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German Pages 476 Year 2004
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les litteratures romanes depuis la Renaissance
Herausgegeben von / Dirigees par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel
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Jens Oliver
Müller
Poetik der Memoria im Romanwerk von Jean Rouaud Mnemonisches Schreiben als Archäologie des Selbst
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Meinen Eltern. Für Franziska.
Gedruckt mit Unterstützung der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau
D25 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-55044-9
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Hanf Buch- und Mediendruck GmbH, Pfungstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Danksagung
An erster Stelle gebührt mein Dank meinen Eltern für ihre großzügige Förderung, langjährige Unterstützung und stete Ermutigung, die sie mir während meiner Studien- und Promotionszeit entgegengebracht haben. Besonders möchte ich mich bei Franziska bedanken, die mich die Jahre des Promovierens fortwährend begleitet und gestärkt und für meine Arbeit große Geduld aufgebracht hat. Diese Freiburger Dissertation wurde seitens der Landesgraduiertenforderung des Landes Baden-Württemberg und durch Stiftungsmittel der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau finanziell unterstützt, wofür ich mich ausdrücklich bedanken möchte. Mein ganz besonderer Dank aber geht an meinen Lehrer Professor Dr. Joseph Jurt, dessen Lehrtätigkeit und Forschungsarbeit für mich immer eine große Motivation bedeutet haben. Ich wurde von ihm bei allen meinen Studienvorhaben stets mit großer Offenheit unterstützt und mit intensivem Interesse begleitet. Er hat mich auf meinem akademischen Werdegang entscheidend gefordert. Freiburg, im Februar 2003
Jens Oliver Müller
V
Inhalt
Danksagung
V
Einführung Fragestellung und Vorgehensweise Zur Forschungslage
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Theoretischer Teil
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1. Auf der Suche nach dem verlorenen Ich und der Gegenwart des Vergangenen. Zur interdisziplinären Diskussion über Memoria, Geschichte und «Identität» 1.1 Konjunktur und Krise des Gedächtnisses: Gedächtniskultur zwischen Erinnern und Vergessen 1.2 «Identität» und «Subjekt» als Problematik und narratives Projekt . . 1.2.1 «Identität» und «Subjekt» als Problematik der Moderne 1.2.2 Vom >) vergraben liegt. Die nicht ausgeführten Möglichkeiten der historischen Vergangenheit besitzen, so Ricceur, eine enge Beziehung zum Wahrscheinlichen der reinen Fiktion. 94 In der (fiktionalen und historischen) Erzählung entsteht durch die mimetische Aktivität eine neue Perspektive auf die Zeit, eine Drittzeit, die erzählend dargestellt wird: De ces echanges intimes entre historicisation du recit de fiction et fictionalisation du recit historique, nait ce qu'on appelle le temps humain, et qui n'est autre que le temps raconte.95 Die erzählte Zeit wirkt wie eine Brücke zwischen der kosmischen und der phänomenologischen Zeit; denn dem Faktor ist nur durch die indirekte Vermittlung über die Erzählung beizukommen; die Erzählung wird zum Bewahrer der Zeit («gardien du temps»), da es gedachte Zeit nur als erzählte Zeit geben kann. 96 Durch die oben dargelegte Begründung, nach der Zeitlichkeit für den Menschen allein als narratives Phänomen denkbar ist, wird die menschliche Zeit sozial eingebettet «in die uns affizierende Zeit unser Vorfahren und die öffentliche einer Gemeinschaft von Zeitgenossen»; diese menschliche Zeit transzendiert «unser individuelles Sein zum Tode in einem Zukunftsentwurf, der die Zeit unserer Nachfahren in den Horizont unserer Zeit stellt». 97 Die Idee der «narrativen Identität» schließt an den Gedanken der Verbindung von Geschichte und Fiktion an, um dem Problem der Aporetik der Zeiterfahrung eine poetische Lösung zu geben. Wenn die phänomenologische und die kosmologische Perspektive auf die Zeit sich gegenseitig verdunkeln, bietet sich nur, wie oben beschrieben, die Überschneidung von Fiktion und Geschichtsschreibung als Ausweg an; Ricceur gibt dieser den Namen «identite narrative»: Le rejeton fragile issu de l'union de l'histoire et de la fiction, c'est Γassignation ä un individu ou ä une communaute d'une identitö specifique qu'on peut appeler leur identite narrative.98 «Narrative Identität» ist die Form von Identität, «ä laquelle i'etre humain peut acceder au moyen de la fonction narrative». 99 Er versteht Identität grundsätzlich im Sinn seines Konzepts der , als ein «soi-meme»: Identität im Sinne der «ipseite» ist die Situation, die vorliegt, wenn es «um einen Gegenstand selbst und nicht um seinen Stellvertreter, seine bloße Erscheinung, seine Abschattung
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98
Paul Ricceur: Temps et recit. Tome 3, p. 342-348. Ibid., p. 185. Ibid., p. 435-439, besonders p. 439 und p. 435 (Zitat). Jens Mattem: Ricceur zur Einführung, p. 180. Paul Ricceur: Temps et recit. Tome 3, p. 442. Paul Ricceur: «L'identite narrative». In: Revue des Sciences Humaines 221 (janvier-mars 1991), p. 35-47, hier p. 35.
geht». 100 Ricoeurs Identitätstyp «ipseite» ist eine Art des Sich-treu-Bleibens oder des Sein-Versprechen-Haltens und macht vielgestaltige Verbindungen zwischen «permanence» und «changement» möglich. Er ist also nichts mit Kants Beharrlichkeit in der Zeit> Gleichzusetzendes. Vielmehr handelt es sich um eine Verflechtung bzw. dialektische Beziehung zwischen den strukturell voneinander verschiedenen Begriffen der und der , die mit der Vermittlung durch den narrativen Diskurs in der «Lebensgeschichte» («histoire d'une vie» oder «life-story») ihre konkrete Form findet.101 Narrative Identität existiert innerhalb einer Erzählung auf drei Ebenen. Sie ist vorhanden erstens auf der Ebene der intrigue, die dank der vielfältigen Vermittlungen, welche durch die mise en intrigue vollzogen werden, ein diskordantes Ganzes darstellt mit Beginn, Mitte und Ende; dieses diskordante Ganze harmonisiert seinerseits die Kontingenzen der Fabel glaubwürdig in Form der vraisemblance,102 Sie ist zudem zweitens auf der Ebene der Figur der Erzählung vorhanden. Hier entsteht für Ricceur die narrative Identität der Figur in Verbindung mit deijenigen der Erzählung, nämlich aus der sehr komplexen Verbindung von Personenkonstellation und linearer Abfolge von Handlungsfunktionen bzw. aus der Übereinstimmung zwischen den subjektiven und objektiven Umformungen, die in der Erzählung vorgenommen werden. Denn «on peut considerer toute histoire comme une chaine de transformations». 103 So unterliegt die narrative Identität der Figur den vielfaltigen Wechselfallen und «variations imaginees», die in einer diskordant-konkordanten intrigue konfiguriert werden: Die narrative Identität der mise en intrigue korreliert also mit deijenigen des Helden: Erstere stellt letztere in diesem Sinn her,104 wobei 100
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Emil Angehrn: «Selbstverständigung und Identität. Zur Hermeneutik des Selbst». In: Burkhard Liebsch (ed.), Hermeneutik des Selbst - Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricoeurs, Freiburg/München, Alber, 1999, p. 46-69, hier p. 57. «Memete» bzw. «Selbigkeit» liegt demgegenüber in einer Situation vor, in der zwei anfänglich differente Begriffe als ein und derselbe erkannt werden, im Sinne des gebräuchlichen Ausdrucks , de Jean Rouaud». In: L'Ecole des lettres 86, 14 (1er juillet 1995), p. 115-128, hier p. 119).
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So wie ihre gesamte Garderobe in schwarze Farbe getaucht wird (CA, 49), sind auch die folgenden Jahre für die Mutter in tiefes Schwarz gehüllt und verdunkeln ihre Sicht für das Leben: «toutes ces annees noires pendant lesquelles eile n'avait rien vu» (CA, 42). Lichtlose Jahre der seelischen Kälte schließen sich an: «une nuit arctique dont je [la mere, J. Ο. M.] sens sur ma nuque le grand souffle glace. On ne revient pas des hauts quartiere de la mort» (CA, 50). Lange Jahre, in denen es unmöglich war zu vergessen, vergehen, bevor die Mutter wieder aus diesen herauskommt. Es ist ein langsamer, schwerer Aufstieg aus dem Totenreich zurück ins Leben: «une lente remontee» (CA, 132), «cette penible remontee ä la surface» (SC, 69). Bezeichnenderweise, als abermaliger und offensichtlicher Ausdruck für die in Rouauds Welt, geschieht diese Rückkehr ins Leben wiederum durch einen Todesfall. Im Anschluss an eine Totenwache kehrt sie mit schallendem Lachen nach Hause zurück (MO, 96). Ein den schönen Seiten des Leben stets sehr zugeneigter Mensch, der im gesegneten Alter und durchaus füllig ins Jenseits übergetreten ist, hat die Mutter an den dicken Oliver Hardy erinnert: ein rundköpfiger Fleischberg im maßgeschneiderten Bett, mit gebundener Krawatte und ausgeprägtem Vierfachkinn. Anne Rouaud kann sich das Lachen nicht verkneifen: «D'ou l'explosion de rire ä la sortie de ce cinema muet - et cette bonne nouvelle: notre maman au bout de son long tunnel» (MO, 97). Die lustige, ja groteske Figur des Todes, die der Mutter in Gestalt der dicken Oliver-Hardy-Kopie entgegentritt, hat das Ende der zehnjährigen Trauerzeit («une sortie joyeuse apres dix annees de traversee du chagrin», CA, 138) eingeläutet und die Rückkehr zu den Lebenden möglich werden lassen: «son retour parmi le monde des vivants» (CA, 138). Für sie hat sich die Wunde geschlossen (CA, 144), aber sie hat auch ihre Sicht auf die Dinge des Lebens verändert. Die kleinen Malheurs des Alltags verlieren vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die sie gemacht hat, für die Witwe jegliche Bedeutung (CA, 145). Die Leere in ihr und das Gefühl der Mutter, am Abgrund zu stehen (CA, 42), verschlimmern die Situation auch für ihre Kinder. Denn dem Verlust des Vaters folgt das Abtauchen der Mutter in die schwarzen Regionen der Trauer - ihr schweigendes Exil, ihre abwesende Gegenwart - , was den Verlust ihrer Kinder verdoppelt und zu einer Orientierungslosigkeit führt: «livres ä nous-memes, nous ne savions pas ä quel saint nous vouer» (CA, 42). Sie steigen mit der Mutter hinab in die schwarze Gräberwelt: «Qui l'avons accompagnee dans cette traversee des tenebres, qui d'une certaine maniere sommes descendus avec eile dans la tombe oü tout est sombre et silencieux, comme la mort [...]» (CA, 114). Jean, der hier in der ersten Person Plural erzählt, empfindet den eigenen Kummer im Vergleich zur Trauer der Mutter als leichter und traut sich deshalb nicht, diesen zu artikulieren oder seine Probleme und Sorgen vor ihr auszubreiten (CA, 43). Das Schweigen wird ihm geradezu zur Lebensregel: «Une regle de silence s'etait etablie entre nous au prix d'or de nos larmes» (CA, 43). Und so bleibt ihm die Sprache im buchstäblichen Sinn ganz weg: «ce drame qui nous laissait sans voix» (CA, 66). Der Tod des Vaters war wie ein heftiger Schlag 221
auf den Kopf, und er hat alle Mühe, sein Leben wieder aufzunehmen (CA, 115). Es wird ihm unmöglich, das Gefühl der Leere und des ennui aus seiner Existenz zu bannen. Das Leben, «cette traque au remede ä l'ennui» (CA, 117), findet im Grunde ohne ihn statt: Car, depuis ce lendemain de Noel, c'est comme si vous 6tiez ä I'ombre ä observer la vie se dorer au soleil. Vous n'avez done rien trouve de mieux que de demeurer ä 1'0cart, oü du moins vous n'avez pas d'explications ä donner. C'est le tribut, cette solitude, que vous acquittez pour η'avoir pas ä avouer que vous n'y arrivez pas. A quoi? A faire avec. (CA, 116) Lange Jahre kann der junge Jean den Tod des Vaters gar nicht begreifen: «Meme avec un cadavre sous le nez, la mort n'arrive pas ä rentrer» (CH, 118). Diese Passage, in der in diesem Roman zum ersten und einzigen Mal das Personalpronomen je in Bezug auf den Erzähler auftaucht und in der dieser folglich die Trauer ganz konkret auf sich allein bezieht, kann als programmatische Formulierung für seine Jugendjahre aufgefasst werden. Gerade besonders von seinen Problemen, den Schmerz über den Tod des Vaters zu realisieren, dann zu überwinden und die Trauerzeit zu beenden, handelt Le monde a peu pres. Die vielen Tränen sind hier der Ausdruck seiner schmerzvollen Trauerarbeit. Jeans Kurzsichtigkeit ist das Emblem seiner Einsamkeit. Die Trauer der Mutter und des Sohnes über den Tod des Vaters verdoppelt sich in Pour vos cadeaux und wird zur Trauer des Sohnes über seine inzwischen verstorbene Mutter. Die Erfahrung des Zurückgeworfenseins auf sich selbst wiederholt sich hier für Jean: «une mere qui meurt [...], c'est une mere qui meurt, c'est le moule qui soudain se brise» (CA, 19). Nunmehr ist er wirklich ganz allein auf sich gestellt und besitzt eine «neue Freiheit», mit der er noch nicht so recht viel anzufangen weiß. Jean begreift, dass sein Leben mit einem Schlag völlig verändert ist: Er muss nunmehr «sans assistance respiratoire» auskommen. Ein «desceuvrement profond» ergreift ihn. Jean beginnt, nach Spuren der Mutter im eigenen Verhalten zu suchen: «Un geste, une attitude, et c'est un bonheur de decouvrir enfouie au cceur de vos cellules une part intacte, vivante, de votre mere» (CA, 186). Aber Jean durchläuft bereits in Le monde a peu pres und deutlicher dann in Pour vos cadeaux einen Prozess der Ablösung von der schmerzhaften Vergangenheit und der Hinwendung zur Realität. Die Schlussszene in Rouauds drittem Roman - der Sturz mit dem Velosolex, dem eine Auferstehungsphantasie folgt - kann in diesem Sinn als Sieg über die Trauer, als Anfang vom Ende der Trauerarbeit verstanden werden: Sie symbolisiert einen «point de depart pour la victoire du haut sur le bas, de l'engluement vers la delivrance». 63 In einer Szene des vierten Romans setzt Jean dieser Trauerarbeit selbst ein Ende. Die Sylvesterabende, die er in den ersten Jahren nach dem Tod des Vaters gemeinsam mit seiner Mutter vor dem Fernseher verbracht hat, sind von «solitude»,
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Sophie Bertho: «Les exorcismes de Rouaud». In: Rapports - Het Franse Boek LXVII (1997), p. 35-40, hier p. 40.
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«inaction» und «silence» geprägt. Doch eines Tages, in einem «moment decisif», nimmt er sein Schicksal in die Hand, um die «tristesse» in «joie» zu verwandeln und seinem Schattendasein ein Ende zu bereiten. Indem er einen Kopfstand macht, um als einziger auf der Welt die zwölf Schläge um Mittemacht in einer verkehrten Sicht auf die Welt zu hören, will er dem Lauf der Dinge eine neue Richtung geben: «inverser le cours des choses» (CA, 136). Jean will damit endlich die «comedie des masques» bei den Feiern zum Jahresende beenden und nicht länger eine Trauerfigur darstellen: «Dorenavant, g'en est fini d'etre une marionnette triste dans un theatre de poche» (CA, 135). Kritische Bemerkungen über die langwierige Trauerzeit der Mutter, die Jeans Leben beschwert hat, schließen sich an: Die ersten Schritte im Leben wären für ihn einfacher gewesen «sans cette surcharge ponderale de tristesse» (CA, 180). Auch der von allen verehrte große Joseph wird zum übermächtigen Schatten für seinen Sohn (CA, 28). Jean fühlt sich in seiner Entwicklung gehindert und hätte nichts gegen eine einzuwenden: «Ce qui, le temps passant, nous eüt pourtant bien arranges, que la releve arrivät. L'irrempla9able commenfait ä nous devenir encombrant» (CA, 132). Es liegt nahe, die schriftstellerischen Versuche des jungen Jean in Le monde ä peu pres und sein Erzählen der Familiengeschichte in den fünf Teilen insgesamt als Trauergesang und als Schreibtherapie bzw. exorcisme zu verstehen: als «litanie des ses morts» (SC, 100) und «ecriture-exorcisme». 64 Der Schmerz über den Verlust und die Leere kann verarbeitet, ja abgearbeitet werden. Jeans jahrelanges Schweigen wird mit dem Akt des Erzählens und Schreibens aufgegeben, die Trauerarbeit wird auf diese Weise angegangen und ist nach Vollendung des fünften Romans anscheinend abgeschlossen: 65 So wie der Erzähler, am Ende von Sur la scene comme au ciel, seine Ahnen nunmehr in Ruhe lassen will («mes familiers illustres, j e vous laisse en paix», SC, 187), scheint auch er seinen inneren Frieden gefunden, die Trauer endgültig überwunden zu haben. Das letzte Wort der suite romanesque schließt diesen Prozess ab und bekommt symbolisches Gewicht: paix. Ein zentraler Ort der Trauer steht häufig im Mittelpunkt der Schilderung: das Bett des Toten bzw. Sterbenden, an dem die Totenwache stattfindet oder der Mensch zum letzten Mal lebend gesehen wird. Rouauds Romane schildern mehrfach die letzten Lebensmomente von Menschen, ihre Agonie sowie die sich an den Tod anschließende veillee mortuaire: beim Vater, bei der Tante, bei ihrem Bruder Joseph, beim ancien comptable, bei der Mutter. Es ist damit vor allem auch der Ort der Trauer, des Schmerzes und des Leidens, der in allen fünf Romanen nahezu allgegenwärtig ist. Darüber hinaus erhält das Totenbett eine besondere Bedeutung für die Gedächtnisarbeit: Diese nimmt hier nämlich ihren Anfang. Denn in Jeans Gedächtnis haben sich die mehrfach in seinem Leben vollführte Handlung des Abschiedskusses am 64
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Ibid. Cf. hierzu auch Jean-Claude Lebrun: Jean Rouaud, p. 32, Luce Czyba: «L'Ecriture de la memoire», p. 90 und Sophie Bertho: «Les exorcismes de Rouaud», p. 39. Cf. auch Sylvie Dukas-Spaes: «, de Jean Rouaud», p. 133. Cf. Max Milner/Claude Pichois: «Chateaubriand apres 1820». In: Max Milner/Claude Pichois (ed.), Litterature frangaise. Tome 7: De Chateaubriand ά Baudelaire 1820-1869. Nouveile edition revisee, Paris, Arthaud, 1990, p. 276-283, hierp. 281-283. Chateaubriand
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Chateaubriands Veranlassung, die Vie de Ranee zu schreiben, wird vom Erzähler in Pour vos cadeaux auch expressis verbis erwähnt: «[...] abbe Rance, dont Chateaubriand ä la demande de son confesseur dut raconter la vie en remission de ses peches (ceux du vicomte) [...]» (CA, 11). Rouaud verbindet seine Romanwelt mit der von Chateaubriand verfassten Biographie des abbe Rance aus dem 17. Jahrhundert und stellt hier deutlich heraus, dass es historische und geographische Gemeinsamkeiten zwischen der Rance-Biographie und seiner eigenen Familiengeschichte gibt. Die in der Nähe von Riaille gelegene Abtei La Meilleraye fungiert als das verbindende Element zwischen den beiden Texten (CA, 11). So wird die Geburt der Mutter im väterlichen Haus in Riaille zur schicksalhaften Konsequenz einer «double malchance, historique et geographique», die auf ihr späteres Leben vorausweist. Und so wie der abbe Rance ein zweigeteiltes Leben zwischen «existence [...] libertine» und «priere et [...] mortification» führte (CA, 11), kannte auch der Großvater des Erzählers eine janusköpfige Lebensführung: Denn «n'ayant pas reussi pour lui-meme ä trencher entre les deux vies de Rance» (CA, 12) und bedingt durch diesen spiritus loci, kann sich der Schneider aus Riaille - wie der Erzähler sehr ironisch anmerkt - nicht eindeutig zwischen der alten Abtei und der Nudisten-Insel / 'tie du Levant entscheiden. Beide Orte bzw. Episoden, die den Großvater in Les champs d 'honneur plastisch schildern und zu den einprägsamsten Passagen gehören, sind dem fleißigen Rouaud-Leser noch gut in Erinnerung und erzeugen deshalb die genannte Wirkung, die für Rouaud so charakteristisch ist: leise Ironie, die zum Schmunzeln anregt. Rouaud erreicht mit dieser Verquickung und Verbindung seines Texts mit dem Chateaubriands beim Leser, dass die Rouaudsche Heimat als große und bedeutende literaturhistorische Landschaft identifiziert wird. Wieder einmal funktioniert sein Roman als Speichergedächtnis, in dem literaturhistorische Ereignisse abgelegt sind. Intertextuelle Bezüge zum Werk Marcel Prousts, vor allem zu A la recherche du temps perdu sind in Rouauds Romanwerk zahlreich vorhanden. Dabei tritt er, wie Wolfram Nitsch richtig feststellt, in eine gewollte Distanz zu Prousts Erinnerungspoetik. 137 Denn seine Romane folgen, wie oben dargestellt wurde, zwar ähnlich wie bei Proust dem mnemonischen Textmodell einer umherwandernden Erinnerung, einer an Bildern und Räumen orientierten Gedächtaislandschaft, also einer topographisch strukturierten mnemonischen Poetik. Aber Rouauds Erinnerungsbegriff ist ein anderer als derjenige Prousts: Bei Rouaud steigen keine Welten aus einer Tasse Tee hevor. Seine literarische Mnemonik funktioniert nicht als ungewollte, affektive und das Vergangene re-präsentierende Erinnerung, die eine die chronologische Zeit aufhebende Erlebnisfülle sowie die Erfahrung der eigenen Existenz heraufbeschwört. 138
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habe dieses Werk begonnen, «pour obeir aux conseils de son directeur de conscience», und habe in der Vie de Rance «enfermi, mieux encore peut-etre que dans les Memoires, le secret de ses annäes declinantes [...]» (ibid., p. 281). Wolfram Nitsch: «Familiengruft ohne Madeleine», p. 636. Siehe hierzu in Bezug auf Le monde ä peu pres auch ausführlicher Kapitel 5.2. Siehe hierzu Erich Köhler/Angelika Corbineau-Hoffmann: Marcel Proust, Berlin, Erich Schmidt, 1994, p. 4 3 ^ 7 . 249
Rouauds Romane sind vielmehr eine schwierige sowie bewusste Erinnerungsarbeit und materielle Spurensuche. Hierin steht Rouaud Claude Simon näher als dem Verfasser der Recherche. Denn diese Suche nach Spuren und Überresten ist voller Schwierigkeiten und mündet in keine Resurrektion eines (Combray retrouve>, das in deutlichen und frischen Farben dem Vergessen entspringt. 139 Rouauds Werke stellen also im Ergebnis einen ganz anderen Erinnerungs- und Gedächtnistext, eine andere Selbst-Narration und Identitätskonstruktion dar als diejenige Prousts. 140 Da die Referenzfolie Marcel Proust (wie auch die intertextuelle Beziehung zu Claude Simon) in den vorausgegangenen Abschnitten zur Bildlichkeit und Räumlichkeit sowie in den nachfolgenden zu Stil und Leitmotivik, zu zentralen Themen wie Identitätssuche oder Gegenwart des Todes immer wieder Erwähnung findet, beschränkt sich der folgende Abschnitt auf einige wenige Textstellen mit intertextuellen Verweisen, in denen Rouaud kontrastiv auf Proust anspielt. Sie sollen diese intertextuelle Beziehung in kurz gefassten Detailanalysen konkret machen und verdeutlichen. 141 Die Dialog- und Intertextualitätsbeziehung zu Proust und Simon ist ingesamt als strukturell zu bezeichnen und geht immer wieder aus verschiedenen Parametern wie etwa Raum, Metaphorik, Stil, Sprache und Themengestaltung hervor. Recht deutlich sind die kontrastiven Anspielungen auf die mondäne Welt der Recherche in Rouauds Les champs d'honneur. Der Erzähler beschreibt das Innenleben der psychotherapeutischen Heilanstalt von Pont-de-Pitie, in die die Tante eingeliefert worden ist. Er spart dabei nicht mit zynischen Kommentaren, die sich als herbe Kontrastierung von Prousts untergehender aristokratischer Welt in der Troisieme Republique lesen. Ein bal de tetes ganz anderer Art als derjenige in Le temps retrouve findet in der Südbretagne der sechziger Jahre statt: Peinture silicosee, odeur de vieillards incontinents que tentent de submerger des hectolitres de disinfectant, relents nauseeux de cantine [...], silhouettes affairies des petites sceurs glissant sur le linoleum, malades en pyjama errant ä la recherche d'ils ne savent trop quoi, et c'est ce qui les tue, regards iperdus qui delivrent mille tourments [...], et dans le cloitre le clan des durs: les clones de Napoleon et de Louis XIV, toutes les Anastasia et les princesses apocryphes d'un gotha imaginaire, dynasties fabuleuses du royaume des simples. (CH, 130/131) Markante Anspielungen auf Proust machen die Distanz der Rouaudschen Position zum Verfasser der Recherche deutlich: «ä la recherche d'ils ne savent pas trop quoi», «Anastasia», «princesses apocryphes», «gotha imaginaire». Der Intertext - Prousts mondäne Textwelt der Recherche - wird dadurch in ein anderes Licht gerückt. 139
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Cf. zur resurrection du lieu bei Proust Georges Poulet: L'espace proustien, Paris, Gallimard/Collection Tel, 1988, p. 83-90. Die Thematik der Identität und Selbst-Narration wird unten noch im Detail zu zeigen sein. Siehe Kapitel 5. Auf die intertextuellen Relationen zu Claude Simon gehe ich selektiv in den entsprechenden Kapiteln ein, so dass sie hier nicht explizit behandelt werden müssen. Zudem verweise ich hinsichtlich der Beziehung von Rouaud zu Simon auf die Dissertation von Birgit Ziegler-Stryczek: Geschichte, Familie und Subjekt (1998).
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Von gleich scharfem Umriss ist die kontrastive Stellungnahme zu Proust in der Episode der Madeleine-Kisten im gleichen Roman (CH, 172-181). Pierre, der Großvater des Erzählers, macht sich Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges auf die Suche nach dem Grab seines Bruders Emile, der in Commercy anonym begraben liegt. Mangels Sarg dienen einige Transportkisten der örtlichen Gebäckspezialität als Behältnis für die jeder Identifizierungsmöglichkeit beraubten Knochen des auf dem gefallenen Familienmitglieds. Weil in demselben Erdloch noch ein zweiter Soldat begraben liegt und sich die Überreste beider Leichen im Boden miteinander verbunden haben, kann nun nicht mehr entschieden werden, welcher von beiden tatsächlich Emile ist. So bleibt Pierre nichts anderes übrig, als alle Gebeine einzupacken und mit seinem mobilen Knochenhaus in die Heimat zurückzukehren. Die berühmte Madeleine-Episode aus Prousts Du cote de chez Swann wird in aller Drastik und Schärfe aufgerufen und ihrer idealistischen Aussage beraubt: Keine erinnerte Welt steckt in der Madeleine und kehrt mit ihr wieder, sondern die traurigen Reste einer menschlichen Existenz finden in billigen MadeleineBlechdosen ihre unheroische Ruhestätte. Die Kritik am Erinnerungskult und an der Kriegs- und Gedächtniskommerzialisierung in Frankreich kann deutlicher nicht geführt werden. Im gleichen Moment findet hier aber auch eine Umwertung der Proustschen Teegebäck-Szene statt: Die Erinnerungskonzeption Prousts wird von Rouaud regelrecht verworfen. Auch der Marcels Erinnerung an Venedig auslösende «pave qui etait un peu moins eleve que le precedent»142 aus Le temps retrouve wird in einem Roman Rouauds konteikarriert und persifliert. Jean irrt in Le monde ä peu pres nach dem gescheiterten Wiedersehen mit Theo orientierungslos durch die Straßen, stolpert über einen Stein und schlägt der Länge nach auf das Pflaster (MO, 223-225). Diese Szene ist mit Anspielungen auf Proust gespickt. Wendungen wie «comme une scene Offerte a la mesure de ma peine d'amour perdu», «les plus belles constructions de l'esprit», «mon grand ceuvre», «ce pave mal embouche» und andere Textstellen sind als ironische Quasi-Zitate und Anspielungen sowie als ironisches Echo auf Proustsche Formulierungen intendiert und persiflieren den Meister. So ironisiert Rouaud mit der bekannten Passage aus Prousts Roman auch die Erinnerungspoetik des Romanciers insgesamt. Überhaupt ist diese Stelle aus dem dritten Werk Rouauds eine gekonnte Persiflage und der gesamte Roman ein Meisterstück an subtiler intertextueller Schriftstellerkunst.143 Weitere zum Teil ironische, zum Teil als neutrale Echos strukturierte Anspielungen auf Proust lassen sich finden. Sei es «la villa d'Hadrien en notre jardin» (HO, 77),144 die Erwähnung der Thetys (MO, 79),145 die Idee des Lebens als eines Museums (CH,
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Cf. Le temps retrouve, Paris, Gallimard/Collection Folio, 1999, p. 173. Siehe unten. Cf. Sodome et Gomorrhe, Paris, Gallimard/Collection Folio, 1999, p. 388. Cf. Du cöte de chez Swann, Paris, Gallimard/Collection Folio, 1995, p. 17.
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139/140), 146 der Verweis auf die «Vue de Delft» (MO, 23), deren Symbolcharakter fur die Ästhetik Prousts bekannt ist, 147 die Phase vor dem Einschlafen oder das kursiv gedruckte Proust-Zitat in Sur la scene comme au ciel (SC, 91): Das Werk Prousts ist bei Rouaud im Sinne eines literarischen Textgedächtnisses gespeichert und tritt mit dem Minuit-Autor in einen intertextuellen Dialog.
3.1.2.3 Das travestierte Evangelium nach Jean Rouaud Zwischentextliche Verweise auf die Bibel sind in allen fünf Romanen zu finden und beeinflussen wichtige Bauelemente der Werke, nämlich Figuren, Geschehen, Sprache und Stil. Diese intertextuelle Relation gehört damit zur intensivsten Form von Intertextualität, die bei Rouaud zu finden ist. Und diese Beziehung zum großen Textmodell der Bibel besitzt zudem eine tiefere Bewandtnis. Jean Rouaud geht auf seine intensive intellektuelle Prägung durch die religiöse Erziehung in der Schule und auf die Anziehungskraft der biblischen Texte (hier vor allem der Evangelien) und ihrer Sprache in einem Interview ein. Das Christentum stellt mit seiner Symbolik für Rouaud eine Art persönlicher Mythologie dar, die ihn stärker beeindruckt und geformt hat als etwa die griechisch-römische Götterwelt der Antike. In seinen Werken geht es dem Autor nach eigener Aussage darum zu zeigen, [...] avec quoi j'ai ete nourri intellectuellement. La grande nourriture intellectuelle a ete la religion et l'Evangile.148 In dieser intertextuellen Relation liegt also auch eine Art autobiographische , denn sie ist auf die starke Gläubigkeit und Religiosität in der Bretagne, die Jean Rouaud in seiner Jugend erfahren hat, zurückzuführen. Rouauds Affinität zur biblischen Mythologie und die große identifikatorische Kraft dieser anthropomorphen Heilsgeschichte, welche der Autor selbst feststellt, finden daher in den Romanen immer wieder ihren Niederschlag. Rouaud formuliert - mit einer Anspielung auf Chateaubriands Werk Le genie du christianisme - diesbezüglich folgende Erklärung: Et puis, c'est avec ce coup de g6nie-lä, du Christianisme, une mythologie qui s'appuie sur un personnage que l'on prösente comme historique, c'est la double nature de Dieu, la double nature de Jesus, ä la fois Dieu et homme. Done, il y a cette force de l'incaniation qui fait qu'on peut evidemment s'identifier beaueoup plus ä son parcours. Ce qui fait que tous les fyisodes de la vie du Christ m'6taient familiers.149
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Cf. ibid., p. 19. Siehe Gerard Genette: «La question de l'ecriture». In: Roland Barthes [et α/.], Recherche de Proust, Paris, Editions du Seuil/Collection Points, 1990, p. 7-12, hier p. 11/12. Jean Rouaud: «II y a un cycle qui s'est termine. Propos recueillis par Sarah Pasquay». In: Lendemains XXIII, 91/92 (1998), p. 136-148, hier p. 145. Ibid.
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Die Heilige Schrift wird struktureller Intertext in dem Sinne, dass sich die Romane - und hier vor allem die ersten drei - vor der strukturellen Folie der christlichen Heilsgeschichte verstehen lassen. Zahlreiche Figuren, Motive und Themen können direkt auf die Bibel bezogen werden. Letzteres gilt in besonderem Maß für den Roman Le monde ä peu pres, von dem Rouaud selbst sagt, er folge dem Schema des «parcours christique, la chute et l'assomption finale».150 Darüber hinaus betont der Verfasser der Champs d'honneur die Schönheit der biblischen Ausdrücke (wie etwa «dormition», «ascension», «assomption, «deposition de la Croix»): J'ai ete nourri par ?a. Sur le coup, je ne Tai pas entiereraent enregistre, mais c'etait en moi et tout ςα est revenu.151 Diese ästhetische Affinität zur Heiligen Schrift ist in Rouauds Werken deutlich spürbar und schlägt sich in den Romanen in den vielfältigen Arten intertextueller Bezüge nieder. Dabei lassen sich die schon bekannten sprachlichen Muster wie Vergleich, 152 Metapher, 153 Anspielung 154 und Zitat bzw. Quasi-Zitat 155 wiederfinden. Diese Hinweise sind überaus zahlreich 156 und werden meist auch deutlich, ohne dass sie jedesmal explizit markiert sind. Die besondere Qualität und die hohe Dichte der intertextuellen Bezüge heben den Intertext Bibel damit auf eine andere Ebene als die oben (3.1.2.1) genannten Formen extensiver zwischentextlicher Beziehung. Die Familienchronik Rouauds wird vor allem auch durch diese strukturellen Bezüge zum Alten und Neuen Testament zu einer literarisierten, literarisch überformten Geschichte, die wenig mit dem realen Alltag einer durchschnittlichen Familie in der bretonischen Provinz gemein hat. Rouaud nickt durch biblische Anspielungen und Verweise seine Version der Familienhistorie in den wirkungsästhetischen Bereich der fiktionalen Literatur, was durch das markierte Vorkommen von Ironie und Humor in vielen Passagen nochmals unterstrichen wird. Beide sind das Signum für Literarizität: Immer wieder wird der fiktionale Charakter der Texte herausgestellt, denn nicht um eine und partikuläre Familienautobiographie, sondern um ein genuines Romanwerk handelt es sich hier, das das rein Biographische übersteigt. Die Figurengestaltung ist eines der sichtbarsten Zeichen dieser Intertextualitätsbeziehung zur Bibel. Hierbei sind besonders die Tante Marie, der Vater, der Erzähler Jean sowie, im dritten Roman, die Figur der Theo zu beachten.
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Ibid. Rouaud verweist hier mit Recht auf den Artikel von Pierre Lepape («Woody Allen en Vendee»). Jean Rouaud: «II y a un cycle qui s'est termine», p. 145. Siehe CH, 81, 155; CA, 81. Siehe MO, 36, 38; SC, 185. Siehe CH, 147; MO, 99, 239; SC, 100, 180. Siehe MO, 136; CA, 79; SC, 101, 145. Weitere intertextuelle Verweise auf die Bibel: CH, 115-117, 147, 166, 169/170, 173; HO, 20, 62, 107, 170; MO, 23, 58, 67, 78, 123, 208, 214, 225, 226; CA, 80-82, 142; SC, 69/70, 100-103. 253
Die Figur der Tante Marie steht ganz im Zeichen eines Dienstes an Gott. Sie ist die gute Seele der Gemeinde Random157 und hält zudem auch die Familie Rouaud im Innersten zusammen.158 Sie ist nicht nur für die Vermittlung von Wort und Schrift in der Schule zuständig, sondern trägt auch das Wort Gottes mit missionarischem Eifer159 in die lokale Religionsgemeinschaft: Sie verteilt den Gemeindebrief und nennt sich selbst «petit facteur du bon Dieu» (CH, 83). Sie ist für diese Aufgabe geradezu prädestiniert, denn ihr Name, ihre Jungfräulichkeit und ihre Hingabe im Dienst an Gott verweisen auf die Jungfrau Maria. In der Gemeinde wird sie daher auch oft mit notre vierge Marie assoziiert: «cette vieille fille mere immaculee de quarante enfants l'an» (CH, 150). Tante Marie besetzt mit ihrer tiefen Gläubigkeit und ihrem Vertrauen auf die Kraft der Schutzheiligen der Region im Hause Rouaud die Position der religiösen Leitfigur. Die biblische Folie in der Gestaltung dieser Figur wird in einer Szene aus Les champs d'honneur überdeutlich. Nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus statten Nichten und Neffe ihr einen Besuch am Krankenbett ab. Tante Marie liegt quasi regungslos vor ihnen und sieht aus, als ob ihre Seele bereits gottgleich gen Himmel entwichen sei. Sie ist kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern bereits in ein anderes Reich übergegangen.160 Diese gleichsam transfigurierte Sicht der kranken Tante weckt eine Assoziation, die das Neue Testament in Erinnerung ruft und den Erzähler dazu veranlasst, nun eine längere Passage einzuschieben, die das Johannes-Evangelium paraphrasiert und die Episode am Grab Jesu wiedergibt.161 «Que dit Jean sur la reapparition de Jesus ce matin hallucine oü achoppe le salut de la multitude?» (CH, 115/116), fragt sich der Erzähler und gibt im folgenden Absatz selbst die Antwort. Keine Frage, mit der Tante Marie weilt etwas Gottähnliches unter ihnen. Die «pudeur toute biblique» der Tante Marie und ihre körperlose Distanz zu den Menschen (CH, 117) wird mit der Szene zwischen Jesus und Maria-Magdalena, mit deren keuscher Verehrung für den Gekreuzigten parallelisiert. Ihre Biographie ähnelt in ihrer entsagungs- und aufopferungsvollen Lebensführung mehr einer Heiligenvita.162 Durch diese zahlreichen Verweise auf die Bibel wird Tante Marie in eindeutiger, wenngleich auch bisweilen ironischer Absicht zum biblischen Charakter stilisiert.
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«Elle etait tante Marie pour toute la commune, Variante locale du petit pere des peuples» (CH, 64). Zudem bringt sie am Nachmittag Analphabeten aus der Gemeinde Lesen, Schreiben und Rechnen bei (CH, 147-149). «[...] eile ne refusait jamais rien aux enfants de Joseph» (CH, 78). Siehe «[...] son travail de Wnevole, d'humble fourmi de l'universelle mission 6vang61ique» (CH, 78). Siehe «l'effarante distance de ceux qui ont depasse les bornes de ce monde sensible» (CH, 115). Deutlich spielt Rouaud hier auf die Unversehrtheit Jesu an (Joh. 20,24-29): «cette Silhouette debarrassee de ses marques» (CH, 115). Auch auf die Aufforderung an Thomas, die Hand in Jesu Seite zu legen, wird im Roman zitiert: «pas envie de mettre les doigts dans ses branches blessees» (CH, 117). Joh 20,11-18. Siehe ihre «trente annees de renoncement, d'oubli de soi» (CH, 150/151).
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Mit eben dieser Absicht beäugt der Erzähler in einer anderen Szene von Les champs d'honneur das hartnäckige Sträuben der Tante Marie, die sich gegen die Verwendung von Kugelschreibern in ihrer Schulklasse ausspricht und streng am traditionellen Füllfederhalter festhält: Le stylo ä bille, c'etait le cheval de Troie gros des quatre cavaliers de l'Apocalypse, une sorte de Babel terminal oü s'aneantiraient la langue et le monde. Car Ia langue etait de l'ordre de la Creation, c'est-ä-dire du divin. Le sort de l'humanite tenait en equilibre sur la pointe d'une plume Sergent-major. (CH, 81/82) Eine etwas deplacierte und schiefe Metapher («le cheval de Troie gros des quatre cavaliers de l'Apocalypse»), und der ironisch dramatisierte Vergleich («une sorte de Babel terminal») bewirken in dieser Passage eine spielerische Zeichnung der schrulligen Tante Marie und ihrer antimodemen Trutzhaltung. Zugleich spielt Rouaud mit der erstgenannten Metapher («le cheval de Troie ...») auf den Film The four horsemen of the Apocalypse aus dem Jahre 1921 an, mit dem Rudolf Valentino zum Star wurde: Dieser intertextuelle Hinweis ist jedoch nur für Kenner der Kinogeschichte oder für kriminalistisch veranlagte Leser zu erkennen. An dieser scheinbar unkomplizierten Stelle zeigt sich wieder einmal auf sehr eindringliche Weise Rouauds subtile, gut kaschierte und komplexe Art des doppelbödigen intertextuellen Verweises. Geradezu göttliche Züge erhält der Vater des Erzählers, in dessen erzählerischer Gestaltung ebenfalls deutliche biblische Anspielungen zu vermerken sind. Mehrere Motive machen diese intertextuelle Bezugnahme fassbar. Bereits die leitmotivartig wiederkehrende Beschreibung der weißen Haare des Vaters 163 ruft die Vision des göttlichen Christus aus der Offenbarung des Johannes in Erinnerung: «Sein Haupt und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle, leuchtend weiß wie Schnee [...]» (Offb 1,14). 164 Diese Bezugnahme findet auch im folgenden Zitat sehr deutlich ihren Ausdruck: «Sa haute silhouette aux cheveux prematurement blanchis dominait le cercle des fideles» (HO, 18). Joseph Rouaud ist der göttliche Vater nicht nur im Hause Rouaud, sondern auch der Christus, der die Gläubigen aus seiner Gemeinde leitet. Denn die körperliche Größe des Vaters, nicht zuletzt aufgerufen in dessen Beinamen wie «le grand Joseph» (HO, 23), «Joseph le magnifique» (HO, 20), macht nicht nur seine übergeordnete innerfamiliäre Stellung klar, sondern wirkt auch im Sinne religiöser Konnotationen. Das ironisch markierte und travestierte pater noster, das der Erzähler beim Tod der Tante Marie anstimmt, wird direkt auch auf Joseph «notre pere» (CH, 74) bezogen, der kurz zuvor verstorben war: So gilt das Gebet genauso dem Vater. Auch besitzt der Vater für den Sohn eine spirituelle Leitfunktion, die allerdings viel zu früh verloren geht: Der «commandeur, mon clocher de tourmente» (MO, 252) wird vom Erzähler schmerzhaft vermisst.
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Siehe «les cheveux blancs de papa»: HO, 18, 23, 100, 102, 110; MO, 162 etc. Die Bibel, p. 1391. 255
Deutliche Züge von Göttlichkeit besitzt auch der verstorbene Joseph. Von seinem Grab geht eine übermächtige Ausstrahlung und Anziehungskraft aus, die transzendente Wirkung auf den jungen Jean hat (MO, 67/68). «Car sous la dalle sa presence est reelle. [...] C'est qu'il est lä» (MO, 68). Wie Christus hängt auch der Vater am Kreuz: «Mais cette grande croix couchee, nue, sans Christ, parfois il semble que notre pere y est accroche au verso, qu'il suffirait de la redresser, [...] pour le remettre, lui, sur pied» (MO, 67/68). In der Vorstellungswelt des Jungen wird das Schicksal des wie Jesus sehr früh zu Tode gekommenen Vaters zu einer Passions- und Resurrektionsphantasie. Eine derart starke Wirkungsmächtigkeit geht vom Vater aus, dass sich das Bild des Verstorbenen zur Transfiguration Christi überhöht: Parfois devant la tombe le sentiment de sa presence est si fort, si absurde Γ idee de sa dissolution, que vous vous suiprenez ä lever les yeux vers le ciel oü, dans votre esprit, s'imprime le visage compatissant, rassurant, totalement apais6, de l'envole. Et cette impression est si nette, de cette tranquilite radieuse qui vous accueille de l'autre cöti des apparences, que vous l'enviez au point, tete relev6e, d'en chercher la trace parmi les nuees. (MO, 70) Die Wirkung des göttlichen Vaters, dessen «visage radieux» (MO, 71) dem Sohn am Himmel erscheint, ist nach dem Tod keineswegs geringer als vorher. Alle Familienangehörigen verhalten sich so, als wäre er leibhaftig unter ihnen und rechnen mit seiner - posthumen - Zustimmung oder Ablehnung. Das Gebet «Notre pere, qui es aux cieux» (MO, 69), das der Sohn am Grab des Vaters anstimmt «comme si la priere avait ete ecrite tout expres έ son intention» (MO, 69), ist ein religiöses und inniges Zwiegespräch, das einem nicht im eigentlichen Sinne Verstorbenen gilt: dem ewigen Vater, dem keine Verwesung etwas anhaben kann. So bleibt der «corps glorieux» des Vaters denn auch für den Sohn ein übermenschlicher, gottgleich intakter Körper (MO, 69/70), der den alles Organische zersetzenden Wirkungen der Zeit nicht ausgesetzt ist. Deutliche intertextuelle Bezüge zur Bibel lassen sich weiterhin im Zusammenhang mit dem Vater finden. Seine Tätigkeit als Tischler bei den Christophes in Nantes (HO, 141-143) erinnert an Jesus, der der Sohn des Zimmermanns Josef 165 ist und dieser Tätigkeit ebenfalls nachgegangen ist. Interessanterweise liegt in diesem Verweis ein doppelter intertextueller Bezug: auf die Bibel, aber auch auf James Joyces Portrait of the artist as a young man. In letzterem Werk, das für Le monde ä peu pres, ich gehe unten näher darauf ein, insgesamt eine signifikante Folie bildet, erwähnt der irische Schriftsteller ebenfalls diese Episode aus dem Leben Jesu: «Jesus too had been born in poverty and had worked in a shop of a carpenter, cutting boards and planing them [..,]». 166 Diese doppelte intertextuelle Referenz zeugt in bestechender Weise von der
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Mt 13,55 (Die Bibel, p. 1105). James Joyce: A portrait of the artist as a young man, Haimondsworth, Penguin Books, 1960, p. 141.
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ästhetischen Konzeption des Romans als eines Spiels mit Texten und vom «souci d'intertextualite»,167 die den Autor Rouaud und seine Ästhetik motivieren. Die an Allmacht erinnernde Geschicklichkeit und Fähigkeit des Vaters zur Lösung von Problemen, machen sein Wort zum göttlichen, das Heilung verspricht: «L'attente etait d'ordre liturgique: (HO, 20) Diese im Romanwerk mehrfach erwähnte Bewunderung für seinen Vater sowie die Ehrfurcht und gewisse Angst des Erzählers vor ihm (HO, 106/107; MO, 68) verweist auf eine übermenschliche, göttliche Instanz und die Seelenkraft, die von ihr ausgeht. Bereits die Affinität des Vaters zum Stein verweist auf den Apostel Petrus.168 Joseph wird jedoch noch viel offensichtlicher mit Jesus parallelisiert. Wie dieser durch Palästina reist, das Wort Gottes verbreitet und Wunder vollbringt, fahrt Joseph quer durch die Bretagne und verbreitet dort die moderne Zivilisation in Form von Porzellan. Als «homme illustre», als deijenige also, der dank seiner «force de caractere, sa bonne humeur, son sens de la parole» (HO, 68) (Licht in die Bretagne trägt>, besitzt denn auch die Gabe, Botschaften zu verkünden und kleine Wunder zu vollbringen: «Comme si par sa presence il avait le pouvoir de grandir toute chose» (HO, 68). Auch die Sterbeszene, die den Tod des Vaters erzählt (HO, 111-114), ist mit biblischer Licht-Dunkelheit-Symbolik angereichert und setzt das Ableben Josephs mit dem Auslöschen des göttlichen Lichts parallel: «[...] le pays subitement se trouve plonge dans l'obscurite» (HO, 111). Als der Vater tot ist, zitiert der Erzähler direkt aus Joh 19,30169 und hebt die private Katastrophe damit auf eine heilsgeschichtliche Ebene: «[...] c'est fini. [...] votre pere vient de mourir» (HO, 114). Der göttliche Vater hat auch in seinem Sohn einen biblischen Nachkommen. Der Erzähler Jean sieht sich selbst als Evangelisten, der die Geschichte Josephs und seiner Familie für die Nachwelt festhält und diesen göttlichen Auftrag ausführt. Sein Vorname Jean, der, wie er selbst ausdrücklich betont, auf den Evangelisten Johannes und nicht auf den Baptisten zurückgeht, wird ihm zum Signum dafür, die Lebensgeschichte des Vaters und die eigene erzählen zu müssen. Das Zitat aus Joh 21,24 unterstreicht diese Selbststilisierung des Erzählers: D'ailleurs, vous y tenez vous aussi, qui ä chaque fois ne manquez pas de vous recrier quand on le confond avec l'autre Jean, celui du 24 juin, le Baptiste, le decollete. Beaucoup plus tard encore il vous viendra a l'esprit que c'est aussi celui-lä, le prefer6, qui a rendu compte: beschreibbar, womit die Hauptintertexte von Joyce, Flaubert und Rousseau genannt sein sollen. Rouaud tritt in einen Dialog mit den Werken dieser Autoren und verformt sie in signifikanter Weise. Dabei erinnert der Romancier mitunter durchaus an einen Maler, der das gestalterische Mittel der Anamorphose - Verformung und perspektivisches Spiel - anwendet. Rouaud setzt seinen Adoleszenzroman bewusst in Zusammenhang zur literarischen Tradition der Autobiographie, des autobiographischen Künstler- und Bildungs- bzw. Entwicklungsromans sowie zu den kanonischen Gattungsvertretern Rousseau, Joyce und Flaubert. Daneben ist, sich herleitend aus der das Gesamtwerk betreffenden Thematik der Erinnerung, auch ein reflektierter Dialog mit Proust und seinem Erinnerungsmodell erkennbar, was an anderer Stelle bereits kurz behandelt wurde sowie an anderem Ort nochmals zur Sprache kommen wird: Deshalb wird hier im Zusammenhang mit Le monde ä peu pres nun nicht noch einmal auf die Referenzfolie Proust eingegangen. Betrachten wir nun die intertextuellen Relationen zu den drei Bezugsgrößen Joyce, Flaubert und Rousseau.
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Etwa im Interview mit Andre Clavel («J'ai quittd mon kiosque k joumaux, et j'ai voyagi». In: Les Editions de Minuit (ed.), Dossier de presse Des hommes. illustres, Paris, Les Editions de Minuit, 1993, p. 10/11). Hier ist vor allem Pour vos cadeaux zu nennen. Hier vor allem vereinzelte Hinweise in Les champs d'honneur, Des hommes illustres und Sur la scene comme au ciel. Siehe oben. Vereinzelte Anspielungen etwa in Pour vos cadeaux: CA, 54, 97. 261
James Joyces Portrait als Intertext in Le monde a peu pres Joyces autobiographisch geprägter Künstlerroman um den Protagonisten Stephen Dedalus dient auf mehreren Ebenen intertextueller Beziehungen als Folie, vor deren Hintergrund Rouaud seinen eigenen Roman schreibt. Hier sind vor allem Parallelen in der Gestaltung der Zentralfiguren, thematische Anspielungen auf Ereignisse und Handlung, Motivparallelen sowie Zitate und Quasi-Zitate zu erwähnen, die alle eine dichte intertextuelle Beziehung zwischen den zwei Werken belegen. Hier kommt es jedoch stets zu einer subjektiven, sehr spezifischen Aneignung und Weiterentwicklung des Intertextes, so dass die Bezüge zwar vorhanden sind, das Ergebnis aber einen literarischen Mehrwert besitzt, der den Roman zu einem vielschichtigen, komplexen und unverwechselbar eigenständigen Werk macht. Rouaud schreibt das Joycesche Modell des Künstlerromans um, weiter und neu und gestaltet ihn dabei zu einem Textgedächtnis in dem oben ausgeführten Sinn. Es finden sich in Le monde ä peu pres mehrere Arten von Intertextualität: die direkte Bezugnahme, das Zitat und Quasi-Zitat und die Anspielung. Die Gestaltung der Hauptperson in Rouauds Roman ist deutlich auf den Helden aus Joyces Portrait bezogen. Jean ist wie Stephen Dedalus ein schwächlicher, sensibler und leicht zu Tränen gerührter Einzelgänger. Joyce beschreibt Stephen wie folgt: «He felt his body small and weak amid the throng of the players and his eyes were weak and watery». 185 Gleiches kann auch fur Jean gesagt werden, dessen Tränendrang leitmotivisch wiederkehrt und der sich selbst als «petit garfon tremblotant, craintif» (MO, 45) beschreibt. Wie Stephen Deadalus ist auch Jean literarisch kreativ und genießt im Verfassen von Texten einen gewissen intematsintemen Ruhm. 186 Ähnlich wie Stephen durchläuft auch Jean einen - gleichwohl ironisch gebrochenen und keineswegs linearen - Reifungsprozess, der allerdings nicht so Stationenhaft und in einer an die fünf Akte einer Tragödie erinnernden Weise verläuft wie sein irischer Vorläufer. Doch bei aller intertextuellen Bezugnahme Rouauds hinsichtlich der Gestaltung seines Protagonisten: In den sprachlichen und wirkungsästhetischen Registern liegt der wesentliche Unterschied zwischen beiden Texten. Bei Joyce ist keine Ironie zu spüren, im Gegenteil: Joyces tiefgründiges und philosophisches Werk mit seiner Technik aus dichten symbolischen Verweisen präsentiert sich ästhetisch völlig anders als Le monde ä peu pres. Hier dominiert der spielerische Charakter, in Rouauds Roman sind die Ironie und die Selbst-Ironie des Erzählers auf nahezu jeder Seite mit den Händen zu greifen.
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James Joyce: A portrait of the artist, p. 8. «Stephen, though in deference to his reputation for essay writing [...]» (ibid., p. 73). Jean gilt als begabter Schreiber, allerdings als Verfasser von lyrischen Texten, die Lehrer verspotten (MO, 129): «[...] ä Saint-Cosmes il s'etait fait une petite reputation de rimailleur [...]». Deutlich ist die sehr eingeschränkte Bewunderung für Jean in diesen Worten des «ancien congönere de Saint-Cosmes» zu spüren, der sich insgesamt ja sehr spöttisch über Jean äußert. Die Ironie ist offensichtlich.
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Es bestehen weitere Bezugnahmen, thematische oder motivische Relationen, dank derer Rouaud in einen intertextuellen Dialog mit Joyce tritt, das Werk des Iren in seinem eigenen erinnert und präsent hält. Der Ort der Handlung ist auch in Le monde ä peu pres über weite Teile ein Internat, das von Jesuiten gefuhrt wird. An diese Parallele schließt sich die Thematisierung des Fußballspiels zu Anfang der zwei Werke an. Mit diesem Motiv stellt sich Rouaud in einen Dialogzusammenhang mit dem Joyceschen Werk: Es handelt sich dabei um einen klaren intertextuellen Verweis, den Rouaud allerdings in seinem Roman substantiell erweitert und auf den Umfang eines eigenständigen Kapitels ausbaut (MO, 9-40). Aus dem Motiv bei Joyce wird ein komplexes Thema mit Vorausdeutungen, Rückblenden und ironischen Beschreibungen, die sehr weit über den Prätext hinausgehen.187 Noch weitere relevante Motive und Themen verweisen auf Joyce und seien hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz aufgeführt: der Schlafsaal; die Strafe des schmerzhaften Hinkniens auf dem Boden;188 die unpraktischen Gewänder der Ordensbrüder des Internats, die ihre Soutanen außerhalb des Klosters ablegen wollen;189 der Motivkomplex um die Brille, die zerbricht, zu dem auch das Schreiben mit der Nase auf dem Blatt Papier, der Brief an die Eltern und der strenge Lehrer gehören;190 das Motiv des Aufsatzes, der seinem Verfasser harsche Kritik des Lehrers und den Spott der Mitschüler einbringt;191 das Motiv des Sonntagsspaziergangs;192 Stephens orientierungsloses Wandern durch die Straßen erinnert an Jeans Stolpern durch die Straßen von Nantes nach dem Besuch bei Theo;193 das Bild des Sandkorns194 und andere Elemente.195 Stets variiert Rouaud jedoch den Prätext in verschiedenartiger Form und Intensität: Dies geschieht meist dadurch, dass er ein Motiv zu einer ganzen Erzählsequenz von größerem Umfang erweitert, Elemente verändert oder anpasst, mit Humor und Ironie auflädt. Auf diese Weise werden seine Romane im Ergebnis zu einer sehr subjektiven gemacht, in der mit Geschick und Können an der literarischen Tradition weitergearbeitet wird. Auch wörtliche Zitate haben eine klare Echowirkung und fungieren im Sinne eines Textgedächtnisses. Eine besonders offensichtliche Passage gibt es im zweiten
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Siehe ausfuhrlicher zum Fußballspiel unten Kapitel 5.2. Siehe James Joyce: A portrait of the artist, p. 51 und MO, 51. Gespräch zwischen dem Direktor des Internats und Stephen Dedalus: siehe James Joyce: A portrait of the artist, p. 154/155. Auch Rouaud thematisiert den «monde de soutanes», d. h. die unpraktischen langen schwarzen Roben der Kleriker: MO, 57. In CA, 48 greift Rouaud dieses Thema wieder auf. James Joyce: A portrait of the artist, p. 41, p. 50, p. 57. Cf. MO, 86/87. James Joyce: A portrait of the artist, p. 79/80. Cf. MO, 72-78. James Joyce: A portrait of the artist, p. 62. Ibid., p. 86. Cf. MO, 221. James Joyce: A portrait of the artist, p. 132: «a tiny grain of that sand». Cf. MO, 223: «[...] ce grain de sable dans la conscience [...]». Auch der Dumas-Roman Le Comte de Monte-Christo, den Stephen liest (James Joyce: A portrait of the artist, p. 62), taucht im Werk Jean Rouauds wieder auf. Er wird bekanntlich in Rouauds Roman Des hommes illustres in einer szenischen Version aufgeführt.
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Kapitel von Le monde ä peu pres. Jean wird in einer Stunde vom Lehrer mit Fragen getriezt: Et la reponse suscitee tombe comme on donne sa täte ä couper: du cocotier. Bravo, triple idiot, quadruple andouille, quintuple buse, cent milliards de fois ä recopier: et moi je descends de l'äne, ä tous les modes, tous les temps, toutes les personnes, dans toutes les langues, afln de revöler au monde entier que le plus haut sommet de la betise culmine ä quelques metres au-dessus du niveau de la mer, au college Saint-Cosmes, Saint-Nazaire, Loire-Atlantique, Bretagne, France, Europe, Terre, Systeme solaire, Voie lactee, Univers. (MO, 56/57) Unumwunden ruft Rouaud hiermit eine Passage aus Α Portrait of the artist auf, den der Joyce-Kenner auch sofort wiedererkennt: Zu offensichtlich ist die bewusste Ironisierung der Situation in Le monde ä peu pres und die Parodierung des Joyceschen Textes. Im Portrait of the artist fehlt hingegen jede Ironie. Stephen sitzt in der «study hall», grübelt über eine philosophische Frage nach und sehnt sich nach den allerdings noch weit entfernten Weihnachtsferien: He opended the geography to study the lesson; but he could not learn the names of places in America. Still they were all different places that had different names. They were all in different countries and the countries were in continents and the continents were in the world and the world was in the universe. He turned to the flyleaf of the geography and read what he had written there: himself, his name and where he was. Stephen Dedalus Class of Elements Clongowes Wood College Sallins County Kildare Ireland Europe The World The Universe196 Wieder einmal verändert der Autor ein Quasi-Zitat in seiner ursprünglichen Wirkungsästhetik völlig, löst es aus dem originären Zusammenhang, travestiert und parodiert es damit in sehr offensichtlicher Weise. Es besteht, das sollten die vorhergehenden Seiten zeigen, ein enger Dialog zwischen Rouaud und dem Portrait of the artist as a young man. Allerdings profitieren nur die Kenner des Joyceschen Werks von diesem semantischen Mehrwert, der durch das intertextuelle Verweisen entsteht. Es wird auch hier wieder einmal deutlich: Rouauds Romankonzeption ist die eines ausgeprägten und sehr gekonnten Spiels mit Texten und Gattungsmodellen. Dies wird auch und besonders bei der Betrachtung der intertextuellen Bezüge zwischen Rouaud und Gustave Flaubert offensichtlich.
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Ibid., p. 15/16.
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Flauberts Madame Bovary und L'Education sentimentale als intertextuelle Folie in Le monde ä peu pres Rouaud verweist in mehreren Romanen auf das Modell Gustave Flaubert. Des hommes illustres und Pour vos cadeaux sind nach Le monde ä peu pres diejenigen Werke, in denen die intertextuelle Relation zu Flaubert am deutlichsten wird. Aber auch in Les champs d'honneur wird man fündig. Bevor hier auf das dritte Werk (MO) und seine zwischentextliche Beziehung zu Flauberts Romanen Madame Bovary und vor allem L 'Education sentimentale detaillierter eingegangen wird, seien noch kurz einige der Verweise auf Flaubert erwähnt, die vor allem in Les champs d'honneur, Des hommes illustres und Pour vos cadeaux auftreten. Die hier hergestellten Bezüge werden vom Autor selbst gestützt: Jean Rouaud bekennt sich, wie schon bemerkt wurde, offen zur Vorbildfunktion, die der Verfasser der Education sentimentale für ihn hat. Erst kürzlich hat er diesen Tatbestand in seinem poetologischen Werk La desincarnation deutlich unterstrichen. 197 Es geht im folgenden also darum, diese produktive Rezeption im Romanwerk Rouauds nachzuvollziehen. Bereits eine kleine Szene im ersten Roman Rouauds spielt als Quasi-Zitat auf Flauberts Roman um Frederic Moreau an: «Dans l'ombre du grand acacia, son fauteuil de rotin attend grand-pere» (CH, 48). Wenngleich Rouaud in der zitierten Passage eine Bezugnahme auf Claude Simons kurz vor Les champs d'honneur erschienenen Erinnerungsroman L 'acacia nahelegt, 198 ist der Satz doch sehr wohl auch als Verweis auf eine Szene aus der Education zu lesen. Für den intertextuellen Bezug auf den Roman über die Revolution von 1848 spricht nämlich der parallele Satzbau und die fast vollständige Wortgleichheit. Bei Flaubert heißt es über Frederic: «II s'assit sur le banc, ä l'ombre du grand acacia». 199 Hier spielt Rouaud, wie oben bei James Joyce schon einmal bemerkt, mit einem doppelten Bezugsrahmen. In Des hommes illustres verweist Rouaud verdeckt, gleichsam auf einige Motive aus Flauberts Ehebruch-Roman. Mit der Erwähnung der «capharnaüms aux senteurs multiples», in denen wie in alten Tagen neben Speck auch «de la poudre et des dentelles» (HO, 34) feilgeboten wurden, verweist er auf das «caphamaüm» des Apothekers Homais und auf den Laden des Händlers Lheureux in Madame Bovary. Im letzteren deckt sich die Frau des Arztes Bovary ja bekanntlich mit etlichen Kleidungsstücken und Tüchern ein und verschafft sich in jenem Kabuff des Apothekers am Ende des Romans das tödliche Pulver, mit dem sie sich vergiftet. Auch auf das Leitmotiv des Fensters aus demselben Werk Flauberts wird in Rouauds zweitem Roman Bezug genommen. In der Madame Bovary ist, wie Erich
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DE, 21-52. Siehe auch Andre Clavel: «J'ai quitte mon kiosque äjournaux, et j'ai voyag6». In: Les Editions de Minuit (ed.), Dossier de presse Des hommes illustres, Paris, Les Editions de Minuit, 1993, p. 10/11. Und auch das Ausgraben des Leichnams verweist auf Simons Roman. Die intertextuellen Verweise auf Claude Simon sind ebenfalls zahlreich und aussagekräftig. Gustave Flaubert: L'Education sentimentale, p. 105. 265
Köhler feststellt, das Fenster stets «Symbol des Ausblicks der Sehnsucht nach einer anderen Welt»200 und bringt das nicht stillbare Verlangen Emmas nach einem anderen Leben zum Ausdruck. Der Flaubert-Leser Rouaud weiß um diese leitmotivische Funktion des Fensterblicks und nimmt auf sie Bezug, allerdings verformt er dieses Motiv wieder in ganz eigener Weise. Mehrfach kommt denn auch in Bezug auf den Vater der Blick aus dem Fenster vor: Zuerst in der Agonieszene, in der Joseph zusammenbricht und kurz darauf stirbt; hier blickt die Tante Marie erwartungsvoll durchs Fenster, um die Ankunft des Arztes gleichsam zu beschleunigen, doch wird sie von der Rohrkonstruktion Josephs aufgehalten: sie stößt sich an einer Metallröhre den Kopf (HO, 112). Der intendierte Fensterblick kommt zwar nicht wirklich zustande, ist jedoch trotzdem voller tragischer Symbolik. Das Fenster ist symbolisch zum Todesemblem geworden: Die andere Welt, das Reich des Todes, ist nah. Remi wird geweckt, öffnet sein Fenster und tritt so in Verbindung mit der tragischen Familie. Und auch der verspätet eintreffende Arzt - er hat die als Weckruf an sein Fenster (!) geworfenenen Kiesel nicht gehört - kann nichts mehr für den Vater tun. In einer Szene, die gegen Ende des Romans situiert ist, greift der Erzähler das Motiv des Fensterblicks auf. Aus der motivischen Parallele entsteht eine bedeutungsvolle Situation. Der junge Joseph sieht diesmal selbst gedankenvoll aus dem Fenster (HO, 149). Sein Blick trifft auf ein kleines Zicklein. Doch es steckt mehr hinter dieser Sicht aus dem Fenster. Liest man die beiden Fensterszenen im Zusammenhang, wird eine neue Bedeutungsebene möglich: Implizit deutet der Erzähler an, dass in Josephs Blick eine gewisse Todesahnung liegt; eine Lebenstragik, die sich bereits früh zeigt und später schicksalhaft wird, ist Joseph eigen und verbindet sich in dieser Motivwiederholung zu einem schicksalhaften Element. Einen weiteren motivischen Bezug201 zu Flaubert gibt es in Des hommes illustres mit der Prozession zu Fronleichnam (HO, 88-91). Denn er bezieht sich auf die gleiche religiöse Feierlichkeit, die auch am Ende von Un cceur simple vorkommt. Subtil sind wieder einmal die motivischen Anspielungen und Umgestaltungen: Das inhaltliche Material von Flaubert wird verformt und so eine ironische Wirkung erzielt, die bei Erkennen der intertextuellen Bezüge noch größer ist. Das bei Flaubert nur in einem Vergleich angedeutete «troupeau sur du gazon»202 wird bei Rouaud zum
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Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte derfranzösischen Literatur. Das 19. Jahrhundert II, Stuttgart, Kohlhammer, 1987, p. 94. Auch andere motivische Bezüge, wie die Kritik an der Berufsgruppe der Ärzte, welche in den Romanen Rouauds hervortritt, verbinden diese mit dem Werk Flauberts. Der Bezug auf Rousseau und dessen Ärzte-Kritik ist hier natürlich ebenfalls gegeben. Inwieweit hier auch Molieres Mediziner-Satiren als Folie fungieren, kann nicht näher beleuchtet werden. Die hohe Dichte des Moliere-Bezugs vor allem auch in späteren Werken, wie etwa La desincarnation, lässt vermuten, dass Rouaud auch Molieres Hieb gegen die Ärzte weiter- und neugeschrieben hat. Des weiteren taucht der Roman Les mysteres de Paris von Eugene Sue mehrfach in Flauberts L'Education sentimentale (p. 257, 306) und dann auch bei Rouaud wieder auf (HO, p. 118). Gustave Flaubert: Trois Contes, Paris, Presses Pocket, 1989, p. 62.
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wirklichen «troupeau de vaches» (HO, 91), die auf der für den Umzug benutzten Straße dann auch ihre materiellen Spuren hinterlassen: in Form von Kuhfladen, in die der Pfarrer Bideau zur großen Erheiterung der anwesenden Gläubigen ohne es zu merken hineintritt. Bideau, der die Monstranz trägt, ist ein Echo des Flaubertschen «Bedeau», der das Kreuz trägt. Die Schmalz-Statue und die Krippe aus Gänserillettes, die als Verzierung der Monstranz dienen, verweisen ironisch auf den ausgestopften Papagei Felicites, der auf dem reposoir herumgetragen wird. Die «petales de roses» bei Flaubert werden in Random aber meist durch «copeaux de bois diversement colores» (HO, 88) ersetzt: Für richtige Blüten ist es zu früh, denn die bretonische Flora - man erinnert sich dabei an die Passagen über den Regen in Les champs d 'honneur - ist noch nicht weit genug gediehen. Rouaud übernimmt Elemente Flauberts, verformt und ironisiert sie und baut sie mit eigenen Zusätzen so in die gesamte Szenerie ein, dass ein humorvolles und witziges Portrait der etwas eigentümlichen, bisweilen skurrilen Bewohner von Random entsteht. In Pour vos cadeaux sind ebenfalls einige deutliche intertextuelle Bezüge zu finden. Emile, der Onkel des Erzählers, ist eine Synthese aus Flaubertschen Erzählelementen. Emiles Fußleiden - «une claudication de naissance qu'aucune operation ne parvint ä resoudre» (CA, 52) - ist ein Echo der schlimmen Fußerkrankung des Hippolyte aus Madame Bovary, die wegen der Operation und der stümperhaften Nachbehandlung durch Charles Bovary zur Amputation führt. Emiles «[c]heveux gomines lisses en arriere» (CA, 53) erinnern an das Leitmotiv der Pommade im gleichen Werk. Dort sind es die Haare Rodolphes, die Emma betören: «[...] eile sentait le parfum de la pommade qui lustrait sa chevelure». 203 Die Anspielung ist sehr gut versteckt, lässt sich aber doch erkennen. Denn noch ein weiteres Detail macht Emile zu einer Figur, die gleichsam dem Werk Flauberts entsprungen zu sein scheint. Emile überblickt von seinem Uhrmachergeschäft das Leben im Dorf: Er profitiert so von seinem «petit theatre de la rue» (CA, 53). Deutlich legt Rouaud hier eine Bezugnahme zu Flaubert an. Denn auch in der Madame Bovary ist das Beobachten des dörflichen Lebens vom Logenplatz des eigenen Fensters aus Ersatz für eine abwechslungsreiche Unterhaltung: «Emma etait accoudee ä sa fenetre (eile s'y mettait souvent: la fenetre, en province, remplace les theatres et la promenade) [.,.]». 204 Dieses Quasi-Zitat verdeutlicht den intertextuellen Gehalt der Figur des Emile und unterstreicht Rouauds Absicht, seine Werke durch absichtsvolle Anspielungen und (zum Teil freie) Bezugnahmen in die Nachfolge des Meisters aus Croisset zu stellen. 205
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Gustave Flaubert: Madame Bovary, Paris, Presses Pocket, 1990, p. 187. Ibid., p. 165. Weitere Hinweise auf die intertextuelle Ästhetik lassen sich in Bezug zu Flaubert in Rouauds Pour vos cadeaux finden. Hier wäre die Figur der Madeleine Paillusseau zu nennen, die in einigen Details wie ihrer Fürsorge und der jahrelangen Hingabe an die häusliche Arbeit an Felicite aus Un cceur simple erinnert (CA, 21). Auch das Leitmotiv des blauen Papiers, das in der Education sentimentale vorkommt, gilt es zu nennen: Das blaue Papier, das Mutter und Vater Rouaud (CA, 34) für die Korrespondenz verwenden, verweist auf die «cahiers de papier bleu» (Gustave Flaubert: L 'Education sentimentale, p. 183) des Banquiers Dambreuse. 267
Doch kommen wir nun zu den intertextuellen Relationen zwischen Le monde ä peu pres und Werken Flauberts, vor allem zu den Romanen Madame Bovary und L'Education sentimentale. Thematische und motivische Bezugnahmen sowie Anspielungen sind auch in dem dritten Roman Rouauds häufig. Er spielt wie schon bei den intertextuellen Bezügen zu Joyce und seinem Künstlerroman auch in Hinblick auf Flaubert mit Elementen der Gattung des Entwicklungs- bzw. Adoleszenzromans. Flauberts Education steht mit ihrem Untertitel Histoire d'un jeune homme für die Geschichte um Jean Pate: Auch Le monde ä peu pres erzählt in seinem thematischen Hauptstrang die emotionale Entwicklung eines jungen Mannes im Adoleszenzalter. Strukturelle und an Flaubert gemahnende Elemente wie die Herkunft aus der Provinz, das Universitätsstudium, das verpasste Rendez-vous bzw. die enttäuschende Liebesbeziehung zu einer Frau, gekoppelt mit der Demonstration und der Revolution in den Straßen, die reveries des Protagonisten, die «passion inactive» 206 sowie die Passivität und Melancholie des Helden, die Zufallsabhängigkeit seines Handelns 207 - all diese Merkmale erinnern in Le monde ä peu pres an wichtige Handlungselemente in der Education.20* Daneben finden sich aber auch Hinweise auf den ersten großen Roman Flauberts. Eine Bemerkung über das öde Leben auf dem Land: «cadre etroit triste, sans fantaisie, impose par la vie locale» (MO, 114) ist neben der Beschreibung eines typischen französischen Dorfes auch als Verweis auf die Sicht Emma Bovarys auf ihr Leben in Yonville lesbar: Emma empfindet das zurückgezogene Landleben, das ohne angenehme Unterbrechung, eben «sans fantaisie», verläuft, als eine schicksalhafte Einschränkung, eben als einen «cadre etroit triste»; dieser öffnet sich für sie erst an dem Tag, an dem sie und Charles zum Ball eingeladen werden. Diese intertextuelle Anspielung ist sicherlich weniger konkret, liegt aber so fern nicht, bedenkt man, dass Rouaud ein ausgesprochener Kenner Flauberts ist und auch sehr versteckte Anspielungen macht. Auch andere Motive wie die veillee du cadavre (MO, 93-99) sind als Echo und Referenz auf Flaubert gestaltet, wobei der Intertext nur vorsichtig angedeutet wird. Einige kleine Details verweisen jedoch auf den Realisten aus der Normandie - und machen deutlich, dass hier durchaus mehr als nur Gleichheit des realen Substrats besteht. Die Witwe des verstorbenen Joseph erhält im verdunkelten Schlafzimmer («volets interieurs [...] fermes») den Besuch von Freunden und Verwandten. Zahlreiche
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Cf. dazu Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert II, p. 115-117. Siehe zum Thema und zur Bedeutung des Zufalls in der Education Erich Köhlers Studie zum literarischen Zufall (Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, Frankfurt am Main, Fischer, 1993, p. 56-59). Daneben gibt es kleine spielerisch eingestreute Details, die eine intertextuelle Relation zu Flauberts Werk aufzeigen: So verweist etwa der Name Praslin, den der ehemalige Schulkamarad einmal anstelle des richtigen Lehrernamens Fraslin nennt (MO, 126), ebenfalls auf die Education, wo Praslin der Name einer Herzogin ist (Gustave Flaubert: L'iducation sentimentale, p. 308).
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Stühle stehen im Halbkreis um das Bett herum («disposes sur les trois cötes du lit»), fast wie in einem «petit theatre existentiel»: Representation permanente de trois jours et quatre nuits, eclairee ä l'ancienne par deux bougies, posees sur les tables de chevet encadrant la tete du lit, dont la cire fondue noyait en gouttelettes perlees le pied des bougeoirs. (MO, 94) Der Aufführungscharakter der Trauer wird vom Erzähler unterstrichen, und nicht jeden der Mitspieler dieses «impromptu tragique» (MO, 96) hält es gleich lang auf der Trauerbühne: Manche der weniger involvierten Trauergäste lassen ihren weniger trauervollen Träumereien freien Lauf, nachdem sie sich in die dunkle Ecke des Zimmers verzogen haben. Der Erzähler, der durch die Beileidsbekundungen einen Stoß an Erinnerungen bekommt (MO, 95), fügt die Totenandacht ein in eine lange Traditionslinie: «Car les choses ont peu evolue sur le front de la mort: la meme flamme depuis la nuit des siecles [...]» (MO, 94). Subtil schreibt der Autor Rouaud diese Traditionslinie im Literarischen aus und zeigt dieses Phänomen der longue duree in literarischer Form: indem er Detailparallelen etabliert und nur kleine Veränderungen im Vergleich zu Flaubert macht. Die entsprechende Szene der Totenandacht in Flauberts Madame Bovary ist insgesamt sehr ähnlich, mit deutlichen Parallelen im Dekor (zwei Kerzen, Wachstropfen, Stuhlkreis). Auch hier spielt sich die Szene in einem dunklen Raum ab, und auch bei Flaubert spielen manche Trauerbesucher ihre Trauer nur und langweilen sich im Grunde nur bei dieser sozialen Pflichtveranstaltung: [...] deux grands cierges brülaient au chevet du lit [...]. Le soir il [Charles Bovary, J. Ο. M.] refut des visites. II se levait, vous serrait les mains sans pouvoir parier, puis on s'asseyait aupres des autres, qui faisaient devant la cheminee un grand demi-cercle. La figure basse et le jarret sur le genou, ils dandinaient leur jambe, tout en poussant par intervalles un grand soupir; et chacun s'ennuyait d'une fapon demesuröe; c'ötait pourtant ä qui ne partirait pas. [...] La cire des cierges tombait par grosses larmes sur les draps du lit. Charles les regardait brüler, fatiguant ses yeux contre le rayonnement de leur flamme jaune.209 Wie in der Passage in Rouauds Roman wird auch schon bei Flaubert ein Strom von Erinnerungen an die Verstorbene ausgelöst, der keine Grenzen kennt («abondance de souvenirs» 210 ): Charles Bovary seufzt laut auf, als ihn eine Geste des Apothekers an seine verstorbene Frau erinnert. Liest man Rouaud mit Flaubert, scheint sich zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nicht allzu viel verändert zu haben in der Totenwache und bei den Kondolenzformen. Andeutungsvoll spielt Rouaud auf Flauberts Gestaltung der Szene in dessen Ehebruchsroman an, geht spielerisch mit dem Material um - bei kleineren Abweichungen wie etwa in der Beschreibung der Wachstropfen gut zu sehen - und etabliert so einen intertextuellen Bezug, der diese Relation durch deutliche Ähnlichkeiten unterstreicht.
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Gustave Flaubert: Madame Bovary, p. 388-392. Ibid., p. 386. 269
In Le monde a peu pres steigert sich das intertextuelle Spiel mit Elementen aus Flaubertschen Werken im Vergleich zu den anderen Romanen Rouauds deutlich und greift auch auf andere Werke Flauberts als die Education aus. Die Episode um die belle noyee ist voller Echos aus dem Werk des großen Vorgängers. Jean ironisiert zum Beispiel die angekauten Nägel seiner ersten Liebe, der Schwester des Schulkamaraden, mit dem er Tischtennis spielt. Jeans Makel, seine Brille, findet bei ihr ein Pendant: «Mais je tenais ma revanche: j'avais remarque qu'elle se rongeait les ongles, ce qui, ä mes yeux, nuisait a son genre de beaute [...]» (MO, 116). Deutlich spielt der Erzähler hier ex negative auf die makellosen Nägel der zukünftigen Madame Bovary an, die Charles am Anfang des Romans bei der jungen Frau bemerkt.211 Überhaupt erinnern die Frauenfiguren aus Le monde ä peu pres an die weiblichen Figuren aus den Frühwerken sowie an Madame Bovary und Madame Arnoux: Theo und die belle noyee sind quasi eine intertextuelle Synthese aus den großen Frauenfiguren Flauberts. Wenige, aber bekannte und deutlich signalisierte äußerliche Details und Episoden schaffen hier den intertextuellen Bezug. So sind die dunkelbraunen Haare und die dunklen Augen bei der beängstigend schönen Schwester des Schulkamaraden (MO, 110) als intertextuelles Augenzwinkern in Richtung der tragischen Titelfigur Flauberts zu verstehen, deren «yeux noirs» hervorstechende Attribute ihrer Person sind. Auch der blaue Rock der Ertrunkenen («sa jupe marine», MO, 121) erinnert an die schöne Frau des Arztes «en robe de merinos bleu».212 Die Bade- und Strandszene (MO, 130/131) verweist dagegen als entferntes Echo auf die badende Marie der Memoires d'un fou bzw. mittelbar auf das autobiographisch bedeutsame Modell Elisa Schlesinger. Marias lange schwarze Haare und ihre Schönheit werden in dem Jugendwerk beschrieben, und, während sie im Meer badet, ist sie das Beobachtungsobjekt des sichtlich beeindruckten Erzählers. Die Bade- und Strandszene verweist aber auch auf Elisa Schlesinger. Die um einige Jahre ältere Frau des Unternehmers Maurice Schlesinger lernte Flaubert als junger Mann in Trouville am Strand kennen. Sie beeindruckte ihn tief, blieb «[...] ein ganzes Leben lang Flauberts Idealbild [...]»213 und fand bereits in seinen Jugendwerken Memoires d'un fou und Novembre Eingang. Elisa Schlesinger war, wie man weiß, ebenfalls die Vorlage für die Madame Arnoux der Education sentimentale.214 Auch die Schwester des Schulkamaraden ist älter als Jean, wenn auch nur um ein Jahr (MO, 110). Die Figur der Theo ist wie die der belle noyee eine Synthese, eine Art intertextuelles Merkmalsbündel Flaubertscher Figuren. Dies wird an den körperlichen Erkennungsmerkmalen der jungen Schönen deutlich. Theo wird mit folgenden Attributen
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«Charles fut surpris de la blancheur de ses ongles. Iis etaient brillants, Ans du bout, plus nettoyes que les ivoires de Dieppe, et taill6es en amande» (ibid., p. 35). Ibid., p. 34. Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert //, p. 114. Siehe hierzu ibid.
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belegt: «front bombe», «cheveux sombres, presque noirs, lächement tires en arriere, maintenus par son ruban rouge», «Les yeux noirs petillaient [...]», «les sourcils non epiles», «bout du nez legerement arrondi», «mouche minuscule comme une poussiere sombre qui se serait posee sur la pommette », «la levre superieure boudeuse et le menton qui ovalisait le visage», «un long cou gracile» (MO, 195/196). Sie ähnelt in manchen Elementen sehr der Maria aus den Memoires d'un fou bzw. der Prostituierten Marie in Novembre. Letztere besitzt Attribute, die mit den Merkmalen Theos übereinstimmen oder in ihr zum Teil leicht verändert wiederkehren: die große Schönheit, die «cheveux noirs, lisses et nattes sur les tempes, reluisaient comme l'aile d'un corbeau», der golden-rötliche Kamm im Haar, der auf le ruban rouge verweist, die großen gebogenen Augenbrauen («grands sourcils arques»), die Lippe («levre chaude)», das Muttermal («grain de beaute»). 215 Zu offensichtlich sind diese zum Teil parallelen oder leicht abgewandelten, zum Teil auch kontrastiven Charakteristika, als dass man sie als zufallig bezeichnen könnte: Rouaud verweist bewusst auf Flauberts Jugendwerk. Die gesamte amouröse Szene mit Theo kann vor der Folie der Liebesnacht aus Novembre gelesen werden: Einzelne Elemente, die bei Rouaud wiederauftauchen, sind in der Erzählung Flauberts schon vorhanden: etwa die «rideaux», die zurückweichende Frau («eile se degagea de moi» 216 ), die in die Höhe gestreckten Arme, der Kuss auf die Schulter, das Bett. Geschickt spielt Rouaud hier mit dem Material, passt an oder verändert. So küsst bei Flaubert der Protagonist die Schulter Maries, bei Rouaud ist es umgekehrt und noch gesteigert: Der Kuss wird zum schmerzhaften Biss Theos. Der von Flaubert geschilderte Liebesakt nebst Orgasmus wird bei Rouaud dezent verschwiegen, gleichwohl angedeutet. 217 Zurück zur intertextuellen Folie der Education. Auch die Träumereien von der geliebten Frau ist eine Parallele, eine bewusste Bezugnahme Rouauds auf Flauberts Helden Frederic und auf die Phantasien, die Madame Amoux bei ihm anregt. Der junge Jean füllt seine Träume mit dem Bild der belle noyee: «Le soir meme, eile rentrait dans mes reveries» (MO, 115). Jeans «cinema interieur» (MO, 120) spielt einen züchtigen, sensiblen Liebesfilm auf einer einsamen Insel: [...] retires du reste du monde, nous pouvons nous blottir l'un contre l'autre. De l'amour je n'imagine pas au-delä d'osös baisers sur la bouche, et me contente de longues et tendres etreintes, de mots doux et de regards echanges. (MO, 120)
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Gustave Flaubert: (Euvres //, ed. Albert Thibaudet/Ren6 Dumesnil, Paris, Gallimard, 1975, p. 500-503. Ibid., p. 502. Ein weiterer intertextueller Bezug auf Novembre findet sich in den Szenen, die den kurzen Besuch des Schulkameraden bzw. Gyfs und das Nichterkennen des letzteren schildern. Rouaud adaptiert hier eine Passage aus Flauberts Erzählung, die ein zufälliges Treffen nach zehnjähriger Pause von zwei Schulkamaraden erzählt die sich dann kurz darauf aber wieder gelangweilt trennen. Rouaud vermengt es in den Figuren Gyf und ancien congenere. Dies wird bereits in Novembre behandelt: Siehe ibid., p. 532. 271
Die Protagonisten dieser keuschen Liebe werden herausgeputzt: Jean macht sich selbst größer und stattet sich mit einem Adlerauge aus; seine Geliebte hat das lästige Nägelkauen aufgegeben, zudem einen etwas größeren Busen bekommen, bleibt aber ansonsten recht nah am Original. Die Phantasie des Träumers hütet sich allerdings vor Nacktszenen: «Je n'ose pas encore la deshabiller. Meme en reve, au moment d'avancer la main, je trouve le moyen de rougir» (MO, 122). In dieser Passage versteckt der Erzähler in Le monde a peu pres eine Bezugnahme auf den Intertext der Education und verweist auf Frederic Moreaus Traumphantasie, die dieser mit Madame Arnoux hat: [...] il ne pouvait se la figurer autrement que vetue, - tant sa pudeur semblait naturelle, et reculait son sexe dans une ombre mysterieuse. Cependant, il songeait au bonheur de vivre avec eile, de la tutoyer, de lui passer la main sur les bandeaux longuement, ou de se tenir par terre, k genoux, les deux bras autour de sa taille, ä boire son äme dans ses yeux! 218
Spielerisch ist der Verweis auf Flaubert und löst beim kundigen Leser ein Schmunzeln aus, da wie immer bei Rouaud letztlich die Ironie obsiegt. Im Referieren auf eine Liebesphantasie mit Referenzcharakter wird der starke wirkungsästhetische Kontrast, der zwischen beiden Situationen und beiden Werken besteht, hervorgehoben: Flauberts von Bürgerhass, misanthropischer Hoffnungslosigkeit und desillusionierter Ironie stark geprägtes Bild einer passiven Generation wandelt sich bei dem Minuit-Autor, der seine eigene Education sentimentale als naive Jugendphantasie präsentiert und ohne eine derartige Weltanschauung ausgestaltet, zu offener Komik und Humor. Auch das Spiegelmotiv in Le monde ά peu pres ist ein kontrastiver Bezug auf die Education sentimentale und untermauert die ironische Absicht des Erzählers. Jean betrachtet sich zweimal im Spiegel (MO, 111/112, 197). Jedesmal sieht er sich mit einem Bild konfrontiert, das er nicht akzeptieren kann.219 Er findet sich entweder durch seine Brille oder durch Regen und Kälte entstellt, also nicht gerade gutaussehend; er schaut auch sofort wieder verschämt weg und bringt dies mit Selbstironie zum Ausdruck. In ganz anderer Weise hingegen realisiert sich eine parallele Passage in dem Roman von Flaubert: Frederic Moreau, der glaubt, seine Bestimmung in der Malerei gefunden zu haben, da diese ihn Madame Arnoux näher bringt, sieht in sich siegesgewiss eine glänzende Zukunft angelegt. Sein Blick ist, ganz anders als bei Jean, triumphierend: «Son visage s'offrait ä lui dans la glace. II se trouva beau, et resta une minute ä se regarder».220 Mit dieser kontrastiven Form intertextueller Relation unterstreicht Rouaud die Ironie und den spielerischen Umgang mit dem motivischen Material des Referenztextes.221 218 219
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Gustave Flaubert: L'Education sentimentale, p. 81/82. Ein Identitäts- und Adoleszenzproblem wird von Rouaud mit diesem Motiv eingeflochten, auf das noch einzugehen ist. Siehe hierzu Kapitel 5.2. Gustave Flaubert: L'Education sentimentale, p. 59. Eine versteckte Anspielung auf den Text von Flaubert ist auch die Verwendung des Begriffs «ton hidalgo» (MO, 219), mit dem Jean Thöos spanischen Freund Diego bezeichnet, hier aber von jedem Zynismus entschlackt wird und selbstironisch ist. Cf. die ganz andere Stilebene des Begriffs in Gustave Flaubert: L 'Education sentimentale, p. 84.
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Es finden sich weitere markante Anspielungen auf Leben und Werk Flauberts. Jean wird von Theo über die Fortschritte an seinem Manuskript befragt. Doch Jean hat eigentlich anderes im Sinn, als über Literatur zu reden: Er sitzt mit Theo allein in einem Cafe und denkt nun nicht unbedingt gerade an seine literarischen Aktivitäten. Er ist froh, endlich einmal in Kontakt zum anderen Geschlecht zu treten, zum wirklichen und prallen Leben, und schneidet jede Frage nach dem Schicksal Jean-Arthurs ab. Denn: «L'ecriture est une affaire de solitude» (MO, 198). Und davon hatte er in seinem bisherigen Leben wahrlich genug genossen. Diese Äußerung ist gleichzeitig ein intertextueller Verweis, eine Anspielung auf die Eremitenexistenz, auf das abgeschiedene Literatenleben Flauberts in seinem Haus in Croisset und auf dessen kompliziertes Verhältnis zu Frauen. Flaubert hatte sich bekanntlich bewusst für diese Lebensform abseits des sozialen Rummels einer Großstadt entschieden. Die Anspielung kann auf so manchen Satz aus der Korrespondenz Flauberts bezogen werden. Stellvertretend sei eine aussagekräftige Briefpassage zitiert. In einem Brief an Elisa Schlesinger schreibt Flaubert am 14. Januar 1857: Je vais done reprendre ma pauvre vie si plate et tranquille, oü les phrases sont des aventures et oü je ne recueille d'autres fleurs que des metaphores. J'ecrirai comme par le passe, pour le seul plaisir d'ecrire, pour moi seul, sans aueune arriere-pensde d'argent ou de tapage.222 Jean, der Erzähler und Protagonist aus Le monde ä peu pres, möchte nun aber keine Metaphern mehr pflücken, sondern ins und pralle Leben eintauchen. Wenn man diese Szene mit Theo tiefer auslegen will, könnte man Jeans Wünsche mit der Flaubertschen Briefstelle weiterdenken: Jean will andere, wirkliche pflücken. Geht man zu weit, wenn man in Jeans aktuellen psychischen Haushalt eine Deflorationsphantasie hineininterpretiert? Diese Auslegung der emotionalen Ambitionen Jeans kann gestützt werden durch den Verweis auf eine erhellende Passage aus dem bereits mehrfach hinzugezogenen autobiographischen Jugendwerk Flauberts; und so wird auch wieder ein mittelbarer und versteckter intertextueller Verweis auf Novembre zutagegefördert. Die symbolische Gleichsetzung von Frau und Blüte ist in Flauberts Text merklich unterstrichen: «Et puis la femme etait partout, j e la coudoyais, je Yeffleurais [!], j e la respirais, l'air etait plein de son odeur [...]». 223 Das Verb deflorer folgt im übrigen nur wenige Seiten später. 224 Doch statt mit Theo endlich eine » (HO, 128), «j'ai rien fait, m'sieun> und «c'est pas moi, m'sieur» (MO, 49), «d'la merde» (MO, 53), «on t'Fra la peau» (MO, 191). Hier imitiert Rouaud zwei für das gesprochene Französisch typische Merkmale: Im frangais parle bleibt das e caduc oft stumm, und der Negationspartikel ne fallt meist weg. 257 Diese nähesprachlichen Eigenarten verweisen bereits auf das zweite Prinzip, das die Romane charakterisiert: das der Variation und Mischung.
3.2.1.2 Prinzip der Variation und Mischung Ein markantes Merkmal des mnemonischen Schreibens bei Rouaud ist auch das unter Variation und Mischung gefasste sprachlich-stilistische Prinzip. Periphrastische Wendungen, die Begriffe variantenreich umschreiben, sowie die starke Mischung der stilistischen und sprachlichen Register zeigen diese Eigenschaft der Werke auf. Periphrasen finden vor allem in der Beschreibung des Vaters des Erzählers eine sehr frequente Verwendung: Eine ganze Phalanx von Umschreibungen bezieht sich auf ihn.258 Diese reinste Form der sprachlichen Umsetzung des Variationsprinzips wird in gleicher Art auch auf den plötzlichen Tod Joseph Rouauds am 26.12.1963 angewendet 259 Immer wieder zeigt sich diese rhetorische Figur, auch in Bezug auf andere Personen, die dem Erzähler nahe stehen. Symptomatisch ist allerdings nahezu immer der spezifische Zusammenhang mit dem Tod, der mit der periphrastischen Wendung einhergeht. So wie in der folgenden Szene, in der Jean am Grab seines Vaters steht: Au plus profond de soi, dans ce reduit de silence οΰ ne parviennent qu'amoindries les rumeurs de la vie, dans cet espace ritif aux evidences et aux preuves par neuf oü se meuvent d'etranges pensies, dans ce coeur du coeur d'oü partent un flot de paroles embrouillees ä l'adresse de l'embusque, tout se passe comme si son corps glorieux etait intact. (MO, 69)
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Cf. zu den Merkmalen der Nähesprache im Französischen auch insgesamt Peter Koch/Wulf Oesterreicher: Gesprochene Sprache, p. 150-165. Siehe die folgenden Belege: «la figure du manque» (SC, 183), «Γabsent difinitif» (MO, 252), «neveu disparu» (CH, 100; cf. auch CH, 136), «grand disparu» (MO, 16), «mon pere trap tot en alte» (MO, 16), «le disparu» (MO, 68), «grand absent» (MO, 75), «l'ami volage» (MO, 93), «le grand jeune homme triste» (HO, 117), «celui qui venait de nous quitter», «le sosie de Blum» (CH, 186), «ce grand homme aux cheveux blancs» (MO, 162), «Joseph, tu es fou» (HO, 173), «notre grand jeune homme courageux» (HO, 173), «Joseph le magnifique» (HO, 20), «le grand Joseph» (HO, 23), «Jo le dur» (HO, 172), «ce pere episodique» (HO, 107), «le trop tot disparu» (CA, 13) etc. «Le coup du 26 decembre» (CH, 105), le drame, «un lendemain de Noel» (HO, 102), «la mort brutale» (MO, 83), «ce fatal lendemain de Noel» (MO, 90), «cette bome monumentale du lendemain de Noel» (MO, 91), «sa disparition pricoce» (MO, 193), «son depart pricoce» (CA, 28), «d6ces subit» (CA, 28), «ce lendemain de Noel tragique» (SC, 38), «la faillite du h6ros» (SC, 138). Siehe femer SC, 150, 180, 182. Dies ist das zentrale Leitmotiv der Romane; siehe hierzu auch unten Kapitel 3.2.1.3.
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Dieses Beispiel zeigt, wie diese Form der Umschreibung bei Rouaud als Stilmittel eingesetzt wird, um die Situation zu einem dichten poetischen Ausdruckskomplex zu steigern, der die emotionale Beteiligung des Erzählers spürbar macht. Geht man zu weit, wenn man die Periphrase als die Figur der Trauer bezeichnet: als diejenige sprachliche Form, die der Erzähler besonders immer dann anwendet, wenn er der langjährigen Trauer über den Tod des Vaters Ausdruck zu verleihen sucht? Mir scheint dies keineswegs übertrieben, sondern vielmehr sogar eine psychologisch zu motivierende Erzählweise zu sein: Lange Jahre hat der Erzähler schweigend nach Worten gesucht; nunmehr, beim Schreiben seiner Familiengeschichte, strömen sie aus ihm heraus, und er findet immer neue Ausdrucksweisen für seine Trauer, was sich in dem aufgezeigten Reichtum der Ausdrücke unzweifelhaft widerspiegelt. Rouauds Schreiben wird durch diese und durch zahlreiche andere rhetorische Wendungen und Figuren zu einem sehr stark variierenden und poetischen Erzählen. Seine Texte sind in dichter Form rhetorisiert und zeigen eine Vielzahl von gekonnt eingesetzten Stilmitteln, die die Werke zu lyrischer Prosa machen. 260 Denn die Romane Rouauds besitzen geradezu einen musikalischen, sonoren und rhythmischen Charakter, der sich dem immensen sprachspielerischen und sprachschöpferischen Willen des Autors verdankt. Das nonchalante Nebeneinander und die bewusste Mischung von sprachlichen Registern und verschiedenen Stilebenen zeichnen Rouauds Romane des weiteren besonders aus. Auch hierin kann das Prinzip der Variation und Mischung erkannt werden. Die Lexik ist durch zahlreiche, nahezu ausschließlich diaphasische und diastratische Sprachvarietäten 261 markiert und schöpft dadurch aus sehr reichhaltigen Quellen. Diaphasische Varietäten sind etwa durch Wörter aus dem frangais familier262 dem frangais litteraire263 dem frangais populaire264 oder dem frangais vulgaire vertreten. 265 Auffallig ist hier vor allem, dass diese verschiedenen Varietäten häufig miteinander direkt in Kontakt stehen, unmittelbar zusammen auftreten: «un vulgaire cancre» (MO, 55) mischt das familiäre «cancre» mit dem vorangestellten «vulgaire», das eher als didactique oder litteraire aufzufassen ist. Eine vergleichbare Mischung liegt im folgenden Zitat vor, bei dem der für Rouaud typische, aber seltene und literarische subjonctif du plus-que-parfait angewendet und mit einem familiären Ausdruck gekoppelt wird: «on n'en eüt jamais fait tout un plat» (MO, 23). 260
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Hier sind neben den bereits genannten rhetorischen Figuren und Stilmitteln zu finden: Assonanzen (HO, 74/75 etc.), rythme ternaire (HO, 61, 68, 75/76; MO, 80, 209; CA, 19), Anaphern und Parallelismen (HO, 45,157 etc.), Apostrophen (HO, 177; MO, 199), Antithesen, Oxymora und ähnliche Konstruktionen: «un ftic-frac avec cle» (HO, 84), «ma carte du ciel ä usage teirestre» (MO, 222), «bonnets blancs yeux noirs» (MO, 220), Hyperbeln, Euphemismen (MO, 181, 205, 207, 229, 231, 236, 250; CA, 20). Siehe hierzu Peter Koch/Wulf Oesterreicher: Gesprochene Sprache, p. 13. Als Grundlage der Analyse der Sprachvarietäten dient der Petit Robert von 1991. HO, 59 («C'etait de l'hebreu»), 60 («laius»); MO, 24, 32 («le hic»), 44 («6poustouflant»), 114, 116, 212, 216, 249, 253/254; CA, 14, 17, 29, 55. HO, 70, 129; MO, 57, 158. HO, 84; MO, 57, 158. Siehe «baiseurs de fond» (MO, 229). 287
Überhaupt verweisen die kunstvollen und langen hypo- und parataktischen Reihungen, die Häufung von vollständigen und auch verkürzten Partizipien an Satzanfängen, 266 die Tempora, 267 die Inversionsstellung in Fragen und Aussagesätzen 268 und die an wissenschaftliche Textgattungen erinnernde Wortbildung durch adjektivische Komposition 269 als schriftsprachliche Markierungen auf den spezifisch literarischen Charakter der Rouaudschen Werke. Dieser wird immer wieder durch die sprechsprachlichen Merkmale 270 unterminiert, was zum an Komik und Humor reichen sowie ironisch-distanzierten Habitus der Werke beiträgt, die mit diesem hybriden Stil sehr kreativ umgehen. Ein Paradebeispiel für das Prinzip der periphrastischen Variation und der sprachlich-stilistischen Mischung liefert der Erzähler, der in Le monde ä peu pres eine (extrem ironisch gestaltete) Liebesszene umschreibt und hierfür eine periphrastische Reihung von stilistisch disparaten Begriffen auswählt: [...] les ebats des acteurs, ou vecteuis physiologiques, ou pr6suppos£s m6diumniques, ou baiseurs de fond, dans leur grande sc£ne d'amour (ou imbrication sexuelle, ou fusion cellulaire, ou cantate spatio-temporelle). (MO, 229)271 Gerade diese unmittelbare Nähe der Stilunterschiede bzw. -mischungen - diese Passage zeigt ein frangais litteraire, bei dem fachsprachliche neben vulgären (baiseurs) Ausdrücken stehen, - sowie die Häufung der Periphrasen wirken im hohen Maße komisch. Der Erzähler, der im deutlichen Abstand zu den Handlungen auf der Ebene der histoire erzählt, deutet seine Erinnerungsbilder aus der Jetztperspektive des Erzählvorgangs, des discours heraus und bewertet sie damit im nachhinein ironisch. Bei den diastratischen Varietäten fallen vor allem Fachwortschätze bestimmter Gruppen bzw. Berufssparten ins Auge: Zahlreiche mots didactiques und andere, nicht immer als solche Fachwörter markierte Begriffe aus sehr unterschiedlichen
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HO, 60, 61, 100, 104, 109, 110, 111, 114, 165; MO, 31, 51, 84, 96, 108, 111, 130, 159, 164, 169, 178, 179, 184, 192, 195, 203, 210, 245; CA, 56. Der an sich seltene subjonctif du plus-que-parfait ist bei Rouaud durchaus eine sehr häufig verwendete Form: «(dont grand-pere ne se füt sans doute pas encombri)» (CA, 12), «On peut meme, une histoire semblable se füt-elle produite, entendre son tire en le racontant [...]» (CA, 17). «Mais peut-etre etait-ce une inflexion partagie [...]. Mais sans doute n'avait-il pas trouve Γ entree de la cave et devons-nous le compter parmi les trois mille victimes du jour [...]» (CA, 17). Etwa in Le monde a peu pres «erotico-bucoliques» (MO, 238), «logr6o-am6rindien» (MO, 244), «mongo-aoustinien» (MO, 251), «folklo-ethnographiques» oder «afroprecolombiennes» (MO, 236). Siehe das häufige c'est que oder it y a. Siehe ferner oben Kapitel 3.2.1.1. Siehe hier überhaupt den Anfang des vierten Romankapitels von Le monde ά peu pres mit seinen gehäuften Periphrasen: «son film, ou plutöt sa proposition s6quentielle, ou spectre iconographique, ou fulmination onirique», «la bande-son, ou espace auditif, ou compulsion sonore, ou probldmatique vibratoire», «le cinöaste, ou federateur d'images, ou clarificateur de volumes, ou duplicateur de lumiere» (MO, 229).
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Bereichen wie Sport, Theater, Kino, 272 Recht, 273 Politik, 274 Medizin, 275 Marxismus, Theologie, Zoologie, Seefahrt, 276 Landwirtschaft, Meteorologie bzw. Geophysik, 277 Architektur und Geschichte bzw. Historiographie machen Rouauds Romane zu einem lexikalisch sehr reichen und anspruchsvollen Textcorpus. Die fremdsprachliche Lexik ist allerdings so gut wie nicht existent: Es gibt, in ihrer Zahl sehr gering, verstreute englische, deutsche und spanische Fremdwörter, die unmarkiert im Text erscheinen. 278 Der außer Gebrauch gekommene und extrem spezialistische Wortschatz fällt dagegen schon deutlicher ins Gewicht, mit einigen auffallenden, sehr ausgewählten und als mots rares bzw. mit anciennement (d.h. als Begriffe für untergegangene Gegenstände) markierten Substantiven, die wohl eigentlich ausschließlich im gehobenen Gespräch unter Spezialisten denkbar sind: «noria» (CH, 16), «clepsydre» (CH, 12), «sinagots» (MO, 33). 279 Diese Beispiele belegen nochmals deutlich den an diastratischen und diaphasischen Sprachvarietäten außergewöhnlich reichen Wortschatz der Romane und mithin das in ihnen wirkende Prinzip der Variation und Mischung.
3.2.1.3 Prinzip der Repetition Ein drittes stilistisches Charakteristikum ist das der Repetition: Ein engmaschiges Netz aus thematischen Wiederholungen und Echowirkungen, aus Vorausdeutungen, Textreprisen und Selbstzitaten sowie gehäuft wiederkehrenden zentralen Leitmotiven geben den Werken einen in sich geschlossenen, einen prononciert verdichteten und auch einen musikalisch rhythmisierten Charakter. Anaphern bzw. anaphorische Wendungen und die Wiederholung von Wörtern und Textpassagen sind der sprachliche Ausdruck für dieses Prinzip des Schreibens, das in den Werken Jean Rouauds wirksam ist. Der vierte Roman, Pour vous cadeaux, ist für das Prinzip der Repetition ein besonders eindringliches Beispiel. Er beginnt mit einer Wendung, die zur Anapher wird und sofort das Hauptthema - den Tod der Mutter und Jeans Trauer über diesen Verlust, - und auch das Strukturmerkmal des Werks - die Wiederholung - offenlegt. Der erste Satz lautet: «Elle ne lira pas ces lignes [...]» (CA, 9) und wird an den folgenden zwei Absatzanfangen wiederholt (CA, 9, 10). Sowohl am Ende dieses Romans (CA, 186) als auch als vorangestelltes Motto und als Zitat im fünften
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Belege hierfür: «fondu enchaini» (CH, 19). Etwa «ledit Juju» (MO, 53), «ladite Evolution» (MO, 212). Etwa «ma force de frappe» (MO, 27), ein Ausdruck, der auf de Gaulle zurückgeht. Siehe «orthodromie» (MO, 71), «apres ingestion» (MO, 177). MO, 33. Siehe «troposphere», «stratosphere», «exosphere» (MO, p. 253). Siehe «cet über alles» (CH, 153), «ton hidalgo» (MO, 219; cf. auch MO, 220), «can I have a banana» (MO, 236). Siehe ferner auch unter anderem «ordalie» (MO, 30). 289
Roman (SC, 7, 31) taucht er noch einmal auf. Überhaupt erhält das Ende von Pour vos cadeaux durch die achtmalige, dadurch insistierende Wiederholung des Adverbs apres, das die Zäsur markiert, die der Tod der Mutter gesetzt hat, eine anaphorische Erscheinung, die wie eine religiöse Litanei oder eine Inkantation wirkt: 280 «apres, ce ne sera pas comme avant. Apres [...]. Apres [...]. Apres [...]. Apres [...]. Apres [...]. Apres [...]. Apres [...]. Apres [...]» (CA, 185/186). Auch das Adverb simplement, das der Erzähler gleichsam für das charakteristische Wesensmerkmal seiner Mutter, fur ihr «leitmotiv» (CA, 39) hält, wird zum anaphorischen, insistierenden Motiv, das der Erzähler auf kleinem Textraum anhäuft. Mit diesem Adverb bezeichnet der Erzähler die Lebenskonstante der Mutter und fasst ihr Leben so in einem einzigen Begriff zusammen: «Ce , c'est toi» (CA, 38). Diese Merkmale, die auf der Ebene der Sprache aufgezeigt werden können, weisen gleichzeitig über sich hinaus und finden in der Gestaltung von Themen und Motiven ihre strukturlogische Verlängerung - was wieder einmal den Stilwillen, die Komplexität und sprachlich-inhaltliche Geschlossenheit der Werke Rouauds belegt. Denn das Prinzip der Repetition wird auch auf der inhaltlichen und thematischen Ebene verwirklicht: Die zentralen Szenen aus der Familiengeschichte finden sich leitmotivisch und variantenreich in allen Werken wieder. Die Erinnerung des Erzählers kehrt also, so ließe sich frei nach Jan Assmann sagen, immer wieder zu den fundierenden Momenten und Bildern seiner Vergangenheit zurück. Dieser Umstand wurde, etwa anhand der mnemonischen Bilderstruktur, der Gedächtnishandlungen und der Motive der Zeit- und Lebenssymbolik, zum Teil bereits oben behandelt. 281 Das engmaschige Geflecht von Leitmotiven ist unzweifelhaft die sichtbarste thematische Umsetzung des Prinzips der Repetition. Der Erzähler verweist selbst auf diese repetitive thematische Struktur, wenn er von den Postkarten, die er von seinem Vater erhalten hat, feststellt, was als metafiktionale Stellungnahme über die Struktur seiner Romane zu lesen ist: «toujours les memes leitmotive» (SC, 176). Das wichtigste leitmotivisch wiederkehrende Element sind «la mort de papa» bzw. «un lendemain de Noel» und seine Varianten, d.h. der immer wieder in den Fokus des Erzählers rückende plötzliche Tod des Vaters am 26.12.1963. 282 Kein anderes Handlungselement besitzt diese Dichte und repetitive Frequenz. Es beherrscht als eine Art Erinnerungsmotiv das gesamte Werk wie eine idee fixe, wie ein immer wiederkehrendes musikalisches Kernthema, und erinnert an die motivische Arbeit in einer großen symphonischen Komposition der Romantik: der Symphonie fantastique von Hector Berlioz. 283 280
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Cf. in diesem Zusammenhang auch die repetitive Nennung des Namens Madeleine Paillusseau (CA, 20-26), das dreimal wiederholte «eile ne voulait pas y croire (CA, 42) oder die Repetitionen in Des hommes illustres (HO, 43/44, 45, 59, 157) und in Le monde ä peu pres (MO, 199, 214/215). In dem Kapitel 3.1.1 wurde auf dieses Merkmal bereits an ausgewählten Stellen eingegangen. Siehe ferner oben (3.2.1.2) das zum Prinzip der Variation Gesagte. Siehe hierzu oben Kapitel 3.2.1.2. Der hiermit etablierte Bezug zu Hector Berlioz und seiner Symphonie fantastique ist nicht zufällig: Berlioz benannte das Kernthema seiner Symphonie, eine Folge von in
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Die Beharrlichkeit, mit der der Erzähler immer wieder auf dieses Leitmotiv zu sprechen kommt, legt offen, wie sehr dieses Ereignis für Jean am Anfang seines Schreibens und vor allem im Zentrum allen Erzählens steht. Immer wieder rekurriert er auf diesen Moment: Mal bewusst und in sprachlich expliziter Form, das andere Mal eher beiläufig oder unbewusst und in weniger expliziter Form. Das Motiv wird bereits auf den ersten Seiten von Les champs d'honneur angestimmt, recht zaghaft noch, wie eine zarte Nebenstimme in einer orchestralen Partitur: Fast unbemerkt wird der Tod des Vaters, der bekanntlich ja erst in Des hommes illustres ausführlich berichtet wird, vorweggenommen und geschickt in der Erzählsequenz über den Großvater und seinen 2CV versteckt oder in die Aussage des Bruder Eustache eingebunden. 284 Das Motiv entfaltet sich im weiteren Verlauf des ersten Romans dann aber stetig, wird immer dichter ausgestaltet, d.h. häufiger erwähnt und damit bereits hier zu einem besonders zentralen Thema der Familiengeschichte ausgeprägt. 285 Wie der kurze, aber herbe und aufrüttelnde Einsatz eines Paukisten wirkt das unvermittelt am Kapitelanfang stehende «Apres la mort de papa, [...]» (CH, 85) und kann als erster herausragender Paukenschlag der Erinnerung gewertet werden: So prägnant war das Motiv bisher noch nicht ausformuliert, und so konkret auch noch nicht auf den Erzähler bezogen worden. Nunmehr ist das motivische Material vollständig deutlich vorhanden und wird im weiteren Erzählvorgang immer wieder eingesetzt: mal in ursprünglicher Form («la mort de papa», CH, 105), mal gleichsam in eine andere >, «eboulement», «travail de terrassier» (CH, 92), «champ de fouilles» (CH, 93), «Γβίβνέ stratigraphique des genörations successives» (CH, 138), «notre Pincevent familial» (CH, 139), «ramen[er] ä la surface» (CH, 139), «le d6gel» (CH, 178), «exhum[er] les traces fossiles de cet attachement» (CH, 186), «piles d'annates fossiles» (HO, 26), «strates» (HO, 26), «on döcouvrait un empilement de strates», «decouvrant les sols anciens, les epluchant comme des pelures d'oignons» (CA, 171), «superposfer]» (SC, 131), «couches alluvionnaires», «restaurfer]» (SC, 139) etc. Der Hinweis von Jean-Pierre Dupouy zu Les champs d'honneur: «Le point nodal du roman, c'est Γ exhumation par Pierre, le grand-pere patemel, du cadavre de son frere Emile dans la foret de Commercy» («Le graal exhume. Les Champs d'honneur, de Jean Rouaud». In: Cahiers du CERF XX 9 (1994), p. 47-54, hier p. 47) kann damit als Lektüreschlüssel auf das gesamte Romanwerk übertragen werden. Das archäologische Projekt ist das Symbol des narrativen Erinnems und des Schreibens, das Rouauds Werke ins Wort setzen.
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4. Mais une histoire d'hommes, bien sür.
Der Roman als kulturelles Gedächtnis, Gegengeschichte(n) und fiktionale Metahistorie [...] l'histoire tient une large place dans la culture nationale et dans l'identit6 de chaque citoyen. (Francois Bedarida)1 Tout est aujourd'hui, tout peut etre, tout peut devenir un jour lieu de memoire. (Jacques Revel)2 L'effacement du cadre unitaire de l'Etat-nation a fait sauter le systeme traditionnel qui en dtait Γ expression symbolique et concentree. II n'y a plus de surmoi commdmoratif, le canon a dispani. (Pierre Nora)3 Die Gestaltungsformen, in denen Ereignisse aus der Geschichte in einer Gruppe oder in einer Gesellschaft präsent gehalten, also erinnert werden, geben deutlichen Aufschluss über das Verhältnis, das diese soziale Formation zu ihrer Geschichte, zu ihrem historischen Gewordensein und mithin mit sich selbst und ihrer Gegenwart besitzt: Die Arten und Weisen dieser Re-präsentation von Geschichte offenbaren das Geschichtsbewusstsein einer Gesellschaft. Dabei besitzen die Medien des kulturellen Gedächtnisses - Feste, Zeremonien, Mythen, Romane, Gemälde, Filme, Photos - eine zentrale doppelte Funktion: Sie spiegeln ein bestimmtes Geschichtsbewusstsein, und sie produzieren es. Die Frage, welches Geschichtsbild, welche Selektionsmechanismen und Darstellungsformen dabei zur Anwendung kommen, ist in evidenter Weise eine ganz entscheidende, will man die Form, Funktion und die Wirkungsabsicht des betreffenden Gedächtnismediums erkennen und begreifen. Auch Rouauds Romane werden hier als Medium des kulturellen Gedächtnisses 4 und damit als Generator eines bestimmten Geschichtsbildes und Identitätsdiskurses aufgefasst. Sie sollen im folgenden, mit Hilfe einer neueren und sehr elaborierten analytisch-systematischen Methode und unter Einbeziehung einschlägiger historiographischer Studien, 5 untersucht werden. 1
2
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Francois Bedarida: «Comm6morations et memoire collective». In: Centre R6gional de Publication de Paris/Institut d'Histoire du Temps Present (ed.), La memoire des Frangais. Quarante ans de commemorations de la Secortde Guerre mondiale, Paris, Editions du Centre National de La Recherche Scientifique, 1986, p. 11-13, hier p. 12. Jacques Revel: «Histoire vs memoire en France aujourd'hui». In: French Politics, Culture & Society 18, 1 (Spring 2000), p. 1-12, hier p. 4. Pierre Nora: «L'ere de la commemoration». In: Pierre Nora (ed.), Les lieux de memoire. III: Les France 3: De l'archive ä l'embleme, Paris, Gallimard, 1992, p. 977-1012, hier p. 984. Siehe hierzu die oben gemachten theoretischen Ausführungen (Kapitel 1.4.3). Die Analyse folgt in ihrer Systematik dem Ansatz zur Beschreibung des historischen Romans von Ansgar Nünning (siehe oben Kapitel 2.3). Ferner werden das Modell der lieux de memoire von Pierre Nora und neueste Arbeiten der Geschichtstheorie und Geschichtsforschung hinzugezogen, die in jedem Unterkapitel resümiert werden. 305
4.1
Vom rowan de la nation zur Konjunktur des temoignage memoriel: Anmerkungen zu Gedächtniskultur und Geschichtsbewusstsein in Frankreich Welche Art Geschichtsbewusstsein ist im Rückblick für die französische Gesellschaft bis in die Gegenwart des zuendegegangenen 20. Jahrhunderts charakteristisch gewesen? Der Historiker Jacques Revel widmet sich dieser Frage und schaut rückblickend auf die französische Gedächtnispraxis der letzten rund zwanzig Jahre. Revel betrachtet eine Entwicklung, für die sein Kollege Pierre Nora einen bündigen Ausdruck gefunden hatte, als er diesbezüglich von dem , von der ere de la comm0moration sprach. Nora verstand diesen Ausdruck als treffenden Epochenbegriff und suchte ihn, nachdem die lieux de memoire nunmehr zusammengestellt waren, in einer retrospektiven Betrachtung und Zusammenfassung des Projektes ausführlicher zu beschreiben. 6 An diese Ausführungen schließt Revel an, dessen Gedanken im folgenden kurz zusammengefasst werden. Revel sieht drei für Frankreich heute typische Formen der Gedächtnishandlung. Eine exponierte Form, und bei den zahlreichen über das Jahr verteilten Anlässen wie etwa den bedeutenden Jahrestagen (Geburtstage berühmter Persönlichkeiten, Französische Revolution oder jour de I 'armistice) allenthalben sichtbar, ist das offizielle und öffentliche Gedenken und Feiern eines historischen Ereignisses («commemoration»). Daneben nennt Revel den für Frankreich typischen Sammeleifer, mit dem in diesem Land die Spuren der Vergangenheit zusammengetragen, ausgestellt und archiviert werden («patrimonialisation»): Tout se passe comme si les Francis avaient peu ä peu pris Γ habitude de considerer l'ensemble des traces infiniment diverses de leur experience collective comme un tresor qu'il etait urgent de conserver et de proteger, un fonds qui les enracinait7 Dieses große und weit verzweigte museographische und archivarische Unternehmen, das sich besonders seit dem annee du patrimoine 1980 ausgeweitet hat, belege, so Revel, das unter den Franzosen verbreitete Bewusstsein, in einer Übergangsphase zu leben, in der sie neue Beziehungen zum Phänomen der Zeit ausprägten. Dieses Gefühl lässt sich im übrigen durchaus auch, wie gezeigt wurde, auf andere Länder übertragen. Als drittes Charakteristikum der französischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur führt Revel die «production de memoire et l'instauration de ce qu'on pourrait appeler un nouveau regime de la memoire» 8 an. Die Zeugnis ablegenden Gedächtnisgenres («temoignages memoriels») wie Autobiographien, Memoiren und Erinnerungen hätten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine neue Quantität und
Jacques Revel: «Histoire vs memoire en France aujourd'hui». Dieser bezieht sich auf den Text «L'ere de la commemoration» von Pierre Nora. Jacques Revel: «Histoire vs memoire en France aujourd'hui», p. 2. Ibid. Diesem dritten Punkt entsprechen also ziemlich genau, in Jan Assmanns Theorie, die Medien des «kulturellen Gedächtnisses» und die immer weitere Kreise ziehende Bewusstheit und Präsenz dieses Gedächtnisses in der Gesellschaft. 306
vor allem eine andere Qualität erlangt. Diese beliebten Textsorten etablierten damit ein neues Verhältnis zur Zeit. Denn: «C'est, en quelque sorte, tout notre rapport au passe qui tend ainsi ä etre reconstruct ä travers sa dimension memorielle». 9 In der sozialen Praxis würden sich diese drei Tatsachen miteinander zu einem für die Gesellschaft grundlegenden Mechanismus («mouvement de fond») verbinden. Dabei kommt es für Revel zu einer konsequenzenreichen Entwicklung: Das Gedächtnis der Gesellschaft tendiere dazu, sich in viele unterschiedliche, divergierende Erinnerungen aufzuspalten, fast jeder werde nun zu seinem eigenen Historiker. Dadurch verliere das nationale Gedächtnis an Verbindlichkeit und Bindungskraft, und, so der französische Historiker, auch eine sehr alte Tradition gehe damit ihrem Ende entgegen: die der französischen Nationalgeschichte. 10 Pierre Nora hatte diese Entwicklung als einen Paradigmenwechsel vom nationalen hin zu einem patrimonialen Modell bezeichnet: als «une metamorphose de beaucoup plus vaste ampleur, celle d'une France passee en moins de vingt ans d'une conscience nationale unitaire ä une conscience de soi de type patrimonial». 11 Wie sah dieses traditionelle Konzept der Nationalgeschichte aus, und wie war das französische Geschichtsbewusstsein alter Prägung gestaltet? Revel skizziert diese Entwicklung und systematisiert seine Bemerkungen, indem er sie um drei Begriffskomplexe gruppiert: identite, continuite, communaute. Diese drei Begriffe beschreiben die Zeit- und Geschichtserfahrung, die in Frankreich für Jahrhunderte gültig war: [...] la France entretient avec son pass6 d'etranges rapports, tout ä la fois imperieux et inquiets. Depuis le Moyen Age, le roman de la nation a ete en charge d'une triple fonction: il lui revenait d'affirmer une identite; il a servi ä garantir une continuitö; il a conforte une communautö de destins. Dans les moments heureux, l'histoire de France se donnait volontiere en exemple. Dans le malheur et l'adversitö, eile pouvait servir de recours - et eile a effectivement servi de recours.12 Dieser roman de la nation wurde wieder und wieder erzählt und durch moderne Massenmedien, Literatur, Bilder und die zentralisierte, allgemeine Schulbildung in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet. Die anthropomorphe Vorstellung der französischen Nation als Domina Francia ihrerseits entsteht im hohen Mittelalter und schreibt sich bis ins 19. Jahrhundert hinein fort. Jules Michelets Satz «la France est une personne» aus seinem Tableau de la France von 1831 ist für diese Konstante des französischen Geschichtsbewusstseins wohl der Referenzbeleg. Für diese Entwicklungsphase des französischen Geschichtsbewusstseins sind einige zentrale Mythen bedeutsam, auf die im Rahmen der französischen Nationenbildung verstärkt zurückgegriffen wurde und die sich um die folgenden Ereignisse ranken: die Schlacht von Alesia mit der Niederlage des Vercingetorix gegen Cäsar, die
9 10
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Jacques Revel: «Histoire vs memoire en France aujourd'hui», p. 3. Ibid., p. 4. Pierre Nora: «L'ere de la commemoration», p. 992. Jacques Revel: «Histoire vs memoire en France aujourd'hui», p. 4. 307
Schlacht von Tolbiac und die anschließende Taufe Chlodwigs, die Befreiung von den Engländern durch Johanna von Orleans, die Französische Revolution und die Schlacht Napoleons bei den Pyramiden, die den Ruhm des zukünftigen Herrschers über Europa begründet. 13 Der Gedanke der Kontinuität zwischen den Vorfahren und den Franzosen der Jetztzeit, also die Idee einer ununterbrochenen und rückführbaren genealogischen Reihe gehört ebenfalls zum festen und zentralen Inventar französischer Geschichtsrepräsentation, wie Revel anhand des in der Dritten Republik eingeführten Lehrbuchs Petit Lavisse darlegt. Diese kontinuierliche Dauer zwischen Galliern, Franken und modernen Franzosen erscheint als ein bewahrenswertes Gut. Gerade wegen dieser langen ruhmreichen Geschichte mache es fiir die Franzosen auch Sinn, sich als eine Gemeinschaft zu denken und zu fühlen. Für diese Idee der communaute sind wiederum Michelet und zudem Ernest Renan die Gewährsleute Jacques Revels. Eine Vorstellung sei über lange Zeit herangereift und habe durch die Revolution eine dynamische Unterstützung erhalten: die Überzeugung (und mithin die Forderung) nämlich, dass sich Frankreich seit seinen Anfängen als auserwählte Nation begreifen könne, als «Christ des nations», und dass Frankreich aufgrund seiner Einzigartigkeit - «legitimite unique» und «avantage incomparable» 14 - als Modell für die Menschheit fungieren könne. Dieser Geschichtsdiskurs wurde vor allem in und seit der Dritten Republik über den Schulunterricht popularisiert und ist untrennbar mit der nationalen Idee verbunden: «Ainsi s'est construit, dans la duree, un discours d'evidence qui est devenu inseparable de l'affirmation nationale». 15 Aber gerade diese Zeiten des national gesinnten französischen Geschichtsbewusstseins seien heute vorbei. Revel spricht von einer «crise de l'identitd historique fran^aise», 16 Nora benennt diesen Prozess in einem größeren historischen Rahmen und führt ihn auf die nationalen Krisen und die Kriege des 20. Jahrhunderts, die Frankreich im Mark getroffen haben, zurück: Le delitement de l'histoire comme mythe porteur du destin national s'est oper6 par paliers successifs, tout au long du siecle, sous le coup des gueires dont Tissue en a, par trois fois, mine un element central: 1918, l'Europe siniströe; 1945, la fausse victoire; 1962, la fin de la projection mondiale. Mais il tient aussi, et surtout, ä la dissociation progressive des deux notions cles - nation et civilisation - , que les Lumieres avaient etroitement associees, dont la Revolution avait r6alis6 la soudure et que la pödagogie republicaine avait enracinees.17 13
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Cf. zu dieser Auswahl und Reduktion auf diese fünf Mythen Danny Trom: «Frankreich. Die gespaltene Erinnerung». In: Monika Flacke (ed.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998, Berlin, Deutsches Historisches Museum, 1998, p. 129-151. Diese Auswahl lässt sich auf praktische Zwänge (Ausstellung) zurückfuhren und ist daher nicht unbedingt als repräsentativ zu bezeichnen. Für ein vollständigeres Bild siehe die Arbeiten von Pierre Nora. Jacques Revel: «Histoire vs memoire en France aujourd'hui», p. 6. Ibid. Ibid., p. 7. Pierre Nora: «L'ere de la commänoration», p. 1007.
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Auf der Vorstellung von der Geschichte Frankreichs als einem Marsch der Vernunft beruhte der französische Universalismus, das in alle Welt exportierbare Exempel der grande nation. Diese zivilisatorische Idee wurde in dem an Katastrophen reichen 20. Jahrhundert allerdings zur Genüge als folgenschwerer Mythos entlarvt. Frankreich befindet sich heute in einer Phase, in der die Suche nach Gewissheiten und nach Antworten aus der Geschichte nicht mehr mit dem heute überholten «roman» bzw. «vieux recit de la nation», also dem traditionellen und nationalen Geschichtsdenken beantwortet werden könne, wodurch eine tiefe Unsicherheit («malaise profond») entstehe, gleichzeitig aber eine damit korrelierende Konjunktur an Identitätsbedürfnis.18 Es stelle sich für die Menschen nämlich die Frage, welche Geschichte heute überhaupt noch erzählt werden könne. Frankreich, so versteht es Nora, sehe seine Zukunft zunehmend allein in einer Suche nach dem Gedächtnis, in einem «dechiffrement de sa mdmoire».19 Die Nachfrage nach anders gestalteten Geschichtserzählungen, die aus dieser historischen Situation des gewandelten Geschichtsbewusstseins erwächst, kann damit als Begründung für die markante heutige Zeittendenz ausgemacht werden: Der Wunsch nach Verstehenkönnen führe zum «desir de memoire»20 und sorge für die beschriebene «explosion de memoire brute».21 In den folgenden Abschnitten (4.2.1,4.2.2,4.2.3) werden zuerst die wesentlichen Geschichtsereignisse und -prozesse, die die Romane thematisieren, vor dem Hintergrund der konkreten Ereignis- und Gedächtnisgeschichte dargestellt und, angelehnt an das Modell von Ansgar Nünning, untersucht, bevor dann im abschließenden Kapitel ihr Funktionspotential und ihr Umgang mit nationalen Mythen und lieux de memoire analysiert werden wird und die Romane damit auf die theoretischen Konzepte von Jan Assmann, Pierre Nora und Ansgar Nünning bezogen werden (4.3.1, 4.3.2, 4.3.3). 4.2 ... ce siecle qui nous accoutumait ä ditruire ...
Französische Geschichte(n) zwischen Kriegerdenkmal, Bombenkeller und Dachboden Obgleich in den Romanen Rouauds ein komplexes und reichhaltiges Bild der französischen Geschichte entsteht, lassen sich drei Hauptgebiete herausarbeiten: die Grande Guerre, die annies noires en France und die Beschreibung von anthropologisch und mentalitätengeschichtlich relevanten Prozessen der longue duree, die am Geschichtsraum der Bretagne, genauer der Loire-Inferieure dargestellt werden. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, bilden die Werke eine Geschichte des zerstörerischen 20. Jahrhunderts, welche um drei symptomatische Orte gruppiert
18
19 20 21
«C'est ä l'emergence de ce present historisi qu'est due Emergence correlative de l'» (ibid., p. 1009). Ibid., p. 1010. Jacques Revel: «Histoire vs mimoire en France aujourd'hui», p. 9. Ibid., p. II. 309
werden kann, die als verdichtete Symbole für diese Geschichtsdarstellung fungieren: Kriegerdenkmal, Bombenkeller und Dachboden.
4.2.1 Monument aux morts de la Grande
Guerre
4.2.1.1 Der Erste Weltkrieg in Frankreich: Geschichte und Gedächtnis Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 3. August 1914 durch die Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Frankreich stand am Ende einer krisengeschüttelten und spannungsreichen Phase imperialistischer Politik. Er stellte nicht zuletzt die folgenschwere Konsequenz eines langjährigen politisch-diplomatischen Machtspiels sowie expansions- und rüstungspolitischer Rivalitäten dar, die sich bis Sommer 1914 zu einem dynamischen europäischen Rüstungswettlauf und einer Vertiefung der Gegensätze gesteigert hatten. Es entstand zudem durch die Situation auf dem Balkan und das österreichische Staatsproblem in ganz Europa eine explosive Mischung, die eine politische Lösung der Konflikte unmöglich gemacht hatte. 22 Das Deutsche Reich, das nach der Entlassung Bismarcks (1890) von seiner klug unterhaltenen Außenpolitik der Machtbalance abgerückt war und als Weltmacht im Konzert der Großen mitmischen wollte, trat triumphierend auf die politische Weltbühne und beging dort schwerwiegende Fehler, die zu seiner Isolierung und zur Destabilisierung des europäischen Vertragssystems führten, keinesfalls aber die imperialistischen Wünsche des Reichs zum Stillstand brachten, im Gegenteil, was den Konflikt vor allem mit England verhärtete. Das deutsch-französische Verhältnis war darüber hinaus durch das Problem Elsass-Lothringen belastet. Im Frankreich des Vorkriegsjahrzehnts trafen die Drohgebärden des kraftstrotzenden und machtvollen Nachbarn im Osten auf eine öffentliche Meinung, die zwar nicht unbedingt von Kriegstreibern, so doch aber bereits seit geraumer Zeit mehr oder weniger deutlich von stark nationalistisch gesonnenen politischen Meinungsmachern beherrscht wurde. 23 Die die innenpolitischen Kämpfe nicht ohne offene Polemik anheizenden Nationalismen eines Maurras, Barres oder Peguy, die die alten und neuen innerfranzösischen Frakturen verstärken halfen, stießen auf eine politische Lage, in der nunmehr auch die katholischen Gruppen sowie die gemäßigten Nationalisten, Revanchisten und Patrioten mancher politischer oder literarischer Kreise, von denen es den letzteren zum Teil allein ums Eisass und um Lothringen, die provinces perdues, ging, zu einer Reaktion veranlasst und dabei in die Arme einer Action frangaise getrieben wurden, die einen exklusiven Nationalismus vertrat.
22
23
Cf. Karl Dietrich Erdmann: Der Erste Weltkrieg, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1980 und Karl Erich Born: Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1988. Francois Caron: La France des patriotes de 1851 a 1918, Paris, Fayard/Le Livre de poche, 1993, p. 578/579 und p. 601/602.
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Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kam es angesichts der äußeren Lage zu einer Situation, in der auch die französischen Pazifisten und Antimilitaristen, deren Motive und Einstellungen im übrigen sehr kritisch beäugt und von anderen mit Patriotismus beantwortet wurden, den Ernst der Bedrohung durch den deutschen Gegner nicht mehr übersehen oder verdrängen konnten. Die nationale Frage rückte also in der Vorkriegszeit nun auch in ihrer externen Bedeutung ins absolute Zentrum der französischen Politik und machte die patriotische Haltung zum gemeinsamen Nenner vieler Gruppierungen. 24 Und so wurden die politischen Differenzen in ideologischen und grundsätzlichen Fragen, die in den verschiedenen politischen Lagern bestehen blieben und fortwirkten, in der Partei übergreifenden Union sacree, die am 4. August 1914 beschlossen wurde, zugunsten einer nationalen Verteidigungsgemeinschaft beiseite geschoben. 25 Ohne blinden Enthusiasmus und wohl eher überrascht und konsterniert, gleichwohl den Krieg als nationale und patriotische Pflicht und Aufgabe akzeptierend, erkannten die meisten Franzosen die Notwendigkeit, in einen ihrer Meinung nach gerechten Kampf zu ziehen. Für weite Teile der Gesellschaft bestand zwischen humanistischpazifistischer und antimilitaristischer Haltung einerseits und dem nun geforderten heroi'sme andererseits kein wirklicher Argumentationsbruch, wie vor allem der Fall der Grundschullehrer verdeutlicht. 26 Denn die die Nationen der Welt erziehende Republique frangaise marschierte, so das weit verbreitete Selbstverständnis, auf dem Weg der Menschenrechte, der Vernunft und des Rechts nämlich auch im Namen der gesamten Menschheit in den Krieg. 27 Die ersten militärischen Aktionen wurden auf französischer Seite mit wenig taktischem Geschick geführt. 28 Bald schon standen die deutschen Truppen vor Paris und waren weit auf französisches Gebiet vorgedrungen. Aufreibende Stellungskriege und verlustreiche, schwere Schlachten fanden an der Somme, im Artois, in Flandern, im Tal der Yser, in Verdun und in Ypern statt, sie forderten viele Hunderttausend Tote. Dies war der erste Krieg der Moderne auch vom technischen Gesichtspunkt her: Schwere Artilleriegeschütze, Granaten und Schnellfeuerwaffen wurden verwendet und trieben die Zahl der Toten in die Höhe; später kamen Panzer {le char Renault) und Flugzeuge zum Kriegsgerät hinzu, und die Deutschen setzten im April 1915 zum ersten Mal in der Militärgeschichte Giftgas als Kampfmittel ein. 29 24
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«Et pourtant, il y avait au moins une valeur commune, le patriotisme. [...] En rdalite les valeurs patriotiques, dont le point de depart pouvait etre different, itaient k Farrivee un domaine commun ä ces deux France opposees» (Jean-Jacques Becker: La France en guerre (1914-1918). La grande mutation, Bruxelles, Editions Complexe/Collection Questions au XXe siecle, 1988, p. 19). Francis Caron: La France des patriotes, p. 616/617. Siehe femer Jean-Jacques Becker: La France en guerre, p. 22-43. Frangois Caron: La France des patriotes, p. 610/611. Jean-Jacques Becker benennt das Gesellschaftsmodell dieses den Krieg rechtfertigenden Teils von Frankreich mit den Begriffen «verit6, justice, raison, universalisme, droits de Thomme» (Jean-Jacques Becker: La France en guerre, p. 13). Frangois Caron: La France des patriotes, p. 620. Ibid., p. 625. 311
Im ersten Kriegsjahr wurden drei Millionen Soldaten mobilisiert, insgesamt wurden es in den vier Kriegsjahren rund siebeneinhalb Millionen Mann. Knapp eineinhalb Millionen Soldaten (vor allem Infanteristen) und 570000 Zivilpersonen 30 verloren ihr Leben, gut eine Million unter den drei Millionen verletzten Frontkämpfern blieben Invaliden. Die kriegsbedingte Kindersterblichkeit nahm rapide zu, ebenso das demographische Problem und die Problematik des Frauenüberhangs. 31 Dieser vielgestaltige Blutzoll, la saignee, den Frankreich zu zahlen hatte, war immens und verstärkte die sozialen und persönlichen Probleme des Landes und der Menschen in dramatischer Weise. Die Folgen des verlustreichen Krieges waren ein regelrechtes Trauma, eine nationale Katastrophe, die die französische Politik, das religiöse Leben und vor allem das kollektive Bewusstsein der Franzosen geprägt hat: «Les consequences de la guerre sont considerables et pesent sur l'histoire de la France pour des decennies». 32 Diese Folgenschwere des Ersten Weltkrieges wird durch nichts deutlicher belegt als durch die Wahrnehmungsgeschichte und die Gedächtniskultur, die sich in Frankreichs Gesellschaft in ihrem Gedenken an diesen ersten Großkonflikt des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Die Wahrnehmung dieses Krieges und das Gedenken der Toten setzten bereits während der militärischen Auseinandersetzung ein: Die Diskussion über die Organisationsformen der commemoration begann nahezu zeitgleich mit dem Konflikt und stützte sich dabei auf die Erinnerungspraxis, die den Gefallenen des Krieges von 1870/71 galt. Die Bedeutung, die die Toten für den zukünftigen Sieg und für Frankreich haben würden, wurde in der Kriegszeit von allen politischen Lagern und allen Kirchen und religiösen Gruppen hervorgehoben. Diese einmütige Haltung zum devoir de memoire wurde gleichsam zu einer Union sacree commimorative, die sich bis in die Gegenwart in wesentlichen Teilen erhalten hat. 33 War die Wahrnehmung und Darstellung des Krieges (des Kampfes, des Soldaten, des Feindes), etwa bei Jules Payot, Paul Deroulede oder Charles Peguy, vor Ausbruch des Krieges noch von Dynamik (Kampf), Tapferkeit und Männlichkeit (Soldat) sowie extrem einseitiger Negativität des Feindbildes (der Deutsche bzw. Preuße als Bestie) geprägt, 34 so verloren diese Stereotypen bald nach Beginn der
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Fran^oise Thebaud: «La guerre et le deuil chez les femmes franfaises». In: Jean-Jacques Becker/Jay M. Winter [et al.] (ed.), Guerre et cultures. 1914-1918, Paris, Armand Colin, 1994, p. 103-110, hier p. 105. Cf. Fran?ois Caron: La France des patriotes, p. 618/619 und p. 653/654 zu den genauen Zahlen. Die Kindersterblichkeit stieg 1918 bis auf 15%, die Zahl der Witwen betrug 630 000, das Verhältnis der Geschlechter wird auf Jahre hin deutlich unausgeglichen bleiben und die Angst vor einem Ledigendasein als vieille fille unter den Frauen in problematischer Weise erhöhen (Frangoise Thöbaud: «La guerre et le deuil», p. 105). Jean Carpentier/Franpois Lebrun (ed.): Histoire de France, p. 325. Annette Becker: La guerre et la foi. De la mort ä la memoire 1914-1930, Paris, Armand Colin, 1994, p. 110. Zum Gedächtnisort monument aux morts siehe Antoine Prost: «Les monuments aux morts. Culte r6publicain? Culte civique? Culte patriotique?» In: Pierre Nora (ed.), Les lieux de memoire. I: La Republique, Paris, Gallimard, 1984, p. 195-225. Antoine Prost: «Les representations de la guerre dans la culture franpaise de l'entre-
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Feindseligkeiten an Wirkungskraft, obwohl einige Muster auch wider besseres Wissen in den Köpfen derjenigen bestehen blieben, die aus erster Hand vom Krieg berichteten. So fanden sich die erwähnten gängigen Bilder auch in Veröffentlichungen und Texten wieder, die während des Krieges erschienen bzw. entstanden, so etwa in Zeitschriftenartikeln 35 oder Frontzeitungen. Vor allem in der fiktionalen Literatur wurde die Gegensätzlichkeit der Kriegswahmehmung deutlich: Die während des Krieges imaginierten und festgeschriebenen Bilder und Vorstellungen waren sehr heterogen. 36 Einerseits wurden die Mythen und Legenden fortgeschrieben und der Krieg als ein opulentes Dejeuner sur l 'herbe verharmlost, «bei dem man sich vielleicht ein Bein bricht»; 37 und so manches lyrische Werk vom Anfang des Krieges besaß eine starke sakralisierende Tendenz und überhöhte das Leiden in den Schützengräben zum Leidensweg Christi. 38 Andererseits vermittelte die fiktionale Literatur zunehmend weniger heroische Töne und zeigte die wachsende Desillusionierung. Es entstanden realistische Reportagen, nihilistische Satiren und Proteste gegen den Krieg; 39 und es erhoben sich sehr kritische Stimmen, die die genannten Kriegslegenden aufs schärfste dekonstruierten, wie etwa Le feu von Henri Barbusse. 40 Besonders das Erlebnis der verwüsteten Landschaften und des erniedrigten Menschen hat die literarische Wahrnehmung der Nachkriegszeit über den Surrealismus hinaus geprägt und tauchte auch in vielen späteren Kriegsromanen wieder auf. 41 Die Trauer über die Toten fand bei den Hinterbliebenen unmittelbar eine erste Form des privaten Gedenkens, und der Tod nahm im Verlauf der Kriegshandlungen sowie in der Nachkriegszeit einen bedeutsamen Platz innerhalb der Gesellschaft ein. Die Friedhöfe wurden, insbesondere an Allerheiligen, zu viel bevölkerten Trauerorten,
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deux-guerres». In: Jean-Jacques Becker/Jay M. Winter [et al.] (ed.), Guerre et cultures. 1914-1918, Paris, Armand Colin, 1994, p. 13-22, hier p. 14. So zum Beispiel Charles Le Goffics Artikel Dixmude aus der Revue des deux Mondes von 1915. Cf. Hans-Joachim Lope: Französische Literaturgeschichte, Heidelberg, Quelle und Meyer, 1984. Cf. Antoine Prost: «Les representations de la guerre», p. 16. Hans-Joachim Lope: Französische Literaturgeschichte, p. 326. Dies gilt für Romane Jacques Pericards oder für Gaspard von Rene Benjamin. Siehe hierzu auch ibid., p. 326-331. Etwa die Texte von Jean-Pierre Calloc'h oder Jean-Marc Bernard. Siehe hierzu ausführlich Annette Beckers Studie La guerre et la foi sowie Jay Μ. Winter: «Les poetes combatants de la Grande Guerre: Une nouvelle forme du sacre». In: Jean-Jacques Becker/Jay M. Winter [et al.] (ed.), Guerre et cultures. 1914-1918, Paris, Armand Colin, 1994, p. 28-35, hier p. 31. Cf. Hans-Joachim Lope: Französische Literaturgeschichte, p. 327. Cf. Leon Riegel: «Les temoignages romanesques de la Grande Guerre dans les litteratures francaise, allemande, americaine et britannique». In: Görard Canini (ed.), Memoire de la Grande Guerre. Temoins et temoignages, Nancy, Presses Universitäres de Nancy, 1989, p. 31-36, hier p. 33. Cf. Hans-Joachim Lope: Französische Literaturgeschichte, p. 327: «[Das] Erlebnis der vergewaltigten Landschaften, der geschundenen Natur, der verachteten Kreatur wird späterhin literarische Sehweisen bis hin zum Surrealismus beeinflussen». L&>n Riegel hat die romaneske Kriegsliteratur, die zwischen 1910 und 1930 in französischer, deutscher und englischer Sprache erschienen ist, ausführlich untersucht Auf seine umfangreiche Studie Guerre et litterature von 1978 sei hiermit verwiesen. 313
in denen sich eine erste private und spontane Gedächtniskultur ausbildete. 42 Bei der Trauer der Frauen dominierten drei Muster die gesellschaftliche Wahrnehmung: ein christlicher und patriotischer Heroismus einer mater dolorosa, der im stoischen Ertragen des geleisteten Opfers lag; eine die Klassen übergreifende Gleichstellung der Frauen in ihrem Leiden; und, drittens, die Treue zum Mann über dessen Tod hinaus, die sich im Verzicht auf eine erneute Heirat oder in der den Wünschen des Verstorbenen gemäßen Erziehung der gemeinsamen Kinder äußerte. Diesem vor allem von den nationalen Frauenorganisationen getragenen Bild stand das Anti-Modell der veuve joyeuse gegenüber, die sich von der Last des Ehelebens befreit fühlte. 43 Die Realität der gelebten Trauer entsprach allerdings nur selten dem glorifizierten < Vorzeigemodelh der mater dolorosa und belegte, dass der Schmerz über den Verlust des geliebten Menschen die präskriptiven Vorstellungen desavouierte. Die Trauer wurde aber auch in kollektiver Form organisiert und spiegelte die Bedeutung dieses nationalen Traumas: Die Totenscheine erhielten den Zusatz Morl pour la France', die Kriegsauszeichnungen wurden oftmals den Söhnen oder Ehefrauen der Gefallenen feierlich überreicht und die Kriegswaisen, die pupilles de la nation, mit der loi du 27 juillet 1917 anerkannt. Der 11. November wurde 1922 zum nationalen Feiertag erklärt; es wurde ferner ein eigenes Gesetz zum Gedenken verabschiedet: die loi du 25 octobre 1919 über die «commemoration et la glorification des morts pour la France au cours de la grande guerre [I]»; 44 der Staat erkannte die Errichtung von Kriegerdenkmälern offiziell an und subventionierte diese Monumente, welche allerdings auf kommunale oder private Initiativen zurückgingen und von den Gemeinden größtenteils selbst finanziert wurden. Auch der Bau des großen Ossuaire de Douaumont (1920-1927), das zum Gedenken der Toten der Schlacht von Verdun initiiert wurde, war ein solches Privatunternehmen, das allerdings den Beitrag vieler französischer Gemeinden für die Finanzierung benötigte und unter der Federführung der Religionsvertreter stand, so dass es als ein «monument funeraire et religieux» 45 bald nationalen Charakter bekam und Verdun zum sehr bedeutenden lieu de memoire machte. Die kommunalen monuments aux morts, die in nahezu jeder Gemeinde Frankreich zu finden sind und vor denen jährlich die bedeutungsvollen Zeremonien des 11. November stattfinden, in die auch die Schulkinder mit einbezogen werden, sind in Frankreich ein sehr wichtiger Heu de memoire. Es handelt sich beim Kriegerdenkmal um einen Ort des privaten und personalisierten Gedenkens, an dem ein organisierter republikanischer Totenkult gefeiert wird, der im Erinnerungsakt ein doppeltes Identifikationsangebot bietet: Es ist zugleich rühmendes Gedenken jedes einzelnen Toten und Mahnung für die Uberlebenden. 46 42
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Cf. Annette Becker: La guerre et la foi, p. 108/109. Sie spricht hierbei von einer «commemoration », die parallel zur offiziellen entsteht (p. 109). Ich folge hier der Darstellung von Fran^oise Thöbaud («La guerre et le deuil», p. 106/ 107). Zitiert nach Antoine Prost: «Les monuments aux morts», p. 196. Antoine Prost: «Verdun». In: Pierre Nora (ed.), Les lieux de mimoire. II: La Nation 3, Paris, Gallimard, 1986, p. 111-141, hier p. 123. Siehe Antoine Prost: «Les monuments aux morts» (p. 215), der neben dem laizistischen
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Das weitverbreitete Gedenken katholischer Provenienz nahm die Form von Auferstehungswünschen an, die als imitatio Christi, als Sacre-Cceur-Devotion, als Kult der Jungfrau Maria oder als Heiligenverehrung - Jeanne d'Arc, Jungfrau von Lourdes, Therese de Lisieux und regionale Heilige - in den Denkmälern verewigt wurden. 47 Die historischen Orte und Schauplätze des Krieges verankerten sich tief im kollektiven Gedächtnis der Franzosen. Die Schlacht von Verdun 1916, deren Reputation als Martyrium und Höllenfahrt sich bereits während der Kämpfe in der gesamten französischen Armee verbreitete, war zum Inbegriff für die Schrecken und Grausamkeiten dieses Krieges geworden und entwickelte sich in Frankreich zu einem heiligen Ort und bedeutsamen lieu de memoire,48 Die Sakralisierung der Namen von Schlachtfeldern, die zu stark religiös konnotierten Märtyrerstätten erhoben wurden, der Tourismus der Kriegsschauplätze, die Pilgerzüge auf die champs d'honneur, die nach dem Krieg einsetzten, sowie die sich blühend entwickelnde Erinnerungsindustrie, wie etwa in Ypern, trugen ihren Teil zur memoire de la grande guerre bei. 49 Auf diesen verschiedenen Wegen wurde der Erste Weltkrieg zum markanten Bestandteil im Bewusstsein der französischen Gesellschaft und verband die Generationen miteinander: «La guerre a reuni les generations». 50 Die Geschichts- und Gedächtniskultur Frankreichs pflegt diesen Ort des Gedenkens und arbeitet sich immer wieder in vielfacher medialer Form an ihm ab: «La Grande Guerre est done devenue un mythe c'est-ä-dire une croyance collective ancree dans la realite et transformee, deformee, enrichie par la legende». 51 Die Romane Jean Rouauds liefern eine erzählerische Darstellung des Ersten Weltkriegs und der sich an diese Katastrophe anschließenden französischen Gedächtniskultur. Dabei bieten sie gleichsam eine Literarisierung des kollektiven Gedächtnisses, genauer, sie fungieren als kulturelles Gedächtnis im Sinne Jan
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und republikanischen Charakter auch den pädagogischen Aspekt der Zeremonie unterstreicht. Zum Kriegerdenkmal als Ort der Identitätskonstruktion für Überlebende siehe Reinhait Koselleck: «Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden». In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (ed.), Identität, München, Fink, 1979, p. 255-276. Die einst intendierte Identität, so gibt Koselleck zu bedenken, ist allerdings der Verfügungsgewalt der Denkmalstifter entzogen, die Botschaft eines Denkmals ändere sich mit der Zeit, und die einzige Identität, die bleibe, sei die der Toten mit sich selbst (ibid., p. 257). Cf. Annette Becker: La guerre et la foi. Antoine Prost: «Verdun». Cf. Susanne Brandt: «Le voyage aux champs de bataille». In: Jean-Jacques Becker/Jay M. Winter [et al.] (ed.), Guerre et cultures. 1914-1918, Paris, Armand Colin, 1994, p. 411-416; Modris Eksteins: «Michelin, Pickfords et la Grande Guerre. Le tourisme sur le front occidental: 1919-1991». In: Jean-Jacques Becker/Jay M. Winter [et al.] (ed.), Guerre et cultures. 1914-1918, Paris, Armand Colin, 1994, p. 417-428 und Annette Becker: La guerre et la foi, p. 113. Rene Remond: «Mömoire des guerres». In: Pim den Boer/Willem Frijhoff (ed.), Lieux de memoire et identites nationales, Amsterdam, Amsterdam University Press, 1993, p. 265-274, hier p. 267. Der Erste Weltkrieg ist auch heute noch immer sehr präsent im kollektiven Gedächtnis der Franzosen. Leon Riegel: «Les temoignages romanesques de la Grande Guerre», p. 31. 315
Assmanns. In dieser Funktion nehmen sie die Form eines monument aux morts an, in dem mit den Namen der Verstorbenen auch gleichermaßen die Geschichte und das Gedächtnis des Krieges in Papier wurde: So wie die Kriegerdenkmäler des Ersten Weltkriegs das Gedenken der Toten auch anderer Weltkriege gleichzeitig ermöglichen, wird auch der Rouaudsche Text immer wieder für die späteren Toten als Ort des Gedenkens und des Totenkults dienen und ist somit diesem bedeutenden lieu de memoire nachgestaltet. So wie das monument aux morts und der Erste Weltkrieg immer noch im Zentrum französischer Gedächtnispraxis stehen, steht dieser Gedächtnisort auch in den Romanen Rouauds im Mittelpunkt und dient immer wieder als Referenzfolie. Gerade das Faktum, dass die Themen und Motive des Gedenkens an den Krieg in nahezu allen Romanen vorkommen, erlaubt es, die Romane als einen einzigen zusammenhängenden Text zu untersuchen.
4.2.1.2 L 'echo fiinebre de Verdun: Histoire et memoire de la Grande Guerre Der Erste Weltkrieg wird in subtiler Weise zur bestimmenden Folie für das gesamte Romanwerk. Und dies, obwohl die Grande Guerre und das Gedenken daran als geschlossen erzählte Handlung allein in Les champs d'honneur direkt und deutlich präsent sind, dort zudem nur relativ wenige Seiten füllen (CH, 153-171, 172-181) und obgleich dieses Thema in den übrigen Werken stets allein durch einzeln herausgegriffene Aspekte erwähnt wird. Es etabliert sich nämlich in den Werken ein dichtes und bereits mit dem Beginn sich entfaltendes Netz an Verweisen, Echos und Rückbezügen, die die Grande Guerre immer wieder als zentrales Ereignis der Erzählung bestätigen und auf diese Weise erinnern. Eher zögernd und vorsichtig nähert sich der Erzähler in Les champs d'honneur diesem traumatischen Erlebnis, das aber gleichwohl mit dem Beginn wie ein Damoklesschwert über dem Roman schwebt. Es dauert gut fünfzig Seiten bis der Begriff «Grande Guerre» (CH, 64) selbst fallt (über die Darstellungsform wird später zu reden sein). Aber eine sehr subtile Steigerung der Andeutungen erhöht peu ä peu die Präsenz des Krieges im Verlauf des ersten Romans. Schon die Anfangssequenz des Romans ist mit wichtigen Andeutungen gespickt.52 Bereits das früh einsetzende Thema des Regens (CH, 11) verweist auf eines der leitenden Themen und eine der kollektiven Erinnerungen, die in Kriegsdarstellungen immer wieder aufgerufen werden, wie Antoine Prost am Beispiel von Verdun gezeigt hat: Regen und Kälte.53 Eine weitere, allerdings sehr versteckte Bezugnahme auf den Krieg hängt ebenfalls mit dem Regen zusammen: Der Erzähler spricht von den
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Damit ist die Darstellung von Martine Boyer-Weinmann/Danielle Laporte [et β/.]: «Plaisir du texte. Les Champs d'honneur». In: Le frangais dans le monde 242 (juillet 1991), p. 59 in der Form nicht haltbar. Auch die Auffassung, der Krieg sei erst in den späteren Abschnitten das Hauptthema der Erzählung (Geoffrey Woollen: «Jean Rouaud's family history: Rebuilding a war memorial», p. 73), ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Antoine Prost: «Verdun», p. 135.
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von Westen kommenden Regenwolken als einer «noria incessante» (CH, 16). Diese ungewöhnliche Vokabel, die ein Becherwerk zur Hebung von Wasser bezeichnet, ist als sehr hintergründige und subtil kaschierte Andeutung dechiflrierbar: Der Erzähler verweist mit ihr auf eine Äußerung des Marechal Petain, des späteren Oberbefehlshabers der französischen Truppen, der in der Schlacht von Verdun siegreich war. Dieser sprach nämlich von der Truppenrotation, die vor Verdun angewendet wurde, um alle Truppenteile jeweils einmal in diese Schlacht zu schicken und damit gleichermaßen zu belasten, als von einer ebensolchen «noria».54 Mit diesem Begriff verweist Rouaud also auf den lieu de memoire Verdun, versteckt diesen Hinweis aber sehr gut in seinem Text.55 Der Regen wird zum Symbol des Krieges und des kollektiven Todes, was auch die Wendung «invasion de pluies barbares sur les frontieres de Γ Est» (CH, 25) unterstreicht, und erinnert damit an die Grande Guerre. Auch die im Auto des Großvaters auftretenden Nebelschwaden, «un mince filet de fumee», «un nuage dense» (CH, 10), die der Fahrer wegfachelt «pour ne pas etre aveugle» (CH, 10) und der die Beifahrer einräuchern wird: «on descendait verdätre comme d'un train fantöme» (CH, 11), deuten voraus auf die Erfahrung der Frontsoldaten und rufen Bilder auf, die an die Gasattacken des Ersten Weltkrieges erinnern und im Kapitel über die Schlacht bei Ypern später auch konkret beschrieben werden: Die «premiers filets de gaz» und die «horrible tache verdätre» (CH, 155) sowie die «intolerable brülure aux yeux» (CH, 156) sind ein deutlich gesteigertes Echo dieser am Anfang des Romans einsetzenden Motivkette. Erinnert das Auto des Großvaters, «la 2CV», nicht auch äußerlich entfernt an die Form einer Gasmaske? Jedenfalls ist die Parallele zu offensichtlich: In der Gasmaskenszene (CH, 156) breitet sich wie in dem Auto die dense fumee aus. Die sukzessive Steigerung des Rauch-Motivs zum Gas-Motiv erstreckt sich über den ganzen Roman: Handelt es sich am Anfang zunächst nur um Zigarettenrauch, wird der Gasunfall der Tante Marie schon gefährlicher, um sich dann im Kampfgas vollends als tödliche Gefahr zu erweisen. Das deutlich an Claude Simon erinnernde Motiv der «lente decomposition du vivant» (CH, 13) ruft die Kriegsthematik bereits früh auf und kehrt auch als Echo später wieder. Ein Echo, das den Zusammenhang in auffälliger Weise herstellt: «la lente decomposition sur le champ de bataille» (CH, 170) erinnert an die auf den Schlachtfeldern verwesenden Leichen der Soldaten. Immer wieder werden über solche Echos Verbindungen zwischen den Generationen aufgezeigt. Damit legt Rouaud die Bedeutung dieses lieu de memoire offen dar: So, wie die Grande Guerre die Generationen vereinigt hat, sind auch die Familienmitglieder der Rouauds mit den anciens combattants verbunden. Weitere Motive und Bezugnahmen auf den Ersten Weltkrieg folgen der auf den Großvater bezogenen, scheinbar so unverfänglichen Andeutung «la tourmente» (CH, 12), die bereits in der Anfangssequenz den Krieg aufruft; der Erste Weltkrieg wird 54 55
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sich als immer deutlicherer Motivkomplex entfalten und von Kapitel zu Kapitel steigern: «tourmente du siecle» (CH, 27), 56 «ravages de la Grande Guerre», «les hommes rescapes du massacre» (CH, 64) sowie das einsame Leben ohne Ehemann, das die Tante fuhrt (CH, 79), und das Witwendasein Mathildes (CH, 83) verweisen allesamt auf den Krieg und seine sehr lange währenden Konsequenzen: Die beiden letzten Motive spielen konkret auf das Heiratsproblem und den Frauenüberhang an, der sich als soziale Folge des geleisteten Blutzolls für Frankreichs Frauen ergab. Bereits hier, lange vor seiner eigentlichen Thematisierung, werden wesentliche Aspekte des Krieges behandelt. Die Dichte der motivischen und thematischen Präsenz von Kriegsaspekten nimmt im zweiten Teil des Romans (CH, 63-141) stetig zu. Weitere historische Fakten werden als Hintergrundfolie ausgebreitet und erwähnt: Die schwere Epidemie der grippe espagnole, an der Eulalie 1918 stirbt (CH, 122), die als Wunder empfundene Unversehrtheit heimkehrender Soldaten, «Pierre [...] le miracule de Quatorze», sind, wie der gesamte Roman, ein «echo funebre de Verdun» (CH, 122). Die «rue de Verdun» (CH, 133), in der der Großvater seine Bonbons kauft, verweist auf die Benennung von Straßen, die an diesen «haut lieu de la memoire nationale» 57 erinnern soll und ein wichtiges Element der kollektiven französischen Gedächtniskultur darstellt. Eine rue de Verdun findet sich in so gut wie jeder französischen Stadt. Der Referenzbereich Erster Weltkrieg wird in den Romanen insgesamt eingeschränkt und auf die tragischen menschlichen Schicksale fokussiert: auf das Sterben der oft sehr jungen Soldaten und auf die früh gealterten Kämpfer - «ces vieillards de vingt ans» (CH, 156) - , auf die unmenschlichen Schlachten - die «chemins de l'horreur» (CH, 156) - , ihre Langzeitfolgen für die kämpfenden Soldaten und deren Familien und ihre körperlichen und seelischen Auswirkungen auf die Menschen, sowie auf die Erinnerung an den Kampf und auf das Gedenken der Toten. Letzterer Themenkomplex taucht in der Erwähnung des Kriegerdenkmals der Gemeinde Random (CH, 163, 165) ebenso deutlich auf wie in der Erwähnung von Allerheiligen, dem in Frankreich so wichtigen Totengedenktag (CH, 185). Die konkreten militärischen Aspekte werden gegenüber diplomatischen oder politischen ganz in den Vordergrund gerückt. Reale Referenzen auf die Zeit 1914-1918 betreffen ausschließlich die Schauplätze 58 und den Verlauf der Kriegshandlungen. So werden die Schützengräben und die nahe beieinander liegenden Stellungen der feindlichen Armeen genannt (CH, 158, 159, 186/187) und einzelne militärische Fakten explizit herausgestellt: die schwierige und schlechte Versorgung der Soldaten durch die gefährdeten Proviantkommandos (CH,
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Dieser Ausdruck wiederholt sich im folgenden Roman (HO, 119). Antoine Prost: «Verdun», p. 113. Verdun (CH, 122, 133, 176; SC, 185), Commercy, (CH, 122, 135, 170, passim), «Ypres, sur le front de Steenstraat» (CH, 153), das Artois, Serbien, die Dardanellen, die Mame und die Meuse, Eisass und Lothringen, die Argonne und die Yser, Vimy, Dixmude, Les Eparges (CH, 162), «le secteur des Hauts-de-Meuse» (CH, 168), «Lemmes, sur la Voie sacree» (CH, 176), Chemin des Dames (SC, 185).
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168), der Schlafmangel (CH, 159, 168), das Rauchen und Briefeschreiben (CH, 187), der ohrenbetäubende Lärm und der oft tagelange Bombenhagel der Artillerie (CH, 159, 167/168), die von Toten übersäten und gleichsam umgepflügten Felder, auf denen die Leichen im Schlamm versacken oder verwesen (CH, 168, 170) und die Verwendung von Giftgas in Ypern durch die deutsche Armee seit April 1915.59 Die Namen der Generäle, die auf französischer und deutscher Seite den Oberbefehl inne hatten oder für verhängnisvolle militärische Strategien verantwortlich zeichneten, werden ebenfalls genannt: «plan Schlieffen contre plan XVII» (CH, 154), Robert Nivelle (CH, 154; SC, 185), «l'etat major» (CH, 187). Auch die Invaliden beider Armeen, die in der Nachkriegszeit zu den Schlachtfeldern pilgerten, werden thematisiert, ebenso wie die Baracken der Souvenirhändler (CH, 177) und die für den gefallenen Soldaten massenhaft gedruckte image pieuse mit dem patriotischen Text, der dem Roman den Titel gibt (CH, 162/163). Auf die Situation der auseinandergerissenen Familien, auf die Entfremdung zwischen der Ehefrau und ihrem durch die Kämpfe gezeichneten Ehemann, auf das lange Warten, die Entbehrungen und den kurzen Fronturlaub wird Bezug genommen (CH, 166). Das ungewisse Schicksal der verschollenen Soldaten und das jahrelange Hoffen und Bangen der Angehörigen gehören in dieses Kriegstableau hinein (CH, 167-169). Politikernamen und diplomatische oder politische Aspekte des Krieges - etwa solche, die die Regierungsgeschäfte betreffen - werden hingegen gar nicht genannt. An die «tourmente de Quatorze», an das Blutbad des Krieges («le carnage») wird in Des hommes illustres (HO, 119), in Sur la scene comme au ciel (SC, 61) und in Pour vos cadeaux (CA, 55) erinnert, im letzteren Roman wird ebenfalls die «rue de Verdun» wieder erwähnt (CA, 100). Auf die Giftgaswolke wird in Le monde a peu pres noch einmal angespielt (MO, 22). Auch das Schicksal der früh gealterten und sich opfernden Frontsoldaten wird in diesem Werk (MO, 179) und in Sur la scene comme au ciel (SC, 61, 185) ebenso wieder aufgegriffen wie, im zweiten Roman, die Situation der anciens combattants und der Invaliden nach dem Ende des Krieges (HO, 36, 75, 99/100, 164) oder die Rückführung ihrer Leichen (HO, 59). Auch das demographische Problem des Überschusses an Frauen, die keinen Mann zum Heiraten finden konnten, taucht, zum Leitmotiv der vieilles filles ausgestaltet, in diesem (MO, 114) und in einem weiteren späteren Werk wieder auf: «Victimes de la guerre, bien sür, la premiere, qui Ιέ comme ailleurs effeuilla ä poignde les coeurs ä prendre, si bien qu'ä leur retour il n'y en eut pas pour tout le monde» (SC, 60). Das menschliche Opfer, das der Krieg auch bei den Hinterbliebenen gefordert hat, wird thematisiert, wenn der Erzähler in Le monde ä peu pres von den Frauen als den «sacrifiees de l'Histoire» spricht, deren potentielle Ehemänner auf den Kriegerdenkmälern eingraviert stehen (MO, 114). Auch die Gedächtnispraxis wird über das wichtige Leitmotiv des monument aux morts in den späteren Romanen immer wieder aufgerufen (MO, 114; CA, 55). An diesem dichten leitmotivischen Netz zeigt sich, dass die Grande Guerre in allen Werken mit zentralen Aspekten wieder auftaucht und einen sehr ausgeprägten Referenzbereich darstellt. 59
CH, 153-157. Siehe auch oben 4.2.1.1.
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Gemäß des bei Nünning ausgeführten Kriteriums der dominanten Referenzbereiche und Selektionsstrukturen 60 lässt sich für die Geschichtsdarstellung in Les champs d'honneur und den anderen Romanen, die wichtige Themen aus dem Erstling wieder aufgreifen, betreffs der Referenzrichtung ein recht hoher Grad an Heteroreferentialität festmachen. Dabei ist festzuhalten, dass die Selbstreflexivität der Romane insgesamt im Verlauf der Romanserie ständig zunimmt. 61 Die zahlreichen und relativ breit gestreuten Realitätsbezüge verweisen auf kollektive Erfahrungen und generelle Fakten, die, wie oben gezeigt, in der Geschichtsschreibung vorliegen bzw. sich auf belegte Fakten beziehen. Allerdings greifen diese realistischen Referenzen in signifikanter - nämlich geschichtskritischer - Weise auf benachbarte Bereiche, auf andere Wissensbereiche und auf frühere und spätere historische Phasen und ähnliche militärische Ereignisse aus. 62 Der außertextuelle Referenzbereich ist insgesamt dominant auf geschichtliches Geschehen aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit ausgerichtet (und nicht etwa auf die Problematisierung der historiographischen Ebene), d.h. die Erzählgegenstände verweisen auf die res gestae, auf das in Quellen und Augenzeugenberichten dargestellte Sterben, auf nachweisbare Kampfstrategien und auf die ebenfalls historiographisch belegte Erinnerung an die Toten. Die Markiertheit von Fiktionalität erreicht insgesamt einen mittleren Grad: Die Fiktionalität der Darstellung wird in der erzählerischen Beschreibung des Ersten Weltkrieges, wie sie in Les champs d'honneur zu lesen ist, nicht durch übermäßig viele metafiktionale Hinweise oder besonders bewusste und starke diegetische Brüche explizit und offensichtlich gemacht. Sie erscheint gleichwohl in impliziter Weise doch relativ deutlich, denn die Kriegsschilderungen werden in sprachlich eindringlicher Form, also mit spezifisch literarisch-fiktionalen Mitteln, 63 gestaltet; auch die kritischen, zynischen und ironischen Kommentare und achronologischen Hinweise, die einen kritisch reflektierenden Erzähler zu erkennen geben, verweisen als die Illusion durchbrechende Fiktionalitätsindikatoren auf diesen mittleren Status. Die Metafiktionalität nimmt zudem in den letzten zwei Romanen deutlich zu.
60 61 62
63
Cf. oben Kapitel 2.3.2. Hierauf wird in Kapitel 5 gesondert eingegangen. Hier ist die Erwähnung von wissenschaftlichen Erfindungen und Entdeckungen zu nennen: Louis Pasteurs Pasteurisation und die chemischen Elemente Gallium, entdeckt von Lecoq, und Germanium, das deutsche Chemiker gefunden haben (CH, 153). Der Erzähler referiert auf den «Combat des Trente» (CH, 153), ein Duell von je dreißig Soldaten, das im Erbfolgekrieg in der Bretagne 1351 stattfand, sowie auf die Schlacht von Fontenoy am 11. Mai 1745, aus dem österreichischen Erbfolgekrieg der Franzosen gegen die Engländer und Holländer, die die französische Armee unter dem marichal de Saxe gewann und in deren Anschluss die Franzosen in Holland einmarschierten. Daneben wird auf die von den deutschen Nationalsozialisten für ihre Ideologie benutzte Nationalhymne verwiesen, «cet über alles», sowie auf die «future camps de la moit» der Nazis und die «conventions de La Haye» (CH, 153). Auf die sprachliche und narrative Form sowie auf Ironie und Zynismus komme ich im folgenden Abschnitt zu sprechen.
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Beim Referenzbereich der intertextuellen Bezüge dominieren in der Darstellung des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit allerdings fiktionale und historiographische Intertexte wie etwa realistisch gestaltete Augenzeugenberichte (dies muss fiktionale Texte nicht ausschließen) und historiographische Gesamtdarstellungen. Gleichwohl gibt es auch Bezüge auf nicht-fiktionale Intertexte - wie etwa die als solche authentischen Quellen markierten Zeitungsberichte (CH, 172). Insgesamt gilt, dass es hinsichtlich der Intertextualitätsbezüge in den Werken um eine Strategie der Authentisierung des Erzählten geht, wodurch den Romanen insgesamt trotz der im Verlauf des gesamten Werkes zunehmenden Metafiktionalität ein dominant Charakter verliehen wird: Der Referenzbereich greift auf den Erfahrungsraum des am Krieg teilnehmenden Soldaten und seiner Familie zu. Als wäre die Erinnerung, die der Erzähler des Romans wiedergibt, direkt den emotional aufgeladenen Erfahrungen eines kollektiven ancien combattant entnommen, der das theatre d'horreur selbst erlebt hat und auch die Aus- und Nachwirkungen des Krieges auf seine Familie aus der Nähe kennt. Rouauds roman de la Grande Guerre steht folglich hinsichtlich des Kriteriums der Selektionsstrukturen und des Referenzbereiches in der Mitte der beiden Pole des skalierten Kontinuums: Sie oszillieren zwischen einer heteroreferentiell-faktenbezogenen und einer dominant autoreferentiell-fiktionsbezogenen Geschichtsdarstellung.
4.2.1.3 Ein kollektives Fatum: Visions d'enfer dans un theätre
d'horreur
Kommen wir nun zur Form, die der roman de la guerre annimmt, also zu den Kriterien der Gestaltung und Relationierung der Erzählebenen, zu Zeitbezug und zu den Vermittlungsformen und dem Verhältnis, in welchem die Werke zum Wissen der Historiographie stehen. Hierbei wird auf die in Kapitel 3.2 bereits behandelten sprachlichen Prinzipien nur noch einmal in kurzer Form und im Zusammenhang mit der Interpretation einzelner wichtiger Geschichtsszenen eingegangen. Für das historische Romane differenzierende Kriterium der Relationierung und Gestaltung der Erzählebenen lässt sich in Bezug auf Rouauds Werke folgendes feststellen: Die Romane bieten die Geschichte des Ersten Weltkriegs und der an sie anschließenden Gedächtnispraxis zumeist als erzählerisch inszenierte Erinnerungen und erzähltes Gedenken dar. Sie liefern damit eine diegetische Darstellung von Geschichte, die als erinnerte Geschichte aber von einem durchgängig anwesenden Erzähler präsentiert wird. Diese Form der Darbietung tendiert zudem, durch stellenweise markant hervortretende oder in den Erzählfluss eingefügte Erzählerkommentare und -reflexionen deutlich in Richtung des extradiegetischen Pols und damit zur Reflexion über Geschichte und Geschichtsbewusstsein. Diese Art der Gestaltung der diegetischen Ebene bedeutet damit auch: Der Erzähler ist nahezu ständig explizit präsent in den Werken und wirkt durch sein Erzählen auf die Handlung ein. Diese Dominanz der expliziten diegetischen Vermittlungsform gilt jedoch nur mit einer gewichtigen Einschränkung: In Les champs d'honneur nimmt die explizite Präsenz des Erzählers nämlich gerade in deijenigen Sequenz, 321
die den Frontenkrieg - die Verletzung Josephs, seinen Tod und den von Emile sowie die Fahrt Pierres nach Commercy und den Friedhofsbesuch 1940 - berichtet, in signifikanter Form ab: Der Erzählmodus ändert sich. Aus der homodiegetisch erzählten Erinnerung wird ein narrativ-fiktionalisierter, kollektiver Bericht mit einem olympischen Erzähler. Die vormalige Explizität der erzählerischen Vermittlung, die sich allenthalben in ausgeprägter Ironie äußerte, wird zudem abgelöst durch eine implizite Vermittlung, die die Ironisierung durch Zynismus ergänzt oder ersetzt und ihrerseits zu einer vordergründigen Erhöhung der Transparenz führt. Aus der ironisch-humorvollen (Tragi-)Komödie der Familiengeschichte wird die ernste, zynische und bittere Tragödie einer kollektiven Erfahrung. Diese erhöhte Transparenz der Sequenzen, die die Ereignisse um Ypern, Commercy und die Zeit des entre-deux-guerres64 berichten (CH, 153-188), lässt sich nicht zuletzt durch die Zeitbehandlung belegen, genauer dadurch, dass jede der Sequenzen mit genauen Zeit- und Ortsangaben einsetzt, die den zeitlichen Rahmen klarstellen: 1916, 1917, 1929, 1940, 1941 (CH, 153, 165, 172, 185). Das erzählte äußere Geschehen erhält somit mehr chronikalischen Charakter, was auch durch die Häufung der verschiedenen Stationen, die die Figuren (Joseph, Pierre) durchlaufen, deutlich wird. Die Perspektive wechselt zudem für die Beschreibung der Kämpfe auf die Perspektive und die Gefühls- und Gedankenwelt eines Frontsoldaten mit Namen Joseph,65 der aber für die Masse aller Soldaten steht: «II y avait des mois que les trente etaient des millions, decimes, epuises» (CH, 154). Die Handlung verselbständigt sich und wird dynamischer,66 die Sprache fangt vor allem die sichtbaren Details und das Verhalten der Soldaten ein,67 wie in der präzisen wenngleich plastischen Ausdrucksweise eines genau beobachtenden und mitten im Geschehen stehenden Kriegsberichterstatters, der sich als Vermittler zurücknimmt und ganz die auf ihn einwirkenden Ereignisse in den Vordergrund rückt. Die größere Transparenz darf jedoch nicht über die Eindringlichkeit der Darstellung hinwegtäuschen: Die emotionale Intensität der Passagen ist durchaus groß, wodurch - nebst der expliziten Kommentierung - der Erzähler hier also selbst immer präsent wird. Die Geschichte des Frontenkrieges und die Gedächtniskultur, die sich an diesen anschließt, werden hingegen nicht als ein kohärentes Ganzes, sondern als mosaikhafte und fragmentarische Erinnerungsbruchstücke, die der Erzähler aus materiellen 64
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Streng genommen spielt die Friedhofssequenz vom November 1940 und 1941 (CH, 185) natürlich bereits in der Vichy-Zeit. «Joseph vit se lever une aube olivätre sur la plaine d'Ypres». «Demandez έ Joseph, les poumons brüles [...]». (CH, 154). Siehe hierbei nicht zuletzt die vielen aktiven Verben, die Bewegungsveiben und die Fahrten, die die Figuren in dieser Sequenz machen. «Le vent complice poussait la brume verte en direction des lignes fan?aises, pesamment plaquee au sol, grand corps mou epousant les moindres asperites du terrain [...]» (CH, 154). «L'officier ordonna d'ouvrir le feu» (CH, 155). «Au dessus d'Ypres s'dtalait une horrible täche verdätre» (CH, 155). «Dans l'imm6diat, on envoie un rögiment de Marocains [...]» (CH, 157).
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Quellen zusammenträgt oder aus den brüchigen und inkohärenten Erinnerungen seiner Familienmitglieder herausliest und dabei ergänzen muss, dargeboten. Viele Details der Sequenzen sind in keinen Quellen überliefert, sondern beruhen auf der fiktionalen Ausgestaltung durch den Erzähler. Es sind kurze, kontingente Episoden, die die Realität und die Bedeutung der Grande Guerre in ihrer Essenz, gleichsam in konzentrierter Form wiedergeben. Keine Spur von teleologischen oder totalisierenden Konstrukten. Es handelt sich dabei gleichwohl, wie oben bereits erwähnt, um eminente und zentrale Momente aus dem Geschichtsbewusstsein der Franzosen. Der Erzähler führt in den Romanen gleichzeitig eine meist implizite kritische Reflexion über die Geschichtsereignisse und ihre Nachwirkungen, die die extradiegetisch vermittelte Geschichtsdarstellung stärkt. Es lässt sich also sagen, dass Rouauds Werke bei der Darstellung des Ersten Weltkrieges zwischen den beiden Polen diegetisch inszenierter und extradiegetisch thematisierter Geschichte hin- und her pendeln, aber deutlich größere Affinitäten zum letzteren Pol besitzen. Kommen wir zum Kriterium des Zeitbezuges und der Vermittlungsformen. Bei der Thematisierung des Ersten Weltkrieges fällt beim Zeitbezug die Gegenwartsorientiertheit der Erzählung als dominantes Merkmal ins Auge. Das verwundert wohl kaum: Denn das Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist in den Romanen überhaupt sehr ausgeprägt, weil es Rouaud gerade um die Fortdauer der Vergangenheit im Heute geht. Der Zeitbezug der Romane insgesamt ist somit durch die Reflexionen, die der Erzähler in impliziter Weise führt, ein dominant gegenwartsorientierter. Damit oszillieren Les champs d'honneur und die Romane, die den Ersten Weltkrieg thematisieren, zwischen der dargestellten Vergangenheit und der Gegenwart der Reflexion des Erzählers. Wiederum aber ist es die Gegenwart des Erzählers, die die Oberhand behält. Seine Reflexion bezieht das Wissen über die weiteren historischen Entwicklungen oder über angrenzende Themenbereiche mit ein. Die makrostrukturelle Anordnung des Geschehens ist in Les champs d'honneur wie in den übrigen Werken 68 nie linear-chronologisch, sondern anachronisch: Der Erzähler hat sich einer retrospektiven Spurensuche oder «lecture du passe» (CH, 122) verschrieben und schreitet innerhalb seiner Romanserie unabhängig vom Zeitstrom immer weiter von der Erzählgegenwart rückwärts in die Geschichte und wieder nach vom. Dabei sind die Ereignisse von 1916 der zeitliche Punkt, in dem die Erzählfäden zusammenlaufen: Hier liegt der Ausgangspunkt, von dem aus alle Episoden ihren Lauf nehmen. In Rouauds Werken sind statische Erzählmodi in der Überzahl: Dabei dominieren die narrativen Formen der Beschreibung und des Erzählens gegenüber denen der Figurenrede und des Berichts.69 Die dominierende Vermittlungsform ist also diejenige, die Nünning «diskursiv-expositorische Vermittlung» nennt. 70
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Auch die Makrostruktur der anderen Werke ist nie chronologisch, sondern thematisch und anachronisch. Cf. dazu Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, p. 233. Ibid., p. 234. 323
Die symbolische Aufladung des Raumes und der Figuren zeugt von der spezifisch literarischen Freiheit, die die Fiktion bei der Vermittlung von historischem Geschehen gegenüber der Historiographie besitzt. Die Beobachtungen des historischen Moments, die dem Kriegsschauplatz Ypern gelten, werden durch den Erzähler auf eine geradezu erdgeschichtliche Ebene gehoben, die den historischen Bezugsrahmen der konkreten bataille
zum symbolischen der Kosmogonie erweitert:
La Terre n'itait plus cette uniforme et magnifique boule bleue que Ton admire au fond de l'univers. [...] Oh, bien sür, l'aube de methane des premiers matins du monde n'6tait pas hospitalidre, ce bleu qu'on nous envie, lumiere solaire ä nos yeux diffractöe, pas plus que nos vies η'est Stemel. II virera selon les saisons de la nature et l'inclemence des hommes au pourpre ou au Safran, mais cette coloration pistache le long de l'Yser relevait, eile, d'une intention mal6fique. (CH, 155) Selbst die Welt ist in diesem Inferno nicht m e h r der für alle Zeit unangefochtene, ewige blaue Planet! Die Geschichte, angetrieben von wütenden Kriegsmaschinen, von Menschen, kann somit dem irdischen Leben, la Vie et la Terre, für i m m e r den Garaus machen. Bei diesen kommentierenden Beschreibungen meldet sich der Erzähler also deutlich zurück. Die konkrete Schlacht fungiert als Symbol des Krieges, des Todeskampfes und der Weltzerstörung überhaupt, und wird damit zum widernatürlichen Akt erklärt. Die Beschreibung steigert sich zum expressionistischen Horrorszenario, die diesen «visions d ' e n f e r » (CH, 157) Ausdruck verleiht: Maintenant, le brouillard chlore rampe dans le lacis des boyaux, s'infiltre dans les abris (de simples planches ä cheval sur la tranchee), se niche dans les trous de fortune, s'insinue entre les cloisons rudimentaires des casemates, plonge au fond des chambres souterraines jusque-lä preservees des obus, souille le ravitaillement et les r6serves d'eau, occupe sans repit l'espace, si bien que la recherche fr6n6tique d'une bouffde d'air pur est desesperement vaine, confine ä la folie dans des souffrances atroces. (CH, 155/156) Der konkrete Raum wird semantisiert: Die Erde von Ypern wird zum mit biblischer Symbolik versehenen Ort des Todes, an dem die schlimmsten Warnungen und Klagen der Propheten, die «messages prophetiques» (CH, 159), die an den Propheten Habakuk erinnern 7 1 oder an die Offenbarung des Johannes, 7 2 schicksalh a f t e Wirklichkeit werden. Die Selbstverstümmlungen, 7 3 die sich die Menschen in diesem Krieg zufügen, münden in Agonie und in einen schrecklichen Leidensweg, in Sintflut und Apokalypse (CH, 158/159): Der Raum erscheint als « m a r i c a g e infernal» (CH, 159), als «la grande riviere rouge, la cloaca maxima» (CH, 163) und «foyer de l'horreur» (CH, 168). Die immense saignee, die der Krieg für Frankreich bedeutet hat, wird so sprachlich mit biblischem Wortschatz aus dem Alten und
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Cf. Hab 1,14: «Warum behandelst du die Menschen wie die Fische im Meer, wie das Gewürm, das keinen Heim hat?» Oder Hab 3,9 und 10: «Du spaltest die Erde, und es brechen Ströme hervor; dich sehen die Berge und zittern, tosender Regen prasselt nieder; die Urflut brüllt auf und reckt ihre Hände empor» (Die Bibel, p. 1062 und p. 1064). Offb 8,8: «Ein Drittel des Meeres wurde zu Blut» (Die Bibel, p. 1397). Siehe «vies amputees» (CH, 159).
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Neuen Testament aufgeladen. Diese apokalyptischen Geschichtsmetaphem geben der Darstellung der Historie damit ein sehr eindeutiges Gepräge. Die schicksalhafte Geschichte, die die Menschen so hinterrücks wie ihr Stellvertreter, das Kampfgas, zu Leiden und Tod verdammt, wird zur menschlichen Tragödie mit planetarischem Ausmaß: «Cette guerre va trop loin. Tous sont d'accord, ce sera la derniere. Pour Joseph et des millions, certainement» (CH, 160). Der Mensch erscheint bei Rouaud immer wieder als Opfer der Geschichte, das seine Bestimmung nicht mehr selbst in der Hand hat. Dieses Ausgeliefertsein des Menschen an die gewaltsame Dynamik der Geschichtsprozesse, die unübersehbar an ein zentrales Thema bei Claude Simon erinnert,74 findet bei Rouaud auch in alltäglichen Dingen seinen Wirkungsraum. Der Ausdruck «cette impression desagreable de n'avoir pas ete maitre de son destin (CH, 28), bezogen auf die forcierte Heirat der Großmutter, wird zum Motto der Menschen und zur Konstante der Familie Rouaud, die auch später wieder bei anderen Mitgliedern zutreffen wird. Der Ausdruck erweist sich in diesem grotesk anmutenden Horrortheater aber als zynischer Euphemismus: Die Situation des Krieges steigert diese Konstante zur apokalyptischen Erfahrung der Endzeit. Die combattants de la Grande Guerre werden so zu anonymen, «ces masses anonymes» (CH, 168), und unheroisch untergehenden Helden, «vers humains», «cadavres» (CH, 156), die einen mythischen Kampf gegen die unergründliche Schicksalhaftigkeit des Lebens fuhren und dabei schuldlos zu vegetierenden Existenzen reduziert werden, die wider Willen in ein tragisches Fatum verfangen sind: «ces tragediens malgre eux» (CH, 169). Die Ironie und Komik, die noch die vorherigen Abschnitte des Romans allenthalben wirkungsästhetisch bestimmten (CH, 9-152), haben der Groteske und dem Zynismus Platz gemacht. Die bisweilen tragische, aber dominant ironische Komödie, für die man die Erzählung vor dem Eintritt auf die champs d'honneur von Ypern halten konnte, hat abrupt das dominante Erzählmuster und den vorherrschenden Tonfall gewechselt: Es wird nunmehr eine ernste Tragödie in Szene gesetzt. Zahlreiche, zum Teil sehr zynische Kommentare, die dabei eine recht explizite Form der Erzählerreflexion beinhalten, finden sich und verdeutlichen die kritische Haltung des Erzählers gegenüber jedweder Form imperialistischer, lebensfeindlicher und unmenschlicher Machtgelüste und Tötungsmaschinerien. Dabei werden die Ereignisse bei Ypern und Commercy durch chronologisch vor- und zurückgreifende Bezüge in einen noch tragischeren, welthistorischen Zusammenhang gestellt. Bereits am Anfang der Sequenz wird dies deutlich markiert, und es häufen sich die kritischen Kommentare, so etwa über die kriegstreiberischen Entwicklungen der deutschen Industrie: «Cette propension ä annexer les noms de lieux, cet über alles, on aurait dü se mefier» (CH, 153). Und der vorausschauende Blick des Erzählers eröffnet dem Leser eine noch dunklere Perspektive: «ä l'horizon de ses recherches, les futurs camps de la mort» (CH, 153). Auch die Realität der Stellungskriege wird durch einen kurzen Vergleich kommentiert: «version planetaire du Combat des Trente»
74
Siehe unter anderem dessen Roman Le vent. 325
(CH, 153). Das Verheizen der Kolonialtruppen, für Frankreich lange Zeit eine gängige Praxis, wird mit dem zynischen Satz abgekanzelt: «Dans l'immediat, on envoie un regiment de Marocains recuperer les positions perdues. Le gaz n'est pas encore dissipe, mais ces gens du desert ont l'habitude du vent de sable qui pique aussi les yeux et les bronches» (CH, 157).75 Die zynische Kritik am Patriotismus, die der Erzähler aus der Beschreibung der image pieuse entwickelt, ruft symbolisch ein gesamteuropäisches Knochenhaus auf: Une grande croix noire, porteuse en son centre du monogramme du Christ, s'auriole des noms des regions tragiques: l'Artois, la Serbie, les Dardanelles, la Marne et la Meuse, la Lorraine et l'Alsace, l'Argonne, l'Yser, comme une couronne d'effroi qui d6nombre sur la trame de rameaux d'olivier le sous-ensemble des communes martyres, a l'aune du charnier [...]. Que cette image rappelle ä tous la gratitude que nous devons avoir envers Dieu pour la bataille prodigieuse de la Marne et, depuis, la solidite de notre front. (CH, 162)76 Der Erste Weltkrieg, den Rouaud in Les champs d'honneur als theatre d'horreur darstellt und dessen Erinnerung die Menschen in der Folgezeit beherrscht, kehrt in den folgenden Werken dank der leitmotivischen Struktur immer wieder als Urmoment des Katastrophenjahrhunderts und als Ausgangs- und Konvergenzpunkt der kollektiven Erzählung wieder und fungiert auf diese Weise als Dreh- und Angelpunkt des gesamten Romanwerks. 77 Die antipatriotische Haltung des Erzählers kehrt als Kritik an den verblendeten Aufrufen eines Maurice Barres, an den «rodomontades barresiennes», in Sur la scene comme au ciel wieder (SC, 34). Das vierte Kriterium in der Typologie des historischen Romans nach Nünning greift auf das Verhältnis des fiktionalen Geschichtsbildes zum Wissen der Historiographie aus: Gibt es Anachronismen oder unlogische Referenzen? Wie hoch ist der Grad der Fiktionalisierung von Raum, Zeit, Figuren und Handlung? Aus dem eben Dargelegten lässt sich hervorheben, dass Rouauds Darstellung einen recht hohen Grad an Fiktionalisierung von Raum, Zeit, Figuren und Handlung aufweist, dass Rouaud dabei aber auf kontrafaktische Realitätsreferenzen gänzlich verzichtet: Das Schicksal der Frontsoldaten und ihrer Hinterbliebenen wird glaubwürdig erzählt. Die Kommentare des Erzählers, die auf andere historische Ereignisse Bezug nehmen, sind zwar Anachronismen, diese lassen aber eine Integrierung in das Bild des Ersten Weltkriegs durchaus zu; sie unterstreichen vielmehr und verdeutlichen die späteren Entwicklungen und die Tragweite dieses Konflikts. Dies gilt etwa für den
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Es scheint sich hier um eine Art literarischen Topos zu handeln: So berichtet etwa auch Henri Barbusse in Le feu vom Verheizen der marokkanischen Kolonialtruppen: «On l'a envoyee partout en avant dans les grands moments, la Division marocaine!» (Henri Batbusse: Le feu. Journal d'une escouade suivi de Camet de guerre, ed. Pierre Paraf, Paris, Flammarion/Le Li vre de Poche, 1999, p. 67). Cf. auch SC, 34, wo das Motiv wieder aufgenommen wird: «ce charnier», «le carnage». Rouaud selbst stützt diese Aussage durch eigene Äußerungen (siehe «l'histoire par la Grande Guerre m'a amene au roman». In: Magazine litteraire 378 (juillet-aoüt 1999), p. 52).
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bereits zitierten Kommentar des Erzählers zum Kampfgas: «et, ä 1'horizon de ses recherches, les future camps de la mort» (CH, 153), mit dem auf die hier beginnende fatale Rolle der deutschen Industrie bei der Entwicklung etwa von Zyklon B, das später in Auschwitz eingesetzt wurde, aufmerksam gemacht wird. So besitzen die Romane insgesamt einen hohen Grad an Plausibilität und Kongruenz in Bezug auf das Wissen der Historiographie, der durch die anachronischen Erzählerkommentare und Reflexionen nicht beeinträchtigt wird, sondern den Eindruck vom Ersten Weltkrieg als folgenschwerem Schlachthof Europas nur noch mehr hervorheben. Die unmittelbaren Kriegsereignisse (CH, 153-171) setzen eine psychische Erinnerungsdynamik in Gang und bestimmen das Leben und die Gedächtnispraxis der Hinterbliebenen (CH, 9-152, 172-181, 185-188), indem sie sich in vielen Details und Ereignissen des Lebens erhalten haben. Die körperlichen und privaten Auswirkungen des Krieges sind durch die Tante Marie, deren Regelblutung mit dem Tod Josephs 1916 definitiv aussetzt, und durch die Witwe Mathilde, die zehn Jahre auf Gewissheit über das Schicksal ihres bei Commercy gefallenen Mannes warten muss, symbolisch figuriert. Beide Frauen sind Verkörperungen kollektiver Erfahrungen: So wie Frankreich den Blutzoll zahlen musste und dadurch für lange Zeit sozial und demographisch und vor allem individuell-menschlich geprägt wurde, geht es der petite tante in Random, die ihr Blut verlor und damit die Möglichkeit, eine Nachkommenschaft zu zeugen. So wie sich Frankreich bei den alljährlichen commemorations an dem cenotaphe und dem Ossuaire de Douaumont vor den Toten verneigt, 78 steht auch Mathilde lange Jahre vor der «tombe vide» (CH, 167), und die Überreste ihres Emile ruhen in «ces petits ossuaires» (CH, 181). Diese kollektiven Phänomene der dauerhaften Gedächtnismarkierung bei den Hinterbliebenen und den nachfolgenden Generationen, die sich durch das monument aux morts und das lange Echo von Verdun in den folgenden Romanen in der Familiengeschichte mikrohistorisch fortschreibt, sind dabei in dem Maße eingebettet in den Erzählzusammenhang des gesamten Werkes, als sie gewissermaßen im Zentrum des erzählerischen Netzes an Vorausdeutungen, an wiederkehrenden Themen und Motiven stehen, welches das gesamte Romanwerk ausmacht: Alle Fäden der Erzählung laufen in diesem Ereigniskomplex, Geschichte und Gedächtnis der Grande Guerre, zusammen und verweben sich mit der Familiengeschichte. Die Richtung, die die Geschichte dieser französischen Familie im Verlauf des 20. Jahrhunderts genommen hat, ist wesentlich von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges bestimmt worden. Der Familienroman wird damit zu einer kollektiven Erzählung. Die Romane zeigen die longue duree dieses Konflikts in ihrer formalen Struktur selbst auf. Dies offenbart sich hinsichtlich der Erzählstruktur nicht zuletzt darin, dass der die Serie abschließende Roman auf seinen letzten Seiten nochmals auf den Ersten Weltkrieg eingeht und damit aufs deutlichste die psychisch-seelische Perseveration dieses lieu de memoire für den Erzähler betont (SC, 185) und damit gleichzeitig dessen kollektive Virulenz in symbolischer Weise belegt: In den
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Cf. Annette Becker: La guerre et la foi, p. 112. 327
Romanen wird die Gegenwart dieser für Frankreich noch immer zentralen und fundierenden Vergangenheit im Heute und die longue duree ihrer Konsequenzen durch diese rekurrierende motivische Präsenz immer wieder hervorgehoben. Rouauds Romanwerk gibt einem psychischen Vorgang literarische Gestalt und markiert mit dieser sehr gelungenen ästhetischen Umsetzung eines kollektiven Traumas auch die Differenzqualität der Literatur gegenüber den Möglichkeiten der erklärenden Historiographie auf eindringliche Weise. Bevor die folgenden Abschnitte weitere Referenzbereiche darstellen, soll noch kurz auf die Formen der Illusionsbildung eingegangen werden. Dem ambivalenten Funktionspotential des roman de la Grande Guerre werden gesonderte Kapitel gewidmet. Beide Kriterien komplettieren gemeinsam als letzter Parameter das Spektrum der fünf Kriterien, die Nünning zur Untersuchung des historischen Romans vorgeschlagen hat; sie werden von mit aber aus Gründen der Übersichtlichkeit und der argumentativen Stringenz getrennt behandelt. Die in den Werken Rouauds sehr auffalligen und auf die Präsenz des expliziten Erzählers zurückzuführenden Tendenzen zur zynischen und anachronischen Kommentierung, zur Reflexion über Geschichte und zur Fiktionalisierung der Geschichtsereignisse stehen Seite an Seite mit einer starken Tendenz zur Referenz auf historische Realitäten, die mit dem Wissen der Historiographie in Einklang steht und folglich ein plausibles Bild der Geschichte ergibt. Wirkungsästhetisch betrachtet, existieren also verschiedene Formen der Illusion nebeneinander. Eine Illusionswirkung entsteht bei Rouaud aber weniger auf der Ebene der Figuren und der Handlung, da diese ja wie gezeigt oft unterbrochen wird und in Sur la scene comme au ciel vollends zum fiktiven, posthumen Gedanken- wird, der keine (bzw. nur eine teilweise) Figuren- und Handlungsillusion konstruiert. Eine Illusionswirkung entsteht bei Rouaud vielmehr in dominanter Weise auf der extradiegetischen Ebene: auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung also, die mit dem Begriff Erzähl- und Redeillusion beschrieben wird.79 Die Ebene des discours wird quasi zu einer eigenen histoire. Daneben bildet in den Romanen gegenüber der Erlebnisillusion,80 die vor allem in der Ypern- und Commercy-Passage, aber auch dort nur teilweise, angewendet wird, die Referenzillusion die dominante Form: Es lassen sich stets Bezüge zur historischen Lebenswelt herstellen. Die hohe Zahl an Realitätsreferenzen, die oben festgestellt wurde, belegt diesen Umstand zudem in sinnfälliger Weise.81 Besonders markant ist der dritte Illusionstyp: die Illusionsstörung. Auf verschiedenen, in obigen Kapiteln bereits dargestellten Wegen durchbricht der Erzähler die
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Cf. hierzu Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, p. 249. Mit Erlebnisillusion ist das «» gemeint (ibid.). Cf. den folgenden Beleg: «In Romanen, die eine große Zahl und Bandbreite spezifischer Realitätsreferenzen enthalten, ist die Form der Referenzillusion in der Regel sehr stark ausgeprägt» (ibid.).
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Illusion: durch Komik und Ironie, durch Zynismus und Groteske, durch Ludismus, intertextuelles und metafiktionales Spiel, durch die sprachlichen Verfahren der Assoziation und Anamorphose, Variation und Mischung sowie Repetition. Diese illusionsabbauenden Verfahren sind häufig und nehmen sogar im Verlauf der Romanserie noch zu. Besonders deutlich ist die Illusionsdurchbrechung in Le monde ä peu pres, durch den Modus der Ironie und des intertextuellen Spiels, und in der expliziten Metafiktion Sur la scene comme au ciel. Insgesamt lässt sich diese Form des antiillusionistischen Erzählens als explizit bezeichnen, nicht jedoch als eine wirkliche und dezidierte Illusionsverweigerung oder hard anti-illusion}2 Die Romane sind also auf dem Kontinuum, das zwischen illusionsbildender Geschichtsvermittlung mittels Primär-, Referenz- und Erlebnisillusion einerseits und illusionsdurchbrechender metahistoriographischer Reflexion bei dominanter Erzähl- und Redeillusion andererseits existiert, in etwa in der Mitte zu placieren, mit leichten Affinitäten zum letzteren Pol. Damit stehen die Romane Jean Rouauds sowohl dem Typus des revisionistischen historischen Romans als auch dem metahistorischem Roman nahe, die nach Nünning beide über ein ambivalentes Illusionspotential verfügen.83 Die Romane besitzen also in dominanter Weise ein ambivalentes und damit auch ein doppeltes Funktionspotential: Sie fungieren einerseits als Ort einer Geschichtskritik und entwerfen Gegengeschichte(n), andererseits dienen sie als Medium des kulturellen Gedächtnisses, sind also dem revisionistischen historischen Roman und auch dem metahistorischen Roman zuzuordnen. Dieser Gesichtspunkt soll in getrennten Kapiteln genauer untersucht werden: Die Funktion eines kulturellen Gedächtnisses, die die metahistorischen Werke Rouauds ausüben können, wird in Kapitel 4.3.1 dargestellt; die Funktion der Geschichtskritik und der Gegengeschichte(n), die der Rouaudsche Roman als revisionistischer historischer Roman des weiteren besitzt, wird in 4.3.2 erläutert. Doch zunächst werden erst noch die weiteren großen Referenzbereiche der Romane dargestellt und dabei zuerst auf die annees noires en France mit Vichy-Regime, Okkupation, Widerstand und Holocaust eingegangen.
4.2.2 Le roman des annees noires: La France de Vichy zwischen Resistance und Collaboration, Occupation und Holocaust Das, was eben für den roman de la Grande Guerre festgestellt wurde, gilt auch für den zweiten zentralen Referenzbereich der Romane: La France des annees noires. Rouaud stellt diese dunkle Periode der französischen Geschichte - das Regime von Vichy, die Collaboration und Occupation, die Resistance, den Holocaust und die Liberation - in seinen Werken erzählerisch dar.
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Cf. ibid., p. 250. Ibid., p. 272 und p. 279.
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Im folgenden soll auch dieser Referenzbereich mit der analytischen Methode Nünnings untersucht werden. Dabei werden die offensichtlichen Gemeinsamkeiten mit der Geschichtsdarstellung des Ersten Weltkrieges, die die Gestaltung und Relationierung der Erzählebenen, den Zeitbezug und die Vermittlungsformen sowie den Illusionstyp betreffen, nicht noch einmal in extenso dargelegt. Vielmehr werden vor allem die Kriterien Selektionsstrukturen und dominante Referenzbereiche sowie das Verhältnis zum Wissen der Historiographie in den Mittelpunkt gerückt. Zunächst erfolgt eine kurze zusammenfassende Darstellung der für unseren Zweck relevanten historiographischen Forschung zum Vichy-Regime und zum Zweiten Weltkrieg. Eingegangen wird ferner auf einige wichtige Aspekte der französischen Gedächtnisgeschichte: auf die Gedächtniskultur der Nachkriegszeit, welche sich auf die historischen Geschehnisse der annees noires bezieht bzw. an diese anschließt. Hierbei stütze ich mich auf die Ergebnisse der jüngsten Forschung, von Azema, Bedarida, Laborie, Henry Rousso und anderen Historikern. Die zugrundegelegten Forschungsarbeiten werden jeweils in den Fußnoten aufgeführt.
4.2.2.1 Die nationale Identität in der Krise: La France de Vichy Cet obscur objet du souvenir Mit der etrange defaite (Marc Bloch), die durch den Einzug der deutschen Truppen in Paris am 14. und mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands in Rethondes am 22. Juni 1940 besiegelt wurde, entstand in Frankreich eine Krisensituation, die nicht allein eine militärische Niederlage war, sondern auch und vor allem das politische, soziale und religiöse Leben erfassen und die Menschen erschüttern sollte: Die in kürzester Zeit erlittene, schmachvolle Niederlage und die Besatzungszeit wurden als nationale Katastrophe und tiefe Identitätskrise empfunden, die sich als eine traumatische Erfahrung im Bewusstsein der Franzosen festsetzen sollten. Der größte Teil des Landes wurde von den Deutschen besetzt. 84 Die französische Regierung zog in den Kurort Vichy um und erhielt unter ihrem Chef Petain, dem Sieger von Verdun, vom Parlament das Recht, dem Land eine neue Verfassung zu geben, die auf drei Säulen stand: Travail, Familie, Patrie. P6tain installierte seine Revolution nationale und damit ein antidemokratisches und antiliberales Regime, das die moralische Ordnung und die Rückkehr zum Boden als Urgrund aller Werte propagierte. Der Rechtsstaat wurde außer Kraft gesetzt: Alte Feinde wie Freimaurer und Juden wurden vom antirepublikanischen und antisemitischen Vichy-Regime verfolgt. Direkte Unterstützung fand der populäre Petain für sein Programm dagegen lange Zeit in breiten Teilen der Gesellschaft und des politischen Spektrums: in rechtsliberalen Kreisen, bei der Kirche, in weiten Teilen der Landbevölkerung, bei Mitgliedern
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Frankreich wurde in eine besetzte nördliche Zone (zone occupee) und in eine kleinere zone libre im Süden geteilt. Eisass und Lothringen wurden annektiert und die an sie südwestlich angrenzenden Gebiete zur zone interdite bzw. riservee erklärt. Die zone nord um Arras wurde der deutschen Regierung in Brüssel unterstellt.
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der Action frangaise, sogar in dissidenten linken Gruppen. 85 Vichy kollaborierte auf staatlicher Ebene mit den Deutschen und versuchte, sich durch außenpolitische Neutralität seine Souveränität zu bewahren, eine politische Position, die aber schon bald immer unhaltbarer wurde. In der Anfangszeit der vieijährigen deutschen Besatzung reagierte die Mehrheit der 38 Millionen Franzosen und Teile der französischen Eliten mit einem sozialen und geistigen Rückzug auf das tägliche Problem des schlichten Uberlebens. Die Menschen entflohen der harten Realität des Alltags und stürzten sich, wenn sie konnten, in Lektüre, Kino und Musik. 86 Eine abwartende Haltung überwog zunächst. Diese wurde aber immer deutlicher vom Radio und seinen Botschaften in eine geistige Bewusstwerdung verwandelt, die mehr und mehr die Bereitschaft zum aktiven Handeln stärkte. Die extremen Pole: Resistance und Collaboration wurden nur von einer Minderheit besetzt. Die Resistance, die in viele kleine lokale reseaux und mouvements zersplittert war, bündelte nur langsam ihre Kräfte - der Conseil National de la Resistance (CNR) unter Jean Moulin wurde 1943 gegründet - und erhielt erst nach 1942 in größerer Zahl Zulauf. Der Polizeistaat Vichy rüstete polizeilich und juristisch auf: Er kollaborierte, trat mit seinen Milizen in einen erbitterten Kampf gegen den Widerstand ein und wurde darin auch von der SS tatkräftig unterstützt. 87 Viele Widerstandskämpfer wurden denunziert und daraufhin verhaftet oder in den zahlreichen Repressionsmaßnahmen getötet. Die tatsächliche militärische Bedeutung der Resistance war, trotz wichtiger Sabotageakte kurz vor und während der Liberation, wohl insgesamt eher als klein einzustufen. Azema spricht mit Blick auf die proklamierten Ziele gar von einer vertanen Chance. 88 Die Collaboration, meist in Form aktiver Sympathie für die Besatzungsmacht, seltener als wirkliche ideologische Übereinstimmung, die als collaborationnisme bezeichnet wird, war eine soziale, wirtschaftliche oder politische Taktik, die vielfache Gestalt hatte und auf zahlreiche Beweggründe zurückzuführen ist: Rache und Begleichen alter Rechnungen, Ergreifen einer sozialen Aufstiegschance, soziale oder politische Überlebensstrategie; auch der Versuch, die Nation unter der politischen (Schirmherrschaft) Petains gänzlich vor dem Untergang zu bewahren, mag so manchen in den ersten Monaten der Okkupation bewegt haben, sich Vichy anzuschließen. 89 85
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Cf. Philippe Burrin: «Vichy». In: Pierre Nora (ed.), Les lieux de memoire. III: Les France 1: Conflits et partages, Paris, Gallimard, 1992, p. 320-345, hier p. 328. Cf. Jean-Pierre Rioux: «Survivre». In: Franpois Bedarida (ed.), Risistants et collaborateurs: Les Frangais dans les annees noires, Paris, L'Histoire/Editions du Seuil, 1985, p. 84-100. Cf. hierzu Denis Peschanski/Jean-Pierre Azema: «Vichy Etat policier». In: Jean-Pierre Azema/Franfois Bedarida (ed.), La France des annees noires 2: De L'occupation a la Liberation, Paris, Editions du Seuil/Collection Points Histoire, 2000, p. 401-417. Jean-Pierre Azema: «Resister». In: Franpois Bidarida (ed.), Risistants et collaborateurs: Les Franfais dans les annies noires, Paris, L'Histoire/Editions du Seuil, 1985, p. 8-24, hier p. 24. Cf. zum letzten Punkt Pierre Laborie: «1943: solidarity et ambivalences de la France moyenne». In: Jean-Pierre Az6ma/Fran?ois Bödarida (ed.), La France des annees noires 331
Aus einer von den Deutschen anfangs als pragmatische Zusammenarbeit auf politischer Ebene gedachten Praxis wurde eine von französicher Seite forcierte und sich verselbständigende Collaboration, die im Verlauf der Occupation weite Kreise zog und die deutsche Kriegsmaschinerie unterstützte. Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür war das von Vichy erlassene Gesetz zum Arbeitsdienst. Mit der loi du 16 fevrier 1943 wurden die jungen Männer zum Arbeitsdienst (STO) in Deutschland verpflichtet, nachdem von Fritz Sauckel eine entsprechende Anforderung gestellt worden war. Die Franzosen zeigten sich besonders gewillt und übererfüllten das Soll so gar noch. Insgesamt wurden knapp 650 000 Männer nach Deutschland gebracht. Dieses Gesetz erhielt für die historische Entwicklung eine tiefere Bedeutung: Es markierte einerseits den Höhepunkt der Kollaboration Vichys mit Nazi-Deutschland, andererseits auch den Beginn seines internen Zusammenbruchs, denn gleichzeitig erhöhte es den Widerstand in der Bevölkerung und führte zur Flucht einer größeren Zahl von STO-Abtrünnigen, von sogenannten refractaires, die sich als hors-la-loi durchschlagen mussten und nun auch mehr und mehr Unterstützung im Volk fanden. Von diesen refractaires ging nur eine Minderheit in den Widerstand, die Mehrheit tauchte bei Verwandten unter und wurde von Vichy bald darauf amnestiert. 90 Das Gesetz zum Arbeitsdienst markierte zusammen mit wichtigen militärischen und diplomatischen Entwicklungen des Jahres 1943 einen Krisenpunkt, von dem aus die Entwicklung des Regimes von Vichy eine entscheidende Wende nahm. Alle Teile der Gesellschaft waren vom STO-Gesetz betroffen, und die menschlichen Opfer, die durch die deutsche Besatzung zu leisten waren, werden an diesem Gesetz in klarster Form offensichtlich. 91 Die den Ereignissen der annies noires geltende Gedächtnispraxis in Frankreich stellt sich weit weniger homogen dar als die auf den Ersten Weltkrieg bezogene commemoration, und sie ist von dieser in vielerlei Hinsicht sogar kategorial verschieden. Denn die Zeit von 1940-1944 bzw. von 1939-1945 hat zu einer Aufsplitterung der republikanischen Synthese geführt, sie hat die innerfranzösischen Oppositionen, die guerres franco-franfaises, offen ausbrechen lassen. Aus der Vichy-Zeit sind Gewissenskonflikte und Versagenspsychosen zurückgeblieben, die den Überlebenden und ihren problematischen und gegensätzlichen Erfahrungen die Grundlage für eine der Grande Guerrre vergleichbare kollektive Gedächtniskultur weitgehend entzogen haben: Die
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2: De L'occupation ä la Liberation, Paris, Editions du Seuil/Collection Points Histoire, 2000, p. 333-379, hier p. 347/348. Cf. Dominique Veillon: «La v6rit6 sur le STO». In: Francois B6darida (ed.), Risistants et collaborateurs: Les Frangais dans les annees noires, Paris, L'Histoire/Editions du Seuil, 1985, p. 105-109 und H. Roderick Kedward: «STO et maquis». In: Jean-Pieire Azema/Fran^ois Bedarida (ed.), La France des annies noires 2: De L'occupation ä la Liberation, Paris, Editions du Seuil/Collection Points Histoire, 2000, p. 309-332. «Pour la majorite des Francais, le STO servit de r6v61aöon du pillage humain provoquö par l'Occupation. Jusque-lä, le fardeau de la pr6sence allemande avait pes6 inigalement sur la population. Le STO fit entrer une nouvelle et dure rdalitö dans les foyers qui n'avaient connu les effets de la defaite qu'ä travers les difficultes de la vie quotidienne» (H. Roderick Kedward: «STO et maquis», p. 316).
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Niederlage, die Collaboration, der marechalisme, also die lange Zeit weitverbreitete treue Gefolgschaft gegenüber Petain, und die zahlreichen anderen dunklen Seiten dieser Jahre erschienen denkbar ungeeignet für eine dem 11. Novermber ähnliche Erinnerung. Gleichwohl blieb Vichy lebendig, aber es lebte anders weiter: «Vichy vit dans les esprits parce qu'il constitue un regime repoussoir». 92 Der lange Schatten von Vichy hat auf diese Weise so manche Ereignisse verdeckt und das Vergessen und Verdrängen gefordert. 93 Und so bedurfte es des Abstands von Jahrzehnten, bis diese Vergangenheit wissenschaftlich aufgearbeitet und ein realistischeres Bild von Vichy gezeichnet werden konnte. Henry Rousso nennt die psychologische Langzeitwirkung dieses immer wiederkehrenden Traumas das syndrome de Vichy, Robert Frank bezeichnet sie gar als «memoire empoisonnee», 94 Conan und Rousso in ihrem gleichnamigen Buch als passe qui ne passe pas. Die Niederlage von 1940, in deren Verlauf Frankreich innerhalb weniger Wochen von der deutschen Armee überrollt wurde, war die am Ursprung stehende traumatische Erfahrung, die den Riss im Selbstverständnis der Franzosen vollzogen hat und die Generationen der Zeitgenossen prägen wird. Auch die Politik und die politischen Debatten der Nachkriegsjahre können sich nicht von diesem im kollektiven Gedächtnis verborgenen Komplex befreien und werden auf dieses Ereignis - ähnlich wie auf München 193895 - noch lange Zeit mit Verdrängung, Instrumentalisierung und Kompensationshandlungen reagieren. 96 Wie wurde des Ereignisses Vichy und des Zweiten Weltkrieges nun aber in der Nachkriegszeit gedacht? 97 Es wurden bevorzugt drei Anlässe zum Gedenken gewählt: die Liberation, der Tod von Märtyrern der Resistance und historische Ereignisse von lokaler Bedeutung (zum Beispiel Massaker, militärische Ereignisse oder Kriegshelden, die in dem jeweiligen Ort stattfanden bzw. aktiv waren). Viele Gruppengedächtnissse werden bei den commemorations in der Nachkriegszeit jedoch überhaupt nicht angesprochen. Denn: «[...] toute commemoration est une mise en scene d'oublis, ou plutöt de refoulements». 98 Vergessen werden zum großen Teil
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Philippe Burrin: «Vichy», p. 321. Cf. Henry Rousso: «Cet obscur objet du souvenir». In: Centre Rögional de Publication de Paris/Institut d'Histoire du Temps Pr6sent (ed.), La memoire des Francais. Quarante ans de commemorations de la Seconde Guerre mondiale, Paris, Editions du Centre National de La Recherche Scientifique, 1986, p. 47-61 und Robert Frank: «La memoire empoisonnee». In: Jean-Pierre Azema/Franfois Bödarida (ed.), La France des annies noires 2: De I'occupation ä la Liberation, Paris, Editions du Seuil/Collection Points Histoire, 2000, p. 541-576. Robert Frank: «La memoire empoisonnee», p. 541/542. Cf. hierzu etwa Torsten Hartleb: « Prag 1948 und der fianzösische Münchenkomplex». In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 23, 3 (1996), p. 75-92. Cf. Robert Frank: «La memoire empoisonnee», p. 565/566. Frank stellt ein Modell mit vier Phasen vor: 1945-1947, 1947-1954, 1955-1969 und 1969 bis heute (ibid.). Henry Rousso: «Cet obscur objet du souvenir», p. 52. 333
die aus Deutschland heimkehrenden Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeiter und die Deportierten; vergessen wurde ebenfalls das Schicksal der Juden und Ausländer. Der Verdrängung fielen aber auch die Niederlage von 1940, das passive Leiden und die materielle Lage während der Besatzungszeit anheim. Keine Berücksichtigung fanden zudem der von 1940, die getöteten Kollaborateure oder das tragische Los der Malgre-Nous, der von den Deutschen zwangsverpflichteten Soldaten, die aus dem Eisass, aus Lothringen oder Luxemburg stammten." Unmittelbar nach Kriegsende überwiegen das Gefühl der Befreiung und Trauer sowie die Bereitschaft zur nationalen Versöhnung und zum Neuanfang. Es kommt gleichwohl zu einer ersten Welle der Säuberungen, zur epuration. Zwischen 1945 und 1947 entstehen aber auch die wichtigsten Geschichtsmythen, durch die die Geschichte in Gedächtnis überführt, aber keineswegs die historische Realität eingefangen wurde. Der Resistance-Mythos, die Vorstellung eines überwiegend wehrhaften Frankreich, «une France sans Vichy», 100 kommt dank General de Gaulle in die Welt. Die Kommunisten kreieren ihr Selbstbild als das einer Partei der politischen Märtyrer. Diese beiden Legenden erweisen sich als die dominanten Formen des Geschichtsbildes und werden die bataille de la memoire,101 die sich Gaullisten und Kommunisten in den Jahren 1947 bis 1954 liefern, prägen. In diesen Jahren vertieft sich auch an anderen Stellen der Graben: innerhalb der politisch gespaltenenen Gruppe der Resistance-Kämpfer, aber auch zwischen Mitgliedern des Widerstands und Anhängern des petainistischen Vichy, von denen die letzteren in diesen Jahren versuchten, das Regime zu rehabilitieren. Der 8. Mai wird 1953 zum Feiertag erklärt, womit das Gedenken an Resistance und Liberation gestärkt wird. Die Rückkehr des General de Gaulle an die Spitze des Staates (1958) festigt ihrerseits den /feswiance-Mythos als herrschenden Diskurs, ebenso wie die Überfuhrung der sterblichen Überreste Jean Moulins ins Pantheon (1964). Viele Aspekte des Krieges, die Resistance- Wirklichkeit und die innerfranzösische Spaltung werden in dieser Phase des refoulement de Vichy (1955-1969) besonders gut ausgeblendet. Einige wenige Kinofilme zeigen hingegen ein anderes Bild und unterwandern die gängige memoire d'Etat, deren Fokus auf die militärischen Aktivitäten des Widerstands gerichtet bleibt. Mit dem Rücktritt Charles de Gaulles (1969) und seinem Tod (1970) verliert diese einseitige Gedächtnispraxis ihre Wirksamkeit. Das Verdrängte kehrt wieder: im Film und in Fernsehserien, in den großen Justizprozessen oder in wichtigen historiographischen Studien. Aus dem Tabu Vichy wird eine dauerhafte, obsessive Beschäftigung. Mythen werden nach und nach dekonstruiert und tabuisierte oder
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Cf. Robert Frank: «La memoire empoisonnee». Ibid., p. 568. Siehe allgemein zur guerre des commemorations Christian Bachelier: «La guerre des commemorations». In: Centre Regional de Publication de Paris/Institut d'Histoire du Temps Präsent (ed.), La memoire des Franfais. Quarante ans de commemorations de la Seconde Guerre mondiale, Paris, Editions du Centre National de La Recherche Scientifique, 1986, p. 63-77.
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vergessene Gedächtnisse wie etwa die memoire juive ins Bewusstsein zurückgeholt; zum Teil werden aber auch Gegenmythen erzeugt, die genauso realitätsfem sind, wie es der Mythos einer kollektiven Resistance gewesen ist. In den achtziger und neunziger Jahren verlagert die Gedächtniskultur ihr Interesse auf die Resistance mit ihrer Symbolfigur Jean Moulin, die Auslöser neuer Auseinandersetzungen wird, 102 und nimmt die Themenkomplexe Deportation und Holocaust deutlich in den Blick.
4.2.2.2 Jo le dur und die Heimatfront: Frankreich überlebt zwischen maquis, Bombenkeller und Gemeindesaal Der nächstbedeutende Referenzbereich des Romanwerks bezieht sich auf die Periode der Okkupation 1940-1944 bzw. auf die ihr unmittelbar vorausgehende Vorkriegsphase und die sich an sie anschließenden Jahre der Befreiung und der Nachkriegszeit. Rouauds roman des annies noires greift hierbei auf zahlreiche historische Ereignisse und Entwicklungen zu. Wieder gilt auch der Gedächtnispraxis die Aufmerksamkeit des Erzählers. Ähnlich wie bei der Darstellung der Grande Guerre ist auch hier die Präsentation dieser Geschichtsperiode nicht auf denjenigen Roman beschränkt, der sie in das Werk einfuhrt, also auf Des hommes illustres, sondern strukturiert (nahezu) das gesamte Werk des Minuit-Autors: durch ein leitmotivisches Geflecht und wiederkehrende Themen. Von den beiden Teilen des Romans Des hommes illustres berichtet der kürzere zweite (HO, 117-174) von den annies noires, der deutlich längere erste (HO, 9-114) erzählt die letzten Lebensjahre des Vaters. Es bestehen hierbei Unterschiede zur Präsentation des Referenzbereichs in Les champs d'honneur. Anders als in dem Erstling wird der Hauptreferenzbereich im zweiten Kapitel von Des hommes illustres zum ausschließlichen Thema und dadurch auch quantitativ stärker gewichtet, als dies beim Ersten Weltkrieg im vorhergehenden Roman der Fall ist. Dafür wird die Vorausdeutung, der proleptische Verweis auf diese Zeit weniger verwendet: Es finden sich ingesamt nur recht wenige Andeutungen, die bereits im ersten Abschnitt auf das spätere Zentralthema verweisen. Nichtsdestoweniger sind die Kriegsereignisse und die Vichy-Zeit, ganz wie die Grande Guerre in Les champs d'honneur, bereits auf den ersten Seiten des Romans präsent. Diese Präsenz der Geschichte in der Gegenwart des Erzählerdiskurses ist mit dem Beginn des Romans allein als subtile, wortspielerische Andeutung sowie als unerwartete Assoziation 103 gestaltet, die in den so unverfänglich präsentierten, fast banal wirkenden Erzählzusammenhang des Romananfangs formlich hereinbricht. Des hommes illustres setzt mit folgender Situationsbeschreibung ein: Der Vater steht auf dem Dach des Schuppens und schneidet die Äste weg, in die sich ein Telefonkabel verfangen hat, das durch den nächsten Windstoß durchtrennt zu werden droht. Und,
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Robert Frank: «La memoire empoisonnee», p. 576. Cf. zu diesem charakteristischen Merkmal der Sprache Rouauds oben Kapitel 3.2.1.1. 335
wo schon einmal der Wind erwähnt ist, fügt der Erzähler kurz noch anekdotenhaft etwas über die Wirkungskraft dieses in der Bretagne nicht seltenen Elementes an und berichtet, dass es durch den Wind manchmal sogar zum Stromausfall kommt, der den ganzen Ort in die Dunkelheit stürzt. Die rabenschwarze Nacht verleiht dem bourg breton dann den schauerlichen Charakter einer Gespensterstadt: Cette apparence de ville fantome, ce cöti Londres pendant le blitz, on se surprenait ä fremir. On se rappelait les recits des bombardements sur Nantes pendant la seconde guerre, quand on imposait ä la population, tous feux eteints, de faire le mort. (HO, 10) Der Erzähler spielt mit der Sprache und jongliert mit den Erwartungen der Leser: Nicht blitz als Apokope für Blitzkrieg, sondern das klangähnliche blizzard wäre zu erwarten gewesen, wenn es sich um die Thematisierung des Windes handelt. Der Erzähler öffnet mit diesen klaren Andeutungen auf Kriegsereignisse wie dem Angriff auf England und der Bombardierung Londons, der Verdunklung und dem Blitzkrieg der deutschen Armee den thematischen Rahmen und holt die Geschichte in seine Erzählung herein: Das Leitthema der Bombardierung Nantes' strukturiert Des hommes illustres und kehrt in allen folgenden Romanen als zentrales Gedächtnismoment wieder. 104 Aus der meteorologischen Parenthese, in der es eigentlich um die Auswirkungen des Atlantikwindes in der ungemütlichen Jahreszeit ging, wird eine scharf umrissene Bezugnahme auf den Zweiten Weltkrieg, die eigentlich durch nichts motiviert ist, wenn nicht durch die unauslöschbare Gegenwart des Krieges im Kopf des assoziierenden Erzählers. Der Verweis «on se rappelait» meint hier im Grunde hauptsächlich das Gedächtnis des Erzählers, der sich im Moment des Erzählens/Schreibens an die Kriegsereignisse erinnert und diese andeutungsreich vorwegnimmt. So wird also bereits im zweiten Absatz des Romans das historische Hauptthema mit der Erzählung über den Vater verbunden. Weitere vorausweisende Andeutungen auf den Referenzbereich folgen in diesem ersten Teil: auf den Holocaust und die , auf den Weltkrieg und die Konferenz von München 1938 so wie die Okkupation. Entweder spielt der Erzähler hierbei mit bedeutungsschweren Begriffen, wie etwa in der Kommentierung des Malheurs mit der Öllampe, die den gesamten Porzellanladen unter einer schwarzen Schmutzschicht begräbt: «il fallait y voir la pose de la premiere pierre ä feu qui allumerait l'etincelle de l'holocauste final» (HO, 22). Oder er gibt deutliche Hinweise auf historische Ereignisse, die in einen Zusammenhang zum Zweiten Weltkrieg gebracht werden: wie den Algerienkrieg, den der Erzähler als «onde de choc, ä vingt ans de Ii, du demier ebranlement mondial» (HO, 48) bezeichnet, und wie München 1938 und die sich mit dieser Konferenz weit verbreitende Meinung zur Lage der Weltpolitik ein Jahr vor Kriegsausbruch, die sich als trügerische Ruhe vor dem Sturm erweisen wird: «maintenant que Munich a dissipe les ombres, que le spectre de la guerre s'eloigne et que la paix est assuree pour mille ans» (HO, 71). Die vorausdeutende Anspielung auf «Random occupe» (HO, 71), den Ort der Handlung weiter Abschnitte des zweiten Teils, ist im Text geradezu versteckt. 104
Cf. HO, 164; MO, 46; CA, 15, 33, 107, 109, 141, 143, 144, 181; SC, 40, 43.
336
Auf welche historischen Ereignisse greift nun der zweite Abschnitt des Romans bevorzugt aus? Der Blick fällt vor allem auf die internen Aspekte des Vichy-Regimes, denen vor den externen Ereignissen klar der Vorrang eingeräumt wird: also Okkupation, Widerstand, soziale und private Gesichtspunkte. Dargestellt werden Geschichtsmomente, die das Verhalten der Franzosen angesichts der Besetzung durch die Deutschen und ihr alltägliches Leben mit dem feindlichen Machthaber zeigen. Dabei stehen, was nicht weiter verwundert, vor allem die Region Loire-Inferieure, die Gegend in und um Random als Ort und der Vater mit seinen Erfahrungen als Figur und Träger der Geschichtsdarstellung im Vordergrund. Gleichzeitig erstellt der Erzähler aber auch ein breitgefachertes historisches Panorama, das zahlreiche Ereignisse und Aspekte dieser schwarzen Jahre aufscheinen lässt. Im einzelnen: Eine erste Gruppe von Bezügen betrifft die private und persönliche Seite der Occupation: Dargestellt werden das Überleben der Menschen in diesen Jahren, ferner die Reaktion der Bewohner auf die Besetzung Randoms durch die Deutschen im Juni 1940 (HO, 121/122) und die sich daraus ergebenden Demütigungen und Gefahren (HO, 122/123,146) sowie die materiellen Schwierigkeiten (HO, 119,142,159). Auch die weit verbreitete Suche nach Zerstreuung, die historisch belegt ist, wird in Des hommes illustres in Form der Aufführung der Trais mousquetaires im Theatersaal der Gemeinde, durch die Lektüre des Vaters und durch den Kinobesuch der Mutter zum Thema gemacht (HO, 118-131, 170/171). Ein sehr ausgeprägtes Feld von Referenzen umfasst zweitens den Bereich Resistance und Collaboration. So werden die loi du 16 fevrier 1943, der von den Deutschen befohlene Arbeitsdienst (STO) und die Flucht des Vaters vor dem Stellungsbefehl im Frühjahr 1943 sowie sein Leben als refractaire auf dem Land (HO, 117-120, 132-136, 141-146, 171) ausführlich behandelt. Das Durchbrechen von Straßensperren der deutschen Armee (HO, 173), die Attentate und Sabotageakte durch die Resistance, die Verhaftung, Folter und Deportation von Widerstandskämpfern durch die Polizei und die französische Miliz, die gefährlichen Missionen des resistant Joseph Rouaud, mit dem Decknamen «Jo le dur» (HO, 172), im «reseau Neptune» und in der Gruppe «Vengeance» und die Zusammenarbeit der französichen Widerstandsgruppen mit der Armee von General Patton (HO, 122, 137, 157, 172) sind Gestaltungen dieses Themenbereichs. Auf de Gaulle und seine im britischen Radio gesendeten appels, mit denen er die patriotische Widerstandskraft des Volkes stärken wollte, wird ebenfalls Bezug genommen (HO, 131, 153). Im Roman wird auf die Erschießung von Geiseln, die am 22. Oktober 1941105 als Vergeltung für deutsche Opfer von /ieswfa/ice-Attentaten auf deutschen Befehl hingerichtet wurden, referiert: Diese sehr dunkle Seite der Okkupation wird in dem kurzen Hinweis auf die «fusilles de Chateaubriant [!]» (HO, 119) aufgerufen. Auch wichtige Elemente des Polizeistaats Vichy, der Vichy-Ideologie, der Collaboration und des marechalisme werden thematisiert: Der Umstand, dass viele 105
Jacqueline Sainclivier: «La France de l'Ouest». In: Jean-Piene Azema/Franpois Bedarida (ed.), La France des annees noires 2: De L'occupation ä la Liberation, Paris, Editions du Seuil/Collection Points Histoire, 2000, p. 381-398, hier p. 395. 337
der Anhänger Petains Politiker in den ländlichen Regionen waren, manche von ihnen zur Kollaboration zu zählen waren und nach dem Krieg, dort sogar gegen die Liste der Widerstandskämpfer, wiedergewählt wurden, wird in Des hommes illustres vergegenwärtigt (HO, 144/145). Auf Petains Ideologie der Rückkehr zur Erde, die ein wichtiger Stützpfeiler seiner revolution nationale darstellte, und seine Vorstellung einer gefährdeten Nation wird ebenfalls Bezug genommen (HO, 144). Auf die Fahrten des Marechal durch das Land wird verwiesen (HO, 166). Dass sich für Petains «ordre nouveau» (HO, 138) 1943 das Blatt - durch den vermehrten Zulauf innerhalb der Resistance und vor allem durch äußere militärische Entwicklungen - so langsam wenden sollte, das Regime darauf aber mit vermehrten Kontrollen und mit erhöhtem polizeilichen Druck reagierte, scheint in der Geschichte um Joseph Rouaud deutlich durch (HO, 137/138). Auch die Realität des Krieges, wie er in Frankreich bzw. für die Franzosen stattfand, wird dargestellt. In der wiederkehrenden Behandlung der Bombardierung Nantes' wird auf die starke Zerstörung der Städte des französichen Westens aufmerksam gemacht, die besonders seit 1943 sehr unter der alliierten Luftstreitmacht gelitten haben. 106 Der Abschuss alliierter Bomberpiloten (HO, 167), die prodeutsche Propaganda in den Wochenschauen (HO, 166), die so manche Niederlage der Achsenmächte kaschierte oder beschönigte, und die Existenz von Straflagern für französische Kriegsgefangene in Deutschland (HO, 135, 156) gehören zu den vom Erzähler angeführten Geschehnissen. Eher selten sind die sich außerhalb Frankreichs vollziehenden Ereignisse zu finden; referiert wird dabei auf zentrale Katastrophen und Unmenschlichkeiten dieses Krieges: auf den Holocaust und die Vernichtungslager 107 durch den Hinweis auf das Leiden der KZ-Insassen und die Ermordung von Zigeunerkindern in Buchenwald (HO, 157/158), auf die blindwütige, unmotivierte Bombardierung der großen Städte am Beispiel Dresdens, durch die Hundertausende zu Tode kamen (HO, 173/174). Diese Struktur des Referenzbereichs besteht in Des hommes illustres also aus vier Themengruppen, drei internen und einer externen: erstens die sozialen, privaten und persönlichen Auswirkungen der Occupation sowie das survivre; zweitens die Aspekte der Risistance und der Collaboration mit der Thematisierung von Widerstand, Arbeitsdienst, Vichy-Regime, Petain, Polizei-Staat und Ideologie; drittens die militärische Realität des Krieges in Frankreich bzw. für Franzosen sowie, viertens, externe Ereignisse, wobei hier die Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten sowohl der Nazis als auch der Alliierten im Vordergrund stehen. Dieser Referenzbereich, der in Des hommes illustres geschlossen präsentiert wird, wird in den folgenden Romanen nahezu unverändert weitergeführt (wobei, um dies vorwegzunehmen, die Darstellung der historischen Ereignisse allerdings insgesamt deutlich weniger Raum einnimmt und auch in keinen vergleichbaren narrativen Zusammenhang gestellt ist). Die internen, Frankreich betreffenden Themen, die j a 106
107
Cf. ibid., p. 389. Cf. auch die Erwähnung der Bombardierung der Stadt Morbihan (HO, 142/143). Cf. hierzu bereits CH, 153.
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ohnehin weit in der Überzahl sind, werden noch stärker in den Blickpunkt gerückt, und die externe Themengruppe fällt nahezu weg. Dabei setzt sich diese Geschichtsauswahl vor allem in zwei der späteren Romane fort: In Pour vos cadeaux und in Sur la scene comme au ciel. Der Roman Le monde ä peu pres verlegt seinen zentralen Referenzbereich auf die Studentenrevolte in der Zeit nach 1968 und nimmt nur mit wenigen Ausnahmen historische Ereignisse der annees noires en France und des Zweiten Weltkrieges (und der Grande Guerre) wieder auf. Die sozialen und persönlichen Folgen der Besatzung für die Franzosen sind in den zwei genannten Werken (CA und SC) auch weiterhin ein ausgeprägter Themenbereich: So werden die Auswirkungen des Krieges auf die Intimkontakte hervorgehoben: «La guerre ne fut pas tendre pour les amants» (SC, 126; cf. auch SC, 163/164). Ebenso werden die Schwierigkeiten betont, die sich durch die Okkupation für das Familienleben ergeben haben (SC, 164). Die schlechte materielle Lage und die Realität des Lebens mit den Besatzern werden ebenfalls aufgegriffen (CA, 83). Die sozialen Repressionen, die nach dem Krieg Frauen galten, denen Fehlverhalten gegenüber dem Besatzer voigewurfen wurde, finden mehrfach deutliche Erwähnung: «l'humiliation d'une tonte publique et ce pilori moderne qui consistait a trainer les declarees fautives ä travers les rues de la ville en les livrant aux injures et aux crachats de la foule» (SC, 168; cf. auch CA, 84). Die Praxis der Presse, von diesen nicht ins französische Selbstbild passenden Vorfällen und Rachegelüsten zu berichten oder diese eben gerade nicht zu erwähnen, findet in dem vierten Roman Erwähnung (CA, 84). Der Themenbereich Widerstand und Kollaboration verliert nichts von seiner Präsenz, im Gegenteil. Es treten jetzt auch einzelne Aspekte der Gedächtnispraxis und die Widersprüche von Resistance und Collaboration mit hinzu (CA, 82-84; SC, 120-123, 163-169). Der den Themenbereich gleichsam umgreifende Arbeitsdienst STO, dem sich Joseph Rouaud durch Flucht entzieht und der ihn in den maquis fuhrt, bleibt historischer Hintergrund auch für Sur la scene comme au ciel (SC, 118-123, 126). Der Eifer und die Willkür mancher Kollaborateure (SC, 119/120) bei den polizeilichen Kontrollen wird genauso dargestellt wie die stumme Komplizenschaft der kleinen französischen Bahnhöfe, «les temoins complices des plus tragiques departs», von denen aus die französischen Zwangsarbeiter in eine ungewisse Zukunft gefahren sind (SC, 120). Jean Moulin wird zum ersten Mal im letzten Werk namentlich erwähnt (SC, 67). Charles de Gaulies Name fällt hingegen überhaupt nicht. 108 Die öffentliche Unterstützung Petains durch gewählte Volksvertreter während der Jahre von Vichy wird wiederholt thematisiert, und es wird zudem darauf verwiesen, dass diese glühenden Patrioten («fervents patriotes») nach dem Krieg wiedergewählt wurden (CA, 83; SC, 167). 108
Nach Des hommes illustres (HO, 153) wird nur noch einmal, in Le monde ά peu pres, auf de Gaulle und den von ihm stammenden Ausdmck der force de frappe angespielt, aber implizit, ironisch und in einer für den heutigen Leser nicht unbedingt mehr evidenten Weise (MO, 27). Die Präsenz dieser historischen Figur in den Texten Rouauds ist also in auffallender Form geringer ausgestaltet, als ihre historische Bedeutung dies nahelegen würde. 339
Auch der dritte Themenbereich, die Realität des Krieges in Frankreich, bleibt gegenwärtig, insbesondere durch die Bombardierung Nantes' (CA, 15, 33, 107, 109, 141, 143, 144, 181; SC, 40, 43) sowie die Befreiung der Loire-Inferieure und den langen und erbitterten deutschen Widerstand dagegen (CA, 84; SC, 112, 163/164), aber auch durch die abgeschossenen alliierten Piloten (CA, 141, 170) und den Verweis auf die französischen Kriegsgefangenen in Deutschland (SC, 41). Der vierte Themenbereich ist in den zwei Werken der serie romanesque nur wenig ausgeprägt: Zweimal wird auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verwiesen (SC, 73, 150), auf das «embrasement general» (SC, 150), und damit der Krieg als weltpolitisches Ereignis in den Blick genommen. Der Holocaust wird mit den sechs Millionen Opfern, die die Vergasungen durch die Nazis gefordert haben, im letzten Roman der Serie wieder erwähnt (SC, 42). Ähnlich wie in der Darstellung des Ersten Weltkrieges lässt sich auch in diesem Referenzbereich ein relativ hoher Grad an Heteroreferentialität ausmachen, der jedoch auch angesichts der deutlichen Fiktionalität und der zunehmenden Metafiktionalität in späteren Werken nicht entscheidend eingeschränkt wird: Die Darstellung der annies noires bleibt in wesentlichen Punkten eine konstruierte Geschichte. Wieder sind die Realitätsbezüge zahlreich und relativ breit gestreut und verweisen auf reale Individuen und Generalia: Viele Orte, Personen und historische Momente sind meist eindeutig referentialisierbar. Besonders die beiden letzten Romanen der Serie oszillieren aber immer häufiger zwischen Hetero- und Autoreferentialität, weil die Selbstzitate und die Selbstreflexivität der Werke zunehmen. Markante textuelle Fiktionalitätsindikatoren sind die zunehmend deutlich dem Bereich der Fiktion zugehörigen Titel, 109 die schon immer deutliche Fiktionalitätssignale setzenden Eingangs- und Schlussformeln 110 und die besonders in Sur la scene comme au ciel klar zu Tage tretende Fiktionalität: Die Kennzeichnung der schriftlichen Quellen, die der Erzähler verwendet - zeitgenössische Briefe, Artikel und Dokumente sowie Passagen aus eigenen und fremden Romanen - , erfolgt hier erstmals durch Kursivdruck und stellt einen deutlichen Versuch zur Authentizitätsmarkierung dar, welcher aber im Grunde die Fiktionalität des Romans nur umso deutlicher indiziert. Hierin liegt, nebenbei bemerkt, auch ein intertextueller Verweis, denn Rouaud verwendet hier ein Verfahren, das an Claude Simon erinnert, etwa an seinen Roman Les giorgiques. Die Darstellung legt den Schwerpunkt auf das historische Geschehen, wenngleich die implizite Behandlung von epistemologischen und geschichtstheoretischen Fragen in Pour vos cadeaux und Sur la scene comme au ciel zunimmt. Der Referenzbereich der intertextuellen Bezüge verweist etwa in gleichem Maße auf nicht-fiktionale wie auf fiktionale bzw. historiographische Textsorten, wobei die
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Waren Les champs d'honneur und Des hommes illustres noch gängige bzw. mögliche Titel für nicht-fiktionale Textsorten, so sind die drei folgenden Romantitel eindeutig literarischer Natur. Siehe die Anfänge medias in res mit den fehlenden Bezügen für die Subjektspronomen und die jeweils letzten Wortgruppen am Ende von Les champs d'honneur und Des hommes illustres.
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nicht-fiktionalen Quellen, die eingearbeitet werden, im Vergleich zur Darstellung des Ersten Weltkrieges leicht zugenommen haben. Das typische Merkmal der historischen Romane Rouauds ist damit hinsichtlich der außertextuellen Referentialisierung diese oszillierende Unentschiedenheit zwischen Fiktionalität und Nicht-Fiktionalität.
4.2.2.3 Cinq annees de cauchemar: Traumatische Tableaus auf der Wanderbühne der Geschichte In Des hommes illustres kommt es, in einer Folge von fünf dramatischen Tableaus, zu einer Art szenischen Darstellung von Episoden aus dem Dorfleben und aus dem persönlichen Erfahrungsschatz Joseph Rouauds, die sich vor dem historischen Hintergrund von Besatzung, Widerstand und Kollaboration sowie Krieg und Holocaust abspielen: Die Geschichte erinnert damit im ganzen an eine Wanderbühne, die an verschiedenen, wechselnden Orten eine historische Szene spielt und dabei auch eine Darstellung der Geschichte liefert. Nach einer Einleitung, die man als kurze historische Szenenbeschreibung lesen kann (HO, 117-120), gruppiert sich das erste Tableau (HO, 120-131) um den Theatersaal von Random. Das zweite (HO, 132-140) führt an den Bahnhof von Nantes, das dritte in das Haus der Christophes am Rande von Nantes (HO, 141-145), das vierte nach Riance und Umgebung (HO, 145-164), das fünfte wiederum nach Nantes (HO, 164-174). Die kurze Einleitung, mit der in Des hommes illustres die narrative Darstellung der Vichy-Zeit beginnt, schließt direkt an die Friedhofszene aus Les champs d'honneur (CH, 185-188) an. Seit dem Begräbnis von Josephs Mutter und Vater ist ein gutes Jahr vergangen, 111 wir sind im Februar 1943. Joseph Rouaud erhält per Post die Einberufung zum Arbeitsdienst in Deutschland. Die Tatsache, des STO ist der Ausgangspunkt und Auslöser für alle weiteren Ereignisse - für Josephs Flucht über Nantes nach Riance, wo er seine zukünftige Frau Anne Burgaud kennenlernt - und steht deswegen gleichsam als Urszene vor den folgenden fünf Tableaus. Wieder wird die Geschichtsdarstellung in dieser Sequenz mit sehr präzisen Zeitadverbien, Ortsangaben und Details zu den historischen Ereignissen versehen: Eine historische Zeit wird etabliert, die sich deutlich von der mythischen, Zeit in Teil I des Romans abhebt, in dem zeitlich unbestimmte Adverbien vorherrschen. 112 Eine auffallend große Zahl von Daten 113 und geradezu juristisch genauen Angaben zu dem Ereignis, mit juristischen Wendungen, 114 schriftsprachlichen Merkma111 112
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«Quinze mois s'etaient ecoulös depuis» (HO, 117). Cf. den Anfang von Des hommes illustres: «En milieu d'apres-midi», «A la mauvaise saison», «De temps ä autre», «Quelquefois aussi», «Le lendemain d'une coupure de courant» (HO, 9-12). «Toussaint 41», «un matin de fövrier, jour anniversaire de ses vingt et un ans» (HO, 117), «juin 40» (HO, 121). «Ladite commission avait juge que le grand jeune homme triste ripondait ä la definition [...]» (HO, 117). 341
l e n " 5 und dem als Zitate markierten konkreten Inhalt des Gesetzes, 116 vermitteln am Beginn dieses zweiten Teils den Eindruck der narrativen Transparenz und eines authentischen Erzählens. Doch diese transparente Darstellungsweise der Historie ändert nichts an der zunehmenden Fokussierung auf die Szenerie in Random, wodurch deutlich wird, dass das Thema der Resistance und Collaboration vom thematischen Rahmen des survivre bzw. der konkreten Konsequenzen der Occupation umschlossen wird. Die genauen Angaben zum STO führen zu dem Hinweis, dass Joseph in seinen Koffer, den er für seine Reise nach Deutschland packt, auch die Ausgabe der Trois mousquetaires hineinlegt, von der er eine freie szenische Bearbeitung aufzuführen beabsichtigt hatte, mit ihm selbst in der Rolle des Planchet. Die Aufführung des Theaterstücks wird jetzt durch den STO und die mögliche Abwesenheit Josephs bedroht. Doch die Inszenierung kann stattfinden und wird mit großem Beifall bedacht. Die äußeren historischen Ereignisse fließen stellenweise in diesen übelgeordneten Erzählrahmen ein und werden als kurze und lose Episoden und Kommentierungen eingestreut: So bilden sie gleichsam das zeithistorische Bühnenbild und den achronischen Hintergrund für die Szenen aus dem Dorfleben von Random und Riance. Man erfährt über den Umstand, dass in den Zuschauerreihen Uniformen zu sehen sind, wichtige lokalhistorische Fakten: den Einmarsch der deutschen Truppen, die Random im Juni 1940 besetzen (HO, 121), und ferner die zwei zaghaften Akte des Widerstands, die in dem Ort stattfanden und die der Erzähler ironisch berichtet (HO, 122/123). Dabei wird die Besatzungszeit als eine schmachvolle Demütigung geschildert (HO, 122/123). Im Kontext des STO erwähnt der Erzähler nebenbei die «fusilles de Chateaubriant» und das System der Versorgungsmarken (HO, 119). Die «tickets de rationnement» waren von allen zum Arbeitsdienst Einberufenen vor der Abreise abzugeben. Doch Joseph ignoriert diese Weisung von oben genauso wie die Repressalien der deutschen Besatzer (nach dem Attentat auf den Stadtkommandanten von Nantes) und näht die Marken in das Futter seiner Jacke ein. Beide Hinweise erhöhen das Spannungsmoment der Geschichte und zeigen Joseph als mutigen und aufsässigen Menschen, der sich von äußeren Gefahren und Weisungen nicht beeindrucken lässt. Mit großer Ironie wird in der Inszenierung der Trois mousquetaires auf den Rückzug, auf die de Gaulles nach London, am 17. Juni 1940, und auf seine Radio-Appelle an das französische Volk angespielt. Der brillante Einfall ist natürlich von Joseph, der den Planchet spielt: Au moment oü d'Artagnan s'embarque pour l'Angleterre en quete des ferrets de la reine, on vit Planchet accourir en brandissant deux Cannes ä peche. >), direkte oder indirekte Fragen, Inzisen («- pour embrasser qui, selon toi? -») sowie Imperative und verständnissichemde Formulierungen, wie sie in dieser Kommunikationsform typisch sind («c'est un peu grandiloquent mais tu peux comprendre»; «oui, tu as bien entendu»). Andererseits wird die gesamte Szene zu einem literarischem Glanzstück ausgearbeitet. Der Eindruck des gedrängten, atemlosen und angsterfüllten Sprechens wird durch literarische Mittel erreicht, die
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Ibid.
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als weitere Fiktionalitätsindikatoren gelten können: Rouaud verwendet mit Hilfe zahlreicher Partizipien eine verdichtete Beschreibungstechnik, die die Ereignisfülle und Parallelität der Eindrücke, die der Erzähler bekommt und wiedergibt, zum Ausdruck bringt (HO, 168/169). Die Geschichtsdarstellung greift über das erzählte Szenenbild und den aktuellen Rahmen hinaus, weil der Erzähler auf den Charakter Josephs, auf spätere Ereignisse aus seinem Leben und auf historisches Gesehenen verweist: auf die Resistance und die Bravourakte von Jo le dur sowie auf das sich nur langsam in der Bretagne durchsetzende Ende des Krieges. Stilmittel wie der rythme ternaire (HO, 168, 171), eine gesuchte Lexik und Vergleiche («un bain bleu pale d'empyree», «comme des maisons de poupee») und eine expressive Wortwahl und Metaphorik138 runden die Darstellung dieser traumatischen Szene ab. Die starke Literarisierung der Bombardierungsszene in Nantes wird auf diese Weise - durch biblische Symbolik und Ikonographie, durch spezifisch literarische Mittel und metafiktionale Kniffe - zum realitätsenthobenen, ironisch-distanzierten und gleichzeitig menschlich konkreten und emotionalisierten Geschichtsdrama stilisiert, das aber trotz dieser Fiktionalitätsindikation eindringlich die historische Situation zum Ausdruck bringt: eine seltsame Mischung aus Ironie und Distanz des Erzählers einerseits, emotionalisierter Anteilnahme am Los der historischen Symbolfiguren, Mutter und Vater des Erzählers, andererseits. Wieder ist es die Empfindungswelt eines direkt am geschichtlichen Geschehen Beteiligten, der Blick eines Menschen, der mit Anne und Joseph vor den Bomben flieht, den der Erzähler wiedergibt und der in diesem Abschlusstableau die Darstellung der Historie prägt. Auch wenn die Leser dies schon vorher wussten: Im Gegensatz zu Freddy und den Hunderttausenden von Toten in Dresden (HO, 173/174) - «cet Hiroshima έ l'ancienne», wie der Erzähler zynisch anmerkt - haben Anne und Joseph das Bombendrama in Nantes überlebt, und mit ihnen der nunmehr von einer Last befreite Erzähler: «ouf, nous sommes sauves» (HO, 174). Führen wir nun für die Darstellung der Geschichte die Kriterien Nünnings zusammen. Die Geschichtsdarstellung in Des hommes illustres ist sowohl diegetisch, indem sie das historische Geschehen in einem Erzählzusammenhang erzählt, also narrativ darbietet, als auch extradiegetisch, indem der Roman über die Erzählerfigur das historische Geschehen präsent hält sowie ironisch, zynisch und kritisch reflektiert. Die Gestaltung der diegetischen Ebene ist ereignishaft, aber meist fragmentarisch. Auf der Wanderbühne der Geschichte werden keine kompletten Historien , sondern allenfalls Ausschnitte derselben dargestellt: historische Szenenbilder. Die annees noires werden zwar im großen und ganzen in einem chronologischen Zusammenhang erzählt - die fünf Tableaus folgen zeitlich aufeinander - , und die gesamte historische Handlung wird auf die Einberufung zum STO im Februar 1943 zurückgeführt. Aber die Darstellung enthält immer wieder achronische Einschübe
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Siehe «le labourage tragique 6ventre ä pr&ent la place Graslin», «antichambre des refuses de la vie», «sauce de mercure», «cet Hiroshima k l'ancienne», «ä cöt6 de toi une femme s'effondre et par son ventre ouvert libfere ses entrailles». 353
und Anspielungen. Die extradiegetische Ebene, die Erzählerinstanz, ist in dominanter Weise explizit, allerdings mit der Ausnahme, die ähnlich auch schon für Les champs d'honneur galt. Bei der Darstellung der res gestae aus den Jahren 1939-1945 (HO, 117-174) nimmt die Transparenz des Erzählers zu: Er ist großteils nur noch implizit präsent. Das Erzählen wird , die Illusionswirkung damit größer; die humorvolle Ironie des ersten Teils, die sich dort auch auf Geschehen und Personen bezog, weicht zudem oft einem wachsenden Zynismus (bezüglich der historischen Ereignisse), wobei auch die Personenironie merklich abnimmt. Am Ende des Romans (HO, 171-174) meldet sich der Erzählers in einer metafiktionalen Geste aber wieder zurück, stellt sich selbstironisch in den Erzählrahmen hinein und bricht die Illusion auf deutliche Weise. Insgesamt gilt wieder für das Kriterium der Gestaltung und Relationierung der Erzählebenen ein Oszillieren zwischen diegetischer und extradiegetischer Darstellung, mit einer in Des hommes illustres hervortretenden leichten Dominanz des ersten Poles. Beim Kriterium des dominanten Zeitbezuges und der Vermittlungsformen fällt die im Vergleich zu Les champs d'honneur größer gewordene Vergangenheitsorientiertheit auf, die schon allein quantitativ feststellbar ist: Denn der gesamte zweite Teil gilt uneingeschränkt der Vichy-Zeit und wird in dominanter Weise linear-chronologisch dargeboten; anders als im gegenwartsorientierteren Erstling, welcher länger im Rückwartsgang forschreitet und im Jahr 1916 seinen narrativen Umkehrpunkt hat, von dem aus erst die Linearität der Chronologie einsetzt. Des hommes illustres greift auch weniger auf vorausgehende und nachfolgende Geschichtsereignisse aus als der zwischen den verschiedenen Zeitebenen markanter oszillierende Roman Les champs d'honneur, welcher auch stärker die Gegenwart der Vergangenheit im Heute, im Akt des Erzählens selbst zum Ausdruck bringt. Der dominante Erzählmodus ist auch in Des hommes illustres der diskursivexpositorische mit Beschreibung, Kommentar und Reflexion in der Erzählerrede. Nur ganz selten wird Figurenrede eingestreut. Wie eben schon gezeigt, wird der Explizitätsgrad der Darstellung von Geschichte im Teil II (HO, 117-174) geringer und wechselt zu einer spezifisch literarischen Vermittlung wie der Semantisierung des Raumes und der Gegenstände. Dabei changiert der dominante mode of emplotment von Ironie zu Zynismus, von Komödie zu Tragödie und Traumabild. Die Form der Geschichtsvermittlung wechselt von spielerisch zu argumentativ und oszilliert zwischen humorvoll-ironisch und ernst-zynisch. Die Darstellungsform ist im Teil II deutlich ernster und zynischer als in Teil I, was sich etwa an der Behandlung der Metaphern und Vergleiche zeigen lässt. Für das Kriterium der Relation zwischen Roman und dem Wissen der Historiographie gilt einerseits der Verzicht auf kontrafaktische Realitätsreferenzen, andererseits eine große Bandbreite an extensiv behandelten Themen. Die dargestellten Räume und Figuren sind ins historiographische Wissen problemlos integrierbar, es wird auf reale Personen, Orte, Ereignisse und historische Details plausibel referiert. Zudem wird an so manchen alten Tabus gerüttelt. Gleichwohl wird wie im Fall der bombardierten Stadt Nantes der Raum stark semantisiert, das heißt symbolisch aufgeladen: Mit diesem explizit und spezifisch literarischen Mittel wird der subjektive Eindruck und 354
die emotionale Beteiligung eines sich erinnernden Augenzeugen wiedelgegeben und die fiktionale Literatur als legitimer Zugang zur Geschichte bestätigt. Also gilt auch in diesem Roman eine schwebende Unentschiedenheit zwischen einer faktenorientiert-realistischen und einer poietisch-fiktionalisierten Darstellung, wobei sich die Faktenorientierung und die Intergrierbarkeit an keiner Stelle aufheben.139 Die dominanten Illusionstypen sind neben der Rede- und Referenzillusion eine recht deutlich ausgeprägte Situationsillusion, die auch höher ist als in Les champs d'honneur und allein auf den letzten Seiten markant gebrochen wird. Die fünf traumatischen Tableaus tauchen mit den beherrschenden Themen dieser «cinq annees de cauchemar» (SC, 163) und ihren wichtigen Aspekten im Verlauf der folgenden Romane140 immer wieder auf. Gerade die Mehrfachthematisierung dieser historischen Ereignisse belegt die traumatische Bedeutung, die diese Weichen stellenden Momente innerhalb der Familiengeschichte und für den Erzähler besitzen. Es findet aber in Pour vos cadeaux und Sur la scene comme au ciel eine Verschiebung zu den Polen Gegenwartsorientiertheit, Illusionsstörung, Metafiktion, Kritik und Reflexion statt. Die diegetische Vermittlung geht deutlich zurück, die Erzählerkommentare werden noch viel expliziter. Der Ton wird dort sehr viel nüchterner, der Literarisierungsgrad nimmt ab, die Kommentierung und argumentative Kritik am historischen Geschehen sowie die Reflexion darüber werden hingegen zur dominanten Intention des Erzählers. Die Gegenwartsorientiertheit nimmt deutlich zu. Die Situationsillusion wird immer mehr gebrochen, im Gegensatz zur Referenz- und Redeillusion: Der Eindruck der Authentizität des Erzählten und die Anschließbarkeit an das Wissen der Historiographie werden dabei aber gerade nicht zurückgedrängt, sondern verstärkt. Die in den Kapiteln 4.2.1 und 4.2.2 analysierten Referenzbereiche Erster Weltkrieg und Vichy-Regime sind die zentralen, nicht aber die einzigen Geschichtsprozesse des zwanzigsten Jahrhunderts, die die Romane Rouauds darstellen. Immer wieder thematisieren die Werke die französische Geschichte, meist aber nur in den für diesen Autor so charakteristischen weit gestreuten, intensiven und epigrammatischen Anspielungen. Zahlreiche weitere Personen nicht nur der französischen Geschichte,141 sondern auch der allgemeinen Religions- und Kulturgeschichte142 werden zum Teil mehrfach genannt, und es würde viel zu weit führen und vor allem wenig Erkenntnisgewinn bringen, alle diese historischen Referenzen einzeln aufzuzählen und zu untersuchen. Wieder gilt, was bereits oben für die innerliterarische Intertextualität gesagt wurde: Die Romane Rouauds verstehen sich als kultureller Gedächtnisspeicher, indem sie
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Auf den geschichtskntischen Gehalt der Werke wird unten noch gesondert eingegangen. Gemeint sind Pour vos cadeaux und Sur la scene comme au ciel. Leon Blum (CH, 186), Talleyrand (CH, 115), Leon Ier und Genseric (CH, 162/163), Ronald Reagan (SC, 15) und andere. Siehe die vielen Heiligen, Seefahrer, Komponisten, Maler und bildenden Künstler, Regisseure, Schauspieler, nicht zu reden von den oben bereits dargestellten Bezügen zu Dichtem und Schriftstellern.
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in ihrem Textraum eine große Menge an historischem Wissen vergegenwärtigen und präsent halten, das in die Gegenwart des Erzählers integriert wird und den Leser zur vertieften Auseinandersetzung anregen kann. Einige historische Geschehnisse des zwanzigsten Jahrhunderts werden ausführlicher behandelt. So wird der Themenkomplex Kolonialismus, Algerienkrieg und harkis an mehreren Stellen angesprochen und damit auch in einen Zusammenhang mit den vorausgehenden Katastrophen und Kriegen dieses Jahrhunderts gestellt. 143 In Le monde ά peu pres wird zudem ein sehr ironisches Bild der französischen Studentenbewegung gezeichnet. Auf diese zwei für Frankreich ebenfalls sehr bedeutsamen historischen Ereignisse, die mit ihren Konsequenzen und Problematiken bis in die französische Gegenwart hineinreichen und mit deren Aufarbeitung erst rund vierzig Jahre nach Kriegsende begonnen wird, 144 kann jedoch nicht näher eingegangen werden. Es liegt auf der Hand, dass Jean Rouaud in seinen Romanen vornehmlich diejenigen politischen und historischen Ereignisse auswählt, deren Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein der Franzosen zentral ist und die Gemüter immer noch beschäftigt, die prägend gewirkt haben. Viele andere Ereignisse, vor allem aus der Politikgeschichte, werden deswegen auch gar nicht thematisiert. Eine weitere Gruppe von Themen wird klar in den Vordergrund gerückt: Rouauds Werke schreiben nämlich nicht allein eine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts mit Destruktion und Kriegskatastrophen, «ce siecle qui nous accoutumait ä detruire» (HO, 48), sondern auch eine Mentalitätsgeschichte, die in einem mikrohistorischen Fokus die Prozesse der longue duree einfängt und historisch-anthropologische Themen in den Mittelpunkt stellt. Diese markant ausgeprägte inhaltliche Orientierung wird im folgenden Abschnitt anhand einer symbolträchtigen Szene des ersten Romans entwickelt und dann im gesamten Werk nachgewiesen. Auf eine erneute ausführliche Analyse mithilfe der Nünningschen Matrix wird diesmal jedoch verzichtet: Sie würde keine grundlegend neuen Ergebnisse erbringen.
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Siehe unter anderem CH, 54, 146, 157; HO, 48. Ein kurzer Verweis auf die nach wie vor bestehende Aktualität dieser Historie möge als Beleg dafür genügen, dass diese Vergangenheit in Frankreich noch immer nicht vergangen ist: Erst an der Wende zum neuen Jahrtausend wurde die Anerkennung der harkis durch den Präsidenten Jacques Chirac vollzogen, ebenso spät erfolgte durch die staatspolitischen Instanzen die Bewusstwerdung und Anerkennung der Ermordungen algerischer Demonstanten während der Algeriendemonstrationen in Paris 1961, erst genauso spät rückte die Problematik der Folter während des Algerienkrieges wieder ins Bewusstsein der Franzosen.
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4.2.3 Archäologische Suche nach der Vergangenheit auf dem Dachboden der Geschichte: Der Roman als historisch-anthropologisches Gedächtnisarchiv 4.2.3.1 Un releve stratigraphique des generations successives: Zum geschichtstheoretischen Ort der Romanserie Die Dachboden-Szene in Les champs d'honneur beschreibt mit der archäologischen Suche des Großvaters nach den physiognomischen Ähnlichkeiten, die von den portraitierten Ahnen auf die Generation der Gegenwart vererbt wurden, eine poetologische Selbstreflexion des Erzählers: Jean setzt nämlich die Arbeit seines Großvaters fort und markiert an dieser Stelle, wie oben ausgeführt, die mnemonische Struktur seiner metafiktionalen Erzählung. Gleichzeitig setzt diese fundamentale Passage aber auch den Begriff von Geschichte und von Geschichtsschreibung in Szene, den Jean Rouauds Romane vermitteln. Der Großvater macht sich auf die Suche nach dem mystere de Commercy, dessen vollständige Aufklärung der Tod der Tante verhindert hat. Alphonse steigt auf den Speicher des Hauses, kramt herum und räumt auf. Er wirkt im Reiche Chronos', kann die Vergangenheit, die er sucht, aber nur als schwer lesbare Spuren wahrnehmen. Denn wieder hat die gefräßige Zeit zugegriffen und die res gestae verschlungen. Übrig bleiben die brüchigen materiellen Zeugen einer vergangenen Zeit, die nur unvollständig erzählen, was einmal war. Sie lagern als babylonisches Chaos im Abfalleimer der Geschichte, auf dem Dachboden: De fait, on ne reconnaissait plus le grenier. Si Ton consid&e que l'ordre n'est qu'une Variation algorithmique subjective du dösordre, alors on peut dire du grenier ordonni selon grand-pere que c'etait la meme chose qu'avant mais dans le desordre, c'est-ä-dire qu'au chaos il avait substitue un autre chaos, avec cette difference pour nous que celui-lä ne nous etait pas familier. Sur les etageres ou avaient ete diposes au fil du temps de pröcieux dechets de civilisation, au point de constituer une sorte de relev6 stratigraphique des generations successives et de leur ölementaire idee de survie, grand-pere, en modifiant le spectre de cette accumulation, avait brouillö le temps, battu les cartes de notre Pincevent familial. Dans cette nouvelle donne, tous nos reperes avaient disparu. Avec les memes elements il avait compose un autre tableau, une autre histoire. II faudrait s'habituer desormais ä cette redistribution de la m6moire [...]. (CH, 138/139)
Die Beschreibung dieser Aufräumarbeiten des Großvaters ist sehr wahrscheinlich die Schlüsselstelle des Romanwerkes überhaupt. In jedem Fall eröffnet sie dem Leser das Verständnis von Geschichte, das dem Werk zugrundeliegt. Geschichte, also die Geschehnisse der Vergangenheit bilden keine strukturierte Ordnung, die sich dem Betrachter in einer gleichsam organischen und spontanen Weise offenbart. Die Spuren der Geschichte formen ein «desordre», ein Chaos, und das Vergangene erhält sich mit seinen fragmentarischen Überbleibseln in einem lose aufgehäuften, heterogenen Berg von Schichten, die es vorsichtig abzutragen gilt: «un releve stratigraphique», «cette accumulation». Der Dachboden wird zum privaten Ausgrabungsort, an dem die Prähistorie der Familie greifbar wird: Er 357
stellt «notre Pincevent familial»145 dar, wie der Erzähler ironisch anmerkt. Hier kommen unterschiedlichste Dinge zu Tage, die entweder bereits vom Zahn der Zeit angefressen sind, wie der einarmige Teddybär, der zerbrochene Spiegel oder ein verwaister einzelner Schuh. Daneben gibt es andere Objekte, die von sich aus nicht mehr ohne weiteres mit einer klärenden Erzählung belegt werden können: «ces objets en soi reapparus sans legende» (CH, 139). Deutlich wird hier das Geschichtsverständnis des Erzählers metaphorisch umgesetzt und hervorgehoben. Geschichte wird als Geschichtetes, das erzählt werden muss, verstanden: Geschichte besteht also aus den Geschichten «aufeinanderfolgender Generationen und ihrer elementaren Vorstellung vom Überleben». Die Lesbarkeit dieser Spuren hängt von jedem einzelnen ab: Das Individuum unterzieht das ungeformte Gebilde der materiellen Geschichtsreste seiner subjektiven Lesart, wirkt damit als Hermeneutiker, der seine Geschichte als individuelle Variante, als «une variation algorithmique subjective», narrativ ordnet und die Zeit auf seine ganz eigene Weise strukturiert («modifiant», «brouille le temps», «battu les cartes»). Sehr offensichtlich wird hier die Anschließbarkeit hinsichtlich der narrativen Theorie Paul Ricoeurs, die oben dargestellt wurde. Erfahrungen, so setzt der Rouaudsche Erzähler hier voraus, können in jeweils unterschiedlichen mises en recits, wie der Philosoph Ricceur sagen würde, narrativ strukturiert werden. Denn jeder malt sein eigenes Bild, erzählt seine eigene Geschichte: «un autre tableau, une autre histoire». Die jeweilige Art der narrativen Ordnung, die jeweilige Interpretation der Geschichte muss nicht jedem Menschen in gleicher Weise zugänglich sein: «Dans cette nouvelle donne, tous nos reperes avaient disparu». Aber die Spuren der Vergangenheit, wie unleserlich, fragmentiert oder weit entfernt sie auch immer sein mögen, erhalten doch eine Verbindung zur Gegenwart der Lebenden, wenn man sie entsprechend ordnet und ihnen Leben einhaucht. Dies vollzieht der Großvater, indem er die Portraits der Verstorbenen in einer Weise zusammenstellt, die nicht genealogische Verbindungen, sondern Familienähnlichkeiten ans Licht befördert: C'est ainsi que grand-pere avait exhume une serie de portraits photographiques qu'il avait alignes [...], les classant non dans un souci genöalogique mais en regroupant des families de ressemblance, par affinites morphologiques, comme s'il avait cherche dans cette theorie de la reincarnation ä retrouver la trace du passage de la vie, ä saisir par ce fil rouge des similitudes une recette d'immortalite. (CH, 139/140) Auf einmal werden Zusammenhänge sichtbar, die dem Betrachter vorher verschlossen waren. Der Erzähler fasst das semantische Problem der historischen Sinnbildung ins Auge, nicht zuletzt durch den Verweis auf den Semantik-Begriff der Familienähnlichkeit. Erkennbar sind die Dinge, die wir über den Vorgang der Kategorienbildung in Sprache setzen können. Auch hier lässt sich mit Hilfe der Theorie Paul Ricoeurs interpretieren: Die narrative Strukturierung, hier das
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Pincevent ist ein prähistorischer Ort im D6partement Seine-et-Mame, der Spuren eines Lagers aus paläolithischer Zeit enthält.
Ordnen der Bilder, konstruiert einen Sinn, «ce fil rouge», der nun dem Leser eine Identitätskonstruktion anbietet, die zwar nur partiell, aber nichtsdestoweniger überzeugend sein kann: Confronte ä ces bribes de nous-memes epaipilles dans ces visages anciens pour la plupart inconnus, on ne pouvait nier etre une partie perdurante de ceux-lä. On reconnaissait dans les yeux de cette lointaine ai'eule (un presque daguerriotype) les yeux intacts de Zizou et c'etait troublant, cette transmission du regard ä travers la mort. (CH, 140) Es werden zwischen den Individuen Beziehungen hergestellt, die über die Zeit hinweg bestehen können. Allerdings wird keine Identitätsrelation im deterministischen Sinne formuliert: Vergangenheit kehrt niemals als eine identische wieder. 146 Dabei bildet Geschichte nicht eine lineare oder gar kausale Genealogie, sondern tritt in einzelnen äußeren Merkmalen, unverhofft und auch erst nach langer Zeit wieder an die Oberfläche der Gegenwart. Aber sie überlebt und erhält sich irgendwie doch. So wird die Gegenwart wie auch die Geschichte erst eigentlich in der Rückschau auf Prozesse der langen Dauer erfahrbar und verstehbar. Vergangenheit ist also mit dem Tod der Menschen noch nicht beendet, sie lebt weiter, solange es andere Menschen gibt, die weiterleben können und die Reihe der Ahnen fortsetzen. Auch wenn diese Vergangenheit in einer alten Schuhschachtel Platz hat, die nur scheinbar Wertloses enthält, sie wird groß und erst richtig lebendig durch das Erzählen einer Geschichte. Wie die Märchenwelt einer Scheherazade (CH, 141) allein in ihrem Kopf vorhanden und direkt mit der Frage nach Leben oder Tod verbunden ist, wird auch die boite ä chaussures, die kein echtes Gold enthält, zur sinnstifitenden Lebenserzählung, zur Goldgrube für die Erinnerung, zur Ressource für die Bildung familiärer Identität: «eile nous apporterait pour le moins la preuve de quelque ascendance glorieuse» (CH, 140). Der Schuhkarton, dessen Inhalt das Material für die Geschichtserzählung enthält, ist die Metapher für das narrativ zu konstruierende Gedächtnis des Erzählers, das auch zum kulturellen Gedächtnis wird und auf seine Weise von der Herkunft der Franzosen erzählt. Wie die Augen der Urgroßmutter in denjenigen Zizous wiederkehren und so die longue duree der Geschichte ins Bild setzen, greift der Erzähler auf das geschichtliche Langzeitgedächtnis aus, das Entwicklungsprozesse von Merkmalen und Mentalitäten beschreibt, die sich über Jahrhunderte fortgesetzt haben. Die erinnerte Bretagne ist, wie zu zeigen sein wird, als mehrschichtiger Geschichtsraum konstruiert, in dem die Spuren der Vergangenheit, welche lange Zeit nachwirkt und in bestimmter Form wiederkehrt, noch lesbar sind: Der Roman inszeniert im theoretischen Rahmen von mentalitätengeschichtlichen und mikrohistorischen Ansätzen ein historisch-anthropologisches Gedächtnisarchiv, dessen Inhalt und Gestaltung im folgenden nachgegangen wird.
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Erinnert sei hierbei an ein Wort Wittgensteins, auf den Rouaud in dieser zentralen Szene mit dem Begriff der Familienähnlichkeit anspielt: «Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn [...]» (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1971, p. 83). 359
4.2.3.2 Ce message sourd venu des profondeurs: Die erinnerte Bretagne im Sog der Geschichte Anthropologisches Archiv und Echoraum einer mythischen Vergangenheit Die historische Region der Bretagne,147 die der Erzähler in der Erinnerung beschreibt, ist ein semantisierter Raum, in dem die konkrete Geschichte Frankreichs stattfindet, und ein Gedächtnisraum, der über das Gedenken an die Toten das Wirkungsfeld der Vergangenheit ins Jetzt hinein verlängert. Sie ist damit gleichzeitig also auch als ein Echoraum einer zeitlosen, mythischen Vergangenheit gestaltet, deren Ewigkeitswert für die Gegenwart immer wieder problematisiert wird: Unter der Oberfläche der Moderne brodelt bei Rouaud das Feuer einer langen Geschichte. Der bretonische Granitstein sendet Signale aus fernen Zeiten, die Jean aufnimmt und in seine Erzählung einflicht. Denn wie sich auf dem Dachboden des Rouaudschen Hauses Familiengeschichte unter Schichten von Staub liegend, vergilbt und brüchig erhalten hat, aber noch immer lesbar gemacht werden kann, und so wie der Grabstein aus Granit für den jungen Jean mit der Erinnerung an den Vater nahezu identisch wird und als Gedächtnisort für eine private Totenmemoria dient,148 sind auch tief im bretonischen Boden Geschichtsspuren enthalten, die sich in einer gleichsam geologischen Gedächtnisarbeit entziffern lassen. Das Ausgraben von Vergangenheit geht in die Richtung einer Art , die den Geschichtsraum Loire-Inferieure in einer anthropologischen Perspektive betrachtet und Langzeitprozesse erfasst. Denn Rouaud thematisiert mit seiner Geschichtserzählung auch den Gedächtnischarakter der Erde, die als ein in die Prähistorie zurückreichender Gedächtnisort fungiert. Der Romancier setzt damit eine Thematik in Fiktion um, die moderne Historiker erkannt und unlängst als lieu de memoire beschrieben haben: «La terre, physiquement, est la premiere de toutes les archives».149 Der bretonische Boden des «massif armoricain» fungiert vor allem in Des hommes illustres unübersehbar als mineralisches Archiv erdgeschichtlicher Prozesse, die auf die «premiers matins du monde» (HO, 25) verweisen: «Le granit est une röche dure comme les hommes parfois sont durs: d'en avoir trop Supporte. C'est une röche cristalline, magmatique, formee dans les entrailles de la terre» (HO, 26). Wie der Mensch ein Gedächtnisträger, so ist auch der Granit ein Zeuge der Vergangenheit, allerdings mit einem weitaus langlebigeren Gedächtnis: «La, tout le sous-sol resonne de ce message venu des profondeurs» (HO, 26). So sichern die Steine eine Verbindung zwischen der mythischen Urzeit des Kosmos und der Gegenwart der Menschen.
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Das Dfyartement Loire-Inferieure, in dem der Erzähler geboren wurde, heißt heute Loire-Atlantique und liegt in der Verwaltungseinheit der Pays de la Loire, historisch bildet es aber den südlichsten Teil der Bretagne traditionnelle. Siehe oben Kapitel 3.1.1.4. Armand Fremont: «La Terre». In: Pierre Nora (ed.), Les lieux de mimoire. III: Les France 2: Traditions, Paris, Gallimard, 1992, p. 18-55, hier p. 33.
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Und diese mythische Landschaft prägt den Charakter und die Lebensformen. Die bretonischen Menschen, als mythisches Personal ausgewiesen, 150 haben diese Gegenwart des Urzeitlichen daher auch in ihr Leben integriert: Sie leben in einem immergleichen mythischen Kreislauf der Naturgewalten. Dieser Rhythmus ist eine ewige Wiederkehr des Gleichen (HO, 32, 82), die zu verändern einem tiefen Eingriff in kosmische Abläufe gleichkäme: «c'est-ä-dire bousculer la marche des planetes, la belle alternance des jours et des nuits, le cycle des saisons dont la vie, si miserable soit-elle, s'est jusque-lä arrangee, s'arrangera encore demain» (HO, 31). Joseph Rouaud, der Autodidakt und Hobby-Historiker (HO, 17), ist in diesem mineralischen Raum buchstäblich in seinem Element. Joseph besitzt eine ausgeprägte Leidenschaft für alte Steine und liest in ihnen wie in einem offenen Buch, das ihm seine Entstehungsgeschichte erzählt: «II 6tait devant un chaos rocheux, un menhir ou un mur savamment appareille comme devant un arbre genealogique» (HO, 25). Der Stein hält die Spuren fest, im Gegensatz zum verräterischen Wasser, das diese auslöscht und die Vergangenheit überschwemmt (HO, 25). Allenfalls hätte der das Solide liebende Joseph dem flüssigen Element in seiner festen Form, als Packeis, vertraut, weil es in diesem Aggregatzustand Schichten von fossilen Spuren enthält, was es dem Granit ähnlich macht. Aber für die bretonischen Breiten stellt sich hierbei ein nicht unerhebliches Problem, wie der Erzähler ironisch anmerkt: «la derniere glaciation remonte ä trop longtemps en Loire-Inferieure» (HO, 26). Der als Handelsvertreter für einen Porzellan-Grossisten in Quimper kreuz und quer durch das Straßen-Labyrinth der Bretagne reisende Joseph Rouaud ist ein «neuer Odysseus», 151 der immer nach sechs Tagen auf Reise am Samstag wieder nach Hause findet. Seine Fahrten durch den Raum sind jedoch keine ziellosen Abenteuer, vielmehr eine strategisch geplante Aneignung desselben durch den von der Moderne und der Geschichte gleichermaßen faszinierten Mann: Auf an die Wand gehefteten Michelin-Karten hat er mittels Stecknadeln und Bindfaden seine Reiserouten markiert, wie ein Seefahrer orientiert er sich an dieser «constellation bretonne»: «Au premier coup d'ceil il savait a quoi s'en tenir. II avait etabli un code savant qu'il etait seul ä maitriser [...]» (HO, 28). Joseph wird zur mythischen, bald aber auch zur tragischen Figur: «Semaine apres semaine, les fils dessinaient en lignes brisees les chemins d'Ariane qui sourdement terrassaient notre pere Minotaure» (HO, 29). Der Vater selbst wird durch diesen Raum und durch das mineralische Element kaputt gemacht werden. Bei dem Versuch ein schweres steinernes Kapitell, «qui depuis cinq ou six siecles attendait dans la terre bretonne» (HO, 77), in sein Auto zu heben, verletzt sich Joseph am Rücken und bekommt Schmerzen, die ihn nicht mehr loslassen werden: Mit der Achse des Autos bricht gleichsam das Rückgrat des Vaters, und sein baldiger Tod kündigt sich an (HO, 78). Josephs Beruf, der das
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Der Bauer, der seinen Wagen lenkt, wird zum antiken Wagenlenker («aurige», HO, 32), «monsieur Rene», der wie ein «cadran solaire» (HO, 36) funktioniert, steht als Symbol mythischer Zyklik. Jean-Pierre Richard: «Paysages Personnages». In: Lendemains XX, 78/79 (1995), p. 27-39, p. 35. 361
Schleppen schwerer Musterkoffer mit Porzellan und Glas mit sich bringt, hat ihn zusätzlich schwer angeschlagen (HO, 81). Durch die Flurbereinigung, die die Bretagne und den Vater damit persönlich als Identitätskrise Anfang der sechziger Jahre trifft, wird seine Interpretation des Vergangenheitsraums vollends ins Wanken gebracht, er selbst orientierungslos (HO, 82). Sein privates Steingartenprojekt verbleibt bei seinem Tod auf der Stufe eines Torsos: Der Garten verwildert, die vielen Steine sind unbrauchbar geworden. Sehr ambivalent, um nicht zu sagen desillusioniert bewertet der Roman also die Versuche des Vaters, sich diesen Raum und seine Geschichte anzueignen. Der Granitstein, als maskulines Gegen-Zeichen für die terre-mere und die Bretagne, entzieht sich letztlich der Domestizierung durch den Vater: Gegen den ewigen Granit ist auch der große Joseph ohne wirkliche Chance. Die Steine, vom Totengräber Yvon bereits im Romanerstling als «les os de la terre» (CH, 86) bezeichnet, werden nun gänzlich mit dem Tod assoziiert: Die kleine Kapelle, an der Joseph sich verletzt hat, ähnelt einer Reliquie und ruft mit der «boite a ossements precieux» (HO, 73) auch die Ausgrabungsszene in Les champs d 'honneur auf. Die Passion des Vergangenheitssammlers Joseph verweist auf das Totenreich. Der Besuch in Carnac ist ebenfalls eine kultische Handlung, eine heidnische diesmal, die im Steingarten aus Menhiren eine Geschichtslektüre anstellt: Ihm gefallt die Vorstellung, Carnac als kosmischen Kalender in Riesenformat zu betrachten, ihn als «allegorie chiffree» aufzufassen, die den Mittelpunkt der Erde anzeigt (HO, 58). Grund genug für Joseph, hier wie die Bretonen des Neolithikums einen Totenkult zu vollziehen und so am mythischen Vergangenheitsraum zu partizipieren. Mit einer Geste, die das Werk der «neolithischen Landschaftsgärtner» (HO, 56) Jahrtausende später wiederholt, begräbt der Vater einen kleinen Vogel und markiert das Grab mit einem Stein. Die Bretagne wird zum heidnisch wie christlich verfassten Kultort mit mythischer und legendärer Vergangenheit stilisiert. Als eine topographie legendaire (Halbwachs), als Gedächtnislandschaft besitzt die «terre d'Arcoat» (HO, 48) in den Augen des Erzählers «une dimension mythique» (HO, 68). Bereits die Hausheiligen der Tante Marie haben die «vieille Armorique» (CH, 69) als bevorzugten Kommunikationsort zwischen den Menschen und göttlichen Instanzen hervorgehoben. 152 In Des hommes illustres finden zudem vielfache Glaubensrituale statt: [...] specialite d'un peuple fervent qui aimait ä peleriner dans ses beaux habits du dimanche derriere une foret d'etendards luxueusement brod6s en entonnant des cantiques ä la gloire du saint patronymique et de Sainte Anne, laquelle [...] avait fait savoir aux Bretons qu'elle plagait le pays sous sa tres haute protection [...]. (HO, 42/43) Die Bretagne wird als auserwählter Ort, als heilige Erde (HO, 42) 153 markiert, auf der Pilgerzüge nach Santiago de Compostela (HO, 27), alltägliche Bekundungen des Volksglaubens beim Vater (HO, 84) und rituelle Familienausflüge an den großen kirchlichen Feiertagen (HO, 26) gleichermaßen mit den Gesängen der 152 153
Siehe auch oben die Beschreibung des Hauses von Tante Marie (Kapitel 3.1.1.3). Die Jungfrau Maria taucht aus der Erde auf, die der Bauer vorher mit seinem Pflug bearbeitet hat.
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Gläubigen in den unzähligen kleinen Granit-Kapellen der Region zusammentreffen. Ihre Peregrinationen führen die Familie Rouaud, «l'empereur, sa femme et les petits princes», in das exotische Fabelreich Josephs: «II regnait sur une geographie fabuleuse» (HO, 68). Und auch der leere Laden der verstorbenen Mutter wird sakralisiert und zum Prinzengrab, zum mythischen Opferraum verklärt, in dem «une petite dame sans äge» ihre «apotheose finale» erlebt hat (SC, 97/98). Rouaud gestaltet den lieu de memoire Erde in seinen Romanen zu einem Mythos, der die kosmischen Kräfte des kultisch verehrten Granits mit den regionalen Heiligen, den Toten und den Lebenden zu einer überzeitlichen Ursprungserzählung verbindet, die das für ihn heilige Land seiner Kindheit in Erinnerung ruft. Immer wieder wird anhand des Ortes Random auf Langzeitprozesse in der geschichtsträchtigen Bretagne aufmerksam gemacht und die Familienhistorie mit der Geschichte verbunden: Rouaud schreibt damit auch eine mikrohistorisch motivierte Geschichtserzählung, die sich das konkrete Ziel gesetzt hat, eine Geschichte der kleinen Leute, der laisses pour compte (CH, 163) zu schreiben: en l'inscrivant dans une histoire, en faisant faire ä la longue marche civilisatrice un petit detour par notre jardin, en rappelant par ce geste prestigieux que, tailleurs de sabots ou de pierres, nous avions droit ä notre part de reconnaissance. (HO, 75)
Diesen charakteristischen geschichtstheoretischen Ort setzen die Werke als rehabilitierte Geschichte der kleinen Leute um und beleuchten so eine dunkle Zone der offiziellen Geschichtsschreibung, die um das Hinterland der Loire und ihre Bewohner eher einen Bogen gemacht hat. Die Geschichte der Großen dieser Welt findet aber, so wird nahegelegt, auch in Random statt: «la villa d'Hadrien en notre jardin» (HO, 77). Random und die Betagne der Rouauds werden zum Geschichts-Schauplatz mit mythischer Tiefe, zum lokalen Gedächtnis für die Langzeit-Mstoire; die Romane verstehen sich als Sprachrohr der bisher geschichtslosen Ahnen (HO, 173). Aber auch der Steingarten-Szene prägt sich die Problematik ein, die in jeder historischen Sinnbildung liegt. Das als Geschichtsmetapher zu verstehende Gartenprojekt des Vaters symbolisiert dieses hermeneutische Problem und vermittelt gleichzeitig eine reflektierte und zeitgemäße (gleichsam postmoderne) Vorstellung von Geschichte: Die Historie erscheint als heterogene, fragmentarische und brüchige eines Menschen, sie wird als solche von der Zeit bedrängt und droht unterzugehen. Letztlich entzieht sie sich also dem Zugriff, denn ihre Eigendynamik, die sich nicht zuletzt als immer wieder einbrechendes, unkontrolliertes Schicksal manifestiert (der plötzliche Tod des Vaters), ist nicht stillzustellen. Mit der Valorisierung der unbekannten Geschichtsakteure, die - keineswegs unheroisch - im mikrohistorischen Geschichtsraum wirken, ruft der Autor auch noch einen anderen wichtigen lieu de memoire Frankreichs auf: den regionalen Raum, «le local».154 Denn auch für die Familiengeschichte Jean Rouauds fungiert
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Cf. Thierry Gasnier: «Le local. Une et divisible». In: Pierre Nora (ed.), Les lieux de memoire. III: Les France 2: Traditions, Paris, Gallimard, 1992, p. 462-525. 363
dieser fragmentierte, partikulare Raum als ein Gedächtnismedium, das dem nationalen Raum und seinen Symbolen gegenübergestellt und im Vergleich zu diesen valorisiert wird.155 Nicht selten geschieht die Verbindung von longue duree und Jetztzeit in der für Rouaud charakteristischen (und oben bereits behandelten) Mischung aus Ironie und analytischer Schärfe, die seiner historischen eignet. Stets macht der Erzähler die im Verborgenen liegenden, heute immer noch wirkenden Kräfte der längst vergangenen Geschichtsereignisse, trotz ironisch-spöttischer Tönung des Dargestellten, deutlich und lädt so den Romanraum zur mehrschichtigen und lebendigen Echokammer der Vergangenheit auf. Jean-Claude Lebrun hat dieses Merkmal des Rouaudschen Geschichtsbewusstseins einmal mit einer treffenden Beschreibung zum Ausdruck gebracht: Entre cette apparence d'immobilite et la violence des perturbations signalees ä l'horizon, les recits de Jean Rouaud sinuent de telle fagon qu'apparaissent les entrelacs secrets en lesquels celles-ci se rejoignent. Car la vision du passe, quoi qu'il puisse parfois y paraitre, n'est absolument pas homogdne. Ce n'est en aucune fa?on un bloc univoque qui se presente au regard, mais un conglomerat. Ou, du moins, ce qui voudrait se präsenter comme d'un seul bloc apparait en fait stri6 de veinules revelant la presence d'autres composants. Quand Jean Rouaud s'essaie ä restaurer l'ordre du passe, il le fait par consequent non pas ä plat, mais avec un sens aigu de la profondeur, de ces forces qui travaillent en souterrain, sous une surface d'apparence lisse et indestructible.156 Und so demaskiert sich wieder einmal die allenthalben vorhandene Ironie der Darstellung nicht als verharmlosender Spott, sondern macht in besonderer Weise auf die häufig unverhofft aus dem Verborgenenen hervortretende Vergangenheit, auf das Heterogene und Disproportionierte der Geschichte aufmerksam. In einer besonders ironischen Weise kommt dieser historische Blick auf die Gegenwart der Vergangenheit in Le monde ä peu pres zum Ausdruck. Jean unterhält sich mit Gyf über Fußball und begründet seinen Gedanken, dass kleine, schmächtige Spieler gegenüber den kompakten benachteiligt seien, mit einer längeren historischen Parenthese: Toujours la meme vieille histoire, Gyf. II suffit de se rappeler la fabuleuse bataille navale qui opposa dans le golfe du Morbihan les voiliers venetes aux galeres romaines. Or qui gagne, je te le demande? Et le responsable de cette trag&Jie? Cisai? Non, le vent, le vent qui n'en finit pas de souffler ici, au bord de l'ocian, et qui comme un fait expres ce soir-lä fit faux bond [...]. Et tandis que les gens d'Armorique scrutent en vain le ciel immobile, on entend döjä la cadence firoce des rames qui hachent le miroir de l'eau, tragant une voie directe jusqu'aux sinagots encalmines entre les lies. Tu comprends que ceux-lä se moquaient bien de leurs dieux, qui, plutöt que d'implorer Eole, comptaient d'abord sur la seule force de leurs bras. Mais, ä partir de lä, tout est dit. [...] c'en est fini avec la fiere independance des marins d'Atlantique. De lä on sait ce qu'il advint: les bains chauds, le glaive court et les declinaisons latines - rosa, la rose, Gyf, pas besoin de te faire un dessin. (MO, 32-34)
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Siehe zur Behandlung der nationalen Symbole unten Kapitel 4.3.2. Jean-Claude Lebrun: Jean Rouaud, p. 111/112.
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Diese ironische Rückblende behandelt die Romanisierung der Bretagne durch die Truppen Casars, der 56 vor Christus die als Seefahrer berühmten Veneter, einen Keltenstamm aus der Gegend um Vannes, unterwarf. Besonders die ungewöhnliche, fast schon provozierend lässig vollzogene und absolut inadäquate Parallelisierung der beiden Ereignisse entfaltet eine humorvoll-komische Wirkung: Als wollte der Erzähler damit belegen, dass den Bretonen schon immer die Tragik des historischen Augenblicks einen Strich durch die Rechnung gemacht hat und dass er selbst aufgrund dieses unvorteilhaften spiritus loci lieber vom Wiedereinstieg ins Fußballspiel absehen sollte. Diese Ironie färbt sich selbst dabei in dunkles Schwarz, wenn man das gesamte Werk betrachtet, in dem nun wirklich nicht verborgen bleibt, wie schicksalhaft die Geschichte für die Menschen Rouauds doch tatsächlich war. Eine parallele Passage, in der der Erzähler den langen Schatten der Historie und ihre Wirkung in der eigenen Familiengeschichte hervorhebt, ist am Anfang von Pour vos cadeaux zu finden. Sie soll im folgenden erläutert werden, weil mit diesem Leitmotiv ein wichtiger historisch-anthropologischer Themenbereich angesprochen wird, den das Werk Rouauds behandelt: die Religiosität. Der Erzähler denkt über die möglichen Ursachen für den Tod der Mutter nach und reflektiert die Beziehung der Eltern. Jean vermutet, dass seine Mutter auch an spätem Kummer über den Verlust des ersten und zugleich letzten Mannes, der in ihrem Leben vorkam, gestorben sein könnte. Doch Jean muss seine Leser enttäuschen: keine Enthüllungen über das Liebesleben der beiden sei zu erwarten. «Elle n'est pas Heddy Lamar» (CA, 10),157 merkt er süffisant an. Wie nun könnte er posthum etwas über sie verraten, deren ganze Existenz vom langen Schatten überdeckt wurde, den das negative Urteil über die Schriften Henry Bordeaux', eines glaubenseifrigen und konservativen Theologen, geworfen hat? Von dessen Werk, sicherlich nicht unbedingt Sozialrevolutionären Inhaltes, ist Anne bzw. Annick als kleines Mädchen (HO, 160) von einem besonders strengen bretonischen Geistlichen, der im Hause ihres Vaters ein- und ausging, abgeraten worden. Diese Episode lässt ein klares Bild über die moralischen Vorstellungen erkennen, die in der Bretagne seit Jahrhunderten verbreitet waren und das Leben der Mutter bestimmt haben. Kein Wunder, so führt der Erzähler aus: dans ces terres de l'Ouest labourees par la Contre-R&örme, encore sous le choc des prönes menafants de Louis-Marie Grignon-de-Montfort [!], lequel, s'il lutta ferocement contre le jansönisme, n'encourageait pas pour autant ä goüter aux plaisirs de la vie, et des regimes d'austerite du terrible abbe Ranee [...]. Ajoutez les hordes chouannes et les chätelains du bocage toujours aux commandes, et vous comprendrez que cet höritage rabat-joie augurait mal pour la dibarquee du cinq juillet d'une vie d'aventures et de licence. Une double malchance, historique et göographique, attenu6e cependant par le fait que la naissance avait eu lieu au domicile d'Alfred [...]. (CA, 11/12)
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Cf. oben Kapitel 3.1.2.5. Die Schauspielerin Hedy Lamarr ist für ihren sehr freizügigen Nacktauftritt in dem Film Extase (1933) bekannt geworden.
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Die Religionsgeschichte der Bretagne - «le vieux pays blanc» (HO, 18) welche als Wirkungsstätte des radikalen Konvertiten und Ordensgründers Rance sowie des Missionars Louis-Marie Grignion de Montfort, 158 die beide im 17. Jahrhundert wirkten, harter Kem der Gegen-Revolution und Herkunftsland der zouaves pontificaux ist, lebt in der Geschichte der Mutter weiter: Auch dies ist ein message sourd venu des profondeurs. Und umgekehrt führt die privat erfahrene Geschichte immer wieder zurück auf eine im Verborgenen brodelnde Geschichte, die nicht immer gleich zu sehen ist, aber in den Menschen trotzdem lesbar bleibt. Die historisch profunde Bretagne wirkt als konterrevolutionäre und sehr gläubige Region mit dieser Mentalität auch im Hause der Rouauds auf die Menschen. Einmal profitiert die Mutter von dem «reliquat des preches de Louis-Marie Grignon de Montfort [!]» (CA, 162): Denn sie kann an die sehr heiratswilligen Menschen aus dem Departement Loire-Inferieure zahlreiche Hochzeitsartikel verkaufen und so ihren Laden gegen die Konkurrenz der modernen Großsupermärkte behaupten. In dieser so wichtigen Frage der individuellen Lebensgestaltung hingegen wird ihr persönlicher Freiraum eingeschränkt, ihr Leben von der bretonischen Mentalität negativ beeinflusst. Keineswegs zeichnet Rouaud dabei aber ein einseitiges Bild der Geschichte. Vielmehr legt er die Risse und Widersprüche, die Frankreich auch innerhalb der Bretagne - und damit diese Region und die Bretonen selbst - kennzeichnen, les deux France, mitten hinein in die Figuren und die Familie: Keine Spur von einfachen Schematisierungen. Wieder werden bedeutende lieux de memoire literarisch gestaltet: hier die scharfe Trennung von Katholizismus und Laizismus.159 Alfred Bregeau schwankt zwischen diesen zwei ideologischen Extremen und kann sich nicht endgültig zwischen den zwei Polen seines Lebens entscheiden, die diese Spaltung Frankreichs symbolisieren: die Trappisten-Abtei La Meilleraye oder die Nudisten-Insel ile du Levant (CA, 12). Ähnliches gilt für den Vater Joseph, dessen «diskreter Antiklerikalismus», Fortschrittsglauben und Eintreten für die Moderne (CH, 81; HO, 84) im Gegensatz zu seiner eigenen volkshaften Heiligenverehrung und besonders deutlich im Widerspruch zu der Lebensführung seiner Tante stehen. Ironisch wird der hartnäckige Widerstand der Bretonen gegen die ecole publique zum Thema gemacht (HO, 18/19). Der freidenkerische Arzt von Random hat es , seine Kinder in der öffentlichen Schule anzumelden. Dies erbost die Bewohner des Ortes und veranlasst sie zum Boykott gegen seine Praxis, was der Erzähler spöttisch kommentiert: «les petites mains de 1'Inquisition broderent sur la maniere d'envoyer l'impie au bücher» (HO, 19). Die Dorfautorität Joseph Rouaud löst diese Konfrontation mit einem nüchternen Machtwort aber relativ schnell auf, und der Wartesaal ist am nächsten Tag wieder gefüllt. Auf diese Weise wird in Random
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Rouauds uneinheitliche Schreibung des Eigennamens (cf. CA, 171) weicht von der des Petit Larousse illustre ab. Cf. hierzu Claude Langlois: «Catholiques et laics». In: Pierre Nora (ed.), Les lieux de memoire. III: Les France I: Conflits et partages, Paris, Gallimard, 1992, p. 140-183.
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das politische Problem, das Frankreichs Geschichte seit der Revolution nachhaltig geprägt und tief gespalten hat, dank des common sense von Joseph Rouaud einfach und schnell gelöst (cf. auch SC, 135/136). Ein Seitenhieb auf die lange Zeit und bis in die Gegenwart verhärteten Fronten der beiden gesellschaftlichen Gruppen? Mit Sicherheit. Neben dem wieder literaturfahig gemachten Thema der Religion, das eigentlich ein thematisches Tabu in der französischen Gegenwartsliteratur darstellt, unternimmt Rouaud auch eine innovative Wiederbelebung anderer anthropologischer Themen. Auf das Totengedenken, die Erinnerung an die Ahnen und das Thema Zeit wurde oben bereits näher eingegangen. 160 Weitere wichtige Elementarerfahrungen, die die Romane in Form einer kurzen, aber kompakten historisch-anthropologischen Mentalitätsgeschichte erfassen, sind die Themengruppen Arbeit/Fest, 161 Heirat/Ehe, 162 Liebe 163 und Leben/Tod. 164 Daneben kommen zahlreiche Details aus der Dorfgeschichte ans Tageslicht (CH und HO, passim; CA, 53-55). Rouaud behandelt diese anthropologischen und mikrohistorischen Themen in seinen Werken immer wieder, und die ironische Darstellung weicht, wie stets, wenn diesem Schriftsteller ein Problem wichtig ist, einem ernsteren Ton. Er schreibt auf diese Weise mit seinen Romanen weiter am großen Buch über die Geschichte des Menschen: «Mais une histoire d'hommes, bien sür» (SC, 148). Nicht zu unterschlagen ist ferner, dass Jean Rouaud die Geschichte von Modernisierungsprozessen und kulturgeschichtlich relevante Entwicklungen erfasst, die er ironisch bis zynisch, aber faktenbezogen darstellt und problematisiert (cf. MO, 38, 146/147): «Nous sautons de plein-pied dans la modemite» (CA, 153). An vielen Details werden diese kulturgeschichtlichen Entwicklungen aufgezeigt, 165 die Moderne und ihr Fortschrittsdenken an zahlreichen Stellen als zweifelhafte Entwicklung beschrieben, die die Menschen «comme la dixieme plaie d'Egypte» (CA, 81) trifft. 166 Der frühe Tod des kleinen Pierre durch einen im Krankenhaus grassierenden Virus schürt das Misstrauen der Rouauds gegen die moderne Medizin und bringt dadurch die Mutter in Lebensgefahr. Sie lehnt es ab, dorthin j e wieder einen Fuß zu setzten und wird in einer schwierigen Notoperation zu Hause auf 160 161 162
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Kapitel 3.1.1. Siehe die Figur des Vaters und die Fete-Dieu in Des hommes illustres. Die Großeltem mütterlicherseits, aber auch die Tante Marie und die vieillesfillesverkörpern diese Themengiuppe. Siehe auch das wiederkehrende Thema der agence matrimoniale: HO, 126; MO, 114; CA, 162. Anhand der Beziehungen der Geschwister- oder Ehepaare untereinander: von Joseph und Marie, Emile und Mathilde, Pieire und Aline sowie von Vater und Mutter. Dieses Thema wird vor allem in den drei letzten Romanen bedeutsam. Leben und Tod als anthropologisches Thema par excellence wird vor allem anhand der Agonie der Mutter behandelt. Siehe zu diesem anthropologischen Thema SC, 67, 76/77, 83. Der alte Kolonialwarenladen, in dem der Großvater seine Bonbons einkauft, ist ein solcher Ort aus untergegangenen Zeiten (CH, 133/134). Siehe den Stadt-Land-Gegensatz und die Kritik an Paris, an «Nantes la civilisöe» (CA, 71) sowie die an der modernen Medizin (ibid.). Siehe auch CA, 80, 82, 90; MO, 146/147. 367
dem Küchentisch behandelt: «La modernite, sur ce chapitre, n'avait pas demontre un reel progres» (CA, 90). Alle übrigen Geburten der Familie finden wieder in den eigenen vier Wänden statt. Diese Modemekritik, die sich mit der negativen Bewertung des menschheitlichen Fortschritts äußert, baut auf einer langen literarischen Tradition auf, die von Pascal über Rousseau, Baudelaire und Rimbaud bis Levi-Strauss und in die Gegenwart reicht. Konkret erinnert die Rouaudsche Passage hier an einen Gedanken von Blaise Pascal: «Tout ce qui se perfectionne par progres perit aussi par progres». 167 An keiner anderen Handlungssequenz wird dieser Einzug der Moderne, diese Modernekritik jedoch prägnanter verdeutlicht als an der Szene, die die Flurbereinigung in der Bretagne darstellt: Diese Passage bildet eine der Schlüsselstellen des Romanwerks, die als Symbol den dritten großen Themenbereich (neben der Grande Guerre und den annees noires) markiert und einen klaren Aufschluss über die Geschichtssicht des Autors ermöglicht. Auch dieses Ereignis, das am Beginn der sechziger Jahre mit einem belegten demographischen Problem in den ländlichen Kommunen der inneren Bretagne und mit Landflucht korreliert, 168 wird als Blutzoll (HO, 73) und vor allem als Kriegs- und Vernichtungshandlung (HO, 48) aufgefasst. Diese Sicht der Ereignisse verbindet die drei Komplexe thematisch miteinander: Das zerstörerische Jahrhundert wird zum dritten Mal belegt. Die Interpretation der Geschichte durch den Erzähler zieht hier also eine faktenbezogene, gleichzeitig jedoch markante literarische Gestaltung der Realität nach sich. Das Ende der alten, labyrinthischen Bretagne mit ihren kleinen Hügeln und nur mühsam zu bewirtschaftenden Parzellen wird durch den Einzug der Moderne besiegelt und motiviert letztlich den Erzähler, diesen queteur de memoire in den Fußstapfen von Pierre Jakez Helias, zu seiner Suche nach der untergegangenen Vergangenheit der Region, in der er aufgewachsen ist. Denn mit dieser Flurbereinigung, die eine gewachsene Landschaft verändert, wird auch das Gedächtnis der früheren Generationen ausgelöscht. Genau dagegen wendet sich der Aufschrei des sichtlich indignierten Erzählers: «Comment disperser ce qui est regroup6: les generations, les memoires?» (HO, 44) Denn die realen Orte des Lebens speisen das Gedächtnis und lassen die vergangenen Generationen weiterleben. Die Flurbereinigung setzt diesen Mechanismus kultureller Tradierung für den Erzähler außer Kraft und stellt das Selbstbild der Bretonen zumindest in Frage, wenn sie der Region nicht gar ein gänzlich neues Gesicht gibt. Das Ende einer Epoche bricht in den mythischen Zyklus des Lebens, der in der ewigen Bretagne bisher geherrscht hat, ein und verändert unwiederbringlich das Aussehen der terre d'Arcoat. «Teile qu'on feint encore de l'admirer et que le souvenir la perpetue, la Bretagne n'existe plus. Elle a rejoint dans son pass6 legen-
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Blaise Pascal: Pensees, ed. Michel Le Guem, Paris, Gallimard/Collection Folio, 2000, p. 397. Allerdings ist das Heimat-D6partement des Autors von diesen Entwicklungen mehr oder weniger ausgenommen. Cf. dazu Maurice Le Lannou: La Bretagne et les Bretons, Paris, Presses Universitäres de France, 1978, p. 44-46.
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daire Ys l'engloutie et le secret des megalithes» (HO, 41). Eine neue Zeitrechnung beginnt mit diesem desaströsen Akt, der Mentalitäten und Naturabläufe unterbricht (HO, 43/44). Der epochale Umbruch bekommt die Bedeutung einer Auslöschung zugesprochen («Progressif nettoiement», HO, 48), die als wiederkehrende Figur der Geschichte interpretiert wird, welche die Erinnerung in großen Schritten überholt: «les yeux de la memoire mettent longtemps avant de se dessiller: si vite que voyage la lumiere, l'image qu'elle nous renvoie est dejä depassee. Car eile passe, la figure de ce monde [...]» (HO, 41). Der brüske Einzug der Moderne wird als das von oben verordnete Ende der Landwirtschaft alter Prägung, als la fin des paysans und von Paris aus gelenkter mythischer Untergang des Gedächtnisortes Erde, als Gedächtniskatastrophe, die dem lokalen Boden seine Speicherfunktion nimmt, daigestellt - und damit zum tragischen Konvergenzpunkt von bedeutenden lieux de memoire geformt. Rouaud beschreibt die Wandlungen des Gedächtnisortes Erde und begleitet kritisch das Ende der Bauern, den Beginn der modernen Agrarmanager: «Ce coup de balai furieux sur le grand ceuvre des gens de la terre» (HO, 82). Die Terre wird in ein profitables terrain d'exploitation, in ein terrain ά bätir verwandelt (HO, 43-45, 47/48). 169 Das remembrement präsentiert sich als eine an Widersprüchen reiche pomme de discorde, die wie viele Ereignisse mit nationalem Charakter die Spaltung der Franzosen in zwei feindliche Lager vertieft und damit die problematische Geschichte der deux France aufs schmerzlichste wieder bewusst macht: Partisans et adversaires du remembrement s'opposaient vigoureusement. Les cafes se faisaient Γ echo de ces debats houleux. Le moindre debit de boisson se transformait en Procope revolutionnaire. Le tout prenait l'allure d'une nouvelle affaire Dreyfus, divisant families et communes. (HO, 45)
Wie die Französische Revolution, die hier aufgerufen wird («Procope revolutionnaire»), sowohl ein radikaler politischer Akt, der eine völlig neue Ordnung etabliert hat, als auch eine folgenreiche territoriale Operation war, die eine Spaltung von nachhaltiger Wirksamkeit gezeitigt hat, markiert auch das remembrement einen bedeutenden Paradigmenwechsel für die Bretagne: Es kommt wie schon so oft in der französischen Geschichte zu einer guerre franco-frangaise, in der sich unterschiedliche Interessen und Haltungen diametral gegenüberstehen. Die geschichtskritische Stellungnahme des Erzählers zu den Ereignissen wird zudem durch die starke Wertung («une nouvelle affaire Dreyfus») deutlich unterstrichen. Die dieser Beschreibung unterlegte Ironie - man erinnert sich ja noch an die Beschreibungen der bretonischen Cafes, des bretonischen Alkoholismus wenige Seiten zuvor (HO, 36/37) - mildert aber kaum die harsche Kritik an dem zerstörerischen Mechanismus, die der «envoye de la Republique» (HO, 45) in die «lointaine province» (HO, 44) hineinträgt: eine offene Spitze gegen die nationale Politik der Republik.
169
Cf. Armand Fremont: «La Terre», p. 30.
369
Die Moderne kommt aus den politischen und ökonomischen Chefetagen der Metropole und sucht die agrarisch strukturierte Bretagne heim: «au plus haut niveau, [...] on s'avisa de faire basculer toute une region dans la modernite» (HO, 43). Für Jean nimmt die Nation dadurch schlimme Rache an der Region, diesem alten «foyer rebelle» (HO, 48). Der durch moderne Technik gestützte Prozess wird als Vergewaltigung der Erde durch eine unzurechnungsfähige und kriegerische Armee von Planierraupen und Baggern interpretiert, die wutentbrannt Tabula rasa macht. 170 Die tief im Boden verankerte Identität der alten Bretagne wird, symbolisch verdichtet im zähen Herausreißen des Baumes aus dem bretonischen Boden (HO, 46/47), als schwerwiegende Entwurzelung und blasphemische Entseelung gebrandmarkt. Durch die offensichtliche Symbolik des Baumes - als eines Sinnbildes für den zyklischen, ewig lebendigen Kosmos, für die Achse der Welt - wird die historische Dimension des remembrement aufgezeigt, das der longue duree einen schweren Schlag versetzt. Der Leser wird an dem schicksalsschweren Ende der «Bretagne mysterieuse» (HO, 48) beteiligt, die nach diesem Angriff wie der Baum als «os symetrique» am Boden liegt. Die Moderne vergeht sich damit am arbre genealogique: Sie versündigt sich gleichermaßen am Baum wie am Raum der Ahnen. Dass der Südbretone Rouaud mit seiner durch Kriegssymbolik stark aufgeladenen Darstellung des remembrement auch auf die Folgen der Modernisierung in Form von Umweltzerstörungen und Naturkatastrophen abhebt, die (nicht nur) die Bretagne immer wieder treffen (Tankerunglücke, Überschwemmungen, Schadstoffbelastung der Flüsse), kann nicht verwundern. Diese Zielrichtung, die der Roman Des hommes illustres zweifelsohne besitzt, ist in meinen Augen aber durchaus nicht das primäre Anliegen des Autors (noch viel weniger qualifiziert dies sein Werk im übrigen ab). Denn das remembrement steht als wirkungsstarkes überzeitliches Symbol für alle Gedächtnisbedrohungen und Erinnerungsverluste, die den im Sog der mächtigen Geschichtsdynamik hin- und hergerissenen Menschen auf vielfältige Weise treffen können. Das Ereignis der Flurbereinigung findet im weiteren Verlauf des Werkes parallel gestaltete Szenen. Das Verschwinden eines Generationenortes, wie dies beim Haus der Bregeaus in Riaille, das abgerissen wird, thematisiert wird, verkündet einen definitiven Untergang und nimmt das Ende einer Seite der Geschichte vorweg: «Comme un autre signe de la fin» (SC, 57). 171 Denn auch die Familienanwesen sind wie die Tiefen der Bretagne Gedächtnisspeicher, 172 alte Zeugen der Veigangenheit, die die Erfahrungen und die Zeit in sich aufschichten: «dans les maisons familiales on evite de bouleverser l'ordre ancien, resultat d'une lente sedimentation, fruit de plusieurs generations» (SC, 159). Deren Destruktion führt zu Erfahrungsverlust, der mit dem Tod assoziiert wird. Die Modernisierung des Dorfes vor der Ladentür der Mutter korreliert in Pour vos cadeaux mit dem Altern der Mutter (CA, 178) und markiert
170 171 172
Siehe die militärische Lexik (HO, 47). Cf. auch «imminence de la fin d'un monde» (CA, 108). Siehe hierzu oben Kapitel 3.1.1.3 und 3.1.1.4.
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den Anfang ihres Siechtums. Wieder besiegelt der Verlust eines Ortes das Ende einer Geschichte. Diese Szenen sind damit als ein entferntes Echo der Flurbereinigung zu verstehen, hier bleibt jedoch die Semantisierung des Raumes auf die individuelle Ebene beschränkt. Diese Gedächtnisfunktion von Räumen der Vergangenheit wird bei Rouaud immer wieder hervorgehoben. Noch einmal hat der Erzähler eine Szene mit tieferem Symbolgehalt ersonnen, die dem lieu de memoire Erde, dem geschichtstheoretischen Ort der Romanserie und dem Geschichtsbewusstsein des Erzählers insgesamt narrativ Ausdruck gibt. Sie vermittelt gleichsam die Essenz des archäologischen Projektes, das die Romane bilden. Die prägnante Passage, die hier gemeint ist, fasst das Ende der Geschäftsaktivitäten der Mutter in ein deutliches Bild. Annicks Kinder wollen die gealterte Frau zum Eintritt ins verdiente Rentnerinnendasein zwingen und ersinnen eine Strategie, die dies ermöglichen soll. Sie sitzen zusammen: «On imagine une sorte de reunion de Wannzee a objectif unique oü Γ on debattit du sort de la recalcitrante» (CA, 169). Mit deutlichem Befremden liest nicht nur der deutsche Leser diesen zynischen Vergleich, der wohl einen der ganz seltenen sprachlichen Fehlgriffe des Autors darstellt. Oder ist dieser Vergleich Ausdruck der Gefuhlslage des Erzählers und letztlich damit zu begründen, dass er in einer Art thematischen Engführung auf zahlreiche Themen seiner Geschichtserzählung noch einmal eingehen will und daher auch unerwartet auf den Beginn des industrialiserten Massenmordes verweist? Ein gewisses Unbehagen bleibt bei diesem Ausdruck bestehen. Denn eigentlich will der Erzähler nur ironisch von einem neuen Alesia (CA, 171) berichten. Drei Bagger belagern eines Morgens den Laden der Mutter und beginnen direkt vor ihrer Tür mit ihrer Arbeit, was in den Augen von Jean zu einem symbolträchtigen Ausgrabungsakt in den Tiefen der Geschichte gesteigert erscheint: [...] decouvrant les sols anciens, les epluchant comme des pelures d'oignons, de sorte qu'ä mesure qu'ils s'enfon?aient on decouvrait un empilement de strates, comme autant de pages grand fromat du livre d'histoire de la commune, se lisant de haut en bas, avec les fondations noircies de l'dglise incendiee, le sang rose des Vendiens en deroute massacres sur une croüte de givre qui, selon les temoins, donnait ä la colline l'eclat d'un rubis, l'empreinte pieuse des pas de Louis-Marie Grignon de Montfort, lequel, ä la suite d'une de ses coleres legendaires, fit retirer de l'eglise tous les inhumös prestigieux, dont son grand-oncle Eustache, natif du bourg, comme des vulgaiFes marchands du temple, des cranes vikings encore ivres d'ambroisie, le reflet d'une dent de saint Victor dans une goutte d'eau de sa fontaine miraculeuse, une couche de ce vent tombe qui le soir venu ruina les espoirs des Vendtes, encalminant leurs navires aux voiles de cuir, les livrant ä la fiiria des galeres romaines, et puis plus bas encore un bras de Loire 6gare dans les sables de la mer, oü peut-etre eut lieu la fameuse bataille, car on montre non loin de lä une butte de Cösar d'oü le göneralissime aurait suivi les operations, et enfin tout au fond, au plus loin dans le temps, un filet fossile de l'ocian sur un lit de nacre. (CA, 171/172) Mit poetischer Sprache, klanglich und rhythmisch durchgearbeitet, gedrängt und doch in fließendem Duktus enthält diese Szene einen Überblick über zentrale Geschichtsmomente der Bretagne und ruft viele in den vorherigen Romanen angesprochene Themen wieder auf. Eine normale Alltagsszene wird zu einer 371
über die Bretagne aufgeladen. Die Baggerszene wird dabei zur Geschichtsmetapher, die den mikrohistorischen Ansatz des Autors einprägsam ins Bild setzt. Die longue duree und der Gedächtnisort Erde werden versinnbildlicht und gleichzeitigt direkt mit dem Schicksal der Mutter verkoppelt. Wieder einmal verquickt der Autor in einem Bild das für sein Werk charakteristische Merkmal: Die Ereignisse und mentalitätsgeschichtlichen Prozesse sind mit der mikrohistorischen und privaten Geschichte der Familienangehörigen des Erzählers aufs engste verbunden. Weitere lieux de memoire, etwa der in Le monde ä peu pres ironisch dargebotene Gedächtnisort le bon vin de France, und zahlreiche moderne Mythen Frankreichs werden zu einer Sammlung zusammengetragen, die, wenn man so will, zu den Alltagsmythen Roland Barthes' ein literarisches Pendant liefert, das auch ironisch und mit Humor über französische Alltagsgeschichte berichtet. Anhand der Geschichte des Automobils, über die legendären Wagen von Citroen, Peugeot und Renault, des modernen Mythos Velosolex, des Aufkommens von Telephon und Femsehen, der Verbreitung des Kugelschreibers, der den Füllfederhalter ersetzen soll, anhand mythisch konnotierter Fahrradrennen wie der Tour de France (CA, 116), laut Barthes «une grande epopee»,173 oder des «Enfer du Nord» (MO, 16) - an vielen kleinen und normalen, aber deswegen nicht weniger bedeutsamen Dingen des Lebens zeigt Rouaud immer wieder seine alltagsmythische und alltagsgeschichtliche Orientierung. Jean Rouaud re-präsentiert in seinen Werken eine historische Vergangenheit, die noch immer im kollektiven Gedächtnis der Franzosen eine wichtige Stellung hat: der Erste Weltkrieg und das Regime von Vichy. Daneben ruft er in Form einer mythischen Erzählung eine Welt auf, die nicht mehr existiert bzw. am Aussterben ist, weil die Menschen, die Orte und die alltäglichen Dinge, die Zeugnis ablegen könnten, nicht mehr existieren. Diese Welt, die im Sog der Geschichte untergeht, kann nunmehr allein die Gedächtniserzählung eines Erinnerungssuchers wieder hervorholen: Indem dieser, mit Ricceur gesprochen, seine Vergangenheitslektüre in eine eigene Welt formt und diese narrativ konstruiert. In dieser Hinsicht kann das Werk mit Ricceurs hermeneutisch-konstruktiver Theorie gelesen und eine der Funktionen der Romane mit dem Assmannschen Begriff des kulturellen Gedächtnisses zusammengefasst werden.
4.3
Der Roman als kulturelles Gedächtnis, Gegengeschichte(n) und fiktionale Metahistorie Die Werke Jean Rouauds schreiben eine Reihe französischer lieux de memoire fort und vermitteln damit auch Geschichtsbewusstsein. In impliziter und in expliziter Weise reflektieren sie über epistemologische und metahistoriographische Fragen
173
Roland Barthes: Mythologies, Paris, Editions du Seuil/Collections Points Essais, 1994, p. 110.
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und behandeln das Problem der Unterscheidung von Fiktion und Wahrheit. Die Romane stellen zudem eine komplexe und kritische Auseinandersetzung mit der französischen Geschichte und dem Geschichtsbewusstsein der Franzosen dar. Ihr Funktionspotential ist dabei ein mehrfaches: Sie sind, mit der Konzeption Jan Assmanns gesprochen, ein Medium des kulturellen Gedächtnisses bzw. ein metahistorischer Roman im Sinne Ansgar Nünnings, der vornehmlich in seinen späteren Teilen zur historiographischen Metafiktion bzw. zu fiktionalen Metahistorie tendiert. Parallel dazu sind sie auch ein Ort des literarischen Gegendiskurses, der Geschichtskritik, und können damit als revisionistischer Roman bezeichnet werden, der Gegengeschichte(n) erzählt. Diese Gesichtspunkte werden in den folgenden Abschnitten näher untersucht.
4.3.1 Les lieux de memoire, les mentalites et les mythologies (re)visites: Kulturelles Gedächtnis und Frankreichs kollektives Selbst In den Romanen wird einer der zentralen lieux de memoire Frankreichs im 20. Jahrhundert, die Grande Guerre, narrativ vermittelt und in eine Geschichtserzählung eingebunden, mit der sich - der große Erfolg des ersten Romans spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache - viele Menschen noch heute identifizieren. Der Erste Weltkrieg ist im Bewusstsein der Franzosen noch immer sehr präsent und lebt als «le sentiment d'une longue souffrance aigue» 174 im kollektiven Gedächtnis weiter. Das Werk greift also auf Geschichtsbewusstsein zu und konstruiert es gleichzeitig neu. Mehr noch: Das Romanwerk kann insgesamt als ein erzähltes monument aux morts de la Grande Guerre eigener Art gelesen werden, in dem der Autor die verschiedenen Akte des Gedenkens einlagert, die auch die steinernen Kriegerdenkmäler in den französischen Gemeinden kennzeichnen und die in den Gedächtnisdiskursen der Kriegs- und Nachkriegszeit vorhanden sind. So greift Rouaud diese Gedächtnishandlungen und Diskurse in bedeutungsreicher Weise auf und gibt ihnen eine signifikant eigene Form: Er errichtet ein ganz privates und doch gleichzeitig auch ein kollektives Denkmal für die Verstorbenen (der Familie und Frankreichs). Der Marienkult, die Verehrung der Therese de Lisieux und der Jeanne d'Arc, das Verständnis des Krieges als einer Passion und Imitatio Christi, die Gänge zum Friedhof, die Rückführung der Toten, der Pilgerzug zum Schlachtfeld - wichtige Elemente der Problematik von la guerre et la foi, die Annette Becker für den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit dargestellt hat, 175 - sind als Spuren dieses Traumas und seiner Gedächtnisgeschichte auch in den Romanen und ihrer Themenstruktur abgelegt. Sie erfahren jedoch eine stark literarisierte und subjektive Gestaltung, die sich, wie der folgende Abschnitt
174
175
Stanley Hoffmann: «Le trauma de 1940». In: Jean-Pierre Azema/Franfois B&larida (ed.), La France des annies noires 1: De la defaite ä Vichy, Paris, Editions du Seuil/Collection Points Histoire, 2000, p. 139-158, hier p. 143/144. Annette Becker: La guerre et la foi. 373
(4.3.2) zeigt, geschichtskritisch mit den überkommenen, nationalistisch geprägten Memoria-Diskursen auseinandersetzt. Jean Rouaud reanthropologisiert und resubjektiviert seinen Memoria- und Geschichtsdiskurs, der auf die (Geschichte von unten>, auf mikrohistorische und alltagsgeschichtliche Prozesse zugreift. Rouauds Figuren, vor allem die Tante Marie, der Großvater und der Vater des Erzählers, fungieren als Träger des kulturellen Gedächtnisses, ebenso wie der erzählte Raum als komplexer, heterogener und tiefschichtiger kultureller Gedächtnisraum gestaltet ist, der die Vergangenheit speichern kann, welche vom Erzähler dann lesbar gemacht wird. Die Bilder dieser Veigangenheit, die Rouaud aufruft, können als Erinnerungsfiguren im Sinne Jan Assmanns aufgefasst werden, als sozial verbindliche Symbole in narrativer Gestalt. In der Familiengeschichte der Rouauds werden neben dem Ersten Weltkrieg und dem Kriegerdenkmal noch andere kollektive Gedächtnisorte greifbar: la terre mit der fin des paysans, le local, Vichy oder der Konflikt zwischen Provinz und Metropole, deijenige zwischen laics und catholiques. Die private und intime Familienchronik besteht aus vielen dieser kollektiven Gedächtnisorte und wird damit selbst zu einem solchen lieu de memoire. Dabei bilden auch die vielen anthropologischen Themen und die Alltagsmythen, die der Verfasser aufgreift, eine Verbindungsbrücke zwischen dem partikularen Gedächtnis, das der Erzähler anhand seiner Familie und seiner individuellen Totenmemoria darstellt, und dem kulturellen Gedächtnis bzw. der kollektiven Memoria seiner Leser, auf die Jean Rouaud gleichzeitig zugreift. Auf diese Weise bekommt die Familiengeschichte auch als narratives Konstrukt kollektiven Charakter zugesprochen und kann für viele andere Familien, die in diesem Jahrhundert gelebt haben, auch in ähnlicher Form zutreffen. Die Werke des Bretonen fungieren also als kulturelles Gedächtnis und vermitteln auf literarisch innovative Weise kulturelle Identität: in all ihrer Problematik, in ihren Widersprüchen. Und gerade diese Gedächtnisfunktion macht für Rouaud die besondere Rolle, die spezifische kulturelle Aufgabe und den Nutzen von Literatur aus. Er führt dies selbst in den folgenden Worten aus: [...] eile [la litterature, J. O. M.] nous permet de ne pas perdre de vue les fondamentaux: la vie, l'amour, la mort, qui sont caricatures au cinema, k la TV, dans les medias ou dans les jeux video. La litterature est une vieille histoire. Elle ne gagne rien ä s'accrocher aux wagons de la modemite. Qu'elle aille ä son pas. Elle est vieille comme le monde, eile a tout le savoir du monde. Elle en sait done plus long que toutes les technologies les plus avaneees.176 Die Romane können damit der Stabilisierung von Geschichtsbewusstsein und der kulturhistorischen Orientierung der Leser dienen. Damit setzen sie genau die Mechanismen um, die der Ägyptologe Assmann zur Definition seines theoretischen Begriffes anführt. Auch Rouauds Romanwerk präsentiert Vergangenheit primär in
176
Rouaud in Sandrine Collomb Pilchowski: «Entretien avec Jean Rouaud». In: French Review 75, 2 (December 2001), p. 350-355, hier p. 351.
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verräumlichter Form: Das Kriegerdenkmal in Random, die Kriegsschauplätze Ypern und Commercy sowie der Vergangenheitsraum Bretagne werden zu zeichenhaften Orten, zu dem, was Assmann Mnemotope nennt: reale Räume mit Erinnerungsgehalt, der kollektiven und identitätssichernden Charakter besitzt.177 Diese Mnemotope können als narrative Gestaltung zentraler Fundamente des französischen Gedächtnisses, des französischen Geschichtsbewusstseins aufgefasst werden. Sie bilden damit das, was Jan Assmann mit dem Terminus konnektive Struktur bezeichnet: «einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum».178 Die Romane konfigurieren diese Orientierung und Vertrauen stiftende Struktur, für welche gilt: Sie bindet [...] das Gestern ans Heute, indem sie die prägenden Erfahrungen und Erinnerungen formt und gegenwärtig hält, indem sie in einen fortschreitenden Gegenwartshorizont Bilder und Geschichten einer anderen Zeit einschließt und dadurch Hoffnung und Erinnerung stiftet.179
Indem Rouaud in seinen Werken auch ein deutliches Plädoyer für die existenziellen und wesentlichen Dinge des Menschseins hält, löst er die Assmannsche Orientierungsfunktion im Sinne eines an den genannten Grundwerten ausgerichteten und damit humanen Lebens ein. Der Erzähler, und damit auch der Autor als realer Urheber des Werkes, sieht sich selbst als lecteur du passe und kann als hermeneutischer Gedächtnisspezialist, als ein Assmannscher Deuter oder philologosm verstanden werden. Der Erzähler Jean bzw. der Autor Jean Rouaud interpretiert und vergegenwärtigt in seinen Erzählungen zentrale Bilder der Vergangenheit Frankreichs und erzeugt eine textuelle Kohärenz, die auf den Prinzipien der Repetition und der kontrollierten Variation basiert: Die Familiengeschichte der Rouauds erzählt Bekanntes, weicht aber dabei gleichzeitig etwas von jeder anderen Geschichtserzählung, die vor ihr entstand, ab, varriiert sie in subjektiver und kontrollierter Form. Es kommt dabei zur kritischen Distanzbildung und zur Weiterentwicklung von Gedanken, was im Kapitel 4.3.2 erläutert werden wird. Dieser Vorgang der Variation, den Assmann Hypolepse nennt, also der intertextuelle Anschluss in Form von Kommentar, Kritik oder Imitation, ist bereits in den Kapiteln zur Intertextualität und zur Medialität von Erinnerung als literarischer Mechanismus beschrieben worden und wird im folgenden auch auf den Bereich der Historie übertragen werden. Rouauds Romane, dies wurde oben auch schon dargelegt, verstehen sich als produktiver Umgang mit fundierenden Texten, als eine Textpflege und Hermeneutik. Somit bilden sie in ihrer Struktur genau das narrativ nach, was Assmann als Kanon an verbindlichen Texten bezeichnet.181
177 178 179 180 181
Cf. dazu oben Kapitel 1.4.3.3. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, p. 16. Ibid. Ibid., p. 95. Cf. oben 1.4.3.3.
375
4.3.2 L'anti-roman de la nation. Zur Demystifikation und Devalorisierung nationaler Symbole und Gedächtnisorte Die oben dargestellten sprachlichen Mechanismen sowie das stilistische Mittel der Ironie und des Zynismus transportieren die geschichtskritische Sicht des Autors und zeigen seinen tabulosen und demystifizierenden Umgang mit bestimmten nationalen Symbolen, Geschichtsereignissen und Gedächtnisorten. Die Funktion der Zeit- und Geschichtskritik weist die Werke als revisionistische historische Romane im Sinne von Ansgar Nünning aus. Der kritische, demystifizierende Umgang mit der französischen Geschichte lässt sich bereits an der Auswahl der Ereignisse bzw. Symbole erkennen. Rouaud wählt historische Momente, in denen die Diplomaten und die Regierenden der europäischen Nationen versagt haben: wie bei dem durch die Julikrise 1914 heraufbeschworenen Ersten Weltkrieg, wie bei dem durch München 1938 (HO, 71) nicht nachhaltig verhinderten Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, «l'embrasement gen0ral oü semblablement faillirent les gouvernants» (SC, 150). Dabei werden vor allem die Streitpunkte der guerres franco-frangaises, wie sie in der Französischen Revolution, in Vichy oder bei der Modernisierung der Bretagne hervortreten, thematisiert. Andererseits greift er in signifikanter Weise auf bestimmte Symbole und Gedächtnisorte überhaupt nicht zu: So werden etwa die nationalen Gedenktage 14. Juli und 11. November gar nicht genannt, ebensowenig das republikanische Symbol der Trikolore oder des coq gaulois. Und tritt nicht etwa das republikanische Symbol der Marianne in der Figur der geizigen alten Maryvonne (HO, 11/12, 22) travestiert in Erscheinung, mit dem bonnet phrygien in Form eines «petit fichu moire sur la tete» (HO, 22), als Personifikation der deux France, sie kümmert sich um die Kirche und ist gleichzeitig von Voltaires Geist erfüllt, als antiklerikales und revolutionäres Autodafe, durch welches das Dorf droht, abgefackelt zu werden? Durchaus, jedoch in einer nicht sehr vorteilhaften, vielmehr verballhornenden Darstellung. Rouauds historischer Gegenentwurf zum nationalen Modell betrifft auch den Umgang mit den geographischen bzw. architektonischen Hauts lieux de la nation.192 Die Gestaltung der nationalen Gedächtnisorte kennzeichnet eine tabulose und entsakralisierte183 Sicht, die voller Ironie und zynischem Spott ist: Ironie und Zynismus sind also die hervorstechendsten Mittel der Rouaudschen Geschichtskritik. Der Textraum des Romanwerks ist gespickt mit nationalen Gedächtnisorten, wie etwa die bereits behandelte gezeigt hat, die der Erzähler in Bezug setzt zu den Ereignissen der Familiengeschichte.
182
183
Siehe hierzu Pierre Nora (ed.): Les lieux de memoire. III: Les France 3: De l'archive ä i'embleme, Paris, Gallimard, 1992. Cf. hierzu auch die allerdings nur auf die Dachboden-Szene (und nicht auf die nationalen Gedächtnisorte) bezogene Aussage von Dukas-Spaes («» (CH, 86). Mit diesem, manchmal überdeutlich gezeichneten, kritischen und antinationalistischen Geschichtsbild - das Romanwerk stellt in weiten Teilen gewissermaßen einen anti-roman de la nation dar - , dem ein vielmehr mikrohistorischer und reanthropologisierter Memoria- und Geschichtsdiskurs gegenübergestellt wird, formuliert Rouaud auch eine ablehnende Stellungnahme gegen eine subjektlose Geschichtsschreibung, die sich allein der Höhenkammgeschichte annimmt. Wichtig sind für den MinuitAutor gegenüber einer solchen Verkürzung des historischen Blicks die Darstellung geschichtlicher Prozesse, in denen der Mensch als sub-iectum der Geschichte, also als Unterlegener, als Opfer ihrer blinden, schicksalhaften und unbändigen Dynamik, als Leidender hervortritt, und die Beleuchtung von Vergangenheit, in der der gleiche Mensch in seinen Elementarerfahrungen, in den (kleinem, aber wichtigen Dingen seines keineswegs ereignislosen Lebens betrachtet wird und sich dabei auch als Alltagsheld der Historie profilieren kann. Somit erzählen Rouauds Romane, die auf diese Weise das Private und das Menschliche im Gang der eben gerade nicht widerspruchsfreien Historie revalorisieren, auch literarische Gegengeschichten, die die vergessenen Akteure der Geschichte, welche im Grunde in vielen Familien zu finden sind, rehabilitieren und dem Vergessen entreißen. Die Werke des Bretonen stiften auf diese Weise ein vielschichtiges und tabufreies, ironisches sowie zugleich reflektiertes und ehrliches Selbstbild einer französischen Familie.
4.3.3 Le grand flou terrestre. Der historische Roman Rouauds als fiktionale Metahistorie Kommen wir zum dritten Funktionsbereich der Romane: ihrer metahistoriographischen Reflexion. Bereits in vorhergehenden Abschnitten ist immer wieder auf die Metaebene und damit auf die mal mehr, mal weniger impliziten Arten des Nachdenkens über Geschichte verwiesen worden. Auch auf die Formen poetologischer (Selbst-)Reflexion wurde oben schon vereinzelt eingegangen. Im folgenden soll es daher vor allem um die explizite Problematisierung erkenntnistheoretischer 384
Fragen gehen, also um den spezifischen epistemologischen Diskurs, den die Werke hinsichtlich der historischen Sinnbildung führen. Einige ihrer Merkmale kennzeichnen sie, mit Nünning gesprochen, als historiographische Metafiktion bzw. fiktionale Metahistorie. 213 Rouauds dritter Roman Le monde ä peu pres kann schon allein vom Titel her als selbstreflexive Aussage des Erzählers zum Problem der Erfahrbarkeit von Welt, zum Zusammenhang von Sprache und Weltkonstruktion betrachtet werden. In diesem Werk finden sich Themen gestaltet, die diese Fragen auch eingehender betrachten. Aber erst in Pour vos cadeaux bekommt diese Fragestellung, nicht zuletzt durch den veränderten Modus des Erzählens, wirkliches Gewicht. Vor allem in Sur la scene comme au ciel durchbricht Rouaud dann derart die Ebene der Primärillusion, dass von einer expliziten Problematisierung gesprochen werden kann. Das rekurrierende Thema der vision zeigt im dritten Roman an, 214 dass es dem Erzähler mit der Symbolik der Kurzsichtigkeit, «cette vision au ras des päquerettes» (MO, 22), nicht allein um die sinnbildliche Darstellung einer sozial abgeschotteten und vaterlosen Waisen geht. Es wird hiermit auch eine poetologische und epistemologische Frage behandelt. Die Kurzsichtigkeit bzw. die einäugige Sehkraft der Hauptperson steht, wie in Kapitel 5 im Zusammenhang zum Selbstbild des Erzählers noch genauer gezeigt wird, als Chiffre für die Trennung des Lebens in einen Innenraum der Fiktion, in dem die physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt sind und in dem eine mikroskopische Sicht auf die Dinge möglich ist, und in einen realen Außenbezirk, in dem alles verschwimmt und unpräzise wird (MO, 21). Denn es gibt zwei Welten, eine beschränkte, autoritäre und bedrückende Welt der sichtbaren Phänomene («le monde visible») und eine unbeschränkte, beruhigende geistige Welt, die auf einen tieferen Sinn schließen lässt, «Γautre cöte des apparences» (MO, 70): En fermant altemativement les yeux, j'avais done le choix entre deux visions, entre deux mondes. L'un, elair et net [...], et l'autre considirablement retr6ci (l'horizon rameni έ trois metres), imprecis et vague, 61oge du flou [...]. (MO, 89) Rouaud nimmt also eine für Literaten nicht unbedingt überraschende Verkehrung der Werte vor und singt ein ironisches Loblied auf das Verschwommene und Nicht-Sichtbare: auf die Fiktion. Da die Erinnerung als Figur dieser fiktionalen Welt einen nicht so schnell erodierenden Körper entstehen lassen und gerade die Abwesenheit, «la figure du manque» (MO, 70), vergegenwärtigen, dem toten Körper also Leben einhauchen kann, zieht Jean diese Welt vor. Gleichwohl gilt: Es gibt Details, die nicht mehr erfahrbar sind, wenn die Existenz der Dinge und der Menschen beendet ist. Die Welt der geistigen
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Zum Begriff Metafiktion siehe Miijam Sprenger: Modernes Erzählen. Metafiktion im deutschsprachigen Roman der Gegenwart, Stuttgart/Weimar, Metzler, 1999. Im Zusammenhang mit dem autobiographischen Schreiben wird in Kapitel 5 noch auf die Hermeneutik des Selbst und auf die innovative Ästhetik der Autofiktion und der Metafiktion einzugehen sein, was ja bisher ausgespart geblieben ist. Siehe MO, 21/22, 89, 109, 113, 125, 160, 195, 197. 385
Vorstellung ist zudem keine exakte Wiedergabe der naturwissenschaftlichen oder physikalischen Realität. Aber die geistige Welt der Einbildungskraft ist eine, in der es zu keiner Desincarnation kommt, wie man mit Blick auf Rouauds poetologische Schrift sagen könnte, oder: zu keinem definitiven Vergessen. Deshalb schreibt Jean, wie dies der Autor auch tut, an seinem Werk weiter: um die Lücke der Geschichte aufzufüllen. Die Frage nach «historischer Wahrheit» (SC, 40) und Fiktion, auf die der Roman Sur la scene comme au ciel am Beispiel historischer Fakten und deren literarischer Umsetzung in den vorhergehenden Werken explizit eingeht,215 ist damit zu einer obsoleten Problematik geworden: ist immer eine Konstruktion desjenigen, der etwas aussagt, sie bildet aber nicht die Wahrheit desjenigen, über den diese Aussage getroffen wird. So stellt Jeans Mutter, die aus dem Totenreich heraus die Werke kommentiert, über ihr dort vom Sohn angefertigtes Portrait fest: «[...] ce ne sera jamais moi. Ma version, quoi qu'il pretende, sera toujours la sienne, et ma verite, sa verite» (SC, 23). Und so lassen sich die Dinge der Welt nicht erst seit heute schwer durchauen, sie sind zu einem «grand flou terrestre» (MO, 173) geworden: Et puis, ce n'est pas un secret pour personne, les choses du monde ont et6 si souvent racontees, decrites, analysees, exhibees, montrees sous toutes les coutures, qu'on se donne meme plus la peine de les regarder. On croit les connaitre par cceur. (MO, 22/23)
Aber stimmt dieses neue assez vu, assez eu, assez connu überhaupt? Alles schon bekannt? Weit entfernt! Das innere Auge der geistigen Wahrnehmung hält in nicht mit der Entwicklung der Dinge Schritt: «Persistence retinienne» (HO, 41). Denn die «choses du monde» (MO, 22) verlieren und verändern sich schneller, als wir es uns eingestehen wollen. Kein historisches Wissen ist für immer so, wie es einmal fixiert wurde, nichts ist sicher vor Veränderung. Deswegen muss darauf gedrungen werden, die tatsächlichen Opfer der Geschichte, paradigmatisch werden hier die Millionen Toten des Holocaust (SC, 42) angeführt, nicht allein einem individuellen und erodierenden Gedächtnismechanismus oder einer einzelnen Überlieferung zu überlassen, aus der Geschichtsverfälschung ungewollt resultieren kann oder gewollt resultiert (SC, 42/43). Auch wenn man glaubt, dass etwas für immer im Gedächtnis eingeschrieben bleibe, muss es doch festgehalten und überprüft werden. Man sieht: Der Erinnerungsroman bewertet sich selbst, die historische Sinnbildung und das Erinnern durchaus sehr kritisch. Erinnerung ist nicht Wahrheit und schon gar nicht Geschichte, . Plädiert Rouaud damit nicht recht explizit für eine intersubjektive Form des vielstimmigen, nichtideologischen Erinnerungsdialogs, durch dessen Vielfalt die figure du manque, also das Wissen um die Lücke, die die Geschichte gerissen hat, erhalten bleibt? Also gibt es immer wieder gute Gründe für den Menschen, seine eigene configuration narrative du monde (Ricceur) anzustellen und diese mit anderen abzugleichen. Denn dies vollzieht der Erzähler in seinem fünften Roman, einer Reflexion über seine literarische Arbeit und Selbstkorrektur, selbst auch. 215
Siehe dazu unten ausführlicher Kapitel 5.3.
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Aber in jedem Fall nimmt der Autor hier auch hinsichtlich historischer Sinnbildung allgemein deutlich kritisch Stellung gegen ein postmodernes Anything goes: «du global au local, de l'universel au particulier, [...] tout se vaut?» (SC, 147), fragt er ablehnend-zynisch. Genau diese ideologische Gleichwertigkeit jedes Geschichtsbildes ist nämlich eben nicht der Fall, wie nicht zuletzt die harsche Kritik an dem katholischen Erbauungsdrama über die Geschichte der Zouaves pontificawx zeigt, das in den späten dreißiger Jahre in Campbon unter Beteiligung von Joseph Rouaud inszeniert wurde (SC, 147-151). Dieses Historien-Machwerk, aus dem der Erzähler zitiert, wird vor der Folie der Rouaudschen Familiengeschichte als Glorifizierung des Sterbens (SC, 148) und als Indoktrinierung der Menschen (SC, 143) gebrandmarkt und als Beispiel einer eklatanten Geschichtsverfälschnung denunziert. Die Macht der Mentalitäten, die die Enge der Bretagne hier als moralisches Gefängnis kodieren, wird in schonungsloser Offenheit als gefahrliches geistiges Brandstiftertum entblößt, das auf die nationalistischen Mythen des glorreichen Todes für die kennt Versprachlichung als Problem nicht». 23 Diese Seite der Proustschen Poetik, die der unvermittelten, spontanen memoire involontaire - ein entstehungsgeschichtlich frühes Element der Ästhetik in diesem enzyklopädischen Werk 24 - , die in den Worten Warnings «mit der Suche zugleich das Finden feiert», 25 gibt es bei Rouaud nicht. Insofern positioniert sich Rouaud kritisch zur Erinnerungsästhetik des berühmten Vorgängers. Doch schon die Recherche selbst bezeugt und dekonstruiert zugleich ihre eigene Poetik, denn sie kennt auch das Moment der defizienten Erinnerung, des Vergessens und des imaginativen Supplementierens von Gedächtnislücken: 26 Prousts Schreiben gehorcht ebenfalls der oben festgestellten Dialektik der Memoria, denn im schreibenden Erinnern liegt nicht zuletzt immer auch ein Vergessen bzw. ein Vergessenswunsch begründet. Poetisch betrachtet, etabliert sich innerhalb von Prousts Werk damit ein produktives Wechselspiel der poetischen Wirkungsebenen: 21
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Ist dies nicht genau die Umkehrung des Vorgangs, den Rainer Warning in seiner Analyse von «Vergessen, Verdrängen und Erinnern» in einer Passage bei Proust festgestellt hat? Warning analysiert die in Balbec am Strand sich abspielende Episode, in der Albertine beschrieben wird. Er stellt zwei zeitlich getrennte Ebenen fest: Der erste Balbec-Aufenthalt ist die «Zeit euphorischer Wahrnehmung», die zweite Ebene des plus tard ist die «Zeit dysphorischer Erinnerung». Siehe Rainer Warning: «Vergessen, Verdrängen und Erinnern», p. 169. Siehe bei Jauß den folgenden Passus zur Recherche: «Der Erzähler war uns von Anbeginn im Doppelspiel des erinnernden und des erinnerten Ichs entgegengetreten und die Zeit des Erinnerns nicht eigens als seine von der dargestellten Zeit gesonderten Gegenwart (= Zeit des Erinnerns) erschienen, sondern schon in der Ouvertüre als in die erinnerte Zeit integriert worden» (Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts , nicht das der mimetischen Abbildung aus einem gut konservierten autobiographischen Gedächtnisfündus. Von vorneherein besteht, wie anhand der Fußball-Szene gezeigt, eine große, spielerisch erzeugte und aufrechterhaltene Distanz zwischen beiden Instanzen, erinnertem und erinnerndem Ich; und die Medialität von Erinnerung wird in einer Forcierung der sprachlichen Strategien ironisch übertrieben und dadurch sehr direkt zum Ausdruck gebracht; die mediale Verfasstheit wird zudem durch die Ästhetik der metafiktionalen Reflexion über die Erfahrbarkeit von Vergangenheit 28 und Wahrheit 29 zusätzlich untermauert. Damit wird nicht nur in diesem Roman Rouauds die Behauptung aufgestellt und belegt, dass es keineswegs so etwas wie eine lineare Kontinuität des Ichs oder ein Hervorholen ganzer Kindheitswelten dank eines totalisierenden Erinnerungsvermögens und eines erstaunlich leistungsstarken autobiographischen Gedächtnisses gebe, 30 die bekanntermaßen Prousts offizielle (und ursprüngliche) Poetik der memoire involontaire darstellt. 31 Rouauds Romane schreiben anders als Prousts Recherche kleine Bruchstücke der Erinnerung, sparsam bevölkerte autobiographische Parzellen mit eng begrenztem Personal, die gerade nicht der Zeit enthoben sind. 32 In dieser von vorneherein als sprachbewusste memoire imaginaire verstandene Poetik wird Rouauds Differenz zu Prousts Modell besonders deutlich. Rouaud erweist sich als Schriftsteller, an dem die sprachphilosophischen und konstruktivistischen Denkfiguren postmoderner Philosophen und Romanciers nicht spurlos vorbeigegangen sind: Die Medialität des erzählten wie des erzählenden Ichs wird allenthalben unterstrichen und die Konstruktivität des Selbstbildes betont. Die Beschreibung Jeans,
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Ibid. Siehe oben Kapitel 4.3.3. Siehe das Ende dieses Unterkapitels. Cf. etwa die folgende Passage, in der Jean zu Th6os Wohnung zurückkehren will, um noch einmal die Erfahrungen der Liebesnacht zu durchleben, eine Stelle, die als Stellungnahme zu Proust gesehen werden kann: «On aimerait revenir en arriere, se repasser le Ulm de la soiree, au ralenti, avec arret sur image, en se dödoublant, en sortant de son corps [...]. A revoir, done. Et la meilleure fafon, & difaut de trouver la cli qui remonte le temps, c'est d'y revenir» (MO, 215). Dieser Gedanke wird von Warning selbst zwar eingeschränkt, aber nicht generell aufgegeben: Prousts offizielle Poetik werde durch die inoffizielle Poetik des Transitorischen zwar stellenweise unterminiert, bleibe jedoch insgesamt stehen. Cf. Rainer Warnings Ausführungen in «Vergessen, Verdrängen und Erinnern», p. 171 (Fußnote 14). Cf. Olivier Blanc/Nicole Gaillard («Amnesie et myopie», p. 157/158), die von «miettes biographiques» sprechen. 399
des früheren Ichs des Erzählers, wird für diesen zum Sprungbrett für das imaginiare, zum Freiraum seiner (aktuellen) Phantasie und ist damit der psychomotorischen Bewegung des mnemonischen Schreibens unterworfen. Von Rousseaus Vorstellung über sein in Les confessions erstelltes Selbstbild, das dem Ideal der sincerite und der transparence verpflichtet ist und dem Anspruch einer Beschreibung «dans toute la verite de la nature» genügen will, ist in diesem Selbstportrait nichts mehr übrig. Das bei Rousseau allenfalls als wahrheitskonformer Gedächtnisfüller propagierte Recht auf Fiktionalisierung autobiographischer Inhalte, «quelque ornement indifferent [...] pour remplir un vide occasionne par mon defaut de memoire», 33 hat bei Rouaud einen völligen Eigenwert erhalten, eine gänzliche Eigendynamik entwickelt. Gerade in der forcierten Detaillierung, im ludischen Ornament erfüllt sich Rouauds Ästhetik des spielerischen Fabulierens. Seine Bewertung der Rolle der Fiktion erinnert dabei mehr an Andre Gides Konzeption des autobiographischen Schreibens, wie dies in seinen autobiographischen Werken, etwa Si le grain ne meurt, ausgeprägt ist. Gide fasst seine Haltung in der prägnanten ästhetischen Aussage zusammen: «Peut-etre meme approche-t-on de plus pres la verite dans le roman». 34 Dass Rouaud aber auch bei diesem rein virtuellen des autobiographischen Romans nicht stehenbleibt, wird nicht zuletzt die Interpretation vor allem des Schlusstableaus zeigen. Der Roman Le monde ä peu pres nimmt damit auch in seinem Titel bereits direkt Bezug auf diese Problematik autobiographischer Ästhetik: Keine Rousseausche Wesensanalyse, sondern ein fiktionales, künstlerisch-subjektiv verzerrtes Selbstportrait, das sich in seiner referentiellen Funktion eben nur ä peu pres zur äußeren Welt verhält. Das Werk sagt dabei weniger etwas über das Ich von früher aus, über das, was es gemacht oder gedacht hat, also wer es gewesen ist - dies ist Rousseaus erklärtes Ziel als vielmehr über die Einstellung des erzählenden Ichs zu dieser Vergangenheit. Die deutlich hervorgehobene Fiktionalisierung der Figur deckt die immanente über sich selbst angestellte Reflexion des Erzählers auf, und beide Vorgänge werden damit bei Rouaud zum konstitutiven Bestandteil des Selbstbildes: Seine Romane können vor dem Hintergrund der literaturhistorischen Entwicklung autobiographischer Textsorten mit dem Begriff der Autofiktion adäquat beschrieben werden. Wiederholt ironisiert der Erzähler die Problematik der Lebensalter, die zum Themenkomplex Ich in der Zeit gehört, und trifft dabei eine metaästhetische Aussage. Jean, der sich von Gyf zum Wiedereinstieg in den Amateurfußball überreden lässt, erinnert sich an seine früheren Erfolge: Entre douze et quinze ans, mon äge d'or, il n'ötait pas rare qu'ils s'y prennent ä quatre ou cinq pour tenter de m'arreter. [...] Mais qu'en reste-t-il quelques ann6es plus tard, apres une longue interruption sabbatique? Les corps se sont etoff6s, ont double de volume, se sont hausses de trois tetes. Les feux follets, soumis au meme regime mais courant encore apres cette flamme vive de l'enfance, livres ä cette metamorphose brutale, bousculis, sont immanquablement mis sous eteignoir, etouffee la petite musique mozartienne par la fanfare municipale. (MO, 26/27) 33 34
Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions, p. 33. Zitiert nach Alain Goulet: «La memoire dans la », p. 47.
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Auch hier wird die Erinnerung an die Kindheit nicht zur Zeitüberbrückung und zum Eintauchen in legendäre Kindertage instrumentalisiert, sondern vollführt selbst in erster Linie eine ironische Entzauberung des Mythos von der wiederholbaren Zeit. Die brillante Fußballervergangenheit mit ihrem «art de la virevolte» (MO, 27) ist für Jean unwiederbringlich vorbei, und die Jahre lasten alle schwer auf seiner ehemals vorhandenen Bewegungskunst. Auch die stark ausgebildete Myopie bei gleichzeitigem Verzicht auf eine Sehhilfe macht ihm das Spielen im alten Stile nicht gerade leichter. Das Fußballspielen ergibt keine Proustsche joie extra-temporelle, im Gegenteil: «taper dans la balle comme on expedie son enfance, laquelle se perd dans le lointain brouille» (MO, 27). Der deutliche Erzählerkommentar lässt keinen Zweifel an der definitiven Uneinholbarkeit der Vergangenheit: Aus dem spritzigen Mozart-Rondo von einst ist heute behäbige Blasmusik geworden. Dass Jean Rouaud mit dieser Darstellung auch die Trennung von erzähltem und erzählendem Ich und damit die unhintergehbare Medialität jedes Selbstbildes ironisch-übertrieben unterstreicht, tritt wohl klar genug hervor. Noch deutlicher dürfte geworden sein, dass sich der Autor mit diesem Erzählverfahren auch innerhalb der gattungstheoretischen Entwicklungen des autobiographischen Schreibens positioniert. Er unterwandert von vorneherein im kontrastiven Doppelspiel von Erzähler und früherem Ich die Identitätsformel vom autobiographischen Pakt: Die ressemblance als autobiographisches Element wird in Rouauds Roman wiederholt durch Persiflage der beiden Instanzen desavouiert. In der oben schon thematisierten Ping-Pong-Szene, die Jean mit einem Schulkameraden aus Saint-Cosmes und dessen hübscher Schwester zeigt (MO, 107-122), hat der Erzähler gleich mehrere Themen der autobiographischen Topik umgesetzt: das «Ich in der Zeit», das Thema «Ich und Du». Diese Passage erzählt ironisch das amouröse Erweckungserlebnis des jungen Jean, denn die weibliche Schönheit hat den Jungen bleibend beeindruckt. Aber seine Minderwertigkeitskomplexe machen Jean schwer zu schaffen und überschatten sein für lange Zeit schwieriges Verhältnis zum anderen Geschlecht. Seine Wünsche kollidieren mit der Realität und werden zur obsessiven (aber rhetorischen) Frage: «est-ce qu'une fille jamais s'interessera ä moi» (MO, 112). Der lineare Reifeprozess einer education sentimentale, der in einer entsprechenden Öffnung, in einem Entwicklungsschritt des jungen Jean liegen könnte, wird ironisiert und dadurch letztlich demontiert: Jean durchläuft einen sehr langsamen und steinigen Reifungsprozess, und das desenchantement du moi seitens des Erzählers wird, wieder einmal, bestätigt. Der Erzähler überzeichnet dabei die eigenen früheren Schwächen in extremer Selbst-Parodie: sein unvorteilhaftes Außeres, seine Myopie und seine Unfähigkeit zum Tischtennis-Spiel. Auch hier literarisiert der Erzähler in der Rückschau das eigene Bild in sehr dichter Weise, indem er seine Beschreibung mit den bekannten sprachlichen Mitteln gestaltet und ihr eine Vielzahl intertextueller Anspielungen unterlegt.35
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Siehe oben Kapitel 3.1.2.1. Zu den Flaubert-Bezügen siehe oben Kapitel 3.1.2.4.
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Die negative Wahrnehmung durch die anderen, die die Sicht des Erzählers auf Jean prägt und bestätigt, wird mittels einer von der Erzählperspektive veränderten Passage auch mit narrativen Mitteln belegt. Der Erzähler schlüpft in die Rolle des ehemaligen Schulkamaraden, Jean verliert seinen Status als Ich der Erzählung und wird nun in einer mehrseitigen Parenthese aus dieser - vermeintlichen - Objektbzw. Außensicht dargestellt (MO, 125-129): Der ehemalige Schulkamarad hat Jean besucht und unterhält sich mit seiner Schwester darüber. Nicht viel hat sich seit ihrem Ping-Pong-Nachmittag in Kindertagen in ihrer Meinung über ihn verändert: Sie machen sich noch immer über Jeans frühere Eigenarten lustig und bestätigen damit unverhohlen, dass die Einladung zum Tischtennis auf Mitleid und Eigensinn beruhten, so wie dies der Erzähler für Jean selbst schon gedacht hat (MO, 108, 111). Dabei wird indes klar, dass ihre (fiktiven) Gespräche nur die Projektionen Jeans wiedergeben, die der Erzähler gestaltet: Diese Passage, die wie die oben behandelte Fußballpassage die ironisierte Sicht der Figur des Jean durch den Erzähler hervorhebt, stellt das psychische Dilemma seiner Jugendzeit heraus, indem es den Mechanismus einer selffulfilling prophecy, mit dem sich Jean stets in dem von anderen zurückgeworfenen negativen Bild einfindet, narrativ nachbildet. Das Verhältnis von Ich und Du, das Thema Freundschaft, Liebe und zwischenmenschliche Beziehungen, das von Picard zum Grundbestand autobiographischer Werke gezählt wird, fehlt also auch in Rouauds Selbstportrait nicht. Immer wieder travestiert der Erzähler allerdings die gängigen Muster des autobiographischen Erzählens und liefert eine ironische Persiflage des in der literarischen Tradition ausgebildeten Topos. Die kläglich scheiternde Liebesepisode mit Theo, die mit einer Vielzahl von Versatzstücken und Anspielungen unterschiedlichster Art angereichert ist, 36 stellt hierfür ein besonders erhellendes Beispiel dar. Kommen wir nun zur sprachkritischen, metaästhetischen und metafiktionalen Reflexion, wie sie in Le monde ä peu pres ausgeprägt ist und durch die die überkommene autobiographische Topik, vor allem Picards Thema der «Sprache als Mittel der Welterfassung und Kommunikation», aufgegriffen und weiter kritisch behandelt wird. Hierbei dienen Gedanken aus dem Werk Friedrich Nietzsches, unter anderem aus seinem Essay Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, als hermeneutische Folie, die die folgende Interpretation des Rouaudschen Romans leitet (Nietzsches Text stellt damit, wenn man so will, einen weiteren Intertext dar). Nirgendwo sonst wird der ironische Verweis auf die Selbstkonstitution deutlicher als im wiederholt aufgerufenen Spiegel-Motiv, durch das die vom Erzähler gelenkte Selbstsicht Jeans unverblümt zum Ausdruck gebracht wird. 37 Der Spiegel stellt die Hauptmetapher des autoportrait dar. 38 Bereits die in der Ping-Pong-Szene placierte
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Siehe oben Kapitel 3.1.2.3 und 3.1.2.4. Dieses Motiv wird oben, in Kapitel 3.1.2.4, als intertextueller Bezug auf Flaubert gedeutet. Auch ein kontrastiver Bezug zu den Grimassen vor dem Spiegel aus Sartres Les mots ist denkbar. Siehe Jean-Paul Sartre: Les mots, Paris, Gallimard/Collection Folio, 1979, p. 94/95. Siehe Kapitel 2.4.1.
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Erwähnung des Spiegels muss vor dem Hintergrund des eben Gesagten als blanke Ironie nicht nur gegenüber dieser Metapher verstanden werden, sondern in Bezug auf die autobiographische Topik überhaupt: Pour moi seul, le nez sur le miroir, et pour autant qu'on puisse etre son meilleur juge, j'avais plutöt Γ impression que mon physique gagnait ä η'etre pas affubl6 de ces horribles lunettes ä verres epais, et done qu'en les ötant je mettais des atouts de mon cöte, je veux dire en ce qui concerne la lancinante question: est-ce qu'une fille jamais s'intöressera ä moi, qui est la seule, l'unique question, en comparaison de laquelle toutes les autres paraissent sans importance, et meme le sort de la planete, ä condition bien sur qu'il ne remette pas en cause la reponse ä ladite question. (MO, 111/112)
Nicht nur die auf Rousseau verweisende Behauptung, dass der Erzähler das beste Urteilsvermögen hinsichtlich seiner früheren Lebensphasen besitzt, wird angesichts der Kurzsichtigkeit Jeans und seines Verzichts auf die häßliche Sehhilfe desavouiert - und damit die Ausgangssituation jedes autobiographischen Schreibens überhaupt kritisch problematisiert. Wie soll sich das hier im Blickpunkt stehende - stark kurzsichtige - Ich mit der Nase auf dem Spiegel denn eigentlich richtig sehen können? Die Metapher des Spiegels als eines Symbols der Selbstreflexion wird hier generell entwertet, zumindest in Frage gestellt, indem durch den Erzähler Jeans Dasein allein auf die Lösung des Problems reduziert wird, ob sich jemals beim anderen Geschlecht Interesse für ihn einstellen werde. Immer wieder also wird in Le monde ά peu pres anhand des Spiegel-Motivs auch die überkommene autobiographische Topik ironisiert. Jean, der, voll der Bewunderung für Theo, der Schönen im Cafe gegenüber sitzt, betrachtet sich im Spiegel, und folgende Reflexion kommt in ihm auf: [...] ce qui m'apparut dans le miroir au-dessus de la banquette en moleskine bran craquelee n'avait rien d'encourageant: [...] un visage au nez rougi par le firoid ayant peu ä voir avec Γ idee plus avenante qu'un instant plus töt je m'en faisais. Ainsi tout rentrait dans l'ordre. Eviction du domaine de reverie. Retour au reel. Je baissai la tete, comme si je redoutais d'infliger une telle vision ä la belle. (MO, 197)
Jean, der sich für den Moment von Theos Abwesenheit auf sich selbst zurückgeworfen sieht, vermag es gerade nicht, sich offen und ehrlich im Spiegel zu betrachten. Das Bild, das ihm eben noch in Gestalt Theos gegenübertrat, war ein sehr viel schöneres, das reflektierte, reale Spiegelbild ist hingegen wenig vorteilhaft. Deswegen blickt er verschämt nach unten. Theo kreiert das positive Traumbild, das er als ihr Begleiter von sich hat, es hält aber nur so lange vor, wie die Schöne auch tatsächlich anwesend ist. Ist Jean allein, herrscht die reale Tristesse des grauen Alltags, die ihm von seinem Konterfei entgegengebracht wird. Aber, oh Wunder, nach ihrer Rückkehr an den Cafe-Tisch segnet die schöne Gottgleiche Jean in einer mildtätigen Geste mit ihrer Hand, nimmt ihm vorübergehend die Scham und seinen Minderwertigkeitskomplex (cf. MO, 200), indem sie ihn auf sein schriftstellerisches Projekt anspricht. Aber statt die sichtlich an seinem literarischen Projekt interessierte junge Frau mit inhaltlichen Ausführungen zu seinem Werk zufriedenzustellen und vielleicht sogar zu beeindrucken, verzichtet Jean auf 403
diesen Weg einer möglichen Annäherung an Theo. Er lässt seinen Jean-Arthur kurzerhand sterben und wechselt das Thema. Dabei tritt er aber wieder einmal in ein Fettnäpfchen und sieht sich zurückversetzt an seinen angestammten Platz: «pour la cent millieme fois remis a ma place [...], la honte au front et le decouragement au cceur» (MO, 200). Jean, der in einem etablierten Verhaltensmuster gefangen ist, fügt selbst immer wieder ein neues Kapitel in seinem «grand livre des humiliations» (MO, 174) hinzu, so dass seine Anti-Education stets wieder ihren alten Lauf nimmt: «le cercle de tristesse et d'ennui venait ä nouveau de se refermer» (MO, 166). Der in seiner eigenen Welt lebende Jean präsentiert sich - nicht nur hier - im Sinne des genannten Essays Nietzsches als «intuitiver Mensch», der «heftiger (leidet), wenn er leidet; ja er leidet auch öfter, weil er aus der Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fallt, in die er einmal gefallen». 39 Erst zum Ende des Romans, bei der Vorführung von Gyfs Film, taucht für Jean am Ausgang dieses langen, dunklen Tunnels, der sein bisheriges Leben in «ce monde des apparences floues» (MO, 222) gewesen ist, Licht auf: Jean bittet Gyf um dessen Brille, um die Filmszenen mit den richtigen Violinakkorden zu unterlegen. Der Tunnel des Verlaineschen Unbestimmten (cf. MO, 21), das wird in dieser Szene deutlich, war nicht nur visueller, sondern auch emotionaler und sprachlicher sowie erkenntnistheoretischer bzw. hermeneutischer Natur. Der Moment, in dem Jean erstmals seit Jahren wieder eine Brille aufsetzt, wird daher als Akt einer Sprachwerdung, als Geburtsstunde einer sprachlichen Semiose ausgestaltet: Dieser neue Status wird aber, wie sich herausstellen wird, im weiteren Verlauf des Werks negativ bewertet und zu einer Kritik am Begriff der Wahrheit erweitert. Mit dem Brillen-Motiv ruft der Erzähler eine weit tragende kulturgeschichtliche Symbolik auf, indem diese Szene mit der Symbolgestalt der modernen Sprachlosigkeit eine epistemologische Schnittstelle, einen Austritt aus einer alten und einen Einstieg in eine neue Ordnung der Dinge markiert: Des ce moment vous vous identifiez ä Gaspard Häuser sortant de sa cave, vous avez la sensation de partir ä la decouverte du monde. (MO, 242)
Jean tritt wie der Nürnberger Findling gleichsam aus der Einsamkeit einer bewusstseins- und sprachlosen Vorgeschichte - «le comble de la solitude» (MO, 242) - in die Domäne der Wahrheit und Klarheit ein, in der Sprache, Bedeutung und Erkennen möglich gemacht werden: «c'est vrai qu'on y voit plus clair» (MO, 242). Und erlaubt dieses neue Wissenssystem Jean überhaupt wirklich eine klarere Sicht seines Selbst? Der schwierigste Moment des Sehenden, «vos peines de voyant», steht damit also noch aus: «l'epreuve du miroir» (MO, 243). Jean tritt nun mutiger als noch in der Cafe-Szene in das Lacansche Spiegelstadium ein, auf das hier ironisch angespielt wird: Or vous n'en etes pas encore ä ce Stade oü vous marchez sur un trottoir sans chercher votre reflet dans une vitre, oü vous negligez votre double inverse. Qu'une glace se 39
Friedrich Nietzsche: «Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne», p. 889/ 890.
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präsente et c'est l'affrontement, le cruel face-ä-face, cet ereintant, ce decourageant: c'est moi, celui-lä? vraiment? Vous n'avez rien d'autre ä me proposer? (MO, 243)
Die formende Funktion des Lacanschen Stade du miroir hinsichtlich des Ichs wird in den rekurrierenden Verwendungen des Motivs gleichsam mit der im Hintergrund stehenden erkenntnistheoretischen Folie der Foucaultschen Analyse von Las Meninas aus Les mots et les choses gegengelesen.40 Der suchende Blick führt in den Spiegel, aber der bleibt leer. Jeans Ich wird durch den Blick in den Spiegel keineswegs geformt, sondern eher verformt: «c'est moi, celui-ΐέ? vraiment?» Wie bei Veläzquez in Foucaults Analyse gibt es auch in dieser Spiegelszene keine Übereinstimmung von Subjekt und Objekt. Damit werden hier wie dort die Vergewisserung von Identität, die vom Blick in den Spiegel erwartet wurde, und die Möglichkeit eines souveränen Betrachter-Subjekts durchbrochen: Wer betrachtet wen, wer ist Modell und wer der Maler? Zwar sieht Jean nun um sich herum weniger verschwommen, aber das, was er jetzt betrachtet, gefallt ihm nicht besser. Daher würde er diesem tristen Tableau auch eher seine alte «vision brouillee» vorziehen (MO, 243). Es ist also keine Rede von einer souveränen und klaren Selbstbehauptung. Denn der analytische Blick durch die Brille zeigt ihm ohne Mitleid eine neue Wahrheit, die nicht mit der bisherigen zusammenpasst. Und diese Wahrheit ist zudem auch noch häßlich: Et la claire vision ne vous pardonne rien. Cette idee de vous-meme avec laquelle vous vivez dans votre repli de brumes, dont tant bien que mal vous vous accomodez, que vous finissez par trouver presque acceptable, soudain la voilä impitoyablement dinoncöe, laminee, aneantie: celui-lä avec ces lunettes desesperantes, ces cheveux longs plaques par l'humidite, ces joues mal rasees, celui-lä que vous plaigniez quand il s'agissait de Gyf, celui-lä, eh bien, inutile de se raconter des histoires, celui-lä c'est vous. (MO, 243/244)
Für Jean manifestiert sich in dem Moment, da er wie Kaspar Hauser in die Welt der gesellschaftlich verfügbaren Sprache tritt, eine mögliche Weltsicht mit einer klar festzustellenden Wahrheit und ungeschminkten Wirklichkeit als eine negative Erfahrung. Pikanterweise eröffnet sich dieses «droit ä la verite», diese «realite sans fard» (MO, 247) anhand des Erkenntnisproblems, ob Theo nun die Darstellerin in Gyfs pornographischem Amateurfilm ist oder nicht... Jean hingegen entscheidet sich, wie bald sichtbar wird, anders. Für die Gottgleiche verzichtet er auf das vermeintlich helle Licht der normierten Erkenntnis, das ja zudem, hinlänglich deutlich, mit der «unumgänglichen Agonie der Dinge» und dem unaufhaltsamen Rückgang der Lebenszeit verglichen und damit negativ konnotiert wird (MO, 248). Jean unterbricht mit seinem Geigenbogen das Weiterlaufen der Filmrolle genau in dem Moment, in dem sich die Identität der nackten Darstellerin offenbaren könnte: Jean setzt mit diesem Bewusstseinsakt das biblische Bilderverbot,41
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Les mots et les choses, p. 19-31. Cf. hierzu auch Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, p. 305/306. Cf. im Alten Testament Dtn 4,16 und 23 (Die Bibel, p. 172).
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das hier einem poetisierten Blick auf die Dinge gleichgestellt und positiv bewertet wird, symbolisch in die Tat um und schaltet das Licht, das ins Dunkle gebracht werden könnte, gleichsam selbst aus. Er bewahrt damit ein Geheimnis und die Vollkommenheit der göttlichen Schönen für immer (MO, 249). Auf welchen Ort verweist Jeans Verstehensprozess in dieser Schlussszene also tatsächlich, wo findet dieser hermeneutische Vorgang der Bewusstwerdung statt? Die Szene demontiert (wie andere Passagen auch) nicht zuletzt das alte französische Stilideal der clarti, «cette obscure clartd» (MO, 210). Der Erzähler hinterfragt es sprachkritisch, mit Sprachwitz und Ironie: «on n'attend pas de la clarte qu'elle fasse toute la lumiere» (MO, 90). Die sich anscheinend darbietende Klarheit der Dinge ist also nur eine scheinbare: Jeans klares Sehen durch die Brille der Sprache ist ein falsches Ideal, das er, wie sich mit Nietzsche sagen ließe, als eine Selbst-Täuschung42 erfährt und ablehnt. Jean präferiert demgegenüber vielmehr ein inneres Sehen, und sein Leben soll gewissermaßen im Unschärfebereich einer produktiven, poetischen Kurzsichtigkeit verbleiben: in der «vision microscopique des choses» (MO, 21), die den Künstler auszeichnet und wie viele Äußerungen in dem Roman die literarische Ästhetik Rouauds beschreibt.43 Denn Jean erkennt, dass die Brille der konventionellen Sprache der Vernunft keine wirklich schärfere Betrachtung der Realität erlaubt, weil die der Sprache aufgrund ihrer metaphorischen Strukturiertheit, Nietzsches «bewegliches Heer von Metaphern»,44 nicht wirklich existiert und sich notwendigerweise jedes Entsprechungsverhältnis von Sprache und Realität als imaginär enthüllt: «lunettes ou pas lunettes, on n'y voyait pas plus clair» (MO, 249/250), denn: «la verite est ailleurs, bien sür» (MO, 76). Daher setzt Jean die vermeintlichen «lunettes magiques» (MO, 249) auch wieder ab und begibt sich in Form eines bewussten Willensaktes zurück in seinen «repli de brumes» (MO, 243). Dieser bewusste Schritt zurück ins Imaginäre wird in Sur la scene comme au ciel konsequent verlängert und in eine wichtige metaästhetische Aussage umgesetzt, die hier angefügt sei, um die Geschlossenheit der Ästhetik dieses Autors zu belegen: «Ici, en litterature, on n'est pas tenu de fournir des justificatifs ä tout bout de champ. On tolere le flou, l'imprecis, l'extravagant» (SC, 32). Die in Le monde apeupres implizit dargestellte Ästhetik wird in dem späteren Roman zu einer expliziten metaästhetischen Aussage, die sich auf das gesamte Romanwerk beziehen lässt: Als Plädoyer für eine fiktionale und kreative Sicht der Dinge, die eine eigene Wahrheit in sich trägt und nicht mit unrealistischem oder gar geschichtsverfalschendem Erzählen verwechselt werden sollte, wie Kapitel 4 gezeigt hat.
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Friedrich Nietzsche: «Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne», p. 888. Hier liegt eine auffällige Parallele zum ebenfalls bretonischen und ebenfalls kurzsichtigen Romancier J. M. G. Le C16zio, in dessen poetologischen Werk L 'extase materielle die Gedanken seiner literarischen Ästhetik niedergelegt sind, die ihrerseits in Romanen wie etwa Desert und Le chercheur d'or umgesetzt werden. Friedrich Nietzsche: «Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne», p. 880.
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Jeans Aussage «inutile de se raconter des histoires» (MO, 244), die er trifft, als er die Brille aufsetzt, ist als das genaue Gegenteil dessen aufzufassen, um was es dem Autor in seiner metaästhetischen Äußerung tatsächlich geht: Keine noch so klare Sprache vermag es, die höhere Wahrheit des Selbst in den Begriff zu setzen. Allenfalls können dies die Geschichten erreichen, die man sich erzählt. Jean akzeptiert im Absetzen der Brille für sich selbst das Leben in einer Traumund Innenwelt, in der eine höhere Form von Wahrheit existiert als die, die sich im hellen Licht einer - imaginären - rialite sans fard wähnt. Mit Nietzsche merkt Jean zudem, dass es das «Ding an sich» 45 nicht gibt. Diese Innenwelt der poetischen Kurzsichtigkeit, dieses ist für Jean, der hier eine epistemologische Umwertung vornimmt, also nun gerade das für den Menschen wichtige Artefakt, das das Leben erfahrbar macht, sie ist die bereichernde Welt der Kunst, der Literatur. Als wollte Jean mit dem zentralen Motiv der myopie, das eine wichtige metapoetische Botschaft des Autors transportiert, nicht nur das in der Barockliteratur verbreitete alte Thema des Lebens als Traum, sowie ihrer Umkehrung: der Traum als Leben, gleichzeitig auch Nietzsches Wort bestätigen: «Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn». 46 Mit Jean will der Erzähler, der an einer Stelle in einem anderen Roman davon spricht, «de desserrer l'etau du reel» (CA, 98), zurück in die Geborgenheit der Höhle und nicht das Schicksal Kaspar Hausers erleiden, der von anderen eine Sprache aufgezwungen bekam, die nicht die seine war, und letztlich daran zugrunde ging. 47 Der Spiegel als Symbol für die konventionelle Sprache des analytischen Intellekts, der ohnehin zerbrochen ist (MO, 243; cf. auch CH, 139), lässt also kein perspektivisch ungefiltertes, zwangsläufig erheilenderes oder unvermitteltes Spiegelstadium zu. Der Spiegel wird dadurch in Le monde ä peu pres als Zentralmetapher des autoportrait als erkenntnistheoretisches Mittel entwertet. Jeans symbolisch markierte Rückkehr in die Existenzform eines von den referentiellen Zwängen und den Konventionen des gesellschaftlichen Machtinstrumentes Sprache Geplagten verweist insgesamt in offensichtlicher Weise auf Kaspar Hausers Schicksal und auf das Platonische Höhlengleichnis: «vous opteriez pour une vie definitivement souterraine, au plus profond d'une grotte» (MO, 244). Der Erzähler wendet sich mit diesem Verweis in einer metapoetischen Geste gegen den planen Wahrheitsbegriff des Intellekts und den Konventionalisierungszwang, der durch die denotative Sprache und die Normen gesellschaftlichen Sprachgebrauchs für den Menschen existiert: Jean hat jetzt verstanden, dass er dem «lot commun de la normalite» (MO, 211), dem er früher als ein von anderen Bestimmter (MO, 38) 48
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Ibid., p. 879. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienaugabe in 15 Einzelbänden. Band 13: Nachgelassene Fragmente 1887-1889, p. 500. Siehe zu Kaspar Hauser Jochen Hörisch (ed.): Ich möchte ein solcher werden wie... Materialien zur Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1979. «J'etais toujours celui-lä, le sans-pere, le d6muni, qui dependait du bon vouloir des autres». 407
nachgestrebt war, nunmehr seine Existenzform der Myopie, d.h. der bewusstseinsmäßigen sowie der kreativen und fiktionalen Freiheit vorziehen kann. Man sieht: Das Schlusstableau, Jeans Akt und der Verweis auf Kaspar Hauser können auch mit Michel Foucaults Philosophie der späten Jahre gelesen werden. Hier seien nur die Stichwörter asujettissement, Machtmechanismen und das Entwerfen neuer Modi der Subjektformierung jenseits der Normalisierungsmaschinerie genannt, die den Zweck verfolgen, das «normiert-normalisierte Subjekt» zu überwinden. 49 Der in diesem Sinne durch die Kunst vom Disziplinarmechanismus Normsprache befreite Jean tritt am Ende des Romans ein in Nietzsches «Wonnegefühl des Daseins», 50 das sich in der Traumwelt der Poesie erfährt, und er erlebt dies mit «Freude» (MO, 253). Jean ist am Ende im Sinne Nietzsches nicht ein durch Abstraktionen und Begriffe getäuschter und vernünftiger Mensch, sondern zum «künstlerisch schaffende(n) Subjekt», 51 zum von Kultur und Kreativität umgebenen «intuitiven Menschen» geworden, der «ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung (erntet)». 52 Am Schluss des Romans hat Jean also seinen Weg der Initiation in eine eigene literarische Sprache und in das Nietzscheanische Reich der erlösenden Kunst, die «mehr werth ist als die Wahrheit», 53 und den Prozess der Emanzipation vom Selbst-Bild, das die anderen ihm aufgezwungen hatten, abgeschlossen. Nunmehr, da er die seit dem Tod Josephs versprochene Ernte einfahren kann, für die sein Vater ausgesät hat, «tu recolteras ce qu'il a seme» (MO, 252) ist die Ernte, von der der deutsche Denker in der zitierten, wortgleichen Formulierung spricht - nunmehr also ist sein baldiger Aufstieg in die Arme seiner Muse möglich. Der Weg zu seiner Kunst und zur erfolgreichen Vollendung seines Werkes ist und bleibt von nun an frei von Hindernissen (und das Ergebnis hält der Leser ja in den Händen). Die mit einer produktiven Aneignung des Kaspar-Hauser-Motivs und des Platonischen Höhlengleichnisses sowie mit Nietzsches und Foucaults Sprachkritik lesbare Entmystifizierung des Wahrheitsbegriffs und der traditionellen Autobiographie-Metapher des Spiegels als Ort der Selbstreflexion lässt nunmehr das Reich der Fiktion, der Narration und Kunst, als einzigen Ort einer Hermeneutik des Selbst, Foucaults subjectivation,54 und als Platonische Wahrheit höherer Ordnung möglich werden. Der Weg zu seiner Muse, der j a am Ende steht, war damit nicht nur ein
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Cf. hierzu Ursula Link-Heer: «Michel Foucault und die Literatur», vor allem p. 139-142. Das Zitat steht auf Seite 141. Friedrich Nietzsche: «Die Geburt des tragischen Gedankens». In: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Band 1, p. 579-599, hier p. 581. Friedrich Nietzsche: «Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne», p. 883. Ibid., p. 889. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Band 13: Nachgelassene Fragmente 1887-1889, p. 522. Siehe zum Kunstbegriff bei Nietzsche etwa die nachgelassenen Fragmente vom Mai 1888: Kunst «als die Erlösung des Erkennenden», «als die Erlösung des Handelnden», «als die Erlösung des Leidenden» (ibid., p. 521). Cf. Ursula Link-Heer: «Michel Foucault und die Literatur», p. 139.
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Weg zu seinem Selbst, sondern auch die dornenreiche und schwierige Initiation ins Reich der Kunst und des Ich-Romans sowie in eine eigene stilistische, sprachliche und ästhetische Gestaltung. Betrachtet man nun den ganzen Roman aus der Perspektive des Schlusskapitels, werden das Fußballspiel am Anfang und das durchgehende, ironisch aufgeladene Thema der Myopie, die Jean als sprachlichen Einzelgänger kodieren, zum symbolischen, metaästhetischen Ausdruck für die Suche des Rouaudschen Romanerzählers nach dem Subjekt der Narration, nach einer ihm angemessenen Sprache und Form und als Plädoyer für die Freiheit der Phantasie: Diese Gestaltung kodiert das Werk als eine implizite Metafiktion. Der Erzähler ist sich zudem wie Jean über seinen eigenen Weg am Ende bewusst geworden und plädiert für eine Revalorisierung der Fiktion als eines erkenntnistheoretischen Mittels und einer Möglichkeit der Weltwahrnehmung und Subjektformierung sowie speziell als legitimer narrativer Form des autobiographischen Diskurses in der Gegenwartsliteratur. Rouauds Romanwerk versteht sich hinsichtlich des letzten Gedankens selbst als Autofiktion. Rouauds Romane haben mit dieser stilistisch-formalen Verortung literaturästhetische Entwicklungen und Positionen der jüngsten Gegenwart einbezogen und nehmen im Sinne einer Rückkehr zum Ich der Erzählung deutlich zur Ästhetik des postavantgardistischen Romans Stellung. Das ästhetische Anliegen des Autors wird durch die folgenden Romane und durch das poetologische Werk La desincarnation noch weiter unterstrichen und fundiert. Aber auch diese dem Roman zugrunde gelegte metaästhetische Botschaft und narrative Ordnung der Dinge, metafiction oblige, wird sogleich wieder - und zwar vom Erzähler selbst - aus den Angeln gehoben. Das Erzählmuster des Künstlerromans wird durchbrochen: nicht nur in dem durchaus sehr ironisch gemeinten Schlusstableau, aber dort besonders offensichtlich. Denn hier dekonstruiert der Erzähler in Form einer lustvoll erlebten resurrection, eines Aufstiegs zu den Sternen selbstironisch die Vorstellung einer metaphysischen Erfahrung der Kunst: [...] une fois revenu ä la surface, qui empecherait le sorti des eaux de pouisuivre sur sa lancee et, s'arrachant ä la pesanteur, le plus 16ger que l'air, de continuer ä s'elever, gagnant la troposphere, la stratosphere, l'exosphere? Et, alors que le petit phare rondouillard cal6 entre les deux joues cylindriques du reservoir et du carter trouait la nuit de la Terre, souriant dejä ä ce moment oü, au sommet de mon assomption triomphale, la nouvelle star du ciel medusee se jetterait dans mes bras ouverts. (MO, 253/254)
Dieses abschließende Bild vom zu den Sternen katapultierten Jean, der sich kurz zuvor noch im Straßengraben befand, lässt sich als eine Persiflage auf die «höchsten Wirkungen der Kunst» lesen, die Friedrich Nietzsche im Kapitel Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller, in Menschliches, Allzumenschliches, in Bezug auf ein metaphysisches Bedürfnis sarkastisch formuliert hat. Dabei werden die narrativen Transformationen, die Rouaud in seiner Version vornimmt, unverdeckt deutlich: [...] die höchsten Wirkungen der Kunst (bringen) leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervor [...], sei es zum Beispiel,
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dass er [der Freigeist bzw. Denker, J. Ο. M.] bei einer Stelle der neunten Symphonie Beethoven's sich über der Erde in einem Stemendome schweben fühlt, mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. - Wird er sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe.ss Der Weg auf den Olymp der höchsten Wirkungen der Kunst führt bei Rouaud, der kurz zuvor als eher mittelmäßiger Geiger auf seine Weise die metaphysische Saite hat erklingen lassen, über den Umweg eines «marigot polaire» - des mit Wasser gefüllten Straßengrabens - zu einer Erleuchtung ganz eigener Art: «le petit phare rondouillard» ist der allerdings nur recht kleine Stern, der Jean erleuchtet. Die hier mit Nietzsches Denkfigur vorgenommene Persiflage auf die metaphysische Kunsterfahrung und auf den von Jean zurückgelegten Weg ist, so scheint mir, offensichtlich. Die Erfahrung, die Jean dank Gyfs pornographischem Amateurfilm macht - auch die Wahl dieses wohl eher zweifelhaften künstlerischen Genres fungiert als eine offensichtliche Entwertung der Kunst mittels Parodie wird auf diese Weise mit einem hohen Grad an Ironie, welche vor nichts und niemandem haltmacht, als metaphysisch entleertes Erweckungserlebnis und als Vollzug einer Initiation ins halbseidene Reich der Kunst und des zweifelhaften inneren Sehens gestaltet: quel film avait produit sur moi une aussi forte impression? J'avais beau röflichir, passer en revue mes plus beaux souvenirs de cinema - et j'y allais chaque semaine alors - , ce Tombeau etait plus beau, plus intense, plus vrai, plus emouvant, plus dramatique, plus intrigant, plus dröle aussi (du point de vue du destin, s'entend) que tout ce que j'avais pu voir jusque-lä. (MO, 250) Auch mit diesem Motiv, das auf den autobiographischen Künstlerroman verweist, wird ein narratives Muster aufgerufen und in einer sehr ironischen Belichtung zugleich desavouiert. Eine Interpretation des Schlusstableaus mit der Proustschen Recherche als hermeneutischem Hintergrund, also Marcels Weg zum künstlerischen Erweckungserlebnis und seiner vocation, bietet sich in der Schlussszene von Le monde ä peu pres ebenfalls an. Das Finale des Romans lässt sich nämlich auch verstehen als parodistischer Bezug56 auf Marcels in Le temps retrouve gemachte Erfahrung der zeitaufhebenden Macht, die der Erinnerung innewohnt und durch welche sich ihm die Aufgabe eröffnet, sein Inneres in ein Kunstwerk zu übersetzen.57 Die in Prousts Werk beschriebene Extase einer enthusiastisch erlebten Zeitenthobenheit, jenes «Zufallsgeschenk einer
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Friedrich Nietzsche: «Aus der Seele», p. 145. Siehe zu den Proust-Bezügen in Le monde ά peu pres oben Kapitel 3.1.2.4. «Or, ce moyen qui me paraissait le seul, qu'etait-ce autre chose que faire une oeuvre d'art?» (Zitate aus Le temps retrouve, p. 185). Siehe ferner: «Le devoir et la täche d'un öcrivain sont ceux d'un traducteur» (ibid., p. 197).
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unwillkürlichen Erinnerung»58 - das Stolpern im Hof der princesse de Guermantes, die in Tee getauchte Madeleine, die Kirchtürme von Martinville sind für Marcel Marker einer authentischen Vergangenheit, sie bilden «ces resurrections de la memoire», die ihm «telles quelles»59 gegeben sind, ihn wie einen «aviateur» in die «hauteurs silencieuses du souvenir»60 erheben und ein Gefühl der Freude auslösen, die Wirklichkeit der vergangenen Zeit wieder zu empfinden: Mais justement la fapon fortuite, inevitable, dont la sensation avait 6te rencontree, contrölait la verite du pass6 qu'elle ressuscitait, des images qu'elle d6clenchait, puisque nous sentons son effort pour remonter vers la lumiere, que nous sentons la joie du reel retrouve.61
Die «metaphysisch-essentialistische» bzw. «pseudoreligiöse Begrifflichkeit»62 der Proustschen Passage aus Le temps retrouvi und die dort zugrundegelegte traditionelle Vorstellung einer wiedergefundenen Wirklichkeit in seiner Ironisierung der resurrection Jeans zu kritisieren und abzulehnen, kann der von der gegenwärtigen Philosophie und Ästhetik her denkende Rouaud nicht umhin. Dass diese offizielle Poetik der memoire involontaire nicht einmal Prousts letztes Wort in eigener Sache war, wurde mit Rainer Warning schon unterstrichen. Es stellt sich daher die Frage, wieweit der hier aufgezeigte kritische Proust-Dialog von Rouaud überhaupt trägt, oder anders gesagt: Versteift sich Rouaud in seiner hier von mir herausgestellten Proust-Parodie nicht zu sehr auf die memoire involontaire und unterschlägt die von diesem selbst subtil vorgenommene Dekonstruktion der eigenen Poetik? In jedem Fall bleibt die Kritik an dem in dieser Proustschen Passage aus Le temps retrouve erstellten Programm der kultisch-mythisch verfassten Kunstverehrung, das der retrospektiv totalisierten vocation, des «faire une ceuvre d'art» und der Gedanke der höheren Wirklichkeit der Kunst («l'art est ce qu'il y a de plus reel»)63 bestehen: Denn Rouaud, ein nicht gerade dem Metaphysischen zugeneigter Autor, kann sich mit einer solchen Sichtweise wohl nur sehr eingeschänkt anfreunden. Jeans Geschichte einer Berufung wird vom bretonischen Autor jedenfalls literarisch völlig anders als von Proust gestaltet. Rouaud spielt damit am Ende von Le monde a peu pres nicht nur mit den Vorgängern und den Gattungsmodellen, sondern zugleich mit seinem eigenen Werk, indem er den Weg Jeans zu seiner vocation am Schluss in pure Ironie münden lässt. Der Roman Le monde ä peu pres erzählt damit einen doppelten hermeneutischen Kursus. Indem der Erzähler, der am Ende das vous der Krise gegen das je der Tat austauscht und mit Jean tendenziell zusammenfallt, sich selbst sprachkritisch in den symbolischen Rahmen des Platonischen Höhlengleichnisses und der Mythos-Geschichte
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Rainer Warning: «Vergessen, Verdrängen und Erinnern», p. 164. Zitate aus Le temps retrouve, p. 184/185. Ibid., p. 165. Ibid., p. 185/186. Rainer Warning: «Vergessen, Verdrängen und Erinnern», p. 164/165. Marcel Proust: Le temps retrouve, p. 185/186. 411
des Findlings Kaspar Hauser 64 stellt, legt er die tiefer liegende metaästhetische Bedeutungsebene seiner Erzählung offen. Die Geschichte Jeans beschreibt in produktiver Aneignung dieser Motive die von Nietzsche herkommende Existenz einer in der Sprache liegenden, unhintergehbaren Krise des Selbstbewusstseins, der Identität und der Wahrheit und erzählt die mit Nietzsche und Foucault lesbare Suche nach einer anderen, ästhetischen bzw. allein in der Imagination erfahrbaren Wahrheit, einer narrativen Identität und einer eigenen Sprache, die sich am Ende des Romans zu lösen bzw. zu verwirklichen beginnt, indem es die Krisen-Bewältigung im Nietzscheanischen Reich der Kunst propagiert. Der Roman und die Figur des Jean haben ihre narrative Identität gefunden, und der Erzähler hat die Fiktion als Weg der Erkenntnis für sich legitimiert; er wird sie in die Praxis umsetzen. Zugleich erzählt das Schlusstableau des Werkes die Parodie dieser Initiation im Zeichen Nietzsches sowie die der Proustschen vocation und bildet die gleichzeitig anwesende zweite Ebene des narrativ abgebildeten Verstehensvorgangs: Der Erzähler wird sich über die Gebrochenheit dieser Entwicklung selbst auf deutliche Weise bewusst. Der Weg führt über den Sturz in den Graben in die Arme einer Muse und Kunstgöttin, die sich vorher als Pornodarstellerin gemacht hat. Das Ende von Le monde ä peu pres parodiert damit auch die in der Erzählung aufgerufenen Referenzen, den Status des Erzählers und mithin das eigene Textmodell.
5.3
... ce pretendu roman - mode d'emploi. Zum auto- und metafiktionalen Diskurs in Pour vos cadeaux und Sur la scene comme au ciel In den beiden auf Le monde ä peu pres folgenden Werken wird die valorisierte Auffassung von Fiktion durch die Erzählhaltung bestätigt, indem der Erzähler hier genau das narrativ darstellt und problematisiert, was in Le monde a peu pres im symbolischen Weg, den Jean beschritten hat, implizit dargelegt, aber dort am Ende zugleich noch ironisch gebrochen wurde: eine andere Form von Wahrheit oder Wirklichkeit der Welt, die in der Fiktion wahrnehmbar werden kann, welche aber dabei nicht als absolute Realität, sondern als mögliche Welt zu verstehen ist: Referenz stellt sich also im Text narrativ her. Der Fiktions- und der Erinnerungsbegriff werden dabei als konstruktive Kategorien erkannt und damit explizit von jeder epistemologischen Naivität befreit. Pour vos cadeaux und Sur la scene comme au ciel reauthentisieren den autobiographischen Diskurs gerade einerseits dadurch, dass der Erzähler in ihnen auf die Konstruktivität, die Lücken und die Fehler seines Erinnerns aufmerksam macht. 65 Andererseits dadurch, dass er Zeitzeugen und Quellen heranzieht und sprechen lässt, sowie selbst über das Erzählen und das Erzählte reflektiert, mithin also die Produktions- und die Rezeptionsbedingungen des Textes darlegt. Die autobiographischen Romane legitimieren die Fiktion, die
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Cf. hierzu Jochen Hörisch (ed.): Ich möchte ein solcher werden wie.... Siehe hieizu oben Kapitel 3.2.2.
412
als eine wirklichkeitsadäquate aber nicht-mimetische Zugangsweise zur Welt und als Mittel der Selbstwahmehmung erscheint: als Autofiktion. Expliziter als das dritte Werk verweisen die zwei nachfolgenden Romane auf ihre Stellung als künstlerisches Konstrukt und legen damit deutlich die problematische Beziehung zwischen Realität und Leben einerseits sowie Kunstwerk und Sprache (der Fiktion) andererseits offen. Sie zeigen durch ihre narrativen Strategien letztlich, dass eine strikte Unterscheidung der beiden Kategorien diction und fiction, letztere hat Gerard Genette etabliert, 66 obsolet geworden ist. Die Romane reflektieren damit ihren Charakter als Kunstwerk und konstruierter Text: Sie basieren auf einer auto- und auf einer metafiktionalen Ästhetik. In Kapitel 4.3.3 wurde die metafiktionale Komponente im Zusammenhang mit der Erörterung epistemologischer Fragen und solchen der historischen Sinnbildung bereits thematisiert, genauso wie die für Metafiktion typischen Momente der Intertextualität, des Spiels, der Parodie und des Witzes bereits allenthalben zur Sprache kamen. 67 Ich beschränke mich in diesem Kapitel daher darauf, die Auflösung der Differenzierung zwischen Fiktion und Wirklichkeit nachzuvollziehen, welche gleichzeitig die Artifizialität des Rouaudschen Textes hervorhebt, und darauf, die Reflexion des Erzählers über das Schreiben autobiographischer Inhalte darzustellen. Die zwei Romane beteiligen den Leser am Entstehungsprozess des Werkes und eröffnen auf diese Weise Einblicke in die Funktionsmechanismen von Literatur. Mehrere Strategien des Erzählens dienen dem Zweck, die tradierte Differenzierung in die Kategorien Fiktion und Wirklichkeit zu unterlaufen: Narrative Mittel der Reauthentisierung, damit ist die bewusste Entfiktionalisierung von Erzählinstanzen und die Hervorhebung nunmehr referentialisierbarer Erzählinhalte gemeint, sowie des antiillusionistischen Erzählens wirken hier in diesem Sinne und erzeugen eine die Werke durchziehende Unentschiedenheit, die auch schon im Kapitel 4 für den historischen Roman festgestellt wurde. Der Erzähler reauthentisiert gleich im Anfangskapitel von Pour vos cadeaux die Namensgebung, indem er die flktionalen Orts- und Figurennamen, die in den drei ersten Werken existieren, durch die der realen 68 Schauplätze und Menschen ersetzt und diese Transformation zudem für den Leser expliziert: «Annick, notre mere qui ne lira pas ces lignes et que Ton croise sous le prenom d'Anne» (CA, 13). Der Erzähler wechselt ferner in ein Muster der Lebenserzählung, das gemeinhin als Bürge einer gewissen Faktizität fungiert, in seinen drei ersten Romanen bis dahin aber ausgeblendet blieb bzw. ironisch problematisiert wurde: 69 Er greift ostentativ die generell übliche Form von Lebensläufen auf und setzt auf den ersten Seiten zugleich Geburtsdatum und Geburtsort der Eltern sowie das genaue Datum ihrer Heirat (CA,
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Siehe oben Kapitel 2.4.2. Siehe zu den Merkmalen der Metafiktion insgesamt Miijam Sprenger: Modernes Erzählen. Metafiktion. Cf. zu den Namen CA, 67: «Marie-Annick, dite Nine, Marie-Paule, la petite Alle du magasin, dite Zizou, qui n'itait pas tout ä fait son surnom, mais le vrai, l'historique [...]». Cf. etwa CH, 104. 413
11-13). Der Beginn des Romans steht also sichtbar, nicht zuletzt auch durch den als Fremdtext und Zitat markierten lexikographischen Eintrag zu Henry Bordeaux (CA, 10/11) und die nunmehr richtige Orthographie (La Meilleraye), 70 im Zeichen eines referentialisierbaren und verifizierbaren Sprechens über die Vergangenheit, das in einem wirkungsästhetischen Kontrast besonders zum vorhergehenden Roman und seinem Anamorphose-Prinzip steht, der größer kaum vorstellbar ist. Auf die eigene literarische Freiheit («par commodite») verweisend, den Namen der Region noch mit Loire-Inferieure anzugeben - obwohl sie bereits am Ende der fünfziger Jahre in Loire-Atlantique umgetauft worden war - , stellt der Erzähler eine historische Ungenauigkeit seiner Erzählung richtig, womit er diese Strategie weiter stützt (CA, 12). Der Erzähler verabschiedet sich im Roman Pour vos cadeaux zudem von der forcierten Ironisierung des Ichs und der Personen, die mit Le monde ä peu pres ein nicht mehr zu steigerndes Niveau erreicht hat. Er wendet sich nun durchgehend einem Erzählton zu, um den Verlust der Mutter zu erzählen, einem Ton, der diese Trauerschrift über ihr Sterben mit der ersten Zeile bestimmt, «Elle ne lira pas ces lignes» (CA, 9), und der bis zum Ende des Romans aufrechterhalten wird. Schwarzer Humor und Ironie scheinen dem Erzähler selbst in diesem Roman als unangebracht und sind daher auch deutlich reduziert. Die Reauthentisierung des eigenen Schreibens gilt auch für die nachträgliche Korrektur früherer Werke, die in den beiden Romanen in zahlreichen Wiederaufnahmen von Themen und Motiven 71 gegengelesen und einerseits verifiziert und bestätigt, in manchen zentralen Episoden aber auch korrigiert werden. So etwa am Beginn von Pour vos cadeaux, mit dem eine ganz elementare Episode richtiggestellt wird: Nicht Freddy, sondern Marc hat, wie dieser dem Erzähler in einem «humble rectificatif» habe wissen lassen, die Mutter in Nantes gerettet und in den Luftschutzraum gebracht (CA, 15). Kurz: Dem Erzähler geht es offensichtlich darum, seinem Werk insgesamt den Charakter der Überzeichnung und Poetisierung, welcher vor allem in Le monde ä peu pres dominierte, zu nehmen. Er bindet den Leser in den Korrektur- und Entstehungsprozess, der sich in Pour vos cadeaux vollzieht, mit ein und stellt, wenn nötig, die eigene frühere Wahrnehmung richtig. So will er kurz nach dem Tod des Vaters die Trauer, zusammengefasst in dem Satz: «Ce chagrin sacre, c'est notre source noire» (CA, 46), in der Wiederaufnahme des Ausdruckes (cf. auch CH, 42) legitimieren und nun vom Anschein einer unpassenden Literarisierung befreien: Alors, et ceci afin de dissiper tout soupcon poetique, regardez cette Photographie en noir et blanc, aux bords finement dentes, prise dans la cour de recreation du college Saint-Louis, ä Saint-Nazaire, quelques mois apres le rapt funeste. (CA, 47) 70
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Aber diese wird nicht konsequent durchgehalten: «Heddy Lamar» (CA, 10) ist eine orthographisch freie Umsetzung des Namens der österreichischen Schauspielerin Hedy Lamarr. Cf. Roger Boussinot: Encyclopedie du cinema, p. 1208. Die Selbstzitate und Wiederholungen von Episoden sind daher sehr zahlreich. Cf. unter anderem CA, 15-17, 172; SC, 26, 31, 39, 46/47, 65, 85/86, 98, 102, 133, 137, 160, 177, 179.
414
Das Verweisen auf den materiellen Gedächtnisträger und Zeitzeugen Photographie, der dann vor den Augen des Lesers räumlich und zeitlich verankert sowie historisch korrekt und detailgenau beschrieben wird, damit das Gesagte Bestätigung findet, ist eine weitere Strategie des Erzählers zur Legitimation der Fiktion. Die genaue Bildbeschreibung - die Photographie kann allerdings vom Leser nicht überprüft werden, sie wird jedoch als so authentisch dargestellt, dass kein Grund zum Zweifel an ihrer Existenz gegeben ist - , dient dazu, das Erzählte und die Darstellungsweise zu belegen bzw. zu rechtfertigen, und wird zum Material für das neue Werk, das somit im Beisein des Lesers entsteht. Die Fabulierkunst Rouauds, der nicht nur hier Einblicke in seine Schreibwerkstatt gewährt, baut auf der Basis materiell gespeicherten Gedächtnisses auf - die Photographie lässt sich verstehen als «fenetre ouverte sur le passe» 72 - und konstruiert Sinn. An diese Form des Bilderinterpretierens, das materielles Faktum und Fiktion gleichsam miteinander verbindet, schließt eine andere Strategie an, die das Schreiben am eigenen Leben im Medium Roman aufwertet. Sie begründet dieses Genre ebenfalls als legitimen fiktionalen Zugang zum Selbst, indem sie die Aufhebung der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Fiktion des Romans und Wirklichkeit der autobiographischen Außenwelt betreibt. Diese Strategie der Aufwertung wird in Pour vos cadeaux als antiillusionistisches Spiel mit den Vermittlungsinstanzen des Erzählers, des Ichs und des Autors gestaltet. In diesem Roman stellt der Erzähler erstmals in seinem Werk selbst die vollständige Gleichung Ich = Erzähler = Jean Rouaud auf. Der erste Schritt erfolgt in der Feststellung der Namensidentität, Ich = Jean und Jean = Erzähler: moi (qui goüte peu la compagnie des hommes, dont les conversations me lassent), Jean, dont la fete le vingt-sept decembre commemore le souvenir du disciple bien-aime, celui qui temoigne au sujet de ces choses et qui les a ecrites [...]. (CA, 68) Das «moi», das sich mit der Bemerkung in der Klammer auf das «moi» in Le monde ä peu pres bezieht (cf. MO, 9), sich mit diesem Erzähler-Ich des Jean erstmals in offener Form gleichstellt und als Ursprung der Fiktion zu erkennen gibt, 73 erweitert diese Gleichung dann noch in Richtung auf den realen Autor: Jean = Jean Rouaud. Denn es wird in dieser Szene explizit Bezug genommen auf Jeans literarische Erfolge im Jahre 1990, das Jahr also, als das reale Buch Les champs d'honneur von Jean Rouaud erschien, gleichwohl dies unausgesprochen bleibt und auch die Jahreszahl erst errechnet werden muss. In diesem Jahr fangt die Mutter an, ihn statt wie früher Jeannot nur noch Jean zu nennen (CA, 68). Zudem nennt der um
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Jean Arrouye: «Les champs de l'imaginaire». In: Protie XIX, 2 (1991), p. 72. In diesem Roman bleibt das Ich der Erzählung namenlos, auch wenn der Name im Titel des literarischen Werkes «Jean-Arthur ou La meme chose» (MO, 133) versteckt wird. In Des hommes illustres galt keine Identität Jean = je: Es fällt zwar der Name Jean, nicht aber das Pronomen je, das konsequent durch vous ersetzt wird. In Les champs d'honneur, in dem das nous bzw. on dominiert, fällt das je einmal (CH, 118), dafür fehlt der Bezug zum Namen Jean. 415
Authentizität bemühte Erzähler wenig später das Datum der eigenen Geburt. Es stimmt mit dem des realen Autors Jean Rouaud überein: Er ist am 13. Dezember 1952 geboren (CA, 85). Nun liegt die vollständige Gleichung vor, sie lautet in diesem Roman also nunmehr Figur (Jean, der erzählt) = Erzähler (Ich, Jean) = Autor (Jean Rouaud, der mit seinen publizierten Büchern Erfolg hat). Jean Rouaud hebt an dieser Stelle also das Versteckspiel, das er in seinen vorherigen Werken zwischen den Instanzen der narrativen Vermittlung und der Figur der Handlung etabliert hat, auf: Jean ist von einer fiktionalen zu einer autobiographischen Figur geworden. Rouaud unterminiert damit aber gleichzeitig die Differenzierungskriterien, die Lejeune mit seiner Trennung zwischen pacte autobiographique und pacte romanesque reklamiert oder Gerard Genette für die Unterscheidung von recit fictionnel und recit factuel aufgestellt hat. 74 Vielmehr handelt es sich bei Rouauds Roman um eine autofiction, wie sie Serge Doubrovsky beschreibt, um einen zwischen «fausse fiction» und der «histoire d'une vraie vie» oszillierenden Text: um eine «Fiction d'evenements et de faits strictement reels». 75 In Pour vos cadeaux wird dieser Moment der Ich-Findung des seines fiktionalen Selbst nunmehr bewussten Erzählers auch am Ende erneut unmissverständlich herausgestellt: in der nochmaligen Bezeugung des Ichs «Vous - non, pas vous, moi comme toujours aussi» (CA, 185). Dieser Ausruf ist zugleich die Vorwegnahme des den Roman abschließenden Tableaus, in welchem der Erzähler seine narrative Identität bereits gefunden hat und sein Spiegelstadium im Medium der Fiktion narrativ bestätigt: «Je ris de me voir» (CA, 187). Das Problem der Differenzierung zwischen autobiographischem Fakt und autobiographischer Fiktion, stellt sich nämlich gar nicht, denn die Werke nehmen einen wahrnehmungstheoretischen Standpunkt ein, der sich, wenn man Nietzsche bemühen möchte, folgendermaßen darbietet: Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen - die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit.76 Der Rouaudsche Erzähler erkennt die Macht dieses Perspektivischen in dem Selbstbild, das er von sich abgibt, er erkennt zugleich, dass dadurch seine Sicht der anderen bestimmt ist und dass es durch ihn selbst keine reine Wahrheit und kein wirklich gerechtes Bild seiner Nächsten geben kann. So wie beim Bild der Vaterfigur:
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Siehe hierzu oben Kapitel 2.4.2 Siehe oben Kapitel 2.4.2. Dort finden sich auch die Zitate. Friedrich Nietzsche: «Vorrede». In: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Band 2: Menschliches, Allzumenschliches, p. 13-22, hier p. 20.
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Ce serait lui, notre statufie, depossed6 de sa voix par celui qui a temoigne au sujet de quelques episodes supposds de sa vie et qui les a ecrits, et dont nous n'avons jamais su si son temoignage etait vrai. (SC, 103) Jean negiert daher in Sur la scene comme au del jedwede Wahrheitsbehauptung, indem er seine Zeugenschaft in diesem Sinne als perspektivisch einschätzt. Der subjektive Charakter des durch seine Stimme erzählten Selbstbildes, den die Gleichung in Pour vos cadeaux aufgezeigt hat, setzt aber keine Wahrheitsfunktion des Sprechens in Kraft: «nous n'avons jamais su si son temoignage etait vrai». Denn es fehlt eine übergeordnete Ebene des Vergleichs, auf der zwischen Fiktion der Erinnerung und Wahrheit des Lebens unterschieden werden könnte. Denn die ursprünglichen Bilder, die Jean vom Vater besitzt, sind nur wenig zahlreich: «Ce qui laisse peu d'images» (SC, 140), «Trop de blancs entre nous» (SC, 141). Da der Tod eines Menschen zudem die Bezeugung seiner Identität oder Vergangenheit oder einer anderen auf ihn bezogenen Lebenswirklichkeit geradezu unmöglich macht, bleibt nur das fiktionale Erzählen, auch wenn dies nicht zwangsläufig (d.h. eine oder ) Wahrheit rekonstruiert. Denn die Stimme des Erzählers hebt, wie Jean selbst erkennt, die Stimme der wirklichen Menschen auf und legt ihnen als Figuren ein Korsett an, das sie einengt. Der Erzähler schränkt also in den gleichen Worten, mit denen im vorherigen Roman das Ich des Sprechens als Jean und in der Folge als Autor Jean Rouaud dechiffriert worden ist, die Realitätsrelation jedes Erzählens ein - und damit relativiert er seine eigene Stellung: Die Subjektivität des Erzählens, Nietzsches Perspektivisches und die in jedem Sprechen notwendig vorhandene Lüge sind unhintergehbar. Oder anders gesagt: Die Fiktion ist das einzige Refugium für das Faktum des gewesenen Lebens. Indem Rouaud alle seine Selbst-Erzählungen mit dem Gattungsnamen Roman versieht, dabei in den ersten drei Werken mit den Erzählinstanzen spielt, die Identität der narrativen Stimmen erst in Pour vos cadeaux erreicht wird, der Erzähler im folgenden Werk aber keine Wahrheitsbehauptung aufstellt - die Möglichkeit von narrativ konstruierter objektiver Wahrheit, wie wir eben gesehen haben, sogar deutlich in Zweifel zieht - , springt er innerhalb seines Romanwerkes nicht nur zwischen den beiden Lejeuneschen Kategorien des Paktes 77 hin und her und unterläuft Genettes Einteilung in diction bzw. recit factuel und fiction bzw. recit fictionnel, sondern löst die Kategorien Fiktion und Fakt letztlich selbst auf. Rouaud findet sich auf diese Weise mitten im Text-Modell der Autofiktion wieder: Die Unterschiedung von Fiktion und Wirklichkeit verliert für das erzählende Ich vollständig an Wirksamkeit, an Bedeutung. Der Roman Sur la scene comme au ciel ist nun durch das oszillierende Wechselspiel zwischen Kritik an der Fiktion und Korrektur durch Fakten und Fiktionen in dem nicht mehr zu unterscheidenden Obergangsbereich anzusiedeln, den die beiden Kategorien diction und fiction bilden.
77
In der ersten Fassung dieses theoretischen Ansatzes von 1975. Die spätere Version (Philippe Lejeune: «Le pacte autobiographique (bis)». In: Philippe Lejeune, Moi aussi, Paris, Editions du Seuil, 1986, p. 13-35) ist deutlich flexibler und angemessener. Siehe oben Kapitel 2.4.2. 417
Das Romanwerk von Rouaud ist daher, in seinem Gesamt betrachtet, weder Autobiographie noch Roman. Es ist ein narratives Konstrukt, das seine ich- und weltbildende Wirkung - als ein mögliches Ich, eine mögliche Welt - jedoch weder verhehlt noch verfehlt. Der Erzähler selbst hebt die materiellen Quellen (Photographien, Dokumente, Briefe) als faktische Grundlage für sein Erzählen hervor; und innerhalb der beiden letzten Romane werden sie sogar durch Anfuhrungszeichen und Kursivdruck als Fremdtexte angezeigt und verifizieren die Erzählung. Alle diese Authentisierungsstrategien kennzeichnen nicht nur diese Fiktion Rouauds «comme un authentique etat des lieux». 78 Auch die Figur der Mutter bezieht zu diesem Problem eine klare Position: «ce pretendu roman» (SC, 29), so äußert sie in einer ihrer fiktiven Stellungnahmen . In: Les Editions de Minuit (ed.), Dossier de presse Les champs d'honneur, Paris, Les Editions de Minuit, 1990, p. 5. [ursprünglich erschienen in Revolution, Ausgabe vom 31. August 1990] - «A la gloire de son pere». In: Les Editions de Minuit (ed.), Dossier de presse Des hommes illustres, Paris, Les Editions de Minuit, 1993, p. 12/13. [ursprünglich erschienen in L'Humanite, Ausgabe vom 15. September 1993] - Jean Rouaud, Monaco, Editions du Rocher, 1996. - «La voyance du myope». In: Les Editions de Minuit (ed.), Dossier de presse Le monde ä peu pres, Paris, Les Editions de Minuit, 1996, p. 5. [ursprünglich erschienen in L'Humanite, Ausgabe vom 10. Mai 1996] - «Une seconde naissance». In: Les Editions de Minuit (ed.), Dossier de presse Pour vos cadeaux, Paris, Les Editions de Minuit, 1998, p. 5. [ursprünglich erschienen in L'Humanite, Ausgabe vom 27. Februar 1998] Le Marmel, Jacques: «La fouille des champs d'honneur. Un theme de la Grande Guenre dans le roman actuel». In: L'Ecole des lettres 86, 14 (1er juillet 1995), p. 97-114. Lepape, Pierre: «Woody Allen en Vend6e». In: Le Monde (10 mai 1996), p. II. - «De la mort ä la naissance». In: Le Monde (13 mai 1998), p. II. Meister, Martina: «Ihr Tod war Bedingung. Abschiedsgeschenk an die Mutter: In Jean Rouauds werden tausend Bruchstücke wieder zu einem Ganzen zusammengefügt». In: Frankfurter Rundschau 198 (26. August 2000), p. 20. 440
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463
Namenregister
Adorno, Theodor W. 28, 32, 33, 34, 36, 38, 124 Althusser, Louis 32 Aristoteles 90, 134 Assmann, Aleida 15, 44, 52, 56, 69, 70, 82, 113, 128, 131, 136, 149 Assmann, Jan 15, 16, 44, 47, 51, 56, 65, 66, 67, 68, 73, 74, 75, 77, 78, 80, 111, 122, 129, 149, 309, 316, 375 Augustinus 90, 167 Bachelard, Gaston 70, 111, 229 Balzac, Honore de 138, 377, 382, 430 Barbusse, Henri 313, 348 Barres, Maurice 239, 310, 326, 382, 384 Barthes, Roland 5, 140, 182, 232, 372, 420, 421 Baudelaire, Charles 125, 200, 238, 368 Baudrillard, Jean 32 Beaujour, Michel 171, 174, 179, 182, 183, 184 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de 232 Benjamin, Walter 124 Berlioz, Hector 290, 382 Blumenberg, Hans 132 Bon, Francois 5 Bordeaux, Henry 244, 245, 246, 247 Bossuet, Jacques-Benigne 232, 234 Bourdieu, Pierre 31 Bruner, Jerome S. 106, 108 Celine, Louis-Ferdinand 177, 348 Chateaubriand, Franpois-Renö de 130, 232, 244, 247, 248, 249, 426 Cicero 197 Claudel, Paul 232 Corneille, Pierre 237 Deleuze, Gilles 31, 32, 124 Deroulede, Paul 312 Derrida, Jacques 31, 32, 33, 140, 176 Descartes, Rene 25 de Gaulle, Charles 334, 337, 343, 347 Dilthey, Wilhelm 84, 88, 161, 162, 163 Doubrovsky, Serge 5, 175, 179, 182, 185, 186, 416
Duras, Marguerite 5, 6, 182 Du Beilay, Joachim 242, 377 Eakin, Paul John 164 Ebeling, Hans 34 Echenoz, Jean 7, 430 Elias, Notbert 44 Erikson, Erik H. 42, 47, 48 F6val, Paul 233 Flaubert, Gustave 138, 232, 233, 244, 261, 265, 267, 268, 270, 272, 273, 274, 296, 389, 426, 430 Foucault, Michel 31, 32, 405, 408, 412, 420, 421, 423 Freud, Sigmund 28, 46, 47, 60, 61, 63, 129, 133 Gadamer, Hans-Georg 84 Geertz, Clifford 140 Gehlen, Arnold 32, 36 Genette, Gerard 187, 188, 413, 416, 417 Giddens, Anthony 40, 82 Gide, Andre 400 Giono, Jean 232 Goethe, Johann Wolfgang von 167 Goffinan, Erving 47, 49 Goldmann, Stefan 162, 165, 171 Greenblatt, Stephen 140 Gusdorf, Georges 161, 162, 169, 172, 174 Halbwachs, Maurice 51, 55, 66, 67, 68, 70, 73, 136, 362 Haverkamp, Anselm 56, 82, 117, 122 Heaney, Seamus 134 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 88 Heidegger, Martin 30, 31, 34, 84, 87 Helias, Pierre Jakez 368 Herder, Johann Gottfried von 161 Horaz 382 Horkheimer, Max 28, 32, 33, 34, 38 Hugo, Victor 130 Husserl, Edmund 31, 87 Iser, Wolfgang
145
465
Jauß, Hans Robert 398 Joyce, James 54, 232, 256, 261, 262, 264, 389, 426 Jünger, Ernst 350 Jurt, Joseph 177, 178 Kayser, Wolfgang 138 Kerby, Anthony Paul 37 Lacan, Jacques 31 Lachmann, Renate 56, 82, 117, 118, 121, 122
La Fontaine, Jean de 234 Lejeune, Philippe 174, 179, 180, 181, 417 Levi-Strauss, Claude 368 Le Clezio, Jean-Marie Gustave 5 Lischewski, Andreas 35 Luckmann, Thomas 42, 50 Lyotard, Francois 29, 33, 140 Mahrholz, Werner 162 Marquard, Odo 83 Maurras, Charles 310 Mead, George Herbert 46, 47 Michaux, Henri 134 Misch, Georg 162 Modiano, Patrick 5 Moliere 232, 234, 236 Montaigne, Michel de 182, 232, 243 Moulin, Jean 331, 335, 339 Musset, Alfred de 382 Napoleon 381, 382, 428 Nietzsche, Friedrich 22, 27, 31, 55, 71, 160, 182, 394, 402, 404, 406, 407, 408, 409, 412, 416, 423 Nora, Pierre 15, 51, 55, 56, 69, 70, 71, 72, 73, 137, 305, 307, 309 Nünning, Ansgar 136, 142, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 152, 154, 156, 157, 191, 309, 320, 326, 328, 353, 385, 388, 427, 428 Pascal, Blaise 200, 235, 240, 242, 368 Payot, Jules 312 Peguy, Charles 310, 312 Perec, Georges 5 Petain, Philippe 317, 330, 331, 338, 346, 384 Pethes, Nicolas 56, 82, 123, 124, 125, 297 Pfister, Manfred 119,231
466
Picard, Hans Rudolf 162, 169, 172, 178, 388 Plessner, Helmuth 43 Proust, Marcel 55, 72, 95, 124, 126, 177, 232, 247, 249, 250, 251, 397, 398, 399, 401, 410, 411,
173,
130, 300, 412
Quintilian 197 Revel, Jacques 306, 307, 308, 427 Ricoeur, Paul 47, 80, 81, 83, 84, 85, 86, 88, 89, 90, 91, 92, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 101, 105, 111, 128, 146, 149, 157, 189, 358, 372, 386, 388, 392, 418, 423, 429 Rimbaud, Arthur 234, 244, 247, 368 Robbe-Grillet, Alain 5, 182, 187 Ronsard, Pierre de 377 Rousseau, Jean-Jacques 130, 167, 178, 182, 186, 232, 261, 274, 275, 368, 389, 396, 400, 403, 426 Rousso, Henry 330, 333 Sartre, Jean-Paul 31 Schleiermacher, Friedrich 84 Schopenhauer, Arthur 31 Simon, Claude 5, 6, 182, 200, 232, 247, 250, 265, 278, 295, 299, 317, 325, 426 Simon, Ralf 162, 163, 175 Simonides von Keos 197 Stendhal 138, 232, 243, 244, 296, 382 Sue, Eugdne 233, 381 Taylor, Charles 19, 24, 37, 42 Thies, Christian 36, 37 Tournier, Michel 5 Vattimo, Gianni 32, 33 Vautrin, Jean 430 Voltaire 232, 239 Wagner, Peter 45 Warning, Rainer 399 Weinrich, Harald 62, 228 Welsch, Wolfgang 34, 35 White, Hayden 140 Wulf, Christoph 36 Yates, Frances Α. 56, 117, 228 Zola, Emile 234