, sie ins Wort zu bannen und über eine Form, die Anfang und Ende hat, vorübergehend handhabbar zu machen. Daraus eröffnet sich im Weiteren eine paradoxe Bewegung, die in diesem Falle wenigstens so weit geht, trotz allem, gegen alle tödliche Erstarrung weiter durchhalten zu wollen. Bevor ich nochmals zu dem Eingangsgedicht zurückkehre, möchte ich Ihnen zusammenfassend in sechs Thesen meine Rückschlüsse zur Diskussion stellen, die ich aus der jahrelangen Beschäftigung mit KZ-Lyrik gewonnen habe.
Benennen und Bannen der Katastrophe Das Benennen der Zerstörung erfolgt in den Gedichten, die in Konzentrationslagerhaft entstanden sind, über Bilder. Bilder, die ich weniger als Metaphern, sondern eher als existentielle Symbole ansehe. Deutungsmuster wie hier die „Apokalypse“ oder der Himmel, in anderen Gedichten Exil, Hölle oder solche, die Elemente aus der Natur symbolisch aufladen, aber auch lagerspezifische Muster wie der Appell, der als Inbegriff des KZ-Systems gesehen wird – alle diese
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Bilder verweisen letztlich symbolisch auf eine namenlose Fremde und auf einen unheimlichen Zustand von Verlassenheit der Inhaftierten: einer Selbst-, Welt- und Gottverlassenheit. In ihrer Symbolik, die – bildlich gesprochen – notdürftig auf eine lyrische Orientierungsschnur gefädelt wird, sind sie offenbar geeignet, den inneren Zustand des Ich zu repräsentieren und gleichwohl ins Bild zu bannen.
Das Reimeschmieden als Akt der Bewältigung Die Form des lyrischen Sprechens ist dabei von großer Bedeutung: Erstens ermöglicht sie (weil man sich Reime gut merken kann) einen praktisch wiederholbaren Vollzug dieser paradoxen Bewegung von Benennen und Bannen: und zwar nicht nur für die Verfasserin, sondern natürlich für alle, die das Gedicht auswendig lernen, auf- und weitersagen. Zweitens vermag die geschlossene Form des Gedichts das an sich Unvereinbare von Lagerwelt und Nicht-Lagerwelt, von Tod und Sehnsucht (nach Zukunft) zu vereinen. Drittens kann über die Realität der KZ-Haft in gewisser Weise über die Form des Gedichts, ein Umgang gefunden werden. Indem die trostlose, zerstörerische Situation durch das Reimen in eine abgeschlossene Form gebracht wird, kann sie – für den Moment des Dichtens oder Sprechens – schöpferisch bewältigt werden und birgt so ein emanzipatorisches Potential.14 Denn das eigene Selbst wird beschreibbar, die innere Verfassung wird benannt. Die Begegnung im autokommunikativen Akt führt im Weiteren über das Ich hinaus: auf ein Du, in die Welt.
Die gemeinschaftsstiftende Funktion der Lager-Lyrik Das lyrische Sprechen erlaubt nicht nur, sich in eine Distanz zur Alltagssprache der SS zu setzen. Es ermöglicht in seiner besonderen Rhythmik, seiner Wiederholbarkeit und im Akt des lauten Sprechens auch eine gemeinsame Sprache des Leidens und des Protestes. Dieses Sprechen folgt – über das Versmaß – einem 14 Vgl. hierzu die Reflexionen über den Dichtungsprozess von Hilde Domin und Margarete Susman, die mich zu dieser Sichtweise inspiriert haben. Vgl. zu Hilde Domin Anm. 1; Susman, Margarete: Die Grundbedingungen der modernen Lyrik (1910). In: dies.: Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914–1964. Hrsg. von Schlösser, Manfred. Darmstadt/Zürich 1965, S. 183–244.
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Atemrhythmus oder dem Herzschlag. Und vermag für den Moment das Lebendige der eigenen Existenz zurückzubringen.
Das KZ-Gedicht als symbolisches Ich Nach meiner Überzeugung, die ich in der Auseinandersetzung mit Theorien zum lyrischen Ich sowie mit poesietherapeutischen Ansätzen gewonnen habe15, ist das im Konzentrationslager verfasste Gedicht durch das Zusammenspiel der beschriebenen Aspekte in seiner Ganzheit als ein symbolisches Ich anzusehen. An das Gedicht werden die Reste eines Ich delegiert, das seiner Vernichtung ausgeliefert ist. Im Gedicht kann die Zerstörung benannt werden. Gleichzeitig schafft es – auch wenn der Realität damit kein Einhalt geboten werden kann – einen (Selbst-)Schutz vor der realen Erfahrung, indem es die ohnmächtig erlebte Zerstörung in Bilder bannt. Klage, Protest und (Selbst-)Beschwörung ermöglichen eine existentielle Repräsentation des Ich, das sich einen „Atemraum für Freiheit“ (Hilde Domin) verschafft: Über die Lyrik konstituiert sich ein Ich, das sich, obwohl es zerstört wird, als lebendiges erfahren kann. Der Text verweist auf die zerstörte Menschlichkeit und beklagt den Tod der Nächsten. Gleichzeitig repräsentiert er durch seine Existenz als Text ein Ich, das auf sein Recht, Mensch zu sein, beharrt und das der Katastrophe einen Schrei nach Mit-Menschlichkeit abgerungen hat, damit er in der Zukunft widerhallen und wenigstens dann gehört werden kann.
Die Lager-Lyrik als poetisches Zeugnis Ihr Zeugnischarakter, der als das spezifische Merkmal dieser Lyrik bestimmt werden kann, führt über den Aspekt des Biografischen und/oder Dokumentarischen hinaus. Die Texte wollen weder nur als individuell-persönliche Botschaft noch ausschließlich als historisch-politisches Dokument verstanden werden, sondern als Bezeugung eines kollektiven Schicksals in einer historisch-konkreten, real erfahrenen Katastrophe. Diese Intention, aber auch ihre inhaltlich und formale Eigenheit, mündlicher Text, „lebendiges Gespräch“ zu sein, rücken
15 Vgl. zum Beispiel auch Spinner, Kaspar H.: Zur Struktur des lyrischen Ich. Frankfurt a. M. 1975.
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diese Gedichte auf der Ebene ihrer Wirkungsabsicht in die Nähe biblischer Zeugnistexte.16 Biblisch betrachtet ist ein Zeugnis eine Vergegenwärtigung des Wortes Gottes, das sich immer im konkreten Tun (Handeln, Sehen, Hören, Sprechen) neu erzeugen, bezeugen muss. Das tertium comparationis von biblischem Zeugnis und so genanntem Holocaustzeugnis ist nun nicht im bezeugten Geschehen zu suchen – das dann ja eine Art Offenbarungscharakter hätte. Vielmehr liegt es im Verhältnis von Augenzeugen und Zeugen des Zeugnisses, die beide, in jeweils verschiedener Weise, an der Vergegenwärtigung des Geschehens konstitutiv beteiligt sind.
Zur Hermeneutik poetischer Zeugnisse aus den Lagern Wenn die Texte, die zumeist unter dem globalen Begriff der Holocaustliteratur zusammengefasst werden, in ihrem Zeugnischarakter ernst genommen werden sollen, dann muss eine Hermeneutik aus meiner Sicht dreierlei umfassen: Erstens sind Zeugnisse aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern zu unterscheiden von jenen künstlerischen Äußerungen, die von den Überlebenden (oder gar von anderen Personen) danach verfasst worden sind. Damit hängt zweitens zusammen, dass eine Interpretation möglichst genau die Produktionsebene der Texte freilegen muss. Theologisch gesprochen würde man nach dem „Sitz im Leben“ fragen, und dabei biographische Aspekte herauszufinden versuchen, Zeitpunkt und Umstände der Textproduktion. Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass insgesamt die Untersuchung des historischen Kontextes wichtiger ist als die Gattungsfrage oder als die Analyse des literarischen Textes. Die historische Konkretheit der Erfahrungen, die das schreibende Ich fragmentier(t)en und traumatisier(t)en, diktierten die inhaltlichen und formalen Stilmittel dieser Literatur. Die literarischen, fiktionalen Elemente können im Vergleich mit anderen Texten sowie mit Hilfe von anderen Kontexten herausgearbeitet werden – in meinen Untersuchungen waren dies vor allem religionsgeschichtliche Muster. Die Analysen von Entstehungskontext und „fiktionaler“ Gestaltung erhellen sich gegenseitig.
16 Viele Überlebende verstehen ihr Zeugnis als prophetische Rede, als Anrufung, das Leiden des anderen handelnd zu beantworten. Vgl. zum Gedanken der Prophetie, das ein Paar mit dem Zeugnis bildet Gibbs, Robert: Zeugnis, Prophetie, Spuren. In: Zeugnis und Zeugenschaft. Berlin 2000 (Jahrbuch des Einstein Forums 1999), S. 137–155, bes.: S. 143f.
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Drittens teilen die Augenzeugen eine Erfahrung mit, für die es keine gemeinsame Erzählbasis gibt, die also erst dann vergegenwärtigt werden kann, wenn sich die Nicht-Augenzeugen aktiv an der Sinnproduktion beteiligen.17 Ohne die überlieferten Zeugnisse ist es nicht möglich, die Realität der Konzentrationsund Vernichtungslager in die uns erfahrbare Wirklichkeit zu übermitteln. Und doch wird sich das Geschehen, darüber wurde bereits von anderen viel gesagt, nicht erfassen lassen, weil eine vollständige Vergegenwärtigung über das Zeugnis bedeuten würde, das Geschehen sinnlich-körperlich nachvollziehbar zu machen. Für die Interpretation von Lager-Lyrik, aber auch anderer Holocaust-Literatur, heißt dies nichts weniger als sich fortwährend in einem paradoxen Balanceakt zu üben, nämlich einerseits die eigene Beteiligung an der Erzeugung des Zeugnisses anzuerkennen, ja sogar bewusst auszuüben, andererseits dem je eigenen Bedürfnis nach Sinnstiftung selbstmisstrauisch zu begegnen und den Anspruch auf objektivierende Wahrheiten zugunsten einer transparenten subjektiven Position aufzugeben. Gleichzeitig ist als Bedingung für jegliche Form der verstehenden Annäherung das Primat der Augenzeugenschaft zu respektieren. Damit meine ich nicht, dass das Zeugnis eine heilige Faktizität einnimmt, die nicht angetastet werden darf.18 Vielmehr muss sich die eigene Interpretation daran messen lassen, ob es ihr gelungen ist, den Augenzeuginnen und Augenzeugen als lebendiges Gegenüber Stimme und Präsenz verschafft zu haben. Zum Abschluss möchte ich zu dem eingangs zitierten Gedicht von Grażyna Chrostowska (Abb. 7) zurückkehren, um deutlich zu machen, wie sich das Gedicht verändert, wenn es im Hinblick auf Sprache, Biografie, Entstehung und Performanz kontextualisiert wird. Podróż Ucieknę chyłkiem, późną nocą, Polecę z wiatrem w świat, Gwiazdy się będą sypać w oczy, Tysiące ślepych gwiazd. O szczyty otrę się zuchwale, Drzemiących we mgle gór, 17 Vgl. hierzu zum Beispiel Felman, Shoshana u. Dori Laub: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis and History. New York 1992. 18 Vgl. zu dieser auch von mir kritisch gesehenen, durchaus verbreitenden Neigung Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M. 1992; vgl. für die christliche Rezeption von Glaubenszeugnissen der Häftlinge aus Ravensbrück meinen eigenen Beitrag, Jaiser, Constanze: Dem Erlöser nah sein? Zum Umgang mit Glaubenszeugnissen aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. In: Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Positionen der dritten Generation nach der Shoah. Hrsg. von von Kellenbach, Katharina, Björn Krondorfer u. Norbert Reck. Darmstadt 2001, S. 269–284.
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I słuchać będę w srebrnej dali Jak szumi ... szumi bór. W sennych jeziorach mrą widziadła Popatrzę w głębię wód, Przeniknę ciemność, dojrzę na dnie, Na piaskach niemy grób …19
Abb. 7: Grażyna Chrostowska (1925–1983).
Wenigstens verweisen möchte ich zunächst auf die grundsätzliche Schwierigkeit, dass wir es bei den meisten Zeugnissen mit Übersetzungen zu tun haben. Dieser Text ist im Original polnisch, er hat einen A-B-Reim, und wir können nicht auf Anhieb eventuelle Anspielungen auf polnische Motive erkennen. Zwei Übersetzungen liegen mir vor, die erste wurde eingangs zitiert, eine weitere bewegt sich näher am Original. Schwierigkeiten ergeben sich, soweit ich das beurteilen kann, vor allem mit den Worten, die mit Geräuschen und mit dem Gegenteil, der Stille, ja dem Tod zu tun haben.20 Die eingangs zitierte Nachdichtung scheint mir die Atmosphäre des polnischen Originals insgesamt gut wiederzugeben, doch natürlich handelt es sich beim Transfer in andere Sprachen immer um eine erste Interpretation.
19 Vgl. Oleksy/Polska (wie Anm. 5), Aby świat, S. 120. 20 Z.B. Ślepych – tot, abgestorben, Polecę – fliege, szumi – rauscht, weht, tost, sennych – schläfrig oder schlafend, niemy – stumm, auch still, aber auch mrą widziadła: Sterben Traumvisionen oder werden Träume, Traumbilder getötet? Auch „an ihnen mach ich halt“, steht so nicht im Original, dennoch ergibt es Sinn, denn der Traum wird ja gestoppt.
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Abb. 8: Aus dem KZ Ravensbrück geschmuggelte Erschießungsliste (Auszug) mit Namen von Polinnen aus dem Lubliner Sondertransport, darunter auch von der Dichterin Grażyna und ihrer Schwester Apolonia. Des Weiteren befand sich in dem Glasbehälter eine Notiz mit folgenden Worten: „Grażyna Chrostowska, 20 Jahre alt, verhaftet am 2. Mai 1941 in Lublin, erschossen am 18. April 1942 in Ravensbrück. Wir schicken einen Teil ihrer Gedichte. Weitere versuchen wir ebenfalls auf diese Art zu schicken. Behaltet bitte diese Sachen im Gedächtnis oder im Original, weil Ihr seid Euch sicherlich im Klaren, welch großen Wert sie für uns darstellen. Ravensbrück ’43“.
Weitere Schritte der Exegese des Textes betreffen die Urheberin und den „Sitz im Leben“, also welche Funktion(en) und welche Geschichte hatte der Text. Wer war die Dichterin? Grażyna Chrostowska schrieb diese Zeilen während ihrer Haft im Konzentrationslager Ravensbrück. Grażyna hatte während der deutschen Besatzung für eine illegale Untergrundzeitschrift in Polen gearbeitet, war beim Besuch ihrer Schwester Apolonia, die bereits in Lublin im Gefängnis saß, verhaftet worden und, ohne Gerichtsverfahren, mit einem Todesurteil aus dem Generalgouvernement ins Deutsche Reich verschleppt worden. Sie war 21 Jahre alt und unter ihren Kameradinnen beliebt wegen ihrer eindrücklichen Gedichte. Die SS führte sie, zusammen mit ihrer Schwester Apolonia und elf anderen jungen Polinnen, am 18. April 1942 zu ihrer Erschießung ab (Abb. 8). Weder Zeitpunkt noch Gründe waren den Frauen vorher bekannt. Bevor die SS sie ermordete, gelang es der jungen, begabten Dichterin noch, ihre auf Zettel notierten lyrischen Texte einer Freundin, Janina Iwańska (Abb. 9), zuzustecken. Nina Iwańska lernte die Verse, aus Angst vor Entdeckung, allesamt auswendig. Sie gaben ihr Trost und
Benennen und Bewahren
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Lebensmut, wie sie sagte, als sie mit anderen jungen Polinnen im Krankenrevier des Lagers lag, nachdem die SS-Ärzteschaft sie für brutale medizinische Experimente missbraucht hatte.21
Abb. 9: Janina (Nina) Iwańska (1921–1942). Abb. 10: Der 1975 bei Neubrandenburg ausgegrabene Glasbehälter mit Briefen, Gedichten, Zeichnung und Schnitzerei, geschmuggelt aus dem Konzentrationslager Ravensbrück.
Die Gedichte der Freundin Grażyna konnten zusammen mit anderen Gedichten sowie mit heimlich gefertigten Listen über die medizinischen Experimente sowie die Erschießungen zahlreicher Polinnen, die in einem Außenlager arbeiten mussten, aus Ravensbrück heraus geschmuggelt werden.22 Die jungen polnischen Frauen setzten alles daran, die in diesen Dokumenten enthaltene Wahrheit der 21 Brief von Nina Iwańska in der Caroline Ferriday Collection, Archiv des United States Holocaust Museums in Washington D.C., USHMM, 1994. A.O 334; für den freundlichen Hinweis bedanke ich mich bei Henry D. Mayer. 22 Vgl. zu dem Schmuggelfund ausführlich die Projektmappe Ein Schmuggelfund aus dem KZ – Erinnerung, Kunst & Menschenwürde, Berlin 2012, die ich zusammen mit Jacob David Pampuch herausgegeben habe. Auch das Gedicht „Reise“ wurde im Jahr 1975 aus einem Glasbehälter, der an einem Waldstück vergraben worden war, geborgen (Abb. 10).
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Nachwelt zu übermitteln. Dabei waren ihnen die poetischen Zeugnisse ebenso wichtig wie die unter Lebensgefahr erstellten Listen mit Daten und Namen der Zwangsoperierten und der Erschossenen, eben weil sie „ihre Wirklichkeit“ beschrieben.23 Ob Grażyna Chrostowska damals, als sie das Gedicht in Ravensbrück verfasste, bereits wusste, dass die SS in den direkt am Lager befindlichen Schwedtsee die Asche von Toten schüttete? Der Dichterin gelingt jedenfalls eine lyrische Bewegung, bei der das Ich keineswegs die Flucht in eine imaginierte Gegenwelt benutzt, um die grausamen Lagerbedingungen hinter sich zu lassen. Vielmehr schöpft es auf seiner Seelenwanderung Kraft, um den Anblick der Realität benennen zu können. Die Opposition zwischen der mit dem Wind frei Vagabundierenden und der visionären Seherin des (eigenen) stummen Grabes könnte größer nicht sein und lässt gerade dadurch Rückschlüsse auf die tatsächliche Haftsituation zu. Grażyna Chrostowska selbst hat nicht überlebt. Ihre Freundin Nina Iwanska überlebte die Haft mit schwer verstümmelten Beinen. Sie immigrierte nach Paris, wo sie die Gedichte ihrer Freundin in französischer Sprache herausgab. So haben die Verse durch sie und durch einige andere Frauen, die sie auswendig gelernt hatten, überlebt.
23 Vgl. zum Stellenwert der Gedichte im Verhältnis zu den Briefen und Listen, die die Verbrechen dokumentierten, meinen Beitrag, Jaiser, Constanze: Über Sprache in mörderischen Verhältnissen. Gedichte als Zeugnisse der medizinischen Experimente und Hinrichtungen von polnischen Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück. In: Dachauer Hefte 18 (2002), S. 135–159.
Anne-Berenike Rothstein
Die Erschaffung eines Kulturraumes im Raum der Unkultur Germaine Tillions Le Verfügbar aux enfers (1944) Germaine Tillions1 1944 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück entstandene „opérette-revue“ Le Verfügbar aux enfers ist in vielerlei Hinsicht einzigartig: Sie zeugt davon, unter welch katastrophalen Bedingungen der Geist zur literarisch-kulturellen Schöpfungskraft fähig ist, sie aktiviert nicht nur das kollektive Gedächtnis, sondern bildet heute selbst einen Teil des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses. Die Operette entwickelt bereits 1944 ein solches Reflexionsniveau, dass das Werk dem Anspruch Semprúns an die Zeugenliteratur gerecht wird, der fordert, dass Werke geschrieben werden müssen, „qui dépasseront le simple témoignage, qui donneront à imaginer, même s’ils ne donnent pas à voir“.2 Letztlich gewinnt die Operette auch durch ihre Zeitenthobenheit eine so starke Aussagekraft, dass sie über 60 Jahre später erfolgreich zur Aufführung gebracht wird.3
1 Als Mitglied der Résistance wurde Germaine Tillion (1907–2008) 1942 verhaftet und 1943 nach Ravensbrück deportiert. In Frankreich sehr bekannt und geehrt, hat sie als Ethnologin, Soziologin und Literatin, aber vor allem als engagierte Menschenrechtlerin das letzte Jahrhundert sozialpolitisch mitgestaltet. Vgl. die umfassende Würdigung von Tzvetan Todorov: Mémoire du mal. Tentation du bien. Enquête sur le siècle. Paris 2000. Insgesamt gibt es drei Fassungen ihrer soziologischen Studie Ravensbrück, die 1946, 1973 und 1988 erschienen sind. Ravensbrück gilt als fundamentales Referenzwerk über das Leben im Lager, in der Tillion ihre persönlichen Aufzeichnungen und Archivdokumente mit jeweils aktuellen Erkenntnissen und neuen Dokumenten ergänzt. In ihrer präzisen Analyse der Lagerstruktur fällt vor allem der kritische Blick der Wissenschaftlerin auf, mit dem sie versucht Zusammenhänge und Gründe für die Vernichtung zu erforschen. Vgl. auch Lacouture, Jean: Le témoignage est un combat. Une biographie de Germaine Tillion. Paris 2000. 2 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie. Paris 1994, S. 138. 3 Vgl. den Abschnitt „Neue (Kultur-)Räume – Rezeption und Adaption von Le Verfügbar aux enfers“ in diesem Beitrag.
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Lagerrealität oder Metawelt? – Komik und Travestie als Darstellungsmittel und -weise Der folgende Beitrag widmet sich der Erläuterung der Operette als kulturelles Artefakt in der „Kolonie des Terrors“4 und der ihr inhärenten Diskurse (Körperdiskurs, Komikdiskurs etc.). Die These ist, dass Germaine Tillion in der Operette nicht nur eine Heterotopie5 zum konzentrationären Raum, sondern mit ihrer „opéretterevue“ einen neuen Kultur-Raum schafft. Germaine Tillions Grundgedanke, das Konzentrationslager nicht mimetisch abzubilden, sondern in einer ästhetischen Transposition, ja travestieartigen Interpretation ihrer Erfahrungen als „enfer“, Unterwelt, zu schildern, reiht sich aus heutiger Perspektive in die Assoziation Lager und Unterwelt ein.6 Erstaunlich ist, dass ihr Stück – ein Gesamtwerk einer Gruppe französischer Häftlinge, die aufgrund ihrer Résistance-Mitarbeit nach Deutschland deportiert worden waren – eine Art Varietéevorstellung bietet, die durch die Verwendung verschiedener Text- und Musikgattungen die kollektive Zusammenarbeit widerspiegelt, aber auch durch den fragmentarischen Charakter eine formale Entsprechung der erlebten Wirklichkeit des Lageralltags darstellt.7 Germaine Tillion greift damit bereits während ihrer Lagerhaft eine Problematik auf, mit der sich die meisten Überlebenden nach ihrer Zeit im Lager konfrontiert sehen: die Frage nach einer der Lagererfahrung angemessenen Poetik, nach der Möglichkeit, durch Fiktion (oder durch Dokumentation) die „vérité essentielle“ der Ereignisse zu vermitteln. Sie umgeht in ihrer Operette (intuitiv) die Schwierigkeit der Zeugnisliteratur, die allein mimetisch in der bloßen Beschreibung des Grauens versucht die Erfahrung zu vermitteln. Germaine Tillion bedient sich eines Kunstgriffes und erreicht damit wirkungsästhetisch die emotionale Partizipation. Die Musik wird neu kontextualisiert und mit spezifischem Text versehen und erhält damit eine gesellschaftskritische Funktion (Abb. 1). Der Titel der Operette ist Programm – er zeigt die Synthese von Form und Inhalt. Le Verfügbar aux enfers ist als Anspielung auf Jacques Offenbachs L’Orphée aux enfers (eine Opera 4 Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M. 2002, S. 24. 5 Vgl. Anm. 24. 6 Vgl. auch den Beginn zu Claude Lanzmanns Shoah (Frankreich 1974–1983) und Primo Levis Inferno-Assoziation (Levi, Primo: Se questo è un uomo [1957], in: ders: Opere I. Torino 1987, S. 5–169, hier: S. 109). 7 Als einzig vergleichbares Dokument lässt sich Schum Schum der jüdisch-politischen Gefangenen Käthe Leichter und Herta Breuer nennen. Vergleichbar deshalb, weil auch dieses Singspiel in einem niedergeschriebenen Script festgehalten ist und auf einer Metaebene das NS-Regime kritisiert (zwei entflohene jüdische Gefangene stranden auf einer verlassenen Insel und mokieren sich anhand unterschiedlicher Lieder über die SS).
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Abb. 1: Page du manuscrit du Verfügbar aux Enfers de Germaine Tillion (1944), Faksimile.
buffa) gedacht, die wiederum eine Parodie von C. W. Glucks Orpheus in der Unterwelt ist. Selbst eine „Verfügbare“,8 setzte Tillion die drei Akte der Operette („Printemps“, „L’été“ und „Hiver“)9 in einem Versteck aus Segmenten zusammen, die sie 8 In Frauenkonzentrationslager Ravensbrück unterscheidet Germaine Tillion vier „Kategorien“ von Frauen: „Kaninchen“ (vor allem junge Polinnen wurden in Versuchslaboren „Operationen“ unterzogen, an deren Folgeerscheinungen sie meistens starben), „Schmuckstücke“ „Verfügbare“ und Prostituierte. „Diejenigen Häftlinge, die nicht in Nachtschicht arbeiteten, nicht im Revier lagen, sich nicht in Quarantäne befanden, nicht Mitglied einer Arbeitskolonne und nicht für den Innendienst eingeteilt waren, mußten ergo in der Kolonne der ‚Verfügbaren‘ marschieren, und aus dieser Gruppe suchte sich der Leiter eines Kommandos immer unvorhergesehen Personal aus, das ihm auf einer Arbeitsstelle oder für einen überraschenden Sondereinsatz fehlte“. Vgl. Tillion, Germaine: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Frankfurt a.M. 2001 (Orig.: Ravensbrück. Paris 1973, S. 175f.). „Verfügbar“ bedeutete also keinem konkreten Arbeitskommando zugewiesen worden zu sein und damit für jegliche Aufgabe (Latrinensäuberung, Kadaverwegschaffen) herangezogen zu werden. 9 Tillion, Germaine: Le Verfügbar aux enfers. Une opérette à Ravensbrück. Paris 2005. Bei Textzitaten und Verweisen werden die Seitenzahlen in Klammer gesetzt und Le Verfügbar aux enfers. Une opérette à Ravensbrück mit Tillion, Le Verfügbar abgekürzt. Im zweiten Akt setzen sich die „Verfügbaren“ noch unrealistische, aber doch motivierende Ziele zum Durchhalten (beispielsweise eine Heimreise, Le Verfügbar, S. 190), gestehen sich am Ende doch ein, dass nur noch eine Täuschung, ein personifizierter „Bobard“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 214) sie retten könne. Am
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zuvor im Kollektiv mit ihren Kameradinnen memoriert hatte.10 Das Werk ist dialogisch aufgebaut, wobei Tillion dem Moderator der Revue, einem Naturalisten, der distanziert und bemüht wissenschaftlich von der neuen Spezies des „Verfügbaren“ berichtet und eine Systematisierung der Lagerbevölkerung (durch Charakterisierung der Herkunft, des Handelns und der Physiognomie) anstrebt,11 einen Chor von Gefangenen, die „Verfügbaren“, gegenüberstellt, der den Zoologen zuweilen korrigiert oder durch grauenhafte Begebenheiten und Anekdoten aus dem Lageralltag seine Ausführungen illustriert (bsw. wird der „Verfügbar“ zur Herberge für Läuse und Flöhe, „de nombreux parasites“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 90) degradiert. Die Wahl eines akademischen Rahmens (Vorlesung) über das Objekt des Verfügbaren verstärkt die Botschaft des entmenschlichenden Prozesses, den die neue Spezies durchlaufen muss. Im Laufe dieser Vorlesung versucht der Naturalist eine auf Typologie und Historie fußende Definition des „Verfügbaren“ zu geben (Abb. 2): Le naturaliste [Au public] - Signalons brièvement quelques-unes des innombrables contradiction d’animal: Faible, débile, et pouvant à peine se traîner lui-même, il n’est employé qu’à des travaux de force; perpétuellement affamé, il n’a rien à se mettre sous la dent et quand on lui propose une prime de nourriture il la refuse … Perpétuellement malade, il montre des signes d’une crainte panique à l’idée d’être soigné … Le chœur [Il chante / Air de Madame Sans-Gêne] Quand on simule, / Que sans terreur / On peut se dire / Simulateur … / Il est une chose / Il est une chose / Il est une chose qu’il faut prévoir: / La carte rose / La carte rose / La carte rose, et le transport noir. Nénette - Mais je ne simule pas, je suis réellement malade … […] Le chœur - Ça suffit ! Vous y avez droit à la carte rose, et au transport, et tout, et tout … comme débile mentale … on s’en doutait. Nénette - Ça m’est égal … J’irai dans un camp modèle, avec tout confort, eau, gaz électricité … Le chœur - Gaz surtout … [Petit froid] (Tillion, Le Verfügbar, S. 113ff.).
Ende des Stückes sehen sich die „Verfügbaren“ immer mehr ihrer Hoffnung beraubt. Den letzten Teil der Operette verfasste Tillion im Herbst 1944, in einer Zeit, in der sich laut Todorov die Lagerbedingungen immer mehr verschlechterten, was ein Grund dafür war, die Operette nicht beenden zu können. Todorov, Tzvetan: Avant-propos. In: Tillion, Le Verfügbar, S. 2f., hier: S. 3. 10 Innerhalb von 20 Tagen schrieb Germaine Tillion im Herbst 1944 die Operette auf. Als „Verfügbare“ war sie für den Aussortierdienst, der die Kleidung von deutschen Plünderungen sortierte, eingeteilt und konnte in ihrem Versteck (einer Kleiderkiste) die Niederschrift des Werkes unbemerkt vornehmen. Dabei profitierte sie nicht nur von der Komplizenschaft einer tschechischen Gefangenen, Vlasta Stachova, die in der Bauleitung arbeitete, sondern auch von der Solidarität und Kameradschaft der Häftlinge untereinander, die es ermöglichten, dass sie unentdeckt schreiben konnte. 11 Die Einzigartigkeit des Verfügbaren (hier weist Tillion einmal mehr auf die Unvergleichlichkeit der Situation im Konzentrationslager hin) unterstreicht der Naturalist mit dem Hinweis darauf, dass er der erste Erforscher dieser Spezies ist (Tillion, Le Verfügbar, S. 30) und artikuliert sich mit Anleihen an die Rechtswissenschaften („CQFD“, „ce qu’il fallait démontrer“) (Tillion, Le Verfügbar, S. 82) oder medizinischen Fachausdrücken wie „tube digestif“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 82).
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Abb. 2: Page du manuscrit du Verfügbar aux Enfers de Germaine Tillion. Illustration de France Audoul (1944), Faksimile.
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Damit verdeutlicht Tillion, wie unvergleichlich und unmenschlich die Situation im Lager ist und dass diese gerade in der Geschichte einmalig ist: die Lebenserwartung des „Verfügbaren“ ist gering, er ist zu harter Arbeit in sehr geschwächtem Zustand gezwungen, ist schutzlos Krankheiten ausgesetzt und muss im Angesicht des Todes jeden Tag ums Überleben kämpfen, „On est tout ramolli par la nuit [...] et puis vite on retrouve sa capace ...“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 182). Der Einsatz eines Naturalisten, der sowohl als theoretisches Konstrukt gemeint sein kann als auch als „a didactic version of the commandant, SS guard, or medical doctor“12 oder aber auch als ethnologisch-reflexive Instanz, bringt Germaine Tillion in die Lage, sich in die Rolle eines Zuschauers zu versetzen. In dieser literarischen Distanzierung ist es ihr möglich – unter Zuhilfenahme einer Komik, die die Vorkommnisse als Groteske darstellt – über die Zustände im Lager zu berichten. Sie erschafft hier einen diskursiven Raum, in dem verschiedene Stimmen sich äußern können. Der Chor konterkariert oftmals diesen reduziert-professionellen Blick des Naturalisten in Form musikalischer Einlagen, wobei Germaine Tillion Operettenarien und populäre Chansons modifiziert. Die der Operette zugrundeliegende Idee ist die Etablierung des „Verfügbaren“ als neue tierische Spezies. Dieser versucht sich gegen seine Umwelt durch verschiedene Anpassungsstrategien und gegen alle widrigen Umstände zu behaupten, um letztendlich seiner Arbeit zu entkommen. Somit ist der Träger der textimmanenten Überlebensanleitung für das Lagerleben der „Verfügbare“. Im Laufe der drei Akte wird der Chor, bestehend aus den „Verfügbaren“, den „Cartes roses“ (ältere und chronisch kranke Menschen) und den „Julots“,13 deren Lieder die Hierarchie der Gefangenen und die Lagerbedingungen verdeutlichen sollen, individualisiert. Diese Progression zur Individualität soll dem im Lager angestrebten Dehumanisierungsprozess entgegenwirken. Die Informationen, die Tillion niederschreibt, bieten nicht nur eine Möglichkeit, das Gesehene selbst zu verstehen und sich vor Augen zu führen, sondern sie ruft auch ihre Kameradinnen durch diese Informationsquelle zum Widerstand auf. Le Verfügbar aux enfers vereint auf kongeniale Weise Selbstdistanz und -verspottung mit einer detaillierten Beschreibung des Lageralltags. „Faire rire, rire de soi et transmettre d’information, trois actes de résistance en situation extrême: telle est la performance de Germaine Tillion“.14 Die Hoffnung auf ein Leben danach ist zum einen eine imaginäre Flucht vor dem Lageralltag, andererseits stellt auch sie einen Ausdruck der 12 Loselle, Andrea: Performing in the Holocaust: From Camp Songs to the Song Plays of Germaine Tillion and Charlotte Salomon. The Space Between. Volume VI: 1. 2010, S. 13–37, hier: S. 19. 13 „Julots. Surnom donné aux femmes qui jouaient le rôle masculin dans les couples de lesbiennes“. Vgl. Erläuterungen in Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 13. 14 Andrieu, Claire: Introduction. In: Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 4–10, hier: S. 6.
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Weigerung des „Verfügbaren“ dar, sich mit seiner eigentlich hoffnungslosen Situation zurechtzufinden. Um dem Tod zu trotzen, bleibt nur der psychische Widerstand, „mieux vaut mourir debout que vivre à genoux ...“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 126), den Lulu de Belleville hier artikuliert.15 In der entschiedenen Ablehnung des Ernsten auf der Form- (Operette) und Inhaltsebene offenbart sich die subversive Kraft der Operette; die groteske und zuweilen karnevalisierende Komik (bsw. fügt der Naturalist zur näheren Beschreibung des Äußeren des „Verfügbaren“ hinzu, dass alle Plattfüße hätten, da sie alle so viel Zeit im Stehen verbrächten, Tillion, Le Verfügbar, S. 64) zeigt sich als Teil des Menschlichen, als Erhaltung des Geistes und der Selbstbestimmung: Beispielsweise wird die reale Grausamkeit (die extrem langen Wartezeiten beim Appell) ironisch überhöht und übertrieben, zugleich aber auch die Unsinnigkeit der NS-Maschinerie entlarvt – Komik und Travestie als (poetologische) Überlebensstrategien und (Gesellschafts-)Kritik erweisen sich als Mittel und Grund zum Überleben und damit auch als Waffe des Widerstands gegen den Terror im Lager. Die Ironie hat hier die Funktion, das Leben auf verschiedenen Bedeutungsebenen darzustellen, die durch den Leser – in diesem Fall die Mitinhaftierten – entdeckt werden sollen, sie hat die Schutzfunktion, Trauer oder auch Angst abzuwehren.16 „[...] elle les fait rire et, en même temps, leur transmet une analyse lucide de la situation dans les camps. Lucidité, malice et tendresse marchent de concert“.17
„Costumes Schmuckstück“ – der travestierte Körper Der Frauenkörper bildet bei Germaine Tillion eine Projektionsfläche zur Darstellung von Entmenschlichung und Ent-Weiblichung. Hier gewinnt die Travestie (im wahrsten Sinne als Verkleidung) noch eine zusätzliche Konnotation, denn Tillion spricht sarkastisch über das Aussehen der Inhaftierten vom „costumes Schmuckstück“18 – der Verlust von Schönheit, Weiblichkeit und Menschlichkeit wird somit als Kostümierung reduziert, d.h. die Absurdität des Vorgehens gegen 15 Sie plädiert für ein würdevolles Sterben (erhobenen Hauptes, d.h. im Stehen. Vgl. Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 102. 16 Vgl. Hellenthal, Michael: Schwarzer Humor. Theorie und Definition. Essen 1989, S. 63. 17 Todorov, Mémoire du mal (wie Anm. 1), S. 314. 18 „Das ganze Lager benutzte den Begriff ‚Schmuckstück‘ als Antiphrase, um die elenden menschlichen Wesen zu bezeichnen, die auf der letzten Stufe moralischen und physischen Verfalls angelangt waren. Das Wort ‚Schmuckstück‘ besitzt keine weibliche Entsprechung, denn die so bezeichnete Kategorie Mensch gehörte nicht mehr zu denen, die einem Geschlecht zugeordnet werden könne, sondern zur Neutrums-Kategorie von Gegenständen, von ‚Stücken‘ also [...]“. Tillion, Ravensbrück (wie Anm. 8), S. 210f.
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die Frauen vor Augen geführt. Somit könnte man – konzentriert man sich auf den Körperdiskurs – nicht nur von einem gender-spezifischen Zugang sprechen (der weibliche Körper wird geradezu in seine Einzelteile seziert), sondern auch von der Ausprägung einer gender-spezifischen Komik, die sich stark an Spezifika des Galgenhumors anlehnt.19 Obwohl im Titel die Geschlechtsbezeichnung männlich ist („le Verfügbar“), sind doch alle Verfügbaren im Stück weiblich. Durch den Vergleich mit Weichtieren und die letzten Endes konträre Geschlechtszuweisung wird der Verfügbare seines Geschlechtes beraubt. Insofern wird durch die sich widersprechenden Bezeichnungen semantisch unterstrichen, was der „naturaliste“ explizit im Text verdeutlicht: Im Unterschied zum Verfügbaren könnten die Weichtiere beide Geschlechter annehmen, während der Verfügbare oftmals keines habe „[…] Le Verfügbar est quelquefois femelle, mais le plus souvent rien du tout (Tillion, Le Verfügbar, S. 42)“. Tillion schildert den geschundenen und abgemagerten Körper, den Verlust der Haare und des Schmucks, Symbole weiblicher Schönheit (Tillion, Le Verfügbar, S. 42).20 Der Verlust der weiblichen Rundungen wird in ein Wortspiel eingekleidet: Le Verfügbar adulte est d’une maigreur scelettique […] … c’est un sujet si triste que malgré notre insensibilité scientifique nous reculons devant les détails … Il s’agit des seins, dont je dirais seulement qu’ils sont plus des saints, mais des martyrs… (Tillion, Le Verfügbar, S. 65).
Der Naturalist äußert hier, die Brüste der Frauen seien keine Heiligen mehr, sondern Märtyrer und verweist damit auf die durch Abmagerung und Kahlrasur 19 Hier könnte man zusätzlich zum jüdischen Humor eine Form des Galgenhumors, wie er nach Hellenthal definiert wird, erkennen: „Jener [Galgenhumor] wird, wie schon das Wort ‚Galgen‘ im Kompositum andeutet, im Zusammenhang mit Situationen gebraucht, in welchen eine Figur dem Tode ins Auge zu blicken hat. In ihrer Reaktion auf die tödliche Situation erkennt sie zwar das drohende Schicksal als nicht mehr abwendbar an, erhält sich aber ihre Würde, indem sie den Tod in seiner Finalität ignoriert“. Hellenthal, Schwarzer Humor (wie Anm. 16), S. 38ff. Die Bedeutung des Todes wird übersehen bzw. bewusst heruntergespielt, was wiederum die Öffentlichkeit lächerlich macht. Der Individualist verhöhnt die stärkere Masse. 20 Die Jüdin Marta Kos, die drei Jahre in den Konzentrationslagern von Theresienstadt und Auschwitz verbringen musste, beschreibt in Frauenschicksale in Konzentrationslagern die spezifischen Lebensbedingungen internierter Frauen. U.a. erkennt sie verschiedene Stufen der Entmenschlichung: Nach der Enthaarung folgt die Entseuchung, dann die Registrierung (d.h. die Ersetzung des individuellen Namens durch eine Nummer). Ohne Haare, ohne individuelle Kleidung, ohne gewohnte Einstellung der Frauen zur Umwelt und dieser Umwelt zu den Frauen hören diese auf, sich als Frauen zu fühlen, sind tief erschüttert, desorientiert und haben Angst, so Kos. Der Verlust der Haltung der männlichen Welt gegenüber den Frauen und Verlust der Sexualität bewirkt, wie Kos aufzeigt, dass die Frauen aufhören, sich als Frauen zu fühlen (der Mann wird nach Arbeitsfähigkeit bewertet; die Frau nach ihrer Schönheit, vgl. Kos, Marta: Frauenschicksale in Konzentrationslagern. Wien 1998, S. 169ff.).
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verloren gegangene Weiblichkeit. Auf das Lied Au clair de la lune singt der „Verfügbare“ denn auch Notre sex-appeal / Était réputé ... / Aujourd’hui sa pile / Est bien déchargée [En solo] Mon ampoule est morte / Je n’ai plus de feu / [En chœur] Ouvrez-nous la porte / Pour l’amour de Dieu (Tillion, Le Verfügbar, S. 48ff.).
Hier ist in der Anspielung auf den Verlust der weiblichen Sexualität die Liebe und Sehnsucht des Originaltextes für den Verfügbaren erloschen.21 Die Omnipräsenz des Todes im Lager wird ironisch in der Lebenssituation und Lebensdauer des Verfügbaren aufgegriffen: Le naturaliste - […] Je vous ai déjà dit que, malgré les apparences, le Verfügbar n’a rien de commun avec l’esclave antique et le serf du Moyen Age (y compris celui qui se nourrissait de rats et de pissenlits, etc.). En effet, dans ces deux professions (pourtant décriées), l’histoire et l’archéologie attestent qu’on pouvait trouver des sujets qui engraissaient, ou qui se reproduisaient, ou qui prenaient de l’âge, - toutes choses qui ne peuvent arriver à un Verfügbar … (Tillion, Le Verfügbar, S. 72ff.)
Der Naturalist sucht eine Maßeinheit, um die Lebensdauer des „Verfügbaren“ zu errechnen und wählt „la journée lord-maire“ in Anlehnung an Lord Mayor von Cork, der aufgrund einer Hungersnot 1921 in Irland starb, und folgert daraus, dass die Lebenserwartung eines Häftlings im KZ drei Jahre dauert (Tillion, Le Verfügbar, S. 72ff.). Der „Verfügbar“ ist laut der Aussage des Naturalisten „le produit de la conjugaison d’un gestapiste mâle avec une résistance femelle“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 30, 32), also ein Wesen, das durch einen „viol symbolique“22 einer weiblichen Widerständlerin durch einen männlichen Nazi entstanden ist (Abb. 3). Gleich zu Beginn der Operette wird die Entstehung des „Verfügbaren“ beschrieben, der zunächst „unicellulaire“ und später „multicellulaire“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 32) lebt, was als deutliche Allusion auf die Hafträume der Gefangenen gelesen werden kann, die zunächst in Isolationshaft, dann in Massenkammern untergebracht waren. Entwicklungsstadien der Verfügbaren sind auf eine Metaebene gebrachte Erfahrungen der KZ-Insassinnen: Gefangennahme, die Zwischenstation im französischen Durchgangslager und die Deportation ins KZ. Die Wahl, die 21 Beispielsweise wird die Liebe von Orpheus zu seiner Frau Eurydike mit der Dringlichkeit den Status „Inedienst“ zu besitzen, verglichen (J’ai perdu mon Inedienst). An die Position der Liebe tritt im Lager der Kampf um das Überleben, ein Mittel dazu ist die heimliche Arbeitsverweigerung. Anderes Beispiel ist Les petits paiens, in dem der Verlust der weiblichen Formen anhand des Psalms De profundis zitiert wird. 22 Andrieu, Introduction (wie Anm. 14), S. 8.
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Abb. 3: Page du manuscrit du Verfügbar aux Enfers de Germaine Tillion (1944), Faksimile.
Spezies der „Verfügbaren“ als Insekten zu kennzeichnen, konterkariert die SSIdeologie: Ziel war die Entindividualisierung und Entmenschlichung. Die Arbeit im Kollektiv, in dem der Einzelne zum Arbeitsobjekt verkommt, wird hier ironisiert und durch die aus dem Chor herausgenommenen individuellen Charaktere subversiv unterlaufen. Auch auf einer performativen Ebene wird die Progression zur Individualität in den Angaben zu den Kostümen verdeutlicht: Vom „costumes Schmuckstück“ des ersten Aktes, d.h. einem Aussehen, das zwischen Leben und Tod pendelt und völlige Isolation suggeriert, wandeln sich die Kostüme im zweiten Akt zu einer größeren Individualität („misérables“, aber kunstvoll zusammengestellt) zu Figuren „somptueusement vêtues“ des dritten Aktes.
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Die Operette als Kulturraum Erinnerung ist offensichtlich nicht nur eine Sache der verlängernden Konservierung oder künstlichen Restitution dessen, was längst vergangen und verloren ist, sondern auch eine Kraft, die sich gegen den Wunsch des Vergessens und Verdrängens zur Geltung bringt.23
Persönliches und kollektives Schicksal und Erinnern sind im Lager(über-)leben unausweichlich miteinander verbunden. Durch die Erinnerung werden Außenräume – Heterotopien, „Anders-Orte“24 – geschaffen, die parallel zum Lager entwickelt werden, als deren Gegenentwurf zu verstehen sind und besonders im Kontakt mit anderen der entmenschlichenden Situation im Lager entgegenwirken. Dieser Versuch, Außenräume zu evozieren und sogar eine Parallelwelt zu entwerfen, ist von der physischen und psychischen Situation der Inhaftierten abhängig und kann auf verschiedene Weise zum Ausdruck kommen.25 Germaine Tillions Operette lässt sich in den im Konzentrationslager entwickelten Heterotopie-Diskurs einordnen: Die Überlebenden schildern ihr Bemühen, durch mündliche und imaginäre Rekonstruktion ihres kulturellen Erbes, die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, um somit auch einen Teil ihrer Persönlichkeit wiederzugewinnen. Dieser Identität versichern sie sich im 23 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 336. 24 Vgl. Heterotopia (griech.: „Anders-Ort“) ist im literarischen Sinne nach Michel Foucault ein Anders-Ort, eine Gegenplatzierung, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte. Vgl. Foucault, Michel: „Die Heterotopien/Der utopische Körper“. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt a.M. 2005 sowie Foucault, Michel: Andere Räume. In: Wentz, Martin: Stadt-Räume. Frankfurt 1991, S. 65–72. Zur ausführlichen Erläuterung und Differenzierung von Freiräumen in literarischen und medialen Umsetzungen der Shoah vgl. Binder, Anne-Berenike: „Mon ombre est restée là-bas“ – Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit. Tübingen 2008. Die vom Lager aus entwickelten Außenräume werden hier als Heterotopien definiert, die die Koexistenz von zwei Welten widerspiegeln – der Welt der Kultur und der Welt des Nazismus. 25 Die Möglichkeiten, die äußere Welt in die Gefangenschaft hereinzuholen, sind an verschiedene Bedingungen geknüpft: Physische Schranken, Todesdrohungen, aber auch eine geistige Mauer riegelten das Lagerleben von der restlichen Welt ab. In die Welt des Lagers, der Gefangenschaft und Unterdrückung Elemente der äußeren Welt hereinzuholen, gelang nur, wenn die psychischen (Glaube an die Freiheit, Ermutigung durch Mithäftlinge etc.) und physischen Voraussetzungen (Stellung im Lager) gegeben waren. Fluchtgedanken sind zwar eine Verbindung zur Außenwelt, doch wird Freiheit immer mehr zum irrealen Begriff und die Aufmerksamkeit konzentriert sich ganz auf das Dasein im Jetzt. Eine strenge Postzensur, Verbot von Privatgesprächen mit Zivilarbeitern, vollständiges Schreibverbot für bestimmte Häftlingskategorien sowie keinerlei Briefkontakt zu Angehörigen und Wegnahme aller Wertsachen beim Eintritt in das Lager verhinderten jegliche Bindung an die Außenwelt bzw. Erinnerung an die Heimat oder Familie. Vgl. Sofsky, Terror (wie Anm. 4), S. 24.
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Kollektiv durch gemeinsame Lesestunden, Vorlesen, Rezitieren etc. „Sie [kulturelle Aktivität, Anm. der Verf.] rehumanisierte den Häftling, gab ihm – und sei es nur für einen kurzen Augenblick – seine Lebensgeschichte, seine Emotionen zurück“.26 Kulturgeprägte Wertnormen werden aktiviert und als (überlebens-) wichtige Taktiken zur Erhaltung der individuellen Identität (durch Rekurs auf die kollektive Identität) eingesetzt. So schildern die Auschwitz-Überlebende Charlotte Delbo27 und die Ravensbrück-Überlebende Béatrix de Toulouse-Lautrec28 ihre Möglichkeiten, kulturelle Tätigkeiten, die beiden Fluchtreservat und Frei26 Joan i Tous, Pere: „Dein Herr Professor kommt heute noch durch’s Kamin“: Vom Sinn und Nutzen der Geistesbildung in Jorge Semprúns L’écriture ou la vie“. In: Uni literarisch. Lebenswelt Universität in literarischer Repräsentation. Hrsg. von Nischik, Reingard. Konstanz 2000, S. 185–209, hier: S. 196f. 27 Charlotte Delbo wurde am 10. August 1913 in Vigneux-sur-Seine, Seine-et-Oise geboren und starb am 1. März 1985 in Paris. Sie trat 1932 den jungen Kommunisten bei, unter denen sie ihren späteren Ehemann Georges Dudach kennenlernte. In den dreißiger Jahren arbeitete Charlotte Delbo als literarische Assistentin und Verwalterin für Louis Jouvet. Sie verließ Frankreich für eine Südamerika-Tour mit Jouvets Gruppe im Mai 1941, kehrte jedoch von Rio de Janeiro am 15. November 1941 zurück, um aktiv in der Résistance mitzuarbeiten. Sie wurde zusammen mit Georges Dudach am 2. März 1942 verhaftet. Dudach wurde als Staatsfeind am 23. Mai auf dem Mont-Valérien erschossen. Charlotte Delbo wurde am 24. Januar 1943 nach Romainville (ein Durchgangslager) gebracht und dann in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, zusammen mit 230 Frauen. Am 23. April 1945 wurde sie durch das schwedische Rote Kreuz befreit und kehrte im Juni 1945 nach Paris zurück. Die meisten von Delbos Schriften sind Erinnerungen an Auschwitz-Birkenau gewidmet. Vgl. die ausführliche Besprechung bei Binder, Mon ombre (wie Anm. 24). Charlotte Delbos Trilogie Auschwitz et après vereinigt verschiedene literarische Formen, um den Lageralltag in Auschwitz, das schmerzhafte Erinnern und den Alltag nach dem Alptraum zu thematisieren und zu reflektieren. Ihre Suche nach adäquaten Ausdrucksformen manifestiert sich in einer artifiziellen, von Figuren-, Montage- und Kombinationstechniken reichen und höchst facettenreichen Sprache, die sich bis ins Schrifttbild niederschlägt. Delbo, Charlotte: Aucun de nous ne reviendra. Paris 1970. Band I; Une connaissance inutile. Paris 1970. Band II; Mesure de nos jours. Paris 1971. Band III. Im Folgenden wird die Trilogie entsprechend mit Delbo, Auschwitz I, II oder III abgekürzt. 28 Béatrix de Toulouse-Lautrec und ihre Mutter wurden von der Gestapo im Juni 1944 in Lyon in Haft genommen, dann in Montluc interniert und schließlich nach Ravensbrück deportiert, wo sie im April 1945 befreit wurden. Die Autorin, die 1944 20 Jahre alt war, schrieb ihre Erlebnisse bereits 1946 auf, ihr Bericht wurde allerdings erst 1981 veröffentlicht. Dieses Dokument zeichnet sich durch einen klaren Stil aus und ist eine bewegende und schmucklose Beschreibung des unmenschlichen Grauens. Ihr primäres Ziel ist nicht Zeugenschaft abzulegen, sie versucht vielmehr, ihre Gefühle und die Atmosphäre in Montluc und Ravensbrück zu vermitteln. „Vous qui lirez ceci, vous connaissez, déjà le camp de Ravensbrück. [...] Toutes ces choses incroyables, et pourtant vraies, les camarades vous les ont racontées, sous diverses formes. Et je ne veux pas insister sur ce côté tragique. Je veux rappeler à nos camarades qui ont lutté avec moi et qui ont retrouvé leur vie normale et leur équilibre, que nous n’avons pas versé que des larmes, mais que nous avons aussi eu de bons moments“. De Toulouse-Lautrec, Béatrix: J’ai eu vingt ans à Ravens-
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raum zugleich sind, auszuüben zwar meist als Tätigkeit im Kollektiv aber mit anderer Schwerpunktsetzung: Bei Béatrix de Toulouse-Lautrec werden schlaglichtartig in den konzentrationären Alltag Reminiszenzen an das Leben in der Vergangenheit getätigt, wobei sie – ebenso wie Delbo – die großen Künstler der Weltliteratur zitiert. Lesen ist immer auch Lesen vor dem Hintergrund vergangenen Lesens; es ist abhängig von den Wertehaltungen gegenüber dem Lesen (und damit dem Leben) vor der Haft, im Akt der Lektüre reaktualisiert sich vergangene Praxis des Lesens und Lebens. Diese Verbindung weist einen Weg aus dem Lager hinaus.29
Toulouse-Lautrec diskutiert mit ihren Kameradinnen bei erschöpfender Arbeit über Literatur und Musik, aber auch über alltägliche Dinge: „On avait besoin de pureté, de clarté, c’était bon, pour des bagnardes, de parler de Bach, de Corneille, de Platon, de Raphael, et aussi d’un bon beefsteak béarnais!“ (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, S. 219). Die Bedeutung der gemeinsamen Kommemoration, die sich durch Le Verfügbar aux enfers zieht, ist auch (lebens-)notwendiger Bestandteil des Lageralltags bei Toulouse-Lautrec und Delbo. Weihnachten wird für die Häftlinge Anlass, sich der persönlichen und nationalen Wurzeln zu erinnern. Die Russinnen singen nostalgische Lieder, die Polinnen rezitieren Gebete, die Französinnen organisieren eine Séance: „Stille Nacht, Heilige Nacht, douce nuit, sainte nuit, et il y a eut beaucoup de larmes. Les Polonaises aussi chantèrent des Noëls, et les Russes, et les Tchèques, et nous nous esquivâmes, Maman et moi, afin de nous rendre à l’invitation de Wanda, au Block 15“ (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, S. 242). Mit Weihnachtsbaum und „Weihnachtsessen“ wird ein Raum der Vergangenheit suggeriert und Bestandteile des vergangenen Lebens verschmelzen mit der Grausamkeit der Gegenwart. Der Glaube gewinnt bei Toulouse-Lautrec noch eine zusätzliche Gewichtung im Kollektiv („Il y en a qui ne croient à rien et qui rient, mais beaucoup pleurent et il semble qu’après la messe on se sente plus uni et plus fort!“, Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, S. 153). Gemeinsames Singen (sowohl bei Delbo als auch bei Toulouse-Lautrec wird mehrfach die Marseillaise angestimmt) richtet die Frauen auf, etabliert ein gemeinsames Nationalgefühl und suggeriert eine Möglichkeit des Widerstands durch die Musik. Charlotte Delbo konzentriert sich hingegen besonders auf zwei Begebenheiten, in denen sie im Kollektiv durch die Evozierung klassischen Kulturgutes brück. La victoire en pleurant. Paris 1991, S. 127. Im Folgenden werden Angaben aus dem Bericht mit Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, und der entsprechenden Seitenzahl abgekürzt. 29 Krause, Rolf D.: Vom kalten Wind. Leseverhalten und Literaturrezeption in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Alltag, Traum und Utopie. Lesegeschichten – Lebensgeschichten. Hrsg. von Noltenius, Rainer. Essen 1988, S. 124–140, hier: S. 129.
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psychisch das Lager verlässt: Um in den Besitz von Le Misanthrope zu gelangen, tauscht sie Brot und ist damit (ohne Nahrung) auf die Solidarität ihrer Mitinsassinnen angewiesen, die ihre Brotrationen mit ihr teilen, um von Delbo den Text vorgelesen zu bekommen: Qu’il parlait bien, Alceste. Que sa langue était précise et ferme, que son allure était simple [...] J’ai appris Le Misanthrope par cœur, un fragment chaque soir, que je me répétais à l’appel du lendemain matin (Delbo, Auschwitz II, S. 124f).
Eine Komödie Molières ist es auch, die Charlotte Delbo und ihre Kameradinnen zur Aufführung eines Stückes im Lager motiviert: Mit der Inszenierung von Le Malade Imaginaire schafft Delbo einen kollektiven Freiraum für die Frauen und die Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses. Nach sechs Monaten Todeslager wird eine kleine Gruppe zu einem in einiger Entfernung gelegenen privilegierten Kommando geschickt. Nach einiger Zeit, so schreibt Delbo, gewinnt sie wieder ihr menschliches Aussehen zurück. Zum Leben zurückzukehren bedeutet zugleich zu Erinnerung und Gedächtnis zurückzukehren. „Et voilà que dans ce petit camp, nous revenions à la vie et tout nous revenait. Tous les désirs, toutes les exigences. Nous aurions voulu lire, entendre de la musique, aller au théâtre“ (Delbo, Auschwitz II, S. 91). Delbo nutzt die aufkommende, auch schöpferische Kraft, um ein Stück aufzuführen: Molières Le Malade imaginaire. Claudette, die im Labor arbeitet, unternimmt es, Le Malade imaginaire aus dem Gedächtnis aufzuschreiben; Eva, die Zeichnerin, macht ein Plakat für die Barackentür: „Le Malade imaginaire, d’après Molière, par Claudette. Costumes de Cécile. Mise en scène de Charlotte. Agencement scénique et accessoires de Carmen“ (Delbo, Auschwitz II, S. 92). Auch hier wird ein Parallelraum zum konzentrationären geschaffen, indem ganz bewusst der Ablauf einer Theatervorstellung mit Kostümen, Kulissen und Schauspiel nachempfunden wird. Unter der eifrigen Vorbereitung verlieren die Frauen erstmals die Sorge um Brot, Suppe, um den Dienst. Et voilà que dans ce petit camp, nous revenions à la vie et tout nous revenait. […]. Nous allions monter une pièce. […] Le Malade imaginaire, d’après Molière, par Claudette. Costumes de Cécile. Mise en scène de Charlotte. Agencement scénique et accessoires de Carmen. […] C’était magnifique parce que quelques répliques de Molière, ressurgies intactes de notre mémoire, revivent inaltérées, chargées de leur pouvoir magique et inexplicable. […] C’était magnifique parce que, pendant deux heures, sans que les cheminées aient cessé de fumer leur fumée de chair humaine, pendant deux heures, nous y avons cru (Delbo, Auschwitz II, S. 91ff.).
Der kurze Vergleich mit den beiden Autorinnen zeigt das gemeinsame Anliegen, im Kollektiv das kulturelle Gedächtnis zu aktivieren. Das Besondere an Germaine Tillions Text in diesem Kontext ist, dass sie zwar ebenso wie Delbo
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und Toulouse-Lautrec auf bekanntes Material zurückgreift und dieses aus der Erinnerung nacherzählt und dadurch bereits neue Formen der Kreativität (auch durch Reduktion) erzeugt; letztlich erschafft sie aber nicht nur eine Heterotopie ausgehend von der Lagerwelt, sondern einen neuen Kulturraum: einerseits durch die neuartige Zusammensetzung vielfältigen Liedguts zur Form der Operette, durch Inszenierung und Performanz (Rezitation und Tanz), aber auch indem sie in der Verschriftlichung in Form des Büchleins einen neuen Kulturraum schafft. Das kulturelle Gedächtnis wird auf ganz unterschiedliche Art durch die Operette aktiviert:30 auf der Ebene der Musik und Performanz, auf der Ebene der Sprache und in der expliziten Aktivierung des Nationalgefühls. Musik als gängiges kulturelles Format31 zeigt sich in der Operette, die durch ihren Zitatenreichtum ein Pastiche zweiten Grades bildet, in einer großen Bandbreite von musikalischen Referenzen von Glucks Orfeo ed Euridice, über die Operette von Reynaldo Hahn Ciboulette (Arie Nous avons fait un bon voyage), über die Übernahme von Kinderliedern, Opernpassagen, musikalischen Reminiszenzen („Le Carnaval des animaux“, Tillion, Le Verfügbar, S. 122), zeitgenössische Hits werden angestimmt (Mon ange von Bruno Coquatrix) mit traditionellen Liedern wie Au clair de la lune und sogar einer Werbemelodie für Chicorée („La chicorée Villot“, Tillion, Le Verfügbar, S. 162) kombiniert.32 Gemeinsam ist diesen Liedern, dass sie unter den Häftlingen bekannt waren und damit auch von allen gesungen werden konnten, Assoziationen an das frühere Leben weckten und durch die provokativen Texte auch eine Überlagerung der gegenwärtigen Situation möglich war: „C’étaient des chansons, sur des airs connus, où je tournais les SS en dérision“.33 Loselle ordnet die Operette als Genre in die Singspiele des 18. Jahrhunderts ein, deren Originalform durch Dialoge, Tänze und Lieder mit neuen Texten, die auf bereits existierende Melodien übertragen wurden, beibehalten wurde.34 Auch hier waren die Musiknummern improvisiert, wobei die Improvisation im konzentrationären Kontext eine zusätzliche psychologische Wirkung ent30 Die nun folgenden Punkte bearbeiten das Thema nicht allumfassend und sind lediglich als Anregung gedacht, den Kulturraum, den Germaine Tillion schafft, in Kategorien zu definieren. 31 U.a. ist das gemeinsame Singen unter den Häftlingen ein Konstituens der Lagererfahrung, wobei das Liedrepertoire zwischen bekannten vorkonzentrationären und konzentrationären Liedtexten variierte, vereinzelt fanden Lied-Neuschöpfungen wie das Börgermoorlied im KZ Börgermoor 1933 statt. 32 Vgl. hierzu ausführlich: Binder, Anne-Berenike: „L’écriture ou la mort“ – Produktion und Rezeption von Literatur im Konzentrationslager. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Heft 1/2 (2010), S. 171–190. 33 De Gaulle-Anthonioz, Geneviève (Hrsg.): Germaine Tillion – La traversée du mal. Entretien avec Jean Lacouture. Paris 2000, S. 74. 34 Vgl. Loselle, Performing in the Holocaust (wie Anm. 12), S. 17.
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faltet, da die Häftlinge in Le Verfügbar aux enfers ihr eigenes (gegenwärtig erlebtes) Trauma zur Darstellung bringen. Das Lagerleben wird in performativen Akten gezeigt, wobei diese musikalisch-theatralischen Einlagen genau von denjenigen performt werden (Schmuckstück-Kostüme und Arbeits-Einsatz-Pantomine), an die sich die Aussage auch richtet. Somit ist in Le Verfügbar aux enfers Schreiben, Lesen und Performen ein kollektiver Akt, der die Mithäftlinge zu Kulturträgern macht35 und der (auch aus Gründen der Sicherheit) ausschließlich innerhalb der Gruppe der Kameradinnen um Germaine Tillion durchgeführt wurde. Auf sprachlicher Ebene36 setzt sich die Operette als Kulturraum aus Reminiszenzen an Gegenwart und Vergangenheit zusammen. Die Inhalte der Gegenwartsebene dienen zur Erhellung der gegenwärtigen Situation37 und zeigen die Brutalität und Grausamkeit des konzentrationären Systems auf. Der Text weist die Verwendung konzentrationärer Wörter auf (wie bsw. „Verfügbar“, „Schmuckstück“) und widmet sich der deutschen Sprache auf verschiedenen Ebenen. Die deutsche Sprache wird bewusst eingesetzt, die eigene Unkenntnis darüber formuliert und die Sprache karikiert, bsw. besprechen die „Verfügbaren“ im Rahmen des Deutschunterrichts den Sinn deutscher Wörter. Das Verb „se faire raouster“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 168) stellt eine Französisierung des deutschen Ausrufs „raus!“ dar, doch die „Verfügbaren“ übersetzen es mit der wortreichen Beschreibung eines extrem gewaltsamen Rauswurfs und äußern voller Ironie ihre Bewunderung über die Ausdrucksstärke und Präzision der deutschen Sprache. Als „haricot“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 142) bezeichnet, verliert der grün uniformierte SS-Mann an Autorität, ebenso werden Befehle als absurd entlarvt.38 Eine ironische Spiegelung der Nazi-Ideologie ist die Beschreibung der intellektuellen Fähigkeiten des „Verfügbaren“: der Naturalist bezeichnet den „Verfügbaren“ als Teil der „peuple non civilisé“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 36) und sogar als „débile“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 16), aber immerhin intelligenter als eine Muschel (Tillion, Le Verfügbar, S. 48). Hier zeigt sich nicht nur, dass „[l]a lucidité est une arme contre 35 „Der Lesende sieht sich, sofern er nicht zur Unterhaltung liest, als Kulturträger; als Kul turträger wird er aber wieder zu dem, der er vor der Gefangenschaft war. Lesen wird so zum symptomatischen Beweis der Kontinuität der Haltung“. Krause, Vom kalten Wind (wie Anm. 29), S. 130. 36 Einzige lyrische Passage ist ein gesungenes Gedicht, das sich an die Hoffnung wendet. Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 110. 37 Die Figuren tragen Namen, die sich auf ihre Funktion in der Operette beziehen: Nénette ist die junge, naive und unerfahrene Frau, Lulu de Colmar kommt aus dem Elsass, versteht deshalb die Deutschen und fungiert als Dolmetscherin. 38 „C’est l’ordre du commandant / Que vous pissiez qu’une fois par an“. Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 100 und „Je croyais qu’on m’avait tout pris […]. Et c’est alors qu’il m’ont tondue“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 42).
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la barbarie“,39 sondern das gemeinsame Lachen hat kollektivstiftende Wirkung; zugleich wird die Barbarei bloßgestellt und die Aberwitzigkeit des Systems durchschaut. Die Evozierung der Vergangenheit auf sprachlicher Ebene transportiert Tillion v.a. durch die Rückbesinnung auf klassisches Kulturgut. Nach Assmann haben die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses die Funktion, Identität zu stiften und dauerhaft zu erhalten, der Bezug auf die Vergangenheit hat den Zweck, die Gegenwart und auch die Zukunft zu organisieren.40 Tillion vermerkt, dass der Chor „comme dans les tragédies grecques“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 12) agieren soll, schreibt den Prolog in der Art und Weise eines Schäfergedichts oder überträgt komisch überhöhend im letzten Akt den Gesang Orpheus‘, der Eurydike verloren hat, auf die Situation des „Verfügbaren“, der vom Betrieb eingeholt wird (Tillion, Le Verfügbar, S. 192–194). Unter den Ratschlägen, die in der Operette wiederkehren, ist wohl jener der eindrücklichste, der im Versmaß der Fabeln La Fontaines (und in Anlehnung an die Fabel La mort et le bûcheron) geschrieben ist: „[...] Moralité: Ne cherchez pas les coups, ils viendront bien tout seuls / Inutile de courir vous faire casser la gueule“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 144ff.). Neben der Informationsweitergabe und der Evozierung des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses, sollte die Operette auch den physischen und psychischen Widerstand wecken. Die Frauen, die als Widerstandskämpferinnen in die Lager kamen, und auch die „Verfügbaren“ verweigerten sich der Arbeit und konnten somit einen Akt der gewaltlosen Rebellion und des Widerstandes im KZ leisten.41 Dieser Widerstand kann auch als Artikulation eines Nationalgefühls angesehen werden, denn auf die Melodie L’Air des Lampions, das am Nationalfeiertag in Frankreich gespielt wird, dichtet Tillion „Nous sabotons, nous sabotons“ (Tillion, Le Verfügbar, S. 48). Ein weiteres Beispiel für die Stärkung einer nationalen Identität und einer imaginären Flucht aus dem Lager ist die kulinarische Reise, die in sechs Strophen gastronomische Spezialitäten in sämtlichen Städten Frankreichs beschreibt (Tillion, Le Verfügbar, S. 154ff.). In diesem Kontext werden die verschiedenen Sehnsüchte der Gefangenen angesprochen. Zusätzlich ist diese fiktive Reise eine Hommage an Frankreich und seine Küche, zugleich auch 39 Todorov, Avant-propos (wie Anm. 9), S. 2f. 40 Vgl. Assmann, Aleida, Assmann, Jan u. Hardmeier, Christof (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation. München 1998, S. 271ff. 41 Die Erdarbeiterinnen „remuent beaucoup la terre mais surtout sans la déplacer“ (Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 132), was natürlich „Ça ne sert à rien“ (Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 142); oder die Gefangenen der „Bekleidung“ geben vor, Kleidungsstücke zu sortieren (Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 198). Diese Sabotage, die vielen Widerstandskämpferinnen den Tod brachte, wurde bis in die Fabriken fortgeführt. Der Naturalist bemerkt, dass der letzte Widerstandsakt die „sabotage post mortem“ des Verfügbaren ist, da sein Kadaver nur wenig Fett besitzt, um für die Produktion von Seife zu dienen (Tillion, Le Verfügbar (wie Anm. 9), S. 46).
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eine Überhöhung und Romantisierung der Heimat, die ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl unter den französischen Häftlingen weckt. Die Operette kann damit als Raum gesehen werden, an dem der kulturelle und politische Hintergrund der Häftlinge und das kulturelle Gedächtnis einer Epoche verschmelzen. Zugleich kristallisiert sich ein (neues) kulturelles Gedächtnis heraus. Somit entwickelt Tillion eine „in situ-konzentrationäre“ Ausdrucksform, ein „virtual genre“42 des Holocaust, denn durch das Neu-Arrangement von Liedern, Texten etc. erschafft sie einen neuen Musik- und Kulturraum.
Neue (Kultur-)Räume – Rezeption und Adaption von Le Verfügbar aux enfers Que cette langue riche, imprégnée de souvenirs de la culture classique, puisse revivre au camp est déjà une victoire sur la brutalité environnante; que leurs mésaventures, devenues soudain intelligibles, se trouvent métamorphosées en épisodes à la fois effrayants et dérisoires permet à ces femmes de ne pas céder au désespoir.43
Die Rezeption der Operette ist in Berichten von Lagergenossinnen Germaine Tillions dokumentiert: Passagen von Le Verfügbar wurden (auch aus Gründen der Sicherheit) nur innerhalb der Gruppe der Kameradinnen um Germaine Tillion am Abend in den stickigen Baracken gesprochen, gesungen, zitiert. Doch nicht nur die Rezitation und Rezeption hat kollektivstiftende Funktion (das Lachen in der Gruppe (über sich selbst und über die Peiniger) bildete eine Gemeinschaft, die wichtig fürs Überleben war), auch das Schreiben der Operette konnte nur durch einen Akt der Solidarität bewerkstelligt werden.44 Die spezifische Art der Performanz wird in Le Verfügbar nicht nur thematisiert, sondern ist auch strukturbildendes Element, denn die genannten drei Chöre sind zugleich Sänger/Rezitatoren, Publikum für die Vorlesung des Naturalisten und ihre eigenen (inneren) Zuhörer, da keine musikalische Begleitung vorhanden war: „That inward turn is a musical meditation on the structure of the self and its alterity“.45
42 Loselle, Performing in the Holocaust (wie Anm. 12), S. 14. 43 Todorov, Avant-propos (wie Anm. 9), S. 2f. 44 Als Schreibpapier diente ein Booklet, das leicht für die Aufführung der einzelnen Szenen weitergereicht werden konnte, d.h. das Trägermedium des Artefaktes erleichterte die Performanz (vgl. bsw. Isoliermaterial von Heizungsrohren als Schreibpapier/-unterlage, dazu: Klein, Katja: Kazett-Lyrik. Untersuchungen zu Gedichten und Liedern aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen. Würzburg 1995, S. 84). 45 Loselle, Performing in the Holocaust (wie Anm. 12), S. 24.
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2005 wurde die Operette von Anise Postel-Vinay, einer Kameradin Germaine Tillions aus Ravensbrück, in den Éditions de La Martinière verlegt. Bemerkenswert an dieser gebundenen Version ist neben der Optik (der Originaltext ist auf der rechten Seite als farbiges Faksimile zu lesen, auf der linken Seite ist er gedruckt), den Erläuterungen, Zeichnungen und Erklärungen der musikalischen Referenzen, dass sich in einem Umschlag auf der Innenseite des Buchrückens ein Faksimile der Operette in Nachahmung des Originals als kleinformatiges Heft befindet, d.h. die Edition zeigt die Authentizität des Gegenstandes, suggeriert die Partizipation des Lesers durch die Lektüre eines (beinahe) authentischen Textes.46 Im Juni 2007 folgte dann anlässlich des 100. Geburtstags von Germaine Tillion die Aufführung der Operette im Théâtre du Châtelet in Paris. 2010 führt dieselbe Künstlertruppe die Operette auf dem ehemaligen Appellplatz in Ravensbrück in einer konzertanten Aufführung auf. Inwiefern das Konzentrationslager als Ort des Todes zum Ort der Kunst umfunktioniert werden kann, stellt sich m.E. hier in besonderem Maße und wirft die Frage auf, welche Wirkung der konzentrationäre Rahmen für die Aufführung entfaltet oder entfalten soll. Die Inszenierung in einen gänzlich anders konnotierten Raum zu verlegen, dem Théâtre du Châtelet in Paris, eröffnet die Möglichkeit zu einer freien Adaption der Operette: Man könnte hier sogar von einer Neu-Narrativierung bzw. „Reanimation“47 der Operette im Sinne von Marianne Hirsch sprechen. Der Inszenierung von Bérénice Collet in Paris 2007 liegt der Duktus einer kabarettistischen Revue zu Grunde. Die Koexistenz der beiden Welten – der Welt der Kultur und der Welt des Nazismus – greift die Regisseurin durch das Bühnenbild auf: Die Bühne ist in einem schlichten Dekor gehalten, nur ein erleuchtetes Fenster ist zu sehen, dahinter Licht, eine Assoziation von Himmel und Hoffnung, allerdings in einer Höhe, die unerreichbar ist. Die transparente Leinwand, ein Zwischenraum aus Tüll, stellt die Phantasiewelt dar, einen Ort der Träume (Abb. 4). Durch ein kleines Instrumentalensemble (aus Instrumenten, die es auch im Lager gab), professionelle Sängerinnen und eine Adaption für die Bühne wird die Operette in einen neuen Kontext gestellt und gewinnt eine neue Dimension.
46 Der fortlaufende Text, die Randbemerkungen (die dem Leser Informationen über Wortspiele und Andeutungen geben), die photographische Reproduktion des Originalmanuskripts, die Vorworte von Tzvetan Todorov und Claire Andrieu sowie zwei in Ravensbrück von France Audoul (einer Freundin Tillions) angefertigte Zeichnungen bilden die Ausgabe von 2005. 47 Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. In: Poetics Today, 29:1 (2008), S. 103–128, hier: S. 116.
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Abb. 4: Screenshot aus Dokumentarfilm Le Verfügbar aux enfer. Germaine Tillion à Ravensbrück. D’après Le Verfügbar aux enfer de Germaine Tillion (Regie: David Unger, Frankreich 2007) Quelle: arte.
Kulturelles Schaffen im Konzentrationslager erweist sich in Germaine Tillions Operette Le Verfügbar aux enfers nicht nur als „geistige Insel“, die in außergewöhnlicher Weise die Koexistenz von Kultur und Grausamkeit zeigt (sowohl auf inhaltlicher Ebene, als auch als Gegenstand selbst); durch das Schreiben, Rezitieren und Performen von narrativen, memorierten Elementen aus Alltagskultur und Kulturgeschichte (aus denen sich dann neue Formen entwickelten) bleibt auch die humanistische Kulturtradition erhalten; Aspekte der Identität, der Erinnerung und des kollektiven Gedächtnisses werden verstärkt. Mit ihrer Operette erschafft Tillion einen neuen Kulturraum, der auch in der Gegenwart und Zukunft Adaptionspotential besitzt.
Anja Tippner
Aneignungen Dina(h) Gottliebová-Babbitts Zeichnungen aus Auschwitz und ihr kulturelles Nachleben in Polen und den USA Die Geschichte von Dina(h) Gottliebová-Babbitt1 und den Aquarellzeichnungen, die sie auf Anweisung von Josef Mengele von inhaftierten Roma 1943/1944 in Auschwitz malte, kursiert in vielen Medien, Zusammenhängen und Diskursen. Sie ist Thema eines Romans, eines Comics, einer literarischen Reportage, mehrerer Dokumentarfilme, sie ist Fallbeispiel in einem juristischen Buch über Völkerrecht, Gegenstand einer offiziellen Anfrage der amerikanischen Regierung beim polnischen Staat, einer Eingabe im amerikanischen Kongress, sie steht im Zentrum von Dina Gottliebovás Bericht für Steven Spielbergs Shoah-Foundation. In diesen visuellen wie textuellen Repräsentationen geht es nicht mehr ausschließlich um das, was sich während der Katastrophe des Holocaust ereignete, sondern vor allem auch darum, was mit den Bildern und der Künstlerin nach der Katastrophe geschah. Es geht selten um den ästhetischen Wert der Bilder oder darum, ob es sich hier überhaupt um Kunst handelt. Viel mehr und vor allem geht es um die Frage, wem die Bilder gehören. Gehören sie der Künstlerin, dem Museum in Auschwitz, das sie ausstellt oder den Angehörigen, derjenigen, die sie darstellen, oder vielleicht sogar den Erben Josef Mengeles, der sie in Auftrag gab? Immer aber handelt die Auseinandersetzung auch davon, was diese Bilder für wen bedeuten. Der Streit um die Bilder ist damit Teil eines größeren Problems, das Imre Kertész zu der Frage motiviert: Wem wird Auschwitz gehören?2
1 Dina(h) (Annemarie) Gottliebová, verh. Babbitt wurde 1923 in Brno/Tschechoslowakei geboren, sie studierte Malerei und Bildhauerei in Brünn und Prag. 1942 wurde sie mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert und von dort 1943 nach Auschwitz. Nach ihrer Befreiung emigrierte sie in die USA und heiratete den amerikanisch-tschechischen Trickfilmzeichner Art Babbitt, von dem sie sich 1962 scheiden ließ. Sie lebte bis zu ihrem Tod in 2009 in Kalifornien. Dina Gottliebovás Name findet sich in unterschiedlichen Kontexten in verschiedenen Schreibungen. Im vorliegenden Aufsatz wird die Schreibung nicht vereinheitlicht und je nach Kontext und Quelle Dinah Gottliebová, Dina Gottliebova oder Dina Babbitt verwendet. Biographische Angaben finden sich in Gottliebová-Babbitts Interview für die USC Shoah Foundation. Gottliebová-Babbitt, Dina: Interview 46122. Visual History Archive. USC Shoah Foundation. 1998. 26.09.1998. http:// vhaonline.usc.edu/viewingPage.aspx?testimonyID=48475&returnIndex=0 (14.07.2014). 2 Kertész, Imre: „Wem gehört Auschwitz“. http://www.zeit.de/1998/48/Wem_gehoert_Auschwitz_/komplettansicht?print=true (14.07.2014).
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Die polnisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Bożena Shallcross schreibt in ihrem Buch The Holocaust Object in Polish and Polish-Jewish Culture: „We associate the Holocaust with human tragedy. Hence […] objects seem much less important, their tales ignored. [But] over the course of time, [objects] have become the Holocaust’s dominant metonymy. […] They stand out as the Holocaust’s most persuasive and tangible reality“.3 Auch wenn Shallcross hier in erster Linie von Objekten wie Kleidern, Schuhen, Besitztümern aller Art und nur in zweiter Linie von künstlerischen Objekten wie Zeichnungen oder Skulpturen aus den Lagern spricht, so erklärt ihre Beobachtung vielleicht die Vehemenz, mit der im Fall Dina Gottliebová-Babbitts um diese Objekte gestritten wird. Die Geschichte Gottliebovás und ihrer Zeichnungen ist über die Jahre immer mehr zu einem „Fall“ geworden, der sich aus Dina Gottliebovás Erinnerung an Freundschaften in Theresienstadt und ihre Rettung, aber auch den Streit um die Bilder speist. Die Erzählungen werden üppig ausgestaltet, mit Elementen anderer Narrative wie Liebes- oder Abenteuergeschichten angereichert, in einigen Fällen werden sie auch mit juristischen Details aus der Diskussion um Raubkunst versetzt. Der Bericht über Gottliebová und die Bilder wird jedoch immer als Fallgeschichte präsentiert. Also als ein Narrativ, dem wir uns zuwenden, weil wir glauben, daraus nicht nur etwas über Gottliebová zu lernen, sondern von dem wir uns „Erkenntnisse von größerer Reichweite“4 erhoffen, die sich auch auf andere Kontexte, Situationen oder Personen übertragen lassen. Diejenigen, die sich mit dem Fall dieser Kunstproduktion in Auschwitz befassen, glauben darin etwas Verallgemeinerbares zu erkennen. Jeder der Autoren und Autorinnen, die 3 Shallcross, Bożena: The Holocaust Object in Polish and Polish-Jewish Culture. Bloomington 2011, S. 1. 4 Pohlig, Martin: Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem. In: Historische Zeitschrift, 297:2 (2013), S. 297–319, hier: S. 297. Dies trifft in gewissem Maße sogar auf Alyson Richmans Holocaust Kitsch-Roman The Lost Wife zu. Wie die Autorin im Nachwort schreibt, wollte sie einen Roman über „an artist that survives the Holocaust“ schreiben, auch wenn sie am Ende eine Liebesgeschichte verfasst habe. Obwohl Dina Gottliebová in der Geschichte auftaucht und als Nebenfigur eingeführt wird, sind Teile ihrer Biographie in die Geschichte der Hauptfigur Lenka Maisel Kohn überführt worden, die gleichfalls Kunststudentin ist und in Theresienstadt in der Zeichenwerkstatt zusammen mit Petr Kien arbeitet, wie Gottliebová. Richman greift in ihrem Roman nicht nur auf die Geschichte Dina Gottliebovás, sondern amalgamiert diese Aspekten der Lebensgeschichte von Friedl Dicker-Brandeis, einer weiteren Künstlerin, die in Theresienstadt gefangen war und später in Auschwitz ermordet wurde. Richman, Alyson: The Lost Wife. London 2011, S. 337. Die Geschichte von Friedl Dicker-Brandeis ist Grundlage des Romans Aaronův skok, ‚Aarons Sprung‘, von Magdaléna Platzová, der ebenfalls Fragen der Aneignung thematisiert – hier ist es das Tagebuch der ermordeten Künstlerin, das von einer Freundin gehütet, aber zugleich auch benutzt wird. Platzová, Magdalena: Aaronův skok. Praha 2006.
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sich Dina Gottliebovás Geschichte annehmen, aber auch die Künstlerin selbst, verwandeln im Prozess der Narrativierung die Bilder in ein neues Objekt und machen sie zum Gegenstand einer jüdischen, amerikanischen, polnischen oder Roma- und Sinti-Erzählung. Es geht nicht mehr nur um die Bilder an sich und auch nur am Rande um die Frage, welche Bedeutung Kunst im Konzentrationslager hatte, im Zentrum steht vielmehr die Frage des richtigen Umgangs mit materiellen Zeugnissen des Holocaust. Und nicht zuletzt geht es darum, wie wir mit den Überlebenden umgehen. Dies alles sind Fragen, die sich im Zusammenhang der Bilder diskutieren lassen und die aus dem Einzelfall ein Beispiel machen. Die Geschichte Dina Gottliebová-Babbitts führt exemplarisch vor, wie schwierig der Umgang mit den materiellen Hinterlassenschaften des Holocaust ist. Sie zeigt uns, dass die bloße Existenz dieser Bilder eine Dynamik der „Fetischisierung“5 in Gang setzt, die viele Objekte erfahren, die im Zusammenhang mit dem Holocaust stehen. Die Zeichnungen als „Zeichen“ und „Bezeichnetes“ eignen sich besonders gut für diese Art der Bezugnahme. Diskutiert werden soll im folgenden das Nachleben der Bilder und ihre Geschichte am Beispiel der Interventionen und Texte, die sich dieses Falls annehmen und sich ihn aneignen, die ihn aber auch reflektieren und eine Metaebene einnehmen. Es geht also nicht darum, ob die Bilder Fetische oder Reliquien sind, sondern um ihren Gebrauch als solche, d.h. es werden im Folgenden nicht so sehr Aussagen über die Bilder selbst gemacht, sondern Aussagen über die Bilder und der Gebrauch der Bilder untersucht.6 Eine zentrale Rolle für die Analyse spielen neben Gottliebová-Babbitts eigenen Aussagen im Rahmen ihres Zeitzeugenberichts für die USC Shoah Foundation, Lidia Ostałowskas literarische Reportage Farby wodne, ‚Wasserfarben‘, die 2011 in Polen erschien, und der Kurzcomic eines Autorenkollektivs über Babbitt, der sich als künstlerische Intervention im Streit um die Bilder versteht. Doch es ist typisch für die Auseinandersetzung über die Frage, wem Auschwitz beziehungsweise die dort entstandenen Artefakte gehören, dass die Stimme der Überlebenden nur eine unter anderen ist. Beide, Reportage wie Comic, nehmen auf ihre Art Stellung zur Frage nach dem rechtmäßigen Besitzer der Zeichnungen und ihrer Bedeutung für eine bestimmte Erinnerungsgemeinschaft und vertreten dabei gegensätzliche Positionen. Sie binden die Bilder in je verschiedene Erinnerungskulturen – diejenige der Roma und Sinti, der amerikanischen Holocaust-Erinnerung und natürlich der polnischen 5 Shallcross, Holocaust Object (wie Anm. 3), S. 4. 6 Diese Unterscheidung diskutiert auch Georges Didi-Huberman in seiner Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, wenn er der Frage nach Adäquatheit des Begriffs Fetisch im Zusammenhang mit Bildern aus Auschwitz nachgeht. Siehe Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem. München 2007, S. 112–118, hier: S. 113.
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Kultur ein. Es scheint, als sei ein gemeinsames Erinnern, welches der ermordeten Roma und Sinti und der jüdischen Künstlerin gleichermaßen gerecht wird, nicht möglich. Die Texte vertreten damit alle eher ein „kompetitives“ Erinnerungskonzept, in dem einzelne Erinnerungsgemeinschaften um eine limitierte Ressource – die Bilder – und ein ebenfalls limitiertes öffentliches Interesse streiten.7 Wie andere Texte machen auch sie aus den Bildern Objekte: Sie werden in den Erzählungen zur Reliquie, zum historischen Dokument, persönlichen Erinnerungsstück, aber auch zur wertvollen Ware. Die Geschichte der Bilder während und nach dem Krieg lässt sich nicht als dynamisches, vorwärtsstrebendes Narrativ erzählen: Die Befreiung und das Überleben der Künstlerin ist in dieser Erzählung eben nicht, wie sonst häufig in Texten über den Holocaust der Endpunkt von Verfolgung und Unrecht, sondern auch Ausgangspunkt für neues Unrecht und neue Verletzungen. Die folgende Auseinandersetzung mit realen und ideellen Vereinahmungen und Aneignungen von Hinterlassenschaften des Holocaust werden eingeleitet durch eine kurze Rekonstruktion der Geschichte Dina Gottliebovás sowie der Überlieferung der Zeichnungen von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart. Beides ist wichtig als Hintergrund der folgenden Überlegungen, auch wenn es in diesem Aufsatz weniger um den Status der Bilder selbst geht, als um die Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird – von der Künstlerin selbst, von Vertretern der ermordeten Roma, von Museumsmitarbeitern, aber auch von nicht-involvierten, sekundären Zeugen, wie Journalisten, Politikern und Künstlern.
Die Künstlerin – Dinah Gottliebovás bildnerisches Schaffen in Auschwitz und das Überleben durch Kunst Dinah Gottliebová ist eine junge Kunststudentin als die Wehrmacht in die Tschechoslowakei einmarschiert. Sie ist an der Akademie im mährischen Brno eingeschrieben und wird zusammen mit ihrer Mutter zunächst nach Terezín, Theresienstadt, deportiert und von dort aus nach Auschwitz-Birkenau. Während der mehrmonatigen Quarantäne und Absonderung der tschechischen Juden nach der Ankunft in Polen malt sie zur Aufheiterung der Kinder Szenen aus Walt Disneys Film Snow 7 Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford 2009, S. 5. Rothberg stellt dieser „kompetitiven“ Erinnerungskultur eine „multidirektionale“ Erinnerungskultur gegenüber, in der verschiedene Narrative sich gegenseitig befördern.
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White and the Seven Dwarfs (1937) an die Wand der Kinderbaracke.8 Durch diese Bilder werden die SS-Aufseher auf sie aufmerksam und lassen sie Portraits nach Fotografien malen. Diese Arbeiten wiederum bringen sie mit Josef Mengele in Kontakt. Für ihn muss sie zwischen 1943 und 1944 Zeichnungen von medizinischen Präparaten wie Organen und Körperteilen anfertigen und Krankheitsverläufe dokumentieren, aber auch für seine rassekundlichen Studien Bilder von gefangenen Roma und Sinti malen. Der berüchtigte SS-Arzt war der Auffassung, dass Aquarelle besonders gut geeignet waren, den Ton der Haut wiederzugeben. Obwohl sie die Bilder für Mengele malt, zeichnet sie diese mit ihrem Namen. Die Signatur wird später dazu beitragen, sie als Urheberin zu identifizieren.9 Zunächst lässt Mengele Gottliebová die Personen auswählen, die sie zeichnen möchte. Ihre Wahl fällt beispielsweise auf eine junge Mutter, die sie „Céline“ tauft.10 Im Folgenden ist es dann Mengele, der nicht nur Papier und Aquarellfarben stellt, sondern auch die Modelle für die Bilder auswählt.11 Der Entstehungszusammenhang und die ursprüngliche Funktion der Bilder, nämlich Dokumentationsmaterial anthropometrischer Untersuchungen zur Rassenspezifik von sogenannten „Zigeunern“, spielen erstaunlicherweise in der Nachkriegsauseinandersetzung um die Bilder, wenn überhaupt nur noch eine marginale Rolle. Die menschenverachtende Perspektive kann sicher nicht mit der Perspektive Gottliebovás gleichgesetzt werden und doch spiegelt sie sich in einzelnen Aspekten der Komposition, wie den freigelegten Ohren der Abgebildeten wieder. In ihrem Interview für die USC Shoah Foundation weist Gottliebová-Babbitt darauf hin, dass sie die Bilder nicht als Kunst betrachtet und dass sie malte, wozu sie aufgefordert wurde. Betrachtet man die Bilder jedoch ohne diesen Kontext, so scheinen sie nur von den Menschen zu sprechen, die sie abbilden. Im Katalog zur Ausstellung Die vergessenen Europäer. Kunst der Roma/Roma in der 8 Szymańska, Sirena: Kunst im Konzentrationslager Auschwitz. In: Dachauer Hefte, 18 (2002), S. 73–97, hier: S. 82. Die Wandmalereien sind nicht erhalten geblieben. Vgl. auch GottliebováBabbitt, Interview (wie Anm. 1), #Segment 48. 9 Das Museum in Auschwitz kommt durch die Publikation von Ota Kraus und Erich Kulka: Továrnana smrt. Dokument o Osvětimi. Praha 1947, auf ihre Spur. Hier wird ihr Name erwähnt. Gottliebová hatte auf Bitte von Kraus und Kulka für ihre Dokumentation über Auschwitz Zeichnungen mit Szenen aus dem Lagerleben angefertigt, um die historischen Dokumente zu ergänzen. Diese Zeichnungen hatte sie mit der Signatur „Dinah“ versehen, vgl. S. 13. Kraus und Kulka erwähnen sie auch als Zeugin im Zusammenhang mit Ermordung tschechischer Juden aus dem sogenannten Familienlager und bezeichnen sie dort als Krankenschwester, S. 175. Siehe auch Ostałowska, Lidia: Farby wodne. Wołowiec 2011. Vgl. Gottliebová-Babbitt, Interview (wie Anm. 1), Segment #72. 10 Das Prinzip der Auswahl hat natürlich in Auschwitz eine wesentlich andere Dimension als unter anderen Umständen. 11 Szymańska, Kunst in Auschwitz (wie Anm. 8), S. 86; Gottliebová-Babbitt, Interview (wie Anm. 1), Segment #50, 55.
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Kunst etwa kann man lesen, dass die Bilder „den Auftrag Mengeles unterlaufen und seinen rassistischen Blick gebrochen haben. Sie zeig[en] diese Menschen, die ihrer Vernichtung ins Auge sehen, als Individuen mit Würde“.12 Die Frage nach der Angemessenheit der Bilder, die immer wenn es um Darstellungen des Holocaust bzw. einzelner Aspekte geht, wird in Zuschreibungen wie diesen implizit bejaht.13 Die Bilder werden dabei nicht als Repräsentationen des Holocaust, sondern vor allem als Darstellung, Zeugnis und Würdigung der Opfer betrachtet. Die Zeichnungen changieren so zwischen verschiedenen Lesarten: Zunächst wird ihnen der Status eines künstlerischen Artefakts zugeschrieben, den die Malerin durch ihre Signatur manifestiert und das ihr als Überlebensmittel dient, darüber hinaus werden die Zeichnungen als Ausdruck des Widerstands und der „Solidarität der Opfer“14 gedeutet. In den Hintergrund tritt bei dieser Interpretation der Status der Bilder als Dokument rassistischer Menschenwissenschaft, das den Interessen der Täter dient, die denen der Künstlerin entgegengesetzt sind. Die Arbeit für Mengele hilft ihr und ihrer Mutter das Lager zu überleben, weil sie besser verpflegt werden und bei den Selektionen unter besonderem Schutz Mengeles stehen.15 Dinah Gottliebová malt auf seinen Wunsch hin auch ein Portrait Mengeles. Nach Kriegsende sind die zehn Bilder für längere Zeit verschollen, bis das Museum in Auschwitz 1963 sechs von ihnen als Schenkung von einer polnischen Familie aus der Umgebung des Lagers erhält und ein siebtes von einem unbekannten Besitzer erwirbt. Seit den 1970er Jahren bemüht sich Dinah Gottliebová, die inzwischen in den USA lebt und nach ihrer Heirat mit Art Babbitt, einem Comiczeichner, Dina Babbitt heißt, darum, die Bilder in ihren Besitz zu bringen. Das Museum in Auschwitz lehnt die Herausgabe der Bilder ab. Die Auseinandersetzung um die Bilder setzt sich unter Einschaltung amerikanischer Massenmedien – es gibt einen Bericht in der NBC Today Show samt Besuch in Auschwitz, eine Eingabe an den Kongress, rechtsanwaltliche Interventionen – bis zu Babbitts Tod im Jahr 2009 fort. In einem Interview, das sie kurz vor ihrem Tod gab, weist Dina Gottliebová darauf hin, dass die Bilder ihr das Gefühl gaben nicht nur zu überleben, sondern 12 O.A.: Dina Gottliebová. Mengeles Malerin. In: Die vergessenen Europäer. Kunst der Roma/ Roma in der Kunst. Hrsg. von Holl, Kurt. Köln 2009 (Ausstellungskatalog Kölnisches Stadtmuseum), S. 144. Ähnlich auch Szymanska, Sirena: „Bildnerische Zigeuner“ in Arbeiten von Häftlingen des Lagers Auschwitz. In: ProMemoria, 10 (2000), S. 57–62. 13 Vgl. zu dieser Debatte Didi-Huberman, Bilder trotz allem (wie Anm. 6), S. 104f. 14 O.A, Dina Gottliebova (wie Anm. 12), S. 144. 15 So zitiert sie beispielsweise Costanza mit dem Satz: „Ich nutzte einfach meine zeichnerischen Fähigkeiten, um mein Leben zu retten“. Costanza, Mary S.: Bilder der Apokalypse. Kunst in Konzentrationslagern und Ghettos. München 1983, S. 80. Die Zitate von Gottliebová stammen offensichtlich aus einem Briefwechsel, den Costanza mit ihr geführt hat.
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zu leben, nicht nur Häftling, sondern Künstlerin zu sein. In einem Interview sagt sie: „These were the only times that I was comfortable at camp, with my painting, you know. I felt human when I was painting“.16 Den Besuch in Auschwitz, bei dem sie 1973 die Bilder das erste Mal seit dem Krieg wieder sieht, beschreibt sie so. „Ich fing an zu weinen. Sie [die Bilder] waren ein Teil von mir. Sie haben mir geholfen zu überleben“.17 Sie bestätigt damit eine These von Christoph Daxelmüller, der im Zusammenhang mit Kunst aus Konzentrationslagern schreibt, dass das Schaffen von Kunstwerken „neben der therapeutischen, identitätsstiftenden und lebensrettenden Funktion“ auch die Funktion hatte, „sich als kultiviertes Wesen von den Tätern zu unterscheiden“.18 Darüber hinaus hatte die „künstlerische Bildproduktion“19 natürlich auch eine dokumentarische Funktion. Sie wurde so neben der Erlangung von Privilegien durch die Herstellung von Kunstobjekten zu einem wichtigen Element der Selbstbehauptung und des Widerstands.20 Janet Blatter wertet in einem Katalog zu Kunst im Holocaust die Bildfolge als Beispiel für eine widerständige Kunst: „Her portraits constitute one of the clearest examples of an artist defying the spirit, if not the letter, of compulsory art. Though they were created under orders, they convey a quality of humaneness and individuality that would not be present in strictly compulsory works done for one’s torturers“.21 Gottliebová-Babbits Aussagen sind in dieser Hinsicht widersprüchlich, da 16 Ostałowska, Farby wodne (wie Anm. 9), S. 43. Gustines, George Gene: Comic-Book Idols Rally to Aid a Holocaust Artist. The New York Times, 08.08.2008. http://www.nytimes.com/2008/08/09/ arts/design/ 09comi.html?_r=3&scp=1&sq=Comic-Book%20Idols%20Rally&st=cse&oref=slogin&oref=slogin& (07.07.14). 17 Ostałowska, Farby wodne (wie Anm. 9), S. 164. „Rozpłakałam się. Były częścią mnie, pomogły mi przeżyć“. 18 Daxelmüller, Christoph: Kulturelle Formen und Aktivitäten als Teil der Überlebens- und Vernichtungsstrategie in den Konzentrationslagern. In: Die Nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Bd. 2. Hrsg. von Herbert, Ulrich, Karin Orth u. Christoph Dieckmann. Göttingen 1998, S. 983–1005, hier: S. 999. Er unterscheidet allerdings zwischen von „den Tätern verordneter Kultur“ und „Kultur der Opfer“, die eher die obengenannten positiven Effekte auslöst. 19 Haibl, Michaela: Bildwerke aus Konzentrationslagern als Forschungsgegenstand und Dokumentationsobjekt. Mit besonderer Berücksichtigung der Arbeiten von Franciszek Znamirowski. In: Überleben durch Kunst: Zwangsarbeit im Konzentrationslager Gusen für das Messerschmittwerk Regensburg. Hrsg. von Hanausch, Reinhard. Regensburg 2012, S. 243–256, hier: S. 245. 20 Vgl. Bauer, Yehuda: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht: Interpretationen und Re-Interpretationen. Frankfurt a. M. 2001, S. 162. Bauer begreift die künstlerische Betätigung als eine Form der „amida“, d.h. des „Standhaltens“ oder gewaltfreien Widerstands (S. 154). 21 Blatter, Janet: Art from the Whirlwind. In: Art of the Holocaust. Hrsg. von Blatter, Janet und Sybil Morton. London 1981, S. 20–36, hier: S. 27. Die gleiche Auffassung, wenngleich wesentlich prononcierter, vertritt Helsteins Dokumentarfilm As seen through their eyes. Auf der offiziellen
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sie in manchen Kontexten den künstlerischen Aspekt ihrer Arbeit betont, aber beispielsweise in ihrem Interview für USC Shoah Foundation vor allem die lebensrettende Funktion herausstreicht und die Frage nach dem ästhetischen Wert und der Kreativität im Kontext der Portraits zurückweist.22 Nach ihrer Wiederentdeckung im Jahr 1963 werden die Bilder für Dina Gottliebová-Babbitt jedoch zu einer Quelle der Frustration. Die Überlebende empfindet die Weigerung des Museums in Auschwitz, ihr die Bilder zu übereignen als traumatische Wiederkehr der Lagererfahrung: „I’m at a total loss. […] I feel just as helpless as I did when I was at camp. Totally disempowered“.23 Über die Position des Museums, welches die Bilder als Objekte unter anderen Spuren des Wirkens der SS im Vernichtungslager begreift, wird noch gesondert diskutiert. Ihre jahrzehntelangen Bemühungen in den Besitz der Zeichnungen zu gelangen, laufen ins Leere. Es ist insbesondere die Spannung von An- und Abwesenheit, medialer Präsenz und realem Entzug, die für Gottliebová-Babbitt das Trauma wach hält. Auch die Tatsache, dass ihre persönliche Geschichte im Zuge dieser Auseinandersetzungen immer mehr zu einem Fall wird, über den exemplarisch individuelle und kollektive Besitzansprüche und Erinnerungen verhandelt werden, ist für die Überlebende keine Hilfe.
Die Abgebildeten – Lidia Ostałowskas Re-Kontextualisierung der Bilder im Rahmen des Holocaust an den Roma und Sinti Eine der Autorinnen, die sich Gottliebovás Geschichte annimmt, ist die polnische Reporterin Lidia Ostałowska. Sie gehört zu der von Ryszard Kapuściński begründeten polnischen Reportageschule, die sich neben aktuellen zeitgenössischen Themen auch historischen Fragestellungen zuwendet. Reporter wie Włodzimierz Nowak, Mariusz Sczygieł oder eben Lidia Ostałowska begeben sich mit ihren Arbeiten auf historische Spurensuche und versuchen so, einen Beitrag zur neuen Gedächtniskultur in Polen zu leisten. Die Erinnerung an die Gewaltgeschichte website wird der Film wie folgt beworben: „As Maya Angelou narrates this powerful documentary, she reveals the story of a brave group of people who fought Hitler with the only weapons they had: charcoal, pencil stubs, shreds of paper and memories etched in their minds. These artists took their fate into their own hands to make a compelling statement about the human spirit, enduring against unimaginable odds“. http://www.menemshafilms.com/as-seen-through-theseeyes.html (14.07.2014) 22 Gottliebová-Babbitt, Interview (wie Anm. 1), Segment #59, 71. 23 Gustines, Comic Book Idols (wie Anm. 16), o.S.
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des 20. Jahrhunderts ist seit Mitte der 1990er Jahre ein zentrales Thema der polnischen Literatur. In ihrem Bemühen jener retrograden Amnesie entgegenzuwirken, die insbesondere historische Ereignisse zwischen 1939 und 1989 ausgelöscht hat, die sich nicht in das sozialistische Narrativ einfügten, wenden sich polnische Autorinnen und Autoren dabei bevorzugt folgenden Themen zu: dem Holocaust vermehrt auch unter dem Aspekt der eigenen Mit- oder Teilschuld, der deutschpolnischen Geschichte und der Ära des Stalinismus. Das im Hinblick auf alle drei Ereignisse geltende Schweigegebot ist nun schon seit längerem aufgehoben. Mehr noch, die Anerkennung des Holocaust und die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in den Holocaust ist – um mit Tony Judt zu sprechen – zur „europäischen Eintrittskarte“ geworden.24 Als Initialereignis für die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in Polen kann das Buch Nachbarn. Über die Ermordung der Juden von Jedwabne25 des Historikers Jan Tomasz Gross gelten. Dabei sind es zunehmend nicht mehr Mitglieder der Erlebnisgeneration, die sich diesen Themen zuwenden, sondern jüngere Autorinnen und Autoren. Mit dieser Verschiebung gehen auch einige stilistische und thematische Besonderheiten einher: Zum einen treten die autobiographischen Schreibweisen, die zuvor die Darstellung dieses Themenkreises dominiert haben, zurück. An ihre Stelle treten fiktionale und häufig auch experimentelle und dokumentarisch-rekonstruierende Narrative. Ein wichtiger Aspekt dieser neuen polnischen Texte ist die Auflösung der Opfer-Täter-Dichotomie, die viele der früheren Erzählungen über den Holocaust kennzeichnete. Neben die Anerkennung der eigenen Täterschaft, gehört auch die Anerkennung anderer Opfergruppen bzw. die Verstrickungen verschiedener Personengruppen in Unrechtszusammenhänge zu dieser neuen Erzählung über die Lager und den Krieg. Diese Verstrickung ebenso wie die anders gelagerte Temporalität der Ereignisse – das Unrecht setzt sich bis in die Gegenwart fort – kennzeichnet auch Lidia Ostałowskas Buch Farby wodne, ‚Wassserfarben‘. Es wendet sich nicht nur der Geschichte der jüdischen Verfolgung am Beispiel Dina Gottliebovás zu und rekonstruiert sie minutiös, sondern es setzt diese auch zu anderen Geschichten der Erinnerung an den Holocaust in Bezug – der Geschichte des Museums in Auschwitz, der Frage des Umgangs mit den Überlebenden und der Geschichte der Verfolgung der europäischen Roma und Sinti – und wird damit Teil der neuen postmemorialen Holocaust-Erinnerung in Polen. Insbesondere mit der Geschichte der Roma nimmt Ostałowska einen in Polen eher vergessenen Aspekt des Holocaust in den Blick. Am Ende ihres Berichts hat 24 Judt, Tony: Epilog: Erinnerungen aus dem Totenhaus. Ein Versuch über das moderne europäische Gedächtnis. In: ders.: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. München 2005, S. 931–967, hier: S. 933. 25 Gross, Jan T.: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München 2001.
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sie drei Instanzen vorgestellt, die Anspruch auf die Bilder erheben – das Museum als Institution einer staatlich geförderten Erinnerungskultur, die überlebende Künstlerin und die Gemeinschaft der Roma und Sinti, die in den Bildern eines der seltenen Zeugnisse für die Vernichtung ihrer Mitglieder sieht. In der Auseinandersetzung um die Bilder vertritt sie die Position der sogenannten „Zigeuner“.26 Sie lässt diese Opfer der Nazi-Verfolgung zu Wort kommen und versucht die Geschichte der Abgebildeten zu rekonstruieren. In der Ausstellung über die Ermordung europäischer Roma und Sinti in Auschwitz27 nehmen die Bilder einen wichtigen Platz ein, da die Vergangenheit der Roma „leer“ sei, wenn es um den Holocaust geht. Die erhaltenen Dokumente könne man an einer Hand abzählen: „Zdjęcia wykastrowanych chłopców, kilka listów, trochę relacji. I akwarele Diny Gottliebovej“.28 Die Bilder von Gottliebová werden in diese „Leere“ hineingestellt und erhalten dadurch noch mehr Bedeutung, als ihnen als Artefakten aus dem Konzentrationslager ohnehin schon zukommt. Dabei können nur die eigentlichen Bilder diese sakrale Wirkung entfalten, „keine Kopie kann die Originale ersetzen“29, wie der Vorsitzende des Zentralrats der polnischen Roma Stanisław Stankiewicz schreibt. Für die Gemeinschaft der Roma hängt die „Aura“ der Bilder, wie für Benjamin, mit ihrer Ritualfunktion30 in der Erinnerungskultur: Aus den Relikten menschenverachtender Versuche sind Reliquien geworden, die helfen, die Erinnerung an die Opfer wach zu halten und konkret werden zu lassen. Die Bedeutung, die die Kulturgemeinschaft der Roma den Bildern zuschreibt, deckt sich mit der allgemeinen Wahrnehmung von Portraits aus den Konzentrationslagern. Portraits nehmen deshalb in der künstlerischen Bildproduktion eine so wichtige Position ein, weil sie, wie es einem Beitrag zu Kunst im Holocaust heißt, über eine „magische Kraft“, „a magical power“ verfügen, die den Häftlingen eine Präsenz verliehen, die im Gegensatz zur Fragilität des Lebens im Lager stand.31 Alle Personen, die Gottliebová für Mengele portraitierte, wurden wenig später
26 Die überschneidet sich allerdings in mehreren Hinsichten mit der Auffassung des Museums. 27 Vgl. Peritore, Silvio u. Frank Reuter: Die ständige Ausstellung zum Völkermord an den Sinti und Roma im Staatlichen Museum Auschwitz: Voraussetzungen, Konzept und Realisierung. In: „Zerstörer des Schweigens“: Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik Osteuropa. Hrsg. von Grüner, Frank. Köln 2006, S. 495–515. 28 Ostałowska, Farby wodne (wie Anm. 9), S. 216 (Ein paar Bilder von kastrierten Jungen, einige Briefe, ein paar Berichte und die Aquarelle von Dina Gottliebová). 29 Ostałowska, Farby wodne (wie Anm. 9), S. 220. 30 Fürnkäs, Josef: Aura. In: Benjamins Begriffe. Hrsg. von Opitz, Michael u. Erdmut Wizisla. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2000, S. 95–147, hier: S. 118–119. 31 „Portraiture had almost magical powers, for it granted the subjects a feeling of permanency, in contrast to the extreme fragility of their actual existence“. Vgl. Rosenberg, Pnina: Art during the Holocaust. magihttp://jwa.org/encyclopedia/article/art-during-holocaust (15.07.2014).
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ermordet, die Präsenz ist also nur eine scheinbare, flüchtige. Die Wirkung der Bildfolge entfaltet sich also gerade in dieser Spannung von An- und Abwesenheit. Abgedruckt werden aus dem Zyklus der erhaltenen sieben Bilder vor allem jene Zeichnungen, die heutigen Schönheitsvorgaben entsprechen: das Bildnis eines Jungen, eine würdig blickende ältere Frau, vor allem aber stets das Bildnis jener jungen hübschen Frau, die Gottliebová „Céline“ taufte und die als „Madonna“ mit dem blauen Kopftuch gilt (Abb. 1).
Abb.1: Dina(h) Gottliebová-Babbitt: Céline (1943/1944).
Die sakrale Bedeutung von Gottliebovás Aquarellen wird auch von der Museumsleitung als Argument für ihren Verbleib in Auschwitz angeführt. So zitiert Ostałowska den Museumsdirektor Piotr Cywiński mit den Worten: „Sie [die Bilder] sollten das Wesen der Roma unterstreichen. Für die europäischen Roma sind sie Reliquien“.32 Und der Vorsitzende des Zentralrats der polnischen Roma schreibt: „Die Aquarelle sind für uns eine Art Talisman, ein Heiligtum, und sie sollten bei niemand aufgehoben sein, der kein Rom ist“.33 Hanno Loewy hat Sakralisierungen dieser Art als eine generelle Eigenschaft von Objekten „nach der Shoah“ beschrieben. „After the Shoah even the most minuscule trace of physical existence became precious and ‚sacred‘ in the realms of another teleological perspective on history“.34 Diese Sakralisierung markiert zugleich auch den Endpunkt eines Prozesses, an dessen Anfang Enteignung, Erniedrigung und Dehumanisierung stehen. Die Musealisierung der Bilder im Rahmen des Lagermuseums in Auschwitz ist somit ein Versuch, die symbolische Vernichtung, die 32 Ostałowska, Farby wodne (wie Anm. 9), S. 218. 33 Ostałowska, Farby wodne (wie Anm. 9), S. 220. 34 Loewy, Hanno: Diasporic Home or Homelessness: The Museum and the Circle of Lost and Found. In: German Historical Institute London Bulletin, 34:1 (2012), S. 41–58.
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neben der physischen Vernichtung der Roma das Ziel der nationalsozialistischen Akteure war, rückgängig zu machen.35 Als sakrale Objekte sollen die Bilder von allen profanen Aktionen, des Kaufs oder Tauschs ausgenommen werden. Die Gedenkstätte erscheint als logischer Ort ihrer Aufbewahrung, denn ihre Mauern separieren die Bilder von der Welt des Profanen.36 Auch wenn die derzeit in Auschwitz ausgestellten Bilder unzweifelhaft „Originale“ sind, so verbinden sich doch mit ihnen einige Aporien. Gezeigt werden sie in Auschwitz in einem Saal, welcher der Kunstproduktion im Lager gewidmet ist, d.h. in einem Kontext, der vor allem den Blick und die Perspektive der Opfer ausstellt und vorführt. Gottliebovás Bilder jedoch repräsentieren nicht nur die Perspektive der Opfer, sondern auch den Blick der Täter auf die Opfer, weil sie im Auftrag Mengeles und unter Einhaltung seiner Anweisungen entstanden.37 Zur Ambiguität der Bilder trägt nicht nur die bereits angedeutete Ambiguität von Sakralem und Profanem, sondern auch ihre Verortung auf zwei Zeitebenen bei38 – der Vergangenheit und des Gewaltraums der Shoah und der Gegenwart als Erinnerungszeit. Dies ist ein generelles Kennzeichen des Post-Katastrophischen, erhält jedoch durch Gottliebovás Partizipation an beiden Zeitebenen eine zusätzliche Dimension.
Das Museum – Ein Comic über Auschwitz und Raubkunst oder die Frage was dürfen und müssen Museen? Eine andere Art von Fallgeschichte als in Polen wird in Amerika, der neuen Heimat von Dinah Gottliebová bzw. Dina Babbitt, erzählt. Hier gewinnt die Tatsache Bedeutung, dass die junge Künstlerin Bilder aus dem Disney-Film Snow white and the Seven Dwarfs aus dem Jahr 1937 an die Wand der Kinderbaracke malte,
35 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 397. Assmann macht diese Beobachtung im Kontext der Fotoarbeit „Asservate“ von Naomi Tereza Salmon, die Alltagsgegenstände und Hinterlassenschaften abbildet, die aus Beständen des Museums in Yad Vashem stammen. 36 Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München 2003, S. 154. 37 Hirsch, Marianne: Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Postmemory. In: Visual Culture and the Holocaust. Hrsg. von Zelizer, Barbie. London 2001, S. 215–246, hier: S. 235. 38 Loewy, Diasporic Home or Homelessness (wie Anm. 34), S. 43.
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dass sie nach dem Krieg mit Art Babbitt einem der wichtigen Animationskünstler Amerikas verheiratet war und selbst für verschiedene Studios gezeichnet hat, an Bedeutung. Diese Aspekte tragen zu einer „Amerikanisierung“ der Geschichte und zur Forderung nach „Rückgabe“ der Bilder bei und zwar in dem Sinn, in dem Raubkunst zurückgegeben wird. Dina Gottliebová war jedoch rechtens eigentlich nie „Besitzerin“ der Bilder. Auch wenn sie deren Schöpferin ist, so war sie nie die Eigentümerin, was der Begriff der Rückgabe suggeriert. In dieser amerikanischen Version geht es um sachrechtliche Fragen, darum wer juristisch gesehen der rechtmäßige Besitzer ist, vor allem aber um die Frage, wer moralisch auf sie Anspruch hat. Im Zusammenhang meiner Überlegungen sind nicht alle Aspekte der medialen Aufbereitung der Geschichte im amerikanischen Kontext wichtig, die unter der Überschrift „Justice for Dina“39 vor sich geht, sie reichen von Auftritten in der NBC Today Show inklusive eines Besuchs in Auschwitz mit der populären Journalistin Katie Couric, über mehrere Dokumentarfilme (u.a. Hilary Helsteins As seens through these eyes40) und Alyson Richmans Roman The Lost Wife. Diese Filme und Romane ebenso wie der Comic sind ein Ausdruck der „Amerikanisierung“ des Holocaust und von Dina Gottliebová-Babbitts Geschichte, dabei kommen die spezifischen Aneignungsprozesse, die mit der Integration der Shoah in die amerikanische Populärkultur verbunden sind, auch in der Auseinandersetzung mit den Bildern zum Tragen. Daniel Levy und Natan Sznaider diskutieren Aspekte der Integration des Holocaust in die amerikanische Populärkultur und das öffentliche Geschichtsbewusstsein. Im Kontext der amerikanischen Aneignung der Geschichte Dina Gottliebová-Babbitts sind vor allem die Aspekte der „Entkontextualisierung“41 und der Entortung des Holocaust, das heißt die Loslösung der Lager und der massenhaften Ermordung von Juden von den eigentlichen Schauplätzen und gesellschaftlich-historischen Zusammenhängen sowie der Identifizierung mit der Opferposition von Bedeutung. Diese Mechanismen tragen dazu bei, den Bilderzyklus aus dem Kontext der Gedenkstätte Auschwitz zu lösen und in die USA als Ort einer neuen zeitgemäßen Musealisierung und Interpretation des Holocaust zu versetzen. Ganz der amerikanischen Selbstwahrnehmung als jener Nation, die sowohl die Zeugen als auch die Opfer vertritt, ent-
39 Vgl. die gleichnamige Website: http://www.justicefordina.com/id3.html (07.07.14). 40 As seen through these eyes (Regie: Hilary Helstein, USA 2008). Helsteins Dokumentarfilm stellt nicht nur Gottliebová vor, sondern auch andere Künstler wie Karl Stojka, Ela Weisberger und Simon Wiesenthal. Helstein ist auch die Interviewpartnerin von Gottliebová/Babbitt für ihr Zeugnis für die USC Shoah Foundation. 41 Levy, Daniel u. Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt a. M. 2007, S. 165.
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sprechend erscheint die Integration der Bilder in die amerikanische Gedächtniskultur als Endpunkt dieses Prozesses der Ent- und Aneignung der Bilder. Alison Landsberg weist in ihrer Studie über die Transmission von Erinnerung darauf hin, dass es gerade die Zirkulation und das Recycling von Texten, Geschichten, Erinnerungsfragmenten im kulturellen Übertragungsraum von Museen, Filmen, Texten ist, die zu einer Weitergabe von Erinnerungen ebenso wie zu ihrer Amerikanisierung geführt haben. Gerade auch populärkulturelle Medien wie Comics dienen ihrer Auffassung nach dazu: „to ‚burn in‘ memories, so that they might become meaningful locally, so that they become the grounds for political engagement in the present and the future“.42 Die Zeichner, die Dina Gottliebovás Geschichte als Comic und Film aufbereiten, bringen eine ähnliche Einstellung zum Ausdruck, wenn sie ihre Überzeugung formulieren, dass der Comic ein neues politisches Engagement für Babbitt in Gang setzen wird: „This comic strip will open a whole new battlefront“.43 Die animierte Version, die auf youtube zu sehen ist – trägt den Titel „The last outrage. The Dina Babbitt Story“ und endet mit dem Verweis auf die vergeblichen politischen Interventionen zu ihren Gunsten.44 In beiden Medien wird zunächst Dina Gottliebovás Künstlerbiographie erzählt – mit drei beginnt sie auf Papiersäcken zu malen, sie studiert Kunst, malt in Theresienstadt und Auschwitz, dann in Hollywood, wo sie an dem Speedy Gonzalez-Projekt beteiligt ist. Stilistisch folgt die Comic-Erzählung den klassischen amerikanischen Comics der 1940er und 1950er Jahre: sie verwendet schwarz-weiße panels, Sprechblasen, eine betonte Mimik und Gestik sowie eine Reduktion der Situationen (Abb. 2). Auffällig sind auch die deutlichen amerikanischen Marker, die die Zeichner setzen, etwa dadurch, dass bereits das erste panel, das die frühe Malbegabung der dreijährigen Dina darstellt, sie dabei zeigt, wie sie Micky Maus und Donald Duck kopiert. Dieser Amerikanisierung steht eine leichte Archaisierung der tschechoslowakischen Realität gegenüber, das Zimmer, in dem Dina malt, wirkt ländlich mit Kerzenlicht, die kleine Dina und ihre Großmutter tragen Kopftücher. Der schwarz-weiß gehaltene Comic enthält zwei farbige panels – das eine zeigt eine Szene aus Schneewittchen, das andere fünf der Portraits, die Dina Gottliebová für Mengele gemalt hat. Das panel zu Schneewittchen ist mit dem Kommentar versehen, wie sehr Dina Zeichentrick liebte. Die folgenden Szenen, die sich auf Dinas Überleben durch Kunst konzen42 Landsberg, Alison: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York 2004, S. 139. 43 http://graphics8.nytimes.com/images/...t_pages1-6.pdf (07.07.2014). 44 http://www.youtube.com/watch?v=p8Q-7_jLMs4 (07.07.2014). Der Film ist als Unterrichtsmaterial gedacht und von Disney Educational Productions finanziert und produziert. Er verwendet panels aus dem Comic und ergänzt sie um Dokumentaraufnahmen und um weitere Kommentare.
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trieren, präsentieren Dr. Mengele und grausame Szenen aus seinen Versuchslaboren. Dina Gottliebová wird mehrfach als mutig („courageous“) und altruistisch bezeichnet: ihre Bereitschaft, die Kinderbaracke auszuschmücken, obwohl dies verboten war, ihr Eintreten für ihre Mutter, die sie vor der Gaskammer retten kann.
Abb. 2 und 3: Neal Adams und Stan Lee und Joe Kubert: Comic über das Leben der Dina Babbitt (2006).
In die Schwarz-Weiß-Optik der Bilder eingeschlossen sind neben den nationalsozialistischen Tätern auch die Vertreter des Museums in Auschwitz. Die Bildfolge, die mit „Discovery of the paintings“ überschrieben ist, zeigt zwei panels, die den Erwerb der Bilder durch das Museum illustrieren. Der Kauf der Bilder erscheint als Schwarzmarkt-Aktion und der Museumsvertreter ist mit einem großen Geldbündel in der Hand abgebildet, die auf den materiellen Wert der Zeichnungen verweist und damit impliziert, das eigentliche Interesse des Museums sei nicht uneigennützig. Dies ist besonders irritierend, da der größere Teil des Konvoluts als Schenkung an das Museum ging und nur ein Bild käuflich erworben wurde. Der „Lehrfilm“ der Disney Productions verstärkt diese Tendenz noch, hier spricht der polnische Museumsmitarbeiter mit starkem Akzent und erteilt Dina Gottliebová-Babbitt eine schroffe Abfuhr. Die formale Abstraktion des Comics und seine Stilisierung entsprechen der radikalen Reduktion der Erzählung auf ihren zentralen Aspekt – die Bilder. Es geht in dem Comic nicht um Dokumentation oder Faktualität, sondern um Agitation. Das gleiche gilt für den Film, auch wenn hier Dokumentaraufnahmen zwischen die animierten Sequenzen montiert sind. In den Text, wie schon in Ostałowskas Reportage, sind Aussagen von Dina aus Interviews und aus dem Interview für die Steven Spielbergs USC Shoah-Foundation45 integriert. Die Comic-Zeichner setzen praktisch um, was Marianne Hirsch in ihren Überlegungen zur „Generation of 45 http://www.youtube.com/watch?v=FRMWD8L1xDg (07.07.14).
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Postmemory“ als „Reanimation“ bezeichnet hat, indem sie die Finalität der Bilder neu narrativieren.46 Der Comic erzählt die Geschichte einer Rettung durch Kunst und durch Bilder, eine Geschichte, die einer der drei Zeichner, Joe Kubert, bereits in einer graphic novel mit dem Titel Yossel – April 19,1943 erzählt hat.47 Auch hier sind es seine Zeichenkünste, die einen jungen Maler und seiner Familie im Warschauer Ghetto das Leben retten, auch hier gibt es stilistisch Anlehnungen an das Superhelden-Genre. Der Comic fetischisiert die Bilder auf eine andere Art als sie aus den bereits zitierten Äußerungen der Roma-Vertreter herauszulesen war. In der Lektüre der Comic-Zeichner geht es um Eigentumsrechte und einen moralischen Anspruch auf die Bilder. Eines der letzten panels zeigt Dina in Auschwitz, nachdem sie gerade die Auskunft erhalten hat, dass sie die Bilder nicht mit nach Hause nehmen darf. Hier steht zu lesen: „‚From that moment on I couldn’t stop thinking of those paintings,‘ she said later. ‚It’s like a part of my heart is still in Auschwitz.‘“ (Abb. 3) Die soziale Realität, die hier geschaffen wird, setzt den Holocaust und die Vorenthaltung der Bilder zumindest visuell gleich. So als sei es einfacher, den Horror des Holocaust zu ertragen, wenn man ihn in den Kampf für eine gerechte Sache einbettet.48 Das sich das für die Überlebenden anders darstellt, macht ein Satz Dina Gottliebová-Babbitts aus einem der vielen Interviews, die sie gegen ihr Lebensende gegeben hat, deutlich: „I’m not too happy about constantly being reminded of Auschwitz, but I can’t escape now until I have those pictures in my hand […]. I want closure. I want to hold them I want to have them“.49 Darüber hinaus bestätigt sie – wenngleich mit anderer Zielrichtung – die auratische Bedeutung des Originals im Gegensatz zur Kopie, die ihr vom Museum angeboten wird. Das letzte Kapitel von Ostałowskas Buch führt noch einmal die verschiedenen Positionen zur Frage der Aneignung und des Besitzes der Bilder an. Unter den Stimmen, die sie zitiert, findet sich auch die eines Museumspädagogen: Ich habe mir die Frage nach dem Sinn des Museums Auschwitz gestellt. Es gibt frühere Häftlinge und deren Familien, die einen der Ausstellungsgegenstände am liebsten ganz für sich hätten. Sie betrachten ihn als ihr Eigentum oder Erbe. […] [Der Museumsrat ist jedoch der
46 Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. In: Poetics Today, 29:1 (2008), S. 103–128, hier: S. 116. 47 Kubert, Joe: Yossel, 19. April 1943: eine Geschichte des Aufstands im Warschauer Ghetto. Köln 2005. 48 Žižek, Slavoj: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien. Wien 1997, passim. 49 Drake, Dana: „Holocaust Survivor Wants Paintings Returned“, 8 News. http://www.8newsnow. com/story/1036248/holocaust-survivor-wants-paintings-returned (14.07.14).
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Meinung], man solle die Zeugnisse für das Leid der Gefangenen dort zeigen, wo sie es erlitten haben. Ich halte das für einen Ausdruck der Achtung vor ihrem Schicksal.50
Auch wenn Ostałowska sich eines persönlichen Urteils enthält, so spricht doch die Organisation des Textes eine deutliche Sprache: Wie die Roma-Vertreter ist sie daran interessiert, was die Zeichnungen abbilden. So sieht sie die Bilder als Zeugnisse für das Leid der Gefangenen, im Allgemeinen und der Roma im Besonderen. Der Überlebenden Dina Gottliebová hingegen geht es nicht so sehr um das, was die Bilder abbilden und die Versuche an den Roma, die sie dokumentieren, sie argumentiert statt dessen damit, dass die Bilder einen Ausschnitt ihres Lebens bezeugen, das sie Objekte sind, die ihre Erfahrung des Lagers für sie repräsentieren, dass sie ein Teil ihres künstlerischen Werks sind. Die Bilder sagen für sie weniger etwas aus über das Leben der Portraitierten (nur eine von ihnen „Céline“ wird von Gottliebová mit Namen benannt und mit einer Geschichte versehen) als vielmehr über ihre eigene Geschichte. Die anderen Abgebildeten bleiben namenlos, die einzige Spur, die sie hinterlassen haben, sind die Bilder, die von ihnen im Auftrag Mengeles gezeichnet wurden. Im Kontext der amerikanischen Narrative spielt dieser Umstand keine Rolle, für diejenigen, die „Justice for Dina“ fordern, ebenso wenig wie es für Gottliebová selbst relevant zu sein schien. Im amerikanischen Kontext haben die Bilder somit eher den Status von „Raubkunst“, von Bildern, die Juden unrechtmäßig weggenommen wurden.51 I find it most ironic at a time in our history that thousands of Jews across the world who lost precious items and very expensive art items because the Nazis appropriated their treasures, their art, their family heirlooms… these items are being returned to Jews. […] Now why would we be returning art that was confiscated from Jews, but not returning art that was created by Jews?52
Hier wie im Comic werden Opfer- und Täterrollen neu besetzt. Nun sind nicht mehr die Nationalsozialisten die Adressaten der Anklage, sondern dem Museum in Auschwitz wird eine Täterrolle zugeschrieben. 50 Ostałowska, Farby wodne (wie Anm. 9), S. 223. „Ale zadałem sobie podstatowe pytanie o sens istnenia muzeum Auschwitz. Są tacy więźnowie i ich rodziny, którzy jakiś muzealny przedmiot woleliby mieć tylka dla siebie. Traktują go jak własność lub spadek. […] A świadectwa niedoli więźniów pokazywać tam, gdzie jej doświadczali. Uważam to za wyraz sczacunku dla ich losu.“ 51 Vgl. Friess, Steve: History Claims Her Artwork, but She Wants It Back. http://www.nytimes. com/2006/08/30/arts/design/30surv.html?pagewanted=all&_r=0 (14.07.2014). 52 So die Kongressabgeordnete für Nevada Shelley Berkley in einem Zeitungsinterview im Zusammenhang ihrer Kampagne für eine US-Intervention für Babbitt. Vgl. Jagninski, Tom: US Congress Tries to Aid Holocaust Survivor Recover Paintings – 2002-01-04. http://www.voanews.com/ content/a-13-a-2002-01-04-8-us-67548642/286351.html. (14.07.2014).
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Gegen Gottliebovás moralischen und den US-amerikanischen, sachrechtlichen Anspruch setzt das Museum seinen dokumentarischen und pädagogischen Auftrag. Einen Auftrag, den es mit anderen Museen teilt. Museen sind darauf angewiesen, dass Überlebende und ihre Familien Artefakte spenden und für die Ausstellungen zugänglich machen. Das Holocaust Memorial Museum fordert Überlebende auf, Objekte und Erinnerungsstücke zur Verfügung zu stellen, die „helfen die Zeit des Holocaust für die Besucher des Museums sichtbar zu machen“.53 Der Status von solchen Objekten ist nicht nur deshalb prekär, weil sie in neue Narrative eingebunden werden, die nicht ihrem Ursprungsnarrativ und dieses verschleiern oder re-interpretieren, sondern auch aufgrund juristischer Fragen: A theoretical question might be asked: what will happen if other former prisoners or their heirs start coming here and claiming back – which would be rightful in their opinion – works of art, pictures, suitcases, plans drawn in the camp or other objects belonging to them or to their relatives? An example would be the gate ,Arbeit macht frei‘ which was made in the camp’s forge by the master of artistic smithing, then an Auschwitz prisoner Jan Liwacz.54
Das Museum betont weiterhin, dass die Bilder dem Museum gehören, die Autorenrechte und damit das Copyright jedoch bei Dinah Gottliebová lägen.55 Abschließend wird im Text darauf hingewiesen, dass Auschwitz-Birkenau kein Museum im herkömmlichen Sinne sei, sondern als Tatort auch ein Ort sei, an den nicht nur Wissenschaftler und Touristen kämen, sondern auch „Pilger“ („pilgrims“), die der Opfer gedächten. Auch hier findet sich einmal mehr ein sakralisierender Diskurs, in den die Bilder, Artefakte und Spuren der Shoah hineingestellt werden. In der Argumentation des Museums werden Kunstwerke („dzieła sztuki“) und andere Objekte aus der Zeit der Naziherrschaft wie Totenscheine, Lagerschilder und Ausweiskarten gleichgesetzt. Als Ensemble kann das Museum dieser Auffassung nach nur bestehen, wenn solche Ansprüche zurückgewiesen werden. Das Museum deutet damit an, dass sich eine legalistische Argumentation in eine 53 Newsletter des United States Holocaust Memorial Museum, November 1988, S. 6. Dass Museen in Konkurrenz treten können, zeigt der Fall der Wandmalereien von Bruno Schulz, die in einer Nacht und Nebel-Aktion aus Drohobycz nach Yad Vashem verbracht wurden, auch um sie vor dem Zugriff anderer Museen zu schützen. 54 Museum Auschwitz-Birkenau: „Museum’s position on issue of portraits made by Dinah Gottliebova-Babbitt“. http://en.auschwitz.org/m/index.php?option=com_content&task=view&id=57&Itemid=8 (07.07.14). 55 Museum Auschwitz-Birkenau, Museum’s position (wie Anm. 54):„In the light of law, the rightful owner of the seven Gypsy portraits is the Auschwitz-Birkenau State Museum. In what regards the author property rights, they belong to Ms. Gottliebova. The Museum being the rightful owner, but without the property rights, is allowed to use them within the limits of permissible public use of protected artifacts, determined in regulation regarding author rights and relative rights“.
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Grauzone hineinbewegt, die nicht zu ermessen ist, weil Bilder in einem rechtsfreien Raum entstanden sind. Das Museum stellt also den „Bestandsschutz“ der Sammlung und den Anspruch der Öffentlichkeit auf Aufklärung über den Verlust und Besitzanspruch Babbitts.56 Dies eröffnet neue Problemfelder – in der Wahrnehmung des Museums stellen die ehemaligen Besitzer oder Künstler unrechtmäßige Forderungen, die dem Anspruch auf Vergesellschaftung von Auschwitz entgegen stehen – und verkehrt Opfer- und Täterrollen durch einen Diskurs, der ebenfalls nicht frei von Ressentiments und Vorurteilen ist.57 In diesem Konflikt ist es das Opfer, das „unversöhnlich“ erscheint und unpassende Ansprüche stellt.58 Dass Museen heute auch andere Wege gehen und damit dieser Aporie entkommen können, zeigt das neue Jüdische Museum in Warschau. Barbara KirshenblattGimblett, die Kuratorin der Ausstellung, argumentiert in einem programmatischen Interview gegen die Verabsolutierung des Authentischen und Auratischen: Autentyczność’ obiektu wystawienniczego leży w jego historycznej spójności – podobnie jak w przypadku notarialnej kopii dokumentu w sądzie – a nie w dosłownej materialności obiektu, a także w przejrzystości w zapośredniczonym wykorzystaniu oryginalnych materiałów. Mając to na uwadze, często zaskakuje mnie sposób wystawiania odbitek tak jakby były oryginałami – pokazywane są w gablotach opatrzonych podpisami jakby były oryginalnym dokumentem.59 56 Vgl. hierzu Tatzkow, Monika: Provinienzforschung und die Museen. In: Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute. Hrsg. von Bertz, Inka u. Michael Dorrmann. (Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Berlin/Jüdisches Museum Frankfurt a.M.). Göttingen 2008, S. 233–240, hier: S. 235. 57 Die Rede über die jüdischen Forderungen operieren zum Teil stark mit dem Argument, die ehemaligen Besitzer seien nur an den finanziellen Werten und nicht am ideellen Wert interessiert und der Comic für Dina lässt anti-polnische Vorurteile durchschimmern. 58 Kertész, Wem gehört Auschwitz (wie Anm. 2). 59 Łysak, Tomasz. 2009. „Nowe rozumienie autentyczności – o Muzeum Historii Żydów Polskich z Barbarą Kirshenblatt-Gimblett rozmawia Tomasz Łysak“. http://www.obieg.pl/rozmowy/6956 (07.07.14). (Die „Authentizität“ der gezeigten Objekte beruht auf der historischen Integrität, dessen was gezeigt wird, wie bei einer notariell beglaubigten Kopie in einem Gerichtsverfahren. Es geht hier nicht um die Materialität der Objekte an sich, es geht um die Transparenz und die Art und Weise wie die Objekte vermittelt werden, ob sie eine Beziehung zu ähnlichen Themen und Materialien haben. In diesem Sinne überrascht es mich, wie oft Kopien so ausgestellt werden als seien sie Originale – in Glasvitrinen, als ob sie die Unterschriften des Originaldokuments tragen). Kirshenblatt-Gimblett geht mit dem neuen Jüdischen Museum in Warschau deshalb andere Wege: „Nie posiadamy takich zbiorów, które mogłyby posłużyć do wsparcia historii, którą będziemy opowiadać i to w sposób, w jaki chcemy to zrobić. Nawet gdybyśmy mieli olbrzymią kolekcję, nie ograniczylibyśmy się do oryginalnych przedmiotów. Będziemy stosować wszelkie możliwe środki i metody – włączając w to oryginalne obiekty – aby przekazać historię, a także aby dać szerokie możliwości odkrywania“. (Wir verfügen nicht über die Sammlungen, die nötig wären, um die Geschichte [der polnischen Juden], so zu erzählen wie wir es wollen. Selbst wenn
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Das neue jüdische Museum setzt in seiner Ausstellung also nicht auf Originale, sondern auf Rekonstruktionen von Objekten, die reproduziert werden, weil sie der Konzeption des Museums entsprechen und seine Auffassung jüdisch-polnischer Geschichte spiegeln. Gottliebovás Anspruch auf Privatisierung der Bilder und ihre Erklärung nur durch Besitz der Bilder „closure“ zu finden, steht nicht nur im Gegensatz zum gesellschaftlichen Auftrag des Museums, sondern auch zu den Wünschen der Erinnerungsgemeinschaft der Roma, die gleichfalls auf Vergesellschaftung der Bilder im Museum pocht. Das Museum operiert in seiner Zurückweisung von Gottliebová-Babbitts Anspruch mit dem Unrecht der Vergangenheit – die Produktion der Bilder unter Zwang und Todesangst ebenso wie die Schenkung der Bilder im rechtsfreien Raum der Wirren am Ende des Krieges unrechtmäßige Besitznahme – mit dem Verweis auf die Rechtssituation der Nachkriegszeit, nämlich dem Verweis, dass das Museum durch die Schenkung und den Ankauf in gutem Glauben gewesen sei, als rechtmäßiger Besitzer zu gelten und verweist darüber hinaus auch auf die Zukunft, um hypothetischen zukünftigen Ansprüchen vorzubauen. Die Auseinandersetzung bestätigt eine Einsicht von Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, der folgende Überlegungen zu Ausstellungsobjekten anstellt, die sich ehemals, immer noch oder wieder in jüdischem Besitz befanden: „They are part of a process of dispossession that makes museums a matter of power, a contested territory“.60 Immer wieder zeigt sich so die verschobene Zeitlichkeit, die die Katastrophe der Shoah produziert. Im Einklang mit diesem Befund argumentierte auch Dina Gottliebová bei ihrem Versuch, die Bilder zurückzuerhalten auf zwei verschiedenen Zeitebenen – nämlich mit Bezug auf vergangenes (und gegenwärtiges) Unrecht und eine zukünftige Schließung. In beiden Fällen bleibt die Gegenwart ausgespart. Gottliebová selbst thematisiert dies in ihrem Video-Testimonial. Hier spricht sie über ihre Versuche, die Bilder aus Auschwitz nach dem Gedächtnis zu rekonstruieren und zwar in ihrer Idealform, so wie sie vor ihrem inneren Auge stehen und nicht in der von Mengele gewünschten Form. Sie spricht von der Vergeblichkeit dieses Versuchs, die Bilder, die in ihrem Kopf verankert sind, in Kalifornien zu rekonstruieren.61 Diese letzte Form der Re-Appropriation erscheint besonders tragisch,
das Museum über eine umfangreiche Sammlung verfügen würde, würden wir uns nicht nur auf Originalobjekte beschränken. Wir werden alle Mittel und Methoden benutzen, die uns zur Verfügung stehen – einschließlich von Originalobjekten – um die Geschichte zu erzählen, und um eine möglichst große Zahl von Erfahrungen zuzulassen). Vgl. auch Kirshenblatt-Gimblett. http:// www.ajsnet.org/ajsp10sp.pdf (07.07.14). 60 Loewy, Diasporic Home or Homelessness (wie Anm. 34), S. 44. 61 Gottliebová-Babbitt, Interview (wie Anm. 1), Segment #72.
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da diese Re-Privatisierung der einmal öffentlich gemachten Bilder nicht gelingen kann, wohl aber, so beharrt sie, wäre Rückerstattung der Bilder ein Zeichen der Anerkennung, dass ihr Entzug und ihre Vorenthaltung Unrecht waren.62
Fazit Die unterschiedlichen Vereinnahmungen zeugen von unterschiedlichen AlloIdentifikationen63, d.h. von unterschiedlichen Arten sich selbst mit einer anderen Person, ihrem Körper, ihrer Geschichte zu identifizieren, auch wenn diese Personen uns in keiner Weise gleichen. Die Bilder und ihre Geschichte lösen unterschiedliche Identifikationen aus: mit den abgebildeten Roma oder mit der überlebenden Künstlerin, ja sogar mit der Institution des Museums, die alle auf die Bilder projiziert werden. Ähnlich der verschobenen Temporalität gehört es zu den Charakteristika des Nachlebens der Artefakte der Shoah, dass Rollenzuweisungen fließend sind. Insbesondere für die Erinnerungsgemeinschaft der Roma sind die Zeichnungen Dina Gottliebová-Babbitts „Erinnerungsprothesen“, d.h. Erinnerungen, denen auch wenn sie nicht das Ergebnis eigener Erfahrungen sind, so doch eine körperliche, persönliche Dimension eignet.64 Keiner der Positionen gelingt es die Bilder aus der Grauzone, in der sie entstanden sind, herauszuholen und den komplexen Zusammenhang von Entstehung, Enteignung, Bewahrung und Reproduktion mit abzubilden. Es gibt keine unschuldige Aneignung der materiellen Hinterlassenschaften der Shoah, auch nicht in der Welt des Internet, in der Gottliebovás Zeichnungen nun allen zugänglich sind. Wenn mit der Ausstellung und Reproduktion nicht zugleich die Frage nach dem Status der Zeichnungen gestellt wird, bleiben sie trügerisch und sind trotz ihrer in sich geschlossenen Form und Vollendung eher als Bruchstücke eines größeren Ausschnitts der katastrophischen und post-katastrophischen Erzählung der Shoah zu sehen. Der Streit um die Bilder zeigt, dass eine bestimmte Dynamik der Zirkulation, der Ent- und Aneignung von Objekten, die durch den Holocaust in Gang gesetzt worden ist, immer noch nicht an das Ende gekommen ist und auch nicht an ein Ende kommen kann.
62 Bertz, Inka u. Michael Dorrmann: Einleitung. In: Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute. Hrsg. von Bertz, Inka u. Michael Dorrmann (Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Berlin/Jüdisches Museum Frankfurt a.M.). Göttingen 2008, S. 9–13, hier: S. 10. 63 Miller, Nancy K.: But enough of me, what do you think of my memoir? In: The Yale Journal of Criticism, 13: 2 (2000), S. 421–436, hier: S. 424, S. 430. 64 Landsberg, Prosthetic Memory (wie Anm. 42), S. 20.
Stefanie Endlich
Bilder des Lagers und ihre Rezeption von der Nachkriegszeit bis heute Hans Peter Sørensen war dänischer Grenzgendarm und Freizeitmaler. Während seiner Zeit als Häftling im KZ Neuengamme im letzten halben Jahr vor Kriegsende machte er Skizzen von der Situation im Lager. Nach der Befreiung fertigte er nach diesen Skizzen Bleistiftzeichnungen an. 1948 entstand daraus ein Zyklus mit zwanzig Lithografien. Weder die Originalskizzen aus dem KZ noch die Bleistiftzeichnungen sind erhalten geblieben. Das Blatt, das den Lager-Appell im Regen zeigt, im Hintergrund die Barackenreihe, im Vordergrund zwei Bewacher im Gespräch, ist charakteristisch für seine sachliche, vereinfachende, fast naive, aber auch düster wirkende Darstellungsweise (Abb. 1). Zugleich zeigt es eine jener Schlüsselszenen, die von vielen Künstlerinnen und Künstlern bearbeitet wurden: die Appelle, das stundenlange, qualvolle Stehen und Durchzählen nach Arbeitsschluss, bei Wind und Wetter.1 Typisch für die Werke vieler anderer KZ-Häftlinge sind auch die Schritte, die Sørensens Arbeiten durchlaufen haben: von heimlich angefertigten, teils erhalten gebliebenen, teils verloren gegangenen kleinformatigen Skizzen über Zeichnungen kurz nach der Befreiung bis zu weiteren Werken zu einem späteren Zeitpunkt, in verschiedenen, allmählich wieder verfügbaren malerischen und grafischen Techniken. Kunstwerke, die von Gefangenen während der KZ-Haft oder von Überlebenden in den Jahren und Jahrzehnten nach der Befreiung geschaffen wurden, haben das gesellschaftliche Wissen über Konzentrationslager in besonderer Weise bereichert. Ähnlich wie später entstandene Erinnerungsberichte oder wie Zeugenaussagen in NS-Prozessen setzen Kunstwerke dem SS-offiziellen Quellenmaterial – also den Verordnungen, Verlautbarungen und Statistiken der Verfolger und Bewacher – die eigenständige Perspektive des Individuums entgegen. Anders als bei den von Historikern gesammelten „Täterdokumenten“ geht es hier um die persönliche Wahrnehmung und Deutung der erlebten und erlittenen Lagerrealität.2
1 Bruhns, Maike in Zusammenarbeit mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: „Die Zeichnung überlebt…“. Bildzeugnisse von Häftlingen des KZ Neuengamme. Bremen 2007, S. 76–98. 2 Endlich, Stefanie: Kunst im Konzentrationslager. In: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1: Die Organisation des Terrors. Hrsg. von Benz, Wolfgang u. Barbara Distel. München 2008, S. 274–295.
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Abb. 1: Hans Peter Sørensen: Lager-Appell im KZ Neuengamme, Lithografie (1948).
Jahrzehntelang wurde Kunst aus Konzentrationslagern allerdings fast nur als historisches Quellenmaterial wahrgenommen. Unter diesem Aspekt wurde sie auch schon früh im Rahmen der Gedenkstättenarbeit eingesetzt, vor allem als anschauliche und sinnlich unmittelbar wirksame Ergänzung der Dokumentationsausstellungen über das Leben in den Lagern. Zu Beginn der 1980er Jahre setzte allmählich eine Neubewertung ein. Sie erweiterte den Blick auf die im KZ entstandenen Werke der bildenden Kunst – wie auch der Musik und der Literatur – und beschäftigte sich mit ihren ästhetischen Qualitäten, ihren stilistischen Besonderheiten und ihrer jeweiligen Position im Kontext der zeitgenössischen Kunst. Die wichtigsten Anstöße kamen durch die Publikation der von Miriam Novitch aufgebauten Sammlung des Kibbuz Lohamei Haghetaot in Israel 1979, die Bestandsaufnahme Art of the Holocaust von Janet Blatter und Sybil Milton 1981 und Mary S. Costanzas Buch Bilder der Apokalypse von 1983, in dem auch die Entstehungsbedingungen der Werke und der Prozess ihrer Wiederentdeckung untersucht wurde.3 3 Novitch, Myriam: Spiritual Resistance. Art from Concentration Camps, 1940–1945. A Selection of Drawings and Paintings from the Collection of Kibbutz Lohamei Haghetaot, Israel. o.O., o.J. New York 1981; Blatter, Janet u. Sibyl Milton: Art of the Holocaust. New York 1981; Costanza, Mary S.: Bilder der Apokalypse. Kunst in Konzentrationslagern und Ghettos. München 1983.
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Stefanie Endlich
In der fachöffentlichen Diskussion ist die zentrale Frage nach wie vor umstritten: Können oder dürfen Kunstwerke, die unter den Bedingungen von KZ-Haft und Terror entstanden sind und diese Erfahrungen ganz subjektiv wiedergeben, auch – oder sogar vorrangig – unter ästhetischen und kunstwissenschaftlichen Gesichtspunkten analysiert und beurteilt werden? Oder verbietet sich eine solche – distanzierte und möglicherweise kritische – Annäherung, weil Kunst aus dem KZ grundsätzlich ihre eigene Sprache spricht und besondere Maßstäbe der Bewertung erfordert? Die Frage wird am Ende dieses Beitrags noch einmal aufgegriffen. Ein kunstfeindlicheres Umfeld als ein Konzentrationslager ist nicht denkbar. Autonome Kunst war verboten, Entdeckung oder Verrat zogen Strafen mit sich und konnten den Tod bedeuten. Die Kontrolle aller Lebensbereiche durch die SS beließ keine offiziellen und nur wenige geduldete Freiräume. Augenblicke innerer Konzentration erforderten die denkbar größten Anstrengungen. Die Häftlinge waren ihren Bewachern schutzlos ausgeliefert. Welche Motivationen veranlassten sie, dennoch künstlerisch eigenständig tätig zu werden? Kunst wurde, so der eine Beweggrund, als Akt des geistigen Widerstandes begriffen, als Versuch, ein Stück innerer Freiheit zu bewahren. Der andere Beweggrund war der Wunsch, die Realität des Konzentrationslagers für die Nachwelt zu dokumentieren, also das Geschehen zu bezeugen und es mit den Mitteln der Kunst zu interpretieren. Eine weitere Lithografie von Hans Peter Sørensen in seinem Zyklus Erinnerungen an Neuengamme zeigt zum Beispiel die Enge der Baracke, wenn Arbeitstag und Appell überstanden sind. Dicht gedrängt, in kaum überschaubarer Zahl, warten Häftlinge, die nur zum Teil an Tischen und Bänken Platz finden, auf die Verteilung der schmalen Brotrationen. Auch dies eine der oft dargestellten Schlüsselszenen des Lagers. Die Überlebensbedingungen im Lager standen jeglichen Versuchen selbstbestimmter künstlerischer Arbeit entgegen. Bei ihrer Einlieferung mussten die Gefangenen ihre Kleidung und alle persönlichen Dinge abgeben. Damit gingen auch die einfachsten materiellen Voraussetzungen für Kunstproduktion verloren: Tagebücher, Bücher und Schriften, Musikinstrumente und Noten, Papier, Stifte, Mal-Utensilien. Mit der demütigenden Prozedur der Aufnahme ins Lager stellten die Bewacher gleich zu Anfang klar, dass Individualität, die doch die wesentliche Voraussetzung jedes kreativen Schaffens ist, grundsätzlich eliminiert werden sollte. Alle körperlichen und geistigen Kräfte brauchten die Gefangenen zum Überleben. Für Kunst gab es eigentlich weder Raum noch Zeit noch materielle Möglichkeiten. Dennoch entstanden unter diesen extrem feindlichen Bedingungen Kunstwerke in großer Vielzahl und Vielfalt. Im Rückblick muss man den Eindruck gewinnen, als sei bei vielen Gefangenen der Wille zur künstlerischen Betätigung geradezu gestärkt worden durch die Schikanen, mit denen die Bewacher
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alle kreativen Regungen zu unterdrücken versuchten. Professionelle Künstler setzten ihr Können ein. Autodidakten und Laien fanden neue Ausdrucksformen. Fragt man nach den Entstehungsbedingungen von Kunst im Lager, so lassen sich drei Ebenen unterscheiden. Zum einen, wie das erstgenannte Beispiel, Kunst, die im Verborgenen geschaffen oder praktiziert wurde, versteckt vor den Bewachern, geschützt durch die Verbundenheit von Mitgefangenen, gleichwohl immer in Gefahr vor Denunziation. So zeichnete Esther Lurie ein weibliches Portrait, von sich selbst oder einer Mitgefangenen, auf die Rückseite eines medizinischen Päckchens. Esther Lurie überlebte mehrere Lager, zuletzt das KZ Aflenz bei Leibitz in der Steiermark, ein Außenlager von Mauthausen, in dem die Gefangenen eine unterirdische Stollenanlage für die Flugzeugmotorenproduktion ausbauen mussten. In ihren Erinnerungen schrieb sie: „Ich war viele Male beim Zeichnen erwischt und dafür geschlagen worden…Die Bestimmungen waren äußerst streng, und wir standen ständig unter Aufsicht…Wir gaben ein erbarmungswürdiges Bild ab: Zwölfhundert jüdische Frauen, die an Befestigungsanlagen arbeiteten und in Zelten schliefen….Ich machte einige Zeichnungen, die ich in meinen Kleidern verbarg und monatelang mit mir herumtrug“.4 Im Verborgenen wurden auch kleine Gegenstände gefertigt, die gegen Brotrationen oder ähnliches getauscht oder als Dank für Hilfe an Mithäftlinge verschenkt wurden. Eines von vielen Beispielen ist eine aus Holz geformte Zigarettenschachtel mit der geschnitzten Darstellung eines Häftlings hinter Gittern aus dem KZ Sachsenhausen (Abb. 2).5
Abb. 2: Unbekannt: Zigarettenschachtel mit geschnitzter Häftlingsdarstellung (1945).
4 Costanza, Bilder der Apokalypse (wie Anm. 3), S. 153 (Abbildung und Zitat), S. 154–162. 5 Morsch, Günter u. Ley, Astrid (Hrsg.): Das Konzentrationslager Sachsenhausen 1936–1945. Berlin 2008, S. 77.
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Eine zweite Ebene umfasst Kunstwerke, die aus unterschiedlichen Gründen vom SS-Personal geduldet wurden, auch sie ständig gefährdet, manchmal aber auch missbraucht zur propagandistischen Außendarstellung der Konzentrationslager. Bei dieser Form der Kunstproduktion, zum Beispiel bei kulturellen Aktivitäten, die auch von SS-Bewachern besucht und benutzt wurden, stellt sich auch die Frage nach ihrer das KZ-System stabilisierenden Rolle. Trug sie dazu bei, die Haftbedingungen im Interesse der Bewacher verschönernd darzustellen? Solche Aktivitäten entwickelten sich vor allem in den frühen Lagern, zum Beispiel im Emslandlager Börgermoor, wo Zeichnen erlaubt war, zwei Maler sich sogar ein Atelier einrichten durften und Häftlinge Kulturveranstaltungen für Mitgefangene und SS-Leute ausrichteten. Dort und ähnlich auch im frühen KZ Lichtenburg gab es eine offizielle Lagerbibliothek, Lesungen, Musik- und Theaterabende und sogar Kabarettvorführungen.6 Mit den mörderischen Entwicklungen in den späteren Lagern, insbesondere nach Kriegsbeginn, sind diese Bedingungen nur schwer vergleichbar. Ein Beispiel aus dem Bereich der bildenden Kunst sind Zeichnungen des Künstlers Jean Kralik, angefertigt im KZ Börgermoor. Nach seiner Entlassung überarbeitete Kralik für Wolfgang Langhoffs autobiographisches Buch Die Moorsoldaten. Dieses kam 1935 in Zürich und London heraus. Es war einer der ersten Augenzeugenberichte über NS-Konzentrationslager.7 Die dritte Ebene der Kunstproduktion war jene im offiziellen Auftrag der SS, als deren Macht- und Statussymbol, zu ihrem privaten Vergnügen oder zur repräsentativen Außendarstellung des Lagers. So wurde 1941 im KZ Auschwitz sogar ein offizielles „Lagermuseum“ eingerichtet. Es diente der Sammlung historisch und künstlerisch wertvollen Raubguts aus dem Besitz eingelieferter Häftlinge und ermordeter Juden, bot aber auch Häftlingen Arbeitsmöglichkeiten und Überlebenschancen. 1942 schuf der polnische Künstler Jan Komski in der Mal-Werkstatt des „Lagermuseums“ das Ölgemälde Troubadour. Damit musste er den Geschmack der SS-Leute bedienen, die eine mittelalterliche Kellergewölbe-Szenerie in Auftrag gegeben hatten. Komski berichtete nach dem Krieg: „Endlich erlaubte die Möglichkeit, dort, im Lagermuseum, zu malen, wenigstens für eine Weile die Grausamkeit der Alltagswirklichkeit zu vergessen. Im Museum herrschte eine Atmosphäre der Freiheit; übrigens haben wir diese Atmosphäre selbst geschaffen“. Der Mithäftling
6 Lüerssen, Dirk: „Moorsoldaten“ in Esterwegen, Börgermoor, Neusustrum – Die frühen Konzentrationslager im Emsland 1933 bis 1936. In: Herrschaft und Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933–1939. Hrsg. von Benz, Wolfgang u. Barbara, Barbara. Berlin 2002, S. 157–210, bes. S. 198– 201; Endlich, Stefanie: Die Lichtenburg 1933–1939. Haftort politischer Prominenz und Frauen-KZ. In: Benz/Distel, Herrschaft und Gewalt, S. 11–64, bes. S. 50f. 7 Langhoff, Wolfgang: Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Unpolitischer Tatsachenbericht. Stuttgart 1995.
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Mieczyslaw Kościelniak wiederum dokumentierte die Entstehung dieses Bildes in seinem Gemälde Das Innere des Lagermuseums8.
Abb. 3: Willi Johe: Kaninchengemälde (o.J., 1942 oder 1943). Foto des Gemäldes über der Tür zur Angorazucht im KZ Neuengamme.
Ein anderes Beispiel für Auftragskunst, hier für das KZ Neuengamme, ist ein Wandbild im Heimatschutz-Stil: eine idyllische Schwarzwaldlandschaft mit Bauernhäusern und Tannen, im Vordergrund eine Angorakaninchen-Familie, dahinter Schafe (Abb. 3). Geschaffen wurde es von dem Maler Willi Johe, Neuengamme-Häftling, Bibelforscher und als Künstler Autodidakt. Er gehörte zum Häftlingskommando für die Angorazucht, die hier wie in anderen Lagern betrieben wurde, um Wolle an die Wehrmacht zu liefern. Sein Bild über der Eingangstür sollte anlässlich des Besuchs einer Kommission die Anlage verschönern.9 Ein weiteres Beispiel von Kunst im privaten Auftrag ist die Granit-Skulptur eines Rehs. Der Kommandant des KZ Mauthausen ließ sie 1943 von dem polnischen Häftling 8 Kunst in Auschwitz 1940–1945. Begleitbuch zu der Ausstellung der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, im Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück/Felix NussbaumHaus und dem Muzeum Tradycji Niepodległościowych w Łodzi. Bramsche 2005, S. 244–247. 9 Bruhns, Die Zeichnung überlebt (wie Anm. 1), S. 180–183 (Abb. S. 182).
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Stanislaus Krzekotowski für sein Gartenhaus herstellen. Der Künstler gehörte zu dem sogenannten „Steinbildhauerkommando“ des KZ-Außenlagers Gusen. Heute schmückt das Reh eine Grünfläche im Ortskern von Mauthausen und wird durch eine kommentierende Tafel erläutert.10 Künstler schufen in diesem Zwangsverhältnis vor allem kunsthandwerkliche Arbeiten ohne besondere ästhetische Qualitäten, doch sind auch hier einige interessante Werke entstanden. Eine präzise Abgrenzung der drei Kategorien – im Verborgenen geschaffen, von der SS geduldet und im SS-Auftrag gefertigt – ist nur hypothetisch möglich. Tatsächlich waren die Grenzen oft fließend. Bei der Tagung Kulturproduktion im Konzentrationslager, die in der vorliegenden Publikation dokumentiert ist, stand die autonome Kunst im Zentrum, die sich mit der Lagersituation auseinandersetzt. Nur ein Teil dieser im Lager entstandenen Werke konnte allerdings vor der Zerstörung gerettet werden. Ein großer Teil der versteckten Skizzen und Aufzeichnungen fiel den SS-Leuten in die Hände, ging verloren oder wurde von den Künstlern selbst aus Angst vor den Folgen der Entdeckung vernichtet. Viele Arbeiten konnten jedoch aus dem Lager geschmuggelt werden oder wurden nach der Befreiung wieder aufgefunden, in Dosen, hinter Mauerwerk oder in der Erde vergraben. Dass selbst Tagebücher und Skizzenbücher über längere Zeiträume hinweg geführt werden konnten und nicht wenige sogar erhalten blieben, mag im Rückblick wie ein Wunder erscheinen; viele ihrer Verfasser haben nicht überlebt. Zahlreiche weitere Kunstwerke entstanden in den Jahren nach der Befreiung. Vorherrschend waren Motive, die man als Schlüsselmomente des Lageralltags bezeichnen kann: Einlieferung und Barackensituationen, Zählappelle und Zwangsarbeit, Schikanen, Hinrichtungen, Augenblicke des extremen Ausgeliefertseins und die ständige Präsenz des Todes. So zeichnete der dänische Neuengamme-Häftling Viktor Glysing Jensen, der als ausgebildeter Künstler auch im SS-Auftrag tätig sein musste, im Oktober 1944 heimlich, vom Klinkergebäude aus, eine nächtlich eintreffende Gefangenenkolonne, die – noch in Zivilkleidung – von Aufsehern unter scharfem Scheinwerferlicht ins Lager dirigiert wird.11 Der niederländische Häftling Jan Budding hielt 1943 eine Szene der Essensausgabe in einer Zeichnung fest (Abb. 4). Die SS hatten die Essensrationen seit Kriegsbeginn drastisch gekürzt. Deutlich wird hier auch die qualvolle Enge in den Unterkunftsbaracken. Ceija Stojka, geboren in der Steiermark, war als Roma-Mädchen zunächst in das „Zigeuner-Lager“ Auschwitz-Birkenau verschleppt worden, anschließend nach Ravensbrück und schließlich nach Bergen-Belsen. Wie manche andere Überlebende begann sie erst nach Jahrzehnten, ihre Erfahrungen künstlerisch zu 10 Alakus, Baris: Handwerkskunst im Konzentrationslager. In: Kunst und Kultur im Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945. Katalog zur Ausstellung. Wien 2007, S. 176–121 (Abb. S. 116). 11 Bruhns, Die Zeichnung überlebt (wie Anm. 1), S. 29.
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verarbeiten. Als Autodidaktin verarbeitete sie die albtraumhaften Erfahrungen ihrer Kindheit auf anfangs eher naive, später zunehmend expressive Weise. Ihr Aquarell Zigeuner stehen Appell entstand 1992. Im Jahr 2014, ein Jahr nach ihrem Tod, fand ihr Lebenswerk durch drei sich ergänzende Ausstellungen in Berlin und in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück eine breite Aufmerksamkeit.12
Abb. 4: Jan Budding: Essensausgabe in der Baracke, Zeichnung (1943).
Zum Thema Zwangsarbeit entstanden ebenfalls viele Darstellungen. Der tschechisch-jüdische Zeichner Alfred Kantor überlebte Theresienstadt, Auschwitz und Schwarzheide, ein Außenlager von Sachsenhausen. Fast alle seine Zeichnungen aus dieser Zeit gingen verloren. In einem Displaced Persons Camp schuf er 1945, bevor er nach USA auswanderte, eine Sequenz von 127 aquarellierten Zeichnungen zu seinen verschiedenen Lager-Situationen; als Buch erschien es in den USA 1971. Auf einem dieser Blätter sieht man, wie Häftlinge im Werk Schwarzheide, wo mehr als tausend Juden beim Bunkerbau und bei der Produktion von Treibstoff für die Wehrmacht eingesetzt waren, nach einem Luftangriff zurück in die brennende Fabrikanlage getrieben werden. Bei Luftangriffen durften Häftlinge keine Schutzräume
12 Bahlmann, Lith u. Matthias Reichelt (Hrsg.): Ceija Stojka – „Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz“. Nürnberg 2014.
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aufsuchen.13 In Ravensbrück zeichnete Květa Hnilicová 1944 mit zarten Strichen ihre Kameradinnen bei unterschiedlichen Formen des Arbeitseinsatzes (Abb. 5). Gemeinsam mit zwei Mithäftlingen musste sie in der Abteilung „Arbeitseinsatz“ als Schreiberin arbeiten. Sie portraitierte die beiden bei dieser Tätigkeit und zeigte im unteren Teil der Zeichnung, wie sie nach Rückkehr in ihre Unterkunftsbaracken noch Lasten schleppen mussten. Auf die Rückseite des Blattes schrieb sie ein Gedicht mit bitterem, aber doch leicht ironischem Unterton: Ihr lieben Leute seht mal an, Wie schwer der ‚Arbeitseinsatz‘ schuften kann. Hauptsächlich Ilse Hunger und Berner Mizi (rechts hinter den Büchern vergraben sitzt sie) Der Schweiß fließt in Strömen, ihr Los ist schwer, Doch auf Block 3 finden sie kein Verständnis mehr. Kaum kommen sie heim um sich auszurasten, Müssen sie schleppen schwere Lasten! Darunter brechen sie fast zusammen Doch ‚Resi‘ hat für sie kein Erbarmen.
Květa Hnilicová hat das Lager überlebt. 1958 schenkte Ilse Hunger das Blatt der Gedenkstätte.14 Momente des Rückzugs und der Kommunikation waren die Ausnahme. Ein Beispiel hierfür ist die Zeichnung Drei Frauen vor einer Baracke von Lou Albert-Lasard, eine friedlich erscheinende Szene mit drei Frauen im Gespräch vor einer Baracke. Die seit 1928 in Paris lebende jüdische Malerin (Künstlername „Mabull“), zuvor bekannte Chronistin der Berliner und Pariser Halbwelt, fertigte im französischen Sammellager Gurs im Jahr 1940 mit Tee und Kohletabletten eingefärbte, poetisch wirkende Federzeichnungen vom Lageralltag.15 Ein weiterer Themenbereich umfasst die Straf-Rituale und Misshandlungen, den von Hunger und Erschöpfung gequälten Körper, Szenen der Hinrichtung vor den Augen der Mitgefangenen und das Sterben in der Baracke und im Krankenrevier. Der polnische Zeichner Ludwig Surokowski schuf eine eindringliche Sequenz von 32 Blättern mit Eindrücken aus dem KZ Mauthausen und anderen Lagern von der Festnahme bis zur Befreiung. Darunter befindet sich eine BleistiftKreide-Zeichnung im naiven Stil aus dem Jahr 1944 mit dem Titel Erinnerung an die Misshandlung der Neuankömmlinge in Groß-Rosen, ein suggestiv aufgebautes 13 Morsch, Günter u. Astrid Ley (Hrsg.): Das Konzentrationslager Sachsenhausen 1936–1945. Berlin 2008, S. 118. 14 Herzog, Monika: „...Hoffnung, die in uns lebt“. Ravensbrücker Zeichnungen. Fürstenberg/ Havel 1990, S. 31. 15 Gosselk, Detlef, H.G Goldbeck-Löwe u. Lou Albert-Lasard: Zeichnungen und Skizzen aus dem Alltag eines französischen Internierungslagers. Berlin 2002.
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Abb. 5: Květa Hnilicová: Zeichnung auf Millimeterpapier zum „Arbeitseinsatz“ in Ravensbrück (1944).
perspektivisches Tableau mit nackten Figuren, die von SS-Männern gequält und geprügelt werden.16 „SS-Hund“ lautet der Titel einer Zeichnung von Ágnes Lukács: die Halbfigur einer laufenden Frau, an deren Rock ein Schäferhund zerrt; 16 Blatter/Milton, Art of the Holocaust (wie Anm. 3) , S. 172f.
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hinten am Zaun ist an Mantel und Stiefeln ein Bewacher zu erkennen, der offenbar den Hund auf sie gehetzt hat (Abb. 6). Worum es vermutlich geht, wird an den beiden nur angedeuteten Kartoffeln deutlich, die die Frau beim Weglaufen fallen gelassen hat. Die Ungarin Ágnes Lukács überlebte Auschwitz, Groß-Rosen und das KZ-Außenlager Porta Westfalica, wo unterirdische Stollen für die Kriegsproduktion ausgebaut werden mussten. Ihr Zeichentalent war, wie sie selbst sagte, vielleicht lebenserhaltend. Ihre Originalzeichnungen gingen verloren. 1946 schuf sie in Budapest einen Bilderzyklus zu ihren Lager-Erfahrungen.17
Abb. 6: Ágnes Lukács: SS-Hund, Zeichnung (1946).
Der Tod war im Lager ständig präsent und daher auch ein zentrales Motiv der künstlerischen Auseinandersetzung. Eine düstere Federzeichnung des tschechischen Künstlers Ota Matoušek aus dem KZ Flossenbürg trägt den Titel Vor der Massenhinrichtung. Vor einer Sequenz von Baracken unter schwarzem Himmel steht ein Galgen, vor dem eine Gruppe von Häftlingen aufgereiht ist. Als schwarze Schatten im Vordergrund sind weitere Häftlinge zu sehen, die der Hinrichtung beiwohnen müssen. Matoušeks Lithographien-Zyklus Konzentrationslager ent-
17 Bruhns, Die Zeichnung überlebt (wie Anm. 1), S. 336–367 (Abb. S. 364).
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stand 1945, unmittelbar nach der Befreiung.18 Vittore Bocchetta stellt in seiner Blauen Mappe dar, wie bis zum Skelett abgemagerte Leichen abtransportiert werden, und gibt der Arbeit den sarkastischen Titel Wie Säcke mit Kartoffeln. Im folgenden Blatt der Blauen Mappe bewegen sich die Skelette noch auf alptraumhafte Weise zwischen den Lebenden, die für sie, angetrieben von Kapos mit Stöcken, die Bahren bereithalten. Spettri Scalzi, Barfüßige Gespenster, ist diese Zeichnung benannt. Vittore Bocchetta kam als italienischer Widerstandskämpfer in das KZ Flossenbürg und das Außenlager Hersbruck. Die Blaue Mappe entstand Jahrzehnte später, als Illustration zu seiner autobiographischen Schilderung, die unter dem Titel Jene fünf verdammten Jahre auch in deutscher Sprache erschienen ist.19 Seine Lehrtätigkeit für vergleichende Literatur an der Universität von Chicago hatte er 1972 aufgegeben, um sich ganz der Malerei und Bildhauerei zu widmen. Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg richtete ihm 2011 die Ausstellung Rückkehr im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände aus. Angesichts der ständigen Bedrohungen haben viele Künstler allerdings bewusst nicht das Lager gezeichnet, sondern Gegenwelten und Traumwelten, die in der Erinnerung oder in der Hoffnung präsent waren. Ein Beispiel von vielen ist eine zarte, poetische Zeichnung mit dem Titel Vogel im Wald von Valeska Türmer. Die Verfasserin gehörte zu den insgesamt etwa 850 vornehmlich jüdischen Frauen aus Ravensbrück, die 1942 in der „Aktion 14 f 13“ in der „Euthanasie“-Anstalt Bernburg ermordet wurden.20 Portraits und Selbstportraits bildeten eines der häufigsten Motive der KZ-Kunst. Überliefert ist eine große Fülle von Zeichnungen von Mitgefangenen in Alltags- und Extremsituationen des Lagers. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel ist ein Selbstbildnis aus dem Jahr 1944. Der jüdische Maler und Grafiker Peter Edel überlebte Auschwitz, Sachsenhausen und Mauthausen, wo er zahlreiche Zeichnungen schuf und auch SS-Bewacher in Karikaturen festhielt. Sein Selbstportrait in Auschwitz ist eine Studie der eigenen, durch die KZ-Haft veränderten Physiognomie. Der abgemagerte Gefangene mit verhärmten Gesichtszügen und gestreifter Häftlingskleidung befragt sich selbst: „Wer ist das? Du? Ich? Ja!“ Sein hinter ihm stehender Dialogpartner ist sein eigenes Alter Ego, jung, gut genährt, adrett gekleidet und aufmerksam den Fragen lauschend.21 In der Beschäftigung mit Kunst aus den Konzentrationslagern wurde die Beobachtung hervorgehoben und manchmal auch kritisch beleuchtet, dass gegenständ18 Simon-Pelanda, Hans: Kunst und Künstler im Konzentrationslager Flossenbürg und in den Außenlagern. Bonn 2001, S. 10f. 19 Bocchetta, Vittore: Jene fünf verdammten Jahre. Aus Verona in die Konzentrationslager Flossenbürg und Hersbruck. Lage (Lippe) 2003. 20 Herzog, Ravensbrücker Zeichnungen (wie Anm. 14), S. 45f. 21 Kunst in Auschwitz 1940–1945 (wie Anm. 8), S. 349, S. 361f.
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liche Arbeiten weitaus überwiegen und abstrahierende die Ausnahme darstellen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich die verschiedenen Strömungen der abstrakten Kunst erst in den 1930er Jahren stärker behauptet haben und längst nicht so verbreitet waren wie die zahlreichen Formen von Realismus, Expressionismus und Kubismus, die ja ebenfalls von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert und verboten wurden. Vor allem in diesen letztgenannten Stilrichtungen, die charakteristisch sind für die Kunst der 1920er Jahre, wurzeln die meisten Werke, die in und unmittelbar nach den Konzentrationslagern entstanden sind. Es gibt jedoch auch interessante Arbeiten an der Grenze zur Abstraktion, zum Beispiel von inhaftierten Bauhausschülern wie Rolf Cavael.22 Ein eindrucksvolles Beispiel für äußerste formale Reduktion sind die Tuschezeichnungen von Józef Szajna aus dem KZ Buchenwald. Der polnische Grafiker, Bühnenbildner und Autor schuf Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Konkretion und Abstraktion. So sind in seiner Arbeit Unsere Lebensläufe, eine Tuschezeichnung aus dem Jahr 1944, die später als Siebdruck gestaltet wurde, die Gesichter der Gefangenen mit den Daumenabdrücken des Künstlers markiert. Der Verzicht auf individuelle Physiognomien verweist zugleich auf die Verlorenheit des Individuums im Lager.23 Besonders aufschlussreich sind bei jenen Kunstwerken, die längere Zeit nach der KZ-Haft geschaffen wurden, die im Lauf der Zeit entstandenen Transformationsschritte. Zum einen stand nun wieder die Fülle künstlerischer Mittel und Techniken zur Verfügung, für Ölbilder, Aquarelle, Lithographien, auch für Skulpturen und Installationen. Zum anderen traten im Zeitablauf andere Formen der individuellen Verarbeitung und ästhetischen Reflexion in den Vordergrund, nun im Austausch mit neueren Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst und auf der Folie der eigenen späteren Lebenserfahrungen. Dabei geht es nicht nur um vertiefte Reflexionen der Lagerzeit, sondern auch um die Veränderungen, die die Künstlerinnen und Künstler selbst im Zeitverlauf erfahren und mit neuen Darstellungsweisen verarbeitet haben. Je mehr Zeit verging, desto komplexer wurden die Transformationsschritte, auch deshalb, weil die Überlebenden sich den lange verdrängten, aber immer virulenten Erfahrungen und Eindrücken aufs Neue aussetzten – nun unter gesellschaftlichen Bedingungen, in denen eine solche Auseinandersetzung oft eher abgewehrt wurde. Aus der Vielzahl derer, die im Lauf der Jahrzehnte mit Werken zu eigenen KZ-Erinnerungen an die Öffentlichkeit traten, sei hier nur Boris Lurie genant. Der jüdische Künstler wurde in Leningrad geboren, wuchs in Riga auf und überlebte 22 Teuber, Dirk: Rolf Cavael. Monographie. Bad Homburg o.J. (1992). S. 46ff., 75ff. 23 Gedenkstätte Buchenwald (Hrsg.): Józef Szajna. Appell. Geschichtszeichen und Kunstwerk in der Dauerausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald. Weimar 1995. Szajnas Installation Appell ist Teil der Dauerausstellung von Buchenwald.
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das Rigaer Ghetto und die Konzentrationslager Riga-Kaiserwald, Salaspils, Lenta, Stutthof und Buchenwald. Nach der Befreiung emigrierte er in die USA. Schon seit Ende der fünfziger Jahre, als er in New York die radikale Kunstbewegung NO!art gründete, stellte er seine Lagererinnerungen in einen aktuellen Kontext aus Werbung, Pornografie und Politik, indem er zum Beispiel Buchenwald-Aufnahmen mit Pin-up-Fotos collagierte. Die Lagererfahrungen durchdringen alle späteren visuellen Eindrücke. Seine Mixed-Media-Arbeit Railroad Collage war 1959 ein absoluter Tabubruch und ist es noch heute. Mit seiner kompromisslosen, verstörenden Ästhetik steht Boris Lurie den Kunstströmungen von Dada und Fluxus nahe und verweigert sich mit äußerster Konsequenz dem traditionellen Verständnis von „Opferkunst“.24 Abschließend noch einige Anmerkungen zur Rezeption. Die meisten KZGedenkstätten haben eine Sammlung von Kunstwerken aufgebaut, die während und nach der Lagerzeit entstanden sind. Sie setzen ausgewählte Exponate in ihrer Vermittlungsarbeit ein und zeigen Sonderausstellungen zum Thema Kunst und KZ. Bereits seit 1975 besteht in der Gedenkstätte Buchenwald ein eigenes Kunstmuseum. Es wurde 1990 umstrukturiert und zeigt nicht nur Werke von KZ-Häftlingen, sondern auch kontinuierlich Ausstellungen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Die Kunstsammlung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau in Oświęcim ist die größte ihrer Art. Das Centrum Judaicum zeigte 2005 eine eindrucksvolle Auswahl.25 Auch Jüdische Museen haben in jüngster Zeit häufig Ausstellungen zum Thema Kunst und Lager präsentiert, mit Schwerpunkten auf Ghettokunst und auf das besondere Kulturschaffen im Sammel- und Durchgangslager Theresienstadt. So war zum Beispiel im Jüdischen Museum Berlin 2013 eine umfassende Werkschau von Zeichnungen zu sehen, die der tschechisch-jüdische Grafiker und Karikaturist Bedrich Fritta in Theresienstadt angefertigt hat. Fritta wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet. Große Sammlungen befinden sich in Israel im Kunstmuseum von Yad Vashem und im Kibbuz der Ghettokämpfer Bei Lohamei Haghetaot. Tagungen und Workshops in Ravensbrück, Neuengamme, Mauthausen und anderen KZGedenkstätten haben sich in den letzten Jahren auf differenzierte Weise mit Artefakten in und aus Konzentrationslagern auseinandergesetzt, mit ihren Bildmotiven und Narrativen und mit den verschiedenen Rezeptionsformen. So stand die Sommer-Universität der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück 2010 unter dem Titel Bildersprachen – Künstlerische Produktion in Lagern und Ghettos. Dort formulierte die Kunstwissenschaftlerin Michaela Haibl aus dem Blickwinkel heutiger Wahr24 Knigge, Volkhard, Eckhart Holzboog u. Dietmar Kirves (Hrsg.): Boris Lurie. Geschriebigtes. Gedichtigtes. NO!art in Buchenwald. Stuttgart 2003. 25 Kunst in Auschwitz 1940–1945 (wie Anm. 8).
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nehmung quellenkritische Überlegungen zum Authentizitäts-Anspruch und zum ikongrafischen Aussagegehalt, und der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann beleuchtete die Rolle dieser Kunstwerke im Spannungsfeld zwischen Dokumentation, „Reliquie“ und ästhetischer Qualität. Im Gedenkstätten-Diskurs wird die Authentizitäts-Frage und die damit verbundene Frage nach der „Aura“ von Kunstwerken seit Jahren intensiv und kontrovers diskutiert. Für das Thema „Kulturproduktion im KZ“ könnte man verkürzt sagen, dass es sowohl bei den in den Lagern entstandenen Kunstwerken als auch bei den späteren Arbeiten von Überlebenden um „Verwandlungen und Anverwandlungen der Gegenwart“ geht, wie Detlef Hoffmann es ausgedrückt hat. Die Haltung vieler Rezipienten, auch vieler Historiker, die Darstellungen als möglichst objektive Dokumente – gewissermaßen als „Kamera“ – des KZ-Geschehens aufzufassen, greift zu kurz und verhindert ein tieferes Verständnis.26 Eigenständige Kunst ist niemals ein bloßes Abbild der Realität, natürlich auch nicht ein unmittelbares Bild der KZ-Vergangenheit, sondern immer zunächst eine subjektive Deutung. So soll die anfangs angesprochene Frage noch einmal aufgenommen werden. Wie kann man, wie sollte man solche Arbeiten betrachten, die unter den Bedingungen von KZ-Haft und Terror entstanden sind und diese Erfahrungen ganz subjektiv wiedergeben? Kunst aus Konzentrationslagern und anderen Lagern ist bisher immer noch nicht zum integralen Teil der Kunstgeschichte geworden. In Museen und großen Ausstellungshäusern sind auch die Werke professioneller Künstler, die das KZ überlebt und ihre Erfahrungen dargestellt haben, kaum präsent, von einigen Ausnahmen wie die Arbeiten von Józef Szajna abgesehen, der seit Mitte der 1950er Jahre als Bühnenbildner, Autor und Regisseur in Polen eine herausragende Rolle spielte. Kunstwerke zu den Lagern sind keine „Reliquien“, die gewissermaßen „verehrt“ und daher vor jeder distanzierenden oder kritischen Betrachtung bewahrt werden sollten. Man braucht Distanz und sollte auch über stilistische Fragen und den Einsatz der künstlerischen Mittel nachdenken und diese kritisch analysieren, um diesen Arbeiten die Rolle in der Kunstgeschichte zuzuweisen, die sie verdienen. Es sollte und kann darüber hinaus gelingen, sie sowohl als Zeitdokumente als auch als eigenständige Kunstwerke zu sehen, also ihren doppelten Charakter wahrzunehmen. Bei Kunst aus Konzentrationslagern ist es unverzichtbar, ihre besonderen Entstehungsbedingungen zu bedenken. Man würde jedoch ihrem Kunstcharakter nicht gerecht, wenn man sie ausschließlich unter einem emphatischen Blickwinkel wahrnähme – und nicht auch in ihrer ästhetischen Qualität und im Kontext des Oeuvres des jeweiligen Künstlers. 26 Siehe dazu u.a.: Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M. 1992; Amishai-Maisels, Ziva: Depiction and Interpretation. The Influence of the Holocaust on the Visual Arts. Oxford/New York 1993.
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Erinnern, überleben, bezeugen Es ging in der Zwangsinstitution der Konzentrationslager nicht nur darum, bei den Häftlingen alle individuellen menschlichen Züge auszumerzen und sie zu völlig gleichgeschalteten Objekten zu degradieren; bei den jüdischen Häftlingen war die totale physische Vernichtung, die Auslöschung einer ganzen Volksgruppe intendiert. Die Zielsetzung der Nationalsozialisten ging jedoch noch über die physische Vernichtung hinaus. Ihre Absicht war es, alle Spuren zu vernichten, die Erinnerung an eine jüdische Gemeinschaft völlig auszulöschen. Selbst wenn einige überlebten, würde man deren Zeugnis nicht glauben, weil die Vorgänge der systematischen Vernichtung zu ungeheuerlich erschienen. Primo Levi gibt in seinem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten eine diesbezügliche Aussage eines SS-Offiziers gegenüber einem Lagerhäftling wieder: Wie auch immer dieser Krieg ausgeht – den Krieg gegen Euch haben wir gewonnen. Keiner von Euch wird übrigbleiben, um Zeugnis abzulegen, aber selbst wenn einer davonkommen sollte, würde ihm die Welt nicht glauben. Vielleicht wird es Vermutungen geben, Diskussionen, Untersuchungen von Historikern, aber es wird keinerlei Gewissheit geben, weil wir Euch samt den Beweisen zerstören werden. Und selbst wenn irgendein Beweis übrigbleiben und einer von Euch überleben sollte, werden die Leute sagen, dass die Dinge, von denen ihr da berichtet, zu ungeheuerlich sind, als daß man sie glauben könnte. Die Geschichte der Lager werden wir diktieren.1
Primo Levi berichtet in seinem Buch, wie die Nationalsozialisten versuchten, Beweise für die Massenvernichtung zu zerstören. Im Herbst 1944 sprengten sie die Gaskammern und Verbrennungsöfen von Auschwitz. Das Warschauer Getto wurde nach dem berühmten Aufstand vom Frühling 1943 dem Erdboden gleichgemacht. Sämtliche Archive der Konzentrationslager wurden in den letzten Kriegstagen verbrannt. Die SS-Kommandos und der Sicherheitsdienst verwandten die größte Sorgfalt, dass kein Zeuge überlebte. Das war der Sinn der mörderischen Überführungen der Häftlinge von Auschwitz nach Buchenwald, nach Mauthausen, nach Bergen-Belsen. Die Konzentrationslager wurden „für das sterbende Deutschland gefährlich, weil sie ihr eigenes Geheimnis enthielten, das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit“.2
1 Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1990, S. 7; übersetzt nach der italienischen Ausgabe. In der deutschen Version findet sich ein analoges Zitat von Simon Wiesenthal. 2 Primo, Die Untergegangenen (wie Anm. 1), S. 10.
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Das Auslöschen aller Spuren und der Hinweis auf die Ungeheuerlichkeit der Vernichtung, der jeden Hinweis darauf unglaubwürdig machen werde, der Gedanke, ‚Selbst wenn wir erzählten, würde uns niemand glauben‘ tauchte nach Primo Levi bei vielen Häftlingen in Gestalt verzweifelter nächtlicher Träume auf. Beinahe alle Zurückgekehrten erinnerten sich an einen Traum, der sich in den Nächten der Gefangenschaft häufig einstellte: „Sie seien nach Hause zurückgekehrt, erzählten mit Leidenschaft und Erleichterung einer ihnen nahestehenden Person von den vergangenen Leiden und sähen, dass ihnen nicht geglaubt, ja nicht einmal zugehört würde. In der typischsten (und grausamsten) Version wandte sich der Angesprochene ab und ging schweigend weg“.3 Dass die Erinnerung an das „größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit“ ausgelöscht werden kann, dass die tiefste Unmenschlichkeit von Menschen gegenüber anderen Menschen der Vergessenheit anheimfallen könnte, stellte für die Opfer dieses Terrors eine tiefe Sorge dar.
Vergessen Dem Vergessen kommt generell eine anthropologische, aber auch eine politische Dimension zu. Man muss zweifellos auch vergessen können. Die Fixierung auf einzelne Ereignisse der Vergangenheit kann den Menschen lähmen und den Weg in die Zukunft verbauen. Man erinnert sich hier an den berühmten Text von Freud aus dem Jahre 1914: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“.4 Freud spricht in Bezug auf die Fixierung auf alte traumatische Erfahrungen von einem Wiederholungszwang. Die verdrängten Erfahrungen steigen wieder hoch, aber nicht in der Form der Erinnerung, sondern als wiederholtes Agieren, das zum Substitut der Erinnerung wird. Nach Freud braucht es die „Durcharbeitung“, die es dem Individuum ermöglicht, bestimmte verdrängte Elemente zu akzeptieren und sich so vom Wiederholungszwang zu befreien. Die durchgearbeiteten Fakten können dann dem Vergessen anheimfallen. Man muss aus dem Wiederholungszwang ausbrechen, um in die Erinnerungsarbeit eintreten zu können. Das tätige Leben kann trotz der Last der Vergangenheit weitergehen, wenn es das Versprechen enthält, dass die Geschichte sich nicht wiederholen wird. Wahre Erinnerungsarbeit ist so offen für die Zukunft.5
3 Primo, Die Untergegangenen (wie Anm. 1), S. 8. 4 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Band X. Frankfurt a. M. 1963, S. 126–136. 5 Siehe dazu auch Laplanche, Jean u. J.B. Pontalis: Vocabulaire de la Psychanalyse. Paris 1973, S. 305f.: „Perlaboration“.
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Wenn man auch in Bezug auf die Identität von Gruppen oder Nationen auf die Bedeutung der Erinnerung, des kollektiven Gedächtnisses hingewiesen hat, so kann doch der Blick auf die Vergangenheit kein alleiniges Ziel sein. Wenn man eine Identität konstruiert, indem man die Tradition integriert, dann auch, um die Zukunft zu gestalten. Aus diesem Grund hat man auch hier die Bedeutung des Vergessens betont. In Analogie zur Autobiographie der Individuen sprach man auch von der Autobiographie von Nationen; dies ist besonders für eine Nation relevant, die sich als Person definiert wie beispielsweise Frankreich. In einer Autobiographie kann man nie alles sagen. Man wählt immer die bedeutsamsten Ereignisse aus und diese Auswahl impliziert auch eine Selbstinterpretation. Die Beziehung, die man zwischen den Fakten herstellt, wird durch das Bedürfnis bestimmt, eine Kontinuität und eine Kohärenz herzustellen.6 Die Auswahl bestimmter Elemente der Tradition bringt mit sich, dass man andere Fakten nicht berücksichtigt. Die Erinnerung manifestiert sich immer auf einem Hintergrund des Vergessens. Diese Frage hat schon Renan in seinem berühmten Vortrag von 1882 „Qu’est-qu’une nation?“ bewegt. Er definierte die Nation durch zwei Elemente: einerseits durch den Willen zusammenzuleben („un plébiscite de tous les jours“), andererseits durch die Tradition, durch eine gemeinsame Vergangenheit: „L’essence d’une nation est que tous les individus aient beaucoup de choses en commun; et aussi que tous aient oublié bien des choses. Aucun citoyen français ne sait s’il est burgonde, alain, taïfale, visigoth; tout citoyen français doit avoir oublié la Saint-Barthélemy, les massacres du Midi au XIIIe siècle“.7 Es gibt hier einen Kontrast zwischen dem Nicht-kennen oder dem Vergessen der ethnischen Herkunft und dem Imperatif „on doit avoir oublié“. Wenn man jemanden zum Vergessen aufruft, dann heisst das, dass das Faktum noch präsent ist und man vergegenwärtigt es gerade auch mit dem Appell zum Vergessen. Beendict Anderson hat zu Recht darauf hingewiesen, dass mit dem französischen Substantiv Singular 6 Siehe dazu Jurt, Joseph: L’autobiographie de la nation. La constitution de l’identité narrative des Etats-nations. In: Keller, Thomas u. Georges Lüdi (Hrsg.): Biographien und Staatlichkeit. Biographies et pratiques de l’état. Berlin 2008, S. 11–29. 7 Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une nation? Paris 1992, S. 42. Nach Renan gilt der Aufruf zum Vergessen vor allem dem gewalthaften Ursprung einer nationalen Gemeinschaft: „L’oubli, et je dirai même l’erreur historique, sont un facteur essentiel de la création d’une nation, et c’est ainsi que le progrès des études historiques est souvent pour la nationalité un danger. L’investigation historique, en effet, remet en lumière les faits de violence qui se sont passés à l’origine de toutes les formations politiques, même de celles dont les conséquences ont été les plus bienfaisantes. L’unité se fait toujours brutalement“. (S. 41). Siehe dazu auch Jacques Derrida: „Tous les Etats-nations se fondent dans la violence. Je crois cette vérité irrécusable […] La fondation est faite pour l’occulter; elle tend par l’essence à l’organiser l’amnésie, parfois sous la célébration et la sublimation des grands commencements“. Derrida, Jacques: Le siècle et le pardon. Interview mit Michel Wieviorka. In: Le Monde des Débats 9 (Dezember 1999), S. 17.
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„la Saint-Barthélemy“ (das Pogrom gegen die Hugenotten im Jahre 1572) Mörder und Ermordete im selben Atemzug genannt werden. Auch in der Bezeichnung „Die Massaker des 13. Jahrhunderts im Süden“ verschwimmt die Linie zwischen Opfer und Täter.8 Es soll durch diese vage Formulierung vor allem suggeriert werden, dass es sich um Bruderkriege handelte – Franzosen gegen Franzosen, die man vergessen haben muss, weil sie kein Vorbild darstellen und an die es ununterbrochen zu erinnern gilt – als eine Warnung an die Zeitgenossen.9 Sich auf den Text von Renan über das notwendige Vergessen als Basis der Konstitution einer nationalen Identität beziehend, befürchtet Carlo Ginzburg, dass sich ein neues europäisches Bewusstsein auf der Basis des Vergessens der Shoah aufbaut. In den Augen des italienischen Historikers stellt das wohlgemeinte Vergessen eine schlimmere Gefahr dar als der offene Negationismus. So etwa wenn man denke, es sei nach dem Ende des Kalten Krieges notwendig, einen Schlussstrich zu ziehen, um eine neue europäische Identität auszubilden, ähnlich wie das gaullistische Frankreich die Vichy-Vergangenheit aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängte, um die neue Identität des Frankreichs der Nachkriegszeit zu konstruieren. Das Vergessen nehme dann die subtilen Züge einer Banalisierung oder einer Universalisierung der Shoah an.10 Auch Simone Veil, die grosse französische Politikerin, die Überlebende der Shoah, wendet sich entschieden gegen a-historische Vergleiche, die alle Menschenrechtsverletzungen mit Auschwitz gleichsetzen, die die Shoah und Hiroshima, Hitler und Milosevic, die Konzentrationslager des Dritten Reiches und die Gefängnisse lateinamerikanischer Diktaturen auf eine Ebene stellen. Primo Levi unterstreicht seinerseits die Einmaligkeit der nationalsozialistischen Konzentrationslager: Trotz des Grauens von Hiroshima und Nagasaki, der Schande des Gulags, der sinnlosen und blutigen Unternehmung in Vietnam, trotz des Völkerselbstmords in Kambodscha, der Desaparecidos in Argentinien und der vielen grausamen und sinnentleerten Kriege, die sich in der Folgezeit ereignet haben –, das nationalsozialistische System der Konzentrationslager [bleibt etwas Einmaliges], sowohl von seinem Umfang her als auch von seiner Beschaffenheit. An keinem anderen Ort und zu keiner anderen Zeit hat man ein derart unerwartetes und derart komplexes Phänomen betrachtet: niemals sind so viele Menschenleben in so kurzer Zeit mit einer derart luziden Kombination von technischer Erfindungsgabe, Fanatismus und Grausamkeit ausgelöscht worden.11 8 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 200f. 9 Vgl. Anderson, Erfindung der Nation (wie Anm. 8), S. 202. 10 Nach Frachon, Alain: L’oubli bien-pensant menace la mémoire de la Shoah. In: Le Monde (14. November 1998), S. 8. 11 Levi, Die Untergegangenen (wie Anm. 1), S. 17f.
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Die Pflicht der Erinnerung Wenn auf der individualpsychologischen Ebene das Vergessen von verarbeiteten Traumata Sinn macht, wenn das ‚Vergessen‘ auf nationalgeschichtlicher Ebene ein „Paradoxon“12 darstellt, das in prophylaktischer Perspektive postuliert wird (Renan macht seinen Lesern klar, „daß sie etwas ‚vergessen haben müssen‘, woran sich selbstverständlich zu erinnern er ihnen im selben Atemzug unterstellt“13), so kann es das bei der Shoah nicht geben. Gibt es hier nicht eine eigentliche Pflicht der Erinnerung?14 Pflicht der Erinnerung zunächst für das jüdische Volk, aber auch für die Überlebenden und die Zeitgenossen generell. Die Juden wurden der Vernichtung geweiht aus dem schlichten Grund, dass sie zum jüdischen Volk zählten. Zunächst gab es so etwas wie Scham oder Hemmung von der Vernichtung überhaupt zu sprechen.15 Aber immer mehr drängte sich die Pflicht 12 Anderson, Die Erfindung der Nation (wie Anm. 8), S. 201. 13 Anderson, Die Erfindung der Nation (wie Anm. 8), S. 201. 14 Siehe dazu auch Jurt, Joseph: Die Pflicht der Erinnerung: Literatur und Shoah. In: Villinger, I., G. Riescher. u. J. Ruhland (Hrsg.): Politik und Verantwortung, Festgabe für Wolfgang Jäger. Freiburg 2000, S. 328–336. Der französische Begriff „devoir de mémoire“ taucht in Frankreich in den 1990er Jahren auf, als ein posthumes Interview mit Primo Levi unter dem Titel Le devoir de mémoire erschien, der sich im italienischen Original noch nicht fand (Levi, Primo: Le devoir de mémoire. Entretien avec Anna Bravo et Federico Cereja. Paris 1995). Im Jahre 2000 entwickelte sich eine wichtige Debatte um diesen Begriff im Anschluss an eine Intervention von Paul Ricoeur, der „devoir de mémoire“ durch „travail de mémoire“ ersetzt haben möchte. Zu dieser Debatte siehe Jurt, Joseph: Le devoir de mémoire: La Shoah. In: Bohler, Danielle u. Gérard Peylet (Hrsg.): Le temps de mémoire II: soi et les autres. Bordeaux 2007, S. 83–95 (Coll. Eidôlon, 79). 15 Ruth Klüger berichtet davon wie gut gesinnte Verwandte, aber auch der Geschichtsprofessor der Universität Berkeley, mit dem sie verheiratet war, ihr rieten, ihre Erinnerungen zu vergessen. „Wir waren wie Krebskranke, die die Gesunden daran erinnern, dass auch sie sterblich sind“. Sie protestierte dagegen, dass man sie ihrer Erinnerungen, ihres Wissens, ihres ‚Lebens‘ beraubte. Die Alternative wäre gewesen, sich so wie ihre Mutter als sechs Jahre jünger auszugeben – um so die Periode der Verfolgung aus ihrem Leben wegzuwischen (Nach Por, Peter: Die unmögliche Zeugenaussage. In: Schweizer Monatshefte 5 (2005), S. 32–35). Ähnliches berichtet Simone Veil in ihrem Lebensrückblick. Die aus den Lagern Zurückgekehrten störten aber die französische Nachkriegsgesellschaft, die möglichst schnell die düsteren Vorkommnisse vergessen wollte. Man feierte wohl die Leute aus dem Widerstand, die sich für eine Idee entschieden hatten, nicht aber die rassisch Verfolgten, die ihr Schicksal als Opfer nicht selber gewählt hatten. Die Vereinigung der Überlebenden von Auschwitz wurde indes völlig von den Kommunisten in einem politischen Sinne vereinnahmt. Das war die erste politische Erfahrung von Simone Veil, die sich entschieden einem stalinistischen Diktat widersetzte. „Quant aux Juifs qui n’avaient pas été déportés, c’est-àdire, en ce qui concerne la France, les trois quarts d’entre eux, la plupart ne supportaient pas de nous entendre. D’autres préféraient ne pas savoir. Il est vrai que nous n’avions pas conscience de l’horreur de nos récits. C’est donc entre nous, les anciens déportés, que nous parlions du camp“. Veil, Simone: Une vie. Paris 2007, S. 394.
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der Erinnerung auf. Ohne Staat und ohne Territorium war das jüdische Volk nach Jacques Le Goff „das Volk der Erinnerung par excellence“.16 Die Nationalsozialisten wollten, wie das Primo Levi festhielt, nicht nur das jüdische Volk physisch liquidieren, sondern auch die Erinnerung an das Volk und sogar die Erinnerung an die Vernichtung des Volkes auslöschen. „Glücklicherweise sind die Dinge nicht so gekommen, wie die Opfer es befürchteten und die Nazis erhofften. Auch die perfekteste Organisation hat ihre Lücken, und Hitler-Deutschland war, vor allem in den letzten Monaten vor dem Zusammenbruch, weit davon entfernt, eine perfekte Maschinerie zu sein“.17 Wenn man aber begänne, die Shoah dem Vergessen anheimzugeben, hätten die Nazis ihr Ziel erreicht. Es gibt so zunächst für das jüdische Volk selber die Pflicht der Erinnerung. ‚Zakhor‘ – „erinnere-dich“, dieser biblische Aufruf stellt ein fundamentales Element der jüdischen Identität dar. Es ist der Aufruf, die Erinnerung an das Exil, die Verfolgung aber auch die messianische Hoffnung (im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten) wachzuhalten.18 Die Häftlinge der Lager versuchten darum um jeden Preis Spuren aufzubewahren. Sie suchten, wie Elie Wiesel schrieb, „tout ce qui leur permettait d’écrire […] notaient des chiffres, des noms de bourreaux, des supplices et aussi des noms de morts […] Un jour, un soc de charrue, une excavatrice, déterreraient la boite ou la bouteille renfermant un fragment de page écrite: le livre, le livre éternel contre lequel on ne peut rien“.19 Das jüdische Volk war immer ein Volk der Schrift und das schriftliche Zeugnis allein konnte gegenüber dem Versuch der Geheimhaltung der Nazis aufkommen. Serge Klarsfeld hob seinerseits deren Strategie hervor: „Les mesures qui frappaient les personnes elles-mêmes, n’ont laissé que des traces insignifiantes dans les textes. Les rafles, les arrestations, les déportations ont été réglées non par des actes officiels mais par des coups de téléphone, des ordres verbaux, des télégrammes chiffrés – de service à service“.20 Die Erinnerung ist und bleibt ein konstitutives Element der Identität des jüdischen Volkes in der Diaspora. Der Wille der Nazis selbst die Erinnerung auszulöschen verpflichtet die Überlebenden, die Erinnerung wachzuhalten, daran 16 Le Goff, Jacques: Histoire et mémoire. Paris 1986, S. 20. 17 Levi, Die Untergegangenen (wie Anm. 1), S. 8. 18 Siehe dazu Yerushalmi, Yosef Hayim: ‚Zakhor‘. Histoire juive et mémoire juive. Paris 1984. 19 Zitiert nach Ruszniewski-Dahan, Myriam: Romanciers de la Shoah. Si l’écho de leur voix faiblit… Paris 1999, S. 19. 20 Zitiert nach, Ruszniewski-Dahan, Romanciers (wie Anm. 19) S. 19f. Siehe dazu auch Gold schmidt, Georges-Arthur: „On sait qu’Auschwitz était construit en matériaux aussi légers que possible pour, après usage, en effacer jusqu’au souvenir. Ce sont les avatars de l’histoire qui ont interrompu le processus d’extermination enclenché et l’ont révélé. Si les choses avaient pu aller jusqu’au bout, on n’en aurait rien retrouvé, peut-être même rien su (Le Monde, 27./28. Februar 2000).
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zu erinnern, zu welcher Unmenschlichkeit Menschen fähig sind. Die Erinnerung wachzuhalten ist für die Überlebenden eine Pflicht, aber gleichzeitig eine Aufgabe, die sie vor grosse Probleme stellt. Das wurde uns in einem Gespräch mit Jean Samuel bewusst, der zusammen mit Primo Levi in Auschwitz war. Im Rahmen eines Seminars über die Literatur und die Erinnerung an die Shoah im WS 1999/2000 besuchten wir das KZ Struthof und begegneten danach Jean Samuel in Straßburg, der über zwei Stunden vor den Studenten von seiner Zeit in Auschwitz und vom Todesmarsch nach Buchenwald sprach, mit bewundernswerter Gelassenheit. Auf die Frage einer Studentin, warum er all das nicht niederschreibe, antwortete er, er misstraue seinem Gedächtnis, das das Erfahrene verändern könne. Die Gefahr bestehe dann, dass Negationisten solche Unstimmigkeiten ausschlachteten. Er würde darüber sprechen, auch in Schulklassen, aber nicht darüber schreiben.21 Jean Samuel hat später seine Erfahrungen niedergeschrieben, allerdings in Zusammenarbeit mit einem jungen elsässischen Historiker, Jean-Marc Dreyfus, der ihn mit seinem Wissensstand unterstützte.22 Schon 1946 nahm er wieder Kontakt mit Primo Levi auf, mit dem er bis zu dessen Tod in Freundschaft verbunden blieb. Im Kontakt mit anderen Überlebenden war ihr größtes Anliegen, die Erinnerung an das Geschehene wach zu halten. In Primo Levis bleibendem Zeugnis Se questo é un uomo fanden sich die Überlebenden wieder. „J’ai fait voeu de ne jamais oublier ça, je me le répète tous les jours comme une prière“,23 schrieb Primo Levi in einem Brief an Jean Samuel, der die Konzentrations- und Vernichtungsrealität als „l’expérience humaine la plus absolue que le XXe siècle, et d’autres siècles sûrement, ait eu à connaître“24 bezeichnet. An die Pflicht der Erinnerung gerade auch gegenüber der jungen Generation gemahnte auch Simone Veil in ihrer Rede in Auschwitz anlässlich der 60. Wiederkehr der Befreiung des Lagers: Comme tous mes camarades, je considère comme un devoir d’expliquer inlassablement aux jeunes générations, aux opinions publiques de nos pays et aux responsables politiques, comment sont morts six millions de femmes et hommes, dont un million et demi d’enfants, simplement parce qu’ils étaient juifs [...] c’est dans un pays d’Europe, depuis longtemps admiré pour ses philosophes et ses musiciens, qu’il a été décidé de gazer et brûler des millions d’hommes, de femmes et d’enfants, dans des fours crématoires.25 21 Siehe dazu auch Henri Borlant, der nach vielen Interventionen in Schulen seine Erinnerungen an die Deportation und Auschwitz festhielt: Borlant, Henri: ‚Merci d’avoir survécu‘. Paris 2011. 22 Samuel, Jean u. Jean Marc Dreyfus: Il m’appelait Pikolo. Un compagnon de Primo Levi raconte. Paris 2007. 23 Zitiert nach Samuel/Dreyfus, Il m’appelait Pikolo (wie Anm. 22), S. 87. 24 Samuel/Dreyfus, Il m’appelait Pikolo (wie Anm. 22), S. 88. 25 Veil, Simone: Une Vie, S. 387f.; deutsch: Und dennoch leben. Die Autobiographie einer grossen Europäerin. Berlin 2009.
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In ihrer Rede als Präsidentin der „Fondation pour la mémoire de la Shoah » am 29. Januar 2007 vor der UNO blieb Simone Veil nicht im Allgemeinen, sondern schilderte ganz konkret ihre persönliche Erfahrung: „Il faut que vous sachiez que, pour les anciens déportés, il n’y pas de jour où nous ne pensions à la Shoah. Plus encore que les coups, les chiens qui nous harcelaient, l’épuisement, la faim, le froid et le sommeil, ce sont les humiliations destinées à nous priver de toute dignité humaine qui, aujourd’hui encore, demeurent le pire dans nos mémoires“.26 Primo Levi fragte sich voller Angst, wer dann das Geschehene bezeugen werde, wenn alle Überlebenden der Lager tot sind. Eine analoge Sorge brachte Elie Wiesel in seinem Berliner Vortrag „Ethik und Erinnerung“ zum Ausdruck. Er erwähnte die Figur des Boten bei Kafka, der die menschliche Tragik verkörpert, weil er nicht fähig ist, seine Botschaft zu überbringen. Noch größer aber ist die Tragik des Boten, der seine Botschaft vergisst. Noch schlimmer ist die Tragik, wenn der Bote vergisst, wem er seine Botschaft überbringen soll. Unüberbietbar ist die Tragik des Boten, der vergessen hat, dass er ein Bote ist. Die Tragik des totalen Vergessens existiert. Der Gedanke an diese Möglichkeit ist gleichzeitig ein Aufruf. Denn das Vergessen wie das Erinnern ist nie bloss eine individuelle Angelegenheit. „Wenn ich meine Vergangenheit vergesse, führt das zwangsläufig dazu“, so richtete sich Elie Wiesel an seine Berliner Zuhörer, „daß ich ihre Vergangenheit vergesse. Das wäre unmoralisch […] Ich glaube, Erinnerung muß eine Brücke sein, die Menschen zusammenbringt“.27
Strategien des Überlebens Der Aufruf, die Erinnerung wachzuhalten, wird von den Überlebenden artikuliert und richtet sich an die Nachgeborenen. Im Zentrum hier stehen jedoch die Häftlinge in den Todeslagern und ihr Wille zu überleben. Maja Suderland unterstrich in ihrer zentralen Untersuchung über die Häftlingsgesellschaft28, dass die 26 Veil, Une Vie (wie Anm. 25), S. 390. 27 Wiesel, Elie: Ethics and Memory. Ethik und Erinnerung. Berlin/New York 1997, S. 47–48. 28 Suderland, Maja: Ein Extremfall des Sozialen. Die Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Frankfurt/New York 2009; engl. Übersetzung: dies.: Inside Concentration Camps. Social Life at the Extrems. Cambridge 2013; vgl dazu die Besprechung Jurt, Joseph: Um caso extremo do social: as sociedades dos prisineiros nos campos de concentração nazistas. In: Tempo Social, 22/1 (Juni 2010), S. 199–210; deutsche Version: Soziale Differenzierung als Widerstand. Die Ausbildung einer Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 33/61 (2010), S. 55–61
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SS in den Lagern zunächst versuchten, bei den Häftlingen alle Spuren der sozialen Differenzierung auszulöschen, um so eine erzwungene Gleichheit (durch Häftlings-Uniform und Totalrasur) zu schaffen, die den Häftlingen die Menschenwürde raubt und nur mehr die Hierarchie zwischen Über- und Untermenschen gelten zu lassen. Die Autorin erinnert an die Verfahren der Entmenschlichung, bei denen jede Selbstbestimmung verweigert wird, die Entblößung, der Raub des Eigennamens, die Tätowierung durch das „Brandmal der Sklaverei“ (Primo Levi). Enge, Hunger, schlechte hygienische Verhältnisse rufen das Bild einer totalen „Gegenwelt“29 hervor. Trotz dieser schlimmen Umstände und der großen Risiken blieb der Wunsch nach selbstbestimmtem Handeln bei den Inhaftierten eine wichtige Zielvorstellung. Maja Suderland beschreibt die verschiedenen Formen der sozialen Differenzierung, die sich als Widerstand gegen die erzwungene Gleichmacherei des Lagersystems ausbildeten. Sie erwähnt hier auch die erzwungenen oder geduldeten kulturellen Aktivitäten (Musik, Theater, Kabarett), die als Symbole der Kontinuität mit dem vorherigen Leben identitätsstärkend wirkten. So wertete Ruth Elias einen Kabarettabend als Beleg, „daß wir trotz eurer Terrorherrschaft unsere Seelen nicht verloren haben, [...] daß es euch trotz allem nicht gelungen ist, unsere Widerstandskraft zu brechen“.30 Eine verborgene Ebene der Sozialität stellte das kleinteilig organisierte soziale Leben der Häftlinge dar. Zahlreiche unterschiedliche geistige Aktivitäten (Verfassen von Gedichten, Nacherzählen von Filmen, Musizieren, religiöse Praktiken, naturwissenschaftliche Diskussionen) verliehen ein gewisses Gefühl von Selbstbestimmtheit und belegen so Zygmunt Baumans These der „Kultur als Lebensstrategie“31. Die Häftlinge „richten sich daran auf, verschieden zu sein [...], um sich davon abzulenken, daß sie alle gleich gefährdet sind“.32 Dass kulturelle Aktivität sich als eine wichtige Überlebensstrategie erwies, wird durch zahlreiche Zeugnisse belegt, so etwa auch durch Jean Samuel, dessen Zeugnis die These von Maja Suderland illustriert und ergänzt. Während sich viele im Lager auf die Literatur stützten, so waren es bei Jean Samuel, der Pharmazie studierte, die Naturwissenschaften, vor allem die Mathematik.33 In Auschwitz suchte er der permanenten Erniedrigung standzuhalten durch die intellektuelle Aktivität, durch die Reflexion über mathematische Probleme, über die er mit anderen Naturwissenschaftlern diskutierte. Was aber Jean Samuel noch mehr bewegte, das waren seine Begegnung mit Primo Levi im Lager Auschwitz 29 Suderland, Ein Extremfall des Sozialen (wie Anm. 28), S. 210. 30 Suderland, Ein Extremfall des Sozialen (wie Anm. 28), S. 208. 31 Suderland, Ein Extremfall des Sozialen (wie Anm. 28), S. 221. 32 Suderland, Ein Extremfall des Sozialen (wie Anm. 28), S. 218. 33 Samuel/Dreyfus, Il m’appelait Pikolo (wie Anm. 22), S. 88.
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III-Monowitz und die darauf folgende lebenslange Freundschaft. Aus einer elsässischen Apothekerfamilie stammend, war er zusammen mit seinen Angehörigen 1943 nach Süd-West-Frankreich geflohen. Im März 1944 wurde die ganze Familie, die im Kontakt zur Résistance stand, von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Weil Jean Samuel Pharmazie studiert hatte, wurde er dem Chemie-Kommando zugeteilt. Als Jüngster musste er die Aufgabe des Gehilfen des Kapos übernehmen. Primo Levi war kurz zuvor demselben Kommando zugeteilt worden; er gab Jean Samuel, dem Kapo-Gehilfen, den Namen ,Pikolo‘, ein Wort, das in der Lager-Sprache nicht vorkam und das als persönliche Wortschöpfung Primo Levis menschliche Sympathie in einer unmenschlichen Welt zum Ausdruck brachte. Primo Levi hat in einem zentralen Kapitel von Se questo è un uomo seine Erinnerung an Jean Samuel festgehalten: „Jean était un Pikolo exceptionnel. Il joignait à la ruse et à la force physique des manières affables et amicales: tout en menant avec courage et ténacité son combat personnel et secret contre le camp et contre la mort, il ne manquait pas d’entretenir des rapports humains avec ses camarades moins privilégiés; et de plus il avait été confiance d’Alex, le Kapo“.34 Als Primo Levi im Lager zusammen mit Jean zum Essenholen eingeteilt wird, bittet ihn dieser, ihm jeweils auf dem Weg Italienisch beizubringen. Primo Levi zitiert ihm aus dem Gedächtnis lange Passagen aus dem ,Inferno‘ von Dantes Commedia Divina, Verse, die wie kaum ein anderes Werk dem Unheil standhalten konnten. Jean Samuel erwähnt hier die zentralen Verse Dantes, die eine radikale Negation der Welt des Konzentrationslagers darstellen: Considerate la vostra semenza Fatti non foste a viver come bruti Ma per seguir virtute et conoscenza/ Considérez quelle est votre origine Vous n’avez pas été faits pour vivre comme des brutes Mais pour ensuivre et science et vertu.35
Die Träume Eine der kulturellen Aktivität analoge Funktion kam im Lager offenbar auch dem Traum zu. Jean Cayrol, der ins Lager Mauthausen deportiert wurde, erwähnt die innere Spaltung des Menschen im Lager, der auf zwei unterschiedlichen Ebenen lebe, die trotzdem durch einen unsichtbaren Faden verbunden seien, die Ebene 34 Levi, Primo: Si c’est un homme. Paris 1990, S. 117. 35 Zitiert bei Samuel, Il m’appelait Pikolo (wie Anm. 22), S. 40.
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des Schreckens und die Ebene der Überschwänglichkeit, die Ebene des Rausches und diejenige der Gleichgültigkeit. Cayrol hat in einem Artikel, Les rêves concentrationnaires, die ganze Bedeutung der Träume im Konzentrationslager hervorgehoben.36 Er berichtete in dem Aufsatz, er habe während seiner Lagerzeit Träume gehabt, die für seinen Seelenzustand wohltuend waren. Im Schlaf fühlten die Lagerhäftlinge sich in eine magische, wunderbare Welt eintauchen, die ihr Leben erträglich machte. Cayrol spricht auch von Wachträumen, die ihnen erlaubten, sich in eine Welt außerhalb des Lagers zu versetzen. Die Widerstandskraft des Gefangenen, so schreibt er, „wurde außerordentlich, weil im Augenblick, als man ihn schlug, als man ihn verhöhnte, vor seinen Augen plötzlich der alte Apfelbaum seines Gartens oder die eingeschüchterte Haltung seines Hundes erschien; er wurde zurückgedrängt auf ein armes Bild, ein Gebet, ein Geheimnis und er widerstand“.37 Für Cayrol, der von der surrealistischen Schule geprägt war, waren die Träume Ausdruck des Verteidigungssystems des Unterbewußtseins. Die Träume, die Cayrol notierte, zeichnen sich vor allem durch ihre ästhetischen Qualitäten aus als Kompositionen von Landschaften, Farben und Tönen. Wenn die Tagträume einerseits erlauben, im Lager zu überleben, so erschien andererseits das Leben im KZ als eine Art Halluzination, in der sich das Groteske, das Schreckliche und das Absurde vermischten.38 Die Häftlinge, hin- und hergerissen zwischen der realen Hölle des Lagers und der sublimen Welt der Träume, verloren 36 Cayrol, Jean: Les rêves concentrationnaires. In: Les Temps Modernes, 36/4 (September 1948), S. 520–535; wieder aufgenommen unter dem Titel Les Rêves lazaréens. In: Cayrol, Jean: Lazare parmi nous. Paris 1950, S. 12–66. 37 Cayrol, Lazare parmi nous (wie Anm. 36), S. 22–23. (Übersetzt von J. J.) „Sa force et sa résistance [celle du prisonnier] arrivaient à devenir extraordinaires parce qu’au moment où on le battait, où on le bafouait, apparaissaient soudain devant ses yeux le vieux pommier de son jardin ou la démarche apeurée de son chien; il était acculé à une pauvre image, à une prière, à un secret, et il faisait front“. Auch für Robert Antelme gehört der Schlaf im KZ zu den menschlichen Attributen, die die Schergen ihren Häftlingen letztlich nicht rauben können. „Nous avons droit au sommeil. Les SS l’acceptent, c’est-à-dire que pendant quelques heures, ils consentent à ne plus être nos SS. S’ils veulent encore avoir demain de la matière SS, il faut que nous dormions. Ils ne peuvent pas échapper à cette nécessité. Et nous, il faut que nous fabriquions de la force. Il faut donc dormir“. Antelme, Robert: L’Espèce humaine. Paris 1996, S. 39–40. Antelme spricht aber auch davon, wie die Sprache der Erinnerung nicht so sehr wie die Wachträume bei Cayrol zum Widerstand anregten, sondern das Leben im Lager schlicht unerträglich machten. „Les autres dormaient […] Francis avait envie de parler de la mer. J’ai résisté. Le langage était une sorcellerie. La mer, l’eau, le soleil, quand le corps pourrissait, vous faisaient suffoquer. C’était avec ces mots-là comme avec le nom de M... qu’on risquait de ne plus vouloir faire un pas ni se lever [..]. Tant que l’avenir était possible il fallait se taire“. (S. 169). Zur Bedeutung des Traums in Cayrols KZ-Erfahrung siehe auch Zeltner, Gerda: Jean Cayrol le romancier de l‘incertitude. In: Preuves 149 (Juli 1963), S. 86–87. 38 Cayrol, Lazare parmi nous (wie Anm. 36), S. 22.
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so ihr Zeitgefühl. Nannten sie sich nicht ab 1943 des „morts vivants“, lebende Tote?39 Wenn Cayrol sich dank seiner Imagination, die bei ihm als Dichter besonders ausgeprägt war, sich im Lager retten konnte, so war doch der Preis, der dafür zu bezahlen war, hoch, eine Art Realitätsverlust, den er in Les rêves lazaréens beschreibt. Die Welt außerhalb des Lagers wurde so sehr idealisiert, dass es oft bei der Rückkehr in die weniger ideale, reale Welt zum totalen Zusammenbruch kam. Andererseits wurde auch die irreale Welt des Lagers mythologisiert. „Durch diesen inneren Bruch zwischen den beiden Universen kamen wir dazu, ebenfalls zwischen den beiden Welten zu leben, ohne sie je gänzlich zusammenzubringen und das ließ uns danach und vielleicht für immer in einem Gefühl des Schwankens, in einem Zustand des geistigen Umherschweifens und der Entwurzelung“.40 Der Historiker Reinhart Koselleck kam in seiner Studie Terror und Traum auf die „rêves concentrationnaires“ zurück, die Cayrol festgehalten hatte. Cayrol unterschied zwischen den noch wirklichkeitsgesättigten Träumen der vorkonzentrationären Haft und den konzentrationären Träumen, „die bereits die Rückbindung an die Vergangenheit lockern, in denen sich natürliche, musikalische oder architektonische Landschaften ausbreiten“.41 Bei den konzentrationären Träumen unterscheidet Cayrol zwischen Heilsträumen und Zukunftsträumen, die sich gegenseitig ausschließen. Das was Cayrol als Heilsträume erfahren hat, waren bild- und handlungsarme Träume: Sie entsprechen, unter Verzicht auf jede zeitliche Dimension, der Lagererfahrung […] Im Lager herrschten Bedingungen, die alle bisherige Erfahrung verhöhnten, unwirklich zu sein schienen, aber dennoch wirklich waren. Die Nötigung, sich zu entwickeln, um auf einer Endstufe des Daseins lahmgelegt zu werden, führte zu einer Inversion auch der Zeiterfahrung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hörten auf, Orientierungslinien des Verhaltens zu sein. Diese in den Leib diktierte Perversion mußte ausgekostet werden, um sich von ihr zu befreien. Davon zeugen die Heilsträume. Sie begehrten nicht mehr, die Person des Träumers in der Wirklichkeit zu verankern, und wurden deshalb – scheinbar paradox – zum Signum der Überlebenschance.42 39 Cayrol, Lazare parmi nous (wie Anm. 36), S. 18. 40 Cayrol, Lazare parmi nous (wie Anm. 36), S. 26–27. „Nous arrivions, par cette rupture interne entre deux univers, à vivre également entre deux univers sans jamais les rejoindre tout à fait, et cela nous laissait encore, et peut-être à jamais, dans une sensation de flottement, d’état de vagabondage mental et sans racines”. Zu den „rêves concentrationnaires” bei Cayrol generell siehe auch Kuon, Peter: „L’exil ne finissait qu’à la nuit”. Jean Cayrol et les rêves concentrationnaires. In: Mémoire et exil. Hrsg. von Kuon, Peter u. Danièle Sabbah. Frankfurt a. M. 2007, S. 87–104. 41 Koselleck, Reinhart: Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1995, S. 278–299, hier: S. 290. 42 Koselleck, Terror und Traum (wie Anm. 41), S. 291.
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Auf dieser letzten Schwundstufe, als man seinen eigenen Tod schon glaubte ausgestanden zu haben, gewann der Lagerhäftling mit seinem nahezu vernichteten Körper eine minimale, aber entscheidende Kraft zum Weiterleben.43 Die Zukunftsträume der Konzentrationslagerhäftlinge, von denen Cayrol berichtet, bewegten sich indes in der zeitlichen Dimension des vergangenen Lebens und leiteten aus der Erinnerung Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft ab. Diese Zukunftsträume „zehren von einem Leben, aus dem die Häftlinge absolut und unwiderruflich abgeschnitten waren. Es handelt sich um utopische Konzentrationsträume. Sie eröffnen ein bewegtes Bild der Heimat jenseits des elektrischen Stacheldrahtes, von der Heimat, die der Häftling sucht und zurückruft, die es aber nicht mehr gibt“.44 Diese Träume, die sich in der Vergangenheit und vor allem aber in der Zukunft situierten, die grausame Gegenwart des Lagers aber ausblendeten, waren Vorboten des Todes. Jean Cayrol beschreibt das sehr eindrücklich: Un très grand nombre de mes camarades commencèrent, dès leur installation au camp, à penser à leur avenir, à esquisser des projets de leur existence future, À dessiner des plans ou des améliorations à apporter dans leur ancienne maison. C’était, pour certains, une sorte d’exaspération désespérée, un état de fébrilité maladive, un signe de leur prochaine déchéance. […] Dès que j’apercevais un de mes chers compagnons avec un crayon à la main, traçant les lignes de sa demeure de demain, je savais qu’il n’en avait pas pour longtemps à résister. C’était la grande euphorie de la fin qui commençait. Peut-être dessinaient-ils leur dernière demeure, ou creusaient-ils ainsi d’eux-mêmes leur tombe. Je vois encore un de mes camarades s’écroulant près de moi, mort, avant d’avoir achevé le plan d’une grange modèle qui s’étalait devant ses yeux. Chacun sentait, au plus secret de son âme, qu’il ne devait rêver ni jour ni nuit à ce qui pouvait arriver; cela ne nous regardait pas.45
Cayrol selber hielt die Erfahrung der Konzentrationslager im Medium der Fiktion für nicht übersetzbar. Die Zeugnisse von Robert Antelme und David Rousset über ihre Lagererfahrung haben nach ihm ihre definitive Gültigkeit. Sehr spät kam Jean Cayrol noch einmal auf seine Erfahrung im KZ zurück, in seinem 1967 veröffentlichten Roman Histoire d’une Maison. „Je vous envoie Histoire d’une maison“, so schrieb mir damals Jean Cayrol. „J’aimerais que vous puissiez le lire et l’aimer. Pour moi, c’est important car j’ai dit et j’ai révélé beaucoup de faits de ma vie que j’avais tenus secrets. Je suis toujours porteur d’une vieille guerre dont j’ai étouffé les cris pour ne pas l’entendre, et il est dur de paraître sans être“.46 In dieser Geschichte eines Hauses gibt sich der Protagonist Siméon im Konzentrati43 Koselleck, Terror und Traum (wie Anm. 41), S. 291. 44 Koselleck, Terror und Traum (wie Anm. 41), S. 290f. 45 Cayrol, Lazare parmi nous (wie Anm. 36), S. 59–61. 46 Persönlicher Brief von Jean Cayrol vom 29. Januar 1976.
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onslager auch einem Zukunftstraum hin, dem Traum, ein eigenes Haus zu bauen: „Je fus épouvanté à l’idée qu’il allait tracer l’esquisse de son futur logis: c’était mauvais signe. La fin. […]“, so der Erzähler zu Siméon. Il devenait euphorique; c’était comme une sensation de bien-être autour de ce corps léger comme une poignée de tilleul […] Je me tournai vers lui; son bras décharné continuait à dresser le plan de ses agrandissements. Son visage prenait une teinte nacrée, un violet sournois autour des yeux. Il paraissait si détendu; il rayonnait de joie. Je voulus lui dire quelque chose de fraternel. […] Siméon poursuivait sa description minutieuse et, malgré la toux, sa voix reprenait de l’assurance. – L’avenir est à nous. On retrouva Siméon raidi, à l’aube, sur la paillasse, les yeux ouverts encore rieurs, un bon sourire au coin des lèvres.47
Cayrol beschreibt den Tod von Siméon nicht als eine Niederlage; er stirbt „un bon sourire au coin des lèvres“. Er stirbt nicht als ein Besiegter. Gegen die Fatalität der Geschichte, die den Einzelnen zermalmt, hielt er an seinem Traum fest. „Le rêve c’est l’espoir de la réalité“, schrieb mir Jean Cayrol nach meiner Lektüre seines Romans.48 Es kann für Cayrol nie darum gehen, die Zukunftsträumer unter den Häftlingen als die ‚Schwächeren‘ darzustellen. Koselleck spricht vom Terrorsystem der Konzentrationslager als der „teuflischen Inversion“, „daß der Tod ein besseres Leben und das Leben ein schlimmerer Tod zu sein schienen […]“.49 Diese Inversion bestand darin, dass die Zukunftspläne, die sonst vom Überlebenswillen zeugen, in dieser grausamen Welt zu Vorboten des Todes wurden im Gegensatz zum Schicksal derjenigen, die sich ausschließlich an die Schwundstufe ihrer gegenwärtigen Existenz hielten. Im Gesamtsystem der Lager konnten gerade Mut und Standfestigkeit, also sichtbare Zeichen der Überlebenskraft […], zur Vernichtung führen. Und auf der Rampe von Auschwitz galten nur animalische Kriterien. Die innere Evidenz der Überlebenschancen, die sich im spontanen Verhalten der Häftlinge und ihrer Träume manifestierte, ist nicht mehr kommensurabel mit der statistischen Frequenz, mit der vergast wurde. Damit wurde den Vernichteten auch der letzte Sinn des Opfers entzogen, die Absurdität wurde zum Ereignis.50
47 Cayrol, Jean: Histoire d’une maison. Paris 1976, S. 283. 48 Persönlicher Brief von Jean Cayrol vom 23. Juli 1976. Siehe dazu auch Jurt, Joseph: L’expérience concentrationnaire à l’épreuve de la fiction: Je l’entends encore et Histoire d’une maison. In: „Les mots aussi sont des demeures“. Poétiques de Jean Cayrol. Hrsg. von Kuon, Peter. Bordeaux 2009, S. 115–127. (‚Eidôlon‘, 87) sowie ders.: Jean Cayrol: Lazarenisches Schreiben. In: Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden. The Shoah Remembered. Literature of the Survivors. Hrsg. von Schmitz, Walter. Dresden 2003, S. 251–280. 49 Koselleck, Terror und Traum (wie Anm.), S. 292. 50 Koselleck, Terror und Traum (wie Anm.), S. 293.
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Solidarität Das Lagersystem gehorchte einer Logik des Absurden. Dieser Absurdität versuchten die Häftlinge zu begegnen durch kulturelle Aktivität als Überlebensstrategie, vor allem aber durch die Solidarität, die das System gerade zu verhindern suchte. Jean Cayrol berichtet darüber in einem kurzen Text, der sich in Daniel Osters Monographie über den Schriftsteller findet, in dem er die Erfahrung des Konzentrationslagers beschreibt: Dann sind wir nach dem Konzentrationslager nach Mauthausen in Österreich gefahren. […] Zum ersten Male seit Jahren spreche ich davon. Mauthausen gleicht einer mongolischen Festung, mit außerordentlichen Lichteffekten. Hier hat man begonnen, uns zu schlagen und die erste Auswahl vorzunehmen. Dann hat man uns fortgeführt, alle, die übrigblieben, in ein zweites Lager, das eigentliche Vernichtungslager von Mauthausen vier Kilometer entfernt [...] Während zehn oder elf Monaten haben wir zwölf Stunden am Tag in einem Granitsteinbruch mit Presslufthämmern gearbeitet, ohne essen zu können. Problem des Hungers, Problem des Durstes, Problem der Dysenterie, Problem der Schläge. Sobald wir ins Lager zurückkamen, begann das wieder bis zwei Uhr morgens, Schläge auf den Kopf, Schläge auf den Rücken, weil wir unsere Betten schlecht gemacht hatten. Keine Sekunde hörte das auf. Ständig wurde geschlagen. Nur durch die Hilfe der Kommunisten wurde ich gerettet. Jeder französische Häftling im Lager gab mir während mehrerer Tage einen Löffel Suppe. Dank dem konnte ich überleben, denn ich wog nur noch 30 Kilo.51
1982 kam Cayrol in seinen Erinnerungen noch einmal auf die Zeit im Konzentrationslager zurück. Hier betonte er, deutsche jüdische Freunde, Lotte und Jean Carrire, die ersten Kafka-Übersetzer, hätten ihn schon über die Methoden der 51 In Oster, Daniel: Jean Cayrol et son oeuvre. Paris 1967, S. 172–173 (übersetzt von J.J.). Hinweisen müsste man in diesem Kontext auf die unterschiedlichen Erfahrungen der politisch und der rassisch Verfolgten. Die ersteren konnten an Solidaritätserfahrungen vor der Lagerzeit anknüpfen: „Les déportées ‚politiques‘, lors de leur arrivée à Auschwitz, se trouvaient en général intégrées dans un groupe de militantes qui se connaissaient de longue date, ou qui avaient eu la possibilité de se connaìtre en prison, parfois pendant les périodes de plusieurs mois avant leur transfert au camp de concentration“. Das war aber bei den jüdischen Deportierten meist nicht der Fall: „Les juives, en revanche, avaient souvent été prises dans des rafles et avaient passé, au plus, quelques semaines dans un autre camp, avant d‘être déportées à Auschwitz. Elles ne connaissaient la plupart du temps de leur convoi que les membres de leur famille déportés en même temps qu’elles et, dans ce cas, le choc à l’arrivée était rendu d’autant plus insupportable qu’il s’accompagnait souvent de la perte des proches, du mari, des enfants ou des parents. Cette différence initiale marque toute l’expérience concentrationnaire. L’isolement relativement plus grand des juives à l’arrivée au camp ne semblait pas pouvoir être surmonté par la suite“. Dieser Befund beruht auf einer Analyse von Berichten von deportierten Frauen von Auschwitz-Birkenau. Michael Pollak u. Nathalie Heinich: Le témoignage. In: Actes de la recherche en sciences sociales, 62–63 (Juni 1986), S. 3–29, hier: S. 21.
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Gestapo informiert, aber auch über die Art, wie man ihnen widerstehen könne. Wichtig sei vor allem gewesen, sich auch äußerlich nicht gehen zu lassen.52 Er bringt hier auch die Überzeugung zum Ausdruck, dass andere starben, damit er lebe („On est mort pour que je vive“53). Er erinnert sich hier an den österreichischen Geistlichen Hans Gruber, der ein ausgeklügeltes System der Hilfe für die Häftlinge in Gang gesetzt hatte und der nach dessen Entdeckung von der Gestapo am Karfreitag 1944 an einem Fleischerhaken aufgehängt wurde54; er erinnert sich auch an den Père Jacques vom Karmeliterkloster von Avon, der deportiert wurde, weil er jüdische Kinder in seiner Schule versteckt hatte, der aus Solidarität im Lager bleiben wollte und an Erschöpfung im Juni 1945 in Linz starb.55 Die Gestalt des Père Jacques wurde in Louis Malles Film Au revoir les enfants als Père Jean transponiert.56 Schließlich erwähnt er auch ein jüdisches Kind, dem er ein Stück Brot gegeben habe. Wenn er schreibe, nach Worten suche, dann auch in der Erinnerung an dieses Kind.57 Von analogen Solidaritätserfahrungen berichtet Jean Samuel, wenn er beschreibt, wie er und ein Kamerad anlässlich eines Gedenktages sich gegenseitig etwas vom Mund Abgespartes schenkten: „[Le geste] était d’une gravité mémorable. Dans les conditions où nous vivions, il était la marque d’une immense confiance mutuelle; il prouvait que, même dans cet enfer, l’homme peut rester un
52 „Je n’ai pas besoin de recommencer un topo sur ce système de déportation déjà archaïque. On a mieux fait depuis: rien ne vaut l’expérience dans la torture. Souvent, j’ai frôlé la mort, mais je ne m’en suis pas aperçu. Je fus roué de coups: on s’y habitue. Tous les matins, même avec moins trente degrés, je me lavais à grande eau. La propreté nous fait propriétaire de notre corps. Je voulais, malgré les travaux de carrière, me présenter toujours comme un garçon bien élevé, soucieux de sa tenue“. Cayrol, Jean: Il était une fois Jean Cayrol. Paris 1982, S. 98. 53 Cayrol, Il était une fois (wie Anm. 52), S. 98. 54 Siehe dazu Jean Cayrols Gedicht Chant funèbre à la mémoire de Jean Gruber. In: Cayrol, Jean: Poèmes de la nuit et du brouillard. Paris 1995, S. 46–50 mit folgender Einleitung: „Pour mon plus que père Jean Gruber, prêtre autrichien, prisonnier politique au camp de Gusen, célèbre historien de son pays, supplicié le Vendredi Saint 7 mars 1944, à trois heures, pour avoir nourri secrètement, pendant trois mois, trente-cinq Français“. 55 Siehe Cayrol, Chant funèbre (wie Anm. 54), S. 51–57. 56 Zu den Deportierten von Avon und zu Père Jacques siehe auch Braunschweig, Maryvonne u. Bernard Gidel (Hrsg.): Les déportés d‘Avon. Enquête autour du film de Louis Malle Au revoir les enfants. Avon 1988. 57 „Depuis cette époque, je pense à un enfant juif, tremblant de fièvre, à qui j’avais donné un bout de pain. C’est pour lui que j’écris, que je m’évade par les mots, que je prends mon vol“. Cayrol, Il était une fois (wie Anm. 52), S. 98. Siehe dazu auch die Widmung im Roman von Jean Cayrol Je l’entends encore (Paris 1968, S. 5): „Pour cet enfant de dix ans que j’ai rencontré un matin dans le camp de concentration de Mauthausen, et qui partait vers sa mort, le regard étonné et fiévreux“.
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frère pour l’homme“.58 In seinen Augen war es wichtig, auch diesen Aspekt festzuhalten. So schrieb er 1946 in einem Brief an Primo Levi: „Il s’agit pas seulement de montrer le côté monstrueux de la vie du camp, il faudrait surtout dépeindre les efforts que nous avons faits pour résister à la tentation de nous transformer en bêtes tout court, pour rester des hommes et même des hommes pensants“.59 Als viel später Jean Samuel die Gelassenheit gefunden hat, um von seiner Auschwitz-Erfahrung vor der jüdischen Gemeinde seines Heimatortes zu sprechen, fragt er sich, warum er diese Schrecken überleben konnte, und versucht dann eine Antwort: „Vivre le quotidien sans relâche, refuser le passé et l’avenir, et surtout rester humain, ne pas devenir ‚bête‘ ou ‚brute‘ comme le souhaitaient nos bourreaux“.60
Zeugnis ablegen „Il y avait chez lui [sc. Primo Levi] comme une certitude de sa survie, pour écrire. Il s’y préparait. En fait, je me demande si ce n’est pas cette préparation au témoignage, à l’inverse, qui lui a permis de survivre“, so schreibt Jean Samuel.61 Auch Giorgio Agamben weist darauf hin, dass der Wille, Zeuge der Lagerrealität zu werden für Deportierte ein Grund zum Überleben werden konnte. Er verweist auf eine Aussage von Hermann Langbein: Ich hatte den festen Entschluss gefasst, nicht freiwillig in den Tod zu gehen, was auch immer geschehen möge. Ich wollte alles sehen, alles durchmachen, alles erfahren, alles in mir aufnehmen. Zu welchem Zweck, wenn ich doch niemals Gelegenheit finden sollte, der Welt das Ergebnis meiner Entdeckungen entgegenzuschreien? Einfach deshalb, weil ich mich nicht ausschalten wollte, nicht den Zeugen ausschalten, der ich sein konnte.62
58 Samuel, Il m’appelait Pikolo (wie Anm. 22), S. 77. Diese Solidarität konnten die Häftlinge aber bei der deutschen Zivilgesellschaft kaum finden. Er beschreibt, wie sie im Januar 1945 in ein Zeltlager eingewiesen wurden und auch die Zivilbevölkerung nicht die geringste Solidarität zeigte: „Nous longions un village. On n’y voyait que des femmes et des enfants, des visages fermés, des yeux qui ne nous voyaient pas, qui se détournaient sur notre passage. Nous étions devant eux comme des criminels, des bagnards qu’on n’ose pas regarder. Nous étions transparents, n’existions plus. Cela a été une épreuve horrible. C’était aussi dur à supporter que le froid ou le soif“. (S. 75). 59 Samuel/Dreyfus, Il m’appelait Pikolo (wie Anm. 22), S. 92. 60 Samuel/Dreyfus, Il m’appelait Pikolo (wie Anm. 22), S. 189. 61 Samuel/Dreyfus, Il m’appelait Pikolo (wie Anm. 22), S. 191. 62 Zitiert nach Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt a.M. 2003, S. 13.
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Zeugenschaft geht von der „Annahme der Kopräsenz eines Bewusstseins mit einem einmal stattgefundenen Ereignis“ aus.63 Die Zeugenschaft wurde im Lateinischen, wie Giogio Agamben ausführt, durch zwei Wörter bezeichnet: ‚testis‘ und ‚superstes‘, die zwei unterschiedliche Bedeutungen transportieren. ‚Testis‘ (abgeleitet von ‚*terstis‘) von dem das italiensche ‚testimone‘ und das französische ‚témoin‘ abstammen, meint den Dritten, der sich in einem Streit oder einem Prozess zwischen die Streitparteien oder die Kontrahenten stellt.64 ,Superstes‘ meint denjenigen, der ein Ereignis erlebt und es als einziger über-lebt hat und deswegen Zeugnis davon ablegen kann.65 Primo Levi ist, so bemerkt Agamben zu Recht, nicht ein neutraler ‚Dritter‘, der in einem Prozess auftritt und ein Urteil fordert; er ist ein Über-lebender, der über das Geschehene Zeugnis ablegt, über ein menschliches Handeln, das sich den juristischen Kategorien radikal entzieht. Im Zentrum des Zeugnisses der Überlebenden steht aber etwas, so derselbe Autor, von dem nicht Zeugnis abgelegt werden kann. Die ‚vollständigen Zeugen‘ wären diejenigen, die kein Zeugnis ablegen konnten, diejenigen, die in der AuschwitzSprache ‚Muselmänner‘ genannt wurden: die Halb-Lebendigen, Halb-Toten, die bereits jeden körperlichen und geistigen Bezug zur Welt verloren hatten, die nichts mehr aßen, nichts mehr tranken und noch für eine kurze Weile verstört vor sich hintaumelten. Sie haben erlebt und verkörpert, wozu die Menschen in den Lagern herabgesetzt werden sollten. Der, der nicht bis zu diesem Zustand kam, konnte nie ein wahres Zeugnis davon ablegen, die aber, die ihn erreichten, konnten schon damals nicht mehr vernünftig sprechen, und sie sind alle, ohne Ausnahme, gestorben, sie brachen entweder zusammen oder sie wurden getötet.66
Die Überlebenden können nicht den Zustand derjenigen bezeugen, die „den tiefsten Punkt des Abgrundes berührt haben“.67 Wer es aber übernimmt, für sie Zeugnis abzulegen, weiss, „daß er Zeugnis ablegen muß von der Unmöglichkeit, 63 Kasper, Judith: Georges Perec’s ‚W ou le souvenir d’enfance‘ – Trauma, Körper, Zeugenschaft. In: Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah. Hrsg. von Jurt, Joseph. Freiburg 2005, S. 69– 79, hier: S. 70. 64 Für die Rechtsethnologen kann man dann von einem Rechtssystem ausgehen, wenn dieses mit dem Dritten Gestalt gewinnt, der nicht ‚Partei‘ ist und sich dennoch auf den Streit bezieht. Siehe dazu Meintel, Katja: Im Auge des Gesetzes. Aachen 2008, S. 52–53. 65 Agamben, Was von Auschwitz bleibt (wie Anm. 62), S. 14–15. 66 Por, Die unmögliche Zeugenaussage (wie Anm. 15), S. 35. 67 Agamben, Was von Auschwitz bleibt (wie Anm. 62), S. 30. Dadurch, dass von denjenigen, die den Tiefpunkt im Lager erlebt haben, keiner überlebte, hatten die Nationalsozialisten ihr Ziel erreicht: „Nach dem Willen derer, die die Shoah geplant und vollstreckt haben, durfte kein Zeuge bleiben – und es ist, in diesem tradierten, doppelten Sinn des Wortes, kein Zeuge geblieben; Auschwitz, die Shoah ist das Geschehnis ohne Zeugen“. Por, Die unmögliche Zeugenaussage (wie Anm. 15), S 35.
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Zeugnis abzulegen“.68 Für Peter Por ist so auch der Lager-Bericht weiter leben Eine Jugend von Ruth Klüger ein Buch, das ein Geschehen erzählt und „dennoch mit jedem Wort auch die Unmöglichkeit der Aussage bezeugt“.69 Eine nicht verwendete Titelversion des Buches lautete so „Ablehnung der Zeugenaussage“.70 Dasselbe Paradox brachten Jorge Semprún und Elie Wiesel zum Ausdruck: „On ne peut pas dire […], und trotzdem: „Se taire est impossible“.71
Zeugnisse von Auschwitz-Überlebenden Die Unmöglichkeit der Zeugenaussage ist natürlich eine radikale Position, die für die Muselmänner zutrifft, an deren Stelle niemand sprechen kann. Aber zweifellos können die Überlebenden ihre Erfahrung des Lagers bezeugen. 1986 widmeten die beiden Soziologen Michael Pollak und Natalie Heinich eine umfangreiche Arbeit der ‚Zeugenschaft‘ („Le témoignage“) von Deportierten, und zwar von deportierten Frauen nach Auschwitz-Birkenau.72 Die Zeugnisse der Überlebenden sind in den Augen der beiden Autoren nicht bloß Berichte über das Faktische, sondern gleichzeitig Instrumente, um eine traumatisierte Identität wieder aufzubauen. Das Trauma kann aber so groß sein, dass man ihm nur mit dem Schweigen begegnen kann. Unterstrichen wird der „caractère doublement limite de l’expérience concentrationnaire“: „à la limite du possible et, de ce fait, à la limite du dicible. Ne peuvent ainsi en parler de façon crédible que ceux qui l’ont subie, alors que l’effort pour l’oublier ou ne pas évoquer publiquement peut être une condition pour surmonter ce passé“.73 Aus den Berichten geht hervor, dass die meisten Deportierten daran dachten, alles festzuhalten, um es später bezeugen zu können, dass aber dann die Anzahl der Zeugenberichte beschränkt war, weil 68 Por, Die unmögliche Zeugenaussage (wie Anm. 15), S. 30. 69 Por, Die unmögliche Zeugenaussage (wie Anm. 15), S. 35. 70 Por, Die unmögliche Zeugenaussage (wie Anm. 15), S. 35. 71 Semprún, Jorge u. Elie Wiesel: Se taire est impossible. Paris 1995, S. 18. 72 Pollak, Michael u. Nathalie Heinich: Le témoignage. In: Actes de la recherche en sciences sociales 62–63 (Juni 1986), S. 3–29. 73 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 4. Nicht darüber sprechen (können) bedeutet aber nicht vergessen. So fasst Michael Pollak die Reaktion der Zeugin Ruth unter dem Fazit „Garder le silence sans rien oublier“ zusammen: „A un moment de l’entretien Ruth dit: ‚J’ai malheureusement eu tort quand j’ai pensé que j’avais rangé tout cela dans le dernier coin de mon cerveau, et que tout ce passé y était bien enterré. Et puis, depuis que nous nous rencontrons, je me rends compte que je n’ai rien oublié, et que tout est présent comme au moment où je l’ai vécu“. Nach Pollak, Michael: La gestion de l’indicible. In: Actes de la recherche en sciences sociales 62–63 (Juni 1986), S. 30–53, hier: S. 51.
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es für das Weiterleben wichtig erschien, in die Zukunft zu schauen. Die Zeugenberichte heben sich so ab von einem unendlichen Hintergrund des Schweigens: „Tout témoignage se situe sur un espace du dicible, que limitent le silence absolu par la destruction physique (et ce sont les millions de déportés qui ne témoignent que par leur mort) et les silences partiels dus à la destruction des dispositions ’morales‘ (i.e. psychiques, sociales, éthiques etc.) autorisant le témoignage“.74 Zu den Zeugenaussagen‚ die Pollak und Heinich untersucht haben, zählten zunächst diejenigen, die vor einer juristischen Instanz in Kriegsverbrecherprozessen gemacht wurden. Die Zeugenaussage bezieht sich hier auf eine beschränkte Anzahl von Ereignissen als Antwort auf gezielte Fragen. Die Persönlichkeit des Zeugen verschwindet hinter den ‚Fakten‘, deren Wahrheitsgehalt es zu ermitteln gilt. Die Zeugenaussage richtet sich weder an einen Vertrauten oder einen Mit-Häftling, sondern an einen Repräsentanten des Rechtssystems. Das Verfahren der Beweisführung bewirkt, dass in der Aussage Emotionen unterdrückt werden (müssen). Diese Aussagen betreffen vor allem die Täter und sagen relativ wenig über die Beziehung der Häftlinge untereinander aus („les dépositions judiciaires nous éclairent principalement sur les inculpés, c’est-à-dire sur les SS (personnel de garde et médecins), et sur les rapports entre les SS et les déportés“.75). Ein zweiter Typus von Zeugenberichten, die Pollak und Heinich analysierten, waren historische Zeugnisse, Aussagen, die Überlebende vor Historikergruppen und -kommissionen machten. Hier beschränkte sich die Fragestellung nicht auf konkrete Ereignisse. Trotzdem glichen die historischen Zeugenaussagen bisweilen den juristischen; andere (wenige) Zeugenaussagen hatten einen mehr politischen Inhalt; eine Kontinuität mit dem vorherigen politischen Engagement artikulierte sich vor allem bei den kommunistischen Häftlingen. Wissenschaftliche Zeugenaussagen hielten die Versuche am Menschen oder die Behandlung von Neu-Geborenen im ‚Revier‘ fest. In den persönlichen Zeugenaussagen schließlich herrschte große Sachlichkeit und Lakonik vor: „A travers l’impossibilité de donner un sens à la souffrance subie, certains passages de ces témoignages, dans leur description directe et dépourvue de toute émotion, frappent par leur caractère laconique“.76 Die autobiographischen Zeugnisse erwiesen sich als die informationsreichsten. Sie informieren vor allem über den Bruch mit der vorherigen Welt, über die Anpassungsversuche. Hier ist der umfassende Zeugnischarakter am meisten evident: „Ces documents biographiques résultent de la volonté de l’auteur de se souvenir, et de transmettre ce souvenir. C’est dire aussi que les informations très 74 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 6. 75 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 8. 76 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 9.
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riches qu’ils contiennent doivent être représentées en fonction des logiques qui peuvent commander les différentes façons de rendre compte de sa vie“.77 In den Gesprächen von Überlebenden, die sich in einer Vereinigung ehemaliger Häftlinge regelmässig trafen, bildeten sich Elemente eines kollektiven Gedächtnisses aus: „Leur définition du témoin exclut tant l’héroïsation que la lamentation ou l’expression trop émotionnelle. […] [leurs témoignages] se réfèrent à un même espace discursif du dicible et de l’indicible, et suivent les mêmes principes de structuration“.78 Das autobiographische Schreiben über die Lagererfahrung bedarf einer spezifischen Ermächtigung, die nicht auf dem Bekanntheitsgrad des Autors beruht, sondern auf dem Status eines Zeugen einer kollektiven Erfahrung, aus der bleibende Schlüsse gezogen werden: „L’accès à la parole publique et à la publication d’une vie individuelle ne dépend pas de la notoriété propre de la personne, mais de son statut de représentant d’un groupe (celui des déportés), et de porte-parole d’une cause (transmettre l’expérience de l’impensable barbarie et lutter contre elle)“.79 So finden sich in den autobiographischen Berichten wenige Aussagen über das persönliche Leben und die soziale Herkunft vor der Lagerzeit. Im Zentrum steht fast immer die Identität der Person im Lagerkontext. Selbst Charlotte Delbo, die aufgrund ihrer Bekanntheit eine Autobiographie im traditionellen literarischen Sinn hätte schreiben können, begann ihr Schreiben über die Lagererfahrung – relativ spät – mit einer kollektiven Biographie der Frauen, die gemeinsam mit ihr ins KZ deportiert wurden.80 Viele dieser Berichte wurden in den vier Jahren nach der Lager-Öffnung verfasst, weil der Überlebenswille gerade durch diese Aufgabe des Zeugnisablegens gespeist wurde: „Le témoignage est alors souvent présenté comme la réalisation d’une forme de résistance qui consistait à vouloir survivre pour pouvoir témoigner“.81 Spätere Zeugnisse waren durch die Hoffnung motiviert, durch das Schreiben die Traumatismen zu überwinden oder sie verstanden sich als (implizite) Antwort auf Negationisten oder auf das Wiederaufflackern des Antisemitismus.82 77 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 11. 78 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 13. 79 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 13. 80 Delbo, Charlotte: Le convoi du 24 janvier. Paris 1965. Zu Charlotte Delbo siehe auch Binder, Anne-Berenike: „Mon ombre est restée là-bas“. Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit. Tübingen 2008, S. 40–116. 81 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 14. 82 Peter Kuon, der die Zeugnisberichte politisch Verfolgter untersucht hat, stellt ebenfalls fest, dass während des Jahrzehntes von 1945 bis 1954 eine ebenso große Anzahl von Berichten erschien wie in den dreißig Jahren danach: „Cette disposition souligne le besoin viscéral de témoigner dans les premières années après la guerre ainsi que, de la part de la société, une certaine
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Zeugnisse von politisch Verfolgten Wenn Michael Pollak und Nathalie Heinich in ihrer Studie Zeugenaussagen von politisch und rassistisch verfolgten Frauen untersuchten, die nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, so legte Peter Kuon 2013 eine umfangreiche Arbeit über Zeugenberichte von politisch Verfolgten vor, die nach Mauthausen eingewiesen wurden.83 Gleich zu Beginn definiert er die Zeugenschaft: „Un témoin est une personne qui, ayant vu ou entendu, fait un rapport sur l’événement. Son autorité repose sur l’affirmation vérifiable d’y avoir été et l’engagement solennel, pris en public, de dire la vérité“.84 Es geht dabei nicht um die Wahrheit im historiographischen85 oder im juristischen, sondern im existentiellen Sinn. So wie Pollak und Heinich hebt Peter Kuon die Tatsache hevor, dass es den Überlebenden darum geht, in und durch ihr Zeugnis die eigene Identität zu rekonstruieren: „A la vérité d’un savoir concentrationnaire s’ajoute donc la vérité, strictement subjective, d’une lutte identitaire“.86 Zeugenaussagen über die Lagererfahrung vor gerichtlichen oder historischen Instanzen werden hier ausgeschlossen; auch die Frage nach der ästhetischen Qualität der Zeugnisse wird nicht gestellt. Es geht einzig um die „manifestation textuelle d’une vérité – en dernier ressort – individuelle“.87 In seiner semiotischen Analyse der Texte unterstreicht Peter Kuon, dass in diesen aufgrund ihres konstitutiven Zeugnischarakters die referentielle Funkdisposition – à vrai dire, très limitée – à l’écoute qui fit bientôt place à l’indifférence“. Aber auch er stellt eine verstärkte Reaktion in den 1980er Jahren gegenüber den negationistischen Thesen von Louis Darquier de Pellepoix fest. Kuon, Peter: L’écriture des revenants. Lectures de témoignages de la déportation politique. Paris 2013, S. 43, S. 47–48). 83 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82). In seinen Augen wurden die Zeugenberichte politisch Verfolgter in den Konzentrationslagern bisher vernachlässigt. Seine Arbeit versteht sich als Pendant zur Studie über die Berichte rassisch Verfolgter von Michael Pollok und Nathalie Heinich. 84 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 12f. 85 Den historiographischen Umgang mit den Zeugnissen der Deportierten beschreibt die Historikerin Miriam Novitch so: „Sachant que tout témoignage est sujet à caution, nous nous sommes efforcés d’interroger plusieurs personnes sur le même sujet et de vérifier les faits racontés au moyen d’autres sources“. In den Augen von Pollak und Heinich ist dieses Verfahren problematisch, weil das in Bezug auf die extreme Lagersituation ‚Unsagbare‘ ausgeblendet wird: „En procédant ainsi, on élimine ce qui ne peut pas être confirmé par une pluralité de sources, dans le but de restituer le noyau dur de ce qui s’est réellement passé. Mais on risque par là même d’occulter la tension, constitutive des témoignages sur la déportation, entre dicible et indicible, s’interdisant ainsi […] de poser des questions importantes sur l’expérience concentrationnaire“. Pollak/ Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 4. 86 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 13. 87 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 13.
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tion dominiert. Darum wird immer wieder auf ihre Authentizität insistiert: „Cette vérité du témoignage n’est pas celle des faits et des gestes relatés, mais celle d’une réalité d’horreur sans commune mesure avec le monde des lecteurs: la vérité essentielle du vécu concentrationnaire“.88 Mit der referentiellen Funktion ist die expressive intim verbunden: „La vérité du témoignage ne réside pas dans la représentation fidèle d’une réalité objective, mais dans la représentation fidèle du souvenir que le survivant a gardé de son expérience concentrationnaire“.89 In diesen Zeugnissen ist wie in denjenigen, die Pollak und Heinich untersuchten, der appellative Charakter evident: „Le devoir de mémoire, loin de se contenter d’une commémoration passive, demande au lecteur de s’engager, au sein de sa société, pour les valeurs humanistes foulées au pied par tout régime totalitaire“.90 Dieser Apell wird oft auch als Auftrag der Opfer verstanden, die nicht mehr sprechen können. In allen Zeugnissen wird aber auch über die Form der Aussage nachgedacht. Wenn die Mit-Häftlinge die Erfahrungen nachvollziehen können, so erscheinen sie den Lesern als ‚unsäglich‘. Wie aber das ‚Unsägliche‘ für die andern glaubwürdig darstellen? Peter Kuon stellt hier eine hybride Schreibweise in den Berichten fest, die von einer äusserst schlichten Schreibweise bis zu einer stark pathetischen gehen kann: La spécificité du témoignage ordinaire est que le survivant, dans son désir de témoigner, veut tout à la fois: la éalité du camp sans l’obstacle du langage, la vérité factuelle sans les trous de mémoire, la vérité subjective sans la mise à nu du sujet, la commémoration des morts sans l’oubli du présent, l’écoute du public sans l’effort de transmission, la lisibilité du texte sans l’art d’écrire.91
In diesem Zusammenhang stellt sich die vieldiskutierte Frage, ob allein das schlichte Zeugnis ohne jede literarische Gestaltung der Realität der Konzentrationslager gerecht werden kann. Serge Klarsfeld schreibt den Zeugnissen, den Dokumenten der Epoche absolute Priorität zu. Sie stellen in seinen Augen einen Appell dar, der über den Tod derjenigen hinausgeht, die nicht überlebt haben. Serge Klarsfelds Mémorial de la déportation des Juifs de France aus dem Jahre 1978 versteht sich so als reine Dokumentation: Name, Vorname, Geburtsdatum, manchmal auch Geburtsort der Deportierten. Mehr nicht und das für 75.000 jüdische Männer, Frauen, Kinder, die aus Frankreich deportiert wurden. Die Liste hatte er allein erstellt aufgrund langer Recherchen. Das Mémorial versteht sich
88 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 56. 89 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 57. 90 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 67. 91 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 80.
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als Antwort auf den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten92, die mit der Auslöschung des Eigennamens begann, dem untrüglichen Zeichen der menschlichen Person, um dieses Zeichen der individuellen Identität durch eine eintätowierte Nummer zu ersetzen.
Die literarische Repräsentation Michael Pollok und Nathalie Heinich stellten in den Auschwitz-Zeugnissen eine generell äusserst schlichte Schreibweise („le degré zéro de l’écriture“) fest. Sie betrachteten indes auch einen Roman La passion de Myriam Bloch (1947) von Marianne Schreiber, dessen dritter Teil sich als authentische Übersetzung der Auschwitz-Erfahrung ausgibt. Hier stelle man indes ein Pathos fest, das den Zeugnisberichten fern sei. Dieses Verfahren schade der Glaubwürdigkeit: „Le travail d’héroïsation qu’il opère […] le placent à l’écart des documents ayant valeur de témoignage: malgré le rappel insistant de l’authenticité des faits relatés, et même si l’on prend en compte ce qui relève de la technique romanesque (notamment la condensation de la chronologie), on ne peut pas éviter de se poser la question de savoir dans quelle mesure un tel récit est véridique“.93 Die beiden Autoren verneinen aber nicht generell die Möglichkeit einer Repräsentation der Lager-Realität mit literarischen Mitteln. Sie verweisen hier vor allem auf die Werke von Charlotte Delbo. Über das Verfahren der literarischen Distanzierung gelingt es der Autorin einen Diskursraum zu schaffen, der es erlaubt, eine Vielzahl von Stimmen und nicht nur die Stimme der Autorin zum Ausdruck zu bringen. So sei die Gattung einer „littérature de l’atrocité“94 entstanden, die von Schriftstellern verfasst wurde, die selber Zeugen der Lagerrealität waren, die aber dann auch von andern aufgegriffen worden sei: „L’art devient une ressource qui permet de relever le défi, en tentant de donner une forme d’expression à l’horreur. Les personnages que met en scène cette littérature cumulent souvent le besoin simulatané de parler et de garder le silence“.95 Diese Art von Literatur vermeide gleich92 Die entscheidende Bedeutung des Mémorials von Serge Klarsfeld hob auch der Schriftsteller Patrick Modiano hervor. „Après la parution du mémorial de Serge Klarsfeld, je me suis senti quelqu’un d’autre [...] Et d’abord, j’ai douté de la littérature. Puisque le principal moteur de celleci est souvent la mémoire, il me semblait que le seul livre qu’il fallait écrire, c’était ce mémorial, comme Serge Klarsfeld l’avait fait“ (Modiano, Patrick: Avec Klarsfeld contre l’oubli. In: Libération [2. November 1994], S. 8. 93 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 18. 94 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 20. 95 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 21.
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zeitig die psychologische oder ideologische Idealisierung und die „description ‚plate‘“,96 derer sich die Überlebenden in ihren Zeugenberichten bedienten. Über die schlichte Schreibweise werde die Lagerrealität für all diejenigen präsent, die sie geteilt haben: Aussi l’expérience concentrationnaire n’est-elle peut-être si ‚indicible‘ que parce qu’il n’existe effectivement aucune possibilité de rétablir une justice. Et le besoin de parler et celui de se taire peuvent coexister parce que les mots adéquats manquent et que le langage courant, avec ses formules telles que ‚je meurs de faim’, ‚je meurs de fatigue’, peut creuser, sans intention aucune, un fossé infranchissable entre les survivants et les ‚autres’.97
Um aber diese Erfahrung für die ,andern‘ nachvollziehbar zu machen, brauche es literarische Mittel: „C’est là peut-être qu’intervient le recours au registre littéraire, qui opère sur le mode non plus de la dénonciation (rétablissement de la justice), mais de la communion émotionnelle (rétablissement du lien avec les ‚autres‘) – d’où, sans doute, le caractère assez tardif des formes les plus littéraires dans les récits autobiographiques“.98 Es gibt aber auch die radikale Position, nach der die Lagerrealität nie über „ein témoigage à l’état brut“ zum Ausdruck gebracht werden könne, sondern nur durch eine literarische Bearbeitung, eine Position, die vor allem von Semprún vertreten wird: „La vérité essentielle de l’expérience, n’est pas transmissible… Ou plutôt, elle ne l’est que par l’écriture littéraire…“99 Die Notwendigkeit der literarischen Übersetzung betonen auch David Rousset, Claude Lanzmann und Georges Perec. Durch die literarische Bearbeitung weite sich das Zeugnis von der partikulären Erfahrung in eine universelle Dimension aus.100 Peter Kuon widersetzt sich der radikalen Opposition zwischen literarischen Werken über die Lagerrealität und den schlichten Zeugenberichten: „Au lieu d’opposer l’oeuvre d’art au témoignage brut, il conviendrait donc d’étudier la littérarité spécifique, très variée, de l’écriture des témoins, allant de notations proches d’un état brut aux autofictions les plus élaborées“.101 Hinsichtlich der referentiellen ‚Wahrheit‘ dürfe man die Zeugenberichte keineswegs geringschätzen: „[…] La ‚vérité essentielle de l’expérience‘ n’est pas l’apanage de l‘oeuvre d’art‘, mais elle se niche dans les recoins des témoignages les plus éloignés de soucis littéraires et 96 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 21. 97 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 26 98 Pollak/Heinich, Le témoignage (wie Anm. 72), S. 26. 99 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie. Paris 1994, S. 135–136, zitiert bei Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 22. 100 Siehe dazu auch Jurt, Jean Cayrol: Lazarenisches Schreiben (wie Anm. 48), S. 255–258; Jurt, Le devoir de mémoire (wie Anm. 14), S. 93–95. 101 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 24.
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n’attend que le lecteur pour qu’il la débusque“.102 Eine ähnliche Position vertritt auch George Steiner. Er erhebt sich entschieden gegen die These, die den Berichten der Überlebenden literarische Qualität und den literarischen Werken über die Lager Authentizität abspricht. Ein Überlebender erkenne sofort die Werke von Elie Wiesel, Jorge Semprún oder Anna Langfus als authentische Zeugnisse.103 Nachdem immer wenige Überlebende bleiben, bleibt bloß mehr die Literatur, der aber der Zeugnischarakter nicht abgeht. Im Kontext der Zeugenschaft bezeugt der Akt der Zeugenschaft nicht nur die eigene Präsenz, sondern ist immer auch schon das Zeugnis des Anderen, für den Anderen. So unterscheidet sich Perecs Zeugnis in W ou le souvenir d‘enfance wohl grundsätzlich von dem Primo Levis, da er als Angehöriger der zweiten Generation wohl Betroffener, aber nicht Augenzeuge der Shoah ist. Er zeugt aber für die Eltern oder an der Stelle der Eltern.104 Ähnliches gilt für die Werke von Régine Robin, Robert Bober, Patrick Modiano105, Gérard Wajcmann, Henri Raczamov, die Birgit Schlachter untersucht hat106, sowie für Raymond Federman.107 Schließlich werden auch nicht mehr unmittelbar Betroffene die unsagbare Realität der Lager im Medium der Fiktion bezeugen, wie Soazig Aaron in ihrem Werk Le Non de Klara, zu dem Semprún folgende bezeichnende Worte fand: J’attendais depuis quelque temps un récit comme le Non de Klara. Je ne m’attendais pas à cette qualité, elle est inespérée. Mais j’attendais une fiction, une prise de pouvoir romanesque sur la mémoire des camps. Car nous sommes à l’orée de la disparition des témoins, de l’évanouissement de la mémoire directe, charnelle, oserai-je dire, de l’expérience du Mal radical dans les camps nazis. Après, il y aura les travaux des historiens, des sociologues. Nécessaires, mais insuffisants. Si la fiction ne s’emparait pas de cette mémoire, celle-ci s’évanouirait. Cesserait, du moins, de se renouveler, de se ressourcer, de redevenir actuelle. Rien ne permettrait plus aux lecteurs des nouvelles générations d’imaginer cette réalité. Seule la fiction – c’est le paradoxe, le mystère de la littérature – pourra bientôt non seulement faire vivre, mais aussi enrichir cette mémoire.108
102 Kuon, L’écriture des revenants (wie Anm. 82), S. 86. 103 Nach Wardi, Charlotte: Le génocide dans la fiction romanesque. Paris 1986, S. 37. 104 Kasper, Judith: Sprachen des Vergessens. Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken. München 2003, S. 146–155. 105 Zu Modiano siehe auch Jurt, Joseph: La mémoire de la Shoah: Dora Bruder. In: Patrick Modiano. Hrsg. von Flower, John E. Amsterdam, New York 2007, S. 89–108. 106 Schlachter, Birgit: Schreibweisen der Abwesenheit. Jüdisch-französische Literatur nach der Shoah. Köln, Weimar, Wien 2006. 107 Reif, Danielle: Die Ästhetik der Leerstelle. Raymond Federmans Roman La Fourrure de tante Rachel. Würzburg 2005. Siehe dazu auch Telaak, Anastasia: Körper Sprache Trauma. Jüdische Topographien im Werk zeitgenössischer Autorinnen aus Argentinien. Berlin 2003. 108 Semprún, Jorge: Merci, Klara!. In: Le Nouvel Observateur, Nr. 1951, 28. März 2002, S. 28. Zu diesem Werk siehe auch Binder, „Mon ombre est restée là-bas“ (wie Anm. 80), S. 117–146.
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Quellen Archiv des United States Holocaust Museums, Washington D.C. – Caroline Ferriday Collection: Brief von Nina Iwańska. USHMM, 1994. A.O 334. – Nachlass Aleksander Kulisiewicz: Niebo nad Ravensbrück (Der Himmel über Ravensbrück). USHMM, RG 55.002* M 27.
Abbildungsverzeichnis Beitrag Peter Kuon Abb. 1: Jean Bernard-Aldebert: Chemin de croix en 50 stations (1946) Quelle: Jean Bernard-Aldebert: Chemin de croix en 50 stations. De Compiègne à Gusen II en passant par Buchenwald, Mauthausen, Gusen I. Paris: F. Brouty, J. Fayard et Cie 1946, S. 97.
Beitrag Constanze Jaiser Abb. 1: Grażyna Chrostowska: Podróż – Reise (um 1942). Das Gedicht wurde aus dem Lager herausgeschmuggelt und 1975 bei Burg Stargad ausgegraben. Quelle: © Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, Syg. D. Rav./6, Nr. 161 664. Abb. 2: Unbekannt: Kopf hoch! (1942) Quelle: © Constanze Jaiser/ Jacob David Pampuch; Constanze Jaiser und Jacob David Pampuch (Hrsg.): Europa im Kampf 1939-44. Internationale Poesie aus dem FrauenKonzentrationslager Ravensbrück. Faksimile einer Handschrift aus dem KZ von Vera Hozáková und Vlasta Kladivová, Begleitband und Hör-CD mit Stimmen von Überlebenden. 2. Aufl. Berlin 2009, S. 22 im Faksimile, S. 52 im Begleitband. Abb. 3: Zofia Pociłowska-Kann: Anhänger (um 1941). Zofia Pociłowska-Kann schnitzte für ihre Mithäftlinge Kreuze, Medaillons und andere Miniaturen aus Zahnbürstengriffen. Damit sie die Kunstwerke heimlich während der Arbeitszeit anfertigen konnte, übernahmen ihre Kameradinnen ihre Aufgaben. Den Anhänger ließ sie ihrer Mutter in Warschau zukommen. Quelle: © Constanze Jaiser. Abb. 4: Vera Hozáková: Zeichnung Widerstand (1943/44) Quelle: © Constanze Jaiser/ Jacob David Pampuch; Constanze Jaiser und Jacob David Pampuch (Hrsg.): Europa im Kampf 1939-44. Internationale Poesie aus dem FrauenKonzentrationslager Ravensbrück. Faksimile einer Handschrift aus dem KZ von Vera Hozáková und Vlasta Kladivová, Begleitband und Hör-CD mit Stimmen von Überlebenden. 2. Aufl. Berlin 2009, S. 58 im Faksimile. Abb. 5: Vera Hozáková: Illustration und Gedicht (1942/1944). Vera Hozáková war eine junge tschechische Architekturstudentin, die wegen politischer Widerstandsarbeit ins KZ Ravensbrück deportiert worden war. Quelle: © Constanze Jaiser/ Jacob David Pampuch; Constanze Jaiser und Jacob David Pampuch (Hrsg.): Europa im Kampf 1939-44. Internationale Poesie aus dem FrauenKonzentrationslager Ravensbrück. Faksimile einer Handschrift aus dem KZ von Vera Hozáková und Vlasta Kladivová, Begleitband und Hör-CD mit Stimmen von Überlebenden. 2. Aufl. Berlin 2009, S. 6f. im Faksimile. Abb. 6: Zofia Pienkiewicz: Niebo nad Ravensbrück – Der Himmel über Ravensbrück (um 1944/45). Das Gedicht entstand 1944/45 im KZ Ravensbrück. Quelle: Poesieheft von Zofia Pienkiewicz (-Malanowska), United States Holocaust Memorial Museum, RG-55.002M*28
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Abb. 7: Grażyna Chrostowska (1925–1983) Quelle: © Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau. Abb. 8: Aus dem KZ Ravensbrück geschmuggelte Erschießungsliste (Auszug) mit Namen von Polinnen aus dem Lubliner Sondertransport, darunter auch von Grażyna und ihrer Schwester Apolonia. Des Weiteren befand sich in dem Glasbehälter eine Notiz mit folgenden Worten: „Grażyna Chrostowska, 20 Jahre alt, verhaftet am 2. Mai 1941 in Lublin, erschossen am 18. April 1942 in Ravensbrück. Wir schicken einen Teil ihrer Gedichte. Weitere versuchen wir ebenfalls auf diese Art zu schicken. Behaltet bitte diese Sachen im Gedächtnis oder im Original, weil Ihr seid Euch sicherlich im Klaren, welch großen Wert sie für uns darstellen. Ravensbrück ’43“ Quelle: © Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, Syg. D. Rav./6, Nr. 161 664. Abb. 9: Janina (Nina) Iwańska (1921–1942) Quelle: © Janusz Tajchert Abb. 10: Der 1975 bei Neubrandenburg ausgegrabene Glasbehälter mit Briefen, Gedichten, Zeichnung und Schnitzerei, geschmuggelt aus dem Konzentrationslager Ravensbrück Quelle: www.schmuggelfund.de mit weiteren Informationen
Beitrag Anne-Berenike Rothstein Abb. 1: Page du manuscrit du Verfügbar aux Enfers de Germaine Tillion (1944), Faksimile. Quelle: Tillion, Germaine: Le Verfügbar aux enfers. Une operette à Ravensbrück. Paris 2005. © Association Germaine Tillion/Éditions de La Martinière Abb. 2: Page du manuscrit du Verfügbar aux Enfers de Germaine Tillion. Illustration de France Audoul (1944), Faksimile. Quelle: © Association Germaine Tillion/Éditions de La Martinière Abb. 3: Page du manuscrit du Verfügbar aux Enfers de Germaine Tillion (1944), Faksimile. Quelle: © Association Germaine Tillion/Éditions de La Martinière Abb. 4: Screenshot aus Dokumentarfilm Le Verfügbar aux enfer. Germaine Tillion à Ravensbrück. D’après Le Verfügbar aux enfer de Germaine Tillion (Regie: David Unger, Frankreich 2007) Quelle: arte.
Beitrag Anja Tippner Abb.1: Dina(h) Gottliebová-Babbitt: Céline (1943/1944) Quelle: O.A.: Dina Gottliebová. Mengeles Malerin. In: Die vergessenen Europäer. Kunst der Roma/Roma in der Kunst. Hrsg. von Holl, Kurt. Köln 2009 (= Ausstellungskatalog Kölnisches Stadtmuseum), S. 144 Abb. 2 Neal Adams und Stan Lee und Joe Kubert: Comic über das Leben der Dina Babbitt und 3: (2006) Quelle: //graphics8.nytimes.com/images/2008/08/09/arts/Babbitt_pages1-6.pdf
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Beitrag Stefanie Endlich Abb. 1: Hans Peter Sørensen: Lager-Appell im KZ Neuengamme, Lithografie (1948) Quelle: Sørensen, Hans Peter: Neuengamme Erindringer – 20 Tegninger af Graenseovergendarm Hans P. Sørensen (Erinnerungen an Neuengamme – 20 Zeichnungen des Grenzobergendarmen Hans Peter Sørensen), Sønderborg 1948. Abb. 2: Unbekannt: Zigarettenschachtel mit geschnitzter Häftlingsdarstellung (1945) Quelle: Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen Abb. 3: Willi Johe: Kaninchengemälde (o.J., 1942 oder 1943). Foto des Gemäldes über der Tür zur Angorazucht im KZ Neuengamme. Quelle: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, F 1981-316 Abb. 4: Jan Budding: Essensausgabe in der Baracke, Zeichnung (1943) Quelle: Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen Abb. 5: Květa Hniličová: Zeichnung auf Millimeterpapier zum „Arbeitseinsatz“ in Ravensbrück (1944) Quelle: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück / Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, V789 E1, Schenkung Ilse Hunger (16.10.1958) Abb. 6: Ágnes Lukács: SS-Hund, Zeichnung (1946) Quelle: Ágnes Lukács, Auschwitz Női Tábor. Budapest 1946
Autorenverzeichnis Aschenberg, Heidi, apl. Prof. Dr., Sprachwissenschaftlerin am Romanischen Seminar der Universität Tübingen. Studium der Romanistik, Philosophie und Germanistik; Promotion 1982 in Tübingen, Habilitation 1996 an der Universität Heidelberg; Publikationen zu verschiedenen thematischen Bereichen, u.a. Sprachphilosophie, Stilistik, Texttheorie, Grammatikographie des Französischen und Spanischen, Übersetzungsforschung, Sprache im Konzentrationslager. Neueste Publikationen: No se han inventado palabras para describirlo… Texte zur Shoah und ihre Übersetzung. In: Dathe, Claudia, Renata Makarska, Schamma Schahadat (Hrsg.): „Zwischentexte“. Literarisches Übersetzen in Theorie und Praxis, S. 197–214 (Berlin: Frank & Timme 2013), „La Montaña Mágica – die spanischen Versionen von Thomas Manns Zauberberg“. In: Ackermann, Kathrin, Susanne Winter (Hrsg.): „Nach allen Regeln der Kunst“. Werke und Studien zur Literatur-, Kunst- und Musikproduktion. Für Peter Kuon zum 60. Geburtstag, S. 65–83 (Berlin/ Wien: LIT Verlag 2013). Endlich, Stefanie, Prof. Dr. rer. pol., freiberufliche Kunstpublizistin in Berlin. Studium der Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Publizistik; 1972–1975 Lehrtätigkeit an der TU Berlin; seit 1979 Lehrbeauftragte an der HdK / Universität der Künste Berlin; dort seit 2003 Honorarprofessorin für Kunst im öffentlichen Raum; Schwerpunktthemen: bildende Kunst, Architektur, Stadtgeschichte, Erinnerungskultur; zahlreiche Publikationen, Dokumentations- und Kunstausstellungen (darunter dauerhafte Open Air-Projekte zur Geschichte des Olympiageländes Berlin und des Tempelhofer Feldes und Flughafens); langjährige Zusammenarbeit mit Gedenk- und Dokumentationsstätten in Projekten und Gremien. Ette, Ottmar, Prof. Dr., seit Oktober 1995 Lehrstuhlinhaber für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam (venia legendi: Romanische Literaturen und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft). 1990 Promotion an der Universität Freiburg i.Br.; 1995 Habilitation an der Katholischen Universität Eichstätt; seit 2010 Mitglied der Academia Europaea; seit 2013 Ordentliches Mitglied der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Leiter des BMBF-Forschungsprojektes zu Alexander von Humboldt: „Amerikanische Reisetagebücher: Genealogie, Chronologie und Epistemologie“ (2014– 2017); Begründer und Mitherausgeber der elektronischen Zeitschrift HiN-Alexander von Humboldt im Netz und der Humboldt-Plattform avhumboldt.de-Humboldt Informationen online sowie Mitherausgeber der Zeitschrift Iberoamericana (Madrid/Frankfurt a.M.); Herausgeber der Buchreihe mimesis- Romanische Literaturen der Welt; seit 2012 Chevalier dans l‘Ordre des Palmes Académiques (Frankreich); 2014 mexikanischer Wissenschaftspreis Escuela Nacional Altos Estudios der Universidad Nacional Autónoma de México. Forschungsschwerpunkte: Alexander von Humboldt, Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, Konvivenz, TransArea Studies: Poetiken der Bewegung und Literaturen der Frankophonie und Hispanophonie (in und außerhalb Europas). Neueste Publikationen: Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur (Berlin: Walter Frey 2013), Roland Barthes: Landschaften der Theorie (Paderborn: Konstanz University Press 2013) und Anton Wilhelm Amo. Philosophieren ohne festen Wohnsitz (Berlin: Kulturverlag Kadmos 2014). Ingenschay, Dieter, Prof. Dr., seit 1995 Professor für spanischsprachige Literaturen und Direktor des Instituts für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitglied im Zentrum für Jüdische Studien, im Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung und im Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte:
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Großstadtliteratur, Postdiktatoriale Kulturproduktion, Literatur und Gender Studies/Gay Studies in den spanischsprachigen Kulturen. Gastprofessuren an nordamerikanischen (Cornell-University, Dartmouth College), südamerikanischen (Buenos Aires, Valparaíso) und europäischen Hochschulen (Universidad Complutense de Madrid). Vorsitzender des Deutschen Hispanistenverbandes 1998–2002. Mitantragsteller des deutsch-mexikanischen Graduiertenkollegs „Zwischen Räumen/Entre Espacios“. Zahlreiche Veröffentlichungen. Jaiser, Constanze, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin und Theologin, promovierte mit einer Arbeit zur KZ-Lyrik. Zwischen 1995 und 2003 an der Freien Universität Berlin, seit 2003 freiberuflich als Wissenschaftlerin, Pädagogin und Projektmanagerin beschäftigt, 2006 bis 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, seit 2014 im Team der Agentur für Bildung, Geschichte, Politik und Medien e.V. In zahlreichen Projekten und Veröffentlichungen hat sie kreative Vermittlungsformen zur Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust entwickelt und erprobt (vgl. Homepage: www.tonworte.de). Ihre jüngsten Projekte waren eine interaktive Online-Ausstellung über Jugendliche in der Zeit des Nationalsozialismus unter dem Titel „du bist anders?“ und ein E-Learning Modul zum Thema „The Holocaust and Fundamental Rights“ für die Europäische Kommission. Jurt, Joseph, Prof. em. Dr. Dr .h.c., Romanist, Professor für französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. (1981–2005), Mit-Gründer und Mitglied des Vorstandes des Frankreich-Zentrums der Universität Freiburg (1989–2006); Vizepräsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Politik, Empirische Rezeptionsforschung, das Konzept des literarischen Feldes (Pierre Bourdieu), Geschichte der Intellektuellen in Frankreich und Deutschland. Neuere Publikationen: (Hrsg.): Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah (Freiburg: Frankreich-Zentrum 2005); Frankreichs engagierte Intellektuelle. Von Zola bis Bourdieu (Göttingen: Wallstein 2012); Sprache, Literatur und nationale Identität. Die Debatten zum Universellen und zum Partikulären in Frankreich und Deutschland (Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2014); Naciones literarias: una sociología histórica del campo literario (Villa María (Córdoba/Argeninien): Eduvim 2014). Kuon, Peter, Prof. Dr., 1972–1978 Studium der Germanistik und Romanistik an den Universitäten Tübingen und Lyon; 1984 Promotion zum Dr. phil.; 1983–1991 Akad. Rat am Institut für Romanistik der Universität Erlangen-Nürnberg; 1991 Habilitation in Romanischer Philologie und Vergleichender Literaturwissenschaft; 1991–1995 Prof. für Italienische Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim; seit 1995 Ordinarius für Romanische Philologie an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Holocaust- und Shoah-Literatur, Intertextualität und Intermedialität, zeitgenössische italienische und französische Literatur, kreative Rezeption der Divina Commedia, literarische Utopie. Wichtigste Publikationen: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung (Heidelberg Winter, 1986), „lo mio maestro e ’l mio autore“. Die produktive Rezeption der „Divina Commedia“ in der Erzählliteratur der Moderne (Frankfurt a.M.: Klostermann 1993), L’aura dantesca. Metamorfosi intertestuali nei „Rerum vulgarium fragmenta“ (Florenz: Cesati 2004), L’écriture des revenants. Lectures de témoignages de la déportation politique (Paris: Kimé 2013). Rothstein, Anne-Berenike, PD Dr. phil., Akademische Mitarbeiterin an der Universität Konstanz; zuletzt Gastprofessur für Französische und Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Französischen Literatur, Englische und Amerikanische Literatur sowie Kunst- und Medienwissenschaften. Venia legendi für Romanistische Literaturwissenschaft, Vergleichende Literaturwissenschaft und Allgemeine Literaturwissenschaft;
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Habilitation mit „Mujeres transgresoras“ – Mythisierungen und Inszenierungen lateinamerikanischer Frauenfiguren; Dissertation: „Mon ombre est restée là-bas“ – Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit. (Niemeyer: Tübingen 2008). Forschungsschwerpunkte: Trauma- und Erinnerungsdiskurse, europäische Dekadenz, Mythos- und Hybriditätsforschung (mit besonderem Fokus auf Lateinamerika), Filmisches Erzählen. Neueste Publikationen (u.a.): (Hrsg.) Rachilde – Weibliches Dandytum als Lebens- und Darstellungsform (Böhlau: Wien, Köln, Weimar 2015), „‚Tu es un chiffre, un vilain chiffre‘ – Männlichkeiten im weiblichen Dandydiskurs des ‚fin de siècle‘“. In: Schuhen, Gregor (Hrsg.): Crisis? What Crisis? Männlichkeiten in der Literatur um 1900, S. 243–274 (transcript: Bielefeld 2014), Rothstein, Anne-Berenike, Pere Joan Tous (Hrsg.): „Evita vive“ – Estudios literarios y culturales sobre Eva Perón/Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zu Eva Perón (edition tranvía: Berlin 2013). Tippner, Anja, Prof. Dr., Studium der Slavistik, Germanistik und Anglistik. 2006–2011 Professorin für Slawistische Literaturwissenschaft, Paris Lodron-Universität, Salzburg; seit 2011 Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Auto/biographisches Schreiben, Extremsituationen als ästhetische und kulturelle Herausforderung, Repräsentationen der Shoah, Jüdische Narrative in Osteuropa. Aktuelle Publikationen: Pozagtadzie. Narracje postkatastrofizne [Nach dem Holocaust. Postkatastrophische Erzählungen] (Hrsg. Anna Artwińska, Przemysław Czapliński, Alina Molisow. Sonderheft Poznańskie Studie Polonistyczne, 1/20/5. Künstlerinszenierungen. Performatives Selbst und auto/biographische Narration (Hrsg. mit Ch. F. Laferl) (Bielefeld: transcript Verlag 2014); „The Writings of a Soviet Anne Frank. Masha Rol’nikaite’s Holocaust Memoir „I have to tell“ and its place in Soviet literature“. In: Representations of the Holocaust in Soviet Literature and Film. Yad Vashem Lectures and Papers, S. 59–80 (Göttingen: Wallstein 2013),; Leben als Kunstwerk. Künstlerbiographien im 20. und 21. Jahrhundert (Hrsg. mit Ch. F. Laferl) (Bielefeld: transcript Verlag 2011); Die permanente Avantgarde? Surrealismus in Prag (Böhlau: Wien, Köln, Weimar 2009).
Personenregister Aaron, Soazig 184 Adler, H.G. 67, 185 Adorno, Theodor W. 82, 185 Agamben, Giorgio 27, 74, 78, 175, 176, 185 Alakus, Baris 150, 185 Albert-Lasard, Lou 152, 188 Alizon, Simone 43–45, 47–48, 185 Améry, Jean 73 Amishai-Maisels, Ziva 158, 185 Anderson, Benedict 161–163, 185 Andradi, Esther 76, 185 Andrieu, Claire 108, 111, 121, 185 Antelme, Robert 49, 50, 54–56, 58, 60, 169, 171, 185 Arendt, Hannah 27, 32, 185, 195 Arfuch, Leonor 73, 76, 79, 80, 185 Aschenberg, Heidi V, 8, 49, 51, 52, 185, 200 Aschenberg, Reinhold 51, 185 Assmann, Aleida 113, 119, 134, 185 Auerbach, Erich 11, 185 Aylmer-Roubenne, Madeleine 42, 185 Bahlmann, Lith 151, 185 Bauer, Yehuda 129, 186 Belting, Hans 14, 186 Bernard-Aldebert, Jean 34–37, 186, 197 Bertz, Inka 141, 143, 186, 194 Binder, Anne-Berenike (siehe Rothstein) 6, 39, 44, 45, 48, 76, 113, 114, 117, 179, 184, 186 Blanc, Solange 43, 186 Blatter, Janet 2, 129, 145, 153, 186 Bocchetta, Vittore 155, 186 Böhme, Hartmut 186 Bomheker, Mario 73–74, 195 Borlant, Henri 165, 186 Borwicz, Michel 53, 54, 58, 62–63, 186 Bouteille-Garagnon, Marie Jeanne 34, 43, 186 Braunschweig, Maryvonne 174, 186 Breton, Louis 38–39, 186 Bruhns, Maike 143, 149, 150, 154, 186 Budding, Jan 150, 151, 199
Català, Neus 55, 186 Cavael, Rolf 156, 194 Cayrol, Jean 2, 65–66, 168–174, 183, 186, 190, 191 Celan, Paul 73, 76, 77 Charlet, Gaston G. 34, 37, 39, 186 Chauvin, Jean-René 34, 186 Chombart de Lauwe, Marie-Jo 39–42, 186 Chrostowska, Grażyna 85, 98–100, 102, 197, 198 Certeau, Michel de 16, 186 Cognet, Bernard 34, 186 Collet, Bérénice 121 Costanza, Mary S. 2, 128, 145, 147, 186 Cressot, Marcel 53, 54, 187 Crowe, David 187 Dante 11, 49, 60, 168, 201 Daxelmüller, Christoph 6, 129, 187 Debrise, Gilbert 38, 187 Degroote, Jean 37, 187 Delbo, Charlotte 1, 7, 44–48, 114–116, 179, 182, 187 Desportes, Marc 17, 187 Derrida, Jacques 161, 187 Didi-Huberman, Georges 4, 125, 128, 187 Dilthey, Wilhelm 31, 187 Dolle, Verena 68, 187 Domin, Hilde 8, 84, 94, 95, 96, 187 Drake, Dana 138, 195 Dumoulin, Jean-Claude 34, 36, 187 Edel, Peter 155 Elias, Ruth 167 Endlich, Stefanie V, 9, 144, 148, 187, 199, 200 Engler, Verónica 77, 79, 195 Esnault, Gaston 53, 54, 187 Ette, Ottmar V, 7, 10, 11, 15, 16, 17, 22, 23, 24, 74, 83, 187, 188, 190, 200 Eyot, Y. 54, 188 Fackler, Guido 6, 188 Felman, Shoshana 98, 188
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Personenregister
Fichter, Charles 34, 38, 188 Foucault, Michel 5, 6, 48, 113, 188 Frachon, Alain 162, 188 Freud, Siegmund 70, 160, 188 Freund, Florian 36, 188 Friess, Steve 139, 195 Fritta, Bedrich 157 Fürnkäs, Josef 132, 188 Garrido Villariño, Xoán Manuel 48, 188 Gaulle-Anthonioz, Geneviève de 117, 188 Gibbs, Robert 97, 188 Gille, René 34, 36, 38 Gilmore, Leigh 73, 188 Glysing Jensen, Victor 150 Gosselk, Detlef 152, 188 Gross, Jan T. 131, 188 Gottliebová-Babbitt, Dina V, 9, 123–143, 195, 196, 198 Gustines, George Gene 129, 130, 195 Haibl, Michaela 2, 129, 157, 188, 189 Halbwachs, Maurice 61 Halfón, Eduardo 68, 189 Hellenthal, Michael 109, 110, 189 Helstein, Hilary 129, 135, 189 Hilmes, Carola 10, 13, 189 Herzog, Monika 152, 155, 189 Hirsch, Marianne 121, 134, 137, 138, 189 Hnilicova, Květa 152, 153, 199 Hozáková, Vera 90–92, 189, 197 Ingenschay, Dieter V, 8, 68, 75, 189, 200 Iwańska, Janina (Nina) 100–102, 196, 198 Jacobeit, Sigrid 88, 189 Jäckel, Eberhard 189 Jagninski, Tom 139, 195 Jagoda, Zenon 51, 189 Jaiser, Constanze V, 8, 84, 91, 92, 98, 102, 189, 197, 201 Joan i Tous, Pere 114, 189, 202 Johe, Willi 149, 199 Judt, Tony 131, 190 Jurt, Joseph VI, 9, 159, 161, 163, 166, 172, 176, 183, 184, 190, 201
Kann, Emma V, 7, 10–32, 190 Kasper, Judith 176, 184, 190 Kaumkötter, Jürgen 4, 190 Kertész, Imre 122, 141, 195 Kirshenblatt-Gimblett, Barbara 141, 142, 195, 196 Klarsfeld, Serge 164, 181, 182, 192 Klein, Katja 120, 190 Klüger, Ruth 163, 177 Kohl, Karl-Heinz 134, 190 Knigge, Volkhard 157, 190 Komski, Jan 148 Kos, Marta 110, 190 Kraus, Ota 127, 190 Koselleck, Reinhart 170–172, 190 Krause, Rolf D. 115, 118, 191 Kühn-Ludewig, Maria 2, 191 Kulisiewicz, Aleksander 93, 196 Kubert, Joe 137, 138, 191, 198 Kuna, Milan 1, 191 Kuon, Peter 2, 7, 8, 33, 36, 39, 47, 66, 170, 172, 179, 180–181, 183, 184, 185, 190, 191, 197, 200, 201 Kuzmany, Stefan 72, 196 Lacouture, Jean 103, 117, 188, 191 Landsberg, Alison 136, 143, 191 Langer, Lawrence L. 73, 191 Langfus, Anna 184 Langhoff, Wolfgang 148, 191 Lanzmann, Claude 104, 183, 191 Laplanche, Jean 160, 191 Lefebvre, Henri 16, 191 Le Goff, Jacques 9, 164, 191 Levi, Primo 5, 7, 49–51, 54–56, 60, 73, 74, 77, 104, 159, 160, 162–168, 175, 176, 184, 188, 191, 193 Lévinas, Emmanuel 13 Lindstrom, Naomi 67, 68, 191 Levy, Daniel 135, 191 Loewy, Hanno 133, 134, 142, 191 Loselle, Andrea 108, 117, 120, 191 Loustaunau-Lacau, Georges 34, 191 Lüerssen, Dirk 148, 191 Lukács, Ágnes 153–154, 199 Lurie, Boris 156–157, 190 Lurie, Esther 147
Personenregister
Łysak, Tomasz 141, 196 Magnus, Ariel V, 8, 68–75, 80, 192, 196 Malle, Louis 174, 186, 192 Marcou, Georges 34, 192 Matoušek, Ota 154 Max, F.-L. 192 Meintel, Katja 176, 192 Menke, Christoph 13, 192 Merenyi, Zsuzsa 6 Mesnard, Philippe 41, 192 Miller, Nancy K. 143, 192 Milton, Sybil H. 3, 145, 153, 186, 192 Minhoff, Susanne 2, 3, 192 Mitchell, W.J.T. 16–17, 192 Modiano, Patrick 182, 184, 190, 192 Morsch, Günter 147, 152, 192 Musič, Zoran 1, 192 Neef, Ernst 14, 192 Noltenius, Rainer 2, 115, 190, 192 Novitch, Myriam 145, 180, 192 Oleksy, Krystyna 85, 99, 192 Oschlies, Wolf 52, 192 Ostałowska, Lidia 9, 125, 127, 129–133, 137–139, 192 Parrau, Alain 49, 58, 62, 192 Pagniez, Yvonne 42, 192 Pavšič, Vladimir 90 Perec, Georges 176, 183, 184, 190 Peritore, Silvio 132, 192 Pienkiewicz, Zofia 92–94, 197 Pociłowska-Kann, Zofia 89, 197 Pohlig, Martin 124, 192 Pollak, Michael 2, 70, 76, 173, 177–183, 193 Por, Peter 163, 176, 177, 193 Pouzol, Henri 193 Rahe, Thomas 2, 6, 193 Reif, Danielle 184, 193 Renan, Ernest 161–163, 193 Resnais, Alain 1, 73, 193 Richman, Alyson 124, 135, 193 Ritter, Joachim 11–13, 26, 193
205
Romano Sued, Susana V, 8, 68, 75–83, 185, 193 Rosenberg, Pnina 132, 196 Rothberg, Michael 126, 193 Rothstein, Anne-Berenike (geb. Binder) V, 1, 103, 198, 201, 202 Rousset, David 56, 69, 171, 183, 193 Ruszniewski-Dahan, Myriam 164, 193 Saint Macary, Pierre 38, 193 Samuel, Jean 165, 167–168, 174, 175, 193 Schama, Simon 17, 193 Schlachter, Birgit 184, 193 Schreiber, Marianne 182 Seela, Torsten 2, 193 Semilla Durán, María A. 77, 193 Semprún, Jorge 7, 15, 48, 60, 61, 77, 103, 114, 177, 183–184, 188, 189, 193 Shallcross, Bożena 124, 125, 193 Sheinin, David 68, 193 Sheppard, Robert 38, 194 Simon-Pelanda, Hans 155, 194 Sørensen, Hans Peter 144–146, 199 Sofsky, Wolfgang 3, 4, 52, 104, 113, 194 Sosnowski, Saúl 68, 194 Spinner, Kaspar H. 96, 194 Stern, Anne-Lise 48, 194 Stojka, Ceija 150, 151, 185 Stolzmann, Uwe 72, 196 Suderland, Maja 166–167, 194 Surokowski, Ludwig 152 Susman, Margarete 95, 194 Szajna, Józef 156, 158, 188 Szymańska, Sirena 2, 127, 128, 194 Taterka, Thomas 194 Tatzkow, Monika 141, 194 Telaak, Anastasia 184, 194 Teuber, Dirk 156, 194 Tillard, Paul 36, 194 Tillion, Germaine V, 5, 6, 7, 8, 9, 103–113, 116–122, 185, 188, 191, 194, 198 Tippner, Anja V, 9, 123, 198, 202 Todorov, Tzvetan 70, 103, 106, 109, 119, 120, 121, 194 Toulouse-Lautrec, Béatrix de 7, 39, 114–115, 117, 194
206
Personenregister
Troll, Carl 13, 194 Türmer, Valeska 155 Unbegaun, B.-O. 54, 194 Valdés, Hernán 75, 194 Varnoux, Jean-Baptiste 34, 36, 194 Veil, Simone 162, 163, 165–166, 195 Verdet, André 63, 195 Wanda [Carliez Lambert de Loulay], Andrée 43, 195 Wardi, Charlotte 184, 195
Wiesel, Elie 73, 77, 164, 166, 177, 184, 193, 195 Wieser, Doris 72, 196 Wilborts, Suzanne 41, 195 Wińska, Urszula 86, 88, 89, 195 Wormser, Olga 53, 59–60, 195 Yerushalmi, Yosef Hayim 164, 195 Young, James E. 4, 98, 158, 195 Young-Bruehl, Elisabeth 27, 195 Zelizer, Barbie 134, 189, 195 Žižek, Slavoj 138, 195 Znamirowski, Francziszek 2, 129, 189