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German Pages [464] Year 2016
Schriften der Wiener Germanistik
Band 5
Herausgegeben von Konstanze Fliedl, Eva Horn, Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stephan Müller, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Imelda Rohrbacher
Poetik der Zeit Zum historischen Präsens in Goethes Die Wahlverwandtschaften
Mit einer Abbildung
V& R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-7766 ISBN 978-3-7370-0604-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.
¼berarbeitete und erweiterte Fassung der Dissertation »Krise und Emotion. Zum historischen PrÐsens in Goethes Wahlverwandtschaften«, Wien, Univ. Diss. 2009 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Rachel Ruysch: »Stillleben mit Blumen auf einem Marmortisch«, 1716, Rijksmuseum Amsterdam
Inhalt
I. Einleitung – Literarische Tempusproblematik . . . . . . . . . . . . .
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III. Zu Forschung und Rezeptionsgeschichte der Wahlverwandtschaften . III. 0. Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 1. Positionen der Sekundärliteratur : Das historische Präsens im Dienst der Wiederholbarkeit der Ereignisse und als Zeichen der Wirkung des Dämonischen . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 1.1. Stillstand und Bewegung: Judith Reusch . . . . . . . . III. 1.2. Personhaftes Sein und und dämonischer Antrieb: Henning Brinkmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 2. Der Titel als Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 2.1. »Wahlverwandtschaft« im wissenschaftlichen und privaten Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 2.2. Natur, Ironie und Wissenschaft: Exposition einer Idylle – Charakter und Anlage . . . . . . . . . . . . . III. 2.2.1. Die Sprache der Natur – Zum Symbol . . . . III. 2.2.2. Die Sprache der Gesellschaft: Experimentanordnung der Darstellung, Rollenverhalten und Charakter . . . . . . . . III. 2.3. Szenen einer Ehe: Dräuende Bilder und böse Häuser .
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II. Tempus und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. Tempus als informationstheoretisches »Register«: Harald Weinrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 2. Besprechen versus Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . II. 3. Tempus und »Spannung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 4. Kritik an Weinrich – Carl Baches Lösung . . . . . . . . . II. 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
III. 3. Für die jungen Mädchen geschrieben – Reaktionen der Zeitgenossen und Dämonie und Sachlichkeit . . . . . . . . . . III. 3.1. Prämissen eines Romans: Nur e i n e Natur – Zum Dämonischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 3.1.1. Zur Brüchigkeit der Vernunft: die Realität der »höheren Hand« . . . . . . . . . . . . . III. 3.1.2. Vor diesem furchtbaren Wesen – Das Dämonische in Dichtung und Wahrheit . . . III. 3.1.3. Nach Darstellung einer durchgreifenden Idee – Faßlichkeit und Irritation . . . . . . . . . III. 3.2. Moralvorstellungen und »Sachgehalt«: Reaktionen der Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 3.2.1. »Himmelfahrt« und »böse Lust« . . . . . . . III. 3.2.2. Romandefinition deutsch und französisch: Realität als Hindernis . . . . . . . . . . . . . III. 3.2.3. Wahrheit, Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . III. 3.2.4. Der Reichtum der Bilder : Emotion und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 4. Diesen wahrhaften Dichter des Zeitalters – zeitgenössische Rezension, neuere Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 4.1. E i n e, nur gesteigerte, Kraft: Rudolf Abeken . . . . . III. 4.2. Realität der Liebe um 1800: Natur, Wissenschaft, Fügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 4.2.1. Natur-Grund und semantische Doppelbödigkeit: Peter von Matt . . . . . . III. 4.2.2. Naturmystik und -wissenschaft: Eduard Spranger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 4.2.3. Literarische Umsetzung: Figuren der Anziehung und Abstoßung . . . . . . . . . . III. 4.2.4. Liebe als elektromagnetische Schließung . . III. 4.2.5. Zwischen Realität und Metapher : Ottilie . . III. 4.2.6. Ottilies Verklärung: um 1900 . . . . . . . . . III. 4.2.7. Das Gegenbild Ottilies: Bildungskritik und Frauenbild um 1800 . . . . . . . . . . . . . . III. 4.2.8. Das Geschick der Liebenden: Vernichtung kraft der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . III. 5. Das Erbe der Schuld – Antike und Moderne – von Benjamin bis Solger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 5.1. Sittlichkeit: Freiheit der Bildung . . . . . . . . . . . . III. 5.2. Weil es die Guten mittrifft: »Schicksal« und »Typik« bei Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
III. 5.3. III. 5.4. III. 5.5. III. 5.6.
Geschick des modernen Menschen: »Liebe« – Karl Wilhelm Ferdinand Solger . . . . . . Das »Product der Sünde« – Johann Peter Eckermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verblendung und »Todessymbolik« nach Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ganz auf einheimischem und frischem Boden der Zeit: noch einmal Solger . . . . .
IV. Praesens Historicum in den Wahlverwandtschaften: »gnomisches« und szenisches Präsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. »Gnomisches« Präsens – Terminologie, Grammatik, Anwendung im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1.1. Terminologische Unterscheidung anhand der älteren Grammatiken: aoristischer Tempusgebrauch und gnomisches Präsens, Folgen für den Erzähltext . . . . IV. 1.2. »Absoluter« und »relativer« Tempusgebrauch . . . . . IV. 1.3. Stilistische Zuordnung des Präsens . . . . . . . . . . . IV. 1.4. Beschreibung in der neueren Grammatik; Präsens und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1.5. Präsens und Perspektivierung, Tempus und Zeitbezug IV. 1.6. »Aoristisches« und »gnomisches« Präsens . . . . . . . IV. 1.7. Erzählhaltung und aoristisches Präsens: Gattungswandel und »Nähe zum Drama« . . . . . . . IV. 1.8. Konnotationen des aoristischen Präsens: Der Roman als »Fallgeschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 2. Erzählerstimme und aoristisches Präsens: »Klassische Standortsklarheit«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 2.1. Auktoriale Distanz und Ottilies Schönheit I . . . . . . IV. 2.2. Das Gesetz der Notwendigkeit und der Wechsel der Fokussierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 2.3. Auktoriale Leerstellen: Zur Verschwiegenheit des Erzählers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 2.4. Erotischer Subtext und Bildhaftigkeit: Ottilies Schönheit II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 2.5. Erzählerstimme und aoristisches Präsens: im Nebensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 3. Szenisches Präsens – Werther und Wahlverwandtschaften . . . IV. 3.1. Romangestaltung um 1800: »Theatrales Erzählen« nach Martin Huber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Exkurs: Die Bedeutung der Sinne im Diskurs der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 3.2. »Narrative Inszenierungen« – »Nähe zum Drama« und psychologische Darstellung . . . . . . . . . . . IV. 3.2.1. Emotionalisierung im Briefroman: »Mitleid« als Ziel . . . . . . . . . . . . . . IV. 3.2.2. Werthers emotives Erzählprinzip nach Martin Huber . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 3.2.3. Präsens und Psyche: Beispiele aus Werther und Anton Reiser . . . . . . . . . . . . . . IV. 4. Szenisches Präsens in den Wahlverwandtschaften . . . . . . »Fromme Wünsche und Hoffnungen« . . . . . . . . Sichtveränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtung, Beschleunigung . . . . . . . . . . . . Herzen I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechen und Deuten . . . . . . . . . . . . . . . . . Charaktere und Anlagen . . . . . . . . . . . . . . . Hilfe und Verweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . Szenisches Präsens im II. Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbruch und Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . Möglicher Ausweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedeih und Verderb . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eduards Sieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genealogisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herzen II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwandlung I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoffnungen und Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . Wille und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechen, Reden, Schreiben . . . . . . . . . . . . . . Ohne Vorsatz: Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwandlung II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung – Formensprache einer klassischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Einleitung – Literarische Tempusproblematik
Eduard – so nennen wir … – der Beginn von Goethes Wahlverwandtschaften versetzt uns nicht nur über das Bild des Bäume veredelnden »reichen Barons im besten Mannesalter« in medias res, sondern auch über die Zeitform, die Goethe für seinen Romanbeginn gewählt hat. Man lasse sich dabei von der vermeintlichen Formelhaftigkeit des so nennen wir nicht täuschen. Der so unmittelbar an den Beginn der Erzählung gesetzte Einschub erfüllt neben einer gewissen Rahmenfunktion, da die präsentischen Formen im letzten Absatz des Romans wieder auftauchen, eine Art Signalfunktion für die Aktualität des »Berichts«, der hier gegeben wird. Dieser Bericht wird als erstes mit äußeren Eckdaten versehen. Umgehend erfahren wir durch diese erste Formel von einem Erzähler, der sich nur im »wir« zu erkennen gibt, daß der wirkliche Name nichts zur Sache tut, daß es sich also um einen beispielhaften Fall handelt. Dessen wichtigste Parameter werden im Einschub ebenfalls aufgezählt: »Eduard« ist wohlhabend, adelig und im »besten Mannesalter«, das heißt, er steht zwar an einem Lebenshöhepunkt, dieser ist aber gleichzeitig ein Wendepunkt. Damit ist die soziale wie persönliche Dimension der Lebensumstände des Helden sofort umrissen, kurz, es ist der Beginn eines »Zeitromans«, auch wenn diese Minimalcharakterisierung der Hauptfigur aus heutiger Sicht nicht mehr ohne weiteres als Einführung in einen solchen erkennbar sein mag1. Der präsentische Einschub, der ausserdem so ironisch den 1 Zur komplexen Definition des Zeitromans vgl. den Eintrag »Gesellschaftroman, Zeitroman« in Walther Killy (Hrsg.), Literatur Lexikon, Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden, hrsg. von Volker Meid, Bertelsmann Lexikon Verlag, München 1992, S. 372–376. Ich beziehe mich vor allem auf jene Züge der Darstellung, die den Zeitroman als Roman charakterisieren, der »seinen Protagonisten versuchsweise in konkretisierte soziale […] u. /oder politische […] Strukturen einbettet« und ihn als »Culturgemälde der Gegenwart« (Rudolf Gottschall, 1860) versteht. Die Wahlverwandtschaften werden selten im Kanon der prototypischen Beispiele des Zeitromans genannt (wenn, als »Ehe- und Gesellschaftsroman« bezeichnet), doch gemäß der Definition bei Killy, die den Zeitroman auch bewußt der »späteren Goethezeit« zuordnet, sind sie dessen Themen-Kontinuum ohne weiteres zuzuordnen. Den präsentischen Romaneinstieg nimmt vor allem Klaus Manger zum Anlass einer strukturellen Reflexion über den »prä-
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Einleitung – Literarische Tempusproblematik
im Namen gesetzten Auftakt gleich wieder unterbricht, transportiert nicht nur den Gestus eines mündlichen Erzählens und die Wendung an ein Publikum, sondern verweist mit dieser anakoluthischen Struktur auch auf ein zentrales Moment, das die Epoche gerade erst entdeckt, über dessen Bewertung sie sich aber noch nicht im Klaren ist. So rücken das Konzept der »Gegenwart« und historisches Augenblicks- und Umbruchsdenken am Ende des 18. Jahrhunderts ins Bewusstsein, und zwar in erster Linie als prekäre Kategorien, als »ängstigende, lastende, konfliktgeladene Zeit, der man entkommen muss, um der Freiheit, Humanität und Kunst einen Spielraum zurückzugewinnen«2. Das markante Innehalten als Romanbeginn deutet damit auf die Bestandsaufnahme einer (krisenhaften) Zeit, deren Protagonisten in ihrem Reagieren auf diese Zeitumstände zu entdecken sind, Moment und Zeitlichkeit im Sinn der Fokussierung eines Jetzt und seiner Auswirkungen sind das neue anthropologische Interesse dieses Erzählens. Die Rahmung durch die Verwendung derselben Tempusformen zu Beginn und am Schluß des Romans teilen die Wahlverwandtschaften mit dem Werther. sentische[n] Gestus« und »Grundzug im Präsens«, der die Wahlverwandtschaften nach Manger in der Transformation eines anekdotischen Erzählens nach Wieland zu einem Zeitbild im größeren Sinn macht: »Mit dem vergegenwärtigenden Zeitabschnitt der Wahlverwandtschaften, da Eduard anfangs plötzlich vor uns auftaucht, und dann unsere Aufmerksamkeit bis zu seinem Ende auf sich zieht, blicken wir auf einen Abschnitt menschlichen Lebens, der uns zu Zeugen spezieller, konkreter Entwicklungen und Verwicklungen macht, deren Brisanz uns gewissermaßen in Großaufnahme vor Augen geführt wird. Es ereignet sich vor unseren Augen wie in einem Reagenzglas, wie »hinter Glas«, sagt Paul Stöcklein. Und dieses Naherücken in Großaufnahme ist einem erzählerischen Kunstgriff zu verdanken, der aus der von Boccaccio begründeten Gattungstradition von Rahmen- und Binnenerzählung herrührt. Deshalb sind die den Wahlverwandtschaften vorausgegangenen gesprächsgeprägten Erzählwerke der Unterhaltungen und des Hexameron nicht unbedeutend. Aber Goethe geht darüber hinaus und transponiert deren Erzählduktus in die Romanform, die somit eine multiperspektivische Vergegenwärtigung in Großform darstellt.« Klaus Manger, Goethes Wahlverwandtschaften – Neu gelesen, in: Helmut Hühn (Hrsg.), Goethes »Wahlverwandtschaften«. Werk und Forschung, Verlag Walter de Gruyter, Berlin New York 2010, S. 49–65, hier S. 53 u. 55, Zitat S. 56. Manger nimmt keine Detailanalysen von Partien im szenischen Präsens vor und grenzt diese nicht explizit von den Erzählerkommentaren ab, geht aber von einem Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen der Verwendung, auch jener der Dialogdarstellung, aus, weswegen auf seinen Ansatz hier entschieden verwiesen sei, diesem Netz-Gedanken sind auch zentrale Partien der vorliegenden Arbeit gewidmet. – Präsensverwendungen der Moderne v. a. ab 1900 thematisieren Armen Avanessian / Anke Hennig, Präsens – Poetik eines Tempus, Zürich: diaphanes 2012, allerdings unter weitgehender Annahme einer homogenen Form der Erzählfiktion im 19. Jahrhundert, was aus Sicht der vorliegenden Arbeit als ergänzungsbedürftig bezeichnet werden muss, vgl. »Die Evolution des Präsens als Romantempus« in A. Avanessian / A. Hennig (Hrsg.): Der Präsensroman, Berlin Boston: De Gruyter 2013 (= Narratologia Contributions to Narrative Theory Bd. 36), S. 139–180. 2 Ingrid Oesterle, »Es ist an der Zeit!«. Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002 (= SfR Stiftung für Romantikforschung Bd. XXI), S. 91–120, hier S. 5.
Einleitung – Literarische Tempusproblematik
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Weder die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten noch Wilhelm Meister sind durch solche Tempuswechsel an Beginn und Ende ausgezeichnet, sie verbleiben fast durchgehend im Präteritum. Harald Weinrich hat in der meistbeachteten Publikation zum literarischen Gebrauch der Tempora, in Tempus – besprochene und erzählte Welt von 19643, besonders auf diese Rahmung des Werther verwiesen: »Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor …« korrespondiert in auffälliger Weise mit den Schlußsätzen: »Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« Tatsächlich ist die Parallelisierung der Zeitformen im späteren Roman ähnlich genau konstruiert, der letzte Satz enthält zwar ein Futur, dennoch klingt das Schlußbild zu Eduards und Ottilies Bestattung in nebeneinander liegenden Gräbern im futurischen Präsens aus: »So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.« Was aber die Funktion der Rahmung dieser beiden Romane vor allem verbindet, ist, daß es in beiden Fällen die Erzählerstimme ist, die jeweils den Anfangs- und den Schlußton bildet. Weinrich streicht heraus, daß die Verwendung des Perfekts am Schluß des Werther diesem den Charakter eines Urteils verleihe: »Der letzte Satz ist nicht mehr Erzählung. Er nimmt Stellung zum Selbstmord und zur Stellungnahme der Geistlichen zum Selbstmord. Der Satz ist besprechend. Eben darum schließt er die Erzählung ab.«4 Weinrichs Deutung der Tempusverwendung im Werther überschreitet diesen kurzen Kommentar leider nicht. Nach seiner Einteilung gehören Perfekt und Präsens zu der Gruppe der »besprechenden« Tempora, die dem Adressaten vermitteln sollen, daß er in gespannter Erwartungshaltung aufnehmen soll, was der Sprecher in diesen Formen übermittelt, da es ihn direkt betrifft. Dem gegenüber signalisiere die Verwendung von »erzählenden« Tempora wie Präteritum und Plusquamperfekt, daß der Hörer die Mitteilung in entspannter Haltung aufnehmen kann, da es sich »nur« um eine Erzählung handelt. Diese informationstheoretischen Überlegungen überträgt Weinrich auch auf die literarische Tempussetzung und leitet aus ihnen unter anderem Textsorteneinteilungen ab5. Das heißt, nach Weinrichs Auffassung haben Tempora von vornherein bestimmte Konnotationen, sie bezeichnen in der Erzählung nicht in 3 Mittlerweile in der 6. Auflage erschienen: Harald Weinrich, Tempus – Besprochene und erzählte Welt, C. H. Beck Verlag, München 2001, und 2004 etwa ins Italienische übersetzt: H. W., Tempus – Le funzioni dei tempi nel testo, Traduzione di Maria Provvidenza La Valva e Paolo Rubini, Soc. Ed. Il Mulino, Bologna 2004 (= Collezione di testi e di studi: Filologia e critica letteraria). 4 Ebda., S. 86. 5 Vgl. ebda., S. 50f.
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Einleitung – Literarische Tempusproblematik
erster Linie Zeitverhältnisse, sondern transportieren vor allem »Sprechhaltungen«, so sein Terminus. Die Rahmung einer Erzählung durch »besprechende« Tempora, die dem Leser vermitteln sollen, daß ihn die Geschichte direkt angeht, paßt daher sehr gut zu Weinrichs These der zwei grundlegenden Kommunikationsmodi, dem »Besprechen« und dem »Erzählen«. Dieser Interpretation einer so auffälligen Rahmung wie jener im Werther soll auch gar nicht widersprochen werden. Bezieht man jedoch andere, vor allem bestimmte moderne Erzählungen oder, im Fall des Werther, auch nur andere Textstellen in die Überlegungen mit ein, erweist sich die rigide Zuordnung der einzelnen Zeitformen zu Tempusgruppen, die nach Weinrich das jeweilige »Register« repräsentieren, schnell als problematisch. Besonders der Tatsache, daß das historische Präsens in der Literatur der Moderne eine so bedeutende Rolle spielt und der daraus resultierenden Vielfalt der Funktionen des Präsens in der Erzählung, ist mit einer solchen Festlegung nicht Genüge getan. Die Wahrnehmung der Ausdrucksmöglichkeiten der literarischen Tempussetzung soll daher im Rahmen dieser Arbeit auch anhand anderer Sichtweisen belegt und auf diese Weise neu belebt werden. Die folgende kurze Einführung soll auf den Umfang dieser Möglichkeiten hinweisen. Geht man also ein bißchen weiter in die Texte hinein, ergibt sich eine zweite formale Gemeinsamkeit zwischen Die Leiden des jungen Werthers und den Wahlverwandtschaften. Sie besteht darin, daß in beiden Romanen an entscheidenden Stellen eine andere Art des Präsens verwendet wird, als jene der Erzählerformel so nennen wir. Das szenische Präsens bezeichnet Werthers Auffindung, diese Stelle wollen wir kurz analysieren: Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuß fallen; da aber alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf. Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er faßt ihn an; keine Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und stotternd die Nachricht, Lotte sinkt ohnmächtig vor Alberten nieder. Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluß eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem. Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste. Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein. Werthern hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten,
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er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker ; man erwartete sein Ende.6
Die direkt an den Abschiedsbrief an Charlotte anknüpfende Schilderung der letzten Stunden Werthers umfaßt bekanntlich nur mehr wenige Absätze. Diese sind kurz bis sehr kurz gehalten, einige bestehen nur aus einem Satz. Dennoch enthält diese lakonische Erzählung, die weniger als eineinhalb Seiten in Anspruch nimmt, vier Tempusformen: neben dem Präteritum als Erzähltempus einige Plusquamperfektformen, den zweiten Absatz im Präsens, das in einem kurzen Erzählereinschub wiederkehrt, und zusammen mit dem schon genannten Schlußsatz insgesamt drei Perfektformen, zwei davon hier im vierten Absatz. Die Textstelle zeigt eindrucksvoll, wieviel über den Tempuswechsel vermittelt werden kann. Deutlich spürbar setzt das Präsens dort ein, wo es um die immer genauere Schilderung der Situation geht. Es ist das Signal dafür, daß wir Werthers Ende ganz aus der Nähe erleben sollen, es ist also stark affektiv. Diese Annäherung arbeitet gleichzeitig mit der Nennung wichtiger Details. Das Licht des Bedienten, Pistole und Blut, die Schelle, das Heulen und Stottern des Dieners: trotz der Kürze werden diese Hör- und Sehbilder aneinandergereiht, so als sollten sie eine durch den Schock betäubte paradoxe Art der Wahrnehmung vermitteln, in der zwar die Sinnesorgane registrierend funktionieren, aber der Verstand nicht erfassen kann. Diese symbolhaften Elemente stehen also für die Dramatik der Szene überhaupt. Diese Dramatik wird dadurch unterstützt, daß die staccato-artige Reihung der Hauptsätze, die diese Schlußszenen bestimmt, im Präsens fast noch verstärkt wird. Man kann den Tempuswechsel also auch als Tempowechsel lesen, in jedem Fall bringt er ein Element der Dynamisierung in die Erzählung. Nicht zufällig kommt aber auch genau in dieser Szene die Wirkung der Nachricht auf Lotte ins Bild, und zwar auch sie in genauer und detaillierter Inszenierung: ein Zittern ergreift ihre Glieder. Inhaltlich ist dieser Vorgang das Zentrum des Absatzes: Lotte begreift, was passiert ist. Von ihr ist nach ihrem Ohnmächtigwerden fast nicht mehr die Rede, es wird nur noch erwähnt: »von Lottens Jammer laßt mich nichts sagen« und »Man fürchtete für Lottens Leben.« Gerade weil er ausspart, ist also der Text beredt. Das heißt aber auch, es soll mit einfachsten Mitteln erzählt werden, auch zu dieser Schlichtheit 6 Zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, aus der verbreitetsten Ausgabe: Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, Kommentiert von Erich Trunz und Benno von Wiese, Bd. 6: Romane und Novellen I: Die Leiden des jungen Werther, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Die Wahlverwandtschaften, Novelle, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, hier S. 123f. (Im Folgenden abgekürzt als HA bzw. wird aus den Wahlverwandtschaften im fortlaufenden Text mit der Kürzel »WV« und der Seitenangabe zitiert.)
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paßt der Rückgriff auf das Präsens als eine Art »Grundform«, die mehr berichtet als ausschmückt. Denn schließlich ist es auch noch die Zeit, die gerade hier ins Spiel kommt. Werthers Abschiedsbrief beginnt mit der Zeitangabe Nach eilfe, am Ende des Briefes sind es die Mitternachtsschläge der Glocke, die seinen Entschluß gleichsam besiegeln: »Es schlägt zwölfe! So sei es denn!« Diese Glocke kehrt in der Schelle, die Lotte hört, wieder, ebenso beginnt der Absatz im Präsens mit der Angabe Morgens ums sechse. Um zwölfe mittags stirbt Werther und begraben läßt man ihn schließlich am Ende des Tages: Nachts gegen eilfe. Das Drama von Werthers Tod dauert also genau 24 Stunden, die in Schritten von fünf Zeitangaben genannt werden. Morgens um sechse steht somit genau in der Mitte dieser fünf Zeitangaben, obwohl es nicht in der Mitte der Zeitrechnung von Werthers letztem Tag steht – der Präsensabsatz bezeichnet damit die Mitte des persönlichen Dramas zwischen Werther und Lotte, die hier von seinem Tod erfährt. Und ebenso genau ergeben sich aus den fünf Zeitangaben die Zeitabläufe, die hier gegeneinander stehen: Werthers letzter »Tag« beginnt und endet jeweils eine Stunde vor Mitternacht. Diese Stunde bezeichnet, so kann man interpretieren, seine innere Verrückung gegenüber der amtlichen Zeit (der »alte Amtmann« ist Werthers Vater), deren Schläge seinen Tod bedeuten, deren Akkuratheit durch das Eintreten des Dieners, der seinen Tag um sechs Uhr beginnt, bezeichnet ist. Was Werther also bleibt, ist eine Stunde, um schriftlich sein Vermächtnis zu hinterlassen: der Brief an Lotte ist gleichzeitig sein Testament, in dem er bekannt gibt, wo er begraben sein möchte. Im Brief wiederholt er aber vor allem immer wieder ihren Namen, ruft die Momente des Zusammenseins in Erinnerung und richtet sich direkt an sie: wenn ihn Lotte vergißt, ist Werther vergangen. Werther kann also nur in Lottes Innerem leben, nicht zuletzt dies wird in Lottes Zittern bedeutet, und aus diesem Grund ist ihre Reaktion zentral. Eine solche Konstruktionsweise spricht für den überaus bewußt gesetzten Gebrauch der Tempora, und – ich nehme es voraus – bestimmte Teile davon finden sich in den Wahlverwandtschaften wieder. Die unmittelbare Wirkung des Tempuswechsels können wir in der vorliegenden Passage auch am Einsatz des Perfekts sehen. Im vierten Absatz wird damit eine eindeutig persönlich gefärbte Perspektive eingebracht: zuerst heißt es »man konnte schließen«, dann wird der Inhalt der Vermutung im Konjunktiv vorbereitet, »er habe…«, und schließlich folgt deutlich hörbar eine Diagnose, eine Bestandsaufnahme: »dann ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt«. Ist es der Medikus, der hier spricht und den medizinischen Fall rekonstruiert (»herunter«), oder ist es doch eine Erzählerstimme, die die grausigen Fakten der letzten Stunden nachholt? Der Gebrauch des Perfekts weckt in jedem Fall mehr die Assoziation einer individuellen Wiedergabe des Geschehens als die Version im Plusquamperfekt in ganz ähnlicher Konstellation im Absatz davor: »Über dem
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rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben.« Die Konnotation der Vermutung fehlt in dieser Fassung der sichtbaren, somit sicheren Tatsachen. Dementsprechend ist es logisch, die Rekonstruktion des Wahrscheinlichen im nächsten Absatz im Perfekt als Fragment einer Figurenrede, ob die des Doktors oder eines Erzählers, erscheinen zu lassen. Denn selbst wenn man den Einschub als Erzählerfeststellung liest, bleibt ihm die Nuance des Persönlichen erhalten. Die persönliche Feststellung oder Vermutung eröffnet aber in dieser Erzählung eine große Möglichkeit: sie bleibt unsicher – und damit unheimlich. Die Vorstellung, wieviel grausigstes körperliches Leiden »konvulsivische Wälzungen« bedeuten, kann sich verselbständigen. Die Komponente des Unheimlichen ist somit der doppelte Boden dieser »schlichten« Erzählung. Im Zurückgeworfensein auf die Wahrnehmung, das in der Vermutung oder Feststellung des Wahrscheinlichen enthalten ist, spiegelt sich auch die aufklärerische Auseinandersetzung mit der Hierarchie der Sinne und – im Anschluß an Kant – mit der Verunsicherung des Individuums, inwiefern der bloßen Sinneswahrnehmung zu trauen ist. Mit der Thematisierung des Individuums kommen wir zurück zum Ausgangspunkt und zur Theorie des Zeit- und Gesellschaftsromans mit seiner Abbildung des »realen« Lebens, die, wie bei Killy dargestellt, den Bogen der »Goethezeit« mehr und mehr bestimmt. Der Roman etabliert sich im 18. Jahrhundert neu als das Medium der Auseinandersetzung des Einzelnen mit Gott, mit sich selbst, mit der Gesellschaft, formal schlägt sich dies zuerst im Briefroman, in literarischen »Bekenntnissen« und in der an Gewicht gewinnenden Autobiographie nieder. Daß dieses Element der persönlichen Auseinandersetzung in Form der individuellen Sicht auf das Geschehen mit ihrer Brisanz der Unsicherheit sich auch im Erzählmodus niederschlägt, haben wir eben am Schluß des Werther gesehen. Weinrichs Interpretation, Kein Geistlicher hat ihn begleitet. stelle eigentlich einen Kommentar, ein Urteil dar, liegt so tatsächlich nahe und bekräftigt die eindeutige Sympathiebekundung für den Helden, die der fiktive Herausgeber der Leiden des jungen Werthers der Briefsammlung vorausschickt7. Werther lebt so von einer doppelten persönlichen Sicht, der des Briefschreibers und der des Herausgebers der Briefe. Diese Inszenierung der starken persönlichen Anteilnahme spielt bekanntlich eine wichtige Rolle in der neuen Romanform, sie soll ihre Glaubwürdigkeit garantieren. Eine Dimension dieser Glaubwürdigkeit geht dabei aus heutiger Sicht mitunter verloren, nämlich die Notwendigkeit, das neue Personal des Romans überhaupt zu motivieren. Dies zeigt der Vergleich mit dem Drama. 7 Es sollte dennoch nicht übersehen werden, daß andere Erzählerkommentare in der Schlußerzählung diese Interpretation stützen, vgl. »Man ließ ihm zum Überfluß eine Ader am Arme […]«.
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Johann Peter Eckermann betont in einer Reflexion zu den Wahlverwandtschaften, daß der Roman im Unterschied zum Drama mit seiner auf einen Punkt hin konzipierten und daher notwendigerweise strafferen und weniger detailreichen Handlungsstruktur die Aufgabe hat, dem »Individuellen« Platz zu geben8. In der Gestaltung des Besonderen liege »das eigentliche Leben«, daher müsse eine möglichst lebensnahe Zeichnung gesucht werden, um das »Ideale«, das »Allgemeine« darzustellen. Worauf es ankommt, ist die Ausgewogenheit zwischen diesen beiden Polen des Individuellen und des Allgemeinen. Die Schilderung von Details sei aber unbedingt notwendig, um uns von der »Wahrheit« des Erzählten zu überzeugen und zu rühren, nur wenn wir alles »wohl motivirt und begründet« sehen, ist dies möglich. Im Gegensatz zum Drama, das ohnehin unsere Aufmerksamkeit fesselt, weil sich alles direkt vor unseren Augen abspielt, muß der Roman »außer dem innern Leben der Personen« auch eine »breite Welt ihrer Umgebung« schildern, um glaubhaft zu sein. Dies begründet sich auch darin, daß ja, so Eckermann, die Personen des Dramas normalerweise »aus der Geschichte genommen«, also historische Persönlichkeiten sind, deren Leben bekannt ist. Nicht so die Figuren des Romans, von ihnen »meldet uns die Geschichte nichts«, sie müssen »die Wahrheit ihrer Existenz erst mitbringen«9. – Die Inszenierung einer persönlichen Anteilnahme am Geschehen ist im Roman um 1800 also schon rein zur Beglaubigung der möglichen Existenz der Figuren, ihrer Wahrscheinlichkeit im Sinne der realen Lebenswelt und Zeitgenossenschaft zentral. Die Emotionalisierung, die die persönliche Anteilnahme und Sichtweise bewirkt, dient ebenfalls dieser Beglaubigung, denn der starken emotionellen Einbindung, die hier inszeniert wird, soll sich auch der Leser nicht entziehen können. Der Modus der Darstellung wird also unsicherer, weil persönlicher. Dies aber hat den großen Vorteil, daß der Betrachter mehr ins Geschehen einbezogen wird. Die Ausgestaltung von Details, die das innere und äußere Leben der Figuren betreffen, garantieren also für Eckermann die psychologische Herleitung und Handlungsmotivation und damit die »Wahrheit« der Figuren. Vor diesem Hintergrund der im Roman um 1800 sich erweiternden Psychologisierung der Figuren möchte ich die Verwendung des historischen Präsens in den Wahlverwandtschaften untersuchen und der Frage nachgehen, in welcher Weise es zur Darstellung dieser neuen Thematik beiträgt. Wie der Schluß des Werther zeigt, läßt sich eine Verbindung herstellen zwischen der Dimension der Vergegenwärtigung, die der Gebrauch bestimmter Zeitformen in den Text hineinträgt, und der Inszenierung der Sicht auf das Innere der Figuren. Das Perfekt, vor allem 8 Vgl. Johann Peter Eckermann, Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe, In der Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgard 1824, S. 185ff. 9 Vgl. ebda., S. 186.
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aber die Verwendung des szenischen Präsens spielen hier eine wichtige Rolle. Diese Konstellation findet sich zum Teil in den Wahlverwandtschaften wieder, wobei vor allem der Einsatz des Präsens konstitutiv ist für die kompositorische Gestaltung der Romanteile. Es bezeichnet entscheidende Stellen im ersten und im zweiten Buch; vor allem jene Szene, die den dramatischen Höhepunkt des Romans darstellt, der durch Ottilie verursachte Tod des Kindes, wird im Präsens geschildert. Doch schon, wenn wir die Frage stellen, wie gewöhnlich oder ungewöhnlich ein so umfangreicher und eindeutig kalkulierter Einsatz des historischen Präsens im Werk Goethes ist, sind wir mit unübersehbaren Lücken in der, zumal was die Wahlverwandtschaften betrifft, anhaltend umfangreichen Sekundärliteratur konfrontiert. Dies erscheint umso paradoxer, da sich neuere und neueste Studien im Zusammenhang der sich etablierenden Bildwissenschaften stark auf die Bildhaftigkeit des Erzählens um 1800 konzentrieren, stilistischen Aspekten aber wenig Platz einräumen10. Die einzige mir bekannte Studie, die sich explizit der Verwendung des szenischen Präsens in den Wahlverwandtschaften widmet und dabei eine inhaltliche Deutung anbietet, ist ein Aufsatz des Grammatikers Henning Brinkmann aus den 50er-Jahren, der eine gewichtige These zum Einsatz des Präsens entwickelt. Er stellt eine Verbindung her zwischen der Art der Präsensverwendung und dem für Goethe in verschiedenen Phasen zentralen Konzept des Dämonischen. Zur Sprache der ›Wahlverwandtschaften‹ ist 1954 in einer Festschrift erschienen11 und steht damit, wie letztlich Weinrichs Tempus, vor dem Hintergrund der strukturalistischen Beschäftigung mit Literatur. Das gilt auf den ersten Blick für die Mehrheit der literaturwissenschaftlichen Publikationen zum Thema der Tempusproblematik. Brinkmanns genaue Methodik wie natürlich seine inhaltliche Interpretation der Stilistik der Wahlverwandtschaften stellt somit den Angelpunkt dieser Untersuchung dar. Mit der Bildhaftigkeit des Erzählens um 1800 ist ein Element angesprochen, das vielleicht zur entscheidendsten Frage in der Interpretation der Präsensverwendung führt. Brinkmann betont in seiner Studie, daß sich der Präsensgebrauch der Wahlverwandtschaften von Goethes übrigem Werk abhebt, diese Diagnose möchte ich, wie angedeutet, unterstreichen, aber auch weiter diffe10 Zum Thema der Bildhaftigkeit in der neueren Forschung vgl. besonders die Beiträge in Gabriele Brandstetter (Hrsg.), Erzählen und Wissen – Paradigmen ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, Rombach Verlag, Freiburg/ Breisgau 2003 (= Rombach Wissenschaften Reihe Litterae Bd. 96). 11 Henning Brinkmann, Zur Sprache der ›Wahlverwandtschaften‹, in: Benno von Wiese und Karl Heinz Borck (Hrsg.), Festschrift für Jost Trier Zu seinem 60. Geburtstag am 15. Dezember 1954, Westkulturverlag Anton Hain, Meisenheim/Glan 1954, S. 254–276; wiederabgedruckt in: Ewald Rösch (Hrsg.), Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung Bd. CXIII), S. 236–262.
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renzieren. Die auffallenden Parallelen zum Werther habe ich schon angesprochen, dennoch stellt sich die Frage, ob es zulässig ist, der Tempusstilistik der beiden Werke, zwischen denen mehr als 30 Jahre liegen, dieselben Anliegen zu unterstellen. Das Entscheidende an der Untersuchung der literarischen Tempussetzung ist, die Tatsache zu berücksichtigen, daß jeder Text sein eigenes System an Tempusbedeutungen und damit -konnotationen schafft. Genau dieses System gilt es herauszuarbeiten. Die unterschiedlichen Rahmungen habe ich schon angesprochen. In den Wahlverwandtschaften haben wir nun das Phänomen vor uns, daß das Präsens sowohl zur Rahmung wie innerhalb der Erzählung verwendet wird. Dieses Zusammenspiel verändert sozusagen den Grundton des ganzen Romans, im Gegensatz zum Werther mit seinem rückschauenden Einstieg durch die lange Herausgeberformel wird hier die Anbindung an ein Hier und Jetzt gleich viel stärker betont. Dazu kommen die immer länger werdenden Präsenspassagen im Romaninneren. In welchen Zusammenhang ist dies nun mit der Tatsache zu setzen, daß, wie schon erwähnt, das bildhafte Erzählen in den Wahlverwandtschaften überhaupt eine entscheidende Rolle spielt? Schon der Einstieg ist die beste Illustration für diese Bildhaftigkeit. Er zeigt uns Eduard ohne lange Einleitung in »seiner Baumschule«, bei der Arbeit, im Gespräch mit dem hinzutretenden Gärtner. Das Datum ist »die schönste Stunde eines Aprilnachmittags«; daß Eduard eine Figur der Jetztzeit ist, habe ich zu Beginn kurz ausgeführt. Die nachklassischen und als kühl erzählt geltenden Wahlverwandtschaften also »realistischer« als der aufwühlende Werther? Die lange Deutungstradition hat sowohl die Symbolträchtigkeit der Bilder als auch den realistischen Erzählgehalt des Romans immer wieder in den Vordergrund gestellt. Diesen beiden Strängen der Deutungstradition ist mithin nachzugehen und in diesem Spannungsfeld ist auch die Präsensverwendung zu sehen. Dabei geht es in erster Linie darum, empirisches Material zu liefern, das als Basis dienen kann für eine mögliche Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen. Worauf es vor allem anderen ankommt, ist, zu zeigen, wie vielfältig die Funktionen von Tempus im literarischen Text sind, wie »erzählerisch«, wenn man so möchte, das Mittel der Zeitenverwendung ist, und mit welcher Intensität es die Erzählung auflädt. Die zentrale Absicht dieser Arbeit besteht darin, das wenig beachtete Phänomen der Tempussetzung durch die Detailanalyse der Präsenspartien in den Blickpunkt zu rücken und auszuloten, welche Parameter zu seiner Interpretation überhaupt zu berücksichtigen sind. Die Zusammenstellung dieser Materialbasis hat also einerseits das Ziel, eine sehr spezifische Lücke der Goethe-Forschung zu schließen, und versteht sich darüberhinaus auch als Versuch der Verknüpfung von Quellen aus dem literaturwissenschaftlichen wie linguistischen Bereich. Diese Grundlagen werden ergänzt durch den unter bestimmten thematischen Schwerpunkten zusammengefaßten Blick auf die Rezeptionsgeschichte.
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Dieser Forschungsbericht führt dabei über die Frage der Bedeutung der Naturwissenschaften für die Wahlverwandtschaften zum zeithistorischen Hintergrund im Sinne der im Roman abgebildeteten Lebensbedingungen der Goethezeit. Dieser Hintergrund und der Grad seiner Verarbeitung kann besonders anhand neuerer und neuester Studien zu den »Einschlüssen« naturwissenschaftlicher Forschung im Roman einerseits und der Skizzierung der gesellschaftlichen Relevanz der Gefühls- und Liebesproblematik andererseits dargestellt werden. Die zuletzt neu untersuchten naturwissenschaftlichen Aspekte umfassen die Experimente mit der Entdeckung des Jahrhunderts, der Elektrizität, und ihre Deutung durch den Mesmerismus, das sich verändernde Zeitempfinden als Ausdruck der Technisierung und Verbürokratisierung der Lebenswelt, und schließlich die schon angedeutete Sinneshierarchie der Aufklärung. Vor allem die beiden letzteren kreisen in ihrer Erneuerung stark um das Thema der Spaltung der Empfindungen des Individuums. Eine solche Spaltung im Sinne des Auseinanderdriftens der Lebenskonzepte zwischen Adel und sich konsolidierendem Bürgertum steht auch in einigen inzwischen schon älteren Beiträgen mit sozialhistorischem Interesse im Mittelpunkt. Auch die Ergebnisse dieser Richtung wurden in neueren Untersuchungen wiederaufgenommen. Was aber die Analyse der Präsenspassagen ergibt, ist in äußerst prominentem Maß der Blick auf die Spaltung von Empfindungen im Sinne des Konflikts zwischen Pflicht und Neigung zu richten. Vor allem schließt aber die Beleuchtung der historischen Hintergrundgegebenheiten der Wahlverwandtschaften die Reaktionen der Zeitgenossen auf Goethes Roman ein. Besonders anhand dieses Ausschnitts soll Goethes »realistische« Zeichnung zeitgenössischer Charaktere und Konflikte und damit die Dimension der Aktualität, der sie unterliegt, nachvollziehbar werden. Zugleich ergeben sich aus dieser wichtigen Quelle Hinweise auf die Forderungen an die neuen Romanformen überhaupt. Auf diese Weise stellen sie die Verbindung dar zur zeitgenössischen wissenschaftlichen Rezeption, die ihrerseits den Blick auf die späterhin von der Forschung bevorzugten Themen eröffnet. Bewußt sind damit diesem Überblick einige Teile als Reverenz an die fast 200-jährige Forschungsgeschichte beigefügt, die in erster Linie der Abrundung des Bildes dienen sollen. Dies gilt etwa für den Blick auf den Kontext, von dem sich Walter Benjamins umfangreicher Essay zu den Wahlverwandtschaften abhebt. Gerade anhand solcher Einschnitte kann aber auch die schrittweise Verklärung des »Sachgehalts« (Benjamin) des Romans deutlich gemacht werden, die freilich die geradezu vom Überangebot an Bildern geprägte Erzählweise des Romans teilweise verständlich macht. Der Blick auf den starken Symbolgehalt der Wahlverwandtschaften, im Besonderen auf den »symbolischen Stil« Goethes12, er12 Vgl. Benno von Wiese im Nachwort zu den Wahlverwandtschaften, HA, Bd. 6, S. 673ff.
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gänzt also im obengenannten Sinn die Bestimmung der Koordinaten seiner Bildhaftigkeit. Die Zeugnisse der Zeitgenossen beweisen auch die Offenheit des Blicks für das Phänomen der Präsensverwendung in den Wahlverwandtschaften. Diese Offenheit wird, wie erwähnt, in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung anscheinend erst mit dem Strukturalismus auf breiterer Basis wiederentdeckt, und die Zunahme des Erzählens im Präsens als Phänomen der Literatur der Moderne zugeordnet. Das steht im Widerspruch zu den Fakten, die hier präsentiert werden und verweist somit auf die Notwendigkeit umfassenderer Textstudien und einer größeren Zusammenschau der verschiedenen Positionen zum Tempusproblem. Dazu ist es notwendig, darauf hinzuweisen, daß es zu Weinrichs Auffassung der nicht-deiktischen, also vom Zeitbezug absehenden Funktion der Tempora in der Erzählung sehr wichtige Vorläufer gibt, auf deren dahingehende Äußerungen aber viel weniger oft Bezug genommen wird. Deren Proponenten sind vor allem Roland Barthes und Käte Hamburger, deren wesentliche Beiträge zur literarischen Tempustheorie ebenfalls schon in den 50er-Jahren erschienen sind. Hamburgers Thesen zum epischen Präteritum sind zwar Germanisten nach wie vor bekannt, wurden aber nicht, wie die Weinrichs, gleichzeitig als linguistische Tempustheorie rezipiert, sondern ganz dem Bereich der Literaturwissenschaft zugerechnet. Dadurch zählen sie mehr zu den – ungelesenen – Klassikern der germanistischen Erzähltheorie. Ebenso in Auseinandersetzung mit Hamburger hat Franz K. Stanzel, im gleichen Jahrzehnt, in Vorarbeiten zu seiner Theorie des Erzählens von 1979 wichtige Differenzierungen zur Theorie des epischen Präteritums geliefert und dabei in Form der Erweiterung der dahingehenden Terminologie nachhaltig auf die Rolle der Präsensverwendung in der Moderne verwiesen. Allen diesen Beiträgen kann im Rahmen dieser Arbeit nur in Ausschnitten nachgegangen werden, vorausschicken möchte ich hier stellvertretend für andere Roland Barthes’ Sicht auf die für ihn weit ausgreifende Funktion der Tempusformen in der Erzählung. – Eine solche Zusammenfassung steht zweifellos in einem Widerspruch zur Komplexität seiner essayistischen Schreibweise, doch wirft der Nukleus seiner Interpretation ein Licht auf das Warum der Ablöse des epischen Präteritums als kanonischem Tempus der Erzählung, weswegen ich diesen Gedanken meiner Arbeit als ganzer voranstelle. In seinem Kapitel zur »Schreibweise des Romans« in Am Nullpunkt der Literatur von 1953 beschreibt Roland Barthes den Wandel des klassischen französischen Romans, der von Barthes als Bericht und als Ausdruck der Einheit der bürgerlichen Ideologie zur Blütezeit des Bürgertums, in der Zeit der Klassik und Romantik, charakterisiert wird13, zum Nouveau roman. Für ihn ist die Tatsache, 13 Vgl. Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, Aus dem Französischen von Helmut
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daß der klassische Roman im Pass8 simple erzählt wird, einer aus der gesprochenen Sprache verschwundenen Form, hoch symbolisch. Das historische Perfekt, wie es im Deutschen genannt wird, ist für Barthes das Zeichen einer »Ordnung«, die die Literatur vor der »Zerreißung des bürgerlichen Bewußtseins« auszudrücken beauftragt war14. Es ist so etwas wie ein »algebraisches Zeichen« für die Intention der Errichtung einer künstlichen Welt. Es ist »nicht mehr beauftragt, eine Zeit auszudrücken«, sondern steht in einer Mehrdeutigkeit zwischen Zeitlichkeit und Kausalität. Dadurch aber evoziert es einen »Ablauf«, das heißt, eine logische Verständlichkeit des Berichts, den der klassische Roman gibt. Auf diese Weise stellt das historische Perfekt für Barthes ein ideales Instrument für »alle Konstruktionen geschlossener Welten« dar, es weist auf die künstliche Zeit der Mythen, der Kosmogonien, der Weltgeschichten und der Romane hin. Das bedeutet gleichzeitig, daß diese »geschlossene« Welt einen Schöpfer haben muß: »Hinter dem historischen Perfekt verbirgt sich immer ein Demiurg, Gott oder Rezitator.«15 In dem Moment aber, in dem der Schriftsteller aufhört, »Zeuge des Universellen« zu sein und zu einem »unglücklichen Gewissen« wird – Barthes setzt diesen Bruch um 1850 an – zersplittert die einheitliche klassische Schreibweise und die Literatur wird von nun an zu einer »Problematik der Sprache«16. Barthes beschreibt diese Sprengung so: Die Erzählvergangenheit ist also ein Teil des Sicherheitssystems der Literatur. Als Abbild einer Ordnung stellt sie eine der zahllosen formalen Übereinkünfte dar, die zwischen Schriftsteller und Gesellschaft zur Rechtfertigung des einen und zur Beruhigung der anderen getroffen worden sind. Die Erzählvergangenheit gibt eine Schöpfung zu verstehen, das heißt sie signalisiert sie und zwingt sie gleichzeitig auf. Selbst wenn sie im Dienste des schwärzesten Realismus steht, beruhigt sie, weil dank ihrer das Verb einen geschlossenen, definierten, substantivierten Akt bezeichnet, weil dank ihrer der Bericht einen Namen hat und dem Schrecken eines unbegrenzten Sprechens entflieht; die Wirklichkeit wird magerer und vertrauter, sie tritt in einen Stil und flutet nicht über die Grenzen der Sprache; die Literatur bleibt Gebrauchswert einer Gesellschaft, die durch die Form der Wörter selbst über den Sinn dessen aufgeklärt wird, was sie verbraucht. Wenn aber im Gegenteil der Bericht zugunsten anderer Literaturgattungen verworfen wird oder wenn im Innern der Erzählung die Erzählvergangenheit durch weniger ornamentale, frischere, dichtere, dem gesprochenen Wort nähere Formen (das Präsens, das Perfekt) ersetzt wird, wird Literatur zum Bewahrer der Dichte
Scheffel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985, S. 8f. Barthes’ Essay ist in deutscher Übersetzung zusammen mit einem Essay über Alain Robbe-Grillet zuerst erschienen unter dem Titel: Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur Objektive Literatur Zwei Essays, Ins Deutsche übertragen von Helmut Scheffel, Claassen Verlag, Hamburg 1959. 14 Vgl. ebda., S. 37ff. 15 Ebda., S. 38. 16 Vgl. ebda., S. 9.
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der Existenz und nicht zum Verkünder ihrer Bedeutung. Zwar mögen dann die Akte von der Geschichte abgetrennt sein, sie sind es aber nicht mehr von den Personen.17
In verblüffender Weise scheint diese Beschreibung auf das zuzutreffen, was uns in Werther und Wahlverwandtschaften vorgeführt wird. Das, was die Erzählung von Werthers Ende enthält, liest sich formal wie inhaltlich als Ausbruch aus einer kohärenten Form der Beschreibung; Einzug hält eine Art der Darstellung, die durch Brüche gekennzeichnet ist. Der Tempuswechsel scheint blitzlichtartig auf die Abgründigkeit zu verweisen, die mit der individuellen, persönlichen und damit zwangsweise unsicheren Sicht verbunden ist. Der Erzähler gibt den Blick frei entweder auf die Sicht einer der Figuren, der er nichts hinzufügt, läßt also das so Präsentierte ohne Präzisierung, ob diese Sicht zutreffend ist oder nicht, oder er erweist sich selbst als unsicher urteilende Figur ; in jedem Fall kommt es einer Dekonstruktion der Erzählerfigur an sich gleich. Schon die Möglichkeit zweier verschiedener Lesarten deutet daraufhin, daß die Beherrschung der Szene aus einer zusammenfassenden, zusammengefaßten Sicht aufgegeben wird. Diese wird vielmehr ersetzt durch die Andeutung einer pluriperspektivischen Darbietung des Geschehens, die den Leser in verstärktem Maß in die Rolle des Interpreten zwingt und ihm damit die Möglichkeit der Distanzierung vom Erzählten nimmt. Es ist, als würde die Perspektive plötzlich umgedreht, um die Instanz des Betrachters in den Blickpunkt zu rücken. Damit gibt es sozusagen plötzlich einen zweiten »Schöpfer« der Erzählung, diese wiederum erzählt sich mit einem Mal gewissermaßen von selbst, sie gewinnt ein Eigenleben, da sie ja nicht mehr zuordenbar ist. Mit diesem Eigenleben müssen wir umgehen. Das ist aber klarerweise kein »Bericht« mehr, sondern eine andere Art der Darstellung, in der die Faktoren Autor-Erzählerfigur-Erzählung-Leser anders angeordnet sind. Das hat natürlich Auswirkungen auf die »Wahrheit« des Erzählten. Barthes spricht von der »Vertrautheit«, die die Wirklichkeit durch die Bändigung in der kanonischen Form der Erzählung im historischen Perfekt, im Pass8 simple, gewinnt. Vertraut und beruhigend ist damit jene Wirklichkeit, von der wir wissen, daß sie konstruiert ist. Die moderne Erzählung bricht mit der Vertrautheit, die die konstruierte Form mit sich bringt, dieser Bruch vermittelt aber, so Barthes, nunmehr die »Dichte der Existenz«. Das heißt, daß wir dem Unvertrauten, Ungebändigten und Beunruhigenden aber auch mehr »Wahrheit« im Sinne von Realität zuordnen. Eine sich gleichsam selbst konstituierende Erzählung, deren Quelle wir nicht genau kennen, vermittelt uns daher zwar nicht Sicherheit, aber sie hat für uns die Konnotation größerer Wahrscheinlichkeit, wirkt »reeller«, weil die Freilegung ihres Lebens aus und in der subjektiven Perspektive als genaueres Abbild der Wirklichkeit erscheint. 17 Ebda., S. 40f.
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Roland Barthes schreibt also der sich verändernden Tempussetzung im Roman der Moderne die grundlegende Funktion zu, einen Epochenwechsel zu kennzeichnen. Diese Bedeutungsaufladung stellt ihrerseits eine Besonderheit innerhalb der literarischen Tempustheorien dar, auch sie greift jedoch die prinzipielle Idee von der Nicht-Zeitbezogenheit bzw. vom Funktionswechsel der Tempusformen in der Erzählung im Unterschied zur nicht-fiktionellen Kommunikation auf, wie sie Käte Hamburger Anfang der 50er-Jahre als zentrale Idee ihrer Dichtungslogik formuliert hat. Die entsprechenden Beiträge sind ab 1951 in der Deutschen Vierteljahrsschrift erschienen18, Die Logik der Dichtung von 1957 stellt eine Zusammenfassung und Erweiterung dieser Aufsätze dar und enthält auch einen Abschnitt zur Bedeutung des historischen Präsens. Barthes’ strukturalistische Idee von der Zeichenhaftigkeit des Erzähltempus ergibt sich aus der Perspektive der Mitte des 20. Jahrhunderts, die ja auf die Auflösung »herkömmlicher« Erzählformen im inneren Monolog, in der erlebten Rede und anderen, kompositorischen Mitteln der Sprengung der Romanform reagieren muß. Dabei ist zu bedenken, daß Barthes mit dem Schwinden des dem Erzählen vorbehaltenen historischen Perfekts ein spezifisch französisches Sprach- und Erzählphänomen beschreibt. Die aoristische Vergangenheitsform des Pass8 simple ist nicht einmal ohne weiteres den entsprechenden Formen in den anderen romanischen Sprachen zu vergleichen, eine Eins-zu-eins-Übertragung seiner literarischen Funktionen aufs Deutsche scheint noch prekärer. Ähnliches muß natürlich auch für die anderen grammatischen Tempora mitbedacht werden. Dennoch erwies sich das Konzept der nicht-deiktischen Tempusbedeutung in der Fiktion als fruchtbar für verschiedene Sprachen, was sich nicht zuletzt in einer Wiederaufnahme der Thesen Weinrichs etwa in der englischen Linguistik der 70er- und 80er-Jahre niedergeschlagen hat19. Die Wiederbelebung dieser Diskussion wiederum verweist ihrerseits auf die anhaltende Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Thema als Reaktion auf die literarische Praxis. Aus diachroner Sicht gesehen kann man nämlich sagen, daß 18 Vgl. die Aufsätze: Käte Hamburger, Zum Strukturproblem der epischen und dramatischen Dichtung, in: Paul Kluckhohn, Hugo Kuhn und Erich Rothacker (Hrsg.), Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Gemeinschaftsverlag J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung/Max Niemeyer Verlag/Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen, 25. Jahrgang, XXV. Bd. (1951), S. 1–26; Diess., Das epische Praeteritum, in: Ebda., 27. Jahrgang, XXVII. Bd. (1953), S. 329–357; Diess., Die Zeitlosigkeit der Dichtung, in: Ebda., 29. Jahrgang, XXIX. Bd. (1955), S. 413–426. Außerdem: Diess., Noch einmal: Vom Erzählen – Versuch einer Antwort und Klärung, in: Rainer Gruenter und Arthur Henkel (Hrsg.), Euphorion Zeitschrift für Literaturgeschichte, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg, 59. Bd. (1965), S. 46–71. 19 Vgl. besonders Bernard Comrie, Tense and Time reference: from meaning to interpretation in the chronological structure of a text, in: Trevor Eaton (Hrsg.), Journal of literary semantics An International Review, Bd. XV/1 (1986), April, Julius Groos Verlag, Heidelberg 1986, S. 12– 22, und Carl Bache, Tense and aspect in fiction, in: Ebda., Bd. XV/2 (1986), August, S. 82–97.
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der Ausbruch aus einem weitgehend geschlossenen System des Tempusgebrauchs und die Etablierung eines offenen Systems von Funktionen eine zentrale stilistische Kategorie des 20. Jahrhunderts bis heute darstellt. So ist es wichtig, zu sehen, daß Thomas Manns berühmte Reflexionen zum Erzähler als »raunende[m] Beschwörer des Imperfekts« vor dem Hintergrund dieser Öffnung geschehen, die zum Zeitpunkt des Erscheinens des Zauberbergs, 1924, um es pathetisch zu sagen, schon zumindest ein Jahrzehnt alt ist. Mann stellt keineswegs zufällig eine Überlegung auch dieser Art als Vorsatz seinem Roman voran. Der Rahmen dieser Arbeit erlaubt eine tiefergehende und, wie ich denke, überaus lohnende Belegung dieser Behauptung, die den Beispielen aus der deutschen erzählenden Literatur nach 1900 solche von Dostojewskij und Tschechow bis zur vermutlich einflußreichen Technik Knut Hamsuns gegenüberstellen müßte, nicht. Doch genügt fürs erste, in Hinblick auf die eben genannte Öffnung auf Kafkas Landarzt zu verweisen, der ein beeindruckendes Dokument einer bewußt gesetzten Komposition in der Tempussetzung und der Präsensverwendung der Moderne darstellt. Von hier wären Linien zu ziehen zu Joseph Roth, zu Wolfgang Koeppen, zu Heimito von Doderer – und auch zurück? Bekanntermaßen hat sich Kafka intensiv mit Goethe beschäftigt. Thomas Manns konsequente, nicht durchgängige, aber durch seine dem Zauberberg vorangestellten Reflexionen gleichsam programmatische Verwendung des »klassischen« erzählenden Präteritums im Zauberberg ist also durchaus als stilistisches Statement zur Formenänderung seiner Zeit zu verstehen. Den Blick für solche Zusammenhänge gilt es zu schärfen. Nicht zufällig ist vor diesem Hintergrund des steten Formenwandels im Bereich der Tempusverwendung schließlich ein Phänomen wie das des Gebrauchs bei Thomas Bernhard, der unter anderem das Plusquamperfekt in absoluter statt relativer Funktion, also seinerseits als veritables Erzähltempus, verwendet20. Die zu Beginn als verschroben wahrgenommenen Eigentümlichkeiten des Bernhardschen Stils erweisen sich in dieser Hinsicht als konsequente Fortführung des sprach-experimentellen Projekts der Moderne. Daß auch diese stilistische Dimension des Wandels ein Phänomen über mehrere Sprachen hinweg war, habe ich schon angedeutet, neue sprachwissenschaftliche Studien belegen etwa für das Italienische, wie umfassend diese Veränderung auch hier die Literatur des 20. Jahrhunderts bis zu zeitgenössischen Autoren wie Umberto Eco und Daniele Del Giudice bestimmt. Die linguistische Beschreibung kann, wenn es um literarische Texte geht, natürlich nur teilweise Einzelinterpretationen liefern. Ihr Ziel muß vielmehr sein, repräsentatives Datenmaterial zusammenzustellen, das Aufschlüsse über 20 Vgl. dazu meine Darstellung in Tempussetzung in Thomas Bernhard »Der Stimmenimitator«, Wien, Univ., Dipl.-Arb. 1998. Online verfügbar unter http://germanistik.univie.ac.at/linkstexts/dipldiss-zum-download/.
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die kanonische grammatische Bedeutung der einzelnen grammatischen Zeitformen erlaubt. Dennoch war und ist gerade von hier aus eine Annäherung der Disziplinen zu verzeichnen. Der italienische Linguist Pier Marco Bertinetto hat in einigen zusammengehörenden Studien den Einsatz des Präsens in der italienischen Literatur über verschiedene Epochen beleuchtet und mit dieser Datensammlung die Disziplinengrenze in erfreulicher Weise aufgeweicht21. In gewisser Weise repräsentiert nämlich die paradoxe Reaktion auf Weinrichs nichtdeiktische Tempustheorie – von der Linguistik stark kritisiert, von der Literaturwissenschaft teilweise emphatisch begrüßt – diese Spaltung zwischen den Disziplinen, der die systematische Auseinandersetzung mit der Tempusverwendung zum Opfer gefallen zu sein scheint; dennoch ist sie ein wichtiges Teilgebiet der Stilistik wie der Erzähltheorie. Noch weiter als Bertinetto geht der österreichische Linguist Richard Schrodt, der in mehreren Arbeiten Tempusfunktionen in erzählenden Texten, aber auch in Gedichten, untersucht und diese jeweils in Relation zu Inhalt und Sinngefüge des Gesamttextes setzt22. Schrodt verweist besonders auf die Stellen des Tempuswechsels als neuralgische Punkte, deren Funktionen aus dem Text heraus zu analysieren sind und nicht von vornherein mit festgelegten inhaltlichen Funktionen belegt werden können. Schrodt richtet auch verstärkt das Augenmerk darauf, daß sowohl deiktische wie nicht-deiktische Tempusfunktionen im Text zum Tragen kommen können. Daneben ergibt die erste Sichtung sprach- wie literaturwissenschaftlicher Publikationen, daß die Beschäftigung mit der Thematik des literarischen Tempusgebrauchs in der romanistischen wie slawistischen Tradition stärker ver-
21 Vgl. vor allem Pier Marco Bertinetto, Due tipi di Presente ›Storico‹ nella prosa letteraria, in: Michele A. Cortelazzo, Erasmo Leso, Pier Vincenzo Mengaldo, Gianfelice Peron und Lorenzo Renzi (Hrsg.), Omaggio a Gianfranco Folena, Studio Editoriale Programma, vol. III, Padova 1993, S. 2327–2344. Weiters: Ders., Sperimentazioni linguistiche nella narrativa del Novecento: variazioni sul Tempo Verbale ›propulsivo‹, in: Atti dell’Accademia Lucchese di Scienze, Lettere ed Arti, seconda serie XXVIII, Lucca 1999, S. 41–102; in verkürzter Fassung auch auf Englisch erschienen: Pier Marco Bertinetto, ›Propulsive‹ tenses in modern Italian fictional prose, in: Guglielmo Cinque und Giampaolo Salvi (Hrsg.), Current studies in Italian Syntax. Essays offered to Lorenzo Renzi, North-Holland, Amsterdam 2001, S. 97–115. Diese Beiträge wurden in stark erweiterter, überarbeiteter und um Korpusangaben ergänzter Form zusammengefaßt in: Ders., Tempi verbali e narrativa italiana dell’ Otto/Novecento. Quattro esercizi di stilistica della lingua, Edizioni dell’Orso, Alessandria 2003 (= In forma di parola 9). 22 Vgl. besonders Richard Schrodt, Tempus, Zeit und Text: Von der Versinnlichung der Zeit im literarischen Umfeld, in: ide Informationen zur Deutschdidaktik, Bd. 24 (2000), Heft 3, Studien-Verlag, Innsbruck 2000, S. 27–40, und: Ders., Tempus, Thema und Textstrukturen: Unterwegs zu einer Textlinguistik des Sinns, in: Oswald Panagl und Walter Weiss (Hrsg.), Noch einmal Dichtung und Politik – Vom Text zum politisch-sozialen Kontext, und zurück, Böhlau Verlag, Wien Köln Graz 2000 (= Studien zu Politik und Verwaltung Bd. 69), S. 321– 347.
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Einleitung – Literarische Tempusproblematik
ankert zu sein scheint als in der Germanistik23. In jedem Fall gilt dies für die Altphilologie, wo eine größere Zahl einschlägiger Studien auf die Traditionsbildung in der Beobachtung des Themas verweist24. Gräbt man aber tiefer nach, 23 Vgl. eine so spezifische Studie wie Viktor P. Litvinov und Vladimir I. Radcˇenko, Doppelte Perfektbildungen in der deutschen Literatursprache, Stauffenburg Verlag, Tübingen 1998 (= Studien zur deutschen Grammatik Bd. 55), die aus der Reihe der Tempus-Studien, von denen einige mehr oder weniger als Reaktion auf Weinrich in den 70er- und 80er-Jahren entstanden sind, durch eine Belegsammlung heraussticht, die Leibniz, Goethe, Hölderlin, Brentano, Storm, Rilke u. a. neueren Autoren, von Ulrich Becher über Thomas Mann und Brecht bis Heimito von Doderer, gegenüberstellt. Dennoch ist auch das Ziel dieser Studie v. a. die Beweisführung, daß doppelte Perfektbildungen (ich habe es ihm gesagt gehabt) in der neueren deutschen Grammatik zu Unrecht ignoriert werden, und deren Re-Etablierung in der lange geführten Debatte um die Anzahl der Tempora im Deutschen. Auch andere Studien gehen von literarischem Material aus, vgl. v. a. Ulrike Hauser-Suida und Gabriele HoppeBeugel, Die Vergangenheitstempora in der deutschen geschriebenen Sprache der Gegenwart, Hueber Verlag München 1972 (= Heutiges Deutsch I/4), verwenden dieses aber in erster Linie als Belegmaterial »rein« linguistischer Fragestellungen, z. B. zur Klärung der Frage, ob das Deutsche eine consecutio temporum aufweist. So verdienstvoll diese Studien sind, so sehr belegen sie doch, daß die immer genauere Ausleuchtung der Bühlerschen Grundkomponenten (der Ich-hier-jetzt-Origo, die zur Bestimmung von Sprechzeit, Ereigniszeit und Referenzpunkt führen) mitunter dazu beiträgt, daß die Disziplinen ohne und irgendwann gegeneinander sprechen. Das heißt natürlich nicht, daß die sprachwissenschaftliche Tempusdebatte für die Literaturwissenschaft zu vernachlässigen ist, aber es bedeutet, daß von beiden Seiten mitunter den Punkt des gemeinsamen Interesses zu bestimmen verabsäumt wird. Größere Untersuchungen der spezifisch literarischen Tempussetzung oder auch Korpusuntersuchungen, die in diesem Sinn fächerübergreifend sind, fehlen also im Deutschen, was Stanzels zwar nicht systematische, aber punktuell sehr interessante Berücksichtigung von Tempusfragen in der Theorie des Erzählens umso wertvoller macht. Demgegenüber erscheint die Bezugnahme G8rard Genettes in Discours du r8cit [dt. Die Erzählung, Aus dem Französischen von Andreas Knop, Wilhelm Fink Verlag, München 1994] viel selbstverständlicher zu erfolgen und Frucht einer besser etablierten Tradition auch der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Tempusstilistik zu sein. Dies kann auf Stanzel als Vorbild für Genette zurückzuführen sein, stützt sich aber vermutlich auch auf die oben angedeutete romanistische Tradition der Diskussion von Stilfragen, die Grammatikalisches als viel selbstverständlicheren Teil der Literaturwissenschaft, somit als öffentlich zu diskutierenden Gegenstand, der Interesse für alle hat, betrachtet. Das große Gebiet der Tempuslinguistik ist dagegen natürlich schon kaum mehr zu überblicken. Als übersichtliche und thematisch leicht zugängliche Einführung in die sprachwissenschaftliche Seite der Tempusproblematik vgl. Heinz Vater, Einführung in die Zeit-Linguistik, Gabel Verlag, Hürth-Efferen 19943 (= KLAGE Kölner Linguistische Arbeiten – Germanistik 25) und die von ihm zusammengestellte Bibliographie. Vater gibt auch einen Überblick über die Zugänge der Philosophie, der Naturwissenschaften und der Psychologie zum Konzept von »Zeit«. Das aktuellste Standardwerk der linguistischen Tempusbeschreibung ist Klaus Welke, Tempus im Deutschen – Rekonstruktion eines semantischen Systems, Verlag Walter de Gruyter, Berlin New York 2005 (= Linguistik – Impulse & Tendenzen 13). 24 Vgl. Studien wie Bibliographie in Wolfgang Klug, Erzählstruktur als Kunstform – Studien zur künstlerischen Funktion der Erzähltempora im Lateinischen und Griechischen, ManutiusVerlag, Heidelberg 1992, und in Francis Robert Schwartz, Lucans Tempusgebrauch – Textsyntax und Erzählkunst, Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main Berlin Bern Bruxelles New York Oxford Wien 2002 (= Studien zur klassischen Phi-
Einleitung – Literarische Tempusproblematik
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ergibt sich auch in dieser Hinsicht der II. Weltkrieg als Zäsur. Zeitschriftenbeiträge und einige Dissertationen aus den 1920er- bis 40er-Jahren belegen eine sogar recht lebhafte Beschäftigung der Germanistik mit dem Thema der Entstehung, der Frequenz und des spezifischen Epochengebrauchs des historischen Präsens, im Deutschen wie in anderen Sprachen – sodaß die Grundlagen zu einer Stilgeschichte des Praesens historicum durchaus vorhanden wären, die im übrigen für die verschiedenen Literaturen von Interesse wäre. Auch diese Zeugnisse sind zumeist aus dem Sprachvergleich zwischen modernen Sprachen, der Sprachgeschichte oder in Anlehnung an die altphilologische Auseinandersetzung entstanden, einige davon wurden in deutsch-englischen Zeitschriften wie dem Journal of English and Germanic Philology publiziert, alle aber nach dem Krieg nur mehr sehr wenig rezipiert25. Was aus diesen Artikeln, Studien und lologie Bd. 133), außerdem bei Karl Theodor Rodemeyer, Das Praesens historicum bei Herodot und Thukydides, Univ. Diss. Basel 1889. 25 Es liegt natürlich nahe, dies auf die Vermeidung allzu teutonischer Themen nach dem Krieg zurückzuführen. Jene Studien, die ich einsehen konnte, geben aufgrund ihrer Ausführung und Erscheinungsorte wenig Anlaß zur Annahme, daß sie Träger ideologisch motivierter Themenwahl sind. Ob sie darüberhinaus einen Rückzug auf möglichst unpolitische wissenschaftliche Themen dokumentieren, wage ich nicht zu beurteilen, nehme es aber bis zu einem gewissen Grad an. Die Parallelität zwischen den entsprechenden altphilologischen, anglistischen und eben germanistischen Arbeiten zeigt aber in jedem Fall, daß die Beschäftigung mit dem historischen Präsens nicht von einem Jahr oder Jahrzehnt aufs andere, sondern schon vor der Jahrhundertwende einsetzte und somit traditioneller Bestandteil auch der Germanistik war: A. Graef, Die präsentischen Tempora bei Chaucer, in: Ewald Flügel und Gustav Schirmer (Hrsg.), Anglia. Zeitschrift für englische Philologie, XII. Bd., Max Niemeyer Verlag, Halle an der Saale 1889, S. 532–577; Bruno Boezinger, Das historische Präsens in der älteren deutschen Sprache, in: Leland Stanford Junior University Publications, VIII–XI, Series No. 8, Stanford 1912, S. 1–91; Hugo Herchenbach, Das Präsens historicum im Mittelhochdeutschen, Palaestra CIV, Berlin 1911; Hans Liesigk, Das Praesens historicum, ein Beitrag zur historischen französischen Syntax, Univ. Diss. Greifswald 1921; Hans Roloff, Das Praesens historicum im Mittelenglischen, Univ. Diss. Giessen 1921; Willibald Lehmann, Das Präsens historicum in den 2slendinga sogur, Univ. Diss. Bonn 1939; außerdem J. M. Steadman, ˙ English, in: Studies in Philology, XIV, University of The Origin of the Historical Present in North Carolina 1917, S. 1–46. Einen Teil dieser Angaben entnehme ich dem bei Käte Hamburger genannten, für unser Thema wichtigen Aufsatz von John R. Frey, The Historical Present in Narrative Literature, Particularly in Modern German Fiction, in: John J. Parry und C. A. Williams (Hrsg.), The Journal of English and Germanic Philology, Published quarterly by the University of Illinois, Vol. XLV No.1, January, 1946 (First reprinting 1970), S. 43–67. Angesichts dieser Liste erstaunt es, wie wenig davon sich bei Weinrich findet. Auch hier sticht Stanzel heraus, indem er zwar nicht diesen Beiträgen selbst nachgeht, doch den englischen Teil dieser Auseinandersetzung, der in spätere Studien eingeflossen ist, sehr wohl zur Kenntnis nimmt, so z. B. die Studie von Christian Paul Casparis, Tense Without Time – The Present Tense in Narration, A. Francke Verlag, Bern 1975 (= Schweizer Anglistische Arbeiten Swiss Studies in Englisch Bd. 84), die nicht zuletzt auf diesen Quellen aufbaut und der mithin auch etliche Hinweise auf diese unterbrochene, durch die Konzentration auf Weinrich überdeckte Traditionslinie zu entnehmen sind. Eine Ausnahme ist auch Manfred Markus, Tempus und Aspekt – Zur Funktion von Präsens, Präteritum und Perfekt im Englischen und Deutschen, Wilhelm Fink Verlag, München 1977 (= Kritische Information 61), der, ver-
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Abschlußarbeiten aber teilweise deutlich hervorgeht – und das ist die eigentliche Entdeckung –, ist eine bestimmte Form des Enthusiasmus für Stilfragen, die anscheinend nachher nicht mehr selbstverständlich war oder eben nur mehr unter der Definition der strukturalistischen Beschäftigung als zulässig empfunden wurde. Vielleicht verdankt sich die auffällige Eingleisigkeit in der germanistischen Auseinandersetzung – hier Sprach-, dort Literaturwissenschaft – aber auch schlicht der mangelnden essayistischen Tradition im Deutschen im Allgemeinen, denn Roland Barthes’ Feier des Tempuswechsels spiegelt ja nicht zuletzt Prousts Eloge auf Flaubert: »Erst jetzt eben las ich […] den Artikel des vortrefflichen Kritikers der ›Nouvelle Revue FranÅaise‹ über Flauberts Stil. Ich gestehe, daß ich verblüfft war, einen Mann als wenig begabt zum Schreiben behandelt zu sehen, der durch den vollkommen neuen und persönlichen Gebrauch des pass8 d8fini, des pass8 ind8fini und des Präsenspartizips, sowie mancher Pronomen und Präpositionen unsere Ansicht von den Dingen fast im gleichen Maße erneuert hat wie Kant durch seine Kategorien die Theorien über die Erkenntnis und die Realität der äußeren Welt.«26 Harald Weinrichs Tempus thematisiert das historische Präsens kaum, sondern nennt es nur kursorisch im Zusammenhang des Nouveau roman und der Ausführungen zum griechischen und lateinischen Tempussystem. Dadurch fehlt weitgehend der Blick auf die Entwicklung dieser »Tempusmetapher«, wie die Übersetzung des Begriffs der translatio temporum von Quintilian lautet. In der antiken Rhetorik zählt der Wechsel ins Präsens innerhalb der Erzählung zu den sprachlichen Mitteln der evidentia. Der Autor macht sich in seiner eigenen Vorstellungskraft zum fiktiven Augenzeugen der Geschehnisse, die er schildert, und muß nun das Publikum in diese Augenzeugenschaft hineinziehen27. Diese Definition der Vergegenwärtigung ist bis heute, ausgesprochen oder unausgesprochen, die Grundlage der Beschreibung des historischen Präsens in den Grammatiken – die somit eine sehr wichtige Quelle darstellen, aus der man etwas über die Geschichte dieses Stilmittels erfahren kann. Auch dieser Blick in historische Grammatiken der Goethezeit kann im Rahmen dieser Arbeit nur punktuell erfolgen. Er verweist aber auf die Kontinuität der Aufnahme des historischen Präsens in die grammatische Beschreibung, eine Fortführung der antiken rhetorischen Tradition, und liefert vor allem wertvolle Hinweise auf die stilistischen Qualitäten, die zur Goethezeit mit diesem Stilmittel verbunden mutlich ebenso aus der Kenntnis der Tradition der anglistischen Arbeiten, fast alle diese Beiträge einbezieht. 26 So der Beginn von Marcel Prousts Aufsatz »Über den »Stil« Flauberts« [A Propos du ›Style‹ de Flaubert] von 1921, zu finden in: Gerd Haffmans und Franz Cavigelli (Hrsg.), Über Gustave Flaubert, Diogenes Verlag, Zürich 1979, S. 211–231. 27 Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik – Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Max Hueber Verlag, München 1960, S. 402ff.
Einleitung – Literarische Tempusproblematik
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wurden. In Verknüpfung mit den Zeugnissen der Zeitgenossen gibt eine solche Rekonstruktion von Verwendungsweisen und Konnotationen auch Hinweise auf den Stellenwert der Auseinandersetzung mit der antiken Rhetorik. Karl Wilhelm Ferdinand Solger, dessen Darlegungen von Goethe sehr begrüßt wurden, gehörte zu den ersten Rezensenten der Wahlverwandtschaften. Er stellt die Verbindung her zwischen der Tragik des Romans und deren antiker Folie. Diese Linie ist seither immer wieder thematisiert worden, doch vor allem in inhaltlicher Hinsicht. Berühmt geworden ist Walter Benjamins Ent-Deckung des Mythischen in diesem Eheroman, in dem nach ihm die Ehe nicht im Mittelpunkt steht28. Die Frage etwa nach einer möglichen Verbindung zur Stilistik des antiken Epos mit seinem häufigen Einsatz des szenischen Präsens wurde meines Wissens bisher nicht gestellt. Die Beweisführung einer solchen Parallele steht auch hier nicht im Mittelpunkt, sie bildet aber eine Art gedanklichen Horizont, der vorerst noch einmal auf die Grundproblematik der Fragestellung verweist. Er zeigt auf, daß die Einschätzung der historischen Konnotationen des Tempusgebrauchs, ähnlich dem Wissen um die historische Semantik einzelner Wörter oder auch von Textsorten, von so vielen Faktoren abhängt, daß sich eine Interpretation dieser Konnotationen aus 200jähriger Distanz geradezu zu verbieten scheint. Der Vergleich zur Übersetzung liegt nahe. Genauso wie dort muß aber wenigstens versucht werden, das Geflecht aus Assoziationen, das den Text unter diesem Gesichtspunkt ausmacht, zu erkennen. Die Frage ist, inwieweit es uns durch die Brille der Moderne überhaupt möglich ist, Goethes Intention der Präsensverwendung zu deuten. Nehmen wir etwa durch Gewohnheit eine Szene wahr, wo ein statisches Bild gedacht war? Der Gedanke einer stilistisch umgesetzten Anbindung an die Antike steht damit für die Lückenhaftigkeit der »Stilgeschichte« des historischen Präsens und soll vor allem auf das komplexe Netz aus literarisch-ästhetischen wie individualsprachlich-grammatischen Bedingtheiten verweisen, denen der Gebrauch der Tempora im Text unterliegt. Dieser Gebrauch im Text wird also hier untersucht. Dabei versuche ich einerseits, eine Kategorisierung der Präsensverwendungen zu treffen, die in Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zu einer differenzierten terminologischen Bestimmung beiträgt. Andererseits soll aber aufgezeigt werden, daß die Verwendungen dieser terminologisch zu trennenden »Schichten« des Präsensgebrauchs in den Wahlverwandtschaften in ihrer Absicht einer Erfassung der »Realität« eng zusammenhängen. Das mit dem Terminus »historisches Präsens« am häufigsten verbundene szenische Präsens steht deshalb im gedanklichen Zentrum dieser Arbeit, weil seine Verwendung in dem Ausmaß, in dem es in den Wahlverwandtschaften auftritt, vermutlich die größte stilistische 28 Vgl. Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 13f.
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Einleitung – Literarische Tempusproblematik
Neuerung darstellt, die dieser Roman einführt. Dennoch muß eine andere, auf den ersten Blick »herkömmlichere« Verwendung des Präsens im Roman, nämlich jene in den meist kurzen, aber regelmäßig auftauchenden Erzählerkommentaren, damit in Verbindung gebracht werden. Das kann anhand der Detailanalysen einiger dieser Kommentare gezeigt werden. Sie lassen Zweifel aufkommen an der Eindeutigkeit der auktorialen Erzählhaltung, die dem Roman meist zugeschrieben wurde. Dies wiederum führt letztlich zu den Strategien, die auf die Vermittlung des Erzählten als wahrscheinlich und aktuell im Sinne von »lebensnah« abzielen. Einem solchen Beglaubigungsszenario kann man auch das szenische Präsens zuordnen, weswegen beiden Verwendungsweisen in der Untersuchung der gleiche Stellenwert zukommt. Während also im Forschungsbericht die Anbindung an die historische Wirklichkeit thematisiert wird, zeigt der Analyseteil vor allem, mit welchen Techniken diese »Lebensnähe« im Roman suggeriert wird. Der Germanist Martin Huber beschreibt in einer umfassenden Studie29 »narrative Inszenierungen« als ein Grundmodell der Literatur zwischen 1770–1800. Eine solche narrative Inszenierung bestimmt z. B. das erste Zusammentreffen Werthers mit Lotte. Bis hin zur Nennung des schwülen Wetters wird sorgfältig ein szenischer Rahmen abgesteckt, der Werthers Überraschung beim Anblick Lottes im Kreis ihrer jüngeren Geschwister vorbereitet, die Szene gilt als Schlüsselszene. Als wichtige Momente eines solchen »theatralen Erzählens« nennt Huber auch die Körpersprache oder Phänomene der Bewegung. Werther beschreibt genau seinen ersten Tanz mit Lotte. Damit reagiere, so Huber, der Roman um 1800 auf die aufklärerische Zersplitterung der Sinne und der Selbstwahrnehmung. Die Inszenierung und vor allem Beglaubigung von Gefühlen wirkt dieser als sinnstiftendes Prinzip entgegen – und begründet eine Rezeptionshaltung, die, nicht nur nach der Auffassung Hubers, lange nachwirkt30. Mit meiner Untersuchung möchte ich vor allem auch zeigen, wie sehr die Wahlverwandtschaften dieser jungen Tradition verhaftet sind. Das historische Präsens steht damit in einem Gesamtzusammenhang der Inszenierung von Emotion und Wirklichkeit, die bis heute anhält.
29 Martin Huber, Der Text als Bühne – Theatrales Erzählen um 1800, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003. 30 Vgl. ebda., S. 11f.
II.
Tempus und Tradition
Das Folgende gibt einen Einblick in jene Teile der in der Einleitung genannten literarischen Tempustheorien, die der Begriffsklärung und Differenzierung des historischen Präsens dienen. Wie in der Einleitung angedeutet, hat sich die Frage nach der Tempusproblematik im fiktionalen Erzählen besonders aufgrund der stilistischen Besonderheiten der Autoren der Moderne neu gestellt. Diese Veränderung wurde in Hinblick auf die Tempusverwendung nicht nur in der deutschen Literatur als Öffnung des konventionellen Systems bezeichnet, innerhalb dessen das Präteritum das Haupterzähltempus bildet. Dieses wird nun immer wieder im Besonderen vom Präsens als Erzähltempus abgelöst. Da also diese Veränderung als sprachenübergreifendes Phänomen verschiedener Literaturen zu verzeichnen ist, basieren fast alle hier genannten Untersuchungen auf dem Vergleich von Texten aus verschiedenen Sprachen. Wollte man einen ZeitRahmen angeben, innerhalb dessen diese Veränderung am intensivsten zu beobachten ist, könnte man als frühen wichtigen Beleg der modernen Verwendung des historischen Präsens Knut Hamsuns Hunger von 1890 anführen. Hier findet sich die Verwendung des szenischen Präsens aufs engste verknüpft mit der Frage der Wahrnehmung der Erzähler-Figur. In ebendiesem Sinn spielt sie in Kafkas Landarzt eine wichtige Rolle, als ihren »Höhepunkt«, wenn man so möchte, kann man ihre Realisierung im Nouveau roman, besonders etwa in Alain RobbeGrillets La Jalousie von 1957 bezeichnen. Daß diese wichtige Dimension des Tempusgebrauchs im literarischen Text und mithin die Periode, in der sich ihr Wandel manifestiert, in der bekanntesten Untersuchung der deutschsprachigen Tempustheorie zu wenig ins Blickfeld geraten ist, möchte ich anhand der Erläuterung einiger Begriffe aus Harald Weinrichs Tempus – Besprochene und erzählte Welt von 1964 zeigen.
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Tempus und Tradition
II. 1. Tempus als informationstheoretisches »Register«: Harald Weinrich Harald Weinrich definiert in seiner Textgrammatik der deutschen Sprache das historische Präsens so: Manchmal nimmt das Präsens, ohne seine Struktureigenschaften aufzugeben, auch am Erzählen teil und zwar nicht nur in beschreibenden Einschüben. Für dieses Präsens gibt es in der Geschichte der erzählenden Literatur eine lange Tradition seit der Antike. Man nennt es das historische Präsens (auch: »dramatisches« oder »szenisches« Präsens). Dabei wird von der größeren Handlungsnähe des besprechenden Tempus Gebrauch gemacht mit dem Ziel, einer Erzählung ein größeres Maß an Unmittelbarkeit, Lebhaftigkeit und Spannung zu verleihen.31
Weinrich verwendet zur Demonstration der »Tempusmetapher« des historischen Präsens eine Textstelle aus Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts: Als ich die Augen aufschlug, stand der Wagen unter hohen Lindenbäumen, hinter denen eine breite Treppe zwischen Säulen in ein prächtiges Schloß führte. Seitwärts durch die Bäume sah ich die Türme von W. Die Damen waren, wie es schien, längst ausgestiegen, die Pferde abgespannt. Ich erschrak sehr, da ich auf einmal so allein saß, und sprang geschwind in das Schloß hinein, da hörte ich von oben aus dem Fenster lachen. In diesem Schlosse ging es mir wunderlich. Zuerst, wie ich mich in der weiten, kühlen Vorhalle umschaue, klopft mir jemand mit dem Stocke auf die Schulter. Ich kehre mich schnell herum, da steht ein großer Herr in Staatskleidern, ein breites Bandelier von Gold und Seide bis an die Hüften übergehängt, mit einem oben versilberten Stabe in der Hand und einer außerordentlichen langen, gebognen, kurfürstlichen Nase im Gesicht, breit und prächtig wie ein aufgeblasener Puter, der mich frägt, was ich hier will. Ich war ganz verblüfft und konnte vor Schreck und Erstaunen nichts hervorbringen. Darauf kamen mehrere Bedienten die Treppe herauf und herunter gerennt, die sagten gar nichts, sondern sahen mich nur von oben bis unten an. Sodann kam eine Kammerjungfer (wie ich nachher hörte) grade auf mich los und sagte: ich wäre ein charmanter Junge und die gnädige Herrschaft ließe mich fragen, ob ich hier als Gärtnerbursche dienen wollte?32
Nach Weinrich haben die Präsensformen die Aufgabe, die Geltung des Erzählten zu beglaubigen und dem Leser »für einen Moment der Erzählung den Eindruck der unmittelbaren Handlungswelt« zu suggerieren33. In Bezug auf die Textstelle aus dem Taugenichts verweist er auf deren Funktion, die unverhoffte Begegnung 31 Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, Olms Verlag, Hildesheim 20032, S. 217. 32 Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts, Verlag Philipp Reclam Jun., Stuttgart 1978, 5f. 33 Vgl. Weinrich, Textgrammatik, S. 218f.
Tempus als informationstheoretisches »Register«: Harald Weinrich
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des Erzählers mit dem »großen Herrn« zu kennzeichnen, der »Ereignischarakter« der Begegnung wird dabei durch »schnell«, »da«, »hier« als »Signale der Unmittelbarkeit«34, so Weinrich, unterstützt. Das Tempuskapitel der Textgrammatik stellt die verkürzte und in einigen Details vereinfachte Fassung von Weinrichs These der unterschiedlichen »Sprechhaltungen« dar, die er zuerst in Tempus – Besprochene und erzählte Welt dargelegt hat. Die Sprechhaltungen werden auch als »Tempus-Register« bezeichnet und ihnen werden die einzelnen Tempora zugeordnet, sodaß ein binäres System mit zwei prinzipiellen Bezugsweisen entsteht: dem Besprechen und dem Erzählen. Ersteres soll dabei dem Rezipienten vermitteln, daß er »die geäußerte Prädikation ernst nehmen und sich darauf einstellen [soll], daß sie auch für ihn gilt, wenn er nicht, nötigenfalls durch Unterbrechung des Textflusses, Einspruch gegen sie erhebt, um damit die erklärte Argumentationsbereitschaft des Sprechers abzurufen«35. Die dem »Besprechen« zugeordneten Tempora gleichen somit »Instruktionen«, die dem Hörer eine »gespannte Rezeptionshaltung« nahelegen36. Wenn also in der zitierten Definition aus dem entsprechenden Kapitel der Textgrammatik der deutschen Sprache von den »Struktureigenschaften« des Präsens die Rede ist, bezieht sich dies auf die für Weinrich feststehende Zuordnung des Präsens zum Register des Besprechens. An diesen wie einigen anderen Begriffen möchte ich das Weinrichsche Tempus-System in seinen Grundlagen darstellen. Dazu ist es notwendig, dessen zentrale Annahme des Nichtvergangenheitsbezugs vor allem des Präteritums kurz zu beleuchten. An der Wahl der Termini ist die informationstheoretische Ausrichtung der These Weinrichs ablesbar. Weinrich spricht also den Tempora in der Erzählung die deiktische Referenzfunktion ab und ordnet die Tempora in zwei »Tempusgruppen« mit jeweils einem Haupttempus: das Präteritum fungiert als »Leittempus« im Register der »erzählten Welt«, innerhalb derer das Plusquamperfekt das zusätzliche Perspektiven-Merkmal der »Rückschau« trägt, in der Information »nachgeholt« wird, das Präsens ist das Leittempus der »besprochenen Welt«, mit dem Perfekt als Element der Rückschau37. In entsprechender Weise dienen Futur und Konditional als jene Formen, die innerhalb der jeweiligen Gruppe der »Vorausschau« dienen und somit Information vorwegnehmen38. Nach Weinrich findet sich dieses System in allen europäischen Sprachen realisiert, er arbeitet es dementsprechend an französischen, englischen, italienischen, spanischen, lateinischen und deutschen Textbeispielen heraus. 34 35 36 37
Vgl. ebda., S. 218. Vgl. ebda., S. 199. Vgl. ebda., S. 198. Zum Folgenden vgl. Weinrich, Tempus, 2001, Kap. I.5., S. 29–33, Kap. II.2., S. 47–53, und Kap. III. Sprechperspektive, S. 73–171, besonders III.3. Das Perfekt im Deutschen, S. 82–88. 38 Vgl. ebda., S. 75ff.
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Tempus und Tradition
Als Grund- oder Ausgangstext seiner Untersuchung verwendet Weinrich dabei einen Ausschnitt aus einem deutschen Erzähltext (im Anhang wiedergegeben). Er untersucht die Anfangspassage (die ersten 5 Absätze) von Thomas Manns Essay »Goethes Laufbahn als Schriftsteller« unter dem Blickwinkel ihrer Distribution der Tempora. Die hier vorgefundene Dominanz des Präteritums bzw. des Präsens in den einzelnen Textteilen spiegelt sich nach Weinrich »in der überwiegenden Mehrzahl der mündlichen oder schriftlichen Texte der deutschen Sprache«39. Er bezeichnet sie daher als Leittempora; dieses Modell der Tempus-Gruppen mit Leittempora wird als Grundmodell auch für die anderen untersuchten Texte angenommen. Eine Konsequenz dieser Beobachtung ist daher, daß dem herangezogenen Beispieltext die Rolle eines repräsentativen Modells zukommt. Die Namen Thomas Mann und Goethe umreißen dabei insgesamt mit großer Eindeutigkeit das stilistische Modell, dem Weinrich in seiner Untersuchung und Auswahl der deutschen Textbeispiele folgt. Vor allem die erzählerische Entkoppelung des Präteritums vom tatsächlichen Zeitbezug, wie sie Mann im Vorsatz des Zauberberg formuliert, dient Weinrich darüberhinaus als Vorbild seiner Fassung des Erzähl-Begriffs. Dem – lesenswerten – Kommentar zu den Mannschen Reflexionen40 in Tempus steht dabei jedoch eine von Auflage zu Auflage zunehmende Tilgung anderer Quellen des nicht-deiktischen Bezugscharakters der Tempora im Erzählen gegenüber. Dies verwischt die Spuren der Beobachtungen zur Funktionsveränderung der Tempora im fiktionalen Kontext vor Weinrichs Standardwerk41. Noch in der dritten Auflage42 gibt Weinrich dagegen neben Käte Hamburgers Ausführungen zum »epischen Präteritum« vor allem die französischen Bezugspunkte seiner These an. Wenn auch mehr im Vorübergehen erwähnt, werden Michel Butor, Jean Pouillons Temps et Roman von 1946 und Roland Barthes genannt. Aus Am Nullpunkt der Literatur zitiert Weinrich folgenden Ausschnitt aus Barthes’ Beschreibung des Pass8 simple, die ihrerseits von der Vergangenheitsaussage der Erzähltempora absieht und deren Funktion anders definiert: Es [das Pass8 simple, I.R.] ist nicht mehr beauftragt, eine Zeit auszudrücken. Seine Aufgabe ist, die Wirklichkeit auf einen Punkt zurückzuführen und aus der Vielfalt der gelebten und übereinandergelagerten Zeiten einen puren verbalen Akt zu abstrahieren, der von den existentiellen Wurzeln der Erfahrung befreit und auf die logische Verbindung mit anderen Akten, anderen Prozessen, mit einer allgemeinen Bewegung der Welt hin orientiert ist. […] Es setzt eine konstruierte, durchgearbeitete, losgelöste, auf
39 Ebda., S. 30. 40 Vgl. ebda., S. 35ff. 41 Wie in der Einleitung erwähnt, wurde Am Nullpunkt der Literatur schon 1959 ins Deutsche übersetzt. 42 Erschienen unter dem gleichen Titel bei W. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1977.
Tempus als informationstheoretisches »Register«: Harald Weinrich
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bedeutungsvolle Linien reduzierte Welt voraus, nicht aber eine geworfene, ausgebreitete, dargebotene Welt.43
Von Michel Butor übernimmt Weinrich eine andere Charakterisierung, Butor bezeichnet das Pass8 simple als einen »mythischen Aorist«44. Dazu Weinrich: Unabhängig also von der Frage, ob das Pass8 simple der französischen Sprache eine Zeitform ist (Butor) oder nicht (Barthes), bestätigen beide Beobachter, daß dieses Tempus sehr scharf von unserer alltäglichen Welt getrennt und zum Mythischen hin verschoben ist.45
In der neuesten Auflage von Tempus (2001) finden sich diese Hinweise nicht mehr. Die Bezugnahme auf Hamburger schließlich wird zwar bei Weinrich etwas tiefgehender formuliert (und ist auch Teil der aktuellen Ausgabe), auch ihre Arbeit wird aber als eine Art Vorstufe zu Weinrichs These präsentiert und in ihren Aussagen als nicht konsequent genug bezeichnet46. Nicht nur das »epische Präteritum«, sondern »die Tempora haben insgesamt Signalfunktionen, die sich als Informationen über Zeit nicht adäquat beschreiben lassen«47, so Weinrich in Abgrenzung von Hamburger. Dieser zugrundeliegende Ansatz ist auch in der neueren Linguistik wiederaufgenommen worden, innerhalb der Argumentation Weinrichs zeigt er sich dennoch weiter als kritischer Punkt. Indirekt fußt nämlich seine Beschreibung der Konnotationen der »besprechenden Tempora«, im besonderen des Präsens, aber auch des Perfekts, sehr stark auf der Komponente der Aktualität, des Signalisierens einer im Bühlerschen Sinn aktuellen Wir-hier-jetzt-Kommunikation, die in den Erzählkontext hineingetragen wird. Auf diese Weise wird dem Zeitbezug der Tempora, den Weinrich in der Grundthese so stark dementiert und den nicht weit genug aufgefaßt zu haben er Hamburger unterstellt48, im Terminus des Besprechens letztlich wieder Platz gegeben, da dieser vor allem als Simulation einer reell Bezug nehmenden Gesprächssituation entworfen wird, wie ich gleich noch zeigen möchte. Zum Begriff der »Tempus-Distribution« kommt Weinrich also vor allem über die Methode der Einteilung des genannten Texts in Unter-Abschnitte, die bestimmten Erzähler-Absichten entsprechen. Weinrich teilt den Text in zwei Hälften:
43 Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, S. 38. Bei Weinrich findet sich die Stelle im französischen Original zitiert in der in Anm. 42 genannten Tempus-Ausgabe von 1977, S. 25f. 44 Vgl. Tempus, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1977, S. 26: »C’est un pass8 trHs fortement coup8 de l’aujourd’hui, mais qui ne s’8loigne plus, c’est un aoriste mythique.« 45 Ebda., S. 26. 46 Vgl. Tempus, München 2001, S. 38ff. 47 Vgl. ebda., S. 39. 48 Vgl. ebda., S. 38f.
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Tempus und Tradition
Der vorgelegte Text von Thomas Mann kann die vorgeschlagene Hypothese motivieren. Als Ganzes genommen läßt er […] keine eindeutige Dominanz der einen oder der anderen Tempus-Gruppe erkennen. Zur Tempus-Gruppe I im Sinne der vorgeschlagenen Hypothese sind von den 76 Tempus-Formen 34 Formen zu rechnen; die verbleibenden 42 Formen sind der Tempus-Gruppe II zuzurechnen. Das Verhältnis 34:42 genügt jedoch nicht als Ausdruck einer eindeutigen Dominanz. Hier erlaubt und verlangt die Hypothese weitere Überlegungen. Der Text wird beispielsweise, wie oben praktiziert, in zwei Hälften geteilt, und dann ergibt sich sogleich für beide Hälften eine eindeutige Dominanz, und zwar im reziproken Sinne. In der ersten Hälfte dominieren die Tempora der Tempus-Gruppe II. Von insgesamt 46 Tempus-Formen gehören 40 Tempus-Formen dieser Gruppe an. In der zweiten Texthälfte dominieren hingegen die Tempora der Tempus-Gruppe I. Von insgesamt 29 Tempus-Formen sind 28 dieser Gruppe zuzurechnen.49
Weinrich räumt ein, daß es freilich eine schlechte Methode wäre, den Text so lange durch Schnitte zu manipulieren, bis die einzelnen Textteile eindeutige Dominanzen aufwiesen. Dennoch kann man sich des Eindrucks schwer erwehren, daß es genau das ist, was im Folgenden geschieht. Denn zur Begründung seiner Methode des Textschnittes beruft sich Weinrich auf die Notwendigkeit, inhaltliche Textsignale zu berücksichtigen, um die Distribution der Tempora damit zu erklären. Ein Schnitt sei nur dann zu rechtfertigen, so Weinrich, wenn er nicht nur in den »Frequenzwerten« der Tempus-Formen, sondern auch »in der inhaltlichen Konsistenz der Texte« zu begründen sei50. Weinrich greift hier somit auf ein traditionelles literaturwissenschaftliches Analysemoment zurück: An dieser Stelle also verlassen wir bewußt die bloß formale Methode und berücksichtigen Inhaltskriterien des in Frage stehenden Textes. Thomas Mann spricht nämlich im ersten und zweiten Teil dieses Textstückes von Goethe in durchaus verschiedener Weise. Im ersten Textabschnitt berichtet er von Goethes Sterben. Es handelt sich nach unserem literarischen Gattungsverständnis um eine Erzählung; sie ist – mit nichtobstinaten Zeichen – nach dem Zeitpunkt (22. März 1832, Frühling) und nach der Örtlichkeit (Lehnstuhl, Deckbett) fixiert und erzählt nach den Regeln einer säkularen Erzähltradition das Sterben Goethes zunächst als singuläres Ereignis, dann als (typisches) Ende eines Dichterlebens. Danach, an eben der Stelle unseres Schnittes, markiert auch Thomas Mann selber einen deutlichen Einschnitt in seinem Text. Er redet sein Publikum an (»Meine Damen und Herren«), und er generalisiert nun seine Betrachtungen in Hinsicht auf die Frage nach dem »Ineinander von Geist und Form« im Schriftsteller. Es ist auch weiterhin von Goethe die Rede, aber es wird nun nicht mehr sein Leben oder Sterben erzählt, sondern die Eigenart seines Schriftstellertums charakterisiert und erörtert. Wir wollen sagen, daß nun, nachdem die Erzählung abge-
49 Ebda., S. 31. 50 Vgl. ebda.
Tempus als informationstheoretisches »Register«: Harald Weinrich
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brochen ist, Goethes Schriftstellernatur und die Bedingungen schriftstellerischer Existenz überhaupt besprochen werden.51
Weinrich verweist auf unterstützende Elemente vor allem im »semantischen Vokabular« der Textteile, die ebenso auf die jeweilige Sprecherabsicht hindeuten: »Eine Wortmenge mit Wörtern wie Lehnstuhl, Oberbett, Arbeitsschirm, Buchstaben, Anämie usw. ist erkennbar unterschieden von einer Wortmenge mit Wörtern wie Persönlichkeit, Schöpfertum, Naivität, Kritik, Sein usw. Aber diese Unterschiede sind, wie alle Unterschiede der Semantik, verhältnismäßig schwer faßbar. Es besteht nämlich keine eindeutige Korrelation zwischen Konkretem und Erzählbarem einerseits, zwischen Abstraktem und zu Besprechendem andererseits. Konkretes kann besprochen, und Abstraktes kann erzählt werden […]. So sind also die Unterschiede im Tempus-Gebrauch als nicht semantische, sondern syntaktische Unterschiede sehr viel besser methodisch faßbar und abgrenzbar.«52 Weinrich bezeichnet im Weiteren solche Texte, in denen »besprechende Tempora eindeutig dominieren«, als »besprechende Texte« und analog dazu solche Texte als »erzählende Texte«, in denen eine eindeutige Dominanz der »erzählenden Tempora« vorliegt53. Eine weitere Unterscheidung erfolgt nicht. Ich halte Weinrichs Argumentation in diesen Punkten für zirkelartig. Weinrichs Ansatz, Tempusformen im Text als obstinate Zeichen zu sehen, die eine Sprecherabsicht oder Sprechhaltung zum Ausdruck bringen und diese verstärken oder abschwächen können, ist m. E. deswegen als Ausgangspunkt relevant, da er auf die Beschreibung jener Funktionen hinzielt, die Tempora im Text über ihre grammatikalische Bedeutung hinaus leisten können. Die Beschreibung jedoch dort enden zu lassen, wo ein von außen an den Text herangetragenes Kriterium die Begründung für diese Leistung liefern muß – daß Manns Text ungefähr in der Mitte seine Sprecherabsicht ändert und sich von der Schilderung von Goethes Ende (»Goethe starb schreibend.«) mit dem Fazit »Ein Schriftsteller.« seinem Publikum zuwendet, ist auch ohne Theorie zur Funktion der Tempusformen unschwer zu erkennen – halte ich für einen Ausweg, der Ursache mit Wirkung zu erklären versucht. Die Qualität von Manns Text damit zu beschreiben, daß sich seine Sprecherabsicht am Einsatz von erzählenden und besprechenden Tempora zeigt, wäre dann erhellend, wenn die Definition dieser Termini darüber hinausginge, zu konstatieren, daß die einen in »besprechenden« und die anderen in »erzählenden« Texten dominieren. Dies ist gar nicht ironisch gemeint, sondern ich halte es für eine vergebene Chance des Weinrichschen Ansatzes, dessen 51 Ebda., S. 31f. 52 Ebda., S. 32. 53 Vgl. ebda.
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Grundbegrifflichkeit nicht weiter als bis zur zitierten Einteilung von »Erzählung« resp. »besprochen« zu definieren. Darüberhinaus ist in Bezug auf den von Weinrich als Grundtext herangezogenen Essaybeginn von Thomas Mann auch zu vermerken, daß die Operation mit den Begriffen »Besprechen« und »Erzählung« zwar keineswegs unzutreffend ist, daß aber die Textschnitte gerade, wenn man mit diesen Begriffen operiert, auch ganz anders angesetzt werden können. Gerade im Sinne Weinrichs erzählend (als Verhalten zur Welt) ist dann vor allem der erste Absatz und schon der zweite kann als ganz und gar besprechend gesehen werden, denn Mann nimmt in diesem Teil etliche Urteile aus seiner Perspektive als Schriftsteller vor, die ganze Passage spricht von Manns persönlicher Sicht auf Goethes Tun: Goethe starb schreibend. Er tat in letzten, verschwimmenden Träumen seines Bewußtseins, was er mit eigener Hand, in seiner schönen, klaren, reinlichen Schrift, oder diktierend sein Leben lang getan hatte: er schrieb auf, er übte diese Tätigkeit, die das Feste zu Geist zerrinnen läßt und das Geisterzeugte fest bewahrt; er bannte letztes Gedanken- und Erfahrungsleben, das ihm vielleicht als endgültige und höchst mitteilenswerte Erkenntnis erschien, obgleich es wohl nur das Produkt hinüberträumender Schwäche war, in die Runen der Schrift; er suchte bis zum Ende den Gehalt seines Busens in die formende Sphäre seines Geistes zu erheben. Er war ein Schriftsteller […].54
Zweifelsohne hat die Passage einen erzählerischen Grundton und erzählerische Gestalt, so wie nach dem von Weinrich angesetzten Schnitt in der Textmitte der Ton der Reflexion und des Erörterns sich noch eindeutig mit der Wendung ans Publikum verstärkt. Dennoch muß man keineswegs mit Weinrich konform gehen, daß deswegen sein Textschnitt, der mit dem Wechsel der Tempora den Wechsel der Sprechereinstellung gegeben sieht, auch wirklich plausibel ist, und zwar, wie gesagt, gerade dann, wenn man Begriffe wie »Erzählen« und »Besprechen« als textlinguistische Termini einführt. Genauso diskutierbar ist schließlich meine Argumentation in Bezug auf die genannten Textstellen; genau das ist aber m. E. als symptomatisch zu werten. Es kommt mir also darauf an zu zeigen, daß gerade Weinrichs Grundeinteilung der Tempus-Register aus einem Textbeispiel gezogen wird, dessen Beschreibung auf keineswegs intersubjektiv nachvollziehbaren Kategorien basiert. Wenn Weinrich das Feld interpretativer Textschnitte eröffnet, ohne diese an einem umfassenden Vergleichskorpus zu erproben, wird seine Festlegung von Tempusbedeutungen widersprüchlich, weil sie einem ad-hoc-Befund Modellcharakter zuspricht. Dem ist schließlich noch die Definition hinzuzufügen, die Weinrich seiner dominanzbasierten Darlegung der besprechenden und erzählenden Tempora als Fazit folgen läßt. Mit einem Hinweis auf die Konstitution von Texten als »kon54 Zit. nach ebda., S. 26.
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kurrierende Leistung mehrerer Zeichen und Zeichengruppen«55 schließt Weinrich seine Einteilung der Tempus-Gruppen ab und begründet seine Titelwahl: Sofern nun die besprechenden ebenso wie die erzählenden Tempora nicht nur mit den spezifischen Gegenständen dieses Essays von Thomas Mann verbunden werden können, sondern mit »allem möglichen«, führe ich für dieses semantische x aller möglichen Kommunikationsgegenstände die Chiffre »Welt« ein. Diese Chiffre hat keinerlei ontologische Bedeutung, sondern bezeichnet ausschließlich den Inbegriff alles dessen, was Gegenstand einer Kommunikation werden kann. In diesem Sinne nenne ich die besprechenden Tempora auch Tempora der besprochenen Welt, die erzählenden Tempora auch Tempora der erzählten Welt.56
II. 2. Besprechen versus Erzählen Das m. E. wesentlichste Problem an Weinrichs These ist somit die zu geringe Definition der eingeführten Begriffe, im besonderen dem des Besprechens, und eine damit verbundene Textsortenunterteilung, die auf die allgemeine und tatsächlich literaturenübergreifende Veränderung der »Schreibweise«, wie es bei Barthes heißt, letztlich keine Rücksicht nimmt: Als repräsentativ für die Tempus-Gruppe der besprochenen Welt mögen etwa gelten: der dramatische Dialog, das Memorandum eines Politikers, der Leitartikel, das Testament, das wissenschaftliche Referat, der philosophische Essay, der juristische Kommentar und die Formen ritueller, formalisierter und performativer Rede. In Äußerungen dieser Art ist der Sprecher gespannt und seine Rede geschärft, weil es für ihn um Dinge geht, die ihn unmittelbar betreffen und die daher auch der Hörer im Modus der Betroffenheit aufnehmen soll. Sprecher und Hörer sind engagiert; sie haben zu agieren und zu reagieren, und die Rede ist ein Stück Handlung, das die Situation beider um ein Stück verändert, sie beide daher auch um ein Stück verpflichtet. Daher ist nichterzählende Rede prinzipiell gefährlich; Nathan der Weise ist sich dessen bewußt, wenn er vor einer gefährlichen Frage (»Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet?«) in das prinzipiell ungefährliche »Geschichtchen« der RingParabel ausweicht (Nathan III, 5ff.). Er weicht dem Tua res agitur aus, das die besprechenden Tempora in Texten dieser Art dem Hörer signalisieren.57
Im Grunde stellt also die Nichtvergangenheitsaussage des Präteritums im Erzählkontext auch in Weinrichs These den zentralen Punkt dar, was sich letztlich aus seiner ästhetischen Bevorzugung des »klassischen« Erzählens in Thomas Manns Romanen ergibt. Abzulesen ist dies etwa an der Zurückweisung von 55 Vgl. ebda., S. 32. 56 Ebda., S. 33. 57 Ebda., S. 50.
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Werfels Lied von Bernadette, das Weinrich nicht nur, aber in erster Linie aufgrund der durchgehenden Verwendung des Präsens als Haupterzähltempus als ästhetisch mißlungen sieht58. Thomas Manns Einsatz des Präsens als Erzähltempus in Erzählungen, wie in Unordnung und frühes Leid, wird dagegen nicht thematisiert. (In ähnlicher Weise wird ein anderes gängiges Konzept sozusagen über die Hintertür wieder zugelassen, wenn in der Beschreibung der lateinischen Zeitenverwendung das Praesens historicum ohne weiteren Kommentar als »Stilisticum« und als daher in der Diskussion des Tempus-Systems als vernachlässigbar bezeichnet wird59.) Der modernen Präsensverwendung in der deutschen Literatur wendet sich Weinrich mithin nur in sehr spezifischen Ausschnitten zu, was seiner als umfassend geltend wollenden Theorie stark anzukreiden ist. Gerade den Mitteln von Manns Zauberberg wird diese Haltung nämlich nur teilweise gerecht. Weinrichs Darstellung der »Zeitabgewandtheit« des Zauberbergs beschreibt anschaulich die Spaltung in das äußere, »offizielle« Zeitempfinden und die Mechanismen der inneren, »psychischen« Zeit, die im Roman thematisiert werden. Es ist eine großzügigere Zeitwirtschaft, deren kleinste Einheit der Monat ist und die einem »Getändel mit der Ewigkeit« nahekommt, die andererseits aber die Sekunden des täglichen Fiebermessens aufs äußerste spannt und zerdehnt. Die vertrauten Gegenstände der Zeitmessung versagen hier […]. Was zählt, ist der Wert auf der »GaffkySkala«, der die Genesungschance ausdrückt, und die Gradangabe auf dem […] Ther58 Vgl. ebda., S. 112f. Weinrich stellt Werfels Verwendung des Präsens in den Zusammenhang der Wahrheitsbeteuerung im Vorwort des Romans. Weinrichs Erklärung seiner Ablehnung ist dabei ein gutes Beispiel für seine Argumentationsweise, die in vielen Fällen von einleuchtenden Interpretationsansätzen ausgeht, dann aber unversehens in seine sehr persönliche Tempus-Logik mündet, die Vorlieben und Abneigungen kaum verleugnet: »Um der Wahrheit der Geschichte willen also schreckt Werfel vor den Erzähltempora zurück. Wir dürfen die ständige Verwendung der besprechenden Tempora daher wohl als eine besondere und besonders kostspielige Form der Wahrheitsbeteuerung nehmen. Das führt zu einer problematischen Einebnung des erzählerischen Reliefs und wird als schriftstellerische Methode am besten durch Werfel selber widerlegt, der im persönlichen Vorwort, da wo er vor allem seine Wahrheit erzählt, die Tempora der erzählten Welt verwendet, ohne daß dadurch der kleinste Schatten des Zweifels auf die historische Wahrheit fällt. Die Tempora sind untauglich als Wahrheitssignal.« Ebda., S. 113. Indem Weinrich von einer »problematischen Einebnung des erzählerischen Reliefs« spricht, gibt er indirekt Auskunft über seine normierende Sicht auf den Tempuswechsel, der, wenn er die klassische Opposition von (dominantem) Präteritum und (eingeschobenem) Präsens wie im Fall von Werfel mehr oder weniger einfach umdreht, für Weinrich sozusagen »unerzählerisch« wird. Auch dies zeigt sein starkes Kreisen um die zugrundegelegte Opposition Präsens = faktisch und Präteritum = fiktiv, in die hier die Argumentation mündet, was, wie in diesem Fall, den Eindruck des Zirkelschlusses (der Autor bedient sich der besprechenden Tempora, daher sind diese Tempora besprechend) erhöht. 59 Vgl. ebda., S. 284.
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mometer ohne Eichstriche – subtiles Symbol einer Menschenzeit, der keine Zeiteinheiten mehr unterlegt sind. Sie ist gegenüber einer gedachten Normalzeit weder einfach gelängt noch gekürzt, sondern in paradoxer Weise zugleich »auf eine langweilige Weise kurzweilig oder auf eine kurzweilige Weise langweilig«. Sie ist nämlich nicht quantitativ, sondern qualitativ verschieden von der Zeit des Flachlands, der Zeit der Gesunden und Tätigen. Denn die Krankenwelt des Sanatoriums ist eine »geschlossene Welt« von einspinnender Kraft, ein »Lebensersatz«, scharf geschieden vom wirklichen aktiven Leben, das sonst in der Welt herrscht.60
Weinrich setzt die Zeiterfahrungen Hans Castorps analog zu jenen des Erzählers, der »den »Helden« in diese Erfahrungswelt hineinbegleitet« und an und mit ihm die Doppelung der Zeiterfahrung bzw. die verwirrende Dimension ihrer Dehnungen und Raffungen nachvollzieht: Beide, der Erzähler und der Held, befinden sich außerhalb der nach den Bedürfnissen der Arbeitswelt abgeteilten Normalzeit und bewegen sich in einer hermetischen Zeitordnung, wie sie eine geschlossene Welt hervorgebracht hat: die geschlossene Krankenwelt des Zauberbergs für Hans Castorp und die geschlossene Buchwelt des Zauberbergs (der Erzählung) für den Erzähler des Romans. Thomas Mann läßt nun keinen Zweifel daran, daß beide Zeiterfahrungen Ausdruck einer existentiellen Steigerung und genialischen Luzidität sind, wie sie den Künstler vom Bürger unterscheiden. Nicht nur der Kranke ist als Kranker (durch das »geniale Prinzip der Krankheit«), sondern auch der Erzähler ist als Erzähler (als der »raunende Beschwörer des Imperfekts«) von einer anderen Welt und bewegt sich in einer anderen Zeit.61
Weinrich beruft sich in der Folge auf Thomas Manns Überzeugung, daß das Imperfekt »die für eine Erzählung richtige Tempus-Form ist«, so Weinrichs Ausdruck62. Manns bekannte Formel des Imperfekts als Zeitform der »tiefsten Vergangenheit« im Vorsatz des Zauberberg deutet Weinrich schließlich in zweierlei Hinsicht. Zum einen interpretiert er sie, wie im Vorsatz selbst angedeutet, als Metapher, die die große Zäsur des Krieges umschließt und damit die nunmehr »andere Qualität des Weltverständnisses, die nur mehr der Erzählung zugänglich ist«, bezeichnet. Zum anderen legt Weinrich Manns Formel aber auch in recht konkretem Sinn als ästhetisches Programm aus, was seiner Argumentation jedoch mehr implizit zu entnehmen ist und sich in einigen Formulierungen wie jener der »richtigen« Tempusform verrät. Die Schlußfolgerung verbleibt hier jedenfalls im eher vage Didaktischen: »Thomas Mann wußte eben als großer Erzähler aus der täglichen Erfahrung des Schreibens, daß Erzählen eine besondere Form des Sprechens ist und daß dies etwas mit den Tempora der Sprache zu tun hat.«63 Weinrich verweist weiters auf Günther Müller und auf 60 61 62 63
Ebda., S. 35f. Ebda., S. 36f. Vgl. ebda., S. 37. Ebda.
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Käte Hamburgers These des Nicht-Vergangenheitsbezugs des Präteritums im erzählerischen Kontext und kommt schließlich zum eingangs zitierten Fazit der Signalfunktionen der Tempora, die sich als »Informationen über Zeit nicht adäquat beschreiben lassen«: Das Präteritum ist insbesondere ein Tempus der erzählten Welt und trägt dem Hörer in dieser Klasseneigenschaft Informationen über die angemessene Sprechhaltung zu. In diesem Sinne signalisiert es die Erzählsituation schlechthin. Dabei kann allerdings a priori weder ein Unterschied zwischen mündlichem und schriftlichem Ausdruck noch ein Unterschied zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten, noch schließlich ein Unterschied zwischen Literatur und Dichtung [wie bei Käte Hamburger, I.R.] als relevant zugelassen werden.64
Weinrich kehrt also anhand der eindeutigen Dominanz des Erzähltempus Präteritum im Zauberberg zurück zu seiner Definition desselben als Signal der »Erzählung schlechthin« und legt damit die Rolle des Präteritums weiter fest. Man kann Weinrichs These zur Funktion der Erzähltempora auch insgesamt als Versuch sehen, den »Vorsatz« des Zauberberg mit seiner Betonung der »Zeitlosigkeit« des Imperfekts durch eine linguistische, besser : kommunikationstheoretische These zu stützen. Weinrich entzieht gewissermaßen allen Erzähltempora die deiktische Funktion, um Manns Bevorzugung des Präteritums im Sinne eines größeren Erzählideals zu verteidigen. Jene Qualität, die Weinrich an Manns Vorliebe für das Präteritum als Erzähltempus herausstreichen möchte, so interpretiere ich Weinrichs Vorliebe, ist im besonderen die performative Kraft, die dem »epischen Präteritum«, wie es Hamburger (treffender) nennt, qua Konventionsbildung zukommt. »Das ›Er‹ ist eine typische Konvention des Romans.« heißt es bei Barthes: »Wie durch die Erzählvergangenheit wird durch die dritte Person das Faktum Roman verwirklicht und gleichzeitig signalisiert; ohne dritte Person gibt es keine Möglichkeit, zum Roman zu gelangen, oder wir haben es mit der Absicht zu tun, ihn zu zerstören.«65 – Weinrich verteidigt an Manns »raunende[m] Beschwörer des Imperfekts« in erster Linie eine bestimmte Konvention und vor allem wohl auch dessen Qualität des Erzählens. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Zauberberg ähnlich programmatisch am Präteritum festhält wie Weinrich. Es scheint im Gegenteil gerade eine andere Konvention, die das Zeitempfinden Hans Castorps und des Erzählers ebenso anschaulich vermittelt, wie das Präteritum als kanonisches Erzähltempus das Rückgrat des »Zeitromans« bildet und den Einstieg ins fiktionelle Universum erleichtert, wie Weinrich mit seinen Überlegungen zum »Erzählen« herausstreicht. Dies verdient also insofern weitere Differenzierung, als gerade im Zauberberg eine von Weinrich nicht thematisierte auffallende Zuordnung zu 64 Ebda., S. 39f. 65 Barthes, Nullpunkt, S. 43.
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beobachten ist: die Verwendung des historischen Präsens korreliert über weite Strecken mit den aufwühlenden Begegnungen, die Hans Castorp mit Clawdia Chauchat hat. Passagen im szenischen Präsens sind tatsächlich rar im Zauberberg, auf diese Weise werden jedoch die Momente gegenseitiger Aufmerksamkeit zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat so herausgehoben, daß sie im System der Zeitdehnung, das Weinrich anspricht, einen wichtigen Stellenwert erhalten: Es kam zu folgendem. In einer Eßpause wandte Frau Chauchat sich nachlässig um und musterte den Saal. Hans Castorp war auf dem Posten gewesen: ihre Blicke trafen sich. Indes sie einander ansahen – die Kranke unbestimmt spähend und spöttisch, Hans Castorp mit erregter Festigkeit (er biß sogar die Zähne zusammen, während er ihren Augen standhielt), – will ihr die Serviette entfallen, ist im Begriffe, ihr vom Schoße zu Boden zu gleiten. Nervös zusammenzuckend greift sie danach, aber auch ihm fährt es in die Glieder, es reißt ihn halbwegs vom Stuhle empor, und blindlings will er über acht Meter Raum hinweg und um einen zwischenstehenden Tisch herum ihr zu Hilfe stürzen, als würde es eine Katastrophe bedeuten, wenn die Serviette den Boden erreichte … Knapp über dem Estrich wird sie ihrer noch habhaft. Aber aus ihrer gebückten Haltung, überquer zu Boden geneigt, die Serviette am Zipfel und mit verfinsterter Miene, offenbar ärgerlich über die unvernünftige kleine Panik, der sie unterlegen, und an der sie ihm, wie es scheint, die Schuld gibt, – blickt sie noch einmal nach ihm zurück, bemerkt seine Sprungstellung, seine emporgerissenen Brauen und wendet sich lächelnd ab. Über dies Vorkommnis triumphierte Hans Castorp bis zur Ausgelassenheit. Jedoch blieb der Rückschlag nicht aus […].66 Ein andermal fallen beim Abendessen die Strahlen der klar untergehenden Sonne auf den Guten Russentisch. Man hat die Vorhänge vor die Verandatüren und Fenster gezogen, aber irgendwo klafft da ein Spalt, und durch ihn findet der rote Schein kühl, aber blendend seinen Weg und trifft genau Frau Chauchats Kopf, so daß sie, im Gespräch mit dem konkaven Landsmann zu ihrer Rechten, sich mit der Hand dagegen schützen muß. Das ist eine Belästigung, aber keine schwere; niemand kümmert sich darum, die Betroffene selbst ist sich der Unbequemlichkeit wohl nicht einmal bewußt. Aber Hans Castorp sieht es über Saal hinweg, – auch er sieht es eine Weile mit an. Er überprüft die Sachlage, verfolgt den Weg des Strahles, stellt den Ort seines Einfalles fest. Es ist das Bogenfenster dort hinten rechts, in der Ecke zwischen der einen Verandatür und dem Schlechten Russentisch, weit von Frau Chauchats Platz entfernt und fast genau ebenso weit von dem Hans Castorps. Und er faßt seine Entschlüsse. Ohne ein Wort steht er auf, geht, seine Serviette in der Hand, schräg zwischen den Tischen hin durch den Saal, schlägt da hinten die cremefarbenen Vorhänge gut übereiander, überzeugt sich durch einen Blick über die Schulter, daß der Abendschein ausgesperrt und Frau Chauchat befreit ist – und begibt sich unter Aufbietung vielen Gleichmutes auf den Rückweg. Ein aufmerksamer junger Mann, der das Notwendige tut, da sonst niemand darauf verfällt, 66 Thomas Mann, Der Zauberberg, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1993, S. 197.
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es zu tun. Die wenigsten hatten auf sein Eingreifen geachtet, aber Frau Chauchat hatte die Erleichterung sofort gespürt und sich umgeblickt, – sie blieb in dieser Haltung, bis Hans Castorp seinen Platz wieder erreicht hatte und, sich setzend, zu ihr hinübersah, worauf sie mit freundlich erstauntem Lächeln dankte, das heißt: ihren Kopf mehr vorschob als neigte. Er quittierte mit einer Verbeugung. Sein Herz war unbeweglich, es schien überhaupt nicht zu schlagen. Erst später, als alles vorüber war, begann es zu hämmern […].67
Weinrichs Begriffsdichotomie des Erzählens und Besprechens ist am Zauberberg insofern gut zu demonstrieren, als der Roman als ganzes erklärtermaßen auf die Thematisierung der Qualität des fiktionellen Universums abzielt. Dies allein am Präteritum als Erzähltempus des Romans festzumachen, heißt jedoch, gerade jene Mittel auszuklammern, die zu dieser Thematisierung entscheidend beitragen, indem sie die entsprechende Reflexion des Erzählers enthüllen. So könnte gerade hier Weinrichs Termini ein gegenläufiger Sinn unterlegt werden, der die Passagen im Präsens genauso gut beschreibt. Denn der Charakter dieser Erzählstellen ist genauso »erzählend« im Sinne der Hineinversetzung in die Fiktion, ja in diesem Sinn im Grunde in viel höherem, intensiviertem Maße. Setzen wir »erzählend« mit fiktionsvermittelnd und -aufbauend, außerdem performativ, gleich, haben wir es hier mit besonders »erzählenden« Textstellen zu tun, die wie in Zeitlupe ablaufen und uns damit ein Gefühl für die verlangsamte, auf einen Punkt hin konzentrierte Wahrnehmung des Protagonisten vermitteln. Unter diesem Gesichtspunkt ist m. E. der Weinrichsche Begriff des »Besprechens« im Zusammenhang der Erzählung wenig aussagekräftig, zumindest schlecht gewählt, denn er mag zwar die Frage, welcher Art die Kommunikation des Erzählens ist, ins Spiel bringen, doch vermag er die mehrschichtige Intensivierung, die hier passiert, kaum zu fassen. Der Tempuswechsel ist vielmehr als Signalsprung im Sinne der in der Einleitung zitierten Hervorhebung durch Richard Schrodt zu analysieren. Der starke Einschnitt, den die Begegnung mit Clawdia Chauchat für Hans Castorp bedeutet, bewegt sich ja auf verschiedenen Ebenen, und die Tatsache, daß dies im Roman einen deutlich kalkulierten formalen Niederschlag findet, ist ja gerade im Sinne der Auslotung der Bedingungen fiktionaler Performanz von Bedeutung. Das historische Präsens als Moment einer Anbindung (der Figuren untereinander, vom Leser zu den Figuren) entfaltet so in bezug auf das Romanganze eine wichtige Dimension, es umfasst mehr, als Weinrichs Terminus des Besprechens, den er vordringlich als Terminus des »Nicht-Erzählens« aufbaut, beschreibt. Besonders die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Wahrnehmung des Helden, die in den Präsenspassagen des Zauberberg zum Ausdruck kommt, fügt sich in die Fremd- und Selbstbeobachtungsthematik, die der Roman so umfassend inszeniert, ein. Eine eminent 67 Ebda., S. 318f.
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wichtige Funktion des Tempuswechsels ist somit der Einblick in unterschiedliche Dimensionen einer Figur. Indem wir also Hans Castorp beim Schauen zuschauen, erhalten wir intime Informationen über sein Inneres, die Zeitlupe gilt gleichermaßen nach innen wie nach außen. Auch für den Leser treten so Hans und Clawdia in slow motion auf, mit Martin Hubers in der Einleitung genannter These könnte man sagen, der Text wird für sie zur Bühne. Dem Tempuswechsel in der Erzählung kommt somit unter anderen Funktionen die entscheidende Dimension zu, Signal für die Vielschichtigkeit der Figuren zu sein. Fehlt diese Dimension, wie in erzähltechnisch vernachlässigter Trivialliteratur zu beobachten, bleiben die Figuren auch in ihrer Charakterisierung flacher68. Ich möchte das auch noch kurz anhand eines Schlußbeispiels demonstrieren, denn ich halte diese Funktion des Tempusgebrauchs für eine der entscheidendsten im Erzählkontext. In Kafkas Verwendung des Präsens im Landarzt tritt diese Dimension (der slow motion in Verbindung mit dem Einblick in Tiefenschichten der Figur) ganz besonders deutlich hervor. Es sind die Konnotationen der beschränkten Sicht, die ihn mit dem eingangs genannten Hamsun verbinden und die in Kombination mit unheimlichen und nicht zu erklärenden Vorgängen darauf hinweisen, wie sehr dem Präsens ein bestimmter Raum offensteht, nämlich der des Ausdrucks psychischer Vorgänge. Die oftmals beschriebene Atmosphäre der klaustrophobischen Innenperspektive bei Kafka ist besonders im Landarzt untrennbar verbunden mit seinem Einsatz des Präsens, das hier nach einem »konventionellen« Erzählbeginn im Präteritum zum gleichberechtigen Erzähltempus wird. Diese Dimension von Tempusbedeutungen im Text ist auch in längeren sprachwissenschaftlichen Arbeiten nur selten Bestandteil der Funktionsbeschreibung des Präsens, nur verstreut finden sich Hinweise in dieser Richtung. Der Anglist Christian Paul Casparis hat in den 70er-Jahren eine Studie zur Präsensverwendung in der englischen Literatur verfaßt und zitiert zu Beginn seiner Untersuchung zwei Arbeiten, einen Beitrag von A. Graef zur Zeitschrift Anglia von 1889 über den Präsensgebrauch bei Chaucer und eine Dissertation 68 Ein aktuelles Beispiel für ein den Charakter verflachendes Tempus-Profil aufgrund zu konsequenter Tempusverwendung wäre Lilian Faschingers Stadt der Verlierer von 2007. Der Krimi enthüllt schrittweise den psychopathischen Charakter seiner Hauptfigur, eines jungen Mannes, der am Schluß einen Mord begeht. Dem immer tieferen Eintauchen in die Gedankenwelt der geschilderten Figur steht jedoch eine recht stereotype Darstellung seines vorurteilsbehafteteten und misogyn fixierten Denkens gegenüber ; ähnlich bleibt das Erzählprofil, was die Tempora betrifft, auch dann weitgehend konstant, wenn die Vorgeschichte der Figuren abgeschlossen ist und die Handlung auf das fiktive Jetzt der Figuren trifft (vgl. etwa Kap. 7 des Romans). An diesem neuralgischen Punkt kann man deutlich sehen, daß der Formenwechsel der obstinaten Zeichen der Tempora, wie sie Weinrich nennt, die Kraft hätte, der Figurenzeichnung eine größere Tief-, in diesem Fall Abgründigkeit zu verleihen, der sich positiv auf die handwerkliche Qualität des Ganzen der Erzählung auswirken würde.
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von Hans Roloff von 1921 zum historischen Präsens im Mittelenglischen (siehe Anm. 25), die auf diese Dimension hinweisen. Stellungnahmen dieser Art belegen die Beschäftigung mit den nicht-deiktischen Textfunktionen der Tempora lange vor Weinrich: Das praesens, dessen zeitbegrenzung fast ganz von dem belieben (der anschauung) des sprechenden abhängt, hat weit mehr, als das praeteritum, die fähigkeit, sich dem subjektiven bedürfniss des redenden anzupassen.69
Auch Hans Roloffs Funktionsbeschreibung des historischen Präsens betont dessen subjektive Qualitäten, seine Darstellung liest sich fast wie eine Beschreibung der rasanten Präsensverwendung im Landarzt: Das Tempus der Erzählung ist das Imperfekt. […] Der Erzähler selbst steht den Dingen möglichst kühl gegenüber und wird von ihnen nicht berührt. Wo aber das persönliche Interesse des Erzählers an dem Gegenstand seiner Darstellung erwacht, wo er von der Bedeutung seines Gegenstandes selbst ergriffen wird, da sieht er die Dinge gegenwärtig. So kommt er ganz von selbst dazu, im Präsens zu erzählen. Der Erzähler wird fortgerissen an bedeutsamen Punkten der Handlung, besonders wenn die Handlung in gesteigertem Tempo erfolgt, wo die Lebhaftigkeit der Tätigkeit seiner Helden den Erzähler mit hineinzieht in die Begebenheiten. Diese Darstellungsart findet sich in fast allen Sprachen in ihren volkstümlichen Bestandteilen. Ihre Entstehung geschieht unbewußt auf Grund der subjektiven Veranlagung des Erzählers.70
Das Präsens ist also das Tempus, das uns eine persönliche Anteilnahme des Erzählers an der Erzählung, am Geschehen stets kundtut bzw. am weitestgehenden nahelegt. Auch ein scheinbar distanzerter Erzähler, wie wir ihn in den Wahlverwandtschaften vor uns haben, weist sich auf diese Weise letztlich als persönlich involviert aus. Das Präsens dient daher ganz wesentlich der Verstärkung dieses Effekts, einerseits weil, wie Roloff sagt, ein allgemeines, besonders im mündlichen Erzählen zu beobachtendes Erzählverhalten angedeutet wird, andererseits weil innerhalb der Erzählung der Wechsel zum Präsens darauf hindeutet, daß hier ein Erzähler am Werk ist, der in die Gestaltung eingreift und auf diese Weise klar macht, daß es eine persönliche Anbindung in Form einer ordnenden Instanz gibt. Dieser Anbindung kann sich der Leser nicht mehr entziehen, das Präsens wird so zu einem Instrumentarium, das, anders als das Präteritum, die Achse Erzähler-Leser viel mehr ins Spiel bringt und zum Thema macht, als dies im einheitlichen Erzählen ohne Wechsel der Tempora der Fall ist. In dieser besonderen Nuance wiederum lassen sich daher Parallelen ziehen zwischen der 69 Zitiert nach Christian Paul Casparis, Tense Without Time – The Present Tense in Narration, A. Francke Verlag, Bern 1975 (= Schweizer Anglistische Arbeiten Swiss Studies in English Bd. 84), S. 18. 70 Hans Roloff, Das Praesens historicum im Mittelenglischen, Univ. Diss., Gießen 1921.
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Anwendung des Präsens in einer Ich-Erzählung wie dem Landarzt und jener in der Er-Erzählung. Auch in der Er-Erzählung gibt das Präsens seine Grundanbindung an das Persönliche nie ganz auf, sodaß selbst das auktoriale Erzählen von dieser Komponente beeinflußt wird, wenn Tempuswechsel vorliegen. Ein Beispiel, das die Möglichkeit der Einbringung einer ganz persönlichen Perspektive bzw. der Gedankenrede über den Tempuswechsel, und nur über diesen, sehr klar veranschaulicht, ist eine kurze Textpassage aus Max Frischs Homo faber. Es geht hier nicht um eine Präsensverwendung, sondern um den Einsatz des Perfekts, doch demonstriert diese Stelle deutlich, wie viel ein unvermittelter Tempuswechsel transportieren kann: Das Bad füllte sich nur sehr langsam und dampfte, Hanna ließ kaltes Wasser hinzu, als könnte ich es nicht selber tun; ich saß auf einem Hocker, untätig wie ein Gast, meine Füße schmerzten sehr, Hanna öffnete das Fensterchen, im Dampf sah ich nur ihre Bewegungen, die sich nicht verändert haben, überhaupt nicht.71
Frisch wählt statt eines viel üblicheren »die sich nicht verändert hatten, überhaupt nicht« das Perfekt und gewinnt damit einen viel intensiveren Einblick in das Erstaunen des Helden und die Unmittelbarkeit, mit der ihn der Gedanke überkommt. Auch im Plusquamperfekt läge eine Innensicht des Protagonisten vor bzw. kann der Gedanke nur diesem zugeordnet werden, doch ist ein deutlicher Distanzunterschied zwischen den beiden Versionen fühlbar. Das Plusquamperfekt verbliebe in der Logik der »Geschichte« (des Erzählens, der Aneinanderreihung der »Fakten«), das Perfekt vermittelt eine Logik der Wahrnehmung. Auch das Perfekt kann somit im Sinne einer stärkeren Psychologisierung der Darstellung eingesetzt werden, auf die die Begrifflichkeit der Erzähltheorie nur teilweise Zugriff bietet. Max Frisch hat übrigens den Einsatz der Tempora für sein Erzählen gründlich reflektiert und ausführlich dazu Auskunft gegeben72. Was man seinen 71 Max Frisch, Homo faber Ein Bericht, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1977, S. 134f. 72 Vgl. den überaus akribisch gearbeiteten Sammelband von Peter Andr8 Bloch (Hrsg.), Der Schriftsteller und sein Verhältnis zur Sprache dargestellt am Problem der Tempuswahl – Eine Dokumentation zur Sprache und Literatur der Gegenwart, A. Francke Verlag, Bern und München 1971. Eine Arbeitsgruppe der Universität Basel hat eine Reihe von Schweizer Autoren, daneben Martin Walser, Günter Grass, Peter Handke u. a. zu ihrem Tempusgebrauch befragt und diesen Gesprächen einen zweiten Teil mit zusammenfassenden Berichten und Werkanalysen gegenübergestellt. Max Frisch betont im Interview [ebda., S. 68–81] den Prozeß der Bewußtwerdung, den besonders die für ihn als Schweizer immer wieder zu treffende Wahl zwischen Perfekt und Präteritum ausgelöst hat: »Ein bewußtes Problem ist es mir erst seit jüngerer Zeit, früher war es mir nicht als eigentliches Problem bewußt; es zeigt sich, daß früher bei mir hierin große Unsicherheiten bestanden und zwar insofern, als ich das Imperfekt viel zu häufig gebrauchte aus Angst, das Perfekt sei mundartlich. So habe ich das Präteritum also häufig dort verwendet, wo das Perfekt richtiger gewesen wäre. Dies hängt auch mit der sehr fragwürdigen Tendenz der Poetisierung des Präteritums gegenüber dem Perfekt zusammen. […] Ich habe von Anfang über die Grenze hinaus geschrieben, natürlich
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nicht im Sinne von Marktabsatzgebiet oder so ähnlich, sondern weil man beim Schreiben einfach immer mit einem deutschen Leser rechnet. Ich weiß, daß bei meinen ersten Arbeiten – mit zwanzig, zweiundzwanzig Jahren – der mundartliche Einfluß enorm groß war, im Vokabular und hauptsächlich in der Syntax. Dann entstand, wahrscheinlich durch Kritik, eine größere Aufmerksamkeit, so daß man nochmals in die Schule ging und versuchte, korrekt zu schreiben, also im Sinne der Hochsprache. Und dann hat sich gezeigt, daß sehr viel verloren ging; Schenker [Walter Schenker, Die Sprache Max Frischs in der Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache, Walter de Gruyter Verlag, Berlin 1969, I.R.] hat zum Beispiel in einer Untersuchung anhand neuer von mir korrigierter Ausgaben nachweisen können, wie ich korrigiert habe. Wenn ein Buch neu herauskam, habe ich zuerst auf Hochsprache-Korrektheit hin korrigiert, wobei dies sehr oft eine Einbuße an Qualität, das heißt an Anschaulichkeit, mit sich brachte. Dann, wenn das Buch später nochmals herauskam, habe ich es wieder korrigiert und ging wieder mehr zum Mundartlichen zurück. Und jetzt, bei den letzten Arbeiten, nimmt das Mundartliche als bewußtes Stilelement überhand, vor allem in der Syntax, weniger im Vokabular.« Auf die Frage, von welcher Seite die Kritik denn käme, gibt Frisch an, daß es weniger die Literaturkritik gewesen sei, die zuerst produktive Kritik geäußert hätte (»weil sie selten so minutiös arbeitet«), als vielmehr die Schaupieler (um Sätze besser sprechen zu können), dann aber auch literaturwissenschaftliche Untersuchungen. Von Verlagsseite käme außerdem Kritik vor allem von ostdeutscher Seite, da man sich hier mehr gegen »Mundartlichkeiten« wehre. Dazu Frisch: »Es stellte sich die Frage: auf wieviel geht man ein? Es gibt Fälle, wo die Mundart einfach eine Ungeschicklichkeit ist und nicht eine Qualität mit sich bringt; die andern Dialektformen lasse ich stehen.« Im Gegensatz zu anderen Autoren betont Frisch den überwiegend bewußten Einsatz der Formen. Neben Konnotationen etwa der Charakter-Stilisierung von Figuren (eine Figur, die nicht nur das Perfekt, sondern auch das Präteritum verwendet, könne als »gebildet, sprachbewußt oder etwas aufgebläht, also pretiös« wirkend stilisiert werden) geht es für Frisch um Unterschiede im Sprecherverhältnis zum Ausgesagten: »Ja, es geht um mein Verhältnis von jetzt dazu. »Er kam herunter« hat eine Distanz, ist auf keinen Jetzt-Punkt hinbezogen, ich bin unbeteiligter, es wird absoluter. Es ist ein geschichtliches Faktum, wann es auch immer sei. Und ob ich noch lebe oder ob ich am Tag danach bin oder Jahrhunderte danach: es wirkt absoluter.« Für Frisch geht dies bis hin zur Möglichkeit, über das Präteritum eine Erzählung im Sinne einer Schwindelei, eines »Vorflunkerns« zu etablieren, es also zum Aufbau einer zu hinterfragenden Fiktion zu verwenden, die dann jederzeit wieder (im Perfekt) aufgelöst werden kann. Auf die Frage, ob denn Präterita oft von ihm gestrichen würden, um die Zeitform neu zu überlegen, antwortet Frisch: »Doch, das gibt es schon, etwa auch, daß ganze Passagen in die Gegenwart umgeschrieben werden. Die krassesten Beispiele finden Sie im Homo faber. Beim Übersetzen aus dem Französischen wurde mir bewußt, daß man die Zeiten im Französischen gar nicht so durcheinander bringen kann, das gibt die Sprache gar nicht her – so wie wir es machen können, um etwas sehr Bestimmtes, schwer Definierbares erreichen zu können.« Auf die Beobachtung der Interviewer, daß in Homo faber eine eindeutige Korrelation zu verzeichnen sei zwischen der Verwendung des Perfekts und dem Motiv des Filmens (Joachim hält alles mit der Kamera, »die mich [Joachim] schon überall hin begleitet hat«, fest), gibt Frisch eine Interpretation, die auch unsere Textstelle hier eindrucksvoll erklärt: »Als Zuhörer würde ich sagen: hier sagt das Perfekt und auch die Gegenwart etwas Allgemeineres aus, als wenn er sagen würde: »Ich filmte es schon oft.« Wenn er plötzlich herauspringt, dann sagt er : »Das habe ich schon oft gefilmt.« Der Unterschied wäre dann der: Er ist jetzt irritiert durch die »D8j/-vu«-Situation, er erlebt ganz von der Gegenwart her ; das »Wir aßen, wir flogen, wir badeten« ist alles verhältnismäßig weit weg. Und nun merkt er plötzlich: jetzt mache ich wieder dasselbe, das habe ich bis zum Überdruß gemacht. Und da gibt natürlich das Perfekt etwas ganz anderes her. Denn wenn er sagte: »Das filmte ich schon oft«, hat er zum Filmen die genau gleiche Distanz wie zu den
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Ausführungen sehr deutlich entnehmen kann, ist nicht nur die mit zunehmender Erfahrung immer bewußtere Kalkulation von Konnotationen, die seinen Tempusgebrauch bestimmen, sondern vor allem auch eine bewußt-unbewußt gesuchte Intensivierung, die mit dem Tempuswechsel herbeigeführt werden soll.
II. 3. Tempus und »Spannung« Die Festschreibung der Rollen der einzelnen Tempora steht bei Harald Weinrich also vor allem im Zusammenhang einer eindeutigen Funktionszuordnung des Präteritums im Erzählkontext. Wie gezeigt, spricht Weinrich von der Dominanz des Präteritums in bestimmten Textsorten und versucht, den Begriff des Erzählens anhand seiner binären Typologie von »Gesprächssituationen« so einzuordnen, daß klar wird, daß es bei Besprechen und Erzählen um eine zugrundeliegende Vor-Einstellung des Sprechers in Hinblick auf das Mitgeteilte geht. Diese über die Tempora als Signalwerte vermittelte Voreinstellung hat – dies stellt den Scheitelpunkt der Weinrichschen Argumentation dar – nichts mit dem faktischen Gehalt des Mitgeteilten zu tun, sondern soll ausschließlich die Art und Weise der Aufnahme der Botschaft regeln, soll also auf die Rezeptionshaltung des Zuhörers Einfluß nehmen: Zur Gesprächssituation der erzählten Welt wollen wir auf der anderen Seite solche Situationen rechnen wie etwa: eine Geschichte aus der Jugendzeit, die Wiedergabe eines Jagdabenteuers, ein selbst erfundenes Märchen, eine fromme Legende, eine kunstvolle Novelle, Geschichtsschreibung oder Roman, aber auch die Zeitungsinformation über den Verlauf einer politischen Konferenz, selbst wenn diese von größter Bedeutung ist. Es geht nicht darum, ob eine Information der Sache nach wichtig oder unwichtig ist. Es geht darum, ob diese Information nach dem Willen des Sprechers so beschaffen ist, daß sie vom Hörer bestimmte unmittelbare Reaktionen erwartet oder nicht. Es ist weiterhin für den Charakter als Erzählung gleichgültig, ob die Geschichte wahr oder erfunden ist. Es ist auch gleichgültig, ob sie häuslich-anspruchslos oder literarisch stilisiert ist. Es ist schließlich gleichgültig, welchen literarischen Gattungsgesetzen sie im einzelnen gehorcht. Über diesen besonderen Unterschieden liegen die allgemeinen Merkmale der typischen Sprechsituation Erzählung. Das Erzählen ist offenbar ein elementares Verhalten des Menschen. Wir können uns zur Welt verhalten, indem wir sie erzählen. Wenn wir sie erzählen, benutzen wir in der Regel die erzählenden Tempora. Ihre Funktion in der Sprache ist es, dem Hörer einer Mitteilung andern Dingen. Er hat aber zu der Erfahrung, daß er dies oft filmt, eine andere Distanz als zu einer aktuellen Erfahrung.« Unsere Textstelle, die sich am Ende der Erzählung findet, schreibt sich also sehr konkret in das den Roman bestimmende Motiv des distanzierenden Festhaltens ein und markiert konkret einen Punkt, den man als befreiende (?) Desillusionierung bezeichnen könnte: Am Ende seiner Reise kehrt Joachim in diesem Sinn zu einem Schauen ohne Kamera zurück.
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Nachricht davon zu geben, daß diese Mitteilung »nur« eine Erzählung ist, so daß der Hörer mit einer gewissen Gelassenheit zuhören kann.73
Die »obstinate« Verteilung der Tempusmorpheme in einem Text, wie Weinrich sie nennt, also die Tatsache, daß der Hinweis auf die zeitliche Verortung immer wieder fällt, sieht Weinrich als Parallelphänomen zu den Kategorien Person und Artikel. Auch diese erfüllen, so Weinrich, im informationstheoretischen Sinn die Funktion einer (groben) »Vorsortierung«74 der Welt zwischen Sender und Empfänger. Entscheidend, so Weinrich, ist offensichtlich in erster Linie die Festlegung der Verhältnisse zwischen den Gesprächspartnern, daher leiste sich die Sprache so viele Merkmale, die die Gegebenheiten der Gesprächssituation bezeichnen: Warum also nimmt die Sprache diese Information [der Kategorie Person, I.R.] so wichtig, daß ein Sprecher sie ohne Pardon einem Text, den er äußert, mit Obstination beigeben muß? Mir scheint, die Antwort fällt hier leichter als bei den Tempora. Die erste Person »Ich« bezeichnet offensichtlich den Sprecher, und die zweite Person »Du« […] bezeichnet die angeredete Person, also den Hörer. Die dritte Person schließlich, gleich, ob Er, Sie oder Es, bezeichnet ausschließlich des Sprechers und Hörers die Welt, soweit sie Gegenstand der Rede ist. Die dritte Person ist eine Restkategorie.75
Ähnlich fungieren nach Weinrich bestimmte und unbestimmte Artikel in einem Text als Instrumente der Vorsortierung, nur gehe es hier nicht, wie im Fall der Kategorie Person, um die Kennzeichnung der Verhältnisse auf der Achse Sprecher-Hörer, sondern um »die damit sich kreuzende Kommunikationsachse zwischen dem Vorher und dem Nachher eines Informationsstandes«76. Diese Überlegungen, so Weinrich, setzen die Betrachtungsweise in Karl Bühlers Sprachtheorie von 1934 fort und übersetzen dessen Konzept der Deixis als Grundkategorie der Sprache in den größeren Zusammenhang der Textsyntax. Nicht »als eine bloß gestische Theorie«, sei diese aber hier aufzufassen, sondern »konsequenter zu einer Theorie des Kommunikationsprozesses in seiner ganzen Leiblichkeit weiterzubilden«77. Da die Tempora also die gleiche Obstination wie Person- und Artikelmorpheme aufweisen, ist zu folgern, so Weinrich, daß die »Signalwerte des Besprechens und Erzählens«78 so zu verstehen sind, daß durch sie die Kommunikationssituation in einer Weise verändert wird, die für den Hörer höchst relevant ist. Das aber wäre nicht der Fall, wenn man diese nur als »Informationen über Zeitstufen oder dergleichen« auffassen würde, schließt 73 74 75 76 77 78
Weinrich, Tempus, 2001, S. 50f. Vgl. ebda., S. 45. Ebda., S. 42. Vgl. ebda., S. 45. Ebda., S. 46. Vgl. ebda.
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Weinrich; geboten sei eine Erklärung, die einen »tieferen Eingriff in den Kommunikationsprozess zum Ausdruck bringt«79. Weinrich baut also seine Begrifflichkeit der Sprechhaltungen entlang Bühlers Deixis als binäre Opposition zwischen indirekter Handlungsaufforderung und in ihrer Sprechabsicht nicht auf Handlung abzielende Darlegung eines Sachverhalts auf. Auch in diesem Zusammenhang verbleibt jedoch Weinrichs Herleitung, wie kritisch anzumerken ist, weitgehend im Bereich des Vordefinierten. Weinrichs Beschreibung der Sprechhaltungen führt die Dichotomie der Tempus-Signalwerte ohne weitere Differenzierung fort und verbindet diese mit der Begriffsopposition von ge- und entspannter Rezeption; beide Begriffspaare werden damit zwar behauptet, aber über ihre – sehr interessante – Anlehnung an Bühler hinaus nicht wirklich motiviert, Weinrich spricht von »Strukturmerkmale[n]«: Mir scheint nun, daß die Signalwerte des Besprechens oder des Erzählens, die den obstinat wiederkehrenden Tempus-Morphemen als Strukturmerkmale inhärent sind, dem Sprecher die Möglichkeit geben, den Hörer in der Rezeption eines Textes in bestimmter Weise zu beeinflussen und zu steuern. Der Sprecher gibt nämlich durch die Verwendung besprechender Tempora zu erkennen, daß er beim Hörer für den laufenden Text eine Rezeption in der Haltung der Gespanntheit für angebracht hält. Durch erzählende Tempora gibt er zu verstehen, daß der in Frage stehende Text im Modus der Entspanntheit aufgenommen werden soll. Die Opposition zwischen der TempusGruppe der besprochenen Welt und der Tempus-Gruppe der erzählten Welt wollen wir daher insgesamt als Sprechhaltung bezeichnen, dabei aber gleichzeitig mitverstehen, daß die Haltung des Sprechers eine bestimmte Haltung des Hörers hervorrufen will, so daß auf diese Weise bei Sprecher und Hörer eine kongruente Kommunikationshaltung erzeugt wird.80
Die den Tempora zugesprochenen Textfunktionen sind für Weinrich somit stereotyp, in sehr verkürzter Darstellung kann das auch an einer Anmerkung demonstriert werden. Bei der Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Tempusgebrauch und Textsorte heißt es in einer Fußnote: »Lindgren sieht richtig, daß das Präteritum der deutschen Sprache ein Erzähltempus ist, das Perfekt nicht.«81 Im Gegensatz zum immer erzählenden und somit »Aufschub« (der Aufmerksamkeitshaltung) signalisierenden Präteritum (dasselbe gilt nach Weinrich für Plusquamperfekt, Konditional I und II) werden also Präsens und
79 Vgl. ebda. 80 Ebda., S. 46f. 81 Ebda., S. 310, Anm. 20. Weinrich bezieht sich auf die Studie von Kaj B. Lindgren, Über den oberdeutschen Präteritumschwund, Helsinki 1957 (Suomalaisen Tiedeakatemian Toimituksia = Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Ser. B, 112, I.)
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Perfekt (resp. Futur I und II) mit dem Registermerkmal der »Betroffenheit« versehen und so ausschließlich dem Besprechen zugeordnet82. Um schließlich dem Mißverständnis vorzubeugen, daß der Begriff der »Gespanntheit« der Kommunikationshaltung zur Rede des »spannenden« Erzählens in Beziehung gesetzt wird, thematisiert Weinrich noch die Frage der Verwendung »besprechender« Tempora im Erzähltext. Dazu greift Weinrich zurück auf die virtutes der antiken Rhetorik und betont, daß der Begriff des »spannenden« Erzählens eine moderne Sichtweise widerspiegle, die keine Entsprechung in den klassischen Kategorien der Rhetorik habe, es sei denn, man verstünde die Forderung des attentum facere in diesem Sinn83. Daß die Rede gespannt zu sein hat, sei offenbar eine selbstverständliche Voraussetzung für die antike Lehre. Dasjenige Element jedoch, von dem die Rhetorik am ehesten die Aufhebung der Gespanntheit der Rede erwarte, so Weinrich, sei die narratio, von dieser werde somit mit besonderem Nachdruck die Qualität der brevitas gefordert84. Dies führt schließlich zu einer weiteren indirekten Festlegung der Rolle der besprechenden Tempora in Weinrichs System, im Besonderen des Präsens. Weinrich übernimmt nämlich zur Bezeichnung des Tempuswechsels in der Erzählung den klassisch-rhetorischen Begriff von Quintilian und spricht von »Tempus-Metaphern«85, da in seiner Charakterisierung der Tempora als Zeichen für die Modi der »besprochenen« und der »erzählten Welt« beim Tempuswechsel ein Hinübertragen des jeweils anderen Erzähl- bzw. Aufnahmemodus (gespannt – entspannt) stattfindet. Aus diesem Wechsel entsteht, so Weinrich, die »spannende« Erzählung: In den von der Rhetorik vorgezeichneten Bahnen verbleibt auch für viele Jahrhunderte der europäischen Literaturtradition die offizielle Poetik. In ihr spielt bis auf den heutigen Tag der Gesichtspunkt der Kürze eine beträchtliche Rolle, während der Gesichtspunkt der Spannung erst in jüngster Zeit unter dem Einfluß einer Informationsästhetik in solchen Begriffen wie suspense in die Poetik eingedrungen ist. Es gibt jedoch seit einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt innerhalb der klassischen und nachklassischen Ästhetik eine poetologische Unterströmung, nach der eine Geschichte spannend zu sein hat. Wir wissen, daß die neueren Erzähler dieser Forderung auch ohne den Antrieb einer offiziellen Poetik instinktiv zu entsprechen versuchen und verschiedene Techniken der Spannungserzeugung entwickelt haben. Je weniger sie sich übrigens der offiziellen Poetik verpflichtet fühlten, um so wichtiger haben sie diesen Gesichtspunkt genommen. Für die triviale Erzählliteratur ist die Spannung zu einem entscheidenden Qualitätskriterium geworden. Gleichviel, es gibt jedenfalls spannende und weniger spannende Geschichten. Man muß nun aber diese literarische oder sub82 83 84 85
Vgl. ebda., S. 30 und S. 50. Vgl. ebda., S. 51f. Vgl. ebda., S. 52. Vgl. ebda., Kap. VII. Tempus-Metaphorik, S. 192–207, besonders S. 195 und S. 205.
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literarische Qualität auf den weiteren linguistischen Horizont projizieren, wie wir ihn in den vorhergehenden Überlegungen skizziert haben. Es ist also zu unterstreichen, daß die Qualität der Spannung gerade von einer Gattung verlangt wird, die auf Grund ihrer linguistischen Struktur auf Entspanntheit als Rezeptionsmodus des Hörers oder Lesers angelegt ist. Der Erzähler, der spannend erzählt, versucht offenbar gegenzusteuern. Durch die Auswahl wirkungsvoller Stoffe sowie durch ein spannungserzeugendes Arrangement stilistischer Signale »fesselt« er seinen Leser und zwingt ihm dadurch eine Rezeptionshaltung auf, welche die primäre Entspanntheit sekundär aufhebt. Er benutzt dabei übrigens, abgesehen von der Stoffwahl, weitgehend die syntaktischen Signale des Besprechens, insbesondere auch die besprechenden Tempora (direkte Rede, historisches Präsens usw.). Er erzählt also, als ob er bespräche. Dieses Als-ob ist ein wichtiges Konstituens der »spannend« erzählenden Literatur.86
Von der Weinrichschen Funktionseinschränkung der Tempora ist das historische Präsens insofern besonders betroffen, als seine Rolle sich im Zuge der modernen Wandlung der traditionellen Tempusstilistik am stärksten verändert. Weinrich thematisiert hingegen die Rolle des Präsens im Erzählkontext vor allem im eben dargelegten Sinn der Spannungssteigerung des Als-ob und jenem der antiken Tempusmetapher87, darüberhinaus aber nur in Hinblick auf seine Verwendung in einem anderen, für Weinrich prototypisch besprechenden Kontext, nämlich jenem der Synopsis88. Mit dem Hinweis auf die Funktion der Inhaltsangabe als Grundlage der »Besprechung eines literarischen Werkes«89 klärt sich für Weinrich die Rolle des darin verwendeten Präsens als weiteres 86 Ebda., S. 52f. 87 Der Begriff der Tempusmetapher (met#stasis, von Quintilian als translatio temporum übersetzt) wird von Weinrich im Sinne seiner Einteilung der Tempusregister uminterpretiert, auch hier gibt es jedoch Unterschiede in der Darstellung. In der oben genannten Tempus-Ausgabe von 1977, S. 190ff. definiert Weinrich einen Tempuswechsel nur dann als »Tempus-Metapher«, wenn der Übergang in mindestens zwei der von ihm getroffenen Unterscheidungen zwischen Sprechhaltung, Sprechperspektive oder Reliefgebung wechselt. Ein einfacher Wechsel vom Präteritum ins Präsens stellt nach Weinrich eigentlich keine »Tempus-Metapher« dar, denn es wird zwar vom Erzählen zum Besprechen gewechselt, aber innerhalb der Kolonne der Tempora der besprochenen Welt stellt das Präsens ja die sogenannte Nullstufe dar, so wie das Präteritum innerhalb der erzählten Welt. Das ist bei Weinrich ein »Tempus-Übergang« ersten Grades, erst ein zusätzlicher Merkmalwechsel, also z. B. von »Vorausschau« zu »Rückschau«, so Weinrichs Termini, würde die Bedingung der Tempus-Metapher erfüllen. Diese sehr spezifische und m. E. für die Beschreibung von Textqualitäten nur bedingt erhellende Interpretation des gängigen Terminus, die Weinrich im Sinne seiner informationstheoretischen Überlegungen trifft, wird aber selten in dieser Definition übernommen bzw. ist zum Teil kritisiert worden. Im allgemeinen wird der Begriff »Tempusmetapher« eben für jenes klassische historische Präsens gebraucht, das, wie im Beispiel von Thomas Mann (siehe S. 51 in dieser Arbeit), in der Form kurzer Einschübe in die Präteritumerzählung eingeflochten wird, und an dessen Stelle auch das Präteritum verwendet werden könnte, wie meist betont wird, so auch in der weiter unten angeführten Duden-Grammatik. 88 Vgl. Tempus, 2001, S. 58–62. 89 Vgl. ebda., S. 60.
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Indiz für die Nichtzeitbezogenheit der Tempora insgesamt und somit als weiterer Beleg für die »besprechende« Natur der Tempora der Tempus-Gruppe I. Ähnlich verfährt er mit dem Praesens tabulare, nach Weinrich steht es »für Dinge, die aufgezeichnet werden, weil sie nicht gegenwärtig sind«90. Auch dies stützt für ihn die Zeitabgewandtheit der Tempora und den besprechenden Charakter von Textsorten, die wie Bildbeschreibungen und -unterschriften, Benennung von Statuen und Zeitungsüberschriften oder die auf einen erhaltenen Brief Bezug nehmenden Antwortpassagen vornehmlich im Präsens verfaßt sind91. Weinrich schließt aus all diesen Belegen und aus der sprachenübergreifenden Verwendung des Präsens in der Synopsis auf ihre Funktion als »gattungsund situationsspezifisches Signal dafür, daß es sich um einen besprechenden Text handelt«92. Trotz vieler Detailrevisionen hat Weinrich in den der Erstaugabe folgenden Auflagen von Tempus seine Thesen zu den Textfunktionen der Tempora nicht verändert. Auch angesichts der neueren Entwicklung literarischer Stilistik bleibt Weinrich bei diesem Ansatz, besonders neuere Autoren und ihr inzwischen stark vom Weinrichschen Modell abweichender Tempusgebrauch wie zum Beispiel jener von Thomas Bernhard finden auch in den späteren und stark überarbeiteten Auflagen von Tempus keine Erwähnung. Dagegen hat Franz K. Stanzel als einer der ersten auf die zunehmend wichtige Rolle des Präsens als Erzähltempus aufmerksam gemacht. Schon 1959 verweist er in einem Beitrag zur Deutschen Vierteljahrsschrift93 auf die Notwendigkeit umfassenderer Untersuchungen zum Phänomen des historischen Präsens: Der Versuch, Bedeutung und Funktion des epischen Praeteritums zu bestimmen, brachte auch Hinweise auf das historische Praesens, dessen Funktion man im Zusammenhang mit jener des epischen Praeteritums betrachtet, und welches von der einen Seite als Beweis für die Vergangenheitsbedeutung des epischen Praeteritums, von der anderen Seite aber als Beweis für den Verlust der Vergangenheitsbedeutung des epischen Praeteritums beansprucht wird. Dabei wird ein grundlegender Unterschied zwischen dem epischen Praeteritum und dem historischen Praesens übersehen. Während das epische Praeteritum als Erzählzeit im Englischen wie im Deutschen auch historisch gesehen praktisch unbeschränkt gilt, hat das historische Praesens, worauf Herbert Koziol aufmerksam gemacht hat, sowohl in seiner Verwendung als auch in der Art und Weise, wie die Autoren seine Bedeutung und Funktion auffaßten, im Laufe der Zeit sehr stark geschwankt. Es ist daher diese Tempusform nicht im gleichen Maße ein 90 91 92 93
Vgl. ebda., S. 59. Vgl. ebda., S. 59f. Vgl. ebda., S. 62. Franz K. Stanzel, Episches Praeteritum, erlebte Rede, historisches Praesens, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Hrsg. von Hugo Kuhn und Friedrich Sengle, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttgart, 33. Jahrgang/Heft 1, 1959, S. 1–12.
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gattungsmäßig gebundenes Element der Erzählung wie das epische Praeteritum, sondern ein Stilmittel, dessen Verwendung weitgehend subjektiv bzw. historisch bedingt ist. Seine Deutung kann deshalb nur unter steter Rücksichtnahme auf den Erzählstil des einzelnen Autors und die historische Entwicklung der literarischen Wertung dieser Form erfolgen. Entsprechende Untersuchungen in ausreichender Zahl stehen aber noch aus. Dabei wäre wahrscheinlich die Zeit seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts sehr aufschlußreich, denn um diese Zeit beginnt sich im Roman die Tendenz zur Zurückdrängung des persönlichen Erzählers zum ersten Mal abzuzeichnen.94
Wie wir sehen, setzt der Anglist Stanzel in bezug auf die Ablösung des auktorialen Erzählens eine ähnliche Epochengrenze an wie Roland Barthes. Von einer gegenseitigen Beeinflussung der Literaturen ist also auszugehen. Entscheidend für uns ist aber Stanzels Charakterisierung des historischen Präsens als Stilelement in unterschiedlichen Ausprägungen. Genau auf diesen Unterschied möchte die vorliegende Studie auch aufmerksam machen. Goethe selbst hat das historische Präsens in unterschiedlicher Weise eingesetzt. In einigen Geschichten der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, besonders in jener der Sängerin Antonelli aus Neapel, die von einem aus Gram über ihre Abweisung verstorbenen Liebhaber aus dem Jenseits mit Schreien, Schüssen, Heulen und sogar Ohrfeigen für ihre neuen Verehrer verfolgt wird, finden sich verschiedentlich kurze Passagen im Präsens: Ein Mann, durch sein Alter und seine Stelle ehrwürdig, führte sie eines Abends in seinem Wagen nach Hause. Als sie vor ihrer Türe von ihm Abschied nimmt, entsteht der Klang [ein durchdringender Schrei, I.R.] zwischen ihnen beiden, und man hebt diesen Mann, der so gut wie tausend andere die Geschichte wußte, mehr tot als lebendig in seinen Wagen. Ein andermal fährt ein junger Tenor, den sie wohl leiden konnte, mit ihr abends durch die Stadt, eine Freundin zu besuchen. Er hatte von diesem seltsamen Phänomen reden hören und zweifelte, als ein muntrer Knabe, an einem solchen Wunder. Sie sprachen von der Begebenheit. ›Ich wünschte doch auch‹, sagte er, ›die Stimme Ihres unsichtbaren Begleiters zu hören; rufen Sie ihn doch auf, wir sind ja zu zweien und werden uns nicht fürchten!‹ Leichtsinn oder Kühnheit, ich weiß nicht, was sie vermochte, genug, sie ruft dem Geiste, und in dem Augenblicke entsteht mitten im Wagen der schmetternde Ton, läßt sich dreimal schnell hintereinander gewaltsam hören und verschwindet mit einem bänglichen Nachklang. Vor dem Hause ihrer Freundin fand man beide ohnmächtig im Wagen, nur mit Mühe brachte man sie wieder zu sich und vernahm, was ihnen begegnet sei.95 Einige Zeit hatte er Ruhe gehalten, als auf einmal abends zur gewöhnlichen Stunde, da sie mit ihrer Gesellschaft zu Tische saß, ein Schuß, wie aus einer Flinte oder stark geladnen Pistole, zum Fenster herein fiel. Alle hörten den Knall, alle sahen das Feuer, 94 Ebda., S. 8f. 95 Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, HA, Bd. 6, S. 153.
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aber bei näherer Untersuchung fand man die Scheibe ohne die mindeste Verletzung. Desungeachtet nahm die Gesellschaft den Vorfall sehr ernsthaft, und alle glaubten, daß man der Schönen nach dem Leben stehe. Man eilt nach der Polizei, man untersucht die benachbarten Häuser, und da man nichts Verdächtiges findet, stellt man darin den andern Tag Schildwachen von oben bis unten. Man durchsucht genau das Haus, worin sie wohnt, man verteilt Spione auf der Straße. Alle diese Vorsicht war vergebens. Drei Monate hintereinander fiel in demselbigen Augenblicke der Schuß durch dieselbe Fensterscheibe, ohne das Glas zu verletzen, und, was merkwürdig war, immer genau eine Stunde vor Mitternacht, da doch gewöhnlich in Neapel nach der italienischen Uhr gezählt wird und Mitternacht daselbst eigentlich keine Epoche macht.96
In diesem Kontext der formal traditionellen, durchgehend im Präteritum erzählten Episoden der Unterhaltungen, wird das szenische Präsens deutlich fühlbar zur Spannungssteigerung eingesetzt, um Weinrichs Begriff hier aufzunehmen. So ist seine Beschreibung als »Stilmittel« im Unterschied zur kardinalen Funktion des Präteritums als »gattungsmäßig gebundenes Element der Erzählung«, wie es Stanzel formuliert, gut nachvollziehbar, es ist eine »Tempusmetapher« im antiken rhetorischen Sinn. Auch das immer wieder in diesem Zusammenhang zitierte Beispiel von Thomas Mann kann als kanonische Anwendung dieser Form des präsentischen Einschlusses in den auktorialen präteritalen Erzählfluß verstanden werden: Die Stille ringsum war groß. Und aus einem kleinen Tor, das […] sich plötzlich aufgetan hatte, bricht – ich wähle hier die Gegenwartsform, weil das Ereignis mir so sehr gegenwärtig ist, etwa Elementares hervor, rennend der Stier.97
Wie gezeigt, hat auch Thomas Mann verschiedenen Formen des Erzählens im Präsens Raum gegeben. Trotz seines im Sinne der Zeitenverwendung durchaus »klassischen« Stils der Romane mit dem Präteritum als Haupterzähltempus finden sich die genannten Passagen im Zauberberg als szenische Einschlüsse, die insofern über die kanonische Funktion des Präsenseinschubs hinausgehen, als sie über den Roman hinweg eine ganz bestimmte Kette von Ereignissen herausheben und damit auf deren Bedeutung für die psychische Entwicklung des Helden und somit auf eines der grundlegenden Motive und Themen dieses Romans verweisen. Franz K. Stanzel hat in bezug auf die moderne Verwendung des historischen Präsens in erzählender Literatur eine Begriffserweiterung vorgeschlagen. Der Einsatz des Präsens geht für ihn entsprechend seiner Einschätzung von dessen größerer Variabilität im Erzähltext – die es im Vergleich zum Präteritum seiner »größeren temporalen und modalen Offenheit und Un96 Ebda., S. 154. 97 Zit. nach der weiter unten angegebenen Duden-Grammatik von 1995; die Textstelle aus Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull wird immer wieder im Zusammenhang der Behandlung des historischen Präsens in Grammatiken zitiert.
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bestimmtheit«98 verdanke – im modernen narrativen Diskurs weit über die Funktionen hinaus, die der präsentische Erzähleinschub in der älteren, »leserorientierten«99 und daher auch formal einheitlicheren, Erzählliteratur hat. Stanzel verweist darauf, daß das Präsens nun oft dort auftritt, wo »[…] auch andere spezifische Elemente des modernen narrativen Diskurses […] den Leser zur Grenzüberschreitung und Aufhebung von kategorialen Trennungen, zur Defokalisierung, wie überhaupt zur Defamiliarisierung aller Regeln der klassischen Erzählgrammatik veranlassen […]«100. Für diesen veränderten Präsensgebrauch, der im Dienste der auf Irritation statt auf Leserorientiertheit zielenden modernen Erzählweisen stehe und mit dessen Begleitphänomenen der Autoreflexivität und Metanarration korrespondiere, fordert Stanzel nun eine eigene Bezeichnung. Parallel zu Hamburgers »epischem Präteritum« schlägt Stanzel hierfür den Begriff »episches Präsens« vor : Der Begriff wird als umfassender Terminus für alle Erscheinungsweisen des Präsens im fiktionalen Diskurs vorgeschlagen. Er lehnt sich bewußt an K. HAMBURGERS Begriff »episches Präteritum« an. CASPARIS schlägt für das Englische den Terminus »narrative present« vor. Auf jeden Fall scheint es dringend geboten, den Begriff »historisches Präsens«, der nur eine von den vielen Funktionen des epischen Präsens erfaßt, zu ersetzen.101
In bezug auf Goethe ist daher dieselbe Frage zu stellen, nämlich inwiefern sich das historische Präsens als Einschub von jener Verwendung unterscheidet, die das Präsens als Erzähltempus über längere Strecken einsetzt. In den Wahlverwandtschaften wird deutlich, daß hier schon aufgrund der Länge der Präsenspassagen die Beschreibung als »historisches Präsens« in traditioneller Definition als kurzer, auf einen Höhepunkt hinarbeitender Einschub zu kurz greift. Deutlich ist auch, daß die »Vergegenwärtigung«, um die es hier geht, eine größere Tiefendimension hat als das bloße Einstreuen einer anderen Zeitform mit dem Ziel einer stilistischen variatio. Es scheint hier vielmehr um ein tatsächliches Signum im Sinne Barthes’ zu gehen, um die Anbindung an Reales, an eine Zeitdimension im historischen, gesellschaftlichen Sinn. Mit »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – […]« setzt Goethe ein wichtiges Signal an den Anfang seines Roman. Der Erzähler der Wahlverwandtschaften wird so in entscheidendem Maß über die Wahl der Zeitform als, 98 Vgl. Franz K. Stanzel, Wandlungen des narrativen Diskurses in der Moderne, in: Rolf Kloepfer und Gisela Janetzke-Dillner (Hrsg.), Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert. Tagungsbeiträge eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung Bonn-Bad Godesberg, veranstaltet vom 9. bis 14. September 1980 in Ludwigsburg, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1981, S. 371–384, hier S. 381. 99 Vgl. ebda. 100 Vgl. ebda. 101 Ebda., S. 383, Anm. 31.
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Tempus und Tradition
das Wortspiel sei erlaubt, historisch präsenter Erzähler gekennzeichnet. Die erste Person Plural am Romanbeginn spiegelt die präsentische Verankerung, die auf ein konkretes Jetzt und Hier zielt, auch wenn der reflektierende bzw. etablierende Erzählereinschub typographisch und syntaktisch (mittels Gedankenstrichen und nochmaliger Nennung der Figur) deutlich abgehoben und so prominent an den Anfang gesetzt ist, daß die Allusion auf die formelhafte Rahmung nicht ausbleiben kann. Durch die späteren Verwendungen des Präsens bestimmt sich jedoch auch die Qualität dieses Eingangs als eine der Nähe zum Geschehen und zu den Figuren, und das »wir« in »[…] so nennen wir […]« kann somit von Anfang an als Rekurs auf die nicht in die fiktionelle Distanz entlassenen Leser gesehen werden. Das Weinrichsche »als ob« des »Besprechens« bietet hier nur scheinbar den exakteren, weil auf kommunikationstheoretischen Überlegungen gründenden Begriff; die Dimension, auf die Barthes hinzielt, ist dagegen die Frage nach der Geschichtlichkeit der Erzählung resp. ihrer Form, und wir finden in der »frischeren, dichteren« Tempusform des Präsens, wie sie Barthes bezeichnet, das Anliegen des Zeitromans realisiert, uns nicht aus der (Zeit)geschichte zu stehlen. Inwiefern diese Deutung zulässig ist, thematisiert die Analyse der Textstellen im nächsten Kapitel, in jedem Fall sei im Sinne der von Stanzel geforderten diachronen Funktionsbeschreibung des historischen Präsens der entsprechende Abschnitt aus der Deutschen Grammatik von Jacob Grimm (1837) zitiert, um einen Einblick in Gebrauch und Einschätzung des szenischen Präsens in der Goethezeit zu erhalten: Wenig sprachen sind für den ausdruck der zeitverhältnisse beim verbum sparsamer ausgestattet als die deutsche: sie besitzt nur formen des präsens und eines einzigen präteritums. weder das futurum noch die in andern sprachen vielfach gegliederten stufen der vergangenheit vermag sie unumschrieben zu bezeichnen. […] Das präsens erscheint, auch seiner form nach, als grundlage aller übrigen tempora; es lauft am vollständigsten durch jeden modus, während andere tempora nur im ind. und conj. enthalten sind, dem imp. und inf. abgehn. Es drückt die gegenwart aus, zuweilen aber die als gegenwärtig gedachte vergangenheit oder zukunft. von dem häufigen gebrauch der präsensform für das futurum hernach bei diesem […]; hier behandle ich das indicative präsens, welches vergangne dinge darstellt. Man nennt es das erzählende oder historische präsens: in der wärme einer raschen erzählung wird zwischen andere präterita ein präs. gestellt, um dem zuhörer das vorgegangene lebendig unter die augen zu rücken. auch kann das plötzlich und unerwartet eingetretene schicklich durch das bloße präs. vorgetragen werden. Im griech. ist der aorist das eigentlich erzählende tempus, bei lebhafter rede tritt aber oft das präs. an dessen stelle und wechselt mit ihm ab. Schade, daß wir die goth. übersetzung des _do} \ccekor va_metai Matth. 2,13 nicht nachsehn können; im apparuit der lat. vulg. ist der nachdruck des urtextes schon
Tempus und »Spannung«
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verloren gegangen und so im ahd. araugta s'h T. 9,1; selbst Luther hat das präs. nicht hergestellt.102
Die Stelle deutet an, wie sehr Grimm an der Herleitung des Phänomens interessiert ist. Bezeichnenderweise nimmt nämlich die Beschreibung des erzählenden Präsens bei Grimm fast das ganze Kapitel ein, das der Zeitform Präsens gewidmet ist. Ausführlich werden althochdeutsche und mittelhochdeutsche Textstellen angeführt, am Schluß geht der Abschnitt »Praesens« noch auf den »bewegteren ton der neueren volkslieder« ein, für den sich das historische Präsens laut Grimm weit mehr eigne als »für das eigentliche epos«, in dem das Präsens nur in mäßiger Anwendung wirksam sei, vornehmlich als Eingang der Erzählung und nicht in den erzählenden Partien103. Die »sprünge im tempus«, die das zeitgenössische Liedgut aufweise, hätte sich hingegen kein mittelhochdeutscher Dichter gestattet, so Grimm, und merkt an, daß der Hinweis auf die Verwendung im Volkslied »das allmäliche umsichgreifen des hist. präs.« demonstrieren solle104. Der Abschnitt schließt mit einem kurzen Resümee zur sonstigen zeitgenössischen Verbreitung: In dem heutigen stand aller deutschen sprachzweige hat vielfache einwirkung der classischen so wie der neueren fremden literatur diese tempusanwendung freier und manigfalter begründet. überall wo der erzähler seinen gegenstand näher bringen oder das überraschende darstellen will, mag er gleich mit dem präs. beginnen oder aus dem prät. unmittelbar in das präs. übergehn, z. b. wir giengen unbesorgt, da fährt ein wetterstrahl aus heiterer luft, und alles flieht auseinander. Was aber dem leichteren vortrag, der prosa und dem drama gestattet ist, dessen wird die gemessene epische dichtung sich zu enthalten haben: ihr taugt das präs. nur für eingang (anruf der muse), gleichnis und rede der handelnden personen, nicht für die aus des dichters munde gehende erzählung. in Göthes Herm. und Dorothea ist kein einziges hist. präs., in Vossens Luise wird bloß zu anfang des dritten gesangs aus der erzählung gewichen, wie in jenen volksliedern eine beschreibung vorausgesendet, und darauf ins prät. eingelenkt. Wielands Oberon, nach welscher weise, hat ihrer im übermaß.105
Mit Grimm kann also der Ausdruck des »erzählende[n] Präsens« belegt werden, der in der heutigen Verwendung eher selten zu finden ist. Zumeist wird dort, wo die Bezeichnung »historisches Präsens« nicht angemessen oder zu wenig differenzierend erscheint, um die Performativität des Präsens im Erzählkontext zu betonen, der Ausdruck des »szenischen Präsens« vorgezogen; dem schließe ich mich im Analyseteil an. 102 Jacob Grimm, Deutsche Grammatik IV [Göttingen 1837], Nachdruck bei Routledge, London New York 1999 (= Foundations of Indo-European Comparative Philology, 1800–1850, Volume 8), S. 139f. 103 Vgl. ebda., S. 144. 104 Vgl. ebda., S. 144f. 105 Ebda., S. 145f.
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Tempus und Tradition
II. 4. Kritik an Weinrich – Carl Baches Lösung Der moderne Bruch mit der Tradition der Präteritumerzählung ist außerhalb der Weinrichschen Darstellung keineswegs unbemerkt oder unbeschrieben geblieben. Anhand der Literatur, auf die sich Harald Weinrich und teils auch Käte Hamburger in ihrer Logik der Dichtung berufen, ergibt sich der Eindruck, die Auseinandersetzung mit der Veränderung der Zeitensetzung sei ein kaum bearbeitetes Gebiet gewesen. Eine Angabe bei Hamburger – ein Aufsatz von John R. Frey für The Journal of English and Germanic Philology von 1946106 – und Grammatiken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, führen aber, wie in der Einleitung dargelegt, auf die Spur nicht weniger Arbeiten zum historischen Präsens. Ebenfalls schon genannt wurde die Arbeit von Christian Paul Casparis, die ihrerseits den germanistisch-anglistischen Austausch widerspiegelt. Dorrit Cohns bekannter Aufsatz zum Präsens bei Kafka107 reagiert damit nicht nur auf Weinrichs Tempus-These, sondern vor allem auch auf die solcherart verankerte Tradition der stilistischen Analyse des Tempusgebrauchs in erzählender Literatur. Eine aktuelle Studie wiederum führt diese Linie fort: J.M. Coetzee widmet in seinem Essayband Was ist ein Klassiker?108 einen langen Beitrag der Analyse von »Zeit, Aspekt und Aktionsart in Kafkas »Der Bau««. Die Weinrichsche Festlegung der Tempusgruppen und ihrer Textfunktionen und Weinrichs durchgehend nicht-deiktische Tempusauffassung sind in der Sprachwissenschaft auf starke Kritik gestoßen. Die auf der systematischen Analyse eines Textkorpus basierende Studie von Hauser-Suida und HoppeBeugel etwa lastet Weinrich eine zu konventionelle Tempusauffassung an und kritisiert dessen präskriptive Normen besonders in bezug auf die Präteritumverwendung und die angeblichen Gebrauchsnormen, die Weinrich anführt109. Heinz Vater verweist in seiner Einführung in die Zeit-Linguistik etwas boshaft darauf, daß ein Blick auf die Textsorte Witz genügt hätte, um zu merken, »daß das Präsens kaum als besprechendes Tempus charakterisiert werden kann; schließlich ist der Witz eine charakteristische Erzählgattung, für die zudem 106 Vgl. John R. Frey, The Historical Present in Narrative Literature, Particularly in Modern German Fiction, in: John J. Parry et al. (Hrsg.), The Journal of English and Germanic Philology, Published quarterly by the University of Illinois, Vol. XLV No.1, January, 1946 (First reprinting 1970), S. 43–67. 107 Dorrit Cohn, Kafka’s Eternal Present: Narrative Tense in »Ein Landarzt« and Other FirstPerson Stories, in: PMLA Publications of the Modern Language Association of America, Edited by John Hurt Fisher, Vol. 83 No.1, March 1968, S. 144–150. 108 Von 2001; auf Deutsch erschienen 2006 bei S. Fischer, Frankfurt am Main, übersetzt von Reinhild Böhnke, hier S. 114–140. 109 Vgl. Ulrike Hauser-Suida und Gabriele Hoppe-Beugel, Die Vergangenheitstempora in der deutschen geschriebenen Sprache der Gegenwart, Hueber Verlag, München 1972 (= Heutiges Deutsch I/4), S. 184f.
Kritik an Weinrich – Carl Baches Lösung
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gerade Fiktion wesentlich ist.«110 Bei Richard Schrodt findet sich eine Zusammenfassung der sprachwissenschaftlichen Kritik an Weinrichs Tempus111. Heftig angegriffen wurde Weinrich besonders von dem Wiener Romanisten Wolfgang Pollak, der dessen Beschreibung des »Prototyps« des Erzählers als »pfeifen-, selten zigarettenrauchenden Märchenonkels«, wie sie in der ersten Auflage von Tempus noch zu finden war112, wohl zu Recht lächerlich macht. Zu Recht auch deshalb, da sich an diese später getilgte Charakterisierung eines als prototypisch verstandenen Erzählakts Weinrichs problematische Auffassung der für ihn immer geltenden »Entspanntheit« als Rezeptionsmodus des Lesers bzw. Hörers direkt anschloß. Unterlegt wird diese Auffassung außerdem von Weinrich durch die Hinweise auf Goethes »Gesetz der Retardation« im epischen Gedicht, von dem kurzerhand der Bogen zu späteren erzähltheoretischen Konzeptionen geschlagen wird: August Wilhelm Schlegel nimmt in seiner Ästhetik diese Überlegungen wieder auf und exemplifiziert sie an Homer, dessen Epen »die ruhige Besonnenheit des Erzählers« vollkommen verwirklichen. Die Ruhe unterscheidet nach Schlegel die epische Welt von unserer hastigen Alltagswelt. Daher hat das Epos auch seine eigene Zeit, deren Ordnung unserer Zeit gegenüber rückläufig sein kann, »indem es von jedem Nächsten wiederum Veranlassung nimmt, etwas Früheres zu berühren«. Nach den Äußerungen Schillers, Goethes und Schlegels ist die Ästhetik des Epos in den beschriebenen Merkmalen kanonisch geworden, so daß Wolfgang Kayser von einem »epischen Gesetz« sprechen kann. Es handelt sich um ein Gesetz, oder sagen wir besser ein Prinzip der erzählerischen Perspektive, das die Sprechhaltung des allwissenden und daher situationsüberlegenen Erzählers beschreibt. Rückschau (etwa in Form der »Rückblende« auf die Vorgeschichte) und Vorausschau (etwa in der Prophezeiung des Ausgangs der Geschichte) manifestieren zugleich mit dem Mehrwissen die Freiheit des Erzählers.113
Pollaks Kritik richtet sich vor allem auf Weinrichs kategorische Ablehnung der Aspektlehre und dessen Umgang mit aspektuellen Interpretationen des Tem110 Vgl. Heinz Vater, Einführung in die Zeit-Linguistik, Gabel Verlag, Hürth-Efferen 19943 (= KLAGE Kölner Linguistische Arbeiten – Germanistik 25), S. 65, Anm. 22. 111 Im oben angegebenen Beitrag (siehe Anm. 22): Tempus, Thema und Textstrukturen: Unterwegs zu einer Textlinguistik des Sinns, S. 333. 112 »Er ist eher alt als jung; beim Märchen ist er der Märchenonkel oder – als erzählende Frau – die Märchentante oder die Großmutter. Er steht nicht, sondern er sitzt, und zwar im Sessel, auf dem Sofa oder am Kamin. Seine Stunde ist der Abend, der Feierabend. Er unterbricht gerne seine Erzählung, um einen Zug an der Pfeife oder Zigarre (selten an der Zigarette!) zu tun. Seine Bewegungen sind langsam; er nimmt sich Zeit, seine Zuhörer der Reihe nach anzuschauen, oder er blickt sinnierend zur Decke. Seine Gesten sind sparsam, sein Gesichtsausdruck eher versonnen als erregt. Er ist ganz entspannt.« Weinrich, Tempus, 1. Auflage, zitiert nach: Wolfgang Pollak, Studien zum Verbalaspekt – Unter besonderer Berücksichtigung des Französischen, Unter der Mitwirkung von MichHle Pollak, Verlag Lang, Bern Frankfurt am Main New York Paris 1988, S. 211. 113 Weinrich, Tempus, 2001, S. 34f.
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pusgebrauchs in der Literatur, der nach Pollaks Auffassung von Weinrich in einer vereinfachenden bzw. verabsolutierenden Beschreibung der bekannten Vordergrund-Hintergrund-Opposition zwischen Imparfait und Pass8 simple enggeführt wird114. Wie im Zusammenhang der Überlegungen Weinrichs zum Tempuswechsel als spannungssteigerndes Element und seiner Definition der Opposition von Besprechen und Erzählen gezeigt, ist auch problematisch, daß Weinrich eine eindeutige Textsortenzuordnung zwischen Tempusgebrauch und literarischen Gattungen vornimmt. Diese werden von Weinrich als »typisierte Kommunikationssituationen«115 verstanden und, wie wir gesehen haben, nach dem jeweiligen Grad ihrer Repräsentativität für die Tempus-Gruppen prototypisch zugeordnet. So gerät der Dialog im Drama in die Reihe der prototypisch besprechenden Textsorten, weil er präsentische und perfektivische Zeitformen aufweist, während umgekehrt »Geschichtsschreibung oder Roman«, wie Weinrich auflistet, der erzählten Welt zugeordnet werden, nur weil beides sich des Präteritums bedienen kann116. Weiters haben wir gesehen, daß Weinrich die Form des historischen oder szenischen Präsens außer im Zusammenhang der Inhaltsangabe kaum berücksichtigt117. So verbleibt die Beschreibung und Verortung des historischen Präsens wie die Grunddefinition des Präsens überhaupt118 ganz im Bereich der Signalwerte des Besprechens, ohne Rücksicht auf andere Möglichkeiten der Funktionsinterpretation119. Neben der einseitigen Konzentration auf die Syn-
114 Vgl. Pollak, Studien zum Verbalaspekt, S. 212ff., vgl. auch S. 219f.: »Im Zusammenhang mit Dichtung scheint es uns überhaupt problematisch, mit Kriterien wie »wichtig« (Vordergrund), »(vergleichsweise) unwichtig« (Hintergrund) zu operieren. Man stelle sich eine Interpretationsmethode vor, bei der es heißt: Jetzt unterstreichen wir das Wichtige (Pass8 simple) rot, das (vergleichsweise) Unwichtige blau! Mit Rot haben wir dann das, »um dessentwillen die Geschichte erzählt wird« (27) (Weinrich schränkt ein »gewöhnlich«), mit Blau das, »was dem Zuhörer … beim Zuhören hilft und ihm die Orientierung in der erzählten Welt erleichtert«, etwa daß er »merken soll«, daß die Erzählung zu Ende geht. Ein derartiges Vorgehen würde die moderne Erzählliteratur (und nicht nur diese) zweifellos karikieren. Mit dieser Art von »phonologischem Binarismus« am untauglichen Objekt wird der Aussagewert literarischer Gebilde in empfindlicher Weise beschnitten.« 115 Vgl. Weinrich, Tempus, 2001, S. 47. 116 Vgl. ebda., S. 50. 117 Bezeichenderweise fällt der Terminus »szenisches Präsens« bei Weinrich nicht, außer in einem kurzen Hinweis auf eine französische Studie von Holger Sten, Les temps du verbe fini (indicatif) en franÅais moderne, Kopenhagen 19642, vgl. dazu Weinrich, Tempus, 2001, S. 59: Weinrich verweist darauf, daß Sten die Frage stellt, ob man nicht das Pr8sent sc8nique als Bezeichnung für das Präsens in Drehbüchern und Bühnenanweisungen als neue Tempus-Kategorie anzusehen habe. 118 Ebda., S. 57: »Präsens ist ein Tempus, ist das häufigste der besprechenden Tempora und bezeichnet eine bestimmte Sprechhaltung. Das gleiche gilt für die anderen Tempora der besprochenen Welt.« 119 Im Anschluß an Pollak (siehe Anm. 112) könnte man festhalten, daß das szenische Präsens
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opsis als idealtypische Form einer besprechenden Textsorte (mit dem Präsens als »gattungs- oder situationsspezifisches Signal« für diese Sprechhaltung120) thematisiert Weinrich das Präsens im Erzählkontext im wesentlichen nur in zwei Zusammenhängen: zum einen als Eingangs- oder Abschnittssignal bzw. häufiges Tempus der Rahmenhandlung121 – dies deutet Weinrich als weiteres Indiz für dessen besprechende Signalfunktion (wie das Perfekt der von Weinrich als prototypisch dargestellten Werther-Rahmung). Zum anderen geht Weinrich in einem Kapitel zur Frage der Einteilung der Tempora im Lateinischen auf das Erklärungsmodell einer englischen Grammatik von 1910 (Ch. E. Bennett, Syntax of Early Latin) ein und beurteilt diese aus seiner Sicht der Tempus-Gruppen. Hier zeigt sich erneut in einer Nebenbemerkung die einschränkende Definition des Präsensgebrauchs im Erzählkontext, die Weinrich stillschweigend voraussetzt; er bezeichnet das lateinische Praesens historicum als »Stilisticum« und betrachtet es unter dieser Begründung als zu vernachlässigende Kategorie: Was nun zunächst das Praesens betrifft, so darf man wohl das Praesens historicum als Stilisticum auffassen und braucht es im Tempus-System nicht zu berücksichtigen. Bennett selber macht darauf aufmerksam, daß es schon im Altlateinischen an gewisse Kontextbedingungen geknüpft ist. Es tritt gewöhnlich nur in der Umrahmung durch Formen des Perfectum auf. So ist es auch noch in der klassischen Sprache. Die Bindung an den umrahmenden Kontext verrät, daß das Praesens historicum nicht selbständig ist. Wir dürfen daher das Praesens allgemein als besprechendes Tempus auffassen und belassen es in der Tempus-Gruppe I.122
Indem also Weinrich dem szenischen oder historischen Präsens – das, wie bei Stanzel gezeigt, spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, wie Grimm belegt, auch schon früher starken Funktionsveränderungen unterworfen war – als Erzähltempus so gut wie keine Bedeutung beimißt und dessen Rolle auch innerhalb der Tempussysteme der anderen Sprachen gleich bewertet, fügt er dem innovatorischen Anspruch von Tempus einigen Schaden zu. So ist es bei ihm wie auch bei Käte Hamburger die Mißachtung der erzählerischen Möglichkeiten des Präsenseinsatzes, an der sich die prekären Grenzen des so vielversprechenden Weinrichschen Ansatzes, die alternativen Funktionsweisen der Tempora im fiktionalen Kontext zu beleuchten, zeigen. Die Leistung, darauf eindringlich aufmerksam gemacht zu haben, bleibt Weinrich wie vor allem Hamburger freilich unbestritten. In meiner in der Einleitung genannten Untersuchung zu einigen Texten aus von Weinrich im Sinne einer Vordergrund/Hintergrundeinteilung auch als Vordergrundtempus thematisiert hätte werden können. 120 Vgl. Weinrich, Tempus, 2001, S. 62. 121 Vgl. ebda., S. 85ff. 122 Ebda., S. 284f. In bezug auf Caesars Bellum Gallicum spricht Weinrich auch vom Praesens historicum als »Einblendung«, vgl. ebda., S. 289.
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Thomas Bernhards Der Stimmenimitator habe ich versucht zu zeigen, daß die kanonische Festlegung der Tempusbedeutungen, wie sie von Weinrich dann auch in der Textgrammatik der deutschen Sprache (1993) weiter festgeschrieben wurde, in der Interpretation der untersuchten Texte zu kurz greift bzw. der von Weinrich als in literarischen Texten erwartbar dargestellte Gebrauch der Tempora hier nicht vorliegt. Wie Pollak an vielen Textbeispielen vorführt, ist es aber nicht schwer zu zeigen, daß Weinrichs »Binarismus«, wie es Pollak nennt (siehe Anm. 114), den Texten oft nicht gerecht wird. Da dies also umfassend thematisiert wurde, geht es mir vor allem darum, zu zeigen, daß Weinrich jenen grundlegenden Wandel des Erzählens im 19. Jahrhundert, wie ihn Roland Barthes beschreibt, weitgehend ausklammert, um seine These überhaupt aufrecht erhalten zu können. Pier Marco Bertinetto spricht dagegen in den genannten Studien zum Präsens und der Funktionsveränderung des erzählerischen Tempussystems in der Moderne von einem nun einsetzenden »chromatischen Tempusgebrauch« (»uso ›cromatico‹ dei Tempi«)123 und trifft damit viel genauer die Erzählverhältnisse, die in den verschiedenen europäischen Literaturen zu123 Vgl. Pier Marco Bertinetto, Sperimentazioni nella narrativa del Novecento: Variazioni sul tema del Tempo ›propulsivo‹, in: Ders., Tempi verbali e narrativa italiana dell’Otto/Novecento, S. 48ff. Bertinetto zeigt, daß das Aufbrechen gewohnter Erzählstrukturen, wie sie von Barthes, Casparis und Stanzel beschrieben werden, schließlich auch fürs Italienische gilt. Das dauernde Springen zwischen den Zeitformen u. a. zur Darstellung verunsicherter Wahrnehmung ist eine der wichtigsten Textstrategien etwa in den Romanen des zeitgenössischen Autors Daniele Del Giudice (u. a. Lo stadio di Wimbledon, 1983; Atlante occidentale, 1985). In der Folge behaupten sich auch die einzelnen (Tempus)formen viel mehr als sozusagen singuläre Protagonisten eines Spektrums denn als Zusammenspieler in einem System, wie es Weinrich sieht. Nicht übersehen werden darf das Signal, das der »chromatische Tempusgebrauch«, wie ihn Bertinetto bezugnehmend eben auf Autoren wie Del Giudice nennt, aussendet: es ist eine ständige Erinnerung an den materialen Charakter der Sprache. Diese Funktion der Tempusformen bewegt sich freilich auf einer ganz anderen Ebene als die Frage nach zeitlicher oder »zeitloser« Perspektivierung des oder innerhalb des Erzählgeschehens, doch machen die Texte die Beschreibung solcher Phänomene notwendig, im übertragenen Sinn gemäß Roland Barthes’ Frage: »Macht die Literatur nicht gerade heute aus den wesentlichen Voraussetzungen der Sprache eine Sprache?« (In: Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: Das semiologische Abenteuer, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988, S. 106.) In ihrer Gleichsetzung der Erzählung mit dem Satz spiegelt die strukturalistische Beschreibung die eminente Bedeutung, die den Sprach-Elementen gleichsam als Aktanten im modernen Erzählen zukommt. Ohne eine allzu direkte Analogie herstellen zu wollen, sei darauf verwiesen, welcher Vergleichstermini sich Barthes bedient: »Von der Struktur her deckt sich die Erzählung mit dem Satz, ohne jemals auf eine bloße Summe von Sätzen reduzierbar zu sein: die Erzählung ist ein großer Satz, genauso wie jeder konstative Satz gewissermaßen der Entwurf einer kleinen Erzählung ist. In der Erzählung stößt man, in vergrößerter und entsprechend umgewandelter Form, auf die wesentlichen Kategorien des Verbs, die allerdings in ihr über eigenständige (oft sehr komplexe) Signifikanten verfügen: Zeiten, Aspekte, Modi, Personen; außerdem sind die »Subjekte«, die den Verbalprädikaten gegenüberstehen, voll und ganz dem Satzmodell unterworfen.« (Ebda.)
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tage treten. Darüberhinaus gilt dieser Wandel nicht nur für das Französische, Italienische und Deutsche, sondern wird auch so für das Englische beschrieben; dies kann nur angedeutet werden. Christian Paul Casparis hat in seiner Studie zum historischen Präsens in der englischen Literatur hauptsächlich Werke des 20. Jahrhunderts untersucht. Auch er kommt anhand einer Ausnahme zu einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen der älteren Anwendung narrativer Präsenseinschübe und einer neueren Art der Verwendung: Our material includes one author in particular who does not belong to the 20th century : Charles Dickens. A number of his novels serve as the earliest example of what might be called literate/experimental as opposed to oral/traditional hist.[orical] Pres.[ent] usage. And although it is not possible to prove the oral origin of the hist.Pres. in English, we make this distinction bet-ween the traditional hist. Pres. as it is used in oral and written narration to the present day, and the experimental hist.Pres. as it is found only in written fiction since Dickens. The one is typically erratic and often quite unconsciously employed, while the other displays in its consistency a conscious stylistic or narrative-technical choice.124
Diesen grundlegenden Unterschied, den Casparis als Ergebnis seiner Untersuchung geltend macht, kann also Weinrichs Festlegung auf stets gleichbleibende Tempusfunktionen nicht abdecken. Dennoch ist anzumerken, daß die Beschäftigung mit der intrikaten Frage der textuellen Tempussemantik trotz Stanzels Aufruf zur systematischeren Untersuchung des »epischen Präsens« in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts bis heute kaum integraler Bestandteil der Erzähltheorie ist125, eher noch findet sie in Einzelanalysen zu Autoren oder etwa im Rahmen der lange diskutierten Frage nach dem Bedeutungs- und Funktionsunterschied zwischen Perfekt und Präteritum in der Linguistik statt. Hier wurde auch Weinrichs viel kritisierte These der Sprechhaltungen mit dem Präteritum als Signum der »erzählten Welt«, was nicht zuletzt Barthes’ Beschreibung des Pass8 simple als zentrales Element der »Schreibweise« des klassischen französischen Romans in Le degr8 z8ro de l’8criture von 1953126 fortschreibt, neu überprüft. Denn gerade der Hinweis auf die »Modi« des Erzählens bzw. Aufnehmens hat in der Sprachwissenschaft auch eine fruchtbare
124 Christian Paul Casparis, Tense Without Time, S. 12. 125 Gegenüber der selbstverständlicheren Einbeziehung von Tempusfragen in G8rard Genettes Discours du r8cit (vgl. Anm. 23). Zur Wiederaufnahme Hamburgers/Weinrichs und zur Einbeziehung von Tempus in die Poetik Jürgen H. Petersens am Ende des nächsten Kapitels II.5. 126 Wie erwähnt, wurde Barthes nur wenig später übersetzt, vgl. Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur, ins Deutsche übertragen von Helmut Scheffel, Verlag Claassen, Hamburg 1959, zum Pass8 simple vgl. S. 31–41, bes. S. 31f.
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Tempus und Tradition
Diskussion ausgelöst, ebenso wie die Rezeption Weinrichs durch Paul Ricœur stark vom kommunikationstheoretischen Ansatz Weinrichs ausgeht127. So beschreibt der englische Linguist Carl Bache die Aufhebung der Referenz des Sprechers auf das Hier und Jetzt (den deiktischen Nullpunkt) im fiktionalen Erzählen als wichtige Funktionsveränderung – die Tempusbedeutung wird »umspezifiziert«: In the fictional mode, the deictic zero-point is as a rule wholly or partially suspended. There is no direct communication between locutionary agent and adressee. The production and reception of language in this mode is temporally unrelated, or rather, related only in the most general sense: production precedes reception. Typically, the author or poet does not intend his product to be received by a specific adressee or at a particular time or place. And a work of literature can normally be understood and interpreted without knowledge of the ›deictic zero-point‹, i. e. the exact time and location of the ›locutionary agent‹ at the moment of writing (though, of course, a more general knowledge of ›when and where‹ may be useful). One immediate consequence of this is that past tense forms such as saw do not normally convey past situations relative to the moment of writing. Instead they are part of the literary convention used for establishing the literary universe of the narration.128
Die Unterscheidung zwischen einem »normal, referring mode of communication« und einem »fictional mode of communication«, die explizit an Weinrichs »Besprechen« und »Erzählen« angelehnt wird129, ohne deren Absolutsetzung der Formenbedeutung zu übernehmen, erlaubt nach Bache eine weniger restriktive Sicht auf die Textfunktionen der Tempora. Während z. B. Präsens und Präteritum im »normal, referring mode of communication« ihren Bezug auf Gegenwärtiges resp. Vergangenes bewahren, also eine zeitdeiktische Opposition darstellen, kann diese Unterscheidung im »fictional mode« aufgehoben sein. Dieselbe Textpassage kann in beiden Tempora wiedergegeben werden, die Differenz, die sich hier ergibt, ist nicht die der zeitlichen Einordnung, sondern eine stilistische. In der Grammatik werde meist der Beschreibung des ersteren der Vorzug gegeben, letzteres aber vernachlässigt, so Bache130. Die Folgen der »categorysuspension«131, wie Bache die Funktionsänderung im fiktionalen Kontext nennt, sind aber entscheidend: während das Präsens im »normal, referring mode« die unmarkierte Form in einer Präsens-Präteritum-Opposition darstellt, verhält es sich im »fictional mode« genau umgekehrt. Hier bezeichnet nämlich das Prä127 Siehe Paul Ricœur, Zeit und Erzählung Band II, Zeit und literarische Erzählung, Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1989 (= Übergänge, Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 18/II), S. 113–129, hier besonders S. 114ff. 128 Carl Bache, Tense and aspect in fiction, in: Journal of Literary Semantics 15, Oxford 1986, S. 82–97, hier S. 85f. 129 Vgl. ebda., S. 82. 130 Vgl. ebda., S. 84. 131 Vgl. ebda., S. 86.
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teritum die unmarkierte Form und das Präsens aufgrund seines »more dramatical potential« die markierte Variante132. Gemeinsam ist ihnen aber die performative Qualität: »Indeed, one might say that verb forms in the fictional mode, whether present or past, have a kind of performative function rather than a referential one: within the fictional universe they create the situations they express. Once the reader enters the fictional universe (i. e. starts to read the novel), situations are therefore ›witnessed‹ as the narration proceeds whether the past tense or the present tense is used as the dominant tense form. In other words, the reader is always mentally present at the ›occurrence‹ of the situations expressed.«133
In Weinrichs Modell der traditionellen Verwendung des historischen Präsens haben wir also in Carl Baches Termini eine Präteritum-Präsens-Opposition vor uns. Das Präteritum ist dabei das Grundtempus, das von Präsenseinschüben unterbrochen wird, mit Bache könnte man also von einer unmarkierten (Präteritum) und einer markierten Variante (Präsens) sprechen. Verschiebt sich das Verhältnis der Aufteilung der beiden Erzähltempora, hat das natürlich Auswirkungen auf die Markiertheit der einzelnen Formen. Ein solches Oppositionsmodell liegt auch der Beschreibung des historischen oder szenischen Präsens in Grammatiken meist zugrunde, wenn auch nicht immer ausgesprochen. Der Duden erweist sich bei aller Knappheit der Darstellung in dieser Hinsicht als relativ genau und bringt sogar das Moment der Unterbrechung der Präteritumerzählung als Unterscheidungskriterium ein. Nach dieser Definition dürfte man im Zusammenhang der fiktionalen Erzählung nur vom »szenischen Präsens« sprechen: Das Präsens bezieht sich auf ein bereits vergangenes Geschehen und wird an der Stelle des Präteritums verwendet, um die stilistische Wirkung einer stärkeren Verlebendigung und Vergegenwärtigung zu erzielen (historisches Präsens oder Praesens historicum): Da liege ich doch gestern auf der Couch und lese, kommt Ingeborg leise ins Zimmer und gibt mir einen Kuß. Dieses Präsens wird auch gerne in Schlagzeilen (Lokomotive kollidiert mit Lastwagen) oder in Geschichtstabellen (49 v. Chr.: Cäsar überschreitet den Rubikon) gebraucht. Wenn dieses Präsens in einer »präteritalen Umgebung« steht, d. h., wenn präsentische Formen das Präteritum als Erzähltempus nur unterbrechen, spricht man von szenischem Präsens:
132 Vgl. ebda., S. 89. 133 Ebda.
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Und aus einem kleinen Tor, das … sich plötzlich aufgetan hatte, bricht – ich wähle hier die Gegenwart, weil das Ereignis mir so sehr gegenwärtig ist – etwas Elementares hervor … (Th. Mann).134
Die Auffassung, die hier in der Duden-Grammatik Niederschlag gefunden hat, stellt keineswegs eine allgemein verbreitete Definition dar. Auf den ersten Blick scheint mit der implizit eingebrachten Unterscheidung zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Anwendung des historischen Präsens (der Duden bezeichnet das Präsens in seiner Grundform als Tempus der »Besprechung«), das im Erzählkontext zum »szenischen Präsens« werden soll, auch eine gangbare terminologische Entscheidung getroffen zu sein. Genau besehen, ist diese Unterscheidung aber prekär, denn die Konnotation der Szenen- oder Bildhaftigkeit kommt wohl beiden Anwendungen zu. In beiden Kommunikationsmodi geht es um die Verlebendigung des Erzählten und darum, die Aufmerksamkeit des Hörers/Lesers zu erhöhen. Ich halte aus diesem Grund zwar im Lichte des soeben Dargestellten den Hinweis auf die »präteritale Umgebung« für wichtig, den Unterschied zwischen dem ersten hier gegebenen Beispiel und dem letzten jedoch für nicht systematisch erklärbar. Ich verwende daher die beiden Termini weitgehend bedeutungsgleich bzw. habe für den Analyseteil »historisches Präsens« als eine Art Oberbegriff gewählt, unter dem die verschiedenen Verwendungen des Präsens in den Wahlverwandtschaften beschrieben werden. Auch ich verwende dort die Bezeichnung »szenisches Präsens«, doch heißt dies umgekehrt nicht, daß ich diesen Begriff im Zusammenhang einer nicht-fiktionalen Präsensverwendung, die den gleichen Zweck verfolgt, als nicht zutreffend empfinde.
II. 5. Ausblick Baches Beschreibung der Textfunktionen von Verben im Erzählkontext mit ihrem Grundgedanken der performativen Eigenschaft eröffnet die Sicht auf die anderen, nicht-deiktischen oder anders umdefinierten Funktionen von Tempora. Diesen Funktionen ist unter verschiedenen Gesichtspunkten nachzugehen, Baches grundsätzliche Beschreibung des Lesers als Zeuge dessen, was sich im fiktionalen Universum abspielt, wollen wir aber festhalten und durch eine Autorreflexion in ihrer weitreichenden Dimension verdeutlichen. Käte Ham-
134 Duden Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, Herausgegeben und bearbeitet von Gunter Drosdowski et al., Dudenverlag, Mannheim Leipzig Zürich Wien 19954 (= Der Duden Bd. 4), S. 146.
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burger verweist in der Logik der Dichtung auf die »Selbsterfahrung eines bedeutenden Romanciers«135 : Ich sprach vom Imperfektum und vom Bericht, und das sieht aus, als wäre die Form der Vergangenheit die Form, in der der Epiker sein Wortkunstwerk zu bauen hätte. Davon kann keine Rede sein. Es ist vollkommen gleichgültig und eine rein technische Frage, ob der Epiker im Präsens, Imperfektum oder Perfektum schreibt, er wird diese Modi wechseln, wo es ihm gut dünkt. Das Entscheidende ist, und das zu beachten ist nun keine Nebensächlichkeit: es ist unrichtig, was man öfter liest: der Dramatiker gibt eine gegenwärtig ablaufende Handlung, der Epiker erzählt von der abgelaufenen Handlung. Das ist oberflächlich und lächerlich. Für jeden, der ein episches Werk liest, laufen die Vorgänge, die berichtet werden, jetzt ab, er erlebt sie jetzt mit, da kann Präsens, Perfektum oder Imperfektum stehen, wir stellen im Epischen die Dinge genau so gegenwärtig dar, und sie werden auch so aufgenommen, wie der Dramatiker. Wir stellen beide dar. Alle Darstellung ist gegenwärtig, sie mag formal erfolgen wie sie will. Der Unterschied zwischen dem Epiker und Dramatiker besteht darin, daß der Dramatiker vor den Sinnesorganen der Augen und der Ohren ablaufen läßt, der Epiker aber als Darstellungsort die Phantasie aufsucht. Allein dieser geistige Ort, Bühne oder Phantasie, unterscheidet die beiden Dichtungsarten voneinander.136
Nicht übersehen werden darf in Döblins Darstellung der Hinweis auf die Freiheit der Wahlmöglichkeit durch den Autor (»er wird diese Modi wechseln, wo es ihm gut dünkt«). Hamburger liest Döblins Beschreibung dieser Wahl als »rein technische Frage« als Beweis für ihre These der Bedeutungs- und Funktionsgleichheit von epischem Präteritum und historischem Präsens im fiktionalen Text137. – Ich greife nur wenige der entsprechenden Ausführungen aus Hamburgers Überlegungen heraus. Die erste vergleicht zwei Textstellen aus Thomas Manns Buddenbrooks, die thematisch vergleichbar sind (beide schildern die innere Unruhe eines Protagonisten), aber einmal im Präsens und einmal im Präteritum verfaßt sind: Es bedarf nach allen unseren Nachweisen keiner Feststellung mehr, daß weder die imperfektische noch die präsentische Schilderung ein Vergangenheitserlebnis erweckt. Keine der beiden Szenen hat vor der anderen eine stärkere temporale Gegenwart voraus, in beiden handelt es sich um das fiktive Jetzt und Hier der Gestalten, das in beiden Fällen nicht durch besondere temporale Begriffe (Zeitadverbien oder Attribute) als fiktive Gegenwartszeit hervorgehoben ist. Die temporale Deutung des historischen Präsens ist also schon darum verfehlt, weil auch das Imperfekt keine Vergangenheit anzeigt. – Warum aber hat das Präsens auch keine besondere, über die des Imperfekt hinausgehende fiktionale Vergegenwärtigungsfunktion? Denn eben eine solche hat es 135 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1957, S. 62, Anm. 25. 136 Alfred Döblin, Der Bau des epischen Werks, in: Aufsätze zur Literatur, Bd. 9 der Ausgabe: Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden, herausgegeben von Walter Muschg, Walter-Verlag, Olten Freiburg im Breisgau 1963, S. 103–132, hier S. 111f. 137 Vgl. Hamburger, Logik der Dichtung, S. 49–65, besonders S. 50, 54f., 56 und 60f.
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ja im historischen Bericht […]. Wir können das durch die Metapher beantworten, daß auf einer blauen Fläche sich ein rotes Stück von seiner Umgebung abhebt, nicht aber auf einer Fläche von der gleichen roten Farbe. In der historischen Aussage ist das Präsens ein anderes Tempus als das Präteritum, das dort echte Vergangenheitsfunktion hat. Im Epos, im Roman ist es dagegen kein anderes, d. i. anders funktionierendes Tempus. Da dort das Präteritum das Fiktionserlebnis des Jetzt und Hier nicht beeinträchtigt, bedarf es keines Ersatzes durch ein Tempus, das in einem logisch anders strukturierten Kontext, nämlich dem der Wirklichkeitsaussage, unter Umständen eine solche fiktionalisierende Wirkung haben kann, die nicht ebenso gut durch das Präteritum erzeugt wird. Daher können wir ohne Ausnahme in jedem fiktionalen Kontext, der das historische Präsens aufweist, dieses wieder durch das Präteritum ersetzen und werden keine Veränderung unseres Fiktionserlebnisses bemerken […]. Die Fiktionalisierung […] wird nicht verstärkt dadurch, daß das Verb im Präsens steht. Ja, gerade weil eine Aussageform wie »dachte die Dame« niemals in einer historischen Aussage vorkommen, d. h. niemals einen vergangenen Vorgang bezeichnen kann, und das Imperfekt hier völlig tonlos ist, wirkt die präsentische Form sogar störend. Sie macht gewissermaßen erst aufmerksam darauf, daß wir nur im Roman, aber sonst nirgends erfahren können, was eine Person gerade jetzt denkt, und damit zerstört sie in etwas die Illusion des fiktiven Lebens, die der Roman erzeugt.138
Hamburger demonstriert sehr einleuchtend den für sie ausschlaggebenden Unterschied der Tempusbedeutung zwischen nicht-fiktionaler und fiktionaler Kommunikation, wie es bei Bache heißt: Lese ich in Anna Karenina: »Alles ging drunter und drüber im Hause Oblonsky« erfahre ich nicht, daß es irgend wann einmal drunter und drüber ging sondern daß es drunter und drüber ging, und steht dieser Satz im historischen Präsens, erfahre ich genau dasselbe: einen Sachverhalt, aber keine Zeit.139
Hamburgers Definition des »epischen Präteritum« und der damit bezeichneten primär performativen Funktion der Verben im Erzählkontext – Hamburger spricht davon, daß im fiktionalen Kontext in erster Linie der semantische Gehalt des Verbs zählt und die Tempusmorpheme gleichsam blinde Motive werden140 – ist äußerst nachvollziehbar und, wie u. a. Stanzel betont, sehr scharfsichtig erstellt. Dennoch zeigt sich auch bei Hamburgers Beurteilung des historischen Präsens, daß ähnlich wie bei Weinrich hier ihre Systematik an eine Grenze stößt, die durchaus Fragen offenläßt. So kann die – banale – Frage nicht übergangen werden, warum Autoren sich des Tempuswechsels bedienen, wenn dieser keinen Unterschied in der Expressivität, der Mittelbarkeit der Darstellung oder der 138 Ebda., S. 54f. 139 Ebda., S. 56. 140 Vgl. ebda. Hamburger spricht hier auch vom Präteritum, »zu dem das historische Präsens semantisch gehört«, außerdem vgl. ebda., S. 63: Die »Vergegenwärtigung« im fiktionalen Kontext und damit auch der »Sinngehalt des Erzählten«, so Hamburger, beruhe »nicht auf den Morphemen, sondern auf den Semantemen und deren jeweiligem Bedeutungsgehalt«.
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Intensivierung der Figurensicht und der Hineinversetzung in die Romanhandlung macht, wenn also der stilistische Unterschied nicht seinen Platz in der Gestaltungsintention der Verfasserin hat. Hamburger exemplifiziert ihre Überlegungen zum historischen Präsens in Reaktion auf den im nächsten Kapitel dargestellten Beitrag von Hennig Brinkmann auch an den Wahlverwandtschaften. Hier wird ihre Zurückweisung eines aus ihrer Sicht übermäßigen Präsensgebrauchs im Erzählkontext insofern virulent, als Hamburger mit dem Hinweis darauf, daß »etwas sachlich Überflüssiges auch ästhetisch überflüssig ist«141, das fiktionslogisch also für sie nicht anders als das Präteritum funktionierende Präsens aufgrund dieser logischen Einebnung zum störenden Element erklärt. Das Präteritum wird dagegen in den Rang erhoben, das einzige Tempus zu sein, das dem im fiktionalen Erzählen waltenden »ästhetischen Gesetz«, wie es Hamburger nennt, genüge142 : Weil das historische Präsens keine echte Funktion in der Fiktion erfüllt, weder eine temporale noch eine fiktionalisierende, kann es stets durch das Präteritum ersetzt werden, ohne daß das Fiktionserlebnis, ja auch nur eine Besonderheit des Erlebens der fiktiven Person, die ein Erzähler etwa durch das Präsens zum Ausdruck bringen will, dadurch beeinträchtigt würde.143
Hamburger schreibt somit ihrerseits den Tempora letztlich stereotype Funktionen zu, da sie postuliert, daß diese stets dieselbe Wirkung auf den Rezipienten der Erzählung haben. Daß die Vermittlung des Miterlebens mit der Figur, wie Hamburger hier andeutet, einen durchaus zulässigen Zweck des Tempuswechsels in der Erzählung darstellen kann, läßt sie nicht gelten. So überrascht es nicht, daß Hamburger im häufigen Wechsel zwischen Präsens und Präteritum, den sie etwa für Wielands Versepen konstatiert, keine »sinnvolle Ordnung« erkennt144 und daß sie Goethes Gestaltung der Wahlverwandtschaften ähnlich beurteilt: Deshalb ist die Wirkung solcher Schreibmoden wie des unaufhörlichen Wechsels von Imperfekt und Präsens selbst in einem Goetheroman eher störend als sinndeutend. Dies Störende findet seine systematisch-logische Erklärung eben darin, daß das historische Präsens in der Fiktion überflüssig ist, weil das Präteritum keine Vergangenheitsfunktion hat und deshalb die fiktionale Wirkung nicht beeinträchtigt, sie weder stört noch auch unterstreicht (und gerade damit wieder stört).145
Hamburger führt einen triftigen Grund für ihre in bezug auf den Tempuswechsel stilkonservative Haltung an: Das Präteritum, so führt sie aus, sei das einzige Tempus, das im Unterschied zu allen anderen Tempora in semantischer Hinsicht 141 142 143 144 145
Vgl. ebda., S. 61. Vgl. ebda. Ebda., S. 61f. Vgl. ebda., S. 62. Ebda., S. 64.
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»den Charakter der Faktizität eindeutig ausdrückt«146. Durch diesen Charakter der eindeutigen Faktizität unterscheide es sich maßgeblich vom bekanntlich mehrdeutigen Präsens (der Satz »die Nachtigall singt« kann sowohl das gerade erklingende Singen der Nachtigall ausdrücken wie die zeitlose Eigenschaft, daß die Nachtigall singen kann; »die Nachtigall sang« kann dagegen nur ein vergangenes Faktum bezeichnen147). Darin liegt für Hamburger die entscheidende Qualität des Präteritums, das dieses als eigentliches Erzähltempus geeignet macht. Es zeichne sich nämlich dadurch aus, daß es seine Allusion auf den Charakter der eindeutigen Faktizität im Erzählen beibehalte, während es seiner Vergangenheitsbedeutung verlustig geht: Wenn das Präteritum als die adäquate Zeitform der erzählenden Dichtung empfunden wird, so hat man diese Empfindung falsch interpretiert, wenn man sie auf das Konto der ›Vergangenheitsillusion‹ (eines ›virtual past‹ usw.) schrieb. Sie hat ihre Ursache in dem gewissermaßen ›connotierenden‹ Valeur der Faktizität, die das Erlebnis des Scheins des Lebens, den die Fiktion eben erzeugt und erweckt, diskret unterstreicht, oder besser : ihn nicht stört. Denn dies Phänomen darf nicht dahin überbetont werden, daß das erzählende Präteritum wegen seines Faktizitätswertes das fiktionale Erzähltempus geworden wäre. Es liegt eher so, daß es darum als solches wohltuend ist, weil es diesen Wert beibehält, während sein Vergangenheitswert verschwindet. Die Faktizität ist zwar der auffallendste Ausdruck seiner semantischen Eindeutigkeit, aber diese Eindeutigkeit selbst tritt erst hervor im Vergleich mit dem nicht eindeutigen Präsens. Die Mehrdeutigkeit des Präsens ist daher der eigentlich objektive Grund dafür, daß seine Anwendung als Erzähltempus, als historisches Präsens, nicht ohne Risiko ist. Fast immer treten in Partien, die im historischen Präsens erzählt sind, Stellen auf, die aus anderen Gründen im Präsens stehen müssen (und zwar müssen, nicht nur können).148
Ich halte Hamburgers Begründung für die »wohltuende« Wirkung des Präteritums als Erzähltempus für überaus spannend. Außerdem schließt sich mit ihr der Kreis zu Barthes’ Charakterisierung des Pass8 simple als Begründungszeichen, als »algebraisches Zeichen«, für die Intention der Errichtung der »geschlossenen Welt« der Romanfiktion, wie es bei Barthes heißt. Indem Hamburger dem erzählenden Präteritum die Qualität der Faktizitätskonstanz beimißt, schafft sie eine Erklärung, die den performativen Charakter der Tempora im fiktionalen Kontext eindringlich stützt und begründet damit gleichsam Barthes’ These mit. Dennoch bedeutet Hamburgers Hymne auf das epische Präteritum, daß sie dem hohen ästhetischen, da dichtungslogisch für sie eindeutig festzumachenden Wert, dem sie dem Präteritum der Erzählung beimißt, ganze Abteilungen der erzählenden deutschen Literatur opfert. Im Zuge der erwähnten Rüge für Wieland kommen nämlich auch dessen Zeitgenossen nicht 146 Vgl. ebda. 147 Vgl. ebda. 148 Ebda., S. 64f.
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glimpflich davon, wie die Zurückweisung des Goetheschen Tempusgebrauchs zeigt, ja, »der starke Wechsel der beiden Tempora« (Präsens-Präteritum) mißfällt Hamburger als »[…] periodische Erscheinung in der erzählenden deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts bis ein gutes Stück in das 19. hinein«149. Ich möchte daher noch einmal auf das von ihr angeführte Döblin-Zitat zurückkommen. Döblins Feststellung, »[..] der Epiker […] wird diese Modi [die Vergangenheitstempora, I.R.] wechseln, wo es ihm gut dünkt […]«, ist nämlich m. E. keineswegs, so wie die ersten beiden Sätze des Zitats, als Nebenbemerkung zu lesen, sondern verweist auf die unterschiedlichen stilistischen Qualitäten, die in der Wahl des Erzähltempus als Teil des »Wortkunstwerks« zum Ausdruck kommen können. Wie wir sehen, setzt Döblin das Präteritum hier eben nicht als jenes kanonische Erzähltempus an, als das es von Hamburger und Weinrich interpretiert wird – und bezeichnenderweise zitiert Hamburger, deren Auffassung in dieser Hinsicht trotz aller Scharfsicht als unverhüllt präskriptiv bezeichnet werden muß, Döblins Ausführungen aus dem Kapitel Die Epik erzählt nicht Vergangenes, sondern stellt dar unter Weglassung der ersten beiden Sätze der hier wiedergegebenen Fassung. Für uns von entscheidender Bedeutung ist jedoch der Hinweis auf die unterschiedlichen Konnotationen, die die jeweiligen Tempora in den fiktionalen Text hineintragen können, unter gleichzeitiger Beibehaltung ihres grundsätzlich performativen Status (»Alle Darstellung ist gegenwärtig, sie kann erfolgen, wie sie will.«). Richard Schrodt verweist auf die Notwendigkeit, im Zusammenhang der Interpretation des Tempusgebrauchs dem Textsinn zu folgen bzw. diesen ohne Bezug auf verengende theoretische Ansätz zu erschließen: In der sprachwissenschaftlichen Diskussion gelten deiktische und nicht-deiktische Tempustheorien meist als konkurrierende Modelle. Sie sind es aber nicht. In einem Text können beide Tempusfunktionen vorkommen, an anderen Texten wird sich vielleicht eine dieser Theorien insgesamt besser bewähren. Keineswegs kann man von der Fiktionalität von Texten direkt auf eine nicht-deiktische Tempusfunktion schließen. Texte in der Tradition des chronologischen Erzählens, der Wahrnehmung von Sachverhalten (Bericht, Protokoll), enthalten normalerweise deiktische Tempusformen; Texte der Verinnerlichung von Sachlagen, der Selbstwahrnehmung, sind prototypisch für das nicht-deiktische Tempus. […] Die literarischen Funktionen des deutschen Tempus zeigen deutlich, dass es in der Erzählung oft nicht darauf ankommt, das Erzählte in einem am Sprecherzeitpunkt orientierten Zeitraum absolut zu verorten. Oft ist es wichtiger, die persönliche Beteiligung des Autors darzustellen und das Geschehen nach der Relevanz für den Gesamtsinn des Textes zu gliedern.150
149 Vgl. ebda., S. 62. 150 Richard Schrodt, Tempus, Zeit und Text: Von der Versinnlichung der Zeit im literarischen Umfeld, S. 33 u. 36.
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Es geht also etwa darum, auszuloten, ob und in welcher Weise der Gebrauch der Tempora die Erzählperspektive verändert, indem er sie z. B. entweder verfeinert und damit stützt, oder umgekehrt, indem der Einsatz der Zeitformen die Einheitlichkeit der Erzählhaltung unterwandert. Dies wiederum bestimmt sich sehr stark aus den »›connotierenden‹ Valeur[s]«, um mit Hamburger zu sprechen, die die einzelnen Formen im Text entfalten, und diese Konnotationen können weit über die grammatische Bedeutung der Tempusformen hinausgehen. Außerdem treten die Zeitformen im Text in spezifische Beziehungen zueinander, was bedeutet, daß jede Erzählung ihr eigenes System an Tempusfunktionen schafft. Wenn der Text der Erzählung, wie wir beim Incipit der Wahlverwandtschaften sehen, durch eine präsentische Formel, und sei sie noch so »romanhaft«, eingeleitet wird, bewirkt dies eine andere Art der Aufnahme, als wenn sich die Erzählung von Anfang an des Präteritums als kanonischem Erzähltempus bedient. In dem genannten Aufsatz verweist Stanzel dazu auf die Wichtigkeit der Feinunterscheidung zwischen den verschiedenen Arten des historischen Präsens je nach seinem Auftreten in unterschiedlichen Erzählsituationen: Diese Tatsache [die Tendenz zur Zurückdrängung des persönlichen Erzählers, I.R.] ist für die Deutung des historischen Praesens insofern wichtig, als […] in dem neuen Romantypus [dem nach 1850, I.R.], in dem sich kein persönlicher Erzähler dem Leser aufdrängt, die Vergegenwärtigung des Erzählten bereits in der Erzählsituation angelegt ist. Es wäre bei solchen Untersuchungen darauf zu achten, ob das historische Praesens mit anderen Darstellungsformen, welche die Vergegenwärtigung des Erzählten fördern, so vor allem mit einer personalen Erzählsituation etwa in Konkurrenz tritt, oder ob es in solchen Teilen überhaupt nicht mehr erscheint. Da eine personale Erzählsituation bereits die Vorstellung der Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit des Dargestellten begünstigt, könnte in ihr ein historisches Praesens als Übercharakterisierung empfunden und vom Leser daher als zu aufdringliches Stilmittel abgelehnt werden. Die auktoriale Erzählsituation, welche die Erzähldistanz zwischen Erzähler und Erzähltem immer wieder hervortreten läßt, ist dagegen ein viel günstigerer Hintergrund für das Auftreten des historischen Praesens. Es liegt daher nahe, zwischen der Abnahme der Häufigkeit des historischen Praesens im neueren Roman und dem ungefähr gleichzeitigen Vordringen des personalen und dem Zurücktreten des auktorialen Romans einen Zusammenhang zu vermuten. Der Nachweis wäre durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen zu erbringen, wobei auch die Möglichkeit einer Funktionsänderung des historischen Praesens unter diesen Umständen im Auge zu behalten wäre.151 151 Stanzel, Episches Praeteritum, erlebte Rede, historisches Praesens, S. 9. Zusätzlich ist noch einmal auf die Dimension feinsemantischer Veränderung hinzuweisen, wenn in einem Text ein Tempus durch ein anderes ersetzt wird; ich möchte dies anhand einer Parallele zu Wolfram Groddecks Argumentation der Figur der Litotes tun. Groddecks Beschreibung stellt besonders einleuchtend heraus, daß im lebendigen System der Sprache die Veränderung der Ausdrucksweise nie folgenlos ist: »Die doppelte Verneinung ist ja zunächst, logisch verstanden, eine ganz eindeutige Sache: »Nicht nicht« hebt sich auf und stellt eine Affirmation dar. Man kennt das aus der Mathematik: Minus mal minus gibt plus. Und nicht
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Käte Hamburgers Einschätzung des historischen Präsens zeigt deutliche Parallelen zu Weinrichs Darstellung als »Stilisticum«. Sie stellt zwar dessen Häufigkeit in der Literatur fest, stuft es aber ebenso aus der Sicht ihrer poetologischen Einteilung als letztlich zu vernachlässigende Kategorie ein. Dennoch ist es wichtig, Hamburgers und Weinrichs Theorien zu beleuchten, da sich diese Einschätzung in unterschiedlicher Weise in der Tempusliteratur fortgesetzt hat; auch in Dorrit Cohns genanntem Aufsatz zum historischen Präsens bei Kafka ist sie etwa wirksam. Gleichzeitig wurde besonders Weinrichs funktionseinschränkender Ansatz zum Tempusgebrauch in der Literatur schon vor Erscheinen seines Standardwerks zu Tempus konterkariert durch die Ergebnisse der Beiträge von Franz K. Stanzel, John R. Frey, dessen Aufsatz ich nur genannt habe, und anderer Erzählforscher. – Diese kritische Revision der bekanntesten Position zu Tempus und Literatur aus primär literaturwissenschaftlicher Sicht verlangt also nach Vertiefung und Erweiterung in Auseinandersetzung mit verschiedenen weiteren Quellen; so müßte etwa die Möglichkeit einer Transponierung der vorliegenden Ergebnisse in linguistische Termini, wie sie Welke entwickelt, um Konnotationen abzubilden, in einer eigenen Arbeit diskutiert werden. Als aktuelle Aufnahmen der Thesen Hamburgers, aber vor allem Weinrichs, sind neben den schon angeführten die Arbeiten des Linguisten Rudolf Freudenberg152 und des Literaturwissenschaftlers Jürgen H. Petersen153 zu mehr und nicht weniger. In der Ausdruckswelt der Sprache ist das aber nicht so. Sondern die Verneinung der Verneinung drückt etwas anderes aus als die Bejahung. Das gilt auch in dem Fall, daß die rhetorische Verneinung des Gegenteils die logisch strenge Form der Kontradiktion, also der direkten Negation benutzt. »Nicht unklug« ist nur in der logischen Reduktion identisch mit »klug«, sprachlich, in bezug auf den Ausdruckswert, ist »nicht unklug« und »klug« nicht dasselbe. Je nach Kontext kann die doppelte Negation von »klug« etwas mehr oder etwas weniger als das ursprüngliche »klug« bedeuten, aber nie dasselbe. Die Bedeutungsveränderung, die sich bei der Litotes beobachten läßt, könnte man nun folgendermaßen erklären: Die doppelte Negation täuscht einen Sprung in das Gegenteil der gemeinten Bedeutung nur vor und bleibt innerhalb der Ebene des Begriffsinhaltes, dessen Bedeutung sie allerdings dadurch in Bewegung versetzt, gleichsam verflüssigt hat.« Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik – Zu einer Stilistik des Lesens, Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main Basel 2008, S. 226f. 152 Vgl. Rudolf Freudenberg, »Indem ich die Feder ergreife…« – Erwägungen zum Redemoment beim literarisch-fiktionalen Erzählen, in: Manfred Kohrt / Anne Wrobel (Hrsg.), Schreibprozesse – Schreibprodukte. Festschrift für Gisbert Keseling, Olms Verlag, Hildesheim Zürich New York 1992, S. 105–162; Ders., Das perspektivische Erzählen als literarisches Mittel, in: Wolfgang Brandt in Verbindung mit Rudolf Freudenberg (Hrsg.), Sprache in Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge aus dem Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Philipps-Universität Marburg, Hitzeroth Verlag, Marburg 1988 (= Marburger Studien zur Germanistik 9), S. 270–282; Ders., Zum Beispiel Thomas Mann. Elemente einer Narrativik auf semiotischer Grundlage, in: Helmut Bernsmeier / Hans-Peter Ziegler (Hrsg.), Wandel und Kontinuum. Festschrift für Walter Falk zum 65. Geburtstag, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main Bern New York Paris 1992, S. 164–248. 153 Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Ent-
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nennen. Freudenberg versucht, »vom Zentrum des Redemoments aus die beiden Tempusgruppen des Deutschen nach ihren narrativen Leistungen zu befragen«154, mithin, das binäre System Weinrichs zur Grundlage einer Einteilung zu machen, in die alle Verwendungsweisen der Tempusformen im erzählerischen Diskurs (fiktional wie nicht-fiktional) eingeordnet und, für Freudenberg zentral, mit einem eigenen Terminus belegt werden können. Er gelangt so zu einem System, in dem etwa das »subjektive epische Perfekt der persönlichen Betroffenheit (›Betroffenheitsperfekt‹)« von einem »subjektive[n] epische[n] Perfekt der Kindersprache (›Kindlichkeitsperfekt‹)«155 auf der Grundlage von einzelnen Textbeispielen geschieden wird. Ähnlich werden die verschiedenen Präsensverwendungen im literarischen Text (im Erzählerkommentar, historisches oder szenisches Präsens in der Ich- oder Er-Erzählung) in das Schema eingeordnet, wobei es jedoch zu problematischen Rubrizierungen der herangezogenen literarischen Beispiele kommt. So belegt Freudenberg ein »visionäre[s] Präsens als Ausdruck psychologischer Vergegenwärtigung«156 mit einem Beispiel, das exakt die Kriterien des bei Stanzel beschriebenen Tableau-Effekts (vgl. dazu Anm. 497 in dieser Arbeit) erfüllt, führt aber später mit Rekurrenz auf diesen Begriff von Stanzel ein gesondertes »historische[s] Zustandspräsens«157 an, das ohne Beispiel bleibt und nicht von der ersten Verwendung unterschieden werden kann; einen Unterschied suggeriert hier nur das von Freudenberg getroffene Einteilungsschema. Die Problematik der Schematisierungen, die hier vorgenommen werden, kann nur in einer detaillierten Auseinandersetzung belegt werden, was den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengt. Dies ist aber auch deswegen der Fall, weil Freudenberg auf der Ebene von kurzen Textextrakten bleibt, die Wirkung und auch Wechselwirkungen von Tempusverwendungen in einem Textganzen aber nicht thematisiert. Dies steht jedoch hier im Mittelpunkt, Freudenbergs Klassifizierungsschema trägt damit zur vorliegenden Untersuchung nur bedingt bei. Ein viel umfassenderes Bild der Funktionserweiterung und auffallenden Zunahme der Präsenverwendung im deutschen Roman seit 1900 gibt Petersen, der vor allem Weinrich vorwirft, der literarischen Praxis des 20. Jahrhunderts nicht gerecht zu werden und namentlich den Nouveau roman gänzlich zu
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wicklung, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1991; Ders., Erzählen im Präsens. Die Korrektur herrschender Tempus-Theorien durch die poetische Praxis in der Moderne, in: Rainer Gruenter / Arthur Henkel (Hrsg.), Euphorion Zeitschrift für Literaturgeschichte, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg, 86. Bd. (1992), S. 65–89; Ders., Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart Weimar 1993. Vgl. Freudenberg, »Indem ich die Feder ergreife…« – Erwägungen zum Redemoment beim literarisch-fiktionalen Erzählen, S. 153. Vgl. ebda., S. 126 u. 127. Vgl. ebda., S. 150. Vgl. ebda., S. 153.
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ignorieren. Dies lege den Verdacht nahe, so Petersen, daß Weinrich der »sein System ins Wanken bringenden Erscheinung nicht Herr zu werden wußte« und daher das »epische Präsens-Phänomen« der Moderne außer Acht gelassen habe158. Ähnlich wie Frey führt Petersen eine ganze Liste von Erzählwerken an, die den veränderten Gebrauch belegen, frühestes Beispiel dieser Liste ist Rakkjx der Billionär (1900) von Paul Scheerbart; aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden außerdem Romane von Klabund und Gottfried Benn, Berlin Alexanderplatz (1929) und Hermann Brochs Verzauberung (1936) genannt, vor allem nach 1950 liegen zahlreiche Romane vor, die in Teilen oder auch ganz im erzählenden Präsens verfasst sind159. Schon die langen Präsenspartien bei Döblin, so Petersen, seien nicht als »Sequenzen im »historischen Präsens« abzutun« und hätten Anlaß für eine Diskussion sein müssen160. An die Adresse Hamburgers und ihre unterschiedliche Wertung der Tempusformen in Ich- wie ErErzählung ist die Kritik gerichtet, daß die Rezeption einer Passage im Präsens im für Petersen ausschlaggebenden Punkt, nämlich dem des fiktionalen Status des Erzählten, die gleiche sei wie jene der Präteritumerzählung. Dazu transponiert Petersen eine Textstelle aus Robbe-Grillets La Jalousie ins Präteritum und beschreibt die Wirkungsintention so: Möglicherweise ist die Wirkung der Deskriptionsintensität in der originalen PräsensPassage größer, weil das Präsens auf uns ungewöhnlich wirkt. Stellt man in Rechnung, daß der ganze Roman im Präsens steht, verliert sich dieser Effekt. Jedenfalls aber rezipiert der Leser beide Textfassungen in dem entscheidenden Punkt gleich: Er erkennt sie als fiktionale Passagen, springt also aus dem Raum des alltäglichen, an Fakten und Informationen orientierten Bewußtseins in den hermetisch abgeschlossenen Bezirk, in dem das, was gesagt wird, so ist, wie es gesagt wird, und dies ohne nachprüfbar zu sein. Der Satz Die locker auf den Schultern liegenden glänzenden schwarzen Locken erzittern leicht, während die Feder vorangleitet ist genauso bedingungslos und bleibend wahr wie der Satz »Die locker auf den Schultern liegenden glänzenden schwarzen Locken erzitterten leicht, während die Feder voranglitt«. Denn darin besteht das Wesen des fiktionalen Sprechens: Es unterliegt nicht der Nachprüfbarkeit, lässt sich nicht falsifizieren und verifizieren, weil es den Bereich lokaler, temporaler, faktischer Überprüfbarkeit, also den der Realität, hinter sich gelassen hat. Einen fiktionalen Satz braucht man nicht, mehr noch: kann man gar nicht überprüfen. Er ist absolut (nämlich unabhängig von der Realität) und immer wahr (sobald er gelesen wird).161
Petersen fügt also einem oft geäußerten Kritikpunkt an Hamburger eine Facette hinzu und weist zu Recht auch bei ihr auf die fehlende Auseinandersetzung mit 158 Vgl. Jürgen H. Petersen, Erzählen im Präsens. Die Korrektur herrschender TempusTheorien durch die poetische Praxis in der Moderne, S. 67f. 159 Vgl. ebda., S. 71, 73 u. 88f. 160 Ebda., S. 88. 161 Ebda., S. 70.
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dem modernen Präsensgebrauch hin. Gleichzeitig steht das hier angeführte Beispiel für ein zentrales Dilemma bei Petersen, dessen Analysen ihrerseits einen der Argumentation Hamburgers ähnlichen blinden Fleck aufweisen, der sie als Grundlage für die vorliegende Arbeit prekär werden lassen. In extremer Verkürzung dargestellt, gehen nämlich wichtige Teile von Petersens Beschreibung der Leistung des neuen und von ihm selbst in Grundzügen dokumentierten Präsenseinsatzes über die hier gegebene Einschätzung zu Robbe-Grillet nicht wesentlich hinaus. Dies mag paradox erscheinen, aber Petersen liefert zwar weitere und umfassendere Belege für den bei Stanzel konstatierten Anstieg der Verwendung des »epischen Präsens« – auch wenn er diesen Terminus von neuem vorschlägt, ohne ihn auf den oben wiedergegebenen Ursprung bei Stanzel zurückzuführen162 – und beschreibt unterschiedliche Arten der Verwendung (z. B. »Fiktions-Präsens« für im Präsens geschilderte Imaginationen des Ich-Erzählers in Frischs Mein Name sei Gantenbein163), bezeichnet aber gleichzeitig immer wieder den Wechsel zwischen epischem Präteritum und epischem Präsens in etlichen erhobenen Textstellen als »vollkommen willkürlich«, als »Tempusgemisch, das keine oder meist keine Funktion besitzt« resp. beide Tempora als in »funktionsloser Kombination« wechselnd164. Den Tempuswechsel als im Dienst eines »artistischen Kalküls«165 stehend sieht Petersen nur fallweise im Zusammenhang bestimmter Prinzipien realisiert, die für ihn zentrale Beschreibungskategorien der Moderne darstellen. So sieht er etwa in Konrad Bayers Roman der sechste sinn von 1969, der mit assoziativen Ketten von Handlungs- und Beschreibungselementen spielt und keinem traditionellen Erzählaufbau folgt, ein Programm moderner Beliebigkeit realisiert, das Auflösung als Strategie betreibt und für Petersen einzig vor einem Hintergrund der Negation steht: Das temporale Durcheinander sowie die Tempus-Vertauschungen entsprechen offenbar der verwirrenden Variation des Textmaterials und der Situationen. Es läßt keine verbindliche Rezeption zu, gibt vielmehr das Leserverständnis frei und etabliert damit jene rezeptionsästhetischen Freiräume, die für die Kunst der Moderne im Ganzen so kennzeichnend sind. Die Befreiung nicht nur der Kunst von Vorgaben durch den Staat, die Religion, die Wirklichkeit usf., sondern auch des Rezipienten von Rezeptionsanweisungen etabliert die vollkommene ästhetische Ungebundenheit, die dem Grundsatz l’art pour l’art entspricht und in der der Entwicklungsprozeß der abendländischen Kunst kulminiert. Deshalb ist es die Moderne, in der die Ordnungen ins Wanken geraten, auch die temporalen: Denn mag die Aufhebung aller Ordnungen zum Chaos
162 163 164 165
Vgl. ebda., S. 80. Vgl. ebda., S. 75. Vgl. ebda., S. 84 u. 88. Vgl. ebda., S. 84.
Ausblick
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führen, so führt sie doch auch zur vollkommenen Ungebundenheit, und damit zu einer von allem Nicht-Ästhetischen befreiten Kunst.166
Im Zusammenhang dieser Grundannahme alles bestimmender moderner Auflösungstendenzen steht für Petersen auch die Aufhebung einer bindenden Konzeption von Fiktionalität. Die für ihn bis dahin im Roman unumschränkt geltende Fiktion einer ungebrochen von der Realität abgehobenen Erzählwirklichkeit werde nun in Romanen wie Manns Joseph und seine Brüder und Frischs Mein Name sei Gantenbein zum einen durch allumfassende Ironisierung relativiert und in beiden Fällen durch die Einsetzung einer Narratorfigur unterwandert, die »das Erzählte als bloß ausgedacht, als lediglich mögliches Geschehen preisgibt«, so Petersen167. Nur ob der Narrator das Erzählte als ausgedacht erklärt, entscheide darüber, ob es seine fiktionale Glaubwürdigkeit einbüße oder nicht, der Hinweis darauf, daß nur Einbildungen des Erzählers zur Sprache gekommen seien, raube dem Erzählten jede Glaubwürdigkeit und setze die beglaubigende Funktion geschlossen-fiktionalen Erzählens außer Kraft168 ; das genannte »Fiktions-Präsens« etwa signalisiere dies und gebe das Erzählte als bloße Fiktion preis169. Für Petersen ist daher der veränderte Tempusgebrauch in erster Linie in diesem Zusammenhang seiner Diagnose, daß es keine feststehende Erzählfiktion mehr gibt und das Erzählte gleichsam aus dem Bereich der Fiktionalität geführt wird, relevant und beobachtenswert; darüber hinaus verbleibt sein Interesse für die Variationen dieses Tempuswechsels im kleinen nur gering bzw. analysiert Petersen die jeweiligen Textstellen im Detail nicht, wenn auch seine Beispiele deren Vielfalt belegen. Konstatiert wird etwa (anhand eines Detektivromans von 1985), daß das epische Präsens längst nicht mehr »auf poetische Experimente beschränkt« sei, Folge dieser Verbreitung sei aber eben das »funktionslose Tempus-Gemisch im deutschen Roman der Gegenwart«: Denn da das Präsens offensichtlich nicht weniger tauglich ist als das Präteritum, wenn fiktional erzählt werden soll, kann man auch von einem Tempus ins andere überwechseln, ohne daß man damit irgendwelche Veränderungen hervorruft. Das 9. Kapitel von Christa Wolfs »Kindheitsmuster« beginnt folgendermaßen: Vorgestern, in einer Aprilnacht 1983 – du kommst, einer Umleitung wegen, nicht auf der Hauptstraße, sondern über die Dörfer allein im Auto nach Hause, etwas müde, daher angespannt aufmerksam –, hast du beinahe eine Katze überfahren. Es war auf dem Katzenkopfpflaster einer Dorfstraße.[25]
166 167 168 169
Ebda., S. 85. Vgl. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, S. 32. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 28.
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Tempus und Tradition
Präsens, Perfekt, Imperfekt miteinander verknüpft und durch ein zurückweisendes Zeitdeiktikum bereichert, – dergleichen zeigt die Beliebigkeit der Tempuswahl. Wenig später lesen wir : Zum »Dienst« in der Hitler-Jugend muß Nelly sich gedrängt haben. In der langen Schlange steht sie vor der Turnhallentür, hinter der die bedeutsame Prozedur der Einschreibung vor sich ging: Bald darauf sitzt sie in einem Klassenzimmer. Der erste Heimabend findet statt, mit den anderen singt sie: »In dem Walde steht ein Haus«, ein Kinderlied, dessen sehr einfacher Text mit Handbewegungen begleitet wird. Der Vorgang war peinlich […][26] Der Tempuswechsel besitzt nicht die geringste Bedeutung, hier tritt kein historisches Präsens, kein Vorzeitigkeits-Präteritum in den Vordergrund, sondern episches Präsens und episches Präteritum bilden ein willkürliches Tempusgemisch, das den Gebrauch der Zeiten als nebensächlich oder gar belanglos wirken läßt. Dergleichen ist seit den 60er Jahren geradezu an der Tagesordnung.170
Ob also etwa Christa Wolf die jeweils gewählten Tempora mit ganz bestimmten geschilderten Ereignissen korreliert (im Schreibprozeß stellt sich diese Frage ja mit jeder einzelnen Setzung), ob und welches Konzept von Erinnerung über dieses Mittel im Text konstituiert wird oder welche Reflexionen zur Erzählerinstanz daran abzulesen sind (einfache Ersatzproben in den zitierten Textstellen zeigen schnell die Relevanz dieser Fragestellung), steht für Petersen nicht im Fokus, der solche Tempuswechsel keiner weiteren Analyse unterzieht. Seine Einschätzung der Verfahrensweise von Christa Wolf steht also exemplarisch für andere, wie Petersen insgesamt Verwendungen dieser Art nur dem genannten Muster zuordnet, das, unter Berufung auf Umberto Eco, Beliebigkeit als eine der Grundkonstanten der Moderne behauptet. Für ihn belegt dieser Einsatz den »ästhetischen Wandlungsprozess«, der an die Stelle eines »geschlossenen, streng funktionalen Kunstwerks« ein »offenes« setze, dieses sei ein »das Gemeinte in der Schwebe belassendes Produkt«: Darin spiegelt sich gewiß der Verlust eines festen Weltbildes in der Moderne wider, Folge der beliebigen Herstellbarkeit von Welt und Wertsystemen, nachdem der Mensch mit Hilfe von Naturwissenschaft und Technik zum Beherrscher der Welt geworden ist. Da sich alle metaphysischen Verankerungen gelöst haben, da der Mensch selbst zum Subjekt der Geschichte geworden ist und damit alles seiner Willkür überantwortet wurde, lassen sich geordnete Handlungen, gesicherte Anschauungen, Bildungsziele und gefestigte Weltbeziehungen nicht mehr »ins Werk setzen«. Erzählästhetisch hat dies die Auflösung fester, geschlossener Modelle zur Folge, also auch die der Gegenüberstellung von epischem Präteritum und räsonierendem Präsens.171
170 Ebda., S. 25f. 171 Ebda., S. 26.
Ausblick
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Petersen bietet also in bezug auf einen bestimmten Teil der von ihm untersuchten Werke eine pauschalisierende Interpretation an und differenziert vor allem dann nicht weiter, wenn sich episches Präteritum und szenisches Präsens im Text so abwechseln, daß nur eine erweiterte Analyse zusätzliche Befunde bereitzustellen vermag. Indem Petersen damit Hamburgers Position, die Fiktionslogik als einzig relevanten Punkt der Betrachtung gelten zu lassen, letztlich stützt, gerät das Warum des Tempuswechsels weiter aus dem Blick, und mit ihm die Entwicklung hin zu einem Gebrauch wie dem Robbe-Grillets und von dort weiter. Einer vereinfachenden Korrelation zwischen »beliebiger« Tempuswahl und der Darstellung historischer Veränderungsprozesse der Moderne, wie sie das Zitat zeigt, kann jedenfalls nicht zugestimmt werden. Auch lässt Petersen, wie angedeutet, das Moment einer Erzählerfiktion vor Thomas Mann nicht zu172, indem er deren Definition stark einschränkt; die vorliegende Arbeit möchte dagegen auch in dieser Hinsicht die Leistung der Tempuswahl in einem Textganzen ohne vorherige Funktionsfestlegungen belegen.
172 Vgl. ebda., S. 31f. und 35.
III.
Zu Forschung und Rezeptionsgeschichte der Wahlverwandtschaften
III. 0. Vorüberlegung Nach Goethes Selbstaussage wird in den Wahlverwandtschaften an den Folgen der Handlungen der Figuren deren Schicksal dargestellt: Das Publicum lernt niemals begreifen, daß der wahre Poet eigentlich doch nur, als verkappter Bußprediger, das Verderbliche der Tat, das Gefährliche der Gesinnung an den Folgen nachzuweisen trachtet. Doch dieses zu gewahren, wird eine höhere Cultur erfordert, als sie gewöhnlich zu erwarten steht. Wer nicht seinen eigenen Beichtvater macht, kann diese Art Bußpredigt nicht vernehmen.Der sehr einfache Text dieses weitläufigen Büchleins sind die Worte Christi: W e r e i n W e i b a n s i e h t , i h r e r z u b e g e h r e n pp. Ich weiß nicht, ob irgend jemand sie in dieser Paraphrase wieder erkannt hat.173
Die zweite immer wieder zitierte Äußerung Goethes zu den Wahlverwandtschaften lautet: Goethes Geburtstag. Mit ihm über den neueren Roman, besonders den seinigen. Er äußerte: »Seine Idee bei dem neuen Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹ sei: soziale Verhältnisse und die Konflikte derselben symbolisch gefaßt darzustellen.«174
Die Darstellung ist somit in dem Sinn als bildliche aufzufassen, als wir aufgerufen sind, ihren metaphorischen Charakter zu erkennen und die Handlungen der Figuren als Konsequenzen ihrer persönlichen Veranlagung oder der Situa173 Aus einem Brief Goethes an Joseph Stanislaus Zauper vom 7. September 1821, siehe die Zusammenstellung der Selbstäußerungen Goethes zum Roman und der Beurteilungen durch andere im Kommentarteil der Hamburger Ausgabe: »Die Wahlverwandtschaften« im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen, HA, Bd. 6, S. 638–671, hier S. 642. 174 Tagebucheintragung Riemers vom 28. August 1808, zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Herausgegeben von Karl Eibl u. a., II. Abteilung, Bd. 6: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis 6. Juni 1816, Teil I: Von Schillers Tod bis 1811, Herausgegeben von Rose Unterberger, Dt. Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 99), S. 361 (= Frankfurter Ausgabe, im weiteren als FA abgekürzt).
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tion, in der sie sich befinden, zu entschlüsseln. Es ist daher nur logisch, wenn ein Darstellungsmodus gewählt wird, der in erster Linie dem Leser eine möglichst unverstellte Betrachtung liefert. Als nüchtern und sachlich schildernd wurden denn auch die Wahlverwandtschaften vielfach empfunden; Bettine Brentano etwa verteidigte Goethes »Objektivität« gegenüber jenen Kritikern, die den Roman als unsittlich ablehnten. Goethe habe den Inhalt nicht gebilligt, sondern nur »objektiv geschildert«175. Die Gründe für den anhaltenden Erfolg der Wahlverwandtschaften liegen aber klarerweise nicht nur im Skandal, den die Schilderung einer Liebesnacht zwischen Eheleuten bei seinem Erscheinen verursacht hat. Und vergleichen wir die Darstellung der Auswirkung der gleichsam naturgesetzlichen Anziehungen auf den Protagonisten mit dem Diktum von der Sachlichkeit der Schilderung, so wird schnell klar, daß der Sachlichkeit des Erzähltons – wenn wir sie denn so empfinden – zumindest der starke Gefühlsgehalt des Erzählten gegenübersteht: Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung. Zu schlafen denkt er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfällt, sich auszuziehen. Die Abschrift des Dokuments küßt er tausendmal, den Anfang von Ottiliens kindlich schüchterner Hand; das Ende wagt er kaum zu küssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt. ›O daß es ein andres Dokument wäre!‹ sagt er sich im stillen; und doch ist es ihm auch schon die schönste Versicherung, daß sein höchster Wunsch erfüllt sei. Bleibt es ja doch in seinen Händen! und wird er es nicht immerfort an sein Herz drücken, obgleich entstellt durch die Unterschrift eines Dritten? Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Eduarden ins Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen. Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit. Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenstern. Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe. ›Mauern und Riegel‹, sagt er zu sich selbst, ›trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht getrennt. Stünde sie vor mir, in meine Arme würde sie fallen, ich in die ihrigen, und was bedarf es weiter als diese Gewißheit!‹ 175 Vgl. Heinz Härtl (Hrsg.), »Die Wahlverwandtschaften«. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832, Acta humaniora (Akademie-Verlag Berlin), Weinheim 1983, S. 213f.: Härtl zitiert aus Johann Nepomuk von Ringseis Erinnerungen von 1810: »Um jene Zeit erschienen G ö t h e’s Wahlverwandtschaften; ich hatte das Buch noch nicht gelesen, als ich schon das lebhafteste Für und Wider verhandeln hörte. Jacobi schrieb aus München mit sittlicher Empörung an Savigny, daß er nicht begreife, wie Göthe einen solchen Namen habe an’s Licht setzen können. Savigny und Frau stellen sich mit Milde, Bettine Brentano mit Lebhaftigkeit auf Göthe’s Seite: er habe ja nur objektiv g e s c h i l d e r t , nicht g e b i l l i g t . Als ich später das Buch kennen lernte, konnte ich mich nicht so unbedingt dieser Vertheidigung anschließen. Mag Göthe immerhin das geschilderte Verhältniß mißbilligen […], offenbar steht er doch rathlos vor der Macht der künstlerisch von ihm empfundenen Leidenschaft und jene kühle Warnung nimmt sich aus wie das einem delirirenden Fieberkranken höflich gebotene Glas Wasser. Göthe kannte eben nicht aus lebendiger Anschauung, aus eigener innerster Erfahrung die wahre und einzige Hülfe, die übernatürliche Gnade mit ihren sakramentalen Heilmitteln.«
Vorüberlegung
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Alles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich; so still wars, daß er das wühlende Arbeiten emsiger Tiere unter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind. Er hing ganz seinen glücklichen Träumen nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher, als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die frühsten Nebel gewältigte. (WV 327)
Die Verwendung des szenischen Präsens verbindet in den Wahlverwandtschaften in erster Linie Szenen aus dem 13. und 14. Kapitel des ersten wie des zweiten Teils, auch an dieser Parallelstrukturierung können wir also schon den intentionalen Einsatz des Präsens zur Heraushebung bestimmter Handlungsteile erkennen. Steht es aber im Zeichen der Sachlichkeit und dient damit in erster Linie der »objektiven« Schilderung, die Bettine Brentano und viele andere im Roman verwirklicht fanden, oder ist es mehr jene Form, die zum Einsatz kommt, wenn das Gefühl überhand nimmt, wie die Schilderung von Eduards nächtlicher Erregung nahelegt? Dazu ist den Äußerungen der Zeitgenossen nur wenig zu entnehmen, man kann also nur versuchen, sich diesem Empfinden anzunähern, wohl wissend, daß es Interpretationen aus dem Nachhinein sind. Nichts zeigt dieses Nachhinein so sehr wie die Tatsache, daß die Bibelstelle, die Goethe in seinem Brief an Zauper ganz selbstverständlich abkürzt, auch in der Sekundärliteratur so gut wie nie aufgelöst, also zur Gänze zitiert wird. Sie findet sich in Matthäus 5,28: »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.« Ihre letzten Worte geben den Hinweis auf den zentralen Ort des Dramas der Wahlverwandtschaften. Als Darstellung der Geschehnisse an diesem Ort möchte ich die Präsenspassagen der Wahlverwandtschaften interpretieren. Da, wie ausgeführt, die Forschungslage sowohl zur literarischen Tempussetzung allgemein als auch die Auseinandersetzung damit in bezug auf Goethe einigermaßen prekär ist, geht es in der folgenden Zusammenstellung darum, die Anknüpfungspunkte und Parameter abzustecken, die eine tiefergehende Interpretation und Einordnung der Tempusstilistik der Wahlverwandtschaften in den umfassenden Forschungskontext zu diesem Roman erlauben. Die wenigen expliziten Äußerungen zu diesem Thema bilden dabei den Rahmen, innerhalb dessen einige grundlegende Begriffe beleuchtet werden, die zur Einordnung und zum Verständnis der Wahlverwandtschaften und ihrer spezifischen Gestaltung unerläßlich sind. Goethes eigene Äußerungen zum Roman gelten dabei meist mehr als verrätselnd denn als aufhellend, ihnen werden bestimmte Stichworte entnommen und mit den Positionen der Sekundärliteratur in Beziehung gesetzt. Die Darstellung wird also mehr schwerpunktmäßig als chronologisch um zentrale Begriffe wie den des Symbols, der Natur(wissenschaft) und den des Dämonischen angeordnet und um die Analyse einiger Textstellen ergänzt. Angesichts der Fülle an Literatur zu den Wahlverwandtschaften, vermutlich einer der
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meistbeschriebenen Romane der deutschen Literatur, kann sich eine solche Zusammenstellung freilich nur als Einblick, nicht als Überblick verstehen. Die verstärkte Einbeziehung der Zeugnisse der Zeitgenossen verdankt sich dabei dem Respekt vor deren Anschaulichkeit, die oft nur mehr in normierten Spuren überlebt. Wichtig sind diese Zeugnisse vor allem, um die spezifische, zwiespältige Art der »Zeitverbundenheit« dieses Romans, der als verrätselt und symbolträchtig gilt, nachvollziehen zu können. Der Zwiespalt der Zeitgenossen spiegelt die Ambivalenzen, die die Wahlverwandtschaften bestimmen und die Rezeption von Anfang an begleitet haben. Wollte man diese auf einen Nenner bringen, ist es vor allem die Ambivalenz zwischen einer »realistischen« Darstellung zeitgenössischen Lebens, seiner gesellschaftlichen wie privaten Gegebenheiten und Konflikte, und der Überhöhung in eine tragische Roman-Novelle mit für die Zeit scheinbar anachronistischen religiösen Elementen, die sich als einer der Hauptgründe, wenn nicht als die prominenteste Ursache für die Schwierigkeiten der Deutung festmachen läßt. Zur Ungewißheit, ob und inwieweit die Darstellung metaphorisch ist, tritt die ungewöhnliche Form des Romans mit seiner dramatischen Grundstruktur, wie sie der Verwandtschaft zwischen Novelle und Drama entspricht. Auf die Nähe des Inhalts zu jenem einer griechischen Tragödie verwiesen schon die älteren Stimmen, später wurde etwa darauf hingewiesen, daß sich ebenso der Gang der Handlung leicht in eine fünfaktige Tragödie gliedern lasse176. Für Irritation haben unter anderem von Beginn an die Einschübe aus Ottilies Tagebuch gesorgt. Sie widersprachen aus Sicht der Zeitgenossen nicht nur der psychologischen Zeichnung einer jungen Frau, sondern wurden als störend für den Romancharakter empfunden. Ebenso häufig wurde Ottilies wundersame und scheinbar jeglicher Psychologisierung enthobene Schlußverwandlung in eine Heiligenfigur in ihrem Widerspruch zur wissenschaftlichen Experimentanordnung der übrigen Handlung dargestellt. Wie deutlich und im modernsten Sinn psychologisch die Präsensszenen die inneren Prozesse der Figuren beleuchten, möchte ich in der Analyse zeigen. Das Element des Prekären und Unheimlichen ist diesen Szenen von Anfang an eingeschrieben. So läßt sich auch besonders in diesen Szenen der spezifische und durchaus ambivalente Realismus der Wahlverwandtschaften verfolgen, der in der ratio der Figuren und der Darstellung ihrer vernunftbetonten Handlungsversuche die Gefahren der Emotion aufsucht. Wichtig ist dabei zugleich die Verbindung zum zeitgenössischen Konzept der psychologischen Darstellungsweise im Roman, wie sie in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman von 1774 zum Ausdruck
176 Vgl. Grete Schaeder, Gott und Welt – Drei Kapitel Goethescher Weltanschauung, Verlag der Bücherstube Fritz Seifert, Hameln 1947, S. 281.
Positionen der Sekundärliteratur
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kommt. Dies fließt in die Analyse ein, während der Forschungsbericht sich dem Thema des Darstellungsmodus von anderen Positionen her nähert. Diese Auswahl stellt also mehr die Frage, welche Grundlagen zur Interpretation der Tempusstilistik der Wahlverwandtschaften überhaupt notwendig sind, als daß sie diese eindeutig beantworten kann, es mögen daher Details dieser Zusammenstellung als ihr nur am Rande zugehörig erscheinen. Dem naturwissenschaftlichen Hintergrund etwa ist vielleicht mehr Platz eingeräumt, als die Fragestellung a prima vista erfordern mag. Dennoch halte ich es für notwendig, auch Fragen der Erzählhaltung – in einem weiten Sinn gebraucht – anhand des genaueren Wissens über Goethes Forschungsinteressen zu erhellen. In diesem Sinne stellt dieser Teil der Arbeit vor allem Informationen zum historischen Koordinatensystem zusammen; die Beleuchtung der Erzähltechnik und der Beziehung der Präsenspassagen zum Romaninhalt ist das Generalthema des Analyseteils. Vorab werden jedoch jene beiden Positionen zum Präsensgebrauch in den Wahlverwandtschaften präsentiert, die die Sichtung der Literatur ergeben hat.
III. 1. Positionen der Sekundärliteratur: Das historische Präsens im Dienst der Wiederholbarkeit der Ereignisse und als Zeichen der Wirkung des Dämonischen III. 1.1. Stillstand und Bewegung: Judith Reusch Neben dem in der Einleitung genannten Aufsatz Henning Brinkmanns von 1954, Zur Sprache der ›Wahlverwandtschaften‹, wird die Präsensverwendung meines Wissens nur in einer anderen Studie kommentiert, nämlich in Judith Reuschs Arbeit zu den mythologischen Bezügen im Roman177. Anders als Brinkmann, der das szenische Präsens als die versprachlichte Schicht des »Dämonischen« zeichnet und damit eine tiefergehende Deutung anbietet, faßt Reusch unter dem Titel »Das historische Präsens: ewige Bewegung« auf einigen Seiten das Phänomen des Präsensgebrauchs in den Wahlverwandtschaften zusammen. Zentral in Reuschs Darstellung ist, daß für sie die Schilderung im historischen Präsens mit Michail Bachtins »unendlicher Abenteuerzeit« des heliodorischen Romans im Zusammenhang steht. Das Moment der stillstehenden Zeit bzw. des Zeitverlustes, den die Protagonisten erleiden, steht bei Reusch im Mittelpunkt, es ist
177 Judith Reusch, Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004 (= Epistemata Würzburger wissenschaftliche Schriften Reihe Literaturwissenschaft Bd. 489–2004).
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Zu Forschung und Rezeptionsgeschichte der Wahlverwandtschaften
für sie gleichzeitig der Hauptgrund für den scheinbar anachronistischen Charakter der Wahlverwandtschaften als neuzeitlichem »Roman ohne Zeit«178. Nach Reuschs Lesart versuchen die Protagonisten ihrem gestörten Verhältnis zur Zeit einerseits durch Verdrängen des Bewußtseins der dahinfließenden, linearen Zeit und andererseits durch die Gegenkonstruktion eines zyklischen Zeitverlaufs durch Wiederholungen (z. B. von Ritualen wie den Geburstagsfesten) zu entgehen. Auch die Inszenierung erstarrter Szenerien wie jener der Tableaux vivants stehen für Reusch sinnbildlich für die fehlende Akzeptanz der Figuren hinsichtlich der Gegebenheiten des Ablaufens der Zeit und für ihren Versuch, diesen Ablauf anzuhalten. Zeit ist so in den Wahlverwandtschaften »keine absolute Größe, sondern eine ungeliebte, scheinbar manipulierbare Dimension. Sie wird […] zu einem konturlosen, nicht greifbaren Faktor«179. Dies äußert sich etwa in der fehlenden Angabe von Wochentagen, die Wiederkehr von gleichen oder ähnlichen Ereignissen, die die Figuren herbeiführen, verwischt alle Zeitabläufe, die Zeit bewegt sich zyklisch. Das historische Präsens, so Reusch, markiert nun bestimmte Punkte in dieser zyklisch angelegten Zeit; auf diese Weise entstehe der Eindruck »eines Zeitstillstands innerhalb des Zyklus«180. Der Zeit negierenden Wiederholung von Ereignissen durch die Protagonisten kommt in Reuschs Gesamtdeutung des Romans eine wichtige Funktion zu. Für sie repräsentiert sie das unbewußte Streben der Figuren nach Rhythmisierung und Ordnung der zeitlosen Zeit, die sich die Protagonisten schaffen. Der Eindruck des Zeitstillstands, der sich nach Reusch im szenischen Präsens ergibt, basiert vor allem auf dem Fehlen von Zeitangaben: Bestimmte Augenblicke der Handlung in den »Wahlverwandtschaften« lassen sich zeitlich weder in ihrer Dauer noch in ihrer Plazierung im Roman festmachen. Da sie im Präsens erzählt werden, entziehen sie sich dem linearen Zeitgefühl: Es entsteht dadurch der Eindruck eines Zeitstillstands, der sich selbst bei der wiederholten Lektüre immer wieder gegen die genaue Einordnung in den linearen Zeitablauf sperrt. Wie lange z. B. Ottilie auf dem See mit dem toten, gen Himmel gehobenen Kind Otto in ihren Armen verharrt, kann nicht gesagt werden. Ob in diesen bangen Augenblicken, dem längsten im historischen Präsens verfaßten Abschnitt des Romans, Stunden oder nur wenige Minuten vergehen, geht aus dem Text nicht hervor.181
Das szenische Präsens ist so für Reusch ein Mittel, das problematische Verhältnis der Figuren zur Zeit abzubilden. Über der Konstruktion von scheinbar ewigen, unveränderbaren Abläufen geht ihnen schließlich der Sinn für Zeit überhaupt verloren, sie leben in anderen Zeitstrukturen, nämlich solchen, die an die 178 179 180 181
Vgl. ebda., S. 11. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 12. Ebda.
Positionen der Sekundärliteratur
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Zeitlosigkeit des Mythos erinnern. Dementsprechend widmet Reusch den Hauptteil ihrer Arbeit den mythischen Grundlagen, die dieses Vergessen der Zeit aus der Zeichnung der Protagonisten als »göttliche Nachkommen des Chronos«182 erklärt. Sie ordnet Eduard die Rolle des Zeus, dem Hauptmann als Herrscher über das Wasser jene des Poseidon, Ottilie die Rolle der Hestia als Göttin des Hauses und ewiger Jungfrau und Charlotte die der Hera als betrogener Ehefrau zu. Auch Nebenfiguren werden so charakterisiert, so spricht Reusch Mittler die Rolle des Todesboten Hades zu. Auch an anderen Motiven erläutert sie die mythologischen Bezüge der Wahlverwandtschaften, so wird etwa auf die nur sehr undeutliche Kenntlichmachung der historischen Hintergründe im Roman verwiesen: in welchen Krieg Eduard zieht, als er Charlotte und Ottilie verläßt, wird nicht gesagt. Ebenso interpretiert Reusch die Beschreibung von Schloß, Park und See ohne Nennung konkreter Orte oder Landschaften als Zeichnung eines »beispielhaften Raums« im Sinne des griechischen Romans mit seiner Abenteuerzeit und dem Absehen von einem realen Referenzraum183. Vor allem die Kategorie der von außen einwirkenden Naturmächte verbindet für Reusch die Wahlverwandtschaften mit dem antiken Abenteuerroman in der Beschreibung Bachtins. Doch während dort der Zufall als Ausdruck der »Einmischung irrationaler Kräfte«184, wie es bei Bachtin heißt, also der Götter, Dämonen, Zauberer und vor allem des Schicksals, in das menschliche Leben eingreift, wird im neuzeitlichen Roman der Wahlverwandtschaften die Liebe nicht von Eros selbst geschickt. Hier sind es vielmehr die Kräfte der Natur, das Naturgesetz, das als »unüberwindbare Gottheit der Neuzeit«185, wie es Reusch formuliert, die Figuren bestimmt. Der Naturnotwendigkeit sind mithin die Protagonisten der Wahlverwandtschaften so wehrlos ausgeliefert wie die antiken Romanfiguren dem Wirken des Schicksals: Nicht individuelle Kräfte wirken hier also, keine persönlich motivierte Liebe, kein langsames Herantasten und Kennenlernen, bei dem die Liebe allmählich entsteht. Es sind dämonisch anmutende Naturgewalten, die hier ihre Wirkung entfalten, wenn Eduard bereits nach dem ersten Zusammentreffen mit Ottilie von ihrer Schönheit geblendet ist und seine Besonnenheit zugunsten einer bereits erwachten Anziehung eingebüßt hat.186
Das Leben der Protagonisten in und mit der Natur stellt daher für Reusch einen weiteren Beleg für die Konzeption der Welt der Wahlverwandtschaften als in sich geschlossener Mikrokosmos dar, in dem sich die Figuren ganz der Zeitverges182 Vgl. ebda., S. 39. 183 Vgl. ebda., S. 26f. 184 Vgl. Michail M. Bachtin, Chronotopos, Aus dem Russischen von Michael Dewey, Suhrkamp Verlag, Berlin 2008 (stw 1879), S. 18. 185 Vgl. Reusch, Zeitstrukturen, S. 27. 186 Ebda.
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Zu Forschung und Rezeptionsgeschichte der Wahlverwandtschaften
senheit und Traumverlorenheit ihrer ländlichen Idylle hingeben. Genau dies führt sie aber auch in die Katastrophe. Nicht nur, daß die innere Abgewandtheitheit der Protagonisten der Außenwelt gegenüber sie zu falschen Einschätzungen der linear ablaufenden Zeit und damit zu Versäumnissen führt, darüberhinaus muß die Idylle auch daran zerbrechen, daß die einzelnen Charaktere an sie unterschiedliche Erwartungen haben187. So lebt Charlotte ganz auf die Vergangenheit bezogen und möchte diese wiederaufleben lassen, Eduard hingegen ist nur auf die Zukunft mit Ottilie konzentriert, diese lebt, von ihrer Liebe zu Eduard überwältigt, überhaupt abgehoben von jedem Zeitmaß und so fort. Vor allem am Motiv des kurz nach der Geburt schon todgeweihten Knaben läßt sich für Reusch die Umkehr und Zerstörung der Idylle im Roman festmachen. Auch hier werden Zeitverhältnisse angedeutet, die entgegen einer idyllischen antiken Lebensreihe von Generationen eingesetzt werden. Das Kind trägt den »ewigen Kreislauf des Lebens« nicht weiter, sondern repräsentiert durch seine allzu kurze Lebenszeit das Gegengewicht zur von Langeweile und Versäumnissen geprägten falsch genützten Lebenszeit seiner Eltern. So »demonstrieren die »Wahlverwandtschaften« bereits den Abbruch einer Lebensreihe«188. Dem historischen Präsens kommt also in Reuschs Interpretation die Funktion zu, den Konflikt der Figuren als Konflikt des Zeitbezugs abzubilden, der die Bruchstelle ihrer an der Realität vorbeigehenden Lebensentwürfe bezeichnet. Das von Reusch hervorgehobene Motiv der Versäumnisse und der Verblendung der Figuren durch ihre alles andere negierende Konzentration auf ihre je eigenen Wünsche und Vorstellungen möchte ich explizit als wichtiges Thema der Präsenspassagen im Roman festhalten. Reusch spricht hier eine zentrale Kategorie der durch das historische Präsens herausgehobenen Szenen an, die sie jedoch nicht der genauen inhaltlichen Analyse dieser Passagen selbst entnimmt, sondern an den Parallelen zum antiken Roman festmacht. Ihrer Interpretation des historischen Präsens als Zeichen des Zeitstillstands innerhalb der für die Figuren zyklisch verlaufenden Zeit sind daher noch einige Facetten hinzuzufügen, in erster Linie eine tiefergehende Beleuchtung der Frage der Wahrnehmung der Figuren. Wie die Analyse zeigt, spielt das Moment der Entzeitlichung oder der vorübergehenden Aufhebung der Zeit in den Präsenspassagen tatsächlich immer wieder eine große Rolle. Darüberhinaus thematisieren diese Szenen aber vor allem auch Zustandekommen und Folgewirkungen der problematischen Wahrnehmung der Figuren und stellen dadurch die in den Präsensszenen dargestellten Ereignisse auch in einen aktuelleren Zusammenhang als jenen, den Reusch in ihrer Arbeit herausstreicht. Ähnlich verhält es sich mit Reuschs Darstellung der Figuren, die einer je individuellen Veranlagung gemäß handeln. 187 Vgl. ebda., S. 37f. 188 Ebda., S. 38.
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Auch dieser Aspekt kommt in der Analyse der Präsensszenen immer wieder zum Tragen. Gegenüber Reuschs Fokussierung auf antike Vorbilder möchte ich aber den Aspekt einer modernen Zeichnung von Charaktermustern betonen, die die Wahlverwandtschaften in stärkerem Ausmaß als psychologischen Roman ausweisen, als dies Reuschs Studie nahelegt. Die Wahlverwandtschaften gehen in ihrer Figurenzeichnung nicht hinter die Thematisierung von Vernunft und vernunftgesteuertem Handeln zurück, die Drama und Roman der Aufklärung zur Debatte gestellt haben. Die antiken Bezüge, denen Reusch unter Berufung auf viele andere Studien einleuchtend nachgeht, stehen dennoch nicht im Gegensatz zu den Aspekten, die ich untersuchen möchte, sondern sind ergänzende Grundlage und Voraussetzung dieser Analyse. Reuschs These vom Präsens als Zeitstillstand berührt also einen wichtigen Punkt, erfaßt den komplexen Inhalt der Präsensstellen in den Wahlverwandtschaften aber nicht ganz. Der zweite Punkt ihrer Interpretation betrifft die paradoxe Wirkung der Gleichzeitigkeit von Stillstand und Bewegung, die das Festhalten von Ereignissen im szenischen Präsens hervorruft. Reusch interpretiert außerdem die Präsensverwendung immer als Kennzeichen eines Handlungshöhepunkts und setzt sie in Beziehung zu einer oft zitierten Äußerung Goethes, wonach die Wahlverwandtschaften sich dem Leser erst bei wiederholter Lektüre erschließen189 : Das historische Präsens wird eingesetzt, sobald ein Höhepunkt einer Handlung besonders hervorgehoben werden soll. Es hat ferner die Eigenschaft, das Geschehene, das im Präsens erzählt wird, durch den Leseakt des Lesers gleichsam immer wieder geschehen zu lassen. Der Leser hat im Augenblick der Lektüre das Gefühl, die Begebenheit spiele sich jetzt, in diesem Augenblick für ihn ab. Diese unmittelbare Vorgangsnähe mag zwar bei allen epischen Werken mit Einschüben von historischem Präsens die Regel sein, allerdings begründet sich die Einzigartigkeit in diesem Falle durch den ausdrücklichen Wunsch des Autors, das Werk mehrmals zu lesen. Durch die Wiederholung der Lektüre werden die im Präsens erzählten Situationen immer wieder neu in ein illusionäres Leben gerufen. Ottilie hebt zum wiederholten Male in einem Boot mitten auf dem See gefangen das tote Kind gegen den Himmel (S. 497), Eduard irrt noch einmal verliebt und unruhig durch sein Schloß, ohne Ruhe zu finden (S. 369), der Knabe, der an Ottilies Geburtstag fast ertrinkt, wird noch einmal ins Leben gerufen (S. 380) und Ottilie stirbt zum wiederholten Male (S. 523). Die Beschreibungen dieser im historischen Präsens geschilderten Situationen gleichen Inhaltsangaben und Bildbeschreibungen, die auch im Präsens formuliert werden. Ottilie verfällt am häufigsten in die Posen eines unbewegten Bildes, und in diesem Augenblick scheint der Erzähler auch nicht mehr einen Handlungsablauf, sondern ein unbewegtes Standbild 189 Als Grundlage dieser Ansicht gilt allgemein die Bemerkung zu Eckermann vom 9. Februar 1829: »Es ist in den ›Wahlverwandtschaften‹ überall keine Zeile, die ich nicht selber erlebt hätte, und es steckt darin mehr, als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen im Stande wäre.« Siehe Kommentar, HA, Bd. 6, S. 644.
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zu beschreiben. Im Gegensatz zum unwiederbringlichen Präteritum bleibt hierbei das Präsens omnipräsent und immer wieder nachvollziehbar. Es entsteht dadurch ein Stillstand im Zeitablauf des Zeitzyklus im Roman. Die Zeit scheint besonders schnell und gleichzeitig gar nicht abzulaufen.190
Hier ist verschiedentlich zu differenzieren, auch wenn Reuschs Lesart des Präsens als Kennzeichnung der Handlungshöhepunkte auf mehrere Szenen zutrifft. Insgesamt orientiert sich Reusch hier aber hauptsächlich an den Präsensszenen im zweiten Teil, in dem vor allem die Szene des Kindstods im Mittelpunkt steht und die Schilderungen von Ottilies und Eduards Tod ebenfalls im Präsens an diese anschließen. Daß das Präsens bei allen Vorkommen im Roman einen Handlungshöhepunkt bezeichnet, muß dagegen relativiert werden. Vor allem im ersten Teil trifft dies nicht immer zu, gerade die bei Reusch erwähnte Szene der Errettung des beinahe ertrinkenden Kindes bei Ottilies Geburtstagsfest folgt nicht diesem Schema. Auch der allererste Einsatz des szenischen Präsens ganz am Ende des zwölften Kapitels des ersten Teils bezeichnet keineswegs den Mittelpunkt einer Szene, es sei denn, man liest diesen Einsatz als ins Zentrum des Romans als ganzen zielend. Eine solche Interpretation versuche ich in der Analyse der Präsenspassagen im vierten Kapitel. Auch die paradoxe Wirkung des Präsens als gleichzeitig festhaltend und dynamisierend nehme ich am Schluß des Analyseteils wieder auf, ebenso die damit verbundene Frage der gleichsam konservierenden Eigenschaften des Präsens, die der Tempuswechsel aktiviert. Vor allem aber versuche ich, die Präsensszenen als über bestimmte Motivketten verknüpfte Handlungsteile zu lesen, die in ihrer Problematisierung von Interpretationsprozessen der Figuren auf den inhaltlichen Kern des Romans als Drama der Wünsche und Beobachtungen verweisen. Eine solche Interpretation erlaubt nämlich die Einordnung und Integration aller Szenen im Präsens in den Deutungszusammenhang, diese Einbeziehung einzelner von Reusch nicht genannter und bei Brinkmann nur erwähnter Stellen stellt mithin den wichtigsten Unterschied meiner Interpretation zu beiden Positionen dar. Reusch betont, daß ein durchgängiges Konzept, nach dem Goethe das Präsens in den Wahlverwandtschaften gebraucht, nicht zu erkennen sei191. Auch Brinkmanns Befund geht in diese Richtung, ein close reading der Szenen in ihrer Gesamtheit soll vorsichtig diese Lesart widerlegen und auf die mitunter erstaunliche Kohärenz der Motivverknüpfung aufmerksam machen. Reusch lenkt also das Augenmerk auf zentrale Merkmale der Präsensverwendung, geht im Übrigen aber nur punktuell auf einige Szenen ein. So beleuchtet sie den Gegensatz zweier von ihr genannter Szenen, der des Geburtstags Ottilies und jener, in der Ottilie das tote Kind zum Himmel hebt. Im ersten Fall, 190 Reusch, Zeitstrukturen, S. 158. 191 Vgl. ebda.
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so Reusch, scheint es um die gleichsam blitzartige Beleuchtung der schnell verlaufenden, einzigartigen Ereignisse zu gehen. Die Stelle, als der Chirurgus nach dem Unglück des Dammbruchs zur Rettung des beinah ertrunkenen Kindes hinzugezogen wird (»Der Chirurgus kommt und übernimmt den totgeglaubten Knaben; Charlotte tritt hinzu, sie bittet den Hauptmann nur für sich zu sorgen, nach dem Schlosse zurückzukehren und die Kleider zu wechseln. […] Charlotte sieht ihn nach Hause gehen, sie denkt, daß Wein und Tee, und was sonst noch nötig wäre, verschlossen ist […]; sie eilt durch die zerstreute Gesellschaft, die sich noch unter den Platanen befindet […]«; vgl. WV 337f.), spiegle, so Reusch, die »Hast und innere Unruhe des Augenblicks« wider192. Der Stil ist verbbetont und ohne Adjektive, dadurch wirke der Erzählfluß beschleunigt und die Wiedergabe wie ein Handlungsbericht. In der Szene des Kindstods dagegen werde breit geschildert, hier fehle keine Zeit, »das Geschehen mit differenzierten Angaben zu den Gefühlen und Gesten der beteiligten Personen sehr genau zu beschreiben«193. Reusch verweist auf das schmückende Beiwerk der »unendlichen Tränen« Ottilies und der Beschreibung des Wassers als dem »treulosen, unzugänglichen Elemente«. Diese Diagnose trifft ihrerseits wichtige Punkte der Verwendung, in Bezug auf drei andere von Reusch angeführte Szenen teile ich ihre Interpretation nicht. Es geht dabei zuerst um Eduards nächtliches Herumstreifen im Park nach der Szene des ersten offenen Gefühlsaustauschs zwischen ihm und Ottilie zu Beginn des 13. Kapitels des ersten Teils und um jene Szene zu Beginn des 10. Kapitels des zweiten Teils (das auch die Novelle der wunderlichen Nachbarskinder umfaßt), in der Charlotte und Ottilie mit dem Kind zum Haus auf der Höhe steigen und das Kind auf den Tisch in der Hütte »als auf einen häuslichen Altar«, wie es im Roman heißt, niederlegen. Reusch interpretiert beide Szenen als alltägliche und idyllisch verlaufende Momente der Handlung, die keinerlei bedrohliche oder hastige Elemente aufweisen. Eduards nächtliche Wanderung ist für Reusch zwar von seiner schwärmerischen Unruhe aufgrund der Verliebtheit in Ottilie geprägt, entbehre aber, so Reusch, jeglicher Tragik oder negativ zu wertender Hast194. Ähnliches konstatiert Reusch in Bezug auf Charlottes im Präsens wiedergegebenen Nachdenkprozess über die Möglichkeiten der Vermeidung weiterer Zusammenkünfte zwischen Eduard und Ottilie, der sich ebenfalls im 13. Kapitel des ersten Teils findet. Auch diese Szene steht für Reusch ganz im Zeichen einer harmonischen Schilderung von Gemüts- und Gedankenbewegungen, Charlottes Überlegungen seien zwar taktierend, darüberhinaus sind sie aber für Reusch vom Grundton der
192 Vgl. ebda. 193 Vgl. ebda., S. 159. 194 Vgl. ebda.
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Ruhe und Ausgeglichenheit getragen195. Sie folgert daher die Unvereinbarkeit der im szenischen Präsens gefaßten Textstellen: Die Textbeispiele sollen die grundsätzliche Verschiedenartigkeit der im historischen Präsens geschilderten Situationen beweisen. Es werden tragische, eilige, gefühlsbetonte und nachdenkliche Momente in ihnen ausgedrückt, was eine einheitliche Zuordnung unmöglich macht. Die Gemeinsamkeit besteht in der zeitlichen Nähe des Erzählers und des Lesers zum Erzählten. Diese Vorgangsnähe ermöglicht jedoch an manchen Stellen eine Beschleunigung des erzählten Geschehens, an anderen verlangsamt sich die Handlung durch den Gebrauch des Präsens zusehends.196
Reuschs Beschreibung der letzten drei genannten Szenen ist meines Erachtens keineswegs unzutreffend, ich betrachte sie nur als zu wenig weit ausgreifend in den Gesamtzusammenhang des Romans. Eine genauere inhaltliche Sichtung der von Reusch als ruhig und unspektakulär geschilderten Passagen fördert demgegenüber eine Reihe von Anspielungen und unterschwellig wirksamen Vorausdeutungen auf das dramatische Schlußgeschehen zutage, die unter Bezugnahme auf Peter von Matts Darstellung der strukturellen Doppelbödigkeit der Wahlverwandtschaften auch diese Szenen als Teil der durchaus beunruhigenden Konflikthandlung ausweist197. Nach einer Äußerung Goethes besteht einer der Haupteffekte des Romans darin, daß sich in ihm der »Kampf des Sittlichen« mit der Neigung »hinter die Scene verlegt« findet, die Personen der Wahlverwandtschaften, so Goethe, »[…] betragen sich wie vornehme Leute, die bei allem innern Zwiespalt doch das äußere Decorum behaupten«198. Diese Bemerkung kann man gerade den Präsensszenen in besonderer Weise unterlegen, die an der Oberfläche genau in der von Reusch identifizierten Weise harmlos und idyllisch erscheinende Vorgänge wiedergeben, in ihrer Motivsprache aber ganz andere Elemente transportieren. So wird Eduards nächtliches Wandern im Park und unter Ottilies Fenstern von einem Gefühlsausbruch begleitet, der unter Beifügung einer recht dramatischen Bildersprache eine Kette von fatalen Reaktionen auslöst, unter anderem eben jene Überlegungen Charlottes zur Trennung von Eduard und Ottilie, die Reusch anführt. Charlottes Nachdenkprozess wiederum wird als Verstrickung in eigene Wunschbilder und Schuldgefühle geschildert, die ihrerseits zu genau solchen Versäumnissen führt, die Reusch als Folge des gestörten Zeitempfindens der Figuren herausfiltert. Auch all das spielt sich in den Präsensszenen ab und ergibt ein dichtes Netz an Querbezügen unter den 195 Vgl. ebda., S. 160. 196 Ebda. 197 Vgl. Peter von Matt, Versuch den Himmel auf der Erde einzurichten, in: Heinrich Meier und Gerhard Neumann (Hrsg.), Über die Liebe. Ein Symposion, Piper Verlag, München 2001, S. 263–304. 198 Vgl. das im Kommentar wiedergegebene Gespräch mit Riemer vom Dezember 1809, siehe HA, Bd. 6, S. 640.
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einzelnen Passagen. Reuschs Interpretation der Harmonie und heiteren Verliebtheit in den letzten drei von ihr genannten Szenen ist daher nicht falsch, sondern kann vielmehr als Beleg für die zwiespältige Natur der allzu ruhig erfolgenden Wiedergabe gelesen werden. Nach Peter von Matt sind die Wahlverwandtschaften ein »Ehebruchsroman ganz ohne Eifersucht«, und zwar »aufs unheimlichste ohne Eifersucht«199. Der hierin angedeuteten Doppelnatur der Schilderung gehe ich daher im Analyseteil immer wieder nach.
III. 1.2. Personhaftes Sein und und dämonischer Antrieb: Henning Brinkmann Ein komplexeres Bild der Verwendung des Präsens in den Wahlverwandtschaften zeichnet Henning Brinkmann in seinem Aufsatz Zur Sprache der ›Wahlverwandtschaften‹ von 1954. Brinkmann beginnt seine Ausführungen mit einem kurzen Hinweis auf zwei Stellungnahmen Walter Benjamins und des GoetheForschers Paul Stöcklein, die die Klarheit des Stils und den stets ruhigen Tonfall der Wahlverwandtschaften betonen. Das bedeute jedoch nicht, daß das Romangeschehen immer den gleichen »Grundton« festhalte, so Brinkmann, sondern der Roman verfüge über zwei verschiedene Darstellungsweisen, wie im 13. Kapitel des zweiten Buches leicht zu erkennen sei200. Brinkmann wählt also die Szenen des überwiegend im Präsens erzählten Kindstods als Ausgangspunkt seiner Darstellung und geht auf die einleitenden Erzählereinschübe des Kapitels ein, die für ihn den Erzähler als »epischen Dichter« ausweisen. Als solcher überschaut er nach Brinkmann das Leben und kommentiert die Gespräche zwischen Eduard und dem Major zur Vorbereitung der Scheidung. Doch kehrt dann die Schilderung schnell zu Eduards Übergehung aller Bedenken, die der Major äußert, zurück, beide brechen auf, um Eduards Vorhaben der sofortigen Einleitung der Scheidung in die Tat umzusetzen. Der Major soll im Auftrag Eduards Charlotte aufsuchen und alles mit ihr besprechen. Brinkmann legt dabei den Akzent auf Eduards Drängen, dem die Raffung des ganzen Berichts der Stelle entspreche, und auf die ironische Art, mit der sich der Erzähler leichthin einmische: Unter allem, was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist vielleicht nichts Reizenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten ihr neues, frisches Verhältnis in einer neuen, frischen Welt zu genießen und einen dauernden Bund an soviel wechselnden Zuständen zu prüfen und zu bestätigen hoffen. (WV 452f.)
An der ganzen Einleitung des Kapitels, so Brinkmann, fällt die Vermeidung von unmittelbarer Aussage, also der Wiedergabe der Gespräche in direkter Rede, auf. 199 Vgl. Peter von Matt, Versuch den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 266. 200 Vgl. Brinkmann, Zur Sprache der ›Wahlverwandtschaften‹, S. 254.
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Brinkmann verweist auf die Häufung der Figur der Litotes, die etwas Positives durch Verneinung des Gegenteils ausdrückt, in der Darstellung der Unterredungen. Sie findet sich in Formeln wie »daß unsern beiden Freunden […] gegenseitig nichts verborgen blieb«, »der Major verhehlte nicht«, »Eduard […] sprach ohne Rückhalt«, »daß er keinen Tag länger anstehen mochte«, »doch konnte er sich nicht überwinden« (vgl. WV 452f.). Für Brinkmann kommt in dieser Gestaltung des Erzählerberichts und seiner Durchsetzung mit verallgemeinernden Einschüben eine wichtige Dimension der sprachlichen Gestaltung der Wahlverwandtschaften zum Ausdruck. Die Litotes deute tatsächlich auf Vermeidung, nämlich auf jene, mit der sich die Figuren selbst über die Konsequenzen ihres Tuns hinwegtäuschen wollen; diese bleiben aber nicht aus: Das ist Sprechweise der Gesellschaft, die sich so vor dem Unmittelbaren schützt. Da, wo dem Menschen die Verfügung über das Handeln erteilt wird, wie dem Major und Charlotte durch Eduard, geschieht das in einem Satzgefüge, das die Zukunft vom Willen abhängig macht (453,3–7): Der Major und Charlotte sollten unterdessen unbeschränkte Vollmacht haben, alles, was sich auf Besitz, Vermögen und die irdischen wünschenswerten Einrichtungen bezieht, dergestalt zu ordnen und nach Recht und Billigkeit einzuleiten, daß alle Teile zufrieden sein könnten. So scheint der menschliche Wille in seine Rechte eingesetzt. Eine plötzliche Verwandlung ereignet sich, als die beiden Freunde bei ihrem Ritt auf einmal in der Ferne das neue Haus erblicken, das in Eduards Abwesenheit fertig geworden (428,19–429,7) und zum Aufenthalt Charlottens und Ottiliens mit dem Kinde geworden war. Das »Dämonische« beginnt. Der Erzähler fährt fort (453,26): Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht. Das Präsens wird zum Signal. Damit verbindet sich das Zurücktreten des Subjekts (auf einmal erblickten sie – Eduarden ergreift – in einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten). Wo der Satz mit der Person eröffnet (Eduarden ergreift), ist sie nicht handelnd, sondern getrieben.201
Für Brinkmann äußert sich also im Wechsel des Tempus die Absicht, den Eingriff der dämonischen Naturkräfte und ihr Wirken auf die Figuren darzustellen: sie sind nicht mehr Herr über ihr Handeln, sondern gehorchen einer inneren Triebkraft, die von außen gesteuert ist. Auch wenn der Erzähler zwischendurch den zeitlichen Abstand wiederherstellt und zur Präteritumerzählung zurückkehrt, bleibe die Szene von diesem Einbruch des »Dämonischen«, so Brinkmann, geprägt. Die Bilder, die anschließend Eduard und Ottilie vor ihrer unvermuteten und im weiteren fatalen Begegnung am See zeigen, sind sehr unterschiedlich. Brinkmann verweist auf die Formel, die Eduards Herumstreifen im Park begleitet: »von unüberwindlicher Ungeduld getrieben«. Dagegen werde von Ottilie ein »friedliches, verklärtes Bild« gezeichnet. Sie sitzt, von einem roten Strahl der untergehenden Sonne so beleuchtet, daß sie vergoldet erscheint, le201 Ebda., S. 255.
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send am See. Der Erzähler wünscht den Bäumen und Sträuchern Augen, um sie zu bewundern. Für Brinkmann stellt diese detaillierte Schilderung der NaturStimmung, die die Szene beherrscht, den Hintergrund dar für die dramatischen inneren wie äußeren Geschehnisse, die nun eintreten, sie begleitet die Gefühlsdynamik und den inneren Konflikt der Figuren: Dann bricht Eduard in die Idylle ein (454,30): Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen. Das Verhängnisvolle geschieht. Wieder tritt das Präsens auf, kurze Sätze erzählen in fliegender Eile (454,31–32): er sieht Ottilien, sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füßen. Aber Ottilie wehrt ab (im Präteritum berichtet: 454,39 Sie zauderte; 455,1 Sie deutete auf das Kind hin). Noch einmal wird im Präsens Eduards Reaktion auf den Anblick des Kindes gegeben (455,3); aber wieder folgt dann Ottiliens Antwort im Präteritum (455,8 … versetzte Ottilie). Wohl bestürmt Eduard Ottilie mit Ausrufen und Fragen, aber der Erzähler wahrt nun den zeitlichen Abstand. […] Mit einem Plusquamperfekt (456,27 Die Sonne war untergegangen), das oft im Roman ein Kapitel einleitet (I,1.2.6.9.10.14.16; II,9.12), beginnt der Abschnitt, der zum Tode des Kindes führt. Die Szenerie hat sich verändert: die Sonne, die eben noch Ottilie mit einem Strahl vergoldet hatte, ist verschwunden, und um den See, der vorher rein dalag, haben sich Dämmerung und feuchter Duft ausgebreitet, die reine Klarheit ist dahin. Ottilie stand verwirrt und bewegt (456,28–29). Die äußere und innere Atmosphäre ist für den Einbruch des Dämonischen bereitet. Eduards Unruhe ist in Ottilie übergegangen.202
Brinkmann setzt also den Tempuswechsel zum Präsens in Beziehung zur inhaltlichen Veränderung, diese schlägt sich für ihn auch in der gleichzeitigen Veränderung der Satzstellung nieder. Auch Ottilie gerät, angesteckt von Eduards Hast, in den Sog des »Willensentzugs«: Wie er überspringt sie die Zwischenglieder : wie es von Eduard hieß (452,28) er dachte sich alles nicht als möglich, sondern als schon geschehen, so wird nun von ihr gesagt (456,34–35) Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen. Der Satz, in dem das gesagt wird, ist aus den Fugen gegangen. Der Mensch ist nicht mehr Herr seiner selbst. So rücken die voraneilenden Gedanken (statt der Person) an die Satzspitze (wie vorher die Platanen, die sie sich gegenüber sieht), und die Augen brechen aus der Satzklammer aus (mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen – statt: sie ist wie mit den Augen schon mit Gedanken drüben). Und nun hat bis zum Tode des Kindes (459,6) das Präsens das Wort, um das ungeheuere Geschehen, die Wirkung des Dämonischen, in sich aufzunehmen.203
»Unter Eduards Andrang«, so Brinkmann, gibt Ottilie auch ihre eigene Mitte preis, diese Verunsicherung überantworte sie dem Wirken der Dinge und Gegenstände, die nun ein Eigenleben entwickeln. Brinkmann verweist auf die jeweilige Voranstellung dieser Gegenstände in »der Kahn schwankt […] Das 202 Ebda., S. 256. 203 Ebda., S. 256f.
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Ruder entfährt ihr […] ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen«, mit der in der Szene Ottilies vergehende Handlungsmächtigkeit bezeichnet wird. Die kurzen, verbindungslosen Sätze zeigen für Brinkmann auch an, daß die Vorgänge sich dem Fassungsvermögen der Figuren entziehen: »[…] was geschieht, hat für menschliches Begreifen keinen Zusammenhang«204. Auch Ottilies vergebliche Bemühungen, das Kind wiederzubeleben, sind vom Zurücktreten des Subjekts gekennzeichnet, so Brinkmann, denn es ist eine Reihe von Infinitiven, die diese Bemühungen wiedergeben: »durch Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen glaubt sie jene Hülfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt sind«, heißt es im Roman. Dem stellt schließlich Ottilie selbst ihre bittenden Gebärden an den Himmel entgegen, auch diese treten an die Satzspitze: »Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder […] Mit feuchtem Blick sieht sie empor […]«. Und zuguterletzt ist es auch keine menschliche Handlung, die sie befreit, sondern ein natürlicher Vorgang205 : »Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach den Platanen.« (vgl. WV 458) Für Brinkmann äußert sich also in der Parallelisierung von Tempuswechsel und veränderter Satzstellung eine andere »Schicht« des Erzählens206, wie er es nennt, die die Entrückung der dramatischen Ereignisse aus dem Erzählzusammenhang auf mehreren Ebenen angibt. Der lakonische Stil ist solcherart geeignet, sowohl die Unentrinnbarkeit der Vorgänge wie die Entmachtung der Figuren anzuzeigen. Bis zur endgültigen Einsicht in den Tod des Kindes wird das Präsens über die Kapitelgrenze weitergeführt, am Ende wird die Erscheinung des toten Kindes im Roman mit den Worten wiedergegeben: »[…] ruhig und schön liegt es da«. Darin sieht Brinkmann den Versuch, das »Ungeheuere« zu fassen, dessen Wirken die Szene bestimmt hat. Bis dahin reicht ein Geschehen, in dem sich die Ohnmacht des Menschen offenbart. Das 13. Kapitel hatte berichtet, wie aus Eduards ungeduldigem Drängen das Verhängnis entsprang, und war so von präteritaler zu präsentischer Darstellung gekommen. Das 14. Kapitel schlägt den umgekehrten Weg ein. Es stellt an den Anfang das Unwiderrufliche, gegen das der Mensch nichts vermag: den Tod des Kindes, und gibt das präsentisch; darauf führt es uns zur Antwort der beteiligten Menschen auf das Geschehen (das ist bezeichnend »novellistisch«). Hier hat wieder das Präteritum das Wort.207
Die Entmachtung der Figuren in den Passagen des szenischen Präsens kontrastiert Brinkmann mit dem Phänomen des »personhaften Daseins«, das für ihn das Gegenteil des Kontrollverlustes bezeichnet, den die Figuren unter Ein204 205 206 207
Vgl. ebda., S. 257. Vgl. ebda., S. 258. Vgl. ebda., S. 260. Ebda.
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wirkung des Dämonischen erleiden208. Wenn Charlotte auf Eduards Vorschlag der Einladung des Hauptmanns mit einer lange argumentierenden Auseinandersetzung des Unterschieds zwischen männlichen und weiblichen Verhaltensweisen antwortet, so steht dies für Brinkmann im Zusammenhang der »Schicht« des personhaften Daseins, das den Gegenpol zum Dämonischen bilde. Dort, »wo der Mensch als Person die Bühne beherrscht«, so Brinkmann, erscheine auch eine ganz andere Sprache. So stellt er Charlottes Antwort an Eduard unter diesem Gesichtspunkt vor : Sie beginnt mit einer allgemeinen Bemerkung (245,31f.) über das Verhalten der Männer und Frauen, das aus ihrer Stellung im Leben (weil-Satz) verstanden wird: Die Männer denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwärtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind, die Weiber hingegen mehr auf das, was im Leben zusammenhängt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien an diesen Zusammenhang geknüpft ist und auch gerade dieses Zusammenhängende von ihnen gefordert wird (245,32–39). Der Satz wird vom Menschen und seinem Tun (Die Männer denken … die Frauen hingegen …) zusammengehalten; er ordnet das Verhalten der Männer und Frauen einander zu. Eduard beginnt nach Charlottes Antwort seine Erwiderung (246,39–247, 3): Da das Zusammenhängende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist, … so muß man euch freilich nicht in einer Folge reden hören oder sich entschließen, euch recht zu geben. Damit ist das Zusammenhängende an der Sprechweise Charlottes charakterisiert und zugleich die Sprache des personhaften Daseins.209
Besonders Ottilie schreibt Brinkmann die Eigenschaft des personhaften Seins zu, in diesem Sinne interpretiert er vor allem ihre Reaktion auf den Tod des Kindes. Während die anderen Figuren sich dem Geschehen wie einem Schicksalsspruch fügen, erweise sich nun in Ottilies Fähigkeit zur Reflexion über ihre Situation und ihr Schuldeingeständnis ihre Freiheit der persönlichen Entscheidung und damit »die volle Freiheit des Menschen als Person«210. Indem Ottilie sich der ganzen Geschichte ihrer Beziehung zu Charlotte erinnert, bekennt sie sich freiwillig als von ihr abhängig und ihr folgend, so Brinkmann, und bezeugt damit die Wahrheit eines Satzes aus ihrem Tagebuch, daß, wer sich für bedingt erklärt, sich frei fühlen kann211. Auch hier führt Brinkmann als Indiz für das personhafte Sprechen Ottilies die Satzstellung an: dort, wo die Sätze Ottilies freien Willen bekunden und damit »vom Menschen als Person« reden, beginnen sie mit dem Subjekt. So bekennt Ottilie ihre Schuld mit dem Satz »ich bin aus
208 209 210 211
Vgl. ebda., S. 260. Ebda., S. 260f. Vgl. ebda., S. 260. Vgl. ebda.
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meiner Bahn geschritten« und verkündet ihren Entschluß der Entsagung mit »Eduards werd ich nie«212. Als letztes Beispiel für die von den »Mächten« unberührte Sprachschicht des Personhaften führt Brinkmann noch eine Schilderung an, die, ähnlich wie Charlottes Argumentation, doch an einem viel konkreteren Fall, männliches und weibliches Verhalten ordnet oder zuordnet und damit auf allgemeine Zusammenhänge der Welt verweist. Diese Zusammenhänge vermitteln wie »das Zusammenhängende« an Charlottes Sprechweise für Brinkmann das Bild einer Welt, die durch ihre inneren Verbindungen lebt und dadurch dem Dämonischen entgegengesetzt ist. Brinkmann analysiert dazu einen Satz, der das Verhalten der kleinen Gesellschaft der Wahlverwandtschaften kurz nach der Ankunft des Grafen und der Baronesse schildert: Die Frauen zogen sich auf ihren Flügel zurück und fanden daselbst, indem sie sich mancherlei vertrauten und zugleich die neuesten Formen und Zuschnitte von Frühkleidern, Hüten und dergleichen zu mustern anfingen, genugsame Unterhaltung, während die Männer sich um die neuen Reisewagen, mit vorgeführten Pferden, beschäftigten und gleich zu handeln und zu tauschen anfingen. (WV 308)
Dazu Brinkmann: Das Geschehen ist ganz vom Wesen des Menschen, dort der Frauen, hier der Männer, gelenkt. Es wird vom Blickpunkt des Menschen gegeben und zwar in einem Satzgefüge von beträchtlicher Spannweite, das nicht als Nacheinander (wie bei Kleist), sondern als Nebeneinander angelegt ist. Das Tun der Frauen wird von der Wendung fanden … Unterhaltung wie von einer Klammer zusammengehalten, die keinen Fortschritt enthält; in die Klammer wird mit Hilfe eines inhaltlich ausführenden indem-Satzes ihre Beschäftigung eingefügt. Die gleichzeitige Beschäftigung der Männer wird mit einem während-Satz angeschlossen. So gestaltet der Satz ein Bild, nicht ein Geschehen. Er sucht das Simultane, nicht den Prozeß. Nicht Nebenordnung oder Unterordnung, sondern Zuordnung ist sein Merkmal. […] So wird der Zusammenhang betont, der Zusammenhang zwischen Männern und Frauen, zwischen verschiedenen Personen und Gruppen, zwischen Äußerem und Innerem. Der Erzähler stellt im Satzbau Zusammenhänge zwischen Erscheinungen her, die einem wahrnehmenden Blick nicht zusammengehören, und bekundet so seinen Glauben an eine Welt, die von Beziehungen durchwaltet ist, wo eins mit dem anderen verknüpft werden kann. Es ist das Gegenstück zu dem Bereich des »dämonischen« Geschehens.213
So heben sich für Brinkmann aus der Darstellung im Roman die zwei Sprachschichten heraus, die des Dämonischen, das, wie Brinkmann betont, von Goethe selbst an einigen Stellen im Roman als »ungeheuer« bezeichnet wird, und die des personhaften Daseins und Sprechens. Das Dämonische findet sich vor allem in 212 Vgl. ebda. 213 Ebda., S. 261f.
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Dichtung und Wahrheit und in einigen Gesprächen mit Eckermann beschrieben, Brinkmann zitiert aus einem solchen Gespräch (2. März 1831): Das Dämonische ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist. Auf Eckermanns Frage Erscheint nicht auch das Dämonische in den Begebenheiten? antwortete Goethe: Ganz und besonders zwar in allen, die wir durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen vermögen. Überhaupt manifestiert es sich auf die verschiedenste Weise in der ganzen Natur, in der unsichtbaren wie in der sichtbaren. Im 20. Buch von ›Dichtung und Wahrheit‹ heißt es von dem »Dämonischen«: Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge. Das deckt sich mit den Deutungen in den ›Wahlverwandtschaften‹ (14. und 15. Kapitel des 2. Teils). Für diese Erscheinung hat Goethe in den ›Wahlverwandtschaften‹ eine besondere Sprache gefunden.214
Dreimal, so Brinkmann, trete das Präsens als »Zeitform des »dämonischen« Geschehens« auf, zuerst in der Szene von Eduards nächtlichem Durchstreifen des Parks im 13. Kapitel des ersten Teils. Brinkmann bezeichnet sie als die Szene des »ersten Durchbruchs der Liebe«, dann hebt er noch die Szene des Kindstods und Ottilies eigenen Tod, jeweils im 13./14. und 17./18. Kapitel des zweiten Teils, hervor215. Besonders die Szene von Eduards Gefühlsausbruch im ersten Teil ist für Brinkmann prototypisch im Sinne der Darstellung des dämonischen Wirkens. Dabei verweist er darauf, daß das Präsens hier nicht mit der Fokussierung auf Eduard selbst einsetzt, sondern schon am Ende des vorhergehenden 12. Kapitels mit Bezug auf Charlotte auftritt. Das 12. Kapitel gibt wieder, wie die beiden Paare zueinander finden, sowohl zwischen Charlotte und dem Hauptmann wie zwischen Eduard und Ottilie kommt es zu Szenen innigen Gefühlsaustausches. Charlotte findet sich jedoch am Abend nach der Kahnfahrt mit dem Hauptmann, bei der dieser sie umarmt und küßt, allein und verwirrt in ihrem Schlafzimmer. Sie geht in sich und wiederholt in einer nächtlichen Szene des Nachdenkens und der inneren Abkehr am Ende des 12. Kapitels ihr eheliches Treuegelöbnis: Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan. Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern vorüber. Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt. Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein. (WV 326)
»Wohl um dem Eingang des folgenden Kapitels zu präludieren«, so Brinkmanns Vermutung, endet das 12. Kapitel mit diesem Satz im historischen Präsens, denn der Beginn des 13. Kapitels ist dem »deutlich entgegengesetzt«216. Brinkmann verweist auf die Unruhe Eduards, die im Zentrum dieser ersten langen Prä214 Ebda., S. 262. 215 Vgl. ebda. 216 Vgl. ebda., S. 262.
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sensszene steht und verknüpft auch hier die Beobachtung des Tempuswechsels mit der der Satzstruktur : Der Erzähler leitet vermittelnd über (327,1–2): Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung. Schlaflos hält er Ottilies Abschrift als ein Zeichen der Liebe in der Hand. Kein Satz in diesem Abschnitt (327,2–12) beginnt mit dem Subjekt; eröffnet wird mit der Richtung, in die es Eduard drängt (Zu schlafen denkt er so wenig … – Die Abschrift des Dokuments küßt er tausendmal … – Das Ende wagt er kaum zu küssen). Dann treibt die innere Unruhe, die ihn befallen hat, ihn ins Freie hinaus, aber so wie er vorher von der Handschrift Ottilies magisch angezogen wurde, so wird er nun von ihrem Zimmer angezogen. Das alles geschieht, ohne daß ein lenkender Wille da ist (327,17–18): Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenstern. Wieder bezeichnend die Vorwegnahme seines Ziels (nach dem Schlosse). Er handelt nicht, sondern wird von der Liebe getrieben. Die warme Nacht lockt ihn ins Freie; Nach dem Schlosse zieht es ihn. So stellt sich das Geschehen auch in Vorgangssätzen dar, inszeniert vom Mondaufgang (327,13): Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor.217
Brinkmann hält also die Inszenierung der nächtlichen Vorgänge auf verschiedenen Ebenen fest. Als sich Eduard in der Mitte der Szene schließlich unter Ottilies Fenster und damit in ihrer Nähe wiederfindet, tritt eine Beruhigung ein, so Brinkmann. Er interpretiert das an dieser Stelle mit »Alles war still um ihn her […]« wieder einsetzende Präteritum als Wiederherstellung des zeitlichen Abstands und damit als Zeichen der vorübergehend aufgehobenen Macht des Dämonischen. Doch schon beim Erwachen packt den über seinen Träumen eingeschlafenen Eduard erneut die Unruhe, und die Folge kurzer Hauptsätze im Präteritum, die dies darstellt, geht wieder ins Präsens über : Nun fand er sich den ersten Wachenden in seinen Besitzungen. Die Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben. Sie kamen; es schienen ihm ihrer zu wenig und die vorgesetzte Tagesarbeit für seine Wünsche zu gering. Er fragte nach mehreren Arbeitern; man versprach sie und stellte sie im Laufe des Tages. Aber auch diese sind ihm nicht genug, um seine Vorsätze schleunig ausgeführt zu sehen. Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr ; es soll schon alles fertig sein, und für wen? […] (WV 327)
Brinkmann streicht in dieser neuerlich dem ungeduldigen Treiben Eduards gewidmeten zweiten Präsensszene im 13. Kapitel den Blick auf die psychischen Folgen von Eduards Verliebtheit heraus: Aber auch diese (neue Arbeiter) sind ihm nicht genug, um seine Vorsätze schleunig ausgeführt zu sehen. Wir vernehmen die Sprache seines ungeduldigen Herzens. Deutlich markiert der Erzähler die Bedeutung des inneren Vorgangs: In Eduards Gesinnungen wie in seinen Handlungen ist kein Maß mehr. Das Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, treibt ihn ins Unendliche (328,4–6). Wir erinnern uns an Goethes 217 Ebda., S. 262.
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Worte über das Dämonische, das jede Leidenschaft zu begleiten pflegt und das in der Liebe sein eigentliches Element findet. So ist Eduards ganzes Wesen von der Liebe ergriffen (328,10–13): … kein Gewissen spricht zu ihm; alles, was in seiner Natur gebändigt war, bricht los, sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilien.218
Wie bei der Darstellung der Interpretation von Judith Reusch angedeutet, steht dieser Blick ins Innere der Figuren in den Präsensszenen immer wieder stark im Mittelpunkt, das ergibt vor allem die Analyse der Passagen im historischen Präsens in ihrem Gesamtzusammenhang. Ich möchte daher besonders hervorheben, daß Brinkmann diese Dimension in seinem Aufsatz explizit erwähnt. Daß im 13. Kapitel des ersten Teils außerdem weitere Passagen im Präsens die Reaktionen Charlottes und des Hauptmanns auf Eduards rastloses Tun zeigen, interpretiert Brinkmann als eine Art Ansteckung mit dem Virus der »dämonischen« Unruhe, die Eduard ergriffen habe. Diese gehe auf die anderen über, in der Folge werde ihr Verhalten ebenso von dessen »leidenschaftliche[m] Treiben«, wie es im Text heißt, bestimmt wie Eduard selbst (vgl. WV 328). Brinkmann erwähnt auch noch kurz die Präsensszene am Ende des Kapitels, die ebenso den Blick auf die »innere Verfassung« der Figuren, nach Brinkmann jener Charlottes und Ottilies, lenke: »Auch Charlotte zeigt sich dämonisch berührt, sie ist selbst von dem Gefühl befallen, von dem sie Ottilie befreien möchte […] und dadurch unfrei.«219 Für meine Analyse ist diese Erwähnung des inneren Kampfes, den Charlotte durchmacht, ein wichtiger Ausgangspunkt. Neben Eduards Gefühlsausbruch stellt er sich als das zentrale Motiv der Präsenspassagen im ersten Teil dar und als Mitursache der tragischen Verwicklung. Ebenso lenke ich in meiner Untersuchung verstärkt das Augenmerk auf die Tatsache, daß das historische Präsens in der Szene von Charlottes nächtlichem Treueschwur am Ende des 12. Kapitels einsetzt und nicht mit der Schilderung von Eduards verliebter Wanderung durch den Park. Gegenüber Brinkmanns Vermutung, daß dies den Eingang des nächsten Kapitels in erster Linie stilistisch vorauswirft, möchte ich versuchen, diesen Einsatz inhaltlich zu interpretieren und ihn mit den Motivketten in Beziehung zu setzen, die die Präsenspassagen als ganzes durchziehen. Diese Interpretation beruht aber darauf, daß auch ich entsprechend der Analyse Brinkmanns keine Verwendung des historischen Präsens vor dieser Stelle im 12. Kapitel gefunden habe. Wie zu Beginn dargestellt, ist für Brinkmann Eduards Wirken auf Ottilie als Auslöser der Katastrophe am See, bei der das Kind ertrinkt, zentral. Die dritte Szene, in der Brinkmann das Präsens als Zeichen des Dämonischen interpretiert, ist, wie erwähnt, jene von Ottilies Tod. So wie er aber Ottilie durch ihr »personhaftes« Sein als resistenter für die Wirkmächte des Dämonischen interpre218 Ebda., S. 263. 219 Ebda.
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tiert, sieht Brinkmann im Gebrauch des Präsens in ihrer Sterbeszene ein neues Element enthalten. Es scheint hier, so Brinkmann, auf eine andere Dimension zu verweisen, nämlich auf die Lösung Ottilies vom Irdischen, die am Schluß der Unruhe, die die anderen beiden Szenen prominent bestimme, entgegengesetzt werde220. Als Indiz dafür nimmt er zwei Präsenspassagen, die der Schilderung ihres Sterbens im 18. Kapitel des zweiten Teils im 16. und 17. Kapitel vorausgehen und ihren Verzicht auf Eduard darstellen. In den Szenen wird geschildert, wie Ottilie auf Eduards wiederholte Fragen, ob sie ihm angehören wolle, nur mit Schweigen antwortet und wie sie durch dieses Schweigen zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der anderen Figuren wird. Brinkmann deutet Ottilies Verstummen als Vorgriff auf ihre Überhöhung als Heiligenfigur und als Umkehr der vorherigen Verhältnisse: durch ihr Schweigen bestimme nun Ottilie das Verhalten der anderen, zusätzlich verschließe sie ihr Inneres221. Auf diese Weise hebe sie sich ganz am Schluß, als sie Eduard im Sterben noch das Versprechen abnimmt, zu leben, »wirklich über Eduard hinweg«, wie Brinkmann betont. Er sieht dies als Ausdruck zweier unterschiedlicher Wirkungsweisen, die das Dämonische entfalte: »Versprich mir zu leben!« ruft sie aus, mit holder, zärtlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurück. »Ich verspreche es!« rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach; sie war schon abgeschieden. Durch das Präsens scheidet sich Ottilie von Eduard. Es ist zum Merkmal ihrer Lösung vom Irdischen geworden. […] So heben sich im Präsens wesentlich drei Vorgänge aus dem Geschehen heraus. Zwei von ihnen werden durch Eduards unruhiges Drängen bestimmt, das auf die anderen übergreift: die Entfesselung seines Inneren und das unerwartete Wiedersehen mit Ottilie am See. Von ihm geht nur Verwirrung aus, die Ottilie erfaßt und so den Tod des Kindes herbeiführt. Bei Ottilie dagegen erscheint das Dämonische anders: sie wird dem Umkreis der anderen enthoben und zieht dann Eduard nach. So bekundet sich zugleich die eigentümliche Doppeldeutigkeit der Mächte, die zerstörend u n d erhebend wirken. Wo in präsentischen Partien das Präteritum auftritt, bezeichnet es einen Abstand von dem dämonischen Bereich.222
Brinkmann stellt also einen Zusammenhang her zwischen der Verwendung des Präsens und der Thematik der Gespaltenheit der Figuren in einerseits außengesteuerte emotionsgeladene und andererseits rationale vernunftgeleitete Charaktere. Dort, wo die Figuren ihrer selbst mächtig sind und »personhaft« handeln, behaupten sie eine geordnete, zusammenhängende Welt und ihren freien Willen. Dem ordnet Brinkmann die subjektbetonte, persönliche Erzählweise und eine Satzgestaltung zu, die auf ein bildhaftes Nebeneinander der Schilderung im Unterschied zum Nacheinander eines stärker zeitbetonenden Erzählens 220 Vgl. ebda., S. 265f. 221 Vgl. ebda., S. 265. 222 Ebda., S. 266f.
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abzielt. Brinkmann analysiert dazu verschiedene Satzmuster und stellt eine Mehrheit an zuordnenden Satzverknüpfungen, die über »indem«, »wie« oder »wenn« funktionieren, fest223. Die »als«-Verknüpfung dagegen verweist für Brinkmann auf überraschend eintretende Ereignisse und das zeitliche Nacheinander, diese laut Brinkmann novellistische Erzählweise trete viel seltener auf224. Insgesamt überwiegt für ihn daher jene Erzählweise, die das Simultane und damit eine um Subjekte, Personen angeordnete Welt abbilden: »Die feste Gestalt des »klassischen« Satzes hält in einer Klammer zusammen, die nur selten Vorstellungen aus ihrer Bindung entläßt.«225 Diese das Persönliche betonenden und um eine Person oder Gruppe angeordeneten Perioden nennt Brinkmann »Porträtsätze«226. Entgegen der novellistischen, also das »strenge, lineare Nacheinander« des Geschehens betonenden Erzählweise, die rasch fortschreitet und kein Verweilen kennt, überwiegen für Brinkmann in den Wahlverwandtschaften eindeutig »romanhafte Sätze«, diese verweisen auf eine Welt, in der unabhängig vom spezifischen einmaligen Fall »ein übergreifender Zusammenhang von Dauer besteht«227. Brinkmanns Zuordnung der Tempora ist vor diesem Hintergrund klar. Das Präteritum, das für ihn, wie gezeigt, den Abstand vom Dämonischen bezeichnet, steht auch für die Schicht des persönlichen, personhaften Erzählens und repräsentiert die geordnete Welt und »feste Gestalt« des klassischen Satzes. Demgegenüber komme dem Präsens vor allem die Funktion zu, die Unruhe und Verwirrung zu vermitteln, die mit Emotion in den Wahlverwandtschaften in erster Linie verbunden wird. Die immer wieder mit dem Gebrauch des historischen Präsens einhergehenden »Kurzsatzfolgen«228, wie Brinkmann sie nennt, unterstützen diesen Eindruck und reißen ihrerseits die Ordnung des Simultanen und der zusammenhängenden Erscheinungen auf. Erst am Schluß ändert sich für Brinkmann diese feste Verknüpfung zwischen Präsens und negativer Außengelenktheit. Mit Ottilies Tod tritt eine Beruhigung ein, die für ihn auch die Konnotation der Präsensverwendung verändert. Da das Präsens nun für Ottilies »Lösung vom Irdischen« stehe, verweise es auf die zweite, ergänzende Dimension des Dämonischen bzw. der von außen einwirkenden Mächte. Diese können, wie an Eduard exemplifiziert, zerstörend wirken, zeigen aber an der »personhaften« Ottilie positiv transzendierende Züge, Ottilie »hebt sich über Eduard hinweg« und wird ihrer Umgebung entzogen. So differenziert Brinkmann die Wirkweise des Dämonischen in eine negativ irdische und eine positiv jenseitige. Die irdi223 224 225 226 227 228
Vgl. ebda., S. 273f. Vgl. ebda., S. 275. Ebda., S. 270. Vgl. ebda., S. 271. Vgl. ebda., S. 272. Vgl. ebda., S. 268.
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sche Konsequenz ist freilich für beide Figuren die gleiche, Eduard stirbt Ottilie nach. Für Brinkmann bedeutet dies, daß Eduard nunmehr Anteil hat an Ottilies Lösung vom Irdischen, auch sein Tod wird dementsprechend im Präsens und mit dem Hinweis auf seine Verweigerung von Nahrung und Teilnahme am Gespräch eingeleitet229. Die Bezeichnung des verwirrenden Einbruchs des Dämonischen in die geordnete Welt der Figuren ist also für Brinkmann die Funktion des Präsens, vor allem in Hinblick auf Eduard. Brinkmanns Unterscheidung der »Schichten« des Erzählens liefert damit einen ersten Befund für die Art des Realismus der Schilderung in den Wahlverwandtschaften, indem er auf das Nebeneinander von menschlicher und übergeordneter Ordnung und auf jenes von vernunftgesteuerter und negativ besetzter emotionaler Außensteuerung verweist. Brinkmanns Deutung enthält somit im Kern, was sich in der durchgehenden Analyse aller Passagen im szenischen Präsens noch deutlicher entfalten läßt, nämlich die Verfaßtheit der Figuren zwischen Rationalität und Emotionslast und ihr Ringen um Autonomie inmitten dieser Verstrickung. Die detaillierte Beleuchtung dieser Dimension des inneren Kampfes ist daher der Interpretation Brinkmanns hinzuzufügen, an dessen Deutung einzig zu kritisieren ist, daß sie etwas zu schematisch verfährt. Die oben schon hervorgehobenen Präsensszenen von Charlottes Ratlosigkeit im Anschluß an Eduards Gefühlsausbruch im 13. Kapitel des ersten Teils sind in diesem Sinn reicher ausgestaltet und von größerer Bedeutung, als es die Konzentration auf das Motiv des Dämonischen zu sehen erlaubt. Brinkmann selbst betont, daß es Präsenspassagen gibt, die sich dieser Deutung entziehen. Einige wenige Fälle, so Brinkmann, bleiben in dieser Sicht vereinzelt. Durchaus zu vereinbaren mit der Wirkung des Dämonischen sei es, wenn Eduard in einer Präsensszene feststellt, daß Ottilie am gleichen Tag geboren ist, an dem er die Platanen gepflanzt hat. Für Brinkmann gehört dies in den »Umkreis des Dämonischen«, indem es als höherer Wink zu lesen sei230. Auffälliger ist, daß zwei Stellen […] Charlotte gelten. Die erste berichtet Charlottes Verhalten nach der Rettung des Knaben durch den Hauptmann, die zweite erzählt, wie sie durch ihr Kind einen neuen Bezug auf die Welt erhält. Sind damit Regungen des Dämonischen bei ihr gemeint? Ganz außerhalb stehen zwei kurze Sätze über das Zusammentreffen zwischen dem Grafen und dem Gehilfen […].231
Brinkmann motiviert die Verwendung des Präsens an diesen Textstellen der Wahlverwandtschaften mit dem Hinweis auf ihren Ursprung als Novelle der Wanderjahre und verweist auf einige kürzere Präsensstellen in den Novellen Die pilgernde Törin, Der Mann von funfzig Jahren und Wer ist der Verräter? Er 229 Vgl. ebda., S. 266. 230 Vgl. ebda., S. 267. 231 Ebda.
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erwähnt außerdem, daß das historische Präsens zweimal in der Geschichte der Sängerin Antonelli in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und in der Schlußerzählung des Werther verwendet wird, und führt einige Stellen an, an denen es in den Wanderjahren Begegnungen Wilhelms mit anderen Figuren begleitet. Mit Bezug auf die Figur der Hersilie ist dort auch eine Stelle der Parallelisierung zwischen dem Präsens und dem Durchbruch ihrer künstlerischen Begabung zu verzeichnen, nirgends aber, so Brinkmann, komme dem Präsens die Bedeutung zu, wie in den Wahlverwandtschaften eine ganze Schicht des Geschehens zu bezeichnen232. Dennoch beläßt er die Deutung der nach ihm unklaren Präsensstellen im Roman mit dem Hinweis auf die ursprüngliche Novellenform und interpretiert sie so parallel zu dem für ihn mehr zufälligen Gebrauch in den Novellen als für den Gesamtzusammenhang unbedeutend. Hier liegt mithin ein weiterer Unterschied zu meiner Lesart. Wie erwähnt, erweisen sich die Motivketten, die die Präsensszenen durchziehen, als erstaunlich kohärent, in diesem Sinn können auch die von Brinkmann genannten Stellen in den Deutungszusammenhang einbezogen werden, ohne daß deswegen seine These des dämonischen Wirkens hinfällig wäre. Im Gegenteil kann man gerade auch der von ihm erwähnten Szene, in der Charlotte im 10. Kapitel des zweiten Teils durch das Kind »einen neuen Bezug auf die Welt erhält«, entsprechende Untertöne entnehmen; das Gewicht der Szene der Rettung des Knaben aus dem Teich habe ich schon erwähnt. Hervorheben möchte ich also, daß Brinkmanns These in ihrer Thematisierung der Erzählschichten des Dämonischen und des Personhaften die Frage der Willensfreiheit in den Mittelpunkt stellt und daß Brinkmann mit der Kategorie des »Dämonischen« auf die Brüchigkeit der Verstandesordnung hinweist, die für ihn die Personen der gefügten Welt der klassischen Orientierung aufbauen: Das Expressive des Wertherstils ist einer Gestalt gewichen, die zum Sinnbild des Glaubens an eine feste Ordnung wird; freilich weicht das Bewußtsein der menschlichen Grenze nicht, das das persönliche Subjekt zurücktreten läßt, wo sich die Bedingtheit des menschlichen Daseins oder die Verwirrung des menschlichen Willens zeigt.233
Die Erklärung der Präsensverwendung mit der Schicht des Dämonischen ist für die vorliegende Interpretation also vor allem im damit verbundenen Kontrollverlust der Figuren zentral. Die Darstellung der Willensverwirrung, der die Figuren unterliegen, erweist sich als eines der wichtigsten Motive, die die Präsenspassagen bestimmen, und in der ebenso wiederkehrenden Thematisierung von Wahrnehmungen und Wünschen zeigt sich die Bedingtheit ihres Daseins, wie es Brinkmann nennt, genau ausgeleuchtet. Von Brinkmann ausgehend 232 Vgl. ebda., S. 268. 233 Ebda., S. 270.
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möchte ich also zeigen, wie die Präsenspassagen den Blick auf den inneren Kampf der Figuren richten. Darüberhinaus versuche ich, den Kontrollverlust, den die Figuren erleiden, auch mit der Blendung oder Selbsttäuschung zu erklären, der sie aufgrund von eingeschränkter oder fixierter Wahrnehmung unterliegen oder die aus ihrer persönlichen Veranlagung resultiert. Die in den Präsensszenen immer wieder abgehandelte Frage ist: Wie reagieren die Figuren auf ihre Emotionen und die der anderen? Ein wichtiges Element ist so das Thema der gegenseitigen Beobachtung und der Kontrolle des anderen. Wie Brinkmann zeigt, wird Eduard in der von ihm zuerst analysierten Szene kurz vor dem Kindstod von seiner Ungeduld und vor allem von einem äußeren Impuls angetrieben, dies spiegelt die Unruhe und die Entfesselung seiner Emotionen in der Szene der nächtlichen Wanderung durch den Park im ersten Teil. Das Moment der Außensteuerung ist hier zweifellos wichtig, doch lohnt sich der genauere Blick auf die Entfaltung dieser Gefühlsausbrüche über den Roman hinweg und ihre Motivation in der Prädisposition der Figur. Persönliche Neigung und charakterliche Anlage sind nämlich immer wieder das implizite Thema der Präsenspassagen und verbinden diese stärker als auf den ersten Blick erkennbar. Zu zeigen ist daher auch die Logik der ineinandergreifenden Momente der Reaktion zwischen inneren und äußeren Impulsen. So wird Eduards Neigung zu Ottilie über viele Hinweise als Prozess einer sich steigernden Fixierung dargestellt. Der endgültige und katastrophal endende Ausbruch seiner Gefühle in der unterschwellig bedrohlichen Szene am See steht so am Ende einer lange vorbereiteten Kette von Angaben zur Veränderung seiner Wahrnehmung, deren Anfälligkeit für Zeichen und äußere Impulse nicht zuletzt in der Impulsivität der Figur und ihrer Neigung zu voreiligen Schlüssen zu suchen sind. Diese schaffen gleichsam die Grundlage, auf der der Antrieb des Dämonischen erst Platz greifen kann. Die Präsensszenen fungieren hier geradezu als Okular auf die langsam sich steigernde Verblendung Eduards und machen deren Folge der schließlichen Explosion seiner Gefühle im zweiten Teil als logische Konsequenz auch einer selbstgewählten und sorgfältig genährten Fixierung einsichtig. Dies bedeutet nicht, daß Eduard als negativer Charakter dargestellt wird, im Gegenteil dient sowohl die Motivierung über den Einfluß der höheren Wirkmächte als auch die genaue Darstellung seiner inneren Blendung sozusagen seiner Entschuldung. Dennoch haben die Präsenspassagen immer wieder die Funktion, den Blick auf die blinden Flecken der Wahrnehmung der Charaktere zu richten und stellen auf diese Weise den menschlichen Anteil am Wirken der Mächte deutlich heraus. Bemerkenswert ist auch die genaue Darstellung der Verselbständigung all dieser zusammenhängenden Prozesse von selbsttäuschender Wahrnehmung und immer hilfloseren Versuchen, dem Geschehen eine andere Wendung zu geben. Unter dem Gesichtspunkt dieser Vorbereitung und der immer wieder thematisierten Frage der Vernunft- oder Unvernunftreaktionen der Figuren rela-
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tiviert sich daher das Brinkmannsche Bild des dämonischen Antriebs. Im Forschungsbericht werden daher nicht nur das Dämonische als Kategorie und seine Einordnung ins Goethesche Weltbild etwas näher beleuchtet. Eine kurze Darstellung der Rezeptionsvorgabe, wie sie Goethe in seiner Ankündigung der Wahlverwandtschaften gibt, soll darüberhinaus die Relevanz von Brinkmanns Lesart bestätigen, der im übrigen ja selbst die Mischung der Ebenen zwischen menschlicher Wahl und übermenschlicher Bestimmtheit mit den Kategorien des »Personhaften« und des dämonisch Getriebenen betont. Brinkmanns Interpretation wird also näher beleuchtet und ergänzt. Das Augenmerk wird also gegenüber dieser Lesart mehr darauf gelenkt, daß beides, das rationale und das emotionale Handeln, in den Präsensszenen Thema ist bzw. gerade die Durchmischung dieser Motive die Präsenspassagen durchzieht. Eine wichtige Szene in diesem Zusammenhang ist jene, in der Brinkmann ein Übergreifen des Dämonischen von Eduard auf die anderen Figuren, vor allem Charlotte, sieht, nämlich die Schilderung von Charlottes Sorge um Eduard wie Ottilie, aufgrund derer sie versucht, die beginnende Romanze zu stoppen, aber durch den Blick in ihr eigenes Herz an der Gegenmaßnahme, die sie sich vornimmt, gehindert wird. Charlotte möchte mit Ottilie ein klärendes Gespräch führen, überträgt aber ihre eigenen Gefühle auf die Situation der anderen und unterläßt so das vielleicht rettende Vorhaben. Diese Herleitung von Charlottes Demotivierung wird als Mikrodrama von Blicken und Wahrnehmungen inszeniert, das wie viele andere Szenen auf einen Antrieb rekurriert, der in Stärke und Präsenz dem Antrieb des Dämonischen in den Wahlverwandtschaften gleichzustellen ist. Das letztlich rücksichtslose Verfolgen von Wunschbildern bestimmt die Figuren so sehr, daß die Dämonie mitunter mehr im Zwiespalt ihrer eigenen Gefühle und der damit verbundenen Wunschvorstellungen zu suchen ist als in der Beeinflussung von außen. So kann als Beginn des eigentlichen Dramas Charlottes Wunsch und unbedingte Überzeugung gesehen werden, daß das Kind nicht nur Eduard, sondern auch sie selbst von einer Neigung befreit, die sie als regelwidrig identifiziert.
III. 2. Der Titel als Programm III. 2.1. »Wahlverwandtschaft« im wissenschaftlichen und privaten Diskurs Die lange Deutungstradition der Wahlverwandtschaften setzt zumeist bei der Worterklärung des Titels an, sodaß selbst dieser Worterklärung eine eigene
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Arbeit gewidmet worden ist234. Die Problematisierung der berühmten Gleichnisrede im 4. Kapitel des ersten Teils steht dabei zumeist im Mittelpunkt235. Ich möchte hier versuchen, über die Einführung in den Wortgebrauch dieses Terminus einen Aspekt der Darstellungsweise herauszustreichen, der die Gleichnisrede vorbereitet, indem schon in der Exposition des Romans und der Sprechweise der Figuren eine Versuchsanordnung angedeutet wird. Es wird also eine Parallele gezogen zwischen der Schreibweise der analytischen Beobachtung und der Art, wie der Roman einsetzt und seine Protagonisten präsentiert werden. Das Fernziel dieser Annäherung ist hier wie in der folgenden Darstellung der Reaktionen der Zeitgenossen die Erfassung der spezifischen Bedingungen, unter denen sich der »Realismus« der Schreibweise dieses Romans formt. In Benno von Wieses Stellenkommentar zum Roman in der Hamburger Ausgabe236 wird zu Beginn die Wortbedeutung kurz umrissenen: »Das Wort bezeichnet in der Chemie der Goethezeit die Eigenschaft zweier Körper, von denen der eine oder beide anderweit verbunden sind, sich zu vereinigen.«237 An Goethes eigener Verwendung des Wortes fällt vor allem auf, daß und in welcher Weise auch in der wissenschaftlichen Darstellung über die Wortwahl der Chemie reflektiert wird. Ersichtlich wird zudem die sehr schnelle metaphorische Übernahme des Wortes in den Alltagswortschatz und dessen Übertragung auf soziale Beziehungen. Ersteres wird klar anhand der Gegenüberstellung der Erklärung und Verwendung der Fachvokabel in der naturwissenschaftlichen Literatur der Zeit mit jener der Goetheschen Beschreibung:
234 Vgl. Jeremy Adler, »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes »Wahlverwandtschaften« und die Chemie seiner Zeit, Verlag C.H. Beck, München 1987. 235 Vgl. besonders Beda Allemann, Zur Funktion der chemischen Gleichnisrede in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Vincent J. Günther et al. (Hrsg.), Untersuchungen zur Literatur als Geschichte – Festschrift für Benno von Wiese, Erich Schmidt Verlag, Berlin 1973, S. 199– 218. Auf die problematische Interpretation der Gleichnisrede durch die Figuren verweist besonders stringent David Wellbery, Die Wahlverwandtschaften, in: Paul Michael Lützeler / James E. McLeod (Hrsg.), Goethes Erzählwerk – Interpretationen, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1985, S. 291–318. Eine Lektüre der Gleichnisrede im Zusammenhang der Bild- und Zeichensysteme im Roman gibt Eva Horn, Chemie der Leidenschaft: J. W. v. Goethes Die Wahlverwandtschaften, in: Reingard M. Nischik (Hrsg.), Leidenschaften literarisch, Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 1998 (= Texte zur Weltliteratur Bd. 1), S. 163–182. Zentral zum Verständnis des Bezugs auf den wissenschaftshistorischen Kontext, speziell zur neuen Bedeutung der Kategorien von ›Quantität‹ und ›Masse‹ in der Wissenschaft und, daran anknüpfend, in Soziologie und Wirtschaft, vgl. Christoph Hoffmann, »Zeitalter der Revolutionen« – Goethes Wahlverwandtschaften im Fokus des chemischen Pradigmenwechsels, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 67. Jahrgang, Heft 3, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart Weimar 1993, S. 417– 450. 236 Siehe HA, Bd. 6, S. 697–742. 237 Ebda., S. 700.
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In der Fachliteratur gab es die Wörter »attractio electiva« (lat.) und »affinit8« (frz.). Als erster hat Chr. Ehr. Weigel den Bergmanschen238 Terminus »attractio electiva« durch Wahlverwandtschaften wiedergegeben: »Wenn zween Stoffe mit einander vereiniget sind, und ein dritter, der hinzukömmt, einen derselben aus einer Verbindung trennt und ihn zu sich nimmt, so wird solches eine einfache Wahlverwandtschaft (enkel frändskap), attractio electiva simplex genannt … eine zweifache Verwandtschaft (dubbel frändskap), attractio electiva duplex, oder affinitas composita, nennt man das, wenn zween Körper, die beide in in zween nächste Bestandteile zerlegt werden können, ihre nächsten Grundstoffe, bei der Vermischung mit einander, verwechseln.239 Die Ausdrücke »Verwandtschaft« und »Wahl« finden sich erstmalig bei Goethe 1796 im dritten Abschnitt der Vorträge über die ersten drei Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie (Weim. Ausg., 2. Abt., 8. Bd., S. 78ff.): So vereinen und trennen sich die einfachen Stoffe, zwar nicht nach Willkür, aber doch mit großer Mannigfaltigkeit, und die Teile der Körper, welche wir unorganisch nennen, sind, ohngeachtet ihrer Anneigung zu sich selbst, doch immer wie in einer suspendierten Gleichgültigkeit, indem die nächste, nähere oder stärkere Verwandtschaft sie aus dem vorigen Zusammenhange reißt und einen neuen Körper darstellt, dessen Grundteile, zwar unveränderlich, doch wieder auf eine neue, oder unter andern Umständen, auf eine Rückzusammensetzung zu warten scheinen. Zwar bemerkt man, daß die mineralischen Körper, insofern sie ähnliche oder verschiedene Grundteile enthalten, auch in sehr abwechselnden Gestalten erscheinen; aber eben diese Möglichkeit, daß der Grundteil einer neuen Verbindung unmittelbar auf die Gestalt wirke und sie sogleich bestimme, zeigt das Unvollkommene dieser Verbindung, die auch eben so leicht wieder aufgelös’t werden kann … Sie haben nach ihrer Grundbestimmung gewisse stärkere oder schwächere Verhältnisse, die, wenn sie sich zeigen, wie eine Art von Neigung aussehen; deswegen die Chemiker auch ihnen die Ehre einer Wahl bei solchen Verwandtschaften zuschreiben, und doch sind es oft nur äußere Determinationen, die sie da- oder dorthin stoßen oder reißen, wodurch die Mineralkörper hervorgebracht werden, ob wir ihnen gleich den zarten Anteil, der ihnen an dem allgemeinen Lebenshauche der Natur gebührt, keineswegs absprechen wollen.240
Deutlich wird hier eine begriffsreflektierende Perspektive eingeführt, die das Bemühen um das gleichsam teilnehmend distanzierte Abwägen des Erzählers Goethe vorauszuwerfen scheint. Deutlich bedient sich zudem auch der Natur238 Torbern Olof Bergman (1735–1784) wurde 1764 Mitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften und lehrte ab 1767 Chemie an der Universität Uppsala. Innerhalb weniger Jahre avancierte Bergman zu einem der bekanntesten Chemiker Europas und machte Uppsala zu einem Zentrum der chemischen Forschung; er gilt als der Begründer der analytischen Chemie. Siehe Härtl, Dokumentation, S. 457 und Brockhaus-Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 3 Ausw-Bhar, 21., völlig neu bearbeitete Auflage, F.A. Brockhaus, Leipzig Mannheim 2006. 239 Zitiert nach Anmerkungen, HA, Bd. 6, S. 700: Vorrede T.[orbern] Bergmans zu G.T.[?] Scheffers Chemischen Vorlesungen, übersetzt von Chr.[istian] Ehr.[enfried] Weigel, Greifswald 1779, XVII u. XIX. 240 Ebda., S. 700f.
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wissenschaftler Goethe in Wendungen wie »dem allgemeinen Lebenshauche der Natur« und den »äußeren Determinationen, die sie da- oder dorthin stoßen oder reißen« einer Vergleichssprache, die den auch hier metaphorisch formulierenden Dichter nicht verleugnet und das Ineinanderfließen der verschiedenen Interessen demonstriert. Daß schließlich Wort wie Konzept der »Wahlverwandtschaft« schnell Eingang findet in den nichtwissenschaftlichen Gebrauch, zeigen einige kürzere Bemerkungen aus jeweils anderen Zusammenhängen. Ablesbar ist dies etwa an Goethes Fassung des Themas des Hohelieds, von dem er sagt, es sei »glühende Neigung jugendlicher Herzen, die sich suchen, finden, abstoßen, anziehen, unter mancherlei höchst einfachen Zuständen«241. Die Parallele der Wortwahl zu jener in der chemischen Gleichnisrede der Wahlverwandtschaften ist auffallend, so schildert der Hauptmann Charlotte den Vorgang der chemischen Anziehung der Elemente in ganz ähnlicher Weise: »Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!« sagte Charlotte. »Man sollte dergleichen«, versetzte der Hauptmann, »nicht mit Worten abtun. Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden. Jetzt müßte ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gäben. Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen.« (WV 275f.)
In der Italienischen Reise und in Dichtung und Wahrheit finden sich schließlich Bemerkungen, die an diese Verwendungsweise anknüpfen und die frühe Aufnahme in einen umgangssprachlichen Zusammenhang zeigen, wo das Wort offensichtlich lange verbleibt; überdies betont Goethe selbst in letzterem Werk genau im Kontext der Verwendung dieses Wortes, ob zufällig oder nicht, seine prinzipiell »poetische« Denkweise, die er der »mathematischen« entgegensetzt: Man kann sich von einem solchen Herbstaufenthalte den besten Begriff machen, wenn man sich ihn wie den Aufenthalt an einem Badorte gedenkt. Personen ohne den mindesten Bezug aufeinander werden durch Zufall augenblicklich in die unmittelbarste Nähe versetzt. Frühstück und Mittagessen, Spaziergänge, Lustpartien, ernstund scherzhafte Unterhaltung bewirken schnell Bekanntschaft und Vertraulichkeit; da es denn ein Wunder wäre, wenn, besonders hier, wo nicht einmal Krankheit und Kur
241 Vgl. ebda. S. 701.
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eine Art von Diversion macht, hier im vollkommensten Müßiggange, sich nicht die entschiedensten Wahlverwandtschaften zunächst hervortun sollten.242 So lebte ich in einer neuen wundersam angenehmen Umgebung eine Zeitlang fort, bis Merck mit seiner Familie herankam. Hier entstanden sogleich neue Wahlverwandtschaften: denn indem die beiden Frauen sich einander näherten, hatte Merck mit Herrn von La Roche als Welt- und Geschäftskenner, als unterrichtet und gereist, nähere Berührung. Der Knabe gesellte sich zu den Knaben, und die Töchter fielen mir zu, von denen die älteste mich gar bald besonders anzog.243
Übrigens möge auch hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die innigsten Verbindungen nur aus dem Entgegengesetzten folgen. Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sittlichen Gegenständen nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen Schüler, zu seinem entschiedensten Verehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich mit notwendiger Wahlverwandtschaft, und durch diese kam die Vereinigung der verschiedensten Wesen zustande.244
Auch im Zusammenhang des Theaters spricht Goethe von Prozessen der »Wahlverwandtschaft«, die in der mehrmaligen Wiederholung einer Aufführung die einzelnen Teile, die zum Entstehen derselben beitragen (die Arbeit des Dichters, des Komponisten, der Schauspieler, des Publikums etc.), »auf die gefälligste Weise zu einem Ganzen verbinden«245. Daß Goethe schließlich das Wort als Begriff des Alltagslebens weiter verwendet, zeigt eine Aufzeichnung des Sammlers und Kunsthistorikers Sulpiz Boisser8e, in späteren Jahren Freund und Mitarbeiter an den kunsttheoretischen Schriften: Diesen mir heiligen Tag [32. Geburtstag] mit einem bedeutenden Vornehmen zu bezeichnen habe ich unter frommen Wünschen und Dank gegen den uns günstigen Himmel den Entwurf zu dem Bericht über Deutsche Altertümer Kunst und Wissenschaft am Rhein angefangen. Der Allgütige gebe sein Gedeihen zu dieser Arbeit! Goethe hat auch angefangen und, wie er sich ausdrückt, der Heilige Geist ihm offenbart, daß wir es (den Entwurf) hier [Wiesbaden] fertig machen, darum noch acht Tage hier bleiben müssen; – in Frankfurt nähmen sie ihn in Anspruch – und dann, käme ich zu Wilmer [Willemer] – so gäbe es Wahlverwandtschaften – die Verhältnisse änderten ja immer wie ein Dritter oder Vierter hineintrete, das möge er nicht – darum, hätte 242 Goethe, Italienische Reise, Zweiter Römischer Aufenthalt, (Oktober 1787), HA, Bd. 11: Autobiographische Schriften III, S. 421. 243 Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 13. Buch, HA, Bd. 9: Autobiographische Schriften I, S. 561. 244 Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 14. Buch, HA, Bd. 10: Autobiographische Schriften II, S. 35. 245 Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Anmerkungen, HA, Bd. 6, S. 702.
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Wilm. selbst gesagt ich sollte mit bei ihm sein, so würde er mich gebeten haben ich soll wegbleiben.246
Bedeutend in unserem Zusammenhang ist nicht zuletzt eine Bemerkung Goethes zu Riemer, die in die letzte Phase der Entstehungszeit des Romans fällt. Sie weist auf die Formulierung, die Goethe in seiner Selbstanzeige des Romans wenige Monate später verwenden wird, voraus und spricht denselben Grundgedanken an. Die gegenseitige Durchdringung (und unausgesprochen: notwendige Ergänzung?) der Wissenschaften ist hier das Grundthema, die Äußerung dokumentiert daher nicht nur die endgültige Übertragung des Begriffs der »Wahlverwandtschaft« auf einen soziologisch-philosophischen Bereich, sondern erklärt auch Goethes Vorliebe für diesen Begriff: Die sittlichen Symbole in den Naturwissenschaften (zum Beispiel das der Wahlverwandtschaft vom großen Bergmann erfunden und gebraucht) sind geistreicher und lassen sich eher mit Poesie, ja mit Sozietät verbinden, als alle übrigen, die ja auch, selbst die mathematischen, nur anthropomorphisch sind, nur daß jene dem Gemüt, diese dem Verstande angehören.247
III. 2.2. Natur, Ironie und Wissenschaft: Exposition einer Idylle – Charakter und Anlage III. 2.2.1. Die Sprache der Natur – Zum Symbol Das Ineinander von Natur und Wissenschaft gilt als eine der Neuerungen, die die Wahlverwandtschaften in den Roman als Gattung einbringen. Die Darstellung dessen in der Goethe-Forschung reicht von der genauen Auflistung der »brandneuen« Entdeckungen der naturwissenschaftlichen Forschung, die sich im Roman finden, bis zur detailreichen Verknüpfung von Goethes »Natur«-Konzept mit jenem seiner Dichtungstheorie und vor allem mit dem seiner Religionsphilosophie. Immer wieder wird dabei auf die Gleichzeitigkeit der Entstehung der Wahlverwandtschaften mit der Arbeit an den naturwissenschaftlichen Studien verwiesen, die auch das Jahrzehnt nach der Metamorphose der Pflanzen (1798) bestimmen. Grete Schaeder orientiert ihre Untersuchung zu Goethes religiösem Weltbild, das bekanntermaßen meist in die Formel des »Pantheismus« gefaßt
246 Sulpiz Boisser8e, Tagebücher 1808–1854, Bd. I. 1808–1823, Hrsg. von Hans-J. Weitz, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1978, S. 231. 247 Gespräch mit Riemer vom 24. Juli 1809, siehe: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Gespräche, Erster Teil, 22. Band der Gedenkausgabe, Einführung und Textüberwachung von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Artemis Verlag, Zürich und Stuttgart, 19642, S. 565.
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wird, in erster Linie an dessen »Natur«-Begriff248. Dem Gedichtzyklus Gott und Welt entnimmt sie Goethes »Glaubensbekenntnis« als »Mensch und Naturforscher«: »Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, / Als daß sich GottNatur ihm offenbare? / Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, / Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.«249 Für Grete Schaeder ist in bezug auf Goethe als Schriftsteller und Naturforscher Entzifferung die Grundformel und Konsequenz dieser Verse, die sie an den Beginn ihrer immer noch häufig zitierten Studie gesetzt hat: Schon diese wenigen Zeilen lassen erkennen, wie Goethe die Natur ansieht. Nicht als Gelehrter, dem es um die Ergebnisse seiner Forschung geht, und nicht als Romantiker und Stimmungsmensch. Goethe sucht ›Offenbarung‹ in der Natur, er will die Sprache erkennen, in der Gott durch die Natur zum Menschen spricht. Im Alter hat er diese Sprache einmal als das ›Alphabet des Weltgeistes‹ bezeichnet – die beiden letzten Zeilen der mitgeteilten Strophe enthalten gewissermaßen das Alpha und Omega dieses Alphabets. »Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen«: die Natur ist in unaufhörlicher Verwandlung begriffen, sie löst immer wieder auf, was sie selbst geschaffen hat, und diese ihre Grundbewegung verläuft innerhalb eines scheinbaren Widerspruchs. Alles was vor unsern Augen festbegründet im Leben steht, alles Materielle und jede Form, in die die Materie eingeht, ist vergänglich, sie ›verrinnt‹ in etwas, das unsichtbar ist und das doch allein Bestand hat. »Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre«: im ständigen Wandel alles natürlichen und geistigen Lebens ›bewahrt‹ die Natur gewisse Grundformen und Urgesetze, die immer wiederkehren – Goethe hat sie Urphänomene genannt – und in denen uns die Gott-Natur Einblick in ihre schöpferischen Ideen gewährt. Im Magnetismus z. B. liegt ein solches Grundgesetz der Natur so offen zutage, daß wir seine Wirkungsweise jederzeit verfolgen können; ein Gesetz, das Goethe in verwandten Erscheinungen der Elektrizität und Chemie wiedererkennt und dessen Spuren er sogar noch in der unerklärlichen Anziehung und Abstoßung wahrnimmt, die im Menschenleben vor sich geht und die er in seinen ›Wahlverwandtschaften‹ dargestellt hat: »Magnetes Geheimnis, erkläre mir das!« Kein größer Geheimnis als Lieb’ und Haß. Gott und Welt – das sind die beiden Pole der Glaubenshaltung Goethes, die wir als ›Weltfrömmigkeit‹ zu bezeichnen gewohnt sind. Goethe selbst hätte vielleicht von ›Naturfrömmigkeit‹ gesprochen in dem Sinn, in dem er Shakespeare einen ›wahren Naturfrommen‹ genannt hat.250
248 Grete Schaeder, Gott und Welt – Drei Kapitel Goethescher Weltanschauung, Verlag der Bücherstube Fritz Seifert, Hameln 1947. 249 Gott und Welt unter »Die weltanschaulichen Gedichte« siehe HA, Bd. I, S. 357ff.; die Verse sind dem titellosen Gedicht mit dem Anfang »Im ernsten Beinhaus war’s, wo ich beschaute«, entnommen, S. 366f., hier S. 367. 250 Grete Schaeder, Gott und Welt, S. 7f.
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Grete Schaeders Studie richtet gleich zu Beginn ihr Augenmerk auf die Wahlverwandtschaften. Sie werden auch öfters als eine Art Summe von Goethes jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit der Pflanzenwelt und seinen kunsttheoretischen Schriften bezeichnet251. Der Begriff »Natur« ist also hier in seiner Eingebundenheit in eine Dreiheit von Natur, Religion und Kunst zu sehen. Vieles in dieser Erklärung der »Gott-Natur« von Grete Schaeder scheint genau auf inhaltliche wie formale Elemente der Wahlverwandtschaften zu reagieren. Natur ist im Roman in vielfältiger Weise thematisiert, und genauso geht es von Anfang an um deren »Sprache« und um die Eingriffe des Menschen in natürliche Abläufe. Diese spiegeln sich im Eingangsbild des Bäumeveredelns und in der Beschäftigung mit der Gartengestaltung, schließlich in der versuchten Rückverwandlung der drei Teiche in den ursprünglichen See. Vor der Folie des positiven Wandels alles Natürlichen, den Schaeder hier anspricht, ist der in den Wahlverwandtschaften meist fatale Ausgang all dieser Eingriffsversuche zu sehen. Besonders anhand des Zeitbegriffs ist die Zeichnung einer natürlichen Ordnung als Gegenbild zur menschlichen Konstruktion von Zeit erkennbar. Wie bei der Darstellung von Judith Reuschs Studie zu den Zeitstrukturen ausgeführt, treten in den Wahlverwandtschaften an die Stelle von Daten die zyklischen Zeitbestimmungen, die mit dem Pflanzenwachstum verbunden sind. Verfolgt man dies im Roman, findet sich, daß die Zeitangaben kaum über jene des »Aprilnachmittags« im Anfangsbild hinausgehen. Keine genauen Zeitpunkte, höchstens Monatsnamen, sind genannt, was zählt und was den Ablauf bestimmt, sind das Einpflanzen, die Blüte und die Ernte. Das Fortschreiten der Zeit ist an der Erwähnung bestimmter Blumen oder Früchte ablesbar. So ist von der »Beeren- und Kirschenzeit« (WV 350) die Rede, von auf den Tischen verteilten prächtigen Obst- und Blumenkörben (vgl. WV 313), das Wachstum der Astern wird leitmotivisch verfolgt252. (Fast kann man dieser naturhaften Verdichtung des Zeitbegriffs in den Wahlverwandtschaften eine Art Materialcharakter zusprechen, im Sinne eines späten Aphorismus Goethes: »Die Zeit ist selbst ein Element.«253) Am Motiv der Astern wird aber zugleich der Symbolcharakter aller dieser Naturbezüge klar, schon Rudolf Abeken deutet es in seiner Rezension als »Schlußvignette des letzten ernsten Capitels«254. Dasselbe gilt für das oft als 251 Im Besonderen geht dieser These nach: Ann-Theres Faets, »Überall nur Eine Natur«? Studien über Natur und Kunst in Goethes Wahlverwandtschaften, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main Berlin Bern New York Paris Wien 1993 (= Europäische Hochschulschriften Reihe I Deutsche Sprache und Literatur Bd. 1385). 252 Vgl. WV 313: »die späteren Blumen« und die Auflistung der weiteren Nennungen im Kommentar HA, Bd. 6, S. 718. 253 Siehe Maximen und Reflexionen, HA, Bd. 12, S. 377. 254 Vgl. Kommentar HA, Bd. 6, S. 649.
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zentrales Motiv genannte Bild der stehengebliebenen Uhr des Hauptmanns im siebten Kapitel des ersten Teils. Explizit als »chronometrische Sekundenuhr« (WV 290) bezeichnet, verweist diese Exaktheit nur umso mehr darauf, daß die Uhr ihren Dienst versagt und im Natur-Reich der Wahlverwandtschaften eine andere Art von Zeitrechnung herrscht. Was sich, mit Schaeder gedacht, als Frage an den als positiv transportierten Zeichen der Natur auftut, ist, ob die Figuren imstande sind, diese zu deuten. Der menschliche Umgang mit der »Sprache« der Natur in den Wahlverwandtschaften wurde daher in der Goethe-Forschung vielfach thematisiert. Die Absage an die Meßbarkeit kann man solcherart in die größere Thematik des Grundzweifels an allem Festgefügten, die Schaeder im Zitat anspricht, einordnen. Die prinzipielle Veränderung, der dauernde Wandel, dem alles unterworfen ist, macht natürlich auch vor anderen, den sozialen Ordnungssystemen, nicht Halt. Was dementsprechend im Roman zur Diskussion gestellt wird, ist zwar nicht das Phänomen der Ehe selbst – diese wird eher noch als »Urphänomen« behandelt –, sehr wohl aber deren rechtliche Fassung. Diese wird von den Figuren entweder heftig verteidigt, so von Mittler (vgl. WV 306f.), oder mehr ernst- als scherzhaft in Frage gestellt, so vom Grafen bei dessen erstem Besuch mit der Baronesse (vgl. WV 310ff.). Der vergebliche Versuch Charlottes, Ottilies Ohren vor den Ausführungen des Grafen zur Fünfjahres-Ehe zu bewahren, verweist dabei im Kleinen auf die Unmöglichkeit, den Lauf der Geschehnisse im Großen zu beeinflussen, eine Illusion, der gerade die vernunftbetonte Charlotte immer wieder unterliegt. Was die Skizzierung der menschlichen Natur in den Wahlverwandtschaften angeht, kreist der Roman also ebenso auf verschiedenen Ebenen um das Problem ihrer Beherrschbarkeit. Wie erwähnt, wird besonders Eduards impulsives Wesen in eindrücklicher Metaphorik dargestellt. Nach Grete Schaeder erweist sich »Natur« also als zu entziffernde Ordnung, und aus dieser Perspektive definiert sie Goethes Religiosität. Eine wichtige Voraussetzung ist für Schaeder dabei die Kategorie des Symbols. Die zu entziffernde Naturordnung braucht Repräsentanten, um erkennbar zu sein, also sozusagen Dechriffierhilfen. Das ist für Schaeder die Funktion von Symbolen bei Goethe. Sie streicht deren Wichtigkeit im Zusammenhang von Goethes »Natur«Begriff heraus und zitiert dazu ein sprechendes Bild: Wollte man die Weltfrömmigkeit Goethes in einen einzigen Satz fassen, so müßte man wiederum einen Vers aus dem Zyklus ›Gott und Welt‹ anführen: »Der Augenblick ist Ewigkeit.« Gewiß hat sich der Sinn dieses Wortes für Goethe im Ablauf der Lebensalter gewandelt. Das Geheimnis seiner Jugendlyrik liegt darin beschlossen, die aus der Seele hervorquillt, mühelos und absichtslos wie Vogelgesang, und mit allen Stimmen der Natur zu unserm Herzen spricht. Aber auch für den alten Goethe hat das Wort seinen Sinn nicht verloren, wenn er 1818 an Zelter schreibt: »Ich stehe wieder auf meiner
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Zinne über dem rauschenden Brückenbogen: die tüchtigen Holzflöße, Stamm an Stamm, in zwei Gelenken, fahren mit Besonnenheit durch und glücklich hinab; Ein Mann versieht das Amt hinreichend, der zweite ist nur wie zur Gesellschaft. Die Scheite Brennholz dilettantisieren hinterdrein; einige kommen auch hinab, wo Gott will, andere werden in Wirbel umgetrieben, andere interimistisch auf Kies und Sandbank aufgeschoben. Morgen wächst vielleicht das Wasser, hebt sie alle und führt sie Meilen weit zu ihrer Bestimmung, zum Feuerherd. Du siehst, daß ich nicht nötig habe, mich mit den Tagesblättern abzugeben, da die vollkommensten Symbole vor meinen eigenen Augen sich eräugnen.« Auch der alte Goethe sieht in dem Vorgang, der sich vor seinen Augen abspielt, die ganze Welt gespiegelt: im Mittelpunkt die Ordnung, die der Mensch der Natur abgewinnt, ringsherum vieles, das nur vom Zufall getrieben scheint und doch von einer höheren Fügung gelenkt wird. Wo in einer Erscheinung des Lebens mit einem Mal ein höheres Leben aufleuchtet und sich blitzartig offenbart, da ist für Goethe ein Symbol gegeben. Goethe erlebt das Symbol wie ein Mystiker, aber wie ein Mystiker ohne feste Glaubensbindung. Im Zeitlichen ein Ewiges ergreifen – das eben ist seine Religion, das ist aber auch die Kunst Goethes. Die beiden Pole Gott und Welt schließen ein Spannungsverhältnis in sich, das zwischen dem religiösen Menschen und dem Künstler in Goethe besteht.255
Die Briefstelle an Zelter, die Schaeder hier zitiert, liefert, ähnlich wie Reuschs Idee von der Erfassung des »Ewigen« im Zeitlichen, die beste Demonstration der Erfassung eines symbolischen Augenblicks; hingewiesen sei dabei beiläufig auf die Wahl der Mittel, die Goethe zur Schilderung einsetzt. Der Gebrauch des historischen Präsens an dieser Stelle scheint in jeder Hinsicht naheliegend, dennoch ist er nicht selbstverständlich. Die Verwendung kann natürlich als schlichter Beleg gewertet werden, daß das historische Präsens im Schrifttum der Zeit häufig anzutreffen ist und sein Gebrauch mit einer zeitüblichen stilistischen Sorgfalt zusammenfällt. Vielleicht verweist er darüber hinaus auf eine persönliche Sorgfalt, vielleicht sogar eine Vorliebe Goethes für den Einsatz dieses Mittels – auch in Dichtung und Wahrheit kommt es zum Einsatz256. Das zur Schilderung des beispielhaften Vorgangs eingesetzte Präsens erinnert jedenfalls an Henning Brinkmanns Hinweis auf den Zusammenhang zwischen sprachlicher und existentieller Ordnung und an seine Satzstellung des »personhaften« Seins zur Darstellung des Moments der Offenbarung einer solchen Ordnung. III. 2.2.2. Die Sprache der Gesellschaft: Experimentanordnung der Darstellung, Rollenverhalten und Charakter Goethes Selbstanzeige des Romans (siehe Kapitel III. 3.) bringt den Grundgedanken des Ineinander von Natur und Wissenschaft wieder. Sie spinnt ihn aber 255 Grete Schaeder, Gott und Welt, S. 8f. 256 So auch etwa im Kapitel, das die Darstellung des »Dämonischen« enthält (4. Teil, 20. Buch), siehe Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 10, S. 179f.
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in entscheidender Weise weiter, indem natur- und geisteswissenschaftliches Denksystem nicht nur einander gleich-, sondern vor allem gemeinsam einer Kategorie untergeordnet werden. Es ist die Rede von der »einen Natur«, der beide unterliegen. Die Anzeige ist bestimmt von einer gleichzeitig etwas verrätselnd-verklärenden und trotzdem um eine Art distanzierender Objektivität bemühten Darstellung; mit dem Effekt, daß in dieser Mischung ein Ton prinzipiell zweifelnder Ironie anklingt. Diese Ironie jedoch, und das ist auch der Grundton der Erzählerkommentare im Roman, schließt die darstellende Instanz des Sprechers selbst mit ein, ein Grundprinzip, dem Goethe in den Wahlverwandtschaften fast durchgehend folgt. Es führt zugleich das Element einer gewissen Resignation mit sich, die die Erzählerstimme immer wieder bestimmt. Verstärkt wird dieser Effekt der melancholischen Distanzierung durch die der Versuchsanordnung entlang konzipierte Fabel (histoire) des Romans, die den Ausgang des Geschehens über die Metapher der chemischen Gleichnisrede gleich zu Beginn klar werden läßt. Auch die Einführung Eduards mit der betonten Beliebigkeit der Namensgebung verweist auf den »Spiel«- bzw. exemplarischen Charakter der Handlung. Die an den Beginn gestellten Gespräche zwischen den Figuren zeigen ebenfalls Exemplarisches. Sie geben uns eine Einführung in deren Denken und Fühlen und die Art ihrer Reaktionen und legen damit die Basis zu ihrem psychologischen Verständnis. Diese Einführung wollen wir kurz beleuchten. An ihr wird nämlich noch vor dem chemischen Gleichnis klar, daß der bedrohliche Charakter der Veränderung der Konstellation, die Vorahnung der Zerstörung des zunehmend prekären Glücks des Ehepaars Charlotte und Eduard von Anfang an die atmosphärische Konstante der Erzählung bildet257. Das zeigt sich an den unmittelbar einsetzenden Diskussionen des Paars, die die Überidylle des Anfangsbildes bald brechen. Diese Überidylle betrifft dabei nicht nur die äußere Natur des Gartens (die Ehepartner erweisen sich recht schnell als mehr oder weniger geschickte Dilettanten der Gartenkunst), sondern vor allem die nur scheinbar wohleingerichtete Natur ihrer Beziehungen, die zu Beginn ganz als eine der gegenseitigen Aufmerksamkeit, Höflichkeit und Rücksichtnahme eingeführt wird. Demonstriert wird dies anhand der Gespräche, nicht anhand einer Einführung durch den Erzähler. Selbst die Vorgeschichte des Paars wird in direkter Rede von Charlotte selbst wiedergegeben und nicht vom Erzähler als Rückblende geschildert:
257 Darauf, daß schon die Eheschließung Eduards und Charlottes den Charakter der Verspätung trägt, der Bruch der Harmonie somit schon in der Vorgeschichte der Figuren anzusiedeln ist, verweist etwa Eva Horn (Anm. 235), Chemie der Leidenschaft, S. 165ff.
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»Recht gut,« versetzte Charlotte; »so will ich gleich mit einer allgemeinen Bemerkung anfangen. Die Männer denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwärtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind, die Weiber hingegen mehr auf das, was im Leben zusammenhängt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien an diesen Zusammenhang geknüpft ist und auch gerade dieses Zusammenhängende von ihnen gefordert wird. Laß uns deswegen einen Blick auf unser gegenwärtiges, auf unser vergangenes Leben werfen, und du wirst mir eingestehen, daß die Berufung des Hauptmannes nicht so ganz mit unsern Vorsätzen, unsern Planen, unsern Einrichtungen zusammentrifft. Mag ich doch so gern unserer frühsten Verhältnisse gedenken! Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt; du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich älteren, reichen Frau verband; ich von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten, aber geehrten Manne meine Hand reichen mußte. Wir wurden wieder frei; du früher, indem dich dein Mütterchen im Besitz eines großen Vermögens ließ; ich später, eben zu der Zeit, da du von Reisen zurückkamst. So fanden wir uns wieder. Wir freuten uns der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung, wir konnten ungestört zusammenleben. Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich ein, denn da wir ungefähr von denselben Jahren sind, so bin ich als Frau wohl älter geworden, du nicht als Mann. Zuletzt wollte ich dir nicht versagen, was du für dein einziges Glück zu halten schienst. Du wolltest von allen Unruhen, die du bei Hof, im Militär, auf Reisen erlebt hattest, dich an meiner Seite erholen, zur Besinnung kommen, des Lebens genießen; aber auch nur mit mir allein. Meine einzige Tochter tat ich in Pension, wo sie sich freilich mannigfaltiger ausbildet, als bei einem ländlichen Aufenthalte geschehen könnte; und nicht sie allein, auch Ottilien, meine liebe Nichte, tat ich dorthin, die vielleicht zur häuslichen Gehülfin unter meiner Anleitung am besten herangewachsen wäre. Das alles geschah mit deiner Einstimmung, bloß damit wir uns selbst leben, bloß damit wir das früh so sehnlich gewünschte, endlich spät erlangte Glück ungestört genießen möchten. So haben wir unsern ländlichen Aufenthalt angetreten. Ich übernahm das Innere, du das Äußere und was ins Ganze geht. Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur für dich allein zu leben; laß uns wenigstens eine Zeitlang versuchen, inwiefern wir auf diese Weise miteinander ausreichen.« (WV 245f.)
Es bleibt am Leser, die Anzeichen der zunehmenden Verärgerung Charlottes, die als einzige und kurze Kommentare in den folgenden Handlungsverlauf eingeflochten werden, nicht zu überlesen. Dennoch wird in der genauen Darstellung der Gesprächshandlung zwischen den beiden Figuren gleich im ersten Kapitel schnell deutlich, daß und warum Charlotte den keineswegs logischeren Argumenten ihres Mannes schließlich nachgeben muß. Bezeichnend ist etwa, daß Charlotte, die Eduard auch im weiteren wortreich daran erinnert, daß das bis ins Detail vorausskizzierte Eheleben (mit dem Ordnen von Papieren und Tagebüchern, dem Ausbau der Gärten, gemeinsamem Musizieren und dem Pflegen der Nachbarschaftsbeziehungen) als Idylle selbstgenügsamer Zweisamkeit geplant war, in ihrer Argumentation das »wir« des Paares in den Vordergrund stellt.
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Eduard hingegen beantwortet zwar Charlottes Darstellung ebenso mit einem Zug ins Allgemeine, jedoch ins Allgemeine der Machtverhältnisse zwischen Ehepartnern. Aus seiner recht unverhohlen selbstbezogenen Perspektive bezieht das »wir« sich auf den Gegensatz zwischen Männern und Frauen: »Da das Zusammenhängende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist,« versetzte Eduard, »so muß man euch freilich nicht in einer Folge reden hören oder sich entschließen, euch recht zu geben; und du sollst auch recht haben bis auf den heutigen Tag. […]« (WV 247)
Auch in der eindeutig komponierten Aufteilung der Gesprächsportionen (Charlotte spricht meist in etwa doppelt so lang wie Eduard, ohne letztlich etwas damit zu erreichen) zeigt sich die dem Roman oft zugeschriebene Ironie der Darstellung, die gleichzeitig – auch dies wird betont (vgl. die Reaktionen der Zeitgenossen in III. 3.2.) – einer wirklichkeitsnahen Zeichnung des letztlich wenig harmlosen Konflikts keinen Abbruch tut. Die Auslassung am Ende des Zitats soll darauf hinweisen, daß Eduards Antwort gekürzt wurde, um den ungeduldigen Charakter seines Redegestus am Beginn seiner Antwort – eine wiederholt eingesetzte Strategie – herauszuheben. Es folgt Eduards Einwand, daß die geplanten Aktivitäten schließlich nicht für Einsiedler getan seien. Es soll also nicht der Eindruck entstehen, Eduard spräche argumentationslos. Dennoch demonstriert die relativ breite Anlage dieses Gesprächs zwischen Eheleuten anschaulich, warum Charlotte der ihr oft zugeschriebene Part der »Vernunft« zukommt und daß Eduards Charakterisierung als Egozentriker (»Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt.« WV 249) zu Beginn des zweiten Kapitels sorgfältig vorbereitet wird. Als Charlotte ihrerseits »mit einiger Ungeduld« vorbringt, daß es schlicht ihr Gefühl sei, das dem Vorhaben widerspreche, daß eine Ahnung ihr »nichts Gutes weissagt«, antwortet Eduard ähnlich wie oben mit der Pauschalzeichnung eines Rollenverhaltens: »Auf diese Weise wäret ihr Frauen wohl unüberwindlich,« versetzte Eduard, »erst verständig, daß man nicht widersprechen kann, liebevoll, daß man sich gern hingibt, gefühlvoll, daß man euch nicht weh tun mag, ahnungsvoll, daß man erschrickt.« (WV 248)
Charlottes Entgegnung, die in etwa wieder doppelt so lang ausfällt, enthält den Hinweis, daß es nicht Aberglauben, sondern »meistenteils unbewußte Erinnerungen glücklicher und unglücklicher Folgen« seien, die ihre Vorahnung bedingten. Aus oft beobachteter Erfahrung wisse sie, wie sehr die »Dazwischenkunft« eines Dritten jedes Verhältnis, ob zwischen Geschwistern, Freunden, Liebenden oder Gatten, grundlegend verändere oder gar umkehre. Eduards Antwort zeugt dagegen von anderen Gewißheiten:
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»Das kann wohl geschehen«, versetzte Eduard, »bei solchen Menschen, die nur dunkel vor sich hinleben, nicht bei solchen, die, schon durch Erfahrung aufgeklärt, sich mehr bewußt sind.« (WV 248)
Die Charakterdarstellung in den Wahlverwandtschaften bedient sich immer wieder der Verwendung bestimmter Begriffe durch die Figuren, wie in diesem Fall dem der »Bewußtheit« oder des »Bewußtseins«, der von Eduard wie Charlotte gebraucht wird. Charlottes Antwort greift das Wort auf, sie wendet sich aber an dieser Stelle, die oft als Zeichen ihres Reflexionsvermögens zitiert wird, gegen Eduards Überschätzung der Möglichkeiten der Selbstbeurteilung: »Das Bewußtsein, mein Liebster,« entgegnete Charlotte, »ist keine hinlängliche Waffe, ja manchmal eine gefährliche für den, der sie führt; und aus diesem allen tritt wenigstens soviel hervor, daß wir uns ja nicht übereilen sollen. Gönne mir noch einige Tage, entscheide nicht!« (WV 248)
Der Disput zwischen Eheleuten, der in nuce die Abhandlung des »Bewußtseins« (als eines Schlüsselworts der Aufklärung) enthält, tritt bezeichnenderweise an diesem Punkt in seine Schlußphase. Wiederum ist es Eduard, der mit dem Hinweis darauf, daß das wechselseitige Vorbringen der Beweggründe für oder gegen die Einladung des Hauptmanns keinen Fortschritt der Entscheidung bringe, eine solche durch Auslosen getroffen sehen möchte. Der Grund dafür wird gleich klar : er ist mit seiner Antwort an den Hauptmann schon in peinlichem Verzug, und als Charlotte ihrerseits, zwar immer noch verhalten und um Vermittlung bemüht, aber doch entsetzt auf diesen Vorschlag reagiert (»bei einer so ernsthaften Sache hingegen würde ich dies für einen Frevel halten«), bricht Eduards Impulsivität hervor : »Was soll ich aber dem Hauptmann schreiben?« rief Eduard aus; »denn ich muß mich gleich hinsetzen.« »Einen ruhigen, vernünftigen, tröstlichen Brief,« sagte Charlotte. »Das heißt soviel wie keinen,« versetzte Eduard. »Und doch ist es in manchen Fällen«, versetzte Charlotte, »notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben.« (WV 248f.)
Das ausführlich dargelegte Gespräch mündet also zunehmend in die bloße Wiedergabe von Rede und Wechselrede, der Ton spitzt sich zu. Das Ende wird überdies in keiner Weise vom Erzähler kommentiert, sondern bildet das Ende des Kapitels, der Beginn des nächsten zeigt uns Eduard beim Versuch, das Antwortschreiben an den Hauptmann zu verfassen. Der Beginn des Romans inszeniert also eine Diskussion zwischen Ehepartnern, deren Ablauf detailliert die »Gesprächskultur« abbildet, die das Eheleben dieser Partner bestimmt, und uns damit die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere und ihre gewohnte Art der Reaktion deutlich vor Augen führt.
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III. 2.3. Szenen einer Ehe: Dräuende Bilder und böse Häuser Das solcherart im ersten Kapitel skizzierte Ungleichgewicht in der Auseinandersetzung des Paares wird zwar von beiden Seiten im Anschluß an den Streit (so die Bezeichnung Eduards: »[…] ich merke wohl, im Ehestand muß man sich manchmal streiten, denn dadurch erfährt man was voneinander.« WV 250) im zweiten Kapitel entschärft. Eduard schiebt den geplanten Brief an den Hauptmann auf und verhält sich charmant entgegenkommend. Charlotte geht auf sein Flirten ein und gesteht ihm schließlich ihre eigenen Sorgen um Ottilie (beides spiegelt das von Eduard skizzierte Rollenverhalten, in dem ja die entsprechende, ebenso stereotype Reaktion von männlicher Seite mitbeschrieben wird). Der Verlauf des zweiten Kapitels zeigt jedoch in der fortgesetzten Diskussion um die Richtigkeit ihres Handelns, die durch das Auftauchen Mittlers aufgeschoben, aber nicht gelöst wird (WV 256: »Beide Gatten würden auch wohl noch eine Zeitlang geschwankt haben, wäre nicht ein Brief des Hauptmanns […] angekommen.«), in welcher Ausweglosigkeit man angelangt ist. Die Schilderung von Charlottes good will beim Musizieren mit Eduard wird so schließlich zur Beschreibung einer Ehe: Sie bat um Aufschub und wußte diesen Abend bei Eduard Lust zu einer musikalischen Unterhaltung aufzuregen. Charlotte spielte sehr gut Klavier, Eduard nicht ebenso bequem die Flöte; denn ob er sich gleich zuzeiten viel Mühe gegeben hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Bildung eines solchen Talentes gehört. Er führte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie ihm nicht geläufig waren, und so wär es für jeden andern schwer gewesen, ein Duett mit ihm durchzubringen. Aber Charlotte wußte sich darein zu finden; sie hielt an und ließ sich wieder von ihm fortreißen und versah also die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im ganzen immer das Maß zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Takt bleiben sollten. (WV 257)
Diese Konstante einer Alltagsaporie der Beziehungen zwischen den Figuren bestimmt alsoo von Anfang an das Geschehen: »Daß es zu bösen Häusern hinausgehn muß, sieht man ja gleich im Anfang.«258 lautet Goethes oft zitierte 258 Vgl. Kommentar von Benno von Wiese: »Die »Wahlverwandtschaften« im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen«, HA, Bd. 6, S. 641: »Gespräch im Hause Frommann (aus »Das Frommannsche Haus und seine Freunde« von F. J. Frommann, 2. Aufl. Jena 1872). Goethe selbst, der im Allgemeinen ungern über seine Dichtungen sprach, war mit Rudolf Abekens Recension …, welche die sittliche Tendenz des Romans ausdrücklich darlegte, ganz einverstanden, äußerte auch gegen meine Mutter : »daß es zu bösen Häusern hinausgehn muß, sieht man ja gleich im Anfang.« Walter Benjamin ordnet dieser »seltsamen Wendung« einen möglichen astrologischen Ursprung zu und verweist darauf, daß sie im Grimmschen Wörterbuch nicht zu finden sei. Vgl. Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 19.
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Äußerung, die nicht unmittelbar einsichtig erscheint, steht doch am Beginn scheinbar die Schilderung einer glücklichen Ehe mit ihren unvermeidlichen Alltagsmissverständnissen. Festzuhalten ist dabei, daß diese Schilderung sich als szenische präsentiert. Die Zurücknahme des Erzählers geht einher mit der Technik des showing, es wird also eine Bühne geschaffen, auf der, wie erwähnt, den Hauptfiguren selbst das Nachtragen ihrer Vorgeschichte zukommt. Dies mag den Anschein einer gewissen Konventionalität haben, ist aber im Zusammenhang der am Beispiel veranschaulichenden Konzeption (Gleichnisrede) zu sehen. Ebenso erlaubt die Schilderung »von außen« eine überaus genaue Sicht auf Aktion und Reaktion der Gesprächspartner, diese Sicht wird vom Erzähler freigegeben und nicht beurteilt. Aus deren Gesprächshandeln erfahren wir Entscheidendes über die habituellen Verhaltensweisen der Protagonisten, ihre späteren Entscheidungen erhalten so eine Verankerung. Auf diese Weise spiegeln die später einsetzenden Passagen im szenischen Präsens die Technik des showing, mit der der Roman einsetzt. Dieser ist also von verschiedenen Arten szenischer Darstellung geprägt, die dem Prinzip einer möglichst unverstellten Sicht auf das Geschehen folgen. Dem O-Ton der Gespräche zu Beginn wird später außerdem gleichsam der OTon von Ottilies Tagebucheintragungen gegenübergestellt.
III. 3. Für die jungen Mädchen geschrieben – Reaktionen der Zeitgenossen und Dämonie und Sachlichkeit III. 3.1. Prämissen eines Romans: Nur e i n e Natur – Zum Dämonischen III. 3.1.1. Zur Brüchigkeit der Vernunft: die Realität der »höheren Hand« Im Morgenblatt für gebildete Stände erscheint am 4. September 1809 folgende »Notiz«: Wir geben hiermit vorläufige Nachricht von einem Werke, das zur Michaelismesse im Cottaschen Verlage herauskommen wird: Die Wahlverwandtschaften, ein Roman von Goethe In zwei Teilen. Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen, und so hat er auch wohl in einem sittlichen Falle eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um
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so mehr, als doch überall nur e i n e Natur ist und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand und vielleicht auch nicht in diesem Leben völlig auszulöschen sind.259
In einem Aufsatz für den von Norbert W. Bolz 1981 herausgegebenen Sammelband zu den Wahlverwandtschaften260 spricht Burkhardt Lindner den (ersten) Verkaufserfolg des Romans, aber vor allem die bald sich zeigende Ratlosigkeit der zeitgenössischen Rezensenten der Unverständlichkeit des Titels zu261. Daß es gerade der Titel war, der die Zeitgenossen am meisten beschäftigte, ist anhand der (zahlreichen) Reaktionen auf den Roman oder jener der beiden frühen Rezensenten Rudolf Abeken und Karl Wilhelm Ferdinand Solger kaum zu erschließen, Überlegungen dieser Art kommen bei keinem von beiden unmittelbar zum Ausdruck. Auch die Äußerungen und brieflichen Kommentare zu den Wahlverwandtschaften im Kommentar der Hamburger Ausgabe geben zu dieser Überlegung wenig Anlaß. Die Ungeläufigkeit des Begriffs ist zwar anhand von Äußerungen Goethes durchaus zu belegen262, doch ist es fraglich, ob sie so sehr im Mittelpunkt der Irritationen, die der Roman hervorrief, stand, wie Lindner behauptet263. Dennoch liefert Lindners Feststellung, der Titel laute eben nicht etwa »Die Wahlverwandten«, sondern verweise in der Entlehnung des naturwissenschaftlichen Begriffs weniger auf die Geschichte eines »Heldenpaars« als vielmehr auf »strukturelle Verhältnisse« (die unbewußten und unkontrollierten 259 Zitiert nach Benno von Wiese, »Die Wahlverwandtschaften« im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen, Kommentar zur HA, Bd. 6, S. 638–671, hier S. 639. 260 Norbert W. Bolz (Hrsg.), Goethes Wahlverwandtschaften – Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Verlag Gerstenberg, Hildesheim 1981. 261 Vgl. Burkhardt Lindner, Goethes »Wahlverwandtschaften« und die Kritik der mythischen Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft, in: Norbert W. Bolz, Kritische Modelle, S. 23–44, hier S. 24. 262 Vgl. dazu die detaillierte Zusammenstellung in Härtl, Dokumentation, hierzu etwa Goethe an Georg Sartorius am 4. November 1809: »[…] es hatten gewisse Wahlverwandtschaften mich vom Naturreich abgezogen und ins Ethische hinübergenötigt. Ich kann mich’s nicht reuen lassen, und wünsche nur, daß Sie es auch billigen mögen. Das Büchlein mit dem eben ausgesprochenen wunderlichen Titel wird schon längst bey Ihnen angekommen seyn. Ich hoffe Sie haben es um seinet- und des Autors willen freundlich aufgenommen.« (S. 67) 263 Darauf scheint im Wesentlichen ein Brief zu verweisen, den Karl Friedrich Zelter am 27. 10. 1809 an Goethe schreibt: »[…] Der Titel Ihres Romans macht eine ganz besondere Sensation auch unter Ihren Freunden. Manche können gar nicht darüber wegkommen, daß ihnen alles Urtheil wie abgeschnitten ist; sie möchten doch gern ihre Meynung sagen und können eigentlich zu keiner gelangen. Einigen hab’ ich sogar darüber Rede stehn sollen, besonders soll der Titel erklärt werden: wie, warum, woher, wohin? Da steh’ ich dann wie ein armer Sünder, indem man mir die Ehre anthut mich für einen zu halten der um Ihre Geheimnisse weiß. Sie aber wissen und Gott weiß es auch, daß ich nichts weiß und so wahr als ich Sie beide liebe nichts verrathen werde.« Zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 65f.
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Kräfte der Anziehung zwischen den Paaren)264, einen wichtigen Hinweis auf den programmatischen Charakter der Titelwahl. Ebenso programmatisch scheint sich Goethes Selbstanzeige zu geben, ohne jedoch bei näherem Hinsehen sehr Klares von der Beschaffenheit dieser Programmatik zu verraten. Was der Titel bedeuten solle, erkläre sie jedenfalls nicht, wie Lindners Beitrag betont. Er verweist in einem kurzen Kommentar zu Goethes Ankündigung nur darauf, daß diese ursprünglich anonym war und daß sich in ihr der »Gestus des Spätwerks« zeige, das sich »demonstrativ über Rücksichten aufs Publikum hinwegsetzt und sich selbst bereits als historisch begreift«265. Tatsächlich scheint die Ankündigung mehr zu ver- als zu erklären. Auffallend ist neben der expliziten Selbstverrätselung (wie der Bezeichnung des Titels als »seltsam«) die schon angesprochene und etwas verschlungene Bewegung des Hin und Zurück zwischen der Welt der »Naturlehre« und der des Ethischen oder Sittlichen. Auffallend ist aber auch, daß in der Mitte dieser beiden Bereiche jeweils das Wort »Gleichnis« steht (einmal in »ethischer Gleichnisse« und einmal in »chemische Gleichnisrede«). Das Gleichnis als Programm wäre es also, um das auf der lexikalischen Ebene die Anzeige kreist. Ebenso ist eine Kreisbewegung angelegt, indem der kurze Text von den ethischen Gleichnissen, die die »Naturlehre« veranschaulichen helfen, zum »sittlichen Falle« und dessen Veranschaulichung in »chemischer«, also naturwissenschaftlicher Gleichnisrede geht. Diese soll zu ihrem »geistigen Ursprunge« zurückverfolgt werden, wodurch dieser Ursprung wieder der anfänglichen »Naturlehre« gegenübersteht. Das Bild wird schließlich ergänzt durch die Rede vom »Reich der heitern Vernunftfreiheit«; diese Imaginierung von Sphären komplettieren zuletzt die »e i n e Natur« und die »höhere Hand«. Unter ihrer Ägide »mochte« der Verfasser nur »bemerkt haben« und läßt am Ende das »vielleicht« einfließen. Solcherart wird nicht nur eine selbstkritisch anmutende Beobachterposition, sondern vor allem das Bild eines Naturkreises evoziert, in dessen geheimnisvollen Ablauf alle Figuren – vom Autor bis zu den Protagonisten des von ihm geschaffenen Werkes – einbezogen sind. Da erscheint selbst die Rückführung auf den geistigen Ursprung (»zurückführen mögen«) mehr als Versuch denn als bestimmte und geplante Ausführung eines Werks durch einen autonomen Schöpfer. Der Bescheidenheitsgestus im Anerkennen der letztlich alles bestimmenden »einen Natur« trägt dabei durchaus religiöse Züge. Dies geht einher mit der Einbettung des Ganzen zwischen dem ins Spiel gebrachten Erscheinungstermin
264 Vgl. Lindner, Kritik der mythischen Verfassung, S. 24. 265 Vgl. ebda., S. 23.
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der »Michaelismesse«266 und dem Verweis auf die (jenseitige) Sphäre der »höheren Hand«, was einen wechselseitigen Verstärkungseffekt ergibt. Möglicherweise liegt in dieser Verdoppelung oder auch Kollision zwischen dem Anklang einer panreligiösen Vorstellung und der christlichen Metaphorik der Grund dafür, daß das ernste, ja ehrfürchtige Pathos, das ebenfalls diesen »Rätseltext« durchzieht, nicht ganz den ironisch-gelösten Grundton dominiert. So wirkt es, als würde sich diese doppelte Versicherung des Wirkens transzendentaler Kräfte fast schon selbst aufheben, zumal vor dem Hintergrund von Goethes ambivalenter Einstellung zur (Ausübung der) christlichen Lehre267. 266 Gemeint ist die Leipziger Buchmesse, vgl. Goethe in einem Brief an Marianne von Eybenberg, 1. 10. 1809: »Der Roman, den Sie durch Ihre Theilnahme so sehr gefördert haben, ist nun bald völlig abgedruckt und wird seinen Weg auf die Leipziger Messe nehmen. Ich schicke Ihnen kein Exemplar, weil Sie es, bey dem jetzigen theuern Porto, bequemer durch den Buchhandel erhalten. […]« Zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 59. Die jeweilige Herbstoder Frühjahrsmesse als Bezugspunkt geht auch aus einem Brief Friedrich Wilhelm Riemers an Friedrich Frommann vom 10. 7. 1810 hervor: »Für alles übersendete soll ich Ihnen, in Göthes Namen aufs beste danken, und zugleich die Versicherung hinzufügen, daß Sie e i n e n Teil der Wanderjahre […] auf alle Fälle so erhalten werden, daß er zu Michael noch erscheinen kann, indem er nicht stärker wird, als der erste der Wahlverwandtschaften. Der zweyte mag dann Ostern erscheinen […].« Zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 161. 267 Zu Goethes zunehmender Ablehnung des Katholizismus, vor allem dessen Reetablierung in der Kunst der Romantik, vgl. etwa Karlheinz Schulz, Goethe Eine Biographie in 16 Kapiteln, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, S. 393–397. Für Schulz stellt Ottilies Heiligentod das »Äußerste, was Goethe je an romantisch-katholisierenden Kunsttendenzen aufbot« dar ; er verweist aber darauf, daß Goethes prinzipielle Ablehnung dieser Tendenzen für ihn kein Hindernis war, »einige effektvolle katholisierende Kunstmittel« einzusetzen (S. 393). – Vor dem Hintergrund von Goethes zwiespältiger Haltung zu solchen Motiven ist einsichtig, daß Ottilies Stilisierung zur Heiligenfigur und das versöhnliche Schlußwort des Romans einige Irritation ausgelöst haben und zu immer wieder aufgenommenen Themen der Sekundärliteratur wurden. Daß gerade der Erzengel Michael das Erscheinen des Romans ankündigt, hat daher eine eigene Ironie. – Oder steht die gängige Datumsbezeichnung gar absichtlich der Ankündigung voran und ist damit Teil dieses Paratextes? Als Element ihres Rätselspiels würde es jedenfalls durchaus zur Ambivalenz von Ironie und Pathos passen, die den Ton der Anzeige bestimmt. Und einige Funktionen der Figur des heiligen Michael machen im Kontext der Wahlverwandtschaften durchaus stutzig. Ich entnehme diese den entsprechenden Einträgen in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Herausgegeben von Kurt Galling et al., Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 19603, 4. Bd., Sp. 932ff.; Lexikon für Theologie und Kirche, Herausgegeben von Josef Höfer und Karl Rahner, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 19622, 7. Bd., Sp. 393ff. und: Martin Bocian, Lexikon der biblischen Personen, Unter Mitarbeit von Ursula Kraut und Iris Lenz, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1989 (Kröners Taschenausgabe Bd. 460), S. 370–373: Als bekanntester unter den (Erz)engeln gilt Michael als Lichtfigur, oft mit Rüstung und Schwert dargestellt, und als Himmelsfürst, der die Schlüssel des Himmels verwahrt. Als solcher nimmt er die Gebete der Menschen entgegen, ist also ihr Fürbitter, der die guten Werke der Frommen zu Gott trägt. In Gottes Auftrag hält er Gericht über die abtrünnigen Engel, so im Neuen Testament über Luzifer, dessen oftmalige Darstellung als Drache zur verbreiteten mittelalterlichen Gestaltung von Michael als Drachentöter geführt hat. Herauszuheben sind vor allem die Züge des antiken
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»Psychopompos«, der die Seelen der Verstorbenen in den Himmel geleitet und ab dem Hochmittelalter mit der Seelenwaage dargestellt wird. Neben dem Vorrang unter den Engeln gehört zu Michael außerdem die Christusnähe, die auch als Sakramentsnähe interpretiert wird, und der damit verbundene eschatologische Auftrag als praepositus paradisi, eben als Schutzherr der Seelen und Teufelsbezwinger. Im Zusammenhang des Romans, der ganz im Zeichen des Untergangs der Hauptfiguren steht (vgl. Goethes oben wiedergegebene Äußerung zu den »bösen Häusern«), würde so die Unterlegung der Datumsbezeichnung mit einer zweiten Lesart nicht überraschen. Gleichsam als Schutzpatron der Protagonisten wird eine Figur aufgerufen, die als Vermittler zwischen Oben und Unten, zwischen Himmel und Erde (oder Hölle) und im Besonderen als Seelenbegleiter der Sterbenden gilt. Dies paßt zur Zeichnung des friedvollen Jenseits am Schluß des Romans. Ein zweites Kennzeichen ist die Farbzuschreibung. In der Farbenmystik wird dem heiligen Michael die Farbe Rot (für Blut, Feuer und Wärme) zugeordnet. Auch darin ließe sich eine Verbindung zum Roman sehen, ist es doch die Farbe, die durchgehend für Eduards Leidenschaft und Ottilies liebendes Wesen steht und die einzige mit leitmotivischer Bedeutung aufgeladene Farbe im Roman ist (dazu mehr im Analyseteil). Zum Motiv der zyklischen Zeitstrukturen des Romans paßt schließlich der 29. September als der Festtag des hl. Michael. Es ist ein sogenannter Termin-, Los- und Wettertag, an den sich Abgaben, Gesindewechsel, Arbeitsverbote, Jugendumzüge, Jahrmärkte und Erntebräuche knüpfen. Michaelsfeuer waren das Zeichen dafür, daß ab diesem Tag bei Kunstlicht gearbeitet wurde (»Mariä Lichtmeß [2. Februar] bläst das Licht aus, Sankt Michael zündet’s wieder an«); Michaeli präsentiert sich also als »Sterbedatum« der Frühling- und Sommerhälfte des Jahres und als Beginn der dunklen Jahreszeit – wie dargestellt, spielt in den Wahlverwandtschaften die Jahreszeitenmetaphorik, die an die Stelle einer exakten Daten- und Zeitrechnung tritt, eine wichtige Rolle. Da der Roman im Frühling beginnt, ein Jahr vergeht, und am Ende wieder Herbst ist, die erzählte Zeit also ca. eineinhalb Jahre umfaßt, ergäbe das Hinzufügen der »fehlenden« Jahreszeiten von Herbst und Winter zwei volle Jahresumläufe. In dieser Rechnung wird der Erscheinungstermin zu Michaeli zu einem reizvollen Motiv. Er würde die beiden fehlenden Jahreszeiten bis zum Handlungsbeginn des Romans im Frühling ergänzen, eine motivische Zugabe, die im Zusammenhang von Goethes Faszination für Zahlen nicht undenkbar wäre. Die Funktion des hl. Michael schließlich als Patron der Toten- und Burgkapellen spiegelt das im Roman wiederkehrende und, wie Walter Benjamins Essay darlegt, für die »Todessymbolik« grundlegende Kapellen- und Totenhausmotiv des Romans. Nicht zuletzt gilt in der christlichen Volkstradition Michael als Nationalheiliger Deutschlands (in der jüdischen dagegen als der besondere Beschützer Israels). Ungeklärt ist, inwieweit der »deutsche Michel« auf diese Verehrung zurückgeht, ein Zusammenhang wird aber angenommen. – Nimmt man als Gedankenexperiment an, daß der Name nicht zufällig Eingang in den Text der Ankündigung gefunden hat, verankert Goethe seinen Roman ganz auf heimatlichem Himmel. Vgl. dazu auch Heinz Schlaffer, Goethes Versuch, die Neuzeit zu hintergehen, in: Paolo Chiarini (Hrsg.), Bausteine zu einem neuen Goethe, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 9–21. Er betont Goethes »Vorliebe fürs Ominöse« (ebda., S. 11), für mythologische und religiöse Zeichensymboliken, als zentrales Element einer ganz persönlichen Lebenskonstruktion und Poetik. Frei nach Schlaffer erfüllen für Goethe Zeichen den Plan einer ganzheitlichen Welterfindung, indem das Numinose einen Sinn- und Deutungszusammenhang suggeriert, wie ihn die neuzeitlichen Gegebenheiten und Erkenntnisse eben nicht mehr erlauben: »Ein Leben, das weder von Gott noch von der Natur festgelegt ist, hat an Freiheit gewonnen, aber an Bedeutsamkeit verloren. Goethe jedoch wollte an der archaischen Bedeutsamkeit eines Daseins festhalten, das mythische Wiederholungen, einlösbaren Sinn und individuelle Erwählung kennt, selbst wenn er dafür Einbußen am aufklärerischen Pathos der Freiheit hinnehmen mußte. […] auch katholisches Zeremoniell ist dem heidnischen Protestanten recht, wenn es nur ein himmlisches
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Die Ankündigung des Romans enthält also in ihren wohl absichtlichen Unschärfen einen fast übertriebenen Ton der Verklärung, der ihre Lesart zwischen Ironie und Pathos ansiedelt und die Entscheidung, wie sie gemeint sei, erschwert. Dies verbindet sie mit dem Schluß des Romans, der ebenfalls als starker Kontrast zur Schilderung des diesseitsbezogenen Dramas (vgl. dazu u. a. III.3.2.2.) der Wahlverwandtschaften gilt: So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen. (WV 490)
So kann man den Schluß als atmosphärisches Gegenstück und gleichsam als Epilog zur Ankündigung lesen. Er spiegelt ihren sowohl leicht ironischen als (sym)pathetisch verklärenden Charakter, indem er sich vom nüchternen Gestus der sonstigen Schilderung abhebt und in Tonfall und Bildlichkeit den Ausklang der »Selbstanzeige« wiederaufnimmt. Diese wird dadurch zu einem Paratext, der als Teilgeschehen des Romans gelesen werden kann; dazu gehört das erwähnte Perspektivenspiel, mit dem die Ankündigung gleichsam von außen auf die Figur des »Verfassers« blickt und ihn zu einem Teil einer Gesamt-Inszenierung macht. Die barocke theatrum mundi-Vorstellung widerspricht freilich der Aktualität der im Roman geschilderten Ereignisse und dem Zeitkontext der Wahlverwandtschaften. Dieser Bildentwurf ist es wohl, der an Inhalt und Ton der Anzeige wie der Schlußsätze verwirrt, denn er verweist auf einen Bruch zwischen dem realistischen Inhalt des Romans mit seiner schnörkellosen Sprache, die einerseits überaus rationalistische Zeitinhalte transportiert (die Bedingungen des modernen Ehelebens werden genau untersucht), und eben der Verklärung, in die er mündet. Diese beschließt aber den Roman so unvermittelt, daß spürbar wird, daß ein Bruch markiert werden soll; die Formelhaftigkeit der Schlußsätze verstärkt diesen Eindruck. Das »Reich der heitern Vernunftfreiheit«, »Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit« – die Gegenüberstellung der Konzepte könnte dagegen klarer nicht sein. Hier die Heiterkeit der Freiheit durch Vernunft, da die Zwänge des Gefühls. Die Brüchigkeit dieser Formeln wohnt in ihren scheinbar eindeutigen Zuordnungen. Leidenschaft ist per se trübe, suggeriert der Text, der den Roman ankündigt, und läßt auch damit wenig Zweifel aufkommen, wie er ausgehen wird. Dennoch ist essentiell, daß hier keine moralische Hierarchisierung, sondern eine Nebeneinanderstellung stattfindet. Es geht um ein wertfreies Nebenund Ineinander der Erscheinungen, die geschildert werden. Der Verweis auf die »eine Natur« macht sie zu Naturerscheinungen gleichen Ranges und gleichen Zeichen zu geben vermag. […] Der katholische Glaube gilt ihm als Statthalter archaischer Vorstellungen und Riten in der Neuzeit. Seine heiligen Orte und Feste bieten eine institutionell garantierte Semantik von Raum und Zeit […].« Ebda., S. 13.
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Werts (wenn auch sozusagen nicht gleicher »Reichweite«; die »Spuren« verschwinden gleichsam im »Reich« der Natur). Die sprachliche Kreisbewegung kann somit auch als Abbild des moralisch nicht zu bewertenden, eben »natürlichen« Ineinandergreifens der Bereiche und ihrer hierarchischen Einebnung gelesen werden. Trotzdem treten hier »Vernunft« und »Leidenschaft« als grundlegendes Gegensatzpaar auf. Diese Kernaussage des Ankündigungstextes steht gleichberechtigt neben dem Aufruf zur moralischen Nichtbewertung und sie birgt einige Signalwirkung. Das gleiche gilt für die Melancholie, mit der am Schluß auf die Machtlosigkeit menschlichen Einwirkens auf diese Naturantagonismen verwiesen wird. Die Vorgaben, die die Anzeige der Wahlverwandtschaften in dieser Hinsicht enthält, sind also keineswegs von der Haltung distanzierter Objektivität geprägt, die der kurze Text als Gestus aufruft, sondern von äußerster Fatalität. Dies scheint den Roman als ganzen zu spiegeln, der das Scheitern der Figuren an der Abgründigkeit der sie erfassenden Leidenschaften durch die nüchtern zielgerichtet wirkende Darstellung als so zwingenden Ablauf hinstellt, daß der zugrundeliegende Pessimismus zunehmend als Selbstverständlichkeit erscheint. Wie erwähnt, wird dieser Pessimismus aber auch und gerade an der Vernunftfähigkeit der Figuren abgehandelt und schließt sie mit ein, dieses intrikate Element des Gegensatzes zwischen Leidenschaft und Vernunft kehrt in den Präsenspassagen wieder. (So sehr daher auch die »Grundform« des Präsens einen Gestus empirisch kühler, eben affektfreier Betrachtung nachzuahmen scheint, ist doch die Grundhaltung der Ausweglosigkeit immer mitzudenken, die diese Betrachtung leitet.) Dieser Grundzweifel an der Kraft der Vernunft weist einmal mehr auf die Versuchsanordnung der Figuren- und Handlungskonstellation hin und auf das zentrale aufklärungskritische Interesse des Romans. Wichtig ist also, daß der Begriff der »Leidenschaft« mit dem der »Notwendigkeit« assoziiert wird. Dies stellt ein signifikantes Gegengewicht dar zu jener Auslegung des Antagonismus von »Vernunft« und »Leidenschaft«, die nach dem Schema einer christlichen Vorstellung der frommen, enthaltsamen Vernunft die Versuchung sündhafter Begierde gegenüberstellt. Über eine solche Auslegung geht die Konzeption von Leidenschaft als Notwendigkeit hinaus. In diesem Zusammenhang kann auch die Einflechtung des auffallenden Adjektivs »trübe« vor dem Hintergrund eines anderen wichtigen Konzepts gesehen werden. Grete Schaeders Interpretation der Wahlverwandtschaften im Zusammenhang der Farbenlehre, die ich weiter unten darstelle, verweist auf die für Goethe zentrale Frage der Bedingungen, unter denen Wahrnehmung stattfindet. »Trübe« kann in diesem Kontext als Vorwegnahme und Verweis auf das für den Roman zentrale Motiv der Sichtbeschränkung gelesen werden, auch diese zählt somit zu den »Notwendigkeiten«, die die Protagonisten bestimmen.
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Daß hier also Leidenschaft als Naturnotwendigkeit an die Stelle von Leidenschaft als Versuchung des Bösen tritt, gehört zu den Prämissen des Romans, der diese Leidenschaft dementsprechend nur teilweise in einem religiösen Kontext diskutiert, sie aber nicht primär moralisch beurteilt, sondern in ihrer Darstellung zuerst einmal sachlich verfährt. Dies hat in verschiedener Hinsicht für Irritation gesorgt. Ein weiterer Irritationspunkt war die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Darstellung die Sphären der »höheren Hand« gegenübergestellt werden bzw. sie ergänzen, seien sie nun an christlichen Vorstellungen oder vielmehr an der Kategorie des Dämonischen orientiert. III. 3.1.2. Vor diesem furchtbaren Wesen – Das Dämonische in Dichtung und Wahrheit Aus Goethes eigener Darstellung geht zwar die Idee des Eingreifens höherer Mächte sehr wohl als unheimlich hervor. Dennoch ist seiner Zeichnung des Dämonischen in Dichtung und Wahrheit auch eine gewisse lebenspraktische Akzeptanz des Konzepts zu entnehmen. Dies zeigt Goethes Schilderung der Entwicklung dieser Idee, nach Erich Trunz268 hier in die schlüssigste Form gefaßt: Man hat im Verlaufe dieses biographischen Vortrags umständlich gesehn, wie das Kind, der Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen Wegen dem Übersinnlichen zu nähern gesucht, erst mit Neigung nach einer natürlichen Religion hingeblickt, dann mit Liebe sich an eine positive festgeschlossen, ferner durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen Kräfte versucht und sich endlich dem allgemeinen Glauben freudig hingegeben. Als er in den Zwischenräumen dieser Regionen hin und wider wanderte, suchte, sich umsah, begegnete ihm manches, was zu keiner von allen gehören mochte, und er glaubte mehr und mehr einzusehn, daß es besser sei, den Gedanken von dem Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden. Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen. Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem ich mich, nach meiner Gewohnheit, hinter ein Bild flüchtete. […] 268 Vgl. Kommentarteil zu Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 10, S. 649.
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Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen manifestieren kann, ja bei den Tieren sich aufs merkwürdigste ausspricht; so steht es vorzüglich mit den Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, so doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen. Für die Phänomene, welche hiedurch hervorgebracht werden, gibt es unzählige Namen: denn alle Philosophien und Religionen haben prosaisch und poetisch dieses Rätsel zu lösen und die Sache schließlich abzutun gesucht, welches ihnen noch fernerhin unbenommen bleibe. Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare aber ungeheure Spruch entstanden sein: Nemo contra deum nisi deus ipse.269
Es sind konkrete Personen, denen Goethe im Lauf seines Lebens die Kraft des Dämonischen zuspricht, allen voran – vor allem aus späterer Perspektive – Napoleon. Dies belegen verschiedene Quellen270, in Dichtung und Wahrheit fällt der Name nicht. Laut Kommentar vermeidet es Goethe hier, Namen zu nennen, den Gesprächen mit Eckermann sind andere Zuschreibungen zu entnehmen. So habe Goethe auch Herzog Carl August den »dämonische[n] Naturen« zugerechnet und Paganini in diesem Zusammenhang erwähnt. In Byron sei »das Dämonische in hohem Grade wirksam« gewesen, außerdem werden Friedrich II. von Preußen und Peter der Große genannt271. Trunz vermutet, daß Goethe nicht zufällig das Problem des dämonischen Menschen zu dem Zeitpunkt (Tagebuch 4. April 1813) beschäftigte, als Napoleon besiegt wurde (und zwar nicht, wie Trunz vermerkt, durch einen überlegenen Feldherren, sondern durch den russischen Winter), und verbindet dies mit Goethes Beschreibung der dämonischen Charaktere: »[…] sie sind durch nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen«272. 269 270 271 272
Goethe, Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, 20. Buch, HA, Bd. 10, S. 175ff. Vgl. etwa Sulpiz Boisser8e, Tagebücher 1808–1854, Bd. I. 1808–1823, S. 228. Vgl. Kommentar zu Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 10, S. 651. Vgl. ebda. Zur Begegnung Goethe-Napoleon und zu Goethes (teilweise verklärender) Darstellung dieser Begegnung und seinem Napoleon-Bild vgl. Karlheinz Schulz, Goethe Eine Biographie in 16 Kapiteln, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, S. 364ff. und 408f.
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Eindeutig intendiert dagegen ist nach Trunz die Tatsache, daß die Zeichnung des Dämonischen im Schlußkapitel von Dichtung und Wahrheit zu finden ist. Sie bilde gleichsam den Abschluß der bis dahin beschriebenen Lebensreise und motiviere deren Ausblick auf das Kommende, der die Autobiographie beschließt273. Er verweist auf das Gleichnis des Webens, das hier auftaucht, als Motiv, das Goethe wegen seiner Symbolkraft besonders geliebt habe, und verquickt es mit dem Gang der Erzählung. Auch diese, so Trunz, »spannt zunächst die Fäden gesondert ein und verbindet sie dann zum Gewebe des Schicksals«274. Das bezieht sich darauf, daß das letzte Kapitel den Abschied von Lili (Schönemann) und die Wendung nach Weimar enthält. »Der Erzähler«, so Trunz, »verteilt die Rollen und behält die Führung sicher in der Hand.«275 Die verschiedenen Figuren des letzten Kapitels werden so zu Handelnden, die den Lebensweg des jungen Goethe entscheidend beeinflussen, allen voran Carl August und Goethes Vater, Lili selbst bleibe schon mehr als Schattenfigur im Hintergrund276. Auf diese Weise, so Trunz, gewinne die ausführliche Beschreibung des Dämonischen am Ende des autobiographischen Berichts nicht nur Bedeutung für die Erklärung der Figur des Egmont, die in sie eingeflochten ist (im Zitat ausgespart), sondern vor allem für die Erklärung des Lebenswegs des jungen Helden, auf den Goethe zurückblickt: Das 20. Buch hat besonderes Gewicht durch einen der wesentlichsten metaphysischen Abschnitte des Gesamtwerks. Der Erzähler spricht hier von der moralischen Weltordnung und von dem Dämonischen als Zettel und Einschlag (177,6–35). Es genügt ihm, diese Begriffe zu geben; er vermeidet es, sie unmittelbar auf das eigene Leben anzuwenden. Vorsichtig lenkt er über auf sein kleines Leben (177,36–39), das zwar nicht dämonisch ist, aber doch mit einem dämonischen Schein bekleidet, so daß fortan das Bild des Helden in größten Zusammenhängen steht und am Ende der Leser weiß, daß alles in der Hand dessen liegt, dessen Name hier verehrungsvoll nur so sparsam genannt wird.277
Die Stelle, auf die sich Trunz hier bezieht, schließt direkt an die oben zitierte an und kehrt nach der Darstellung des Dämonischen zurück zur Schilderung des Abschieds von Lili: Von diesen höheren Betrachtungen kehre ich wieder in mein kleines Leben zurück, dem aber doch auch seltsame Ereignisse, wenigstens mit einem dämonischen Schein
273 274 275 276 277
Vgl. Kommentar zu Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 10, S. 644f. Vgl. ebda., S. 644. Ebda. Vgl. ebda. Ebda., S. 645.
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bekleidet, bevorstanden. Ich war von dem Gipfel des Gotthard, Italien den Rücken wendend, nach Hause gekehrt, weil ich Lili nicht entbehren konnte.278
Doch das neuerliche Zusammentreffen des »nur durch Vernunftgründe«, wie es im Text heißt, getrennten Paares, bringt nicht die erwartete Wiedersehensfreude, sondern läßt alte Unstimmigkeiten wiederaufleben, und so entscheidet sich der Erzähler zur endgültigen Trennung: Ich entschloß mich daher abermals zur Flucht, und es konnte mir deshalb nichts erwünschter sein, als daß das junge herzoglich weimarische Paar von Karlsruhe nach Frankfurt kommen und ich, früheren und späteren Einladungen gemäß, ihnen nach Weimar folgen sollte.279
Das letzte Kapitel von Dichtung und Wahrheit schildert die Verwicklungen, die sich für den jungen Helden noch ergeben, bevor er der Einladung des Herzogs nach Weimar folgen kann. Ein Mißverständnis wird wiedergegeben, wonach der junge Goethe im Haus seiner Eltern in Frankfurt festsitzt, während ihn ein herzoglicher Begleiter längst abholen und mit nach Weimar nehmen soll. Auf diese Verwicklungen und deren Auslegung durch den Ich-Erzähler bezieht sich die Formulierung der »seltsamen Ereignisse«, die mit »dämonische[m] Schein bekleidet« sind. Ihren Ausgang nehmen sie von einem gesellschaftlichen Fehltritt des jungen Helden, dessen Schilderung eine Passage im szenischen Präsens enthält: Das junge fürstliche Paar [Carl August und seine Gemahlin] erreichte nunmehr auf seinem Rückwege Frankfurt. Der herzoglich meiningische Hof war zu gleicher Zeit daselbst, und auch von diesem und dem die jungen Prinzen geleitenden Geheimenrat von Dürckheim ward ich aufs freundlichste aufgenommen. Damit aber ja, nach jugendlicher Weise, es nicht an einem seltsamen Ereignis fehlen möchte, so setzte mich ein Mißverständnis in eine unglaubliche, obgleich ziemlich heitere Verlegenheit. Die weimarischen und meiningischen Herrschaften wohnten in e i n e m Gasthof. Ich ward zur Tafel gebeten. Der weimarische Hof lag mir dergestalt im Sinne, daß mir nicht einfiel, mich näher zu erkundigen, weil ich auch nicht einmal einbildisch genug war zu glauben, man wolle von meiningischer Seite auch einige Notiz von mir nehmen. Ich gehe wohlangezogen in den »Römischen Kaiser«, finde die Zimmer der weimarischen Herrschaften leer, und da es heißt, sie wären bei den meiningischen, verfüge ich mich dorthin und werde freundlich empfangen. Ich denke, dies sei ein Besuch vor Tafel oder man speise vielleicht zusammen, und erwarte den Ausgang. Allein auf einmal setzt sich die weimarische Suite in Bewegung, der ich denn auch folge; allein sie geht nicht etwa in ihre Gemächer, sondern gerade die Treppe hinunter in ihre Wägen, und ich finde mich eben allein auf der Straße. Anstatt mich nun gewandt und klug nach der Sache umzutun und irgend einen Aufschluß zu suchen, ging ich, nach meiner entschlossenen Weise, sogleich meinen Weg nach Hause, wo ich meine Eltern beim Nachtische fand. Mein 278 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, 20. Buch, HA, Bd. 10, S. 177f. 279 Ebda., S. 178.
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Vater schüttelte den Kopf, indem meine Mutter mich so gut als möglich zu entschädigen suchte. Sie vertraute mir abends: als ich weggegangen, habe mein Vater sich geäußert, er wundre sich höchlich, wie ich, doch sonst nicht auf den Kopf gefallen, nicht einsehen wollte, daß man nur von jener Seite mich zu necken und mich zu beschämen gedächte. Aber dieses konnte mich nicht rühren: denn ich war schon Herrn von Dürckheim begegnet, der mich, nach seiner milden Art, mit anmutigen scherzhaften Vorwürfen zur Rede stellte. Nun war ich aus meinem Traum erwacht und hatte Gelegenheit, für die mir gegen mein Hoffen und Erwarten zugedachte Gnade recht artig zu danken und mir Verzeihung zu erbitten.280
Trunz verweist im Kommentar auf ein Motiv dieser Darstellung, das zuerst nur nebenbei in die Schilderung eingeführt wird, sich aber am Ende des Kapitels und damit am Ende von Dichtung und Wahrheit als tragendes Element erweist. Der junge Goethe, der hier am Schluß der Präsenspassage nach Hause geht statt mit der Gesellschaft, der er sich anschließen soll, eine der Kutschen zu besteigen, trifft damit eine zwar für den Moment falsche, aber selbständige Entscheidung. Dies wird zum inneren Zentrum des Ausgangs. Damit verknüpft, verkörpert das Motiv der Kutsche die entscheidende Wendung im Leben des jungen Protagonisten. Trunz verweist auf den im Hintergrund wirkenden Spannungsaufbau, der zuerst eine Atmosphäre der Unsicherheit und Unklarheit bedingt, um sich am Ende aufzulösen und in Klarheit zu verwandeln281. Der Grund für den Aufschub der Reise nach Weimar, der den jungen Goethe beinahe dazu bringt, die Einladung für eine Einbildung zu halten und stattdessen nach Italien zu reisen, ist nämlich ebenso eine Kutsche, deren Lieferung aus Straßburg sein Begleiter in Karlsruhe abwarten muß. Goethe arbeitet währenddessen im Elternhaus in Frankfurt am Egmont. Die Ankunft des Begleiters verzögert sich aber so sehr, daß er schließlich die Überzeugung seines Vaters, der Hof habe sich einen Scherz mit ihm erlaubt, übernimmt und über Heidelberg nach Italien abreist. Diese Wendung, nämlich daß die Ansicht des Vaters ihn so beeinflussen kann, kommentiert der Ich-Erzähler mit dem Hinweis auf das Wirken des Dämonischen, das dann freies Spiel hat, wenn der klare Blick auf die eigenen Bedingungen und Bedingtheiten fehlt: Wunderbare Dinge müssen freilich entstehn, wenn eine planlose Jugend, die sich selbst so leicht mißleitet, noch durch einen leidenschaftlichen Irrtum des Alters auf einen falschen Weg getrieben wird. Doch darum ist es Jugend und Leben überhaupt, daß wir die Strategie gewöhnlich erst einsehn lernen, wenn der Feldzug vorbei ist. Im reinen Geschäftsgang wär ein solches Zufälliges leicht aufzuklären gewesen, aber wir verschwören uns gar zu gern mit dem Irrtum gegen das Natürlichwahre, so wie wir die Karten mischen, eh wir sie herumgeben, damit ja dem Zufall sein Anteil an der Tat nicht verkümmern werde; und so entsteht gerade das Element, worin und worauf das Dä280 Ebda., S. 179f. 281 Vgl. Kommentar zu Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 10, S. 644.
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monische so gern wirkt und uns nur desto schlimmer mitspielt, je mehr wir Ahndung von seiner Nähe haben.282
In Heidelberg wird Goethe länger aufgehalten als geplant, weil seine Gastgeberin für ihn Pläne schmiedet und ihn wie sein Vater zur Reise nach Italien drängt. Goethe erkennt, daß ihre Pläne nicht selbstlos sind, ist aber hin- und hergerissen zwischen den Möglichkeiten, die sich ihm auftun. Da erreicht ihn Nachricht aus Frankfurt, wo sein Begleiter schließlich eingetroffen ist. Plötzlich klären sich alle Mißverständnisse und alles Mißtrauen: Die Stafette kam von Frankfurt, ich kannte Siegel und Hand, der Freund war also dort angekommen, er lud mich ein, und der Unglaube und Ungewißheit hatten uns übereilt. Warum sollte man nicht in einem ruhigen bürgerlichen Zustande auf einen sicher angekündigten Mann warten, dessen Reise durch so manche Zufälle verspätet werden konnte? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Alle vorhergegangene Güte, Gnade, Zutrauen stellte sich mir lebhaft wieder vor, ich schämte mich fast meines wunderlichen Seitensprungs. Nun eröffnete ich den Brief, und alles war ganz natürlich zugegangen. Mein ausgebliebener Geleitsmann hatte auf den neuen Wagen, der von Straßburg kommen sollte, Tag für Tag, Stunde für Stunde, wie wir auf ihn geharrt, war alsdann Geschäfts wegen über Mannheim nach Frankfurt gegangen, und hatte dort zu seinem Schreck mich nicht gefunden. Durch eine Staffette sendete er gleich das eilige Blatt ab, worin er voraussetzte, daß ich sofort nach aufgeklärtem Irrtume zurückkehren und ihm nicht die Beschämung bereiten wolle, ohne mich in Weimar anzukommen.283
Obwohl ihn die Reisepläne seines Vaters verlocken und überdies einen leichteren Abschied von Lili versprechen, entscheidet sich der junge Goethe auf diese Nachricht hin sehr schnell für Weimar. Seine Gastgeberin ist davon wenig begeistert, es kommt sogar zum Streit. Goethe bestellt aber einen Wagen und versucht, Demoiselle Delph zu einem friedlichen Abschied zu überreden. So schließt das letzte Buch: Sie wollte von nichts wissen und beunruhigte den schon Bewegten noch immer mehr. Der Wagen stand vor der Tür, aufgepackt war, der Postillon ließ das gewöhnliche Zeichen der Ungeduld erschallen, ich riß mich los, sie wollte mich noch nicht fahren lassen, und brachte künstlich genug die Argumente der Gegenwart alle vor, so daß ich endlich leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts ausrief: »Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksal leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.«284 282 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, 20. Buch, HA, Bd. 10, S. 183. 283 Ebda., S. 186. 284 Ebda., S. 187.
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Das Motiv der Kutsche wird also auf verschiedene Weise im letzten Kapitel eingeflochten und bildet schließlich das Schlußbild von Dichtung und Wahrheit. Trunz schildert das letzte Kapitel als den Höhepunkt der Atmosphäre der Unruhe und Zerrissenheit, für ihn kommen nun »Äußeres (der ankommende Wagen) und Inneres (sichere Entschlußkraft)« zusammen285 und bezeichnen einen Moment der Reife, der den logischen Ausklang der Autobiographie darstellt: Der Jüngling nimmt die Leitung seines Lebens in die Hand – in einer Art, wie er es in den 20 Büchern noch nie getan hat, und eben darum ist das Ende dieser 20 Bücher gekommen: nicht nur ein äußerer Abschluß – Fahrt nach Weimar –, sondern auch ein innerer – eine neue Haltung. Am Anfang stand die Geburt mit dem Symbol des Sternenstandes: der Mensch als ein nur Bewirkter. Am Ende steht der Beginn der Mannesjahre mit dem Symbol des Wagenlenkers: der Mensch als ein – in Grenzen – Wirkender. – Ein großer Bogen rundet sich. Das 20. Buch wirkt abschließend; zugleich aber weist es über sich hinaus; es endet mit einer Hoffnung; der, die neu gewonnene Haltung nun am neuen Orte im Leben zu verwirklichen. Davon, ob sie erfüllt wird, fällt kein Wort. Doch der, von dessen Jugend erzählt wird, ist ja gealtert selbst der Erzähler. Daraus, daß er so ruhig, wissend und deutend, erzählt, fühlen wir (wenn wir es nicht ohnehin wüßten), daß jene Hoffnung nicht vergeblich war.286
Die zuerst unscheinbare Rede vom Dämonischen, so Trunz, enthüllt sich so am Schluß als Hinführung auf das Wirken dieser Kraft als zentrales Motiv. Sie diene nicht nur zur Erläuterung des Egmont, sondern greife deutlich in das Leben des Erzählers ein, »und zwar an dem Punkt, wo er in den Wagen nach Weimar steigt«.287 Der Wagen nach Weimar am Schluß rekurriert so auf den Moment zu Beginn der Verwicklung, als der junge Goethe nicht mit der Gesellschaft fährt, wie er es der Einladung gemäß tun sollte. Dennoch geht er seinen Weg, indem er kurz entschlossen nach Hause zurückkehrt. Darauf ist schließlich im Zusammenhang unserer Thematik der Tempusverwendung zu verweisen. Die Präsenspassage, die in diese Episode eingeflochten ist, markiert so genau jenen Moment am Beginn der Verwicklungen, die den Reifungsprozess des Protagonisten einleiten und bedingen. Die Formel, die solcherart in der Präsenspassage auf das Motiv des Lebenswegs und der Entscheidung für den eigenen Weg verweist, ist »und ich finde mich eben allein auf der Straße«. Der Übereinstimmung zwischen dem Motiv der Weggabelung und der Heraushebung der Szene im Präsens im Zusammenhang des Dämonischen korrespondiert eine ganz ähnliche Übereinstimmung in den Wahlverwandtschaften. Es lassen sich sogar zwei Stellen in diesem 285 Vgl. Kommentar zu Dichtung und Wahrheit, HA, Bd. 10, S. 644. 286 Ebda, S. 644f. 287 Vgl. ebda., S. 650.
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Sinn interpretieren, und zwar zum einen die Präsensszene, die in der Novelle der Wunderlichen Nachbarskinder einen Entscheidungsmoment des Protagonisten kennzeichnet, und, diese spiegelnd, die Präsenspassage, in der Ottilie zum letzen Mal von Eduard eindringlich gebeten wird, mit ihm zu gehen, dieses Ansinnen aber ablehnt und zu Charlotte zurückkehrt (II. Teil, 16. Kapitel). In beiden Szenen spielt das Motiv des Gefährts eine wichtige Rolle. Der Jüngling der Novelle springt kurz entschlossen vom Schiff (als Sinnbild der Gesellschaft und eines vorgezeichneten Lebensplans), um seine Geliebte aus dem Wasser zu retten; Ottilie läßt mit der Entscheidung, ins Schloß zurückzukehren, von ihrem Plan der Buße und eigenständigen Lebensbestimmung ab und steigt in die Kutsche, die sie zu Charlotte zurückbringt. Aus dem Kontext ist die Aufladung des Motivs zum Symbol der Abkehr Ottilies vom Irdischen und ihrem Entschluß zu sterben zu erschließen, sie wird im Analyseteil dargestellt. In Goethes Darstellung des Dämonischen in Dichtung und Wahrheit läßt sich also ein ähnlicher Bezug zwischen der Präsensverwendung und dem Wirken der überirdischen Macht herstellen, wie es Henning Brinkmann in seinem Aufsatz zu den Wahlverwandtschaften tut. Erich Trunz gibt im Kommentar weitere Hinweise zu Goethes Verwendung des Wortes in seinen unterschiedlichen Formen: Er unterscheidet – schon terminologisch – I. die Dämonen; häufig in Briefen; gelegentlich fast gleichbedeutend mit »Geister«, zumal im Zusammenhang der antiken Mythologie. 2. der Dämon (griechisch »daimon«) im Gedicht Urworte orphisch […], im Anschluß an eine Schrift des klassischen Philologen Georg Zoega, in der Bedeutung: Geprägte Form, die lebend sich entwickelt, also für alle Menschen gültig. 3. Das Dämonische in der Bedeutung, wie es hier im 20. Buch dargestellt ist; es ist eine Macht, die in wenigen Menschen überwiegend hervortritt (177, 19), während andere – unter die Goethe sich selbst rechnete – nur gelegentlich in ein Element kommen, worin und worauf das Dämonische so gern wirkt (183, 12f.).288
Die Idee des Dämonischen ordnet sich außerdem umfassend in Goethes philosophisches System ein, diese Einordnung ist in III. 4.2.2. anhand einer Studie Eduard Sprangers dargestellt. Spranger rekurriert dabei wie zuvor Paul Hankamer auf die hier bei Trunz angedeutete Auffassung Goethes, daß auch sein Schaffen dämonischen Einflüssen unterliege. Dem wollen wir kurz nachgehen, weil es auf einen Zwiespalt hinweist, der sich zwischen Goethes eigener Beurteilung der Wahlverwandtschaften und dem der Rezeption auftut.
288 Ebda., S. 649f.
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III. 3.1.3. Nach Darstellung einer durchgreifenden Idee – Faßlichkeit und Irritation Darauf, daß Irritation die Rezeptionsgeschichte der Wahlverwandtschaften von Anfang an begleitet, verweist Paul Hankamer in einer umfassenden Reflexion zu Goethes Begriff des Dämonischen und dem Spiel der Mächte289. Er verbindet dies mit Widersprüchlichkeiten der Erzählerkommentare im Roman und vor allem mit dessen sehr spezifischer ironischer Erzählhaltung. Diese spiegle nicht zuletzt Goethes eigene Zwiespältigkeit gegenüber seinem Werk, die sich aus einer bestimmten Vorstellung vom Walten der Naturmächte herleite, so Hankamer : Auch im schöpferischen Leben Goethes war ein »mächtiges Überraschen« möglich. Die »Natur«, die sich nach Goethes eigener Deutung in »Dichtung und Wahrheit« seiner bediente, um neue Möglichkeiten im menschlichen Worte zu verwirklichen, trieb dann und wann ein wunderliches Spiel mit ihm […]. Das schöpferische Leben Goethes ist nicht aus einem Kausalzusammenhang zu verstehen, wie hoch auch immer die Ebene angesetzt wird, auf der es in vernünftiger Folgerichtigkeit verlaufen soll. […] Er selbst glaubte an unmittelbare Anteilnahme »von oben«, vor allem in kritischen Augenblicken seines Lebens, und solche übermenschliche, überverständliche Einwirkung reicht tief auch in sein schöpferisches Leben hinein. […] Wohl sah Goethe seine dichterischen Erzeugnisse wie Naturgebilde, völlig von sich gelöst und eigenrechtlich, und doch verrät er immer wieder einmal sein Staunen über das, was durch ihn im Wandel der Zeit zu Worte kam […] – so als verstehe Goethe sein Dichten nicht nur als die schöpferische Tat seines Genius, auch als schicksalhaftes Erleiden eines fremden schöpferischen Zwanges, so als habe der »Dämon seines Genies« ihn dann und wann nicht nur an die Grenze seiner Persönlichkeit geführt, sondern habe i h n sie überschreiten lassen. Und eben dies Gefühl scheint Goethes Verhältnis zu den »Wahlverwandtschaften« zu bedingen.290
Hankamer verweist auf eine merkliche Distanz, die den Äußerungen Goethes zu seinem Roman zu entnehmen sei, so bezeichnet er ihn als »wunderlich« und betont noch 1827 Eckermann gegenüber dessen Sonderstellung innerhalb seines Werks: »Es war im ganzen«, fuhr Goethe fort, »nicht meine Art, als Poet nach Verkörperungen von etwas A b s t r a c t e m zu streben … Wollte ich jedoch einmal als Poet irgendeine Idee darstellen, so tat ich es in k l e i n e n Gedichten, wo eine entschiedene Einheit herrschen konnte und welches zu übersehen war, wie zum Beispiel die ›Metamorphose der Tiere‹, die ›der Pflanzen‹, das Gedicht ›Vermächtnis‹ und viele andere. Das einzige Product von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine ›Wahlverwandtschaften‹. Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich geworden; aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre! Vielmehr bin ich der Meinung: j e i n 289 Paul Hankamer, Spiel der Mächte – Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt, Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen und Stuttgart 1948. 290 Ebda., S. 207ff.
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c o m m e n s u r a b l e r und für den Verstand u n f a ß l i c h e r e i n e p o e t i s c h e P r o d u c t i o n , d e s t o b e s s e r .«291
Diese vielzitierte Äußerung und Goethes Bedauern darüber, daß ihm erst sehr spät Solgers Kritik292 geholfen habe, sich seinem Werk wieder anzunähern, deutet Hankamer als anhaltende Befremdung. Während also Goethe selbst die Wahlverwandtschaften als (zu) »faßlich« bezeichnet, gesteht die Forschung dem Roman diese Qualität zwar in sprachlich-stilistischer Hinsicht zu, inhaltlich aber wurde und wird dessen Tendenz zu metaphorischer Verschlüsselung herausgestrichen. Für Hankamer kreist die widersprüchliche Rezeption in ihrem Kern um die Willensfrage: Schon die zeitgenössische Kritik hatte es mit dem neuen Werke des gefeierten Dichters nicht leicht […]. Das anscheinend so klare Meisterwerk wirkte […] unbegreiflicher als jede andere Dichtung, und die ablehnende Kritik bezeugt zumeist, daß man gegenüber seinem starken verwirrenden Eindruck sich selbst, aber auch ein vertrauteres Goethebild behaupten wollte. […] Daß dies Werk fragwürdig ist, beweist die weitere Geschichte seiner Kritik schon dadurch, daß die Deutung seines Gehaltes bis heute schwankt, weil man sich über eine Grundvoraussetzung für jeden Deutungsversuch nicht einig wurde: handelt der Mensch hier frei oder nicht? […] Man hat die […] Erzählungskunst verfolgt und aufgewiesen, wie sie höchst besonnen jedes Geschehnis vielfältig vorbereitet und es zum Glied einer Kette macht, dergestalt, daß uns der Fortgang der Handlung und des Schicksals in seiner Zwangsläufigkeit […] meisterlich vorgerechnet erscheint. […] Noch unsicherer fühlte sich die Kritik vor dem, was hier als Natur dasteht, vor jenen okkulten Phänomenen der Sympathie und vor den offenbaren Wundern, die hier geschehen, kurz vor der Natur als dem Nichtgeheuren, als dem Offenen und Ungründigen. Mißt Goethe dem, was er von ihr erzählt oder erzählen läßt, einen objektiven Erkenntniswert bei oder nicht? Mehr aber als alle Fragwürdigkeit des Inhalts im einzelnen sind es der Ton und die Haltung des Erzählers, die verwirren. Man übertreibt nur wenig, wenn man behauptet, jedes der anscheinend ein Letztes klärenden Wort werde hier durch ein entgegengesetztes paralysiert. Dem Roman ist eine abgründige Ironie eigen, eine verschweigende und verhüllende Undeutlichkeit, die umso verstörender wirkt, als die Geschichte mit Notwendigkeit auf letzte Fragen hinführt und hinführen soll. Dabei aber ist nach Goethes Meinung dieser Roman dem Verstande zugänglicher als jedes andere seiner Großwerke. […] Ihm scheint der Roman verständlich, weil er durch eine »Idee« gebunden ist, durch eine jener letzten Einsichten, zu welchen die Vernunft imstande ist. Wie die »Idee« der Metamorphose eine letztmögliche Einsicht in das Geheimnis des Werdens eröffnet, so öffnet also die »Idee« der »Wahlverwandtschaften« den Einblick in den Abgrund der Natur, in den 291 Gespräch mit Eckermann in Weimar, 6. Mai 1827, zit. nach Benno von Wiese, »Die Wahlverwandtschaften« im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen, Kommentar zur HA, Bd. 6, S. 638–671, hier S. 643. 292 Karl Wilhelm Ferdinand Solgers Brief »Über die Wahlverwandtschaften« war Goethe erst 1826 durch Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel zugänglich, vgl. Kommentar, HA, Bd. 6, S. 643.
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Bereich und in das Spiel von Mächten, unter deren Walten rätselhafte Zeichen und selbst Wunder geschehen, […] in ein geisterhaftes, gespenstiges Walten des Schicksals. Wo Goethe sonst Ordnung und Gesetz aufwies, wie die Vernunft sie erfassen kann, wird durch sie Willkür und Vernichtung sichtbar.293
Hankamer bedient sich einer spezifischen Bildersprache, die vielleicht die Goethe-Forschung in besonderem Maß hervorgebracht hat. Sein Hinweis auf Unklarheiten der Erzählhaltung – für ihn eines jener Elemente, die zur Verrätselung beitragen – steht jedoch dem allgemeinen Tenor der Sekundärliteratur entgegen, die zwar die Frage der Ironie häufig berührt, ansonsten aber dazu tendiert, anhand der angeblich eindeutig auktorialen Erzählhaltung das Bild der klaren Konstruktion der Wahlverwandtschaften zu verteidigen. Ein weiteres zentrales Motiv, das Hankamer anspricht, ist das damit verbundene Charakteristikum der Doppelbödigkeit. Wie wir bei der neueren Beschäftigung mit dem Roman, besonders bei Peter von Matt, sehen werden, wird gerade dessen »abgründige Ironie«, wie sie Hankamer nennt, dort zum Ausgangspunkt der Betrachtung. Von Matt begreift die Zweideutigkeit des Wortes, die Hankamer als Bewegung der gegenseitigen Paralysierung von Worten beschreibt, als grundlegendes Element des Romans. Für ihn darf man hier »keinem Wort trauen«294 und bleibt so auch im Ungewissen über seine moralische Deutung. Dem entspreche der Verzicht auf eine Figur, deren Intrigen oder eindeutige moralische Verfehlungen eine Schuldzuweisung und damit die Entschärfung des tragischen Konflikts durch ein moralisches Urteil möglich machen295. Die Verwirrung, die Hankamer skizziert, prägt das Bild der Wahlverwandtschaften bis heute. Goethes eigene Stellungnahmen spielen dabei eine wichtige Rolle. Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß sie eher dazu beitrugen, die Verwirrung zu erhöhen statt Aufklärung über bestimmte Sachverhalte zu geben. Die Beschäftigung mit den Äußerungen Goethes wird so in der Forschung mitunter elegant umgangen, nicht alle Studien integrieren diese Problematik. Grete Schaeder richtet den Blick stark auf die Erschließung der historischen Begriffsverwendung. Sie verweist im Zusammenhang der Rede von der »durchgreifenden Idee« auf den größeren Kontext dieses Gesprächs mit Eckermann, in dem Goethe vor allem die Vorstellung zurückweist, er habe Werken wie dem Tasso oder Faust eine »Idee« zugrunde gelegt: ›Idee‹ wird hier deutlich vom Gang der Handlung unterschieden. Er fährt fort: »Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder 293 Paul Hankamer, Spiel der Mächte, S. 210ff. 294 Vgl. Peter von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 266. 295 Vgl. ebda., S. 267.
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einzelnen Szene im besonderen zugrunde liege […].« Es ist unbestreitbar, daß in diesen Ausführungen ›Idee‹ nicht gleichbedeutend mit ›Begriff‹ oder der Umschreibung und Erläuterung eines Begriffes verstanden werden darf und daß der Gedankengang einer Dichtung für Goethe noch lange keine Idee darstellt: das Wort ist hier nicht in dem unbestimmten Sinn gemeint, in dem es so oft verwendet wird. Der Satz »das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender guter Gedanke […]« weist dem richtigen Verständnis der wichtigen Stelle den Weg. Idee im strengen Sinn bedeutet für Goethe ein Lebensgesetz und führt in den Bereich der Naturerkenntnis. Für ihn sind Idee und Urphänomen nicht zu trennen: Goethe faßt die Idee, das den Erscheinungen zugrunde liegende Prinzip, im Urphänomen, d. h. also in einem Lebensvorgang, der als das Urbild unzähliger, in den Einzelheiten verschiedener, im Kern gleichartiger Naturerscheinungen aufzufassen ist.296
Im Folgenden geht Schaeder der Frage nach, welches zugrundeliegende Prinzip in den Wahlverwandtschaften zur Anschauung gebracht werden soll. Für sie ist das literarische Werk eng mit den zeitgleich relevanten naturwissenschaftlichen Schriften Goethes verknüpft. Dem Entstehungsprozess der Farbenlehre entnimmt sie die Maximen, die sie als Kern der von Goethe intendierten Romanaussage sieht. Dabei geht es vor allem um die vorschnelle Umlegung der chemischen Gleichnisrede auf den Bereich des Menschlichen. Indem die Figuren am Begriff der »Wahlverwandtschaft« hängen bleiben, so Schaeder, trüben sie ihren Blick auf die Entscheidungsfreiheit des Menschen, dem einzigen Bereich, der den allgegenwärtigen Mächten der Natur widerstehe. So ist es nach Schaeder letztlich der Umgang mit der Wissenschaftssprache seiner Zeit, auf die Goethes Kritik im Roman zielt: Die erste Aufgabe aller wissenschaftlichen Symbolbildung ist es, durch das abgeleitete und besondere zum einfachen und allgemeinen Phänomen hindurchzudringen. Das Urphänomen der Polarität in der anorganischen Natur ist der Magnet, an dem der Vorgang des Trennens und Verbindens am unmittelbarsten in die Erscheinung tritt. Dagegen ist für Goethe die Bezeichnung ›Wahlverwandtschaft‹ in der Chemie ein Musterbeispiel dafür, wie eine Abwandlung dieser ›Grunderscheinung‹ der anorganischen Natur durch ein vermenschlichendes Gleichnis unnötig kompliziert und verdunkelt wird. Wie ein solches Gleichnis die klare wissenschaftliche Anschauung trübt, so kann es bei Rückbeziehung auf die menschlichen Verhältnisse, aus denen es hergenommen ist, nur vollends Verwirrung und Unheil stiften: es umkleidet dann das Naturgesetz mit dem Schein einer falschen Menschennähe und verleitet zum Glauben an die Allmacht der Natur auch in dem einzigen Bereich, in dem diese nicht besteht: vor der sittlichen Entscheidung. Wohl werden wir die Zeichen magnetischer Wirkungen auch in der menschlich-geistigen Welt gewahr – aber an Ottilie hat der Dichter gezeigt, wie dem Menschen der Natur gegenüber immer eine letzte ›Wahl‹ offen bleibt. Durch falsche Gleichnisbildung wird das Magische der Natur betont, während Goethe bemüht
296 Grete Schaeder, Gott und Welt, S. 285.
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ist, das »Klare vor dem Trüben, das Verständige vor dem Ahndungsvollen vorwalten zu lassen, damit bei Darstellung des Aeußern das Innere im stillen geehrt würde.297
Der zeitliche Zusammenfall zwischen dem Abschluß der Farbenlehre und der Arbeit an den Wahlverwandtschaften verweist dabei laut Schaeder auf die einzige und grundlegende »Idee«, die im Roman abgebildet sei. Die Möglichkeit der Wahl, die dem Menschen immer offenstehe, fuße nämlich auf der Möglichkeit der Interpretation der Phänomene. Daher ist es der Sehsinn, der für sie im konkreten wie übertragenen Sinn im Zentrum aller Darstellung in den Wahlverwandtschaften steht. Schaeder betont, daß für Goethe einzig in diesem Bereich eine »methodische Analogie« zwischen Innen- und Außenwelt zulässig sei: […] die gesetzmäßige Tätigkeit des Auges, wie sie in den Erscheinungen des ›Farbenwesens‹ zutage tritt. Das Urphänomen der Vermittlung des Lichts gilt auch für das geistige Sehen: »Lieben und Hassen, Hoffen und Fürchten sind auch nur differente Zustände unsres trüben Innern, durch welches der Geist entweder nach der Licht- oder Schattenseite hinsieht. Blicken wir durch diese trübe Umgebung nach dem Lichte hin, so lieben und hoffen wir ; blicken wir nach dem Finstern, so hassen und fürchten wir«. Diese ›chromatischen Gleichnisse‹ sind im Tagebuch unter dem 25. 5. 1807 festgehalten. Am 26.5. heißt es dort: »Unterweges Motive zu den Wanderjahren« – als eine der Erzählungen für die ›Wanderjahre‹ schwebte Goethe damals die Handlung der ›Wahlverwandschaften‹ vor. In den ›Chromatischen Gleichnissen‹ steckt der Schlüssel zu dem Roman, sie enthalten die Idee, die Goethe in dieser Dichtung ›durchgreifend‹ zur Darstellung gebracht hat. Es gibt kein anderes Urphänomen, das sich im Ganzen eines Romans und ›in jeder einzelnen Szene im besondern‹ durchgreifend zur Anschauung bringen ließ, als das Gesetz des geistigen Sehens, die in jedem Lebensaugenblick vollzogene ›Wahl‹ des Menschen, ob er sich durch die Farben der Gefühle und Leidenschaften hindurch dem Licht oder der Finsternis zuwendet.298
Die Goethesche Konstruktion des Zusammenhangs zwischen anorganischer und organischer Natur ist es auch schließlich, die die Zeitgenossen beeindruckte. Härtl gibt in seiner Dokumentation Schopenhauer wieder, der in einer kurzen Passage in Die Welt als Wille und Vorstellung auf die Wahlverwandtschaften Bezug nimmt: Auch den Wahlverwandtschaften von Goethe liegt, wie schon der Titel andeutet, wenn gleich ihm unbewußt, der Gedanke zum Grunde, daß der W i l l e, der die Basis unsers eigenen Wesens ausmacht, der selbe ist, welcher sich schon in den niedrigsten, unorganischen Erscheinungen kund giebt, weshalb die Gesetzmäßigkeit beider Erscheinungen vollkommene Analogie zeigt.299
297 Ebda., S. 293f. 298 Ebda., S. 294. 299 Zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 264.
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Die entscheidende Frage der Trübung oder Klarheit des Sehens, wie sie bei Grete Schaeder dargestellt ist, wollen wir als wichtigen Punkt für die Interpretation der Präsensszenen im Roman festhalten. Das Motiv der Verdunkelung der Sicht der Figuren, die ihre Handlungen beeinflussen, ist mit diesen grundlegend verknüpft. Dunkelheit – und Untergangsstimmung wurden den Wahlverwandtschaften in vielen Variationen zugeschrieben, vermutlich verstärkt durch die nachhaltige Wirkung von Walter Benjamins 100seitigem Essay Goethes Wahlverwandtschaften. Bevor wir zur Doppelbödigkeit kommen, die dem Roman aus neuerer Sicht attestiert wird, wollen wir dessen »reale« Abgründe anhand einiger zeitgenössischer Zeugnisse darstellen.
III. 3.2. Moralvorstellungen und »Sachgehalt«: Reaktionen der Zeitgenossen III. 3.2.1. »Himmelfahrt« und »böse Lust« Die neue – naturwissenschaftliche – Sachlichkeit der Darstellung (deren sprachlicher Niederschlag als klassische Meisterschaft empfunden wurde und auf viel Begeisterung gestoßen ist) und die scheinbar fehlende moralische Beurteilung der Charaktere waren also die Hauptpunkte, auf die die Kritik der Zeitgenossen abzielte. Diese kam nicht nur, wie zu erwarten, von kirchlicher Seite, sondern auch aus literarischen und literarisch gebildeten Kreisen. Eine der am häufigsten zitierten Aussagen ist jene aus einem Brief des Philosophen und Schriftstellers Friedrich Heinrich Jacobi (der zu diesem Zeitpunkt Präsident der bayerischen Akademie der Wissenschaften war300) an den Prediger Friedrich Köppen, seit 1807 Professor der Philosophie in Landshut (und ein Gegner Schellings301): Ihr Urtheil über die Wahlverwandtschaften stimmt mit dem unsrigen sehr überein, nur scheint das Aergerniß, welches wir an dem Buche genommen haben, größer und stärker zu seyn, als das, welches Sie und Meta daran genommen. Die zwiefache Aehnlichkeit des Kindes und ihre Ursache, hat uns im höchsten Grade empört, und diese Angelegenheit ist doch die Seele des Buchs. Wir können das Göttliche und Himmlische an Ottilia nicht finden und sprechen es ihr geradezu ab, weil sie den armseligen Eduard so überschwenglich lieben kann. In dem Roman ist keine Figur an der man ein wahres Wohlgefallen haben könnte. Charlotte und der Hauptmann werden sich nur aus lieber langer Weile gut, denn sie können im Grunde sich nicht leiden. Desto ärgerlicher und 300 Vgl. ebda., S. 464. Die biographischen Angaben zu den genannten Personen entstammen, wenn nicht anders bezeichnet, dem von Härtl zusammengestellten Personenregister, siehe Härtl, Dokumentation, S. 456–474. 301 Vgl. ebda., S. 465.
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ekelhafter wird der doppelte Ehebruch durch Phantasie, der den Knoten des Stücks ausmacht. Dieses Göthesche Werk ist durch und durch materialistisch oder, wie Schelling sich ausdrückt, r e i n p h y s i o l o g i s c h . Was mich vollends empört, ist die scheinbare Verwandlung am Ende der Fleischlichkeit in Geistlichkeit, man dürfte sagen: die Himmelfahrt der bösen Lust. Ob Bettina [Bettine Brentano] Göthen als Ottilia oder Luciane oder als beyde zusammen geseßen habe, darüber lohnt es nicht der Mühe zu streiten. […]302
Jacobis Fazit läßt ahnen, daß die Schlußapotheose der beiden Liebenden von konservativen Teilen der Leserschaft wohl als bewußte Provokation aufgefaßt worden ist. Daß Ottilies Bereitschaft zum Ehebruch und ihre Liebe zum (moralisch) »armseligen« Eduard in ihre Heiligsprechung am Schluß münden kann, ruft den Vorwurf der zu einseitigen Konzentration auf den Materialismus der »Fleischlichkeit« und der Profanation des Religiösen hervor. Auch wenn Jacobis Äußerung immer wieder als Extrembeispiel zitiert wird, steht sie doch für viele die (äußere oder moralische) Unsittlichkeit des Inhalts aufgreifende Meinungen. Auch dort, wo die Kritik nicht an zu großer Freizügigkeit der Darstellung ansetzt, gibt es Vorbehalte, weil die Verbindung der aus religiöser Sicht unmoralischen Teile der Handlung mit christlichen Elementen wie dem der Heiligenverehrung, die die tote Ottilie am Schluß erfährt, als Widerspruch empfunden wurde. Ein nicht unrepräsentatives Beispiel dafür ist eine Bemerkung aus einem Brief des Schriftstellers Johann Ernst Wagner, der auch mit Jean Paul in diesem Sinne korrespondierte, an den Juristen August von Studnitz – der Brief enthält außerdem eine Fülle anderer »poetischer« Forderungen: Schreib mir doch […] Deine Meynung über die Wahlverwandtschaften von Göthe. Ich bin – zwar noch gar nicht im Klaren darüber, aber doch schon, oder noch gar nicht zufrieden damit. Die Sünde ist mir darinn zu heilig behandelt. Die romantische Person (Ottilie) ist mir, gegen Mignon, zu gezwungen und nicht schön genug, die unpoetische aber (Charlotte) zu fühllos und dick und phlegmatisch, kurz alle Weiber sind mir nicht recht – ja wenn der böse Geist über mich kommt, denke ich oft gar, ich hätte bessere Weiber gemacht, Göthe habe abgenommen, das Ganze sey kein schönes Ganze, ja Göthe habe sogar, so wie ich ihn ewig, m i c h etliche mal vor Augen gehabt. – Stärke meinen Glauben, Bruder – vernichte mich Armen ganz und gar, damit ich schöner und heiliger in meinem göttlichen Meister wieder auflebe, ohne den ich – Gott, nichts seyn möchte! Ich bin zuweilen ganz wehmütig darüber – thue es bald, Studniz. NB. Ich habe ihn erst e i n m a l gelesen. – Wahrhaft entzückt bin ich aber über einzelne Schönheiten, die ihm ewig niemand gleich thun wird.303
Dasselbe Schreiben richtet Wagner, in verkürzter Form, aber gleichem Wortlaut, kurze Zeit später an Jean Paul (der ihm beipflichtend antwortet), wobei aus weiteren Äußerungen hervorgeht, daß es sich bei der unverblümten Diktion 302 Brief vom 12. Januar 1810, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 112f. 303 Brief vom 21. November 1809, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 79.
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mehr um einen sorgsam gepflegten Idiolekt unter Briefpartnern handelt als um eine tatsächlich negativ intendierte Kritik304. Die letzte Bemerkung im Brief ist durchaus ernst gemeint, auch gegenüber Jean Paul hebt der Schreiber seine Bewunderung Goethes in gleich schwärmerischem Ton hervor wie er seine Ablehnung der weiblichen Figuren formuliert. Ein zweiter Brief Johann Ernst Wagners sei daher zitiert und den ebenfalls privater Korrespondenz entnommenen Äußerungen Therese Hubers gegenübergestellt, um neben diesem Anklang privater Jargons auch offiziellen Urteilen das spezifisch Schwärmerische ihrer Art abzuhören. Ein anderer Brief Wagners an Studnitz gibt nämlich, bei aller sonstigen Eigenheit der Literaturbetrachtung, Einblick in persönlich empfundene Schamgrenzen und macht nachvollziehbar, in welchem Kontext etwa die öfter vertretene Meinung der Zeitgenossen, der Roman sei als Lektüre für junge Frauen nicht geeignet, steht. Er läßt darauf schließen, daß die in den Wahlverwandtschaften geschilderten, im Grunde ja nur angedeuteten Liebesszenen auch in aufgeklärten Kreisen als eindeutiger Übertritt empfunden wurden – was wiederum, da es ja um einen Vorwurf sprachlicher Obszönität hier wohl kaum gehen kann, einen indirekten Hinweis auf die Lebensnähe der Schilderungen des Romans liefert: Bey den Wahlverwandtschaften hatte ich zu äussern vergessen, daß der eigentlich körperliche Akt des adulterii quadrupl[icis] fast alle Menschen (und mich selbst ein Bißchen) a n e e k e l t , so wie mir auch der nachherige verfluchte Bankert erschrecklich zuwider ist, und als mit einem schneeweissen Rücken geboren (die Ammen nennen dieß M u t t e r f e t t , und mein dicker Anton wurde so weiß überzogen geboren, daß ich froh war wie ihm die Amme den Rücken im ersten Bade abgefettet hatte) erscheint. – Doch haben freilich alle m e i n e fetten Ideen bey den Wahlverwandtschaften ihren ersten und einzigen Grund in Charlottens Schmalz, in ihrem unschlittreichen Bauche […] und in der trägen Ottilie fürchterlich eingeklemmten Genfer Sechsundneunzigpfündnerkugelknieen und ungeheuern Kernwaden, über welchen tiefe blaue Einschnitte ins Fett und violettgeflickerte Fleisch (von den s c h w a r z e n Strumpfbändern) befindlich sind.305
Vor allem einem breiteren Lesepublikum gab die Benennung des körperlichen Liebesakts im Roman Anlaß zu Kritik, Ablehnung und Skandal. Wie der dahingehende öffentliche Tenor lautete, ist den erfrischenden Briefäußerungen
304 Vgl. Härtl, Dokumentation, S. 153, Ernst Wagner an Jean Paul: »[…] Mir ist die Sünde darinn zu heilig behandelt. Und die Weiber darinn sind mir zu dick. Charlotte hat wenigstens den Umfang unsrer Heimin doppelt, und selbst Ottilie ist mir zu träge, und scheint ebenfalls sehr ansehnlicher Waden zu geniessen. Aber der einzelnen Schönheiten Name ist – Legio!« 305 Brief vom 23. Juni 1810, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 159.
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Therese Hubers, die ab 1814 Redaktionsmitglied des Morgenblatts für gebildete Stände war306, zu entnehmen: Und Goethes Wahlverwandtschaften? – Mir tönte bei dem Nachdenken über diesen Geist, Händels: »Bachus ever young and fair« aus dem Alexanderfest in das Ohr. Aber die sittsamen Leute – die schreien! Jakobis Schwestern meinen »ihr Bruder würde sich schämen so ein unanständiges unsittliches Buch geschrieben zu haben« – und so meint auch der sehr sittliche Verfasser von den Reisen im Südl. Frankreich, Thümmel – Ja mein werter Herr! das sind Wächter Zions!307
Eine auf den ersten Blick vielleicht anekdotisch anmutende Bemerkung Goethes erweist im Zusammenhang der Frage nach dem religiösen Gehalt und der Überschreitung geltender Moralvorstellungen in der Behandlung von Sexualität und erotischer Anziehung durchaus ihre komplexere Dimension: General von Rühle erzählte mir, Goethe selbst habe ihm einmal gesagt, er habe die erste Anregung zu den Wahlverwandtschaften durch Schelling erhalten, wie Kapp in seinem Buche richtig bemerkt. In der Charlotte wollte man die Herzogin Luise erkennen, in dem Hauptmann den Freiherrn von Müffling, jetzigen Gouverneur von Berlin, in Luciane einige Züge der Fräulein von Reitzenstein, und so noch Andre, – in dem Mahler einen jungen Künstler aus Kassel. – Goethe sagte einmal zu Rühle: »Ich heidnisch? Nun, ich habe doch Gretchen hinrichten und Ottilien verhungern lassen, ist denn das den Leuten nicht christlich genug? was wollen sie noch Christlicheres?« – Das erinnert an die empörte Antwort, die er Knebel’n wegen der sittlichen Bedenken desselben gegen die Wahlverwandtschaften gab: »Ich hab’s auch nicht für euch, ich hab’s für die jungen Mädchen geschrieben!« Kann man einem alten, sonst klugen, hier aber stockdummen Freunde deutlicher sagen: »Du bist ein Rindvieh?308
Auch wenn es in einer emotional gefärbten Nebenbemerkung geschieht, gibt Goethe hier sozusagen das Zielpublikum für seinen Roman an – und damit wohl einen Hinweis auf dessen intendierten Realitätsbezug. Aus der Adressierung an eine junge Generation spricht ja der Wunsch, diese möge sich mit dem Gehalt des Werkes (und wohl im besonderen mit der Figur der Ottilie) auseinandersetzen, was schließen läßt, daß Goethe es als mit der Lebens- und Gedankenwelt dieser Generation im Einklang sieht. Der Hinweis auf die »jungen Mädchen«, wie immer emotional-ironisch vorgebracht, erschließt, daß der Roman, zumal vor dem Hintergrund von Goethes Überzeugung seiner großen »Faßlichkeit«, auch eine konkrete Belehrung oder Warnung, eine »Fallgeschichte« enthält. Dem 306 Vgl. Härtl, Dokumentation, S. 464. 307 Brief an Karl August Böttiger vom 20. Dezember 1809, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 86. 308 Nach einer Tagebucheintragung von Karl August Varnhagen von Ense (28. Juni 1843), zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 171. Karl Ludwig v. Knebel (1744–1834!), preußischer Offizier, Schriftsteller und Übersetzer war Goethes »Urfreund« (vgl. Härtl, Dokumentation, S. 465).
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entspricht seine zunehmende Konzentration auf das Schicksal Ottilies, was diese nicht nur mit der Figur Gretchens, wie in Goethes Zusammenstellung hier angedeutet, sondern auch mit der Werthers verbindet. Dies verweist auf die klar beabsichtigte Anbindung an zeitgenössische Lebenswirklichkeiten in der Zeichnung all dieser Schicksale. Die Apotheose Ottilies löscht dabei den Realismus der Schilderung nicht aus, sondern steht im Sinne der »Doppelstruktur«, die den Roman nach Peter von Matt bestimmt, gleichsam neben ihr. Daß dieser sich darüber hinaus an einen engen Kreis richtet, wie eine andere Bemerkung zeigt, steht dazu nicht im Widerspruch. Sie bezieht sich wohl mehr auf die Komplexität des Romangehalts in toto, der sich für Goethe einem größeren Publikum ohnehin kaum erschließt309 : Die Wahlverwandtschaften schickte ich eigentlich als ein Cirkular an meine Freunde, damit sie meiner wieder einmal an manchen Orten und Enden gedächten. Wenn die Menge dieses Werkchen nebenher auch liest, so kann es mir ganz recht seyn. Ich weiß zu wem ich eigentlich gesprochen habe, und wo ich nicht mißverstanden werde. Mit dieser Überzeugung war auch Ihnen das Büchlein adressirt, und Sie sind sehr liebenswürdig, mich ausdrücklich zu versichern, daß ich mich nicht geirrt habe.310
III. 3.2.2. Romandefinition deutsch und französisch: Realität als Hindernis Eine mitunter ebenso pragmatische Sichtweise wie die mancher Zeitgenossen und die Forderungen an den zeitgenössischen Roman aus französischer Sicht erschließen sich aus den Urteilen, die Anne-Louise-Germaine Baronin v. Sta[lHolstein in De l’Allemagne (1813) fällt. Deutlich ist zu sehen, daß hier aus einer Tradition heraus beschrieben wird, der die Verlegung der Konfliktschilderung ins Innere der Figuren bzw. deren symbolische Darlegung mehr als Handlungsarmut denn als passender Romanstoff gilt, besonders wenn dies ohne deutliche und wertende Stellungnahme des Erzählers geschieht. Aus dem Vergleich mit dem antiken Epos kritisiert de Sta[l besonders die erzählerische Haltung der Distanziertheit und Unbewegtheit, die für sie die Darstellungsweise des Romans ausmacht. Übertrage man nämlich die Ungerührtheit und Sachlichkeit, die »Ruhe« der antiken Darstellung, auf den neuen Roman, der Gefühlskonflikte schildert und dessen äußere Handlung gegenüber den dramatischen Ereignissen des antiken Epos eher unspektakulär ist, so de Sta[l, dann summieren sich gleichsam die Elemente des Ruhigen und Besonnenen und verhindern so die emotionale Wirkung auf den Leser : 309 Zu Goethes vor allem im Alter stärker werdendem Elitarismus und dessen Grundlagen vgl. Karlheinz Schulz, Goethe Eine Biographie in 16 Kapiteln, S. 448f. und besonders S. 474ff. 310 Goethe an Karl Friedrich Graf v. Reinhard, 31. Dezember 1809, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 100.
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Die Erzählungen der Alten und selbst ihre Gedichte, wie belebt sie auch in ihrem Wesen sind, sind ruhig in der Form, und man hat sich eingeredet, die Neuern würden wohl thun, die Ruhe der Alten nachzuahmen. Aber was die Theorie in Werken der Phantasie gebietet, gelingt nicht leicht in der Ausübung. Ereignisse, wie die der Ilias, vermögen durch sich selbst zu fesseln, und das Bild wirkt umso mächtiger, als die eigene Empfindung des Verfassers weniger durchblickt. Versucht man aber die Ereignisse eines Romans mit der unpartheiischen Ruhe Homers aufzuzeichnen, so kann man keine hinreißende Wirkung hervorbringen. Dieser Fehler ist wie mich dünkt, in den Wahlverwandtschaften, einem Roman, den Göthe vor kurzem herausgegeben hat, zu rügen.311
Besonders wird etwa die ausführliche Schilderung der Gartenplanung von de Sta[l als dem »tragischen Eindruck der Catastrophe« und dem Mitleben mit den Figuren hinderlich herausgehoben. Nach all den Beschreibungen des Parks und dessen Verschönerung habe man Mühe, von den Ereignissen noch bewegt zu werden. Die zu deutlich gemachten Lebensumstände widersprechen aus ihrer Sicht den Intentionen der Romangattung. Schon im eher lakonischen Ton der Zusammenfassung der Handlung klingt durch, daß der Roman für den französischen Geschmack zur Thesenhaftigkeit tendiert: Glückliche Gatten haben sich aufs Land zurückgezogen; der Freund des Mannes und die Nichte der Frau werden ihre Einsamkeit mit ihnen zu teilen eingeladen. Der Freund verliebt sich in die Frau und der Mann in das junge Mädchen. – Dieser faßt den Gedanken, seine Ehe scheiden zu lassen, um sich mit der Geliebten zu verbinden, und das Mädchen ist bereit, in diesen Plan einzuwilligen. Unglückliche Ereignisse bringen sie zu dem Gefühle der Pflicht zurück; sobald sie aber die Notwendigkeit erkennt, ihre Liebe aufzuopfern, tötet sie der Schmerz, und der Geliebte folgt ihr bald nach.312
Der störende Realismus, der für de Sta[l die Wahlverwandtschaften bestimmt, fußt für sie auf der Anschauung, daß die Darstellung der Widersprüchlichkeiten der Welt der Fiktion gemäß sei. Diese müsse jedoch die Wirklichkeit durch Lebendigkeit und Kraft der Darstellung überhöhen, um eine Wahrheit höherer Ordnung zu schaffen, die ihren Mangel an faktischer Wahrheit vergessen läßt und durch Verdichtung wirkt: Die Übersetzung der Wahlverwandtschaften hat in Frankreich keinen Erfolg gehabt, weil die Gesamtlinien dieser Dichtung so wenig klar erkennbar sind wie das Ziel, mit dem sie verfaßt wurden. Diese Unbestimmtheit ist in Deutschland kein Tadel. Da die Ereignisse der wirklichen Welt öfters nur schwankende Resultate darbieten, läßt man 311 Germaine de Sta[l, Deutschland, übersetzt von Friedrich Buchholz, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 246. 312 Anne Germaine de Sta[l, Über Deutschland, Vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814 in der Gemeinschaftsübersetzung von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Julius Eduard Hitzig, Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Monika Bosse, Insel Verlag, Frankfurt am Main, S. 446.
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sich in den Romanen, die sie schildern, dieselben Widersprüche und Zweifel gefallen. Man findet zwar in diesem Werke eine Menge Gedanken und scharfsinnige Beobachtungen, aber das Interesse stockt auch oft, und man findet im Romane fast so viele Lücken als im alltäglichen Leben des Menschen selbst. Doch darf ein Roman nicht Memoiren gleichen; alles fesselt in dem, was wirklich dagewesen, aber Dichtung kann nur wie Wahrheit wirken, indem sie die Wahrheit übertrifft; indem sie nämlich mehr Kraft, mehr Einheit, mehr Handlung als die Wirklichkeit darlegt.313
Die »tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens«314, die de Sta[l (wie viele zeitgenössische Interpreten) Goethe attestiert, ist für sie zwar ein Vorzug, sie sei aber ausschließlich von düsterer und niederschlagender Art, auch dies eine Kritik, die nicht nur hier geäußert wird. Auch de Sta[ls Schlußfolgerung steht nicht allein. Ihre Konsequenz ist, daß die Zurückhaltung in der Parteinahme für oder gegen die Entscheidungen der Figuren auf den umfassenden Pessimismus des Autors zurückgehe, der damit letztlich Gleichgültigkeit in seiner Weltsicht statt Begeisterungsfähigkeit für die »ewige Jugend der Seele«315 demonstriere: Leidenschaften sind da, Tugenden sind da, es wollen welche behaupten, man solle die einen durch die andern bekämpfen, und wieder andere versichern, es sei untunlich. Seht und richtet, scheint der Verfasser zu sagen, der unparteiisch die Gründe aufzeichnet, die das Los bald für und wider jede Ansicht an die Hand gibt.316
Die Moralität eines Romans, so de Sta[l, liege schließlich »bloß in den Empfindungen, die er erregt«, die Hauptfrage sei, ob der Eindruck, den er zurückläßt, der »Vervollkommnung« der Seele förderlich ist317. Diese erfahre zuweilen tiefste Erschütterungen durch »vieles Denken« und ein Mann von Genie wie Goethe müsse sich hier seinen Lesern als »Führer auf einer sicheren Straße« erweisen, statt ihre Verunsicherung noch zu vergrößern318. Für de Sta[l sind also Goethes Zurückhaltung im Beurteilen der Charaktere und seine für sie allzu neutrale Art der Darstellung eine Haltung, die nicht zuletzt Bewußtsein für seinen Rang als Dichter und seine Rolle als Vorbild vermissen läßt. Der nüchtern dargestellte Kampf von Leidenschaften und Tugenden und die Enthaltung des moralischen Urteils durch den Verfasser hätten zwar nichts mit der zeitgenössischen Tendenz zum Materialismus zu tun, auch dies hebe aber die Melancholie der Einsichten nicht auf: Man denke sich aber keineswegs, daß diese Zweifelsucht von der materialistischen Tendenz des achtzehnten Jahrhunderts herrühre: Goethes Ansichten sind ungleich 313 314 315 316 317 318
Ebda. Vgl. ebda, S. 447. Vgl. ebda., S. 448. Ebda., S. 447. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 448.
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tiefer, nicht aber tröstender für die Seele. In seinen Schriften erkennt man eine verschmähende Philosophie, die dem Guten wie dem Bösen sagt: es soll sein, weil es ist, und einen außerordentlichen Geist, der alle übrigen Gaben überragt und selbst des Talents überdrüssig wird […]. Was endlich diesem Romane vorzüglich fehlt, ist ein festes und bestimmtes religiöses Gefühl. Die Hauptpersonen geben sich mehr dem Aberglauben als dem Glauben hin, und man erkennt, daß in ihrem Herzen die Religion, so wie die Liebe, nur die Frucht der Umstände sind und mit ihnen dem Wechsel unterworfen.319
Für de Sta[l bestimmen also sowohl übergroßer Realismus wie Rationalismus die Darstellung der Wahlverwandtschaften. Deutlich wird, wie präsent die Forderungen nach Rührung des Lesers und emotionaler Nachvollziehbarkeit der Romanhandlung sind. Beides scheint auch den Lesern in Deutschland immer wieder zu kurz gekommen zu sein. Gleichzeitig ist die Unbedingtheit überraschend, mit der de Sta[l einerseits Überhöhung in der fiktiven Form und andererseits Konstanz der Gefühle (in Liebe wie Religion) fordert. So bezieht sich schließlich ihr stärkster Kritikpunkt in doppelter Weise auf die zu große Unbestimmtheit des Romans. Der Autor verabsäume es, die Handlung so zu gestalten, daß sie dem Leser zur Anleitung dienen kann, die Figuren haben einen viel zu erschütterlichen Glauben, ihre Liebe ist dem Zufall der äußeren Umstände ausgesetzt und keine innerliche Konstante. Genau jene Schilderungen also, die der späteren Sicht wohl als besonders nachvollziehbar gelten, nämlich der Blick auf die emotionalen Zweifel und inneren Kämpfe der Protagonisten, gilt der zeitgenössischen Sicht Madame de Sta[ls als Stein des Anstoßes. III. 3.2.3. Wahrheit, Wahrhaftigkeit Die Verteidigung Goethes gegen die Vorwürfe der Verteidigung des Unglaubens und vor allem der Unsittlichkeit versuchte neben anderen Zeitgenossen der Schriftsteller Heinrich Laube mit seinem Bericht von Gesprächen Goethes mit einer Unbekannten und einem Unbekannten. Er läßt vermuten, daß Goethe trotz der Unangefochtenheit seiner Position solchen Anwürfen auch entgegenkommend begegnete, wohl, um einseitiger Rezeption vorzubeugen. Im Bericht erscheint er als Sprecher, der in der Doppelbedeutung des Begriffs der »Wahrhaftigkeit« die Verknüpfung zwischen Sach- und Realitätsgehalt und der »Wahrheit« der Schilderung herstellt: [Die Unbekannte:] Ich kann dieses Buch durchaus nicht billigen, Herr von Goethe; es ist wirklich unmoralisch und ich empfehle es keinem Frauenzimmer. Darauf hat Goethe eine Weile ganz ernsthaft geschwiegen, und endlich mit vieler Innigkeit gesagt: Das thut mir leid, es ist doch mein bestes Buch. Glauben Sie nicht, daß es die Grille eines 319 Ebda., S. 447f.
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alten Mannes ist, ja, man liebt das Kind am meisten, welches aus der letzten Ehe, aus der spätesten Zeit unserer Zeugungskraft stammt. Aber Sie thun mir und dem Buche Unrecht; das Gesetz in dem Buche ist wahr, das Buch ist nicht unmoralisch, Sie müssen es nur vom größeren Gesichtspunkte betrachten, der gewöhnliche moralische Maßstab kann bei solchem Verhältnisse sehr unmoralisch auftreten. – Verlassen wir nun aber die Dame, welche drastisch mittheilt, und halten wir uns an einen Mann, der mehr denn einmal in ausführlichen und intimen Gesprächen mit Goethe verkehrt hatte. […] G. Ob die Wahlverwandschaften wahr sind, ob sie auf Thatsächlichem beruhen? Jede Dichtung, die nicht übertreibt, ist wahr, und Alles, was einen dauernden, tiefen Eindruck macht, ist nicht übertrieben. Uebrigens soll es den Menschen gleichgültig sein, der bloßen Neugierde muß man nicht Rede stehen. Das Benutzen der Erlebnisse ist mir immer Alles gewesen, das Erfinden aus der Luft war nie meine Sache, ich habe die Welt stets für genialer gehalten, als mein Genie.320
Ähnlich wie die spontane Reaktion auf Knebels »sittliche Bedenken« gegen den Roman mit der Bemerkung, er sei ja schließlich für die »jungen Mädchen« geschrieben, spricht diese Fassung für das Anliegen Goethes, dem tieferen moralischen Gehalt der Wahlverwandtschaften eine verständige Leserschaft zu schaffen. In Laubes Darstellung fordert er den vorurteilsfreien Blick auf die Notwendigkeit klar benennender Schilderung als Grundbedingung für die Wahr(haftig)keit des »Gesetzes«, das der Roman beschreibt. Die Zurückweisung der »bloßen Neugierde«, ob der Roman autobiographisch sei und Selbsterlebtes schildere, geht außerdem einher mit dem Hinweis auf ein poetologisches Konzept, das indirekt als Gegenentwurf zu de Sta[ls Forderung nach Verdichtung und Überhöhung in der Fiktion gelesen werden kann. Im höheren Sinn wahrhaftig ist alles, was nicht »übertrieben« ist. Daß Goethe hier angibt, den Stoff seiner Schilderungen in der realen Welt vorzufinden, wozu auch persönliche Erlebnisse zählen, er zudem die Wirklichkeit als für weitaus erfindungsreicher als jede ihm mögliche Erfindung darstellt, ist ein Standpunkt, der sich vom Autor als Erfinder möglichst »exotischer« Begebenheiten radikal entfernt. In Laubes Bericht spricht sich also Goethe explizit für die Abbildung der Wirklichkeit nicht nur als adäquatem Romanstoff aus, sondern gibt auch die Maxime vor, daß allzu große Übertreibung – ich interpretiere dies konkret als allzu große Übertreibung in der Erfindung von Umständen, Begebenheiten und Verwicklungen der Handlung oder Empfindungen der Charaktere – der Aufnahme schade. Einen »dauernden, tiefen Eindruck« kann nur machen, was nicht übertrieben, also nicht in der Weise von der Wirklichkeit entfernt ist, daß sich Leser darin nicht wiedererkennen können. Dies steht der de Sta[lschen Auffassung entgegen, die die Grundlage der Rührung des Lesers in der Formel der Verdichtung sucht. Dichtung könne nur wahr wirken und den Leser bewegen, indem sie, wie gezeigt, »mehr Kraft, mehr Einheit, mehr Handlung als die 320 Zit. nach »Undatiertes 1809/10« in Härtl, Dokumentation, S. 203.
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Wirklichkeit« darbiete. Für Goethe dagegen ist jene Einheit der Handlung, die die Beobachtung realer Ereignisse darbietet, genug, demgemäß ist diese abzubilden, auch wenn es nicht darum geht, ob etwa die Figuren des Romans realen Personen entsprechen. Daß Goethes Schilderung auf Wahrhaftigkeit abzielt, ist von Teilen der Leserschaft auch genau so verstanden worden. Therese Huber, deren Kommentare zu den originellsten in Heinz Härtls Dokumentation zur Wirkunsggeschichte gehören, nimmt in zwei Briefen das Thema der Moral der Wahrheit, deren Grenze in der Kunst nicht von gängigen Maßstäben der Moralvorstellungen zu bestimmen sei, auf. Auch sie argumentiert im genannten Sinn der Notwendigkeit klarer Benennung. Die Briefe sind an den Zürcher Geschäftsmann Johann Martin Usteri und den Jenaer Philosophieprofessor Karl Leonhard Reinhold gerichtet. Ihnen ist auch die bürgerliche Sicht auf das Sujet der Probleme des Landadels zu entnehmen. Ja noch über Goethes Wahlverwandtschaften. Der Mann hat Herz und Nieren erforscht und mit der schaudervollsten Wahrheit sie dargestellt. Die Materialien nahm er willkürlich, das Gebäu führte er auf, ohne nach Regeln zu fragen, und sein Publikum nichtachtend und auf die Deutungsgabe einer kleinen Zahl rechnend, gebrauchte er am Schluß Maschinerien, die nur symbolisch verstanden werden können. Die vielen Briefe darüber könnten es Einem verleiden. Die Jacobische Schwesterschaar schreit gegen Unsittlichkeit, da möge sie die Hand im Busen stecken, ich sage, das ist wahr und im Menschen lebt eine Kraft, welche die Nothwendigkeit in sich aufnehmend sie entkräftet, – und welche Diction, welche Details.321 Mit den Wahlverwandtschaften ists mir dann gegangen wie mit der B i t t e r k e i t gegen Lindschoten. Ich habe gegen Sie nur gelobt weil Ihnen so wie mir die Mängel nicht entgehen konnten. Ueber das vornehme Verruchtsein und verruchte Vornehmsein [bin ich] nicht Ihrer Meinung. Um diese Verkettungen der Schicksale, diese Verirrungen der Einbildungskraft zu schildern, konnte er nicht below Stairs bleiben. Bei einem Logis über 3 Stiegen, wenn die Frau die Eyer selbst einkauft und der Mann erst in die Wirklichkeit versetzt werden soll, nimmt das Gute und Böse eine andere Gestalt an; diese Willkür und diese Notwendigkeit trägt sich above Stairs zu – Verruchtheit? – ist das Geschilderte innerhalb der Bedingungen der Wahrheit und der Schönheit, so ist keine Verruchtheit darin. Die völlige Rücksichtslosigkeit im Mechanischen ist wohl nicht der Eile schuldzugeben, sondern andern Ursachen – entweder gehts Göthen jetzt mit dem mechanischen wie mir mit manchem Detail weiblicher Arbeit – ich mache das Schwerste, aber überfahre das geschniegelte – gebe mich gern nur mit großen Massen ab – oder er macht sich einen Spaß mit dem Thier, Publikum – sobald man Das nicht heilig hält wegen dessen was es sein sollte, ist kein Spott den es nicht verdient für das, was es ist.322
321 Brief an Johann Martin Usteri, 18. Februar 1810, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 138. 322 Brief an Karl Leonhard Reinhold, 19. Februar 1810, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 139.
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Unsittlichkeit oder »Verruchtheit«, wie es im zweiten Brief heißt, ist also für Huber den Wahlverwandtschaften aufgrund ihrer moralischen Wahrhaftigkeit, ihrer Qualität der »Schönheit und Wahrheit« nicht zuzusprechen. Wie sehr aber die Frage der (Un)Sittlichkeit vorrangig für viele Leser gewesen sein muß, geht aus einem Brief Christoph Martin Wielands an eine unbekannte Adressatin hervor. Ihm ist zu entnehmen, daß die Anstoß erregenden Teile des Romans und das Verhalten der Figuren auch als Frage der Wahrscheinlichkeit diskutiert wurden. Sie galten als moralisch fragwürdig, weil sie als unwahrscheinlich empfunden wurden. Immer wieder taucht die Frage auf, wie die als überaus sensibel geschilderte Figur der Ottilie ihr unmoralisches Handeln gegenüber ihrer Ziehmutter Charlotte nicht als solches empfinden könne und dem Drängen Eduards nachgibt. In diese Richtung scheint auch die Kritik von Wielands Briefpartnerin gegangen zu sein, die er, wohl mit Rücksicht auf zumutbare Inhalte vorsichtig, aber doch ernsthaft kommentiert. Wieland gesteht vor allem den Figuren zu, positive wie negative Charakterseiten zeigen zu dürfen. In dieser Mehrschichtigkeit liegt für ihn der begrüßenswerte Realismus der Schilderung. An Eduards Heldenmut darf gezweifelt werden, schließt Wieland, aber das sei nicht die Absicht der Schilderung gewesen. Auch dies zeigt die Überwindung der Forderungen moralischer Eindeutigkeiten, die Wielands Partnerin offenbar ähnlich der de Sta[lschen Maxime der Eindeutigkeit der Gefühle stellte: Mit lebhaftem Interesse habe ich Ihr Urteil über G. Wahlverwandtschaften gelesen und wie so oft den Scharfsinn Ihres Verstandes bewundert, der immer dem Herzen die Waagschale hält und wo Sie wollen dominirt. Dies scheint mir der Fall mit Goethens genialischem Geistesprodukt gewesen zu seyn. Da Ihnen die moralische Tendenz so wenig als mir gefallen konnte, wollten Sie sich auch durch [nichts] mehr rühren lassen und Ihr feiner Witz behielt die Oberhand. – Gerne gebe ich Ihnen zu, daß die Stellen, welche Sie vorzüglich choquirt haben, auch mein Gefühl beleidigten, allein ich bin toleranter im Punkte der Liebe, als meine strenge Freundin. Was ich nicht selbst erfahren, kann ich mir dennoch als möglich denken – und ich finde die Nüanzen der Entstehung dieser im Anfang so unschuldigen Neigung so zart und fein, daß Sie, wie mich dünkt, die zartesten Saiten des menschlichen Herzens berühren. – Mir schauderte innerlich davor, daß ein so reines unschuldiges Kind als diese Ottilie so verstrickt werden konnte und ich finde den Gang ihrer Empfindung nicht323 natürlich. Auch die Liebe, welche sie dem neuen Ankömmling beweist, Alles bürgt für die Reinheit ihrer Gefühle für Eduard. Dieser Eduard aber wäre mein Mann auch nicht, er zeigt am unrechten Ort Kraft und Festigkeit, doch scheint es mir, Goethe wollte auch keinen Helden aus ihm machen. Er schildert ihn wie alle übrigen Personen mit allen ihren Mängeln und Gebrechen und liebenswürdigen Eigenschaften. Das Leben und Weben dieser Person[en] geht so natürlich an uns vorüber. Wir glauben sie spielend auftreten
323 Vermutlich Schreibfehler für recht, vgl. Benno v. Wiese, Kommentar, HA, Bd. 6, S. 666.
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zu sehen, und ich gestehe Ihnen, meine Freundin, daß ich dieses schauerliche Werk nicht ohne warmen Antheil zu nehmen gelesen habe.324
III. 3.2.4. Der Reichtum der Bilder: Emotion und Wahrheit »Nicht ohne warmen Antheil zu nehmen« – diese und ähnliche Aussagen kehren in vielen der Äußerungen zu den Wahlverwandtschaften wieder. Was außerdem auffällt, ist, daß immer wieder die Kraft der szenischen Darstellung hervorgehoben wird, und daß umgekehrt die Bereitschaft zur bildlichen Vorstellung als selbstverständlicher Bestandteil der Auseinandersetzung mit literarischen Werken auftritt. Die rege Bezugnahme auf die Gefühlslogik der Figuren oder umgekehrt die Kritik an deren mangelnder Herleitung verweisen auf eine stark am dramatischen Konflikt orientierte Rezeptionshaltung, die auf den Roman übertragen wird. Oft wird über die Richtigkeit oder Logik von Reaktionen geurteilt und spekuliert, und es werden Technik und Intensität ihrer Präsentation kommentiert. Diese stark nach Identifikation suchende, sehr persönliche Beurteilung geschieht zwar selten in so individueller Ausprägung wie bei Johann Ernst Wagner, doch taucht der Topos der »Schönheit« der weiblichen oder der »Männlichkeit« der männlichen Figuren immer wieder auf. Besonders die Bezugnahme auf Ottilie als »Unschuld« und »Schönheit« (oder »unschuldige Schönheit«) ist nicht nur in privater Kommunikation, sondern auch in der literaturkritischen Auseinandersetzung zu finden und reicht sogar hier bis weit ins 20. Jahrhundert. Die Festschreibung klammert aber die sich verändernden Gebrauchsgewohnheiten dieser Begrifflichkeit aus und gewinnt dadurch anachronistische Züge. Denn zu berücksichtigen ist die Bedeutungsüberschneidung im Vokabular der Goethezeit, dem mit Begriffen wie »Schönheit« in viel größerem Maß die Möglichkeit der Bezugnahme auf innere oder moralische Qualitäten gegeben ist. Ein gutes Beispiel für die stark persönliche und anteilnehmende Bezugnahme der Zeitgenossen ist ein Brief Heinrich Voß’ an Bernhard Rudolf Abeken, dessen frühe Rezension der Wahlverwandtschaften Goethe und Riemer zur Abwehr der »albernen Urteile« und »Anfragen«325, die bei beiden einlangten, in mehreren Exemplaren verteilten. Voß schreibt am 12. November 1809: Bei Cotta’s bin ich vierzehn Tage gewesen. Da habe ich denn auch Goethes Wahlverwandtschaften gelesen, von denen ich viel erwartete und doch noch viel mehr fand. Die Erzählung beginnt so einfach, in so kleinem Raume, und wie erweitert sich das alles! Mir ist, als wenn Goethe den ganzen Reichtum seiner Erfahrungen und Lebensansichten hier hat niederlegen wollen; aber der Mann ist unerschöpflich wie die Gottheit, 324 Zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 203f. 325 Vgl. Brief Abekens an Heinrich Voß vom 26.–30. März 1810, Härtl, Dokumentation, S. 151.
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von jedem seiner künftigen Werke werde ich dasselbige sagen müssen. Ottilie ist ein lieblicher Engel – ein bloßes Geschöpf der Einbildungskraft? Das glaube ich nimmermehr. Aber das arme Kind jammert mich, so oft ich daran denke; so eben hat es noch »so vernünftig in die Welt geguckt«, und nun diesen Tod! – aber es muß sterben – nur kann ich den Jammer um seinen Tod nicht überwinden. So weit habe ich gelesen; die folgenden Bogen fehlten Cotta’n noch – meine Sehnsucht nach dem Ende ist unbegrenzt.326
An dieser Art der Beurteilung, an der enthusiastischen und persönlichen Messung der Figuren an individuellen Gefühlen, Assoziationen und Erwartungshaltungen, ist die emotionell weitaus höhergespannte Rezeptionshaltung abzulesen, die die zeitgenössische Lektüre bestimmte. Dies ist teilweise auch den frühen Rezensionen zu entnehmen, die im folgenden dargeboten werden. Im Zusammenhang des Mittels der Präsensverwendung ist außerdem die Leseerwartung der szenischen Darstellung und der dramatischen Romankonzeption an der Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert von Interesse. Wenn Wieland also am Schluß seines Schreibens die Einführung der Personen mit einem »Auftritt« vergleicht (»Wir glauben sie spielend auftreten zu sehen […]«), und nicht nur die realistische Schilderung, sondern vor allem auch deren im dramaturgischen Sinn gelungene Darstellung hervorhebt, ist damit eine wichtige Forderung an den Roman um 1800 ausgesprochen. (Die ungenügende Erfüllung dieser Forderung bildet umgekehrt den Kritikpunkt manch anderer Beurteilung.) Ähnlich wie die immer wieder eingeforderte pyschologische Motivierung in der Handlungslogik bildet also bild- oder szenenhafte Gestaltung der Erzählung einen zur Einfühlung in die Figuren und das Romangeschehen notwendigen Bestandteil des erzähltechnischen Wertekanons. Das entsprechende Vokabular zeigt auch Rudolf Abekens Rezension, die wie Goethes Selbstanzeige im Morgenblatt für gebildete Stände erschien: Welch ein herrliches, reiches Bild hat uns der Dichter vor die Augen gebracht in der Scene, da Ottilie die Mutter Gottes vorstellt! – Ich möchte diese, in Rücksicht auf die Wirkung, die sie in dem Gedichte hervorbringt, das Gegenstück zu jener Nacht-Scene nennen, da Ottiliens Geburtstag mit dem Feuerwerke gefeyert wird. – Charlotte sitzt vor dem Heiligen-Bilde, und betrachtet das schlafende heilige Kind; und sie gedenkt dessen, das sie unter dem Herzen trägt, denkt, was es ihrem Hause werden soll, in der Zeit der Noth, und Thränen treten in ihre Augen. – Ach, es soll kein Versöhner für sie seyn; es wird geboren, und seinem Gesichte ist das aufgeprägt, was den nicht zu lösenden Streit erzeugt und erhält. Es kommt in die Welt, aber nicht als Bote des Lebens, sondern des Todes; und der Greis, der es in seine Arme nimmt, fährt hin, aber ach! nicht in F r i e d e n – Als eine wahre Versöhnerinn dagegen steht Ottilie da in dem herrlichen Bilde; sie ist die Schmerzensreiche, die Betrübte, der das Schwert durch die
326 Zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 73.
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Seele dringt; aber wir ahnen in ihr auch die Heilige. Die Nacht verschwindet, und das heilige Licht bricht herein.327
III. 4. Diesen wahrhaften Dichter des Zeitalters – zeitgenössische Rezension, neuere Forschung III. 4.1. E i n e, nur gesteigerte, Kraft: Rudolf Abeken »Es kann unsern Lesern nur angenehm seyn, über ein so vielbesprochenes Kunstwerk mehrere Ansichten geistreicher Kunstrichter zu erhalten.«328 Rudolf Abeken hat seine Rezension der Wahlverwandtschaften in neun kurze Kapitel aufgeteilt, die eben zitierte Stelle bildet den sechsten Abschnitt, steht also als Abschnitt allein. Wie oben angemerkt, hat Goethe dieser Rezension unter anderen den Vorrang gegeben, da sie »die sittliche Tendenz des Romans ausdrücklich darlegte«329. Daran mag ihm aufgrund der Angriffe wegen des angeblich unmoralischen Inhalts zu diesem Zeitpunkt, wenige Monate nach Erscheinen des Romans, besonders gelegen gewesen sein. Tatsächlich ist das wiederkehrende Thema der Rezension Abekens die Reflexion der sittlichen und der Seelenkräfte nicht nur der Charaktere, sondern des Menschen überhaupt. Besonders an der Figur der Ottilie wird der Kampf dieser Kräfte mit den letztlich dominierenden Mächten der Natur gezeigt. Die Rezension ist mit »Fragmente aus einem Briefe« untertitelt, schreibt sich also selbst einen mehr vorläufigen Charakter zu. Und ähnlich vorsichtig führt ihr Beginn an die Thematik des Romans heran: Daß die Wahlverwandtschaften viele Menschen nicht ansprechen, daß so sonderbare Urtheile über sie gefällt werden, befremdet mich nicht. In der That, man sieht es oft genug, wie Gegenstände, welche dem Menschen nahe liegen und ein fast allgemeines Interesse haben, leicht und oberflächlich dargestellt, ihre Wirkung nicht verfehlen; wie sie aber die Menge und die für die Welt Gebildeten kalt lassen, wie sie oft gar nicht begriffen werden, wenn ein großer Geist sie klar in ihrem tiefsten Grunde und in ihrer höchsten Bedeutung ausspricht. – Ist es nicht so mit dem Gegenstande, mit dem jener herrliche Roman sich beschäftigt? – Daß es Menschen gibt, die ihrer Natur nach verwandt sind, daß diese Verwandtschaft Liebe erzeugt, welchen Kampf, welches Unglück diese veranlaßt, wenn menschlicher Irrthum und irdische Verhältnisse ihren Weg durchkreuzen, das ist das Thema fast aller Romane. Wenigstens liegt der Gedanke 327 Bernhard Rudolf Abeken, Ueber Goethes Wahlverwandtschaften (Fragmente aus einem Briefe), erschienen im Morgenblatt für gebildete Stände, Tübingen, 22.–24. Januar 1810, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 121–127, hier S. 124. 328 So die Anmerkung im Morgenblatt für gebildete Stände, unter der Abekens Rezension erschienen ist. 329 Vgl. Kommentar, HA, Bd. 6, S. 641.
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einer natürlichen Verwandtschaft, wenn auch dunkel, dem zum Grunde, was von Sympathie geredet wird. Solche Bücher werden immer geschrieben und immer gelesen werden; jeder Leser hat dergleichen gesehn und erlebt; er wird bewegt, und fühlt, daß auch er dem Loose unterworfen ist, welches die Liebe trifft. – Dasselbe Thema finden wir in den Wahlverwandtschaften; aber wie anders behandelt! wie klar bis in die tiefsten Geheimnisse, wie selbständig und voll innern heiligen Lebens liegt es vor uns da! – Hier sehen wir, wie diesselben ewigen Gesetze, die in dem walten, was wir Natur nennen, auch über den Menschen ihre Herrschaft üben und ihm oft mit unwiderstehlicher Strenge gebieten; wie es e i n e, nur gesteigerte, Kraft ist, die leblose Stoffe zu einander zwingt und diesen Menschen zu einem andern zieht. Schilt mich nicht um dieser Aeußerung willen. Ruht doch auch die Liebe der Aeltern zu dem Kinde auf der Natur und entspringt aus ihr ; und doch wird dieser Trieb durch Freiheit zu einem schönen sittlichen Verhältnisse.330
Abekens Bemühen um eine wohlwollende Aufnahme beim Publikum ist nicht zu überhören. Wie der oben schon zitierten Textstelle zu entnehmen ist, bietet er weniger eine ins Tiefe gehende Detailstudie oder vergleichende Darstellung als vielmehr hymnische Kritik; diese enthält allerdings einige Motive, die wieder aufgegriffen werden. Wie das Zitat zeigt, trägt auch bei Abeken die Behauptung »ewiger« Naturgesetze die Argumentation. Auffallend ist die wie selbstverständliche Einbeziehung des Menschen in eine alles Lebendige bestimmende Naturordnung, die alle Elemente bis hin zu den »leblosen Stoffen« umfaßt. Dieses Bild wird hier, in vermutlich etwas geläufigerer Formulierung als in der »Selbstanzeige«, aber unter Zugriff auf dasselbe Konzept entworfen: es sind »dieselben ewigen Gesetze, die in dem walten, was wir Natur nennen«. Diese »gebieten« über den Menschen »mit unwiderstehlicher Strenge« und zwingen ihm ihr Wirken auf, er muß sich aktiv mit ihnen auseinandersetzen. Bei Walter Benjamin werden wir sehen, daß die Idee der aktiven Auseinandersetzung mit den Wirkmächten einer solchen schicksalhaften Natur oder natürlichen Schicksalhaftigkeit eine wichtige Komponente seiner Interpretation darstellt. Ähnlich wie Goethes Ankündigung stellt also Abeken den Begriffscharakter von »Natur« heraus und macht ihn zu einer (abstrakten) Einheit, die es zu reflektieren gilt. Mitgeliefert wird dabei die Notion einer stets neu zu bestimmenden Stellung des Menschen innerhalb dieser Ordnung. Folgerichtig hebt Abeken immer wieder die »Sittlichkeit« der Charaktere hervor, die in Momenten – eben: schicksalhafter – Bedrängnis ihre »Würde« zu wahren wissen und sich an einem »höheren Leben« orientieren. In Bezug auf Ottilie spricht Abeken z. B. vom »selbstgeschaffenen Gesetz«, dem sie folge und so ihre Integrität bewahre. Die Argumentation der tieferen Sittlichkeit der Handlungsweise der Figuren ist denn auch besonders um die Figur der Ottilie angeordnet. Die Schlußbemerkung der hier zitierten Einleitung zeigt Abekens Bemühen, die unbedingte 330 Abeken, Fragmente, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 121f.
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Zuneigung, die der Roman schildert, durch den Vergleich mit der Naturgegebenheit der Elternliebe aus einem ebenso natürlichen Impuls zu erklären. Auch in der scheinbar beiläufigen Bemerkung, kein Leser könne sich dem Mitempfinden mit Figuren, die wie er »dem Loose unterworfen« seien, welches »die Liebe trifft«, entziehen, spiegelt sich dieser Vergleich mit dem Alltagsleben. Der beschwörende Ton der Versicherung wird zudem verstärkt durch eine Andeutung, deren Tragweite besonders die neuere Forschung herausstellt. Es geht dabei um die Rolle wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeit: Die neuere Naturlehre wird noch manches Geheimniß in Bezug auf den Menschen enthüllen, vor dessen Offenbarung dem grauen möchte, welcher die Kräfte der Natur nicht als lebendige und ewige erkennt, und welchen die Beobachtung der Menschen und ihrer Schicksale nicht gelehrt hat, daß etwas in ihrem tiefsten Innern liegt, was über jenen Kräften ist, was vielleicht einer höhern Welt angehört. – Das sind die heiligen hohen Gedanken, die im tiefsten Grunde der Seele entspringen, welche der Mensch mit freyer Gewalt festhält, die ihm ewig vorschweben als höchste Muster, als Sitte, als unveränderliches Gebot. Wo wir solche Gedanken wahrnehmen, da ist unser Interesse für den Menschen entschieden; und wenn der Gang der Dinge auf Erden und irdische Verhältnisse mit ihnen jene Gesetze der Natur in Streit bringen, der nicht rein zu schlichten ist, da werden wir zur höchsten Theilnahme bewegt.331
Die Überzeugung, daß die »neuere Naturlehre« auch wesentliche Aufschlüsse über menschliches Verhalten erlauben würde, ist nicht Gemeinplatz oder rhetorische Formel, sondern verweist auf einen zentralen Glauben an die Möglichkeiten der eben neu sich etablierenden und differenzierenden Disziplinen. Peter von Matt geht in seinem Essay zu den Wahlverwandtschaften332 dieser Machbarkeitsthese und den Erwartungen in die Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaft nach, wie sie bei Abeken angedeutet sind. Für von Matt ist es eine der Grundkonstanten der zeitgenössischen Sicht auf »Natur«-Phänomene, die Goethe wie eine Reihe anderer zentraler Autoren der Epoche verarbeitet. Diese Sicht bestimmt damit den zeitgenössischen Begriff von »Realität«, das soll im folgenden nachvollziehbar werden. Im Zentrum steht dabei das Phänomen des Mesmerismus, der als praktische Anwendung des sogenannten animalischen oder elektrischen Magnetismus galt; seine Rolle behandelt die neuere Forschung auch für die Wahlverwandtschaften intensiv, von Matts Essay beleuchtet sie eingehend, nimmt dabei aber einen besonderen Standpunkt ein.
331 Ebda., S. 122. 332 Peter von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten – Der Absolutismus der Liebe in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Heinrich Meier und Gerhard Neumann (Hrsg.), Über die Liebe. Ein Symposion, Piper Verlag, München 2001, S. 263–304.
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III. 4.2. Realität der Liebe um 1800: Natur, Wissenschaft, Fügung III. 4.2.1. Natur-Grund und semantische Doppelbödigkeit: Peter von Matt Neben den chemischen Versuchen, die der Roman in der berühmten Gleichnisrede anspricht, sind es nämlich vor allem die Ergebnisse der Erforschung der Elektrizität, die der Roman darstellt, allerdings weitgehend motivisch verschlüsselt333. Detailliert belegt von Matt Goethes aktive Auseinandersetzung mit dem Thema; für ihn beruht das Motiv der unerklärlichen Anziehung auf dessen genauer Kenntnis der kurz zuvor gemachten Entdeckungen der Elektrolyse und chemischen Elektrizität334. Diese Kraft wird einerseits an den Personen dargestellt, im Mittelpunkt steht hier natürlich die unwiderstehliche, stark körperliche Verbindung zwischen Eduard und Ottilie. Sie zeigt sich zu Beginn in der oft besprochenen Schilderung des beide heimsuchenden, sich ergänzenden Kopfschmerzes – Eduard leidet daran an der rechten, Ottilie an der linken Seite (I. Teil, 5. Kapitel) –, und am Ende in Form der im Roman als »fast magische Anziehungskraft« bezeichneten Attraktion, die Eduard und Ottilie immer unweigerlich nach kürzester Zeit im selben Raum des Schlosses zusammenführt (vgl. II/17). Das Phänomen der (elektro)magnetischen Anziehung ist aber nach von Matt auch an anderen Motiven des Romans abzulesen. Es erfaßt nicht nur Menschen, sondern scheint ein allgegenwärtiges Naturphänomen. So will der zur Vermessung des Landgutes zugezogene Geometer nicht mit dem modernen Theodolit (Instrument zur Horizontal- und Höhenwinkelmessung) arbeiten, sondern bedient sich, angeregt vom Hauptmann, der altmodischen Magnetnadel (Kompaß): »Das erste, was wir tun sollten,« sagte der Hauptmann, »wäre, daß ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnähme. Es ist das ein leichtes, heiteres Geschäft, und wenn es auch nicht die größte Genauigkeit gewährt, so bleibt es doch immer nützlich und für den Anfang erfreulich; auch kann man es ohne große Beihülfe leisten und weiß gewiß, daß man fertig wird. Denkst du einmal an eine genauere Ausmessung, so läßt sich dazu wohl auch noch Rat finden.« (WV 260)
Dazu von Matt: »Damit ist ein Stichwort gefallen, das vom leichten heiteren Geschäft senkrecht in die okkulte Mitte des Romans führt.«335 Der Hauptmann, heißt es im Roman, ist »in dieser Art des Aufnehmens sehr geübt«. Die naturwissenschaftlichen und -philosophischen Hintergründe, die zum Verständnis der Darstellung des Magnetismus in den Wahlverwandtschaften 333 Vgl. ebda., S. 277. 334 Vgl. ebda., S. 273ff. 335 Ebda., S. 272.
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notwendig sind, werden später auch anhand anderer Studien dargelegt. Ich folge aber zunächst der Argumentationslinie Peter von Matts, da sie direkt zur Frage der Naturkräfte als reell wirksame, unmittelbar auf den Menschen Einfluß nehmende Kräfte führt. Die beiläufige Motiveinflechtung, die soeben angedeutet wurde, ist dabei zentral. Von Matt setzt sie in Verbindung mit der Ambivalenz anderer Motive im Roman und sieht in ihr die Entsprechung zu einer wirksamen Strategie semantischer Mehrdeutigkeit. Ähnlich der auffälligen Wiederkehr der Dingmotive (Glas, Kästchen, (Toten-)Kapelle) werde mitunter geradezu überdeutlich mit der Überlagerung von Wortbedeutungen gespielt, die absichtliche Setzung von Wörtern verschiedener Lesart erschließt sich jedoch nicht immer dem ersten Blick. Anhand solcher Zweiklänge entwickelt von Matt seine These der grundlegenden Doppeldeutigkeit in den Wahlverwandtschaften. Allerdings, so zeigt er, muß man Goethe dabei auf die Schliche kommen. Von Matt belegt dies zunächst durchaus assoziativ. An den Beginn setzt er eine Beobachtung zum oben ausführlicher dargestellten Zwiegespräch zwischen Charlotte und Eduard zur Einladung des Hauptmanns. Als Charlotte von ihrer Vorahnung spricht, daß die Ankunft des Hauptmanns die Harmonie der Ehe stören könnte, fällt eine Bemerkung, die für von Matt exemplarisch ist. Dort heißt es, daß Eduard, indem er Charlotte antwortet, durch den Hauptmann würde nichts gestört, vielmehr alles »beschleunigt und neu belebt«, »sich die Stirne rieb« (vgl. WV 247). Von Matt verweist auf die Geste Othellos, der, als er den Verdacht schöpft, Desdemona könnte ihn betrügen, meint, er spüre bereits die Hörner des Betrogenen wachsen (»I have a pain upon my forehead, here.«, Othello III/3). Eine weitere Verbindung führt zu Kleists Zerbrochnem Krug, den Goethe wenige Wochen vor Beginn der Arbeit an den Wahlverwandtschaften zur Aufführung brachte. Rupert beschwört sich dort mit ähnlichen Worten selbst: »Noch wachsen dir die Hirschgeweihe nicht: – / Hier mußt du sorgsam dir die Stirn befühlen, / Ob dir von fern hornartig etwas keimt.«336 Und obwohl an diesen Querbezügen, so von Matt, nichts beweisbar sei außer der zeitlichen Nähe zur Aufführung des Stückes, sie vor allem viel zu drastisch erschienen im Zusammenhang der »gesitteten Konversation« dieses Paares, mache gerade dieser Widerspruch stutzig. Sind doch die Wahlverwandtschaften, so von Matt, »aufs unheimlichste« ein Ehebruchsroman ohne Eifersucht: Was sollte da ein versteckter Verweis auf den rasenden Othello, den Gnadenlosen, den Killer? Alles spricht dagegen, nur steht die Geste eben im Text. Sie irritiert, man vertreibt den Gedanken, er haftet trotzdem. Ist Eduard nicht auch ein Killer, viel gesitteter zwar, aber doch einer? Wird Ottilie nicht zu seinem Werkzeug, das in Trance seinen Wunsch erfüllt und das Kind tötet, telepathisch gelenkt? Läßt sie nicht, fremdgesteuert, das Steuerruder fahren und mit dem Steuerruder das Neugeborene, 336 Vgl. ebda., S. 266.
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die Frucht des doppelten Ehebruchs, an dem sie beteiligt ist, unschuldig und doch leibhaftig, durch den sie Mutter wird und dennoch Jungfrau bleibt, eine blasphemische Madonna? Liegt das Ungeheuerliche dieser Blasphemie wirklich so weit ab von der Ungeheuerlichkeit des schäumenden Othello, des zuckenden Epileptikers, der den Ritualmord an der weißen Unschuld vollzieht?337
Ein Parallelindiz für die Doppelbödigkeit der im Roman dargestellten Welt ergibt sich für von Matt aus einer Art Zweifachperspektive, die die Schilderung der eingeführten Verwaltungstechnik erschließe. Die Anstalten für Garten und Park stehen für von Matt vor dem Hintergrund des josephinischen Reformwillens, der in Preußen »vollenden wollte, was im Österreich Josephs II. noch gescheitert war«338. Sie werden durch die Erwähnung aufeinander bezogener Lokalitäten und der Ausblicke und Wege, die einen Ort mit einem anderen verbinden, dargelegt und so im Roman immer weiter entwickelt. Der geodätische »Landkartenblick senkrecht von oben« etabliert sich solcherart nach von Matt als Instrument der Erzählung, auch dann, wenn sie einen vor »herkömmlich aufgebaute, frontal betrachtete Landschaftsszenerien« stelle339. Auf diese Weise trete ein gedoppelter Blick zu den anderen Doppelungen im Roman. Dessen Thematik der Naturbeherrschung qua Landvermessung aber führe zur abgründigen Motivation der selbstgenügsamen Naturbeherrscher : Auf dem Höhepunkt der aufgeklärten Staatsverbesserung in Deutschland erzählt der Roman die Aporien der aufgeklärten Weltverbesserung. Ein Stück schöner Erde, bewohnt von einer Gruppe guter Menschen, soll beispielhaft in den Zustand der Vollkommenheit versetzt werden. Vollkommenheit als Produkt zivilisatorischer Arbeit, nicht als ekstatischer Sprung zurück in die Wildnis. Vollkommenheit als Ziel, nicht als Ursprung. Vollkommenheit als Ergebnis des rationalen Eingriffs in die Natur und der rationalen Planung des Zusammenlebens. Gepflegt sind die Gärten, gepflegt ist die Liebe. Hier wie dort waltet der taghelle Geist der Landvermesser. Wenn sich das Jenseits verflüchtigt, muß der Himmel auf der Erde eingerichtet werden.340
Dieses Bild aufgeklärt-utopischen Vernunftstrebens setzt von Matt parallel zur Komposition des Romans, bindet es aber gleichzeitig zurück an die Gegenbewegungen, die die semantische Ebene bestimmen. So scheint für ihn der »taghelle Geist eines Landvermessers« den Roman auch entworfen zu haben, die Erzählung selbst erscheine so gepflegt wie die Gärten und die Liebe. Nur daß man keinem Wort trauen kann. Der lauterste Sinn wird plötzlich zu seinem Gegenteil. Jedes Nomen entdeckt sich als ein Omen. Die Sprache dieses Romans bewegt sich im leichten Duktus der geselligen Konversation und ist zugleich dunkle, antike 337 338 339 340
Ebda., S. 266f. Vgl. ebda., S. 267f. Vgl. ebda., S. 268f. Ebda., S. 268.
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Orakelrede. […] Als Eduard sich die Stirne reibt, sagt er, durch die Gegenwart des Hauptmanns werde »alles beschleunigt und neu belebt«. Das ist ein freundliches Argument gegenüber der zögerlichen Charlotte, und es ist eine gnadenlose Vorhersage dessen, was tatsächlich geschieht. Denn neu belebt werden die tödlichen Leidenschaften, und beschleunigt wird der Sturz in die Katastrophe. Diese Präsenz des Ominösen in jeder verständigen Äußerung, diese Nachtseite jedes klaren Wortes überbrückt den scheinbaren Widerspruch zwischen der beherrschten Form des Romans und seiner haltlosen Tragik. Hinter der heiteren Rede kauert und lauert es wie die schwarze Phorkyas hinter der weißen Helena.341
Der Zwiespältigkeit der Motive begegnen wir auch in den Präsenspassagen. Wenn Charlotte ihr Kind auf den Tisch des Gartenhauses »als auf einen häuslichen Altar« (im 10. Kapitel des zweiten Teils) legt, hielte man die Anspielung ohne den Kontext ähnlicher Motivfallen für Zufall oder eine harmlose Wendung. Da der Roman aber solche Erlebnisse immer wieder bietet und besonders die Präsenspassagen immer wieder den Blick auf diese Untergründigkeit richten, liest man die Wahlverwandtschaften zunehmend als Einführung in die Kunst des double-bind. Ein Motiv, das diese Vielschichtigkeit demonstriert, ist die Szene im Wirtshaus, als Eduard den letzten Versuch macht, Ottilie für sich zu gewinnen (im 16. Kapitel des II. Teils). Auf den ersten Blick spricht die Stelle nur von der hoch emotionalen Szene zwischen Eduard und Ottilie und dem Kummer aller beteiligten Figuren. Dieser erfaßt auch die Wirtin, die Ottilie beizustehen versucht. Dennoch sperrt sie nicht nur Ottilies Kammer ab, vor der Eduard weint, sondern bietet ihm sogar den Schlüssel dazu an. Wohl fehlt der Hinweis auf ihre Verlegenheit nicht, doch enthält die Handlung der mitfühlenden Wirtin ein großes Fragezeichen. So gibt es immer wieder verblüffende Widersprüche zwischen der vordergründigen Geläufigkeit und Harmlosigkeit von Ausdrücken und Handlungen und den sich dahinter eröffnenden, oft in Wendungen versteckten Bildern. Das genaue Hinsehen wird auch so zum Thema. Die Doppelstruktur, die von Matt ausweist, spielt sich also auf mehreren Ebenen ab und das Hin und Her zwischen nachvollziehbarer Logik und den Hinweisen auf hineinversteckte342 Zusatzbedeutungen läßt die Frage nach der »Wirklichkeit«, die der Roman beschreibt, als dessen Dauerthema erscheinen. Diese stete Verunsicherung und strukturelle Hinterfragung des Dargestellten, der Antriebe und Sinnhaftigkeit 341 Ebda., S. 269. 342 Eine der ersten und am häufigsten zitierten Äußerungen Goethes zu den Wahlverwandtschaften ist eine Bemerkung in einem Brief an Zelter im Sommer vor Erscheinen des Romans, also als Goethe noch am Diktieren war (1. 6. 1809): »Ich hoffe, Sie sollen meine alte Art und Weise darin finden. Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.« Siehe Kommentar, HA, Bd. 6, S. 638.
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von Handlungsweisen, ist eine der hervorstechendsten Beschreibungsstrategien der Wahlverwandtschaften. Ich möchte daher bei von Matts Beobachtung der beiläufigen Nennung der Magnetnadel als Indiz der »okkulten« Motive im Roman einhaken und auf die Bedeutung der Stelle für die Logik der Figurenkonstellation hinweisen. Wie erwähnt, durchzieht das Motiv der Charakterzeichnung der Figuren die Präsenspartien im Roman, indem diese auf Abgründigkeiten in der Veranlagung der Figuren eingehen, also sozusagen auch die Nachtseite des jeweiligen Charakters aufzeigen. In diesem Kontext stellt sein Hinweis auf die Fähigkeiten des Hauptmanns eine wichtige Beobachtung dar. Daß gerade der Hauptmann sich des Gerätes bedienen möchte, das als das ungenauere gilt, kann als Hinweis gelesen werden, daß auch er ganz dem Kreis der rational-irrational agierenden Figuren angehört, aus dem er sich durch Intellekt und Vernunftbetontheit zu lösen scheint. So wie Charlottes Verstandeskraft betont wird, steht auch der Hauptmann gegenüber dem impulsiven Eduard für rationales Verhalten. Systematisieren, Verwalten, Ordnen sind seine Stärken und seine Tätigkeiten auf dem Schloß. Dies scheint ihn von den anderen Figuren des Quartetts zu scheiden, das hauptsächlich mit den Folgen der Gefühlsverwirrungen kämpft. Daß also die Vermessung des Geländes mit dem, wie von Matt zeigt, veralteten, aber eben magnetischen, also mit Naturkräften in Verbindung tretenden Gerät passiert, zieht den Hauptmann in den Kreis der anderen Figuren. Überdies fällt der Hinweis, daß diese Art der Aufnahme mehr Vergnügen bereite. Das dem angenehmen Zeitvertreib gewidmete Leben des Landadels aber ist das Kennzeichen Eduards und Charlottes, die ihre Ehe zwar ins Zeichen der Verbesserung ihrer Umgebung gestellt haben, aber dies hauptsächlich unter ästhetischem und unter dem Gesichtspunkt zerstreuender Beschäftigung betreiben. Der Hauptmann wird eingeladen, um dieses feudal-egoistische Leben zu verbessern, die Stelle bekräftigt damit, daß seine und Eduards Aktivitäten in erster Linie der vergnüglichen Lebensart und den aufs Jetzt gerichteten Plänen der aktuellen Generation dienen und nicht so sehr der nachhaltigen Verbesserung des Gutes. Nicht zuletzt zieht der Graf den Hauptmann aus diesem Grund vom Gut ab und in einen öffentlichen Wirkungsbereich, wodurch er sich den Rang des Majors erarbeitet. Daß er, der rationale Beamte also, wie Friedrich Kittler ihn zeichnet (vgl. III. 4.2.7.), nicht die verläßlichere, sondern die vergnüglichere Methode wählt, zeigt seine Einordnung in das zeit- und weltabgewandte Gutsleben ebenso wie die berühmte Szene der stehengebliebenen Sekundenuhr. Seine Geübtheit im Umgang mit der magnetischen Nadel als Instrument der Aufnahme kann man so nicht nur als Zeichen der arationalen Anteile lesen, die auch seinen Charakter bestimmen, sondern sie ordnet ihn letztlich der veraltenden Lebensart der Gutsbesitzer zu. Für von Matt führt das Motiv in die »okkulte Mitte«, und mit
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Brinkmann könnte man es als Wirken des Dämonischen sehen, dessen Schicksalsmacht auch der Hauptmann unterliegt. Über die angeführte Szene hinaus, in der die Nennung des Magnets mit Bezug auf ein konkretes technisches Können verwendet wird, kann es also auch auf die gleichsam übersinnlichen Fähigkeiten des Hauptmanns bezogen werden. Diese machen ihn im Kreis der tragischen Dreierkonstellation zum Helfer, aber nicht nur in Form der unvollendeten Arbeiten mit dem Ergebnis der Vergeblichkeit. An den Präsenspassagen im 13. Kapitel des ersten Teils ist zu zeigen, daß die Fähigkeiten des Hauptmanns früh in die Perversion geraten, denn unter Eduards Antrieb dienen sie vor allem dazu, die Lage zu verschlechtern. Von Matts Deutung der Formel der Beschleunigung und Neubelebung durch den Hauptmann als eigentliche Vorausdeutung der Beschleunigung des Untergangs, kann so nur zugestimmt werden (vgl. dazu »Beobachten, Beschleunigen« in Kap. V. 2.). Ein weiteres Indiz weist in diese Richtung. Das Motiv der Anziehungskraft zwischen Eduard und Ottilie hat ein Gegenbild in der Szene nach dem Kindstod. Der Hauptmann trifft genau an dem Abend, an dem das Kind stirbt, bei Charlotte ein. Eigentlich soll er Eduards Scheidungsantrag überbringen, als er aber hört, was passiert ist, bleibt er bei Charlotte. Die ganze Nacht sitzen sie schweigend »gegeneinander über«, ähnlich wie Eduard und Ottilie in den Schlußszenen, erst in der Morgendämmerung fragt Charlotte: »[…] durch welche Schickung kommen Sie hieher, um teil an dieser Trauerszene zu nehmen?« (WV 459) Auch der Hauptmann scheint hier keineswegs zufällig im Moment eingetroffen zu sein, als Charlotte ihn braucht. Gemäß seiner Anlage und Rolle ist es der Moment, in dem er als Helfer fungieren kann. Der Doppelsinn der »Schickung« (Fügung des Schicksals/Gesandter Eduards) ist dabei ein gutes Beispiel für die dargelegte strukturelle Zweideutigkeit der Wort- und Motivverwendung im Roman. Ihr begegnen wir in den Präsenspassagen nicht nur in der Form sehr drastischer Bilder, sondern auch dann wieder, wenn diese um die Unterlassung zentraler christlicher Tugenden wie jene der Barmherzigkeit und der caritas kreisen. Die Dramaturgie der Beschleunigung der Ereignisse betont eine durch den jungen, mit Goethe befreundeten Kunsthistoriker Sulpiz Boisser8e tradierte Bemerkung, die die rasche Zuspitzung des Endes herausstreicht. Sie wird zumeist nur in dem kurzen Ausschnitt zitiert, der ihren Zusammenhang mit den Wahlverwandtschaften erkennen läßt. Ihr Kontext gibt aber noch einmal Einblick in eine sehr konkrete Auffassung der Wechselwirkungen zwischen Menschen und Naturmächten. Diese stehen in auffallender Nähe nicht nur zum Dämonischen, sondern auch zum Phänomen des Magnetismus: Vor Tisch schon rühmte G.[oethe] daß er wohlgetan nach Karlsruhe zu gehen, sich von dem Herzog influenzieren zu lassen. – er lasse sich ohnehin leicht bestimmen; und vom
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Herzog gern. denn der bestimme ihn immer zu etwas Gutem und Glücklichen, aber Einige Personen sei[e]n, die einen ganz unheilbringenden Einfluß auf ihn hätten. Lange habe er es nicht j gemerkt. Immer wenn sie ihm erschienen sei ihm auch ganz unabhängig von ihnen irgend etwas Unangenehmes Trauriges oder Unglückliches begegnet. Alle determinierte/entschiedene Naturen seien ihm glückbringend, so auch Napoleon. – Ich drang näher in ihn ob dergleichen Unglücks-Boten etwa in der Nähe wären; »nein«, sagte er, aber wenn es einmal der Fall sein würde versprach er mirs zu sagen. – Ich sprach von Aber-Glauben – wie man sich bei aller Anerkennung des Geheimsnisvollen im Leben davor zu hüten. Und er war einig, daß man nur soviel darauf geben müsse, um Ehrfurcht vor der uns umgebenden geheimnisvollen Macht in allem zu haben und zu behalten, welches eine Haupt-Grundlage wahrer Weisheit. – Unterwegs kamen wir dann auf die ›Wahlverwandtschaften‹ zu sprechen – Er legte Gewicht darauf wie rasch und unaufhaltsam er die Catastrophe herbeigeführt – die Sterne waren aufgegangen – er sprach von seinem Verhältnis zur Ottilie, wie er sie lieb gehabt, und wie sie ihn unglücklich gemacht. Wurde zuletzt fast rätselhaft ahndungsvoll in seinen Reden.343
Die »Ehrfurcht vor der uns umgebenden geheimnisvollen Macht« oder auch die »Präsenz des Ominösen«, wie es oben bei von Matt heißt, weisen in den weiten Zusammenhang der Goetheschen Naturauffassung. Heinz Schlaffer faßt sie in die kurze Formel: »Man kann Goethes Vorliebe fürs Ominöse nicht als poetische Lizenz abtun; denn sie prägt seine Lebensweise wie seine ›Weltanschauung‹.«344 Diese Auffassung ist geprägt von einem Schichtenmodell der physischen und metaphysischen Kräfte. III. 4.2.2. Naturmystik und -wissenschaft: Eduard Spranger Im Besonderen ist es die Kategorie des Dämonischen, deren Einordnung in dieses Modell uns hier interessiert. Es stellt eine eigene Stufe im Schichtenmodell dar, das hier nur skizziert werden kann. Eduard Spranger345 deutet Goethes Darstellung der Entstehung dieses Weltbildes in Dichtung und Wahrheit als Entwicklung seiner frühen Jahre in Frankfurt, die unter dem Zeichen der intensiven Beschäftigung mit dem Pietismus stehen. Ich gebe hier lediglich einige Ausschnitte aus Sprangers Beschreibung wieder, die zeigen, in welchen größeren Zusammenhang Begriffe wie der des »Göttlichen« einzuordnen sind. Der Be343 Sulpiz Boisser8e, Tagebücher 1808–1854, Bd. I: 1808–1823, Eintragung vom 5. Oktober 1815, S. 281. 344 Heinz Schlaffer, Goethes Versuch, die Neuzeit zu hintergehen, in: Paolo Chiarini (Hrsg.), Bausteine zu einem neuen Goethe, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 9–21, hier S. 11. 345 Vgl. Eduard Spranger, Goethes Weltanschauung, Vortrag, gehalten am 28. Juni des GoetheFestjahres 1932 in der Neuen Aula der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, in: Ders., Goethe – seine geistige Welt, Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen 1967, S. 275–317, hier S. 277f.
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deutungsumfang solcher Konzepte bestimmt sich aufgrund ihres Anteils an dieser Ordnung und steht im Kontext aller mit der organischen Natur sich befassenden Überlegungen Goethes. In diesem Anschauungssystem klingen Motive an, die deutlich den atmosphärischen Untergrund zu den Wahlverwandtschaften bilden. Zu verfolgen wäre besonders das Moment der Hybris, der, wenn auch unbewußten, Auflehnung gegen eine Ordnung, die mit der Natur den Menschen umfaßt und diesen zu einem Element in einem System werden läßt, dessen gleichsam per se moralische Harmonie zu erkennen Aufgabe und Pflicht des Individuums ist. In auffallender Weise ordnet übrigens der Roman diesen Erkenntnisprozeß zuerst den weiblichen Protagonisten zu, indem Ottilie ihren Schuld-Anteil am Geschehen in der oft zitierten Formel »Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten […]« (WV 462) anerkennt und bewusst ihr Verhalten Eduard gegenüber ändert; Charlotte thematisiert am Totenbett des Kindes in ganz ähnlicher Weise ihre Versäumnisse als Schuldbekenntnis, indem sie von ihrem »Zaudern« und »Widerstreben« spricht, »gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt« (WV 460), rechtzeitig als unausweichlich zu erkennen. Dieser Jugendmythos ist ein seltsames Gemisch von Religion, Philosophie und scheinbar spielender Phantasie. […] Denn die Weltentstehungslehre, wie sie der junge Dichter sich zurechtlegt, bedient sich durchaus neuplatonisch-gnostischen Erbgutes: sie erzählt von der Abfolge schöpferischer Wesen und erweitert sich dann zu einem typischen Ausstrahlungssystem (Emanationssystem). Als Anfang setzt Goethe die Gottheit, die sich von Ewigkeit her selbst erschafft. Ihr zur Mannigfaltigkeit drängender Schöpfertrieb bringt zunächst den Sohn hervor und spiegelt sich dann mit ihm im dritten Urprinzip, dem Geist. In dieser sich selbst genügenden Dreieinigkeit ist der Kreis der Gottheit beschlossen. […] Der Jugendmythos enthält wie im Keim Goethes ganze künftige Weltanschauung. Das heißt: er deutet das Gerüst an, das immer irgendwie im Hintergrunde des Bewußtseins liegt und die Ausdrucksweise, die Wahl der Bilder und Symbole bestimmt. Dürfte man Goethe einer Schulphilosophie zurechnen, so müßte man sagen, daß er Neuplatoniker sei. In den Neuplatonismus ist bekanntlich auch viel aristotelisches Gedankengut mit eingegangen. Die deutsche Mystik paßt ihre Bilder und Ausdrücke großenteils demselben Grundschema an. Goethe hat sie vor allem in der naturphilosophischen Weiterbildung des 16. und 17. Jahrhunderts gekannt: es war die Faustische Epoche deutschen Denkens und Glaubens. […] Die Welt im engeren Sinne, als geschaffene, an die Materie gebundene, heißt Natur. Wilhelm von Humboldt hat es zuerst gesehen, daß die drei inneren Berufungen Goethes: als Dichter, als Naturforscher und als Zeichner, aus einer metaphysischen Lebenswurzel stammen. Denn das dichterische Gemüt ist dem Kosmos verwandt: es trägt dieselben bildenden Gesetze in sich, die die göttliche Natur durchwalten. Es bemächtigt sich ihrer unmittelbar an und in den sinnlich-sichtbaren Erscheinungen. »Hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben.« Wer aber mit dem inneren Auge schauen will, muß zugleich das äußere schulen. Denn überall herrscht das gleiche gestaltende Gesetz. Schon wunderbar verschlungen äußert es sich auf der Stufe des Organischen. An der organischen Natur übt
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sich der Dichter, um Gestalten der beweglicheren seelischen Welt nach ebenfalls organischer Ordnung bilden zu können. So erweist sich die Natur als eine Stufenordnung, in der von Region zu Region die Gesetze sich komplizieren, ohne daß doch die der unteren in den höheren durchbrochen werden müßten. Sie alle sind ja nur Symbole der überall durchscheinenden göttlichen Schöpferkraft.
Das Göttliche Das Dämonische Menschenwelt Tierwelt Pflanzenwelt Gesteine Man wird nun verstehen, weshalb Goethe auf jeder dieser Stufen liebevoll verweilt: er will aus ihrer Gesamtheit »die Breite der Gottheit« lesen. Die unterste Region ist die der Steine; es folgt die der Pflanzen, dann die der Tiere; im Menschen gipfelt die Natur. Aber damit ist die Stufenordnung nicht erschöpft. Denn Goethe dichtet über den Menschen noch Dämonen – sagen wir vorsichtiger: das Dämonische. An der Spitze der Weltpyramide steht Gott – wir wollen auch hier zunächst zurückhaltender sagen: das Göttliche. Dieses Weltbild ist uralt. Man staunt, wie systematisch es Goethe festhält und durcharbeitet. Aber bei aller Fülle seiner Empirie sind es doch nur gewisse, geistvoll erhaschte Urphänomene, die ihn auf jeder Stufe interessieren.346
Spranger stützt sich in seiner Deutung der Naturmystik Goethes hauptsächlich auf lyrische Äußerungen. Eine Darstellungsweise, die sich dagegen konkreter auf die einzelnen Werke bezieht und auf dieser Basis das Ineinanderfließen der naturwissenschaftlichen und der künstlerischen und poetologischen Ansätze herleitet, die Goethes Schreiben bestimmen, findet sich, wie oben gezeigt, bei Grete Schaeder (Kap. III. 2.2.1).
III. 4.2.3. Literarische Umsetzung: Figuren der Anziehung und Abstoßung Bei der zeitlichen Überschneidung der Entstehung der Wahlverwandtschaften und Goethes Auseinandersetzung mit den aktuellsten Entwicklungen und Entdeckungen der Physik und Chemie setzt auch Peter von Matts Blick auf die Hintergründe der Gefühlsattraktion an, die im Roman als Gedankenübertra346 Ebda., S. 278ff.
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gung und Seelensteuerung inszeniert wird. Es lohnt sich, seiner minutiösen Datenzusammenstellung zu folgen, da es sich beim Motiv der magnetischen Anziehung um einen Themenkomplex handelt, der, wie von Matt ausführt, die Epoche untergründig bestimmt, zum Vergleich werden Kleists Käthchen von Heilbronn, fast zeitgleich mit den Wahlverwandtschaften entstanden, und E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi herangezogen. Bei Hoffmann steht bekanntlich das Unheimliche am Phänomen der unbewußten Anziehung, jener von Gegenständen, Metallen und Edelsteinen, im Zentrum. Von Matt lenkt vor allem den Blick auf die immense Wirkung der vom Impuls der Begeisterung über die neuen Erkenntnisse getragenen Erwartungen an die Wissenskultur der Aufklärung. Diese läßt sich für ihn auch weit über die Epoche hinaus dokumentieren347. Für unseren Zusammenhang ist dabei der entscheidende Punkt jener, der auch bei Grete Schaeder anklingt348, die Analogie zwischen den Kräften, die den Menschen, und jenen, die den Rest der natürlichen Erscheinungen bestimmen: der menschliche Körper, die Physis, ist ebenso ein Körper wie es physikalische Körper sind. Wenn aber, so die weitgreifende Konsequenz, die seelischen Kräfte, die zum menschlichen Körper dazugehören bzw. Teil der menschlichen Natur sind, ebenso den Naturgesetzen unterliegen, rückt damit ein potentiell entschuldbares Subjekt und die Frage nach dessen moralischer Schuldfähigkeit in den Mittelpunkt. Tatsächlich wird ja die Besessenheit des mordenden Goldschmieds Cardillac auch als quälender, aber unüberwindlicher Abgrund seiner Psyche dargestellt, dem er ohne die Möglichkeit moralischer Wahl, also ohne Willensentscheidung und mit der Konsequenz größter seelischer Not ausgesetzt ist. Für unseren Zusammenhang ist also zu vergegenwärtigen, daß die Wahlverwandtschaften vor diesem Hintergrund der Neudefinition der Schuldfrage stehen. Wie erwähnt, belegt von Matt sehr detailliert die Beschäftigung Goethes mit den Bedingungen und Erscheinungsweisen der magnetischen Kräfte. Kein Beweis, so von Matt, lässt sich dafür führen, dass, entlang der steten Verunsicherung in der Zweideutigkeit der Motive, »jenes Wort von der »Magnetnadel«« (vgl. oben III. 4.2.1.) tatsächlich als Teil der tiefgründigen Orakelrede das »schwere Geschick« der magnetischen Anziehung der Paare vorauszeichne: Aber daß der Roman aus dem Nachdenken über die magnetische Kraft entstanden ist, dafür gibt es Belege. Die erste Erwähnung des Projekts, damals noch als Novelle gedacht, findet sich im Tagebuch vom 11. April 1808. Unmittelbar vorher, vom 6. bis 8. April, hat Goethe mit dem Physiker Seebeck zusammen einige Vorlesungen gehalten 347 Von Matt verweist dabei vor allem auf Schopenhauer, vgl. Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 287f. 348 Vgl. Schaeder, Gott und Welt, bes. S. 286f.
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über Elektrizität und Magnetismus. Dazu sind Stichworte erhalten, vom 6. April, aus denen hervorgeht, daß er über den Magneten und seine Geschichte gesprochen hat und daß er dabei auch zeitgenössische naturphilosophische Themen erwähnte, in denen die Liebe mit dem Magneten nicht nur metaphorisch verglichen, sondern als wesensverwandt erklärt wurde. »Wernerische Liebes Theorie« heißt eines der Stichworte. Das nächste lautet »Vereinigung mit Gewalt«. Das übernächste: »Romanen Motive«.349
Mit der »Wernerischen Liebes Theorie« sind die Thesen des romantischen Dramatikers Zacharias Werner gemeint, die in spekulativer Weise Theorien von Jakob Böhme, Schelling, Novalis und Schleiermacher zusammensehen und als Ziel der menschlichen Existenz die »Vermischung« mit dem Universum angeben. In der Liebe sieht Werner den »Leiter« (im elektrischen Sinn) für diese Vereinigung. Von Matt verweist dabei eindringlich auf den engen zeitlichen Zusammenfall der »ersten Schematisierungsarbeit am Plot der Wahlverwandtschaften« und Goethes öffentlich vorgetragenen Überlegungen zur Frage der Parallelen zwischen »den anorganischen und den zwischenmenschlichen Anziehungskräften« und den Romanmotiven, die daraus zu entwickeln seien: Gleichzeitig ging es um das brandneue Phänomen der Elektrolyse: Bestimmte Stoffe werden durch die chemisch erzeugte Elektrizität mittels der Volta-Säule zersetzt, und aus der Zersetzung entstehen neue Elemente, zum Beispiel Natrium und Kalium. Dieses Verfahren war kurz zuvor vom Engländer Humphry Davy publik gemacht worden, und der Physiker Seebeck hat es bei Goethe zu Hause mehrfach durchgeführt. Grundstürzend neu daran war zweierlei. Zum ersten die Tatsache, daß Elektrizität hier nicht, wie es bisher ausschließlich geschah, durch Reibung, nicht durch eine mechanische Aktivität also, erzeugt wurde. Elektrischer Strom ließ sich produzieren durch eine rein chemische Installation. Alexander Volta hatte das acht Jahre zuvor entdeckt und bekanntgemacht in der Schrift On the Electricity Excited by the Mere Contact of Conducting Substances of Different Kinds, erschienen in London 1800. Die chemische Versuchsanlage bestand aus einer Säule aus Kupfer- und Zinkplatten, die getrennt waren durch mit Salzlösung getränkte Kartonstücke. Aus dem Kontakt zwischen diesen Stoffen entstand Elektrizität. Es war die erste Form dessen, was wir heute eine Batterie nennen. Und es war – was man damals noch nicht wissen konnte – die Geburtsstunde einer neuen technischen Zivilisation. Neben diese beim Beginn der Romanarbeit acht Jahre alte Entdeckung trat nun unmittelbar vor dem Beginn und als dessen Auslöser die zweite: daß mit dieser Art von Elektrizität Elemente zersetzt und neue Elemente geschaffen werden konnten. Goethe fieberte in den Monaten Februar und März 1808 der Vorführung des Experiments in Weimar förmlich entgegen. Schon am 24. Februar stellte er Caroline von Wolzogen in Aussicht, sie könne »vielleicht bald jene famosen Versuche von Davy mit Augen sehen«. Am 6., 7. und 8. April war es endlich so weit. Und am 11. April notierte Goethe die ersten Stichworte zu den Wahlverwandtschaften. Was
349 Von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 273f.
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er dabei vor Augen hatte, war der Prozeß der elektrolytischen Auflösung und Neuschaffung von Elementen.350
Diese Herleitung, der von Matt so genau nachgeht, mag auch ein Licht auf die Figurenkonstellation werfen. Die Experimentanordnung, mit der »die Personen nur in Gruppen einander entgegengestellt sind«, wie es in einem Brief des Schriftstellers und Musikkritikers Johann Friedrich Rochlitz an Goethe heißt351, wird vor diesem Hintergrund der Elementlehre, in der es vor allem um die Neuschaffung von Elementen geht, klarer. Dies trifft besonders den unerbittlichsten Moment ihrer Entfaltung, den Tod des Kindes. Das Motiv der magnetischen Wirkung fließt auf vielerlei Weise in die Gestaltung ein und kann an zwei Beispielen näher gezeigt werden. Spezifisch lesbar ist in diesem Zusammenhang die Figur des Mittler, dessen Auftreten einige Paradoxien birgt. In der älteren Literatur tendenziell als Sprachrohr des Autors und als Position einer strengen Verteidigung der Ehe gelesen, wird er in der neueren Literatur zumeist als gänzlich ironisch gemeinter, blindwütiger Dogmatiker gesehen, der unwillkürlich zum Auslöser der Katastrophen wird.352 Als gleichsam direkt aus dem skizzierten Zusammenhang 350 Ebda., S. 274f. 351 Brief vom 5. November 1809, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 68. Vollständig lautet der Satz: »Bewundernswerth und äußerst kunstreich finde ich dabey, daß die Personen nur in Gruppen einander entgegengestellt sind; daß nun die Theile jeder Gruppe, wie billig, einander nicht wenig verwandt, und doch so weit, so sicher, so consequent geschieden sind, ja auch in dieser Verschiedenheit wieder so geistreich u n t e r sich gruppirt erscheinen.« Anhand der Irritation, die der Roman ausgelöst hat, könnte man vermuten, dies sei als verfremdende Konstruiertheit aufgenommen worden, auch Rochlitz betont aber wie andere Quellen die Lebensnähe der Schilderung: »Im Einzelnen, die Situationen – sie sind so natürlich nicht nur gewählt, sondern auch herbeygeführt und hingestellt, daß man sie täglich selbst zu erwarten sich berechtigt glaubt, und eben dadurch noch mehr, eben dadurch wahrhaftig unwiderstehlich in sie hineingezogen wird. Selbst das Schwierigste und Häkelichste in der Behandlung ist da mit einer Vollständigkeit, Fülle und Gegenwart, und doch zugleich mit einer Delikatesse gegeben, welche vereint noch kein Romandichter, außer Ihnen erreicht hat.« 352 Der m.W. vehementeste Vertreter der These, daß Goethe in Mittler seine eigene Anschauung zur Ehe niederlegt, war Eckermann. In seinen in der Einleitung zitierten »Bemerkungen über Goethe’s Wahlverwandtschaften« in den Beyträgen zur Poesie von 1824 (Stuttgart, Cotta) zeichnet er ein eindeutiges Bild der Intentionen Goethes in Bezug auf die Vermittlung moralischer Inhalte. »Die Meinung des Dichters«, so Eckermann, lasse sich nicht aus den Aussprüchen »einzelner Charactere« erschließen, sondern gebe sich im »Ausgang der Handlung, des Ganzen« kund: »Will der Dichter zeigen, wie eine unglückselige Handlung aus Mängeln oder Irrthümern der Charactere hervorging, so muß er, um diese Handlung vor unseren Augen als natürlich und nothwendig entstehen zu lassen, den Weg rückwärts machen, und die Charactere in ihren Mängeln und Irrthümern darstellen. Demnach werden diese häufig Ansichten des Lebens aussprechen, die ihrer eigenen Natur gemäß, aber keineswegs Meinungen des Dichters sind. Der Dichter will vielmehr solche Ansichten entschieden abgelehnt wissen, er will davor warnen, deshalb zeigt er uns wohin
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gestiegen, mag die Figur und mögen die Paradoxien um die Figur aber als weniger widersprüchlich erscheinen. Mittler, bei seinem ersten Auftritt zuerst aus Eduards Mund als »Der drollige Mann!« (vgl. WV 253) und dann vom Erzähler als »der närrische Gast« (vgl. WV 254) eingeführt, könnte mit dem Wort aus der chemischen Gleichnisrede als tatsächlichen »Scheidekünstler« (vgl. WV 273; Berufsbezeichnung der Chemiker) bezeichnen. Sein Erscheinen öffnet im Roman immer wieder den Verlauf zum Negativen hin, vor allem, wenn andere Figuren hinzukommen. Seinem ersten Auftauchen in der Mitte des zweiten Kapitels, als Eduard und Charlotte nach tagelangen Gesprächen noch immer zu keiner Einigung betreff der Einladung des Hauptmanns gekommen sind (worauf Mittler sich paradoxerweise für nicht zuständig erklärt – also gleichsam an der falschen Stelle neutral bleibt?), diesem ersten Auftauchen folgt die Entscheidung für die Einladung des sie führen. Solcher Art sind die in den Wahlverwandtschaften über Tisch ausgesprochenen Ansichten des Grafen über die Ehe.« (S. 151f.) Die »Herzensmeinung« des Dichters, so Eckermann, lasse sich an denjenigen Ansichten einer Figur ablesen, welche der »Tendenz des ganzen dichterischen Werks« am meisten entsprechen. So seien die Ansichten keiner Figur der »Tendenz des Ganzen gemäßer« als eben die Mittlers, die mithin als die »wahre Herzensmeinung« Goethes anzusehen seien: »Denn die höchstsittliche Tendenz des ganzen Romans spricht die Warnung aus: das Geheiligte des Ehestandes nicht anzutasten und dagegen auf keine Weise zu freveln. Und wie nun der ganze Roman diese Warnung durch lebendige Darstellung, durch den Untergang geliebter Personen, höchst ergreifend und erschütternd ausspricht, so thut dieses auch Mittler als einzelnes Individuum, und zwar durch das Wort.« (S. 153) – Ob Eckermann mehr gegen eigene Zweifel argumentiert oder gegen eine 15 Jahre nach Erscheinen des Romans nach wie vor moralkritische Haltung der Leserschaft vorgehen möchte, wage ich nicht zu beurteilen. Daß ihn erstere beschäftigt haben müssen, geht aber zumindest aus einer Anmerkung in den Gesprächen vom 30. März 1824 hervor: »Wir kamen sodann auf die ›Wahlverwandtschaften‹ zu sprechen, und Goethe erzählte mir von einem durchreisenden Engländer, der sich scheiden lassen wolle, wenn er nach England zurückkäme. Er lachte über solche Torheit und erwähnte mehrere Beispiele von Geschiedenen, die nachher doch nicht hätten voneinander lassen können. »Der selige Reinhard in Dresden«, sagte er, »wunderte sich oft über mich, daß ich in bezug auf die Ehe so strenge Grundsätze habe, während ich doch in allen übrigen Dingen so läßlich denke.« Diese Äußerung Goethes war mir aus dem Grunde merkwürdig, weil sie ganz entschieden an den Tag legt, wie er es mit jenem so oft gemißdeuteten Romane [den Wahlverwandtschaften, I.R.] eigentlich gemeint hat.« Siehe Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Neue Ausgabe, Herausgegeben von Fritz Bergemann, Insel Verlag, Wiesbaden 1955, S. 99. – Zur neueren Thematisierung von Mittler als zwiespältiger Gestalt vgl. außer Peter von Matt u. a. Heinz Schlaffer, Namen und Buchstaben in Goethes »Wahlverwandtschaften«, in: Norbert W. Bolz (Hrsg.), Goethes Wahlverwandtschaften – Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Verlag Gerstenberg, Hildesheim 1981, S. 211–229, hier S. 218f., außerdem Hartmut Böhme, »Kein wahrer Prophet« – Das Zeichen und das Nicht-Menschliche in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, in: Gisela Greve (Hrsg.), Goethe. Die Wahlverwandtschaften, edition diskord, Tübingen 1999, S. 97–123, hier S. 109f., und Hermann Beland im selben Sammelband, S. 88, außerdem Joseph Vogl, Mittler und Lenker – Goethes Wahlverwandtschaften, in: Ders. (Hrsg.), Poetologien des Wissens um 1800, Fink Verlag, München 1999, S. 145–161, hier S. 150.
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Hauptmanns, obwohl Charlottes Reaktion auf Mittlers Abgang noch den Kern ihrer ursprünglichen Überzeugung enthält: »Hier siehst du,« sagte Charlotte, »wie wenig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im Gleichgewicht steht. Gegenwärtig sind wir doch wohl noch verworrner und ungewisser, wenns möglich ist, als vorher.« (WV 256)
Schon in Vorausdeutung des Motivs der chemischen Paarung wird also hier Mittler als der »Dritte« bezeichnet, der das Ungleichgewicht zwischen den beiden nur verstärkt. Es wird auch gleich klar, in welcher Weise er letzteres bewirkt: er schwächt Charlottes Widerstand, den sie bisher trotz der fordernden Ungeduld oder dem Schmeicheln ihres Mannes aus eigener Stärke aufrechterhalten hat. Freilich wird auch noch ein drängendes Moment an diesem Punkt der Handlung eingefügt. Ein Brief des Hauptmanns trifft ein, der klar macht, daß er kurz davor steht, aus finanzieller Bedrängnis eine für ihn ungeeignete Stelle anzunehmen, sich also in jene Konstellation zu begeben, vor der ihn Eduard gerade bewahren will. Aber man stößt in Charlottes Antwort auf Eduards Ausruf, es wäre grausam, den Freund so bedrängt zu lassen, wiederum auf die Beschreibung der inneren Wirkung, die in den genannten Kontext gehört: »Der wunderliche Mann, unser Mittler,« versetzte Charlotte, »hat am Ende doch recht. Alle solche Unternehmungen sind Wagestücke. Was daraus werden kann, sieht kein Mensch voraus. Solche neue Verhältnisse können fruchtbar sein an Glück und an Unglück, ohne daß wir uns dabei Verdienst oder Schuld sonderlich zurechnen dürfen. Ich fühle mich nicht stark genug, dir länger zu widerstehen. Laß uns den Versuch machen! Das einzige, was ich dich bitte: es sei nur auf kurze Zeit angesehen. Erlaube mir, daß ich mich tätiger als bisher für ihn verwende und meinen Einfluß, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm eine Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige Zufriedenheit gewähren kann.« (WV 256f., Kursivierung I.R.)
Auch Mittlers zweites Auftreten in der Mitte des neunten Kapitels wird von Beschreibungen ähnlicher Art, die als Wirken der magnetischen Kräfte gelesen werden können, begleitet. Insgesamt wird der Charakter Mittlers als mit starken, eindeutigen Abneigungen und Vorlieben ausgestattet gezeichnet. Im Sinne des Vergleichs zur Chemie müßte man ihn als stark wirkendes, quirliges Element deuten, das wie das in der Gleichnisrede genannte Quecksilber überall und nirgends zugleich ist353. Er taucht unvermutet auf, ist immer in Bewegung und 353 Heinz Schlaffer zieht diese Parallele aus der Perspektive des Figurenvergleichs zur Mythologie. Er interpretiert Mittler als Hermes und stellt so den Konnex zur Alchimie her : Mercurius, Quecksilber ist das dem Hermes zugeordnete Element und wird als quinta essentia benötigt, um aus der Verbindung der anderen vier Elemente den »Stein der Weisen« zu gewinnen, vgl. Heinz Schlaffer, Namen und Buchstaben in Goethes »Wahlverwandtschaften«, S. 218.
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meist nervös. So unterscheidet sich sein zweites Auftreten deutlich vom ersten, mehrmals wird erwähnt, wie langsam er herankommt, hier tritt er nicht mit der ihm wesenseigenen Ungeduld auf. Dieses Mal kommt er außerdem zu einem ihm sonst fremden Zweck, er möchte Charlottes Geburtstag mit den Freunden nachfeiern, um auch einmal aus angenehmen Gründen Gast zu sein. Dieser Plan geht nicht auf, in dem Moment, als er von der kurz bevorstehenden Ankunft des neuen Paars hört, wird er wie von der Tarantel gestochen aus seinem »trägen« Zustand katapultiert: »Aus der Mitte der vier Hausgenossen, die den seltsamen, willkommenen Mann umgeben hatten, fuhr er mit verdrießlicher Lebhaftigkeit heraus, indem er sogleich nach Hut und Reitgerte suchte […]«. An dieser Stelle läßt Mittler in einiger moralischer Empörung seine oft zitierte Grundsatzverteidigung der Ehe vom Stapel (»[…] wer mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu tun«), worauf er, gemäß seinem Charakter, aus dem herausgetreten zu sein er sich selbst beschuldigt, wiederum »verdrießlich« davonreitet. Dabei vermeidet er sorgfältig die Begegnung mit den eben eintreffenden Gästen, dem Grafen und der Baronesse. Diese Szene schildert also eine gleichsam elektrische Aufladung, ihr geht jene erste voran, bei der sorgsam auf Mittlers heftige Abscheu davor, den Kirchhof mit den Gräbern zu betreten, hingewiesen wird: »Hier herein«, rief der Reiter, »komm ich weder zu Pferde, noch zu Wagen, noch zu Fuße. Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu schaffen. Gefallen muß ich mirs lassen, wenn man mich einmal, die Füße voran, hereinschleppt. Also ists Ernst?« (WV 254)
Mittler versäumt nicht zu erwähnen, daß die friedvoll Ruhenden nicht sein Element seien, sondern nur jene, die in Not und Aufregung sind; mehr als einmal äußert er sich in dieser Richtung. Im Zusammenhang der Motivik von Anziehung und Abstoßung wirkt sein Verhalten, das auch als Zeichen eines widersprüchlichen Aberglaubens interpretiert worden ist354, jedoch nur folgerichtig. Wie eine ironische Zugabe wirkt daher hier die Wendung »die Füße voran«: nur wenn man ihn umgekehrt, also mit den Füßen zuerst, hereinträgt, ist Mittler gleichsam zu »neutralisieren«, sodaß er in die Umgebung der Ruhenden paßt. Das Wissen um seinen »Charakter« ist es demgemäß auch, das ihn umkehren läßt, als er von der Ankunft der Baronesse und des Grafen hört. Sie sind damit ebenso »Elemente«, deren Gegenwart und deren Auffassungen ihn augenblicklich abstoßen. Das neunte und das zehnte Kapitel sind in Hinblick auf die Eheideologien, die hier zuerst von Mittler und dann zwischen den vier Hausbewohnern und Graf und Baronesse ausführlich zur Sprache kommen, der 354 Vgl. Hartmut Böhme, »Kein wahrer Prophet«, S. 109: »Mittler […] ist selbst von abergläubischen Semiosen infiziert […].«
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zentrale Teil des Romans. Auffallend ist die direkte Hintereinandersetzung dieser beiden Szenen, die so gegenteilige Konzepte enthalten. Auch das hinzukommende Paar ist im Sinne der »Elemente« von der stark wirkenden Sorte. Nicht nur sind sie (aus der Sicht Mittlers) die Sigle hedonistischer Amoral, also Repräsentanten einer Auffassung, die der seinen diametral entgegensteht. Vor allem aber sorgen sie für die Dynamisierung der Handlung, indem die Baronesse sehr aktiv versucht, auf Charlotte Einfluß zu nehmen, und der Graf kurzentschlossen Anstalten trifft, den ihm eben noch unbekannten Hauptmann der Gesellschaft zu entziehen, um ihm ein größeres Wirkungsfeld und eine sichere Karriere zu verschaffen. Die Wirkung auf Charlotte ist verheerend, sie verfällt in eine Art sinnenbetäubten Trancezustand: Es war wie ein Donnerschlag, der auf Charlotten herabfiel. Der Graf bemerkte nichts; denn die Frauen, gewohnt, sich jederzeit zu bändigen, behalten in den außerordentlichsten Fällen immer noch eine Art von scheinbarer Fassung. Doch hörte sie schon nicht mehr, was der Graf sagte, indem er fortfuhr : »Wenn ich von etwas überzeugt bin, geht es bei mir geschwind her. Ich habe schon meinen Brief im Kopfe zusammengestellt, und mich drängts, ihn zu schreiben. Sie verschaffen mir einen reitenden Boten, den ich noch heute abend wegschicken kann.« Charlotte war innerlich zerrissen. Von diesen Vorschlägen sowie von sich selbst überrascht, konnte sie kein Wort hervorbringen. Der Graf fuhr glücklicherweise fort, von seinen Planen für den Hauptmann zu sprechen, deren Günstiges Charlotten nur allzusehr in die Augen fiel. Es war Zeit, daß der Hauptmann herauftrat und seine Rolle vor dem Grafen entfaltete. Aber mit wie andern Augen sah sie den Freund an, den sie verlieren sollte! Mit einer notdürftigen Verbeugung wandte sie sich weg und eilte hinunter nach der Mooshütte. Schon auf halbem Wege stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und nun warf sie sich in den engen Raum der kleinen Einsiedelei und überließ sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von deren Möglichkeit sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte. (WV 314)
Charlotte, schon in der ersten Szene durch Mittlers Einsatz geschwächt, wird durch diese Begegnung endgültig »innerlich zerrissen«355. Mittler, im Umgang mit seinem »Charakter« nicht ganz sicher, sorgt auch hier indirekt dafür, daß dem dramatischen Ablauf immer weniger im Wege steht. Entgegen seiner Absicht, den in Not Geratenen stets beistehen zu wollen, folgt er seiner idiosynkratischen Abneigung gegen den Grafen und die Baronesse. Er verläßt, noch bevor er mit ihnen in Berührung kommen kann, deren Einflußbereich, obwohl er seinem Namen und seiner erklärten Rolle gemäß gerade dann vonnöten wäre,
355 Vgl. von Matt, der Eduards ungeduldige Zurechtweisung seiner Frau unmittelbar vor der Gleichnisrede in I/4 nicht nur als Inszenierung eines konkreten Ereignisses magnetischer Abstoßung, sondern auch gleichsam als Auslöser der Gleichnisrede selbst interpretiert. Siehe Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 279f.
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wenn er gegensätzliche Anschauungen versöhnen oder Konflikte im Entstehen verhindern würde. Ebenso wie der Roman also die Anziehung zwischen den Figuren, die lange Zeit im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit stand, schildert, geht es auf der anderen Seite (als Komplementärseite dieses Phänomens) um die Abstoßung zwischen anderen. Dies unterstützt das Bild vom Wirken der Kräfte, denen die Figuren ausgesetzt sind, und vervollständigt es, indem auch ihr Umfeld als Wirkungs- oder Einwirkungsfeld gezeigt wird. Wenn man vor diesem Hintergrund nun noch ein anderes »Element« kurz betrachtet, ist klar, daß ein Kind, das unter den falschen Bedingungen, also wie durch Vermengung der falschen chemischen Partner gezeugt wird, nicht die erwartete Reaktion zeigen wird. Es muß sich stattdessen geradezu als Fehlversuch etablieren – »wie ein Hund« sterbe das Kind, heißt es in einer Bemerkung, die Wilhelm Grimm in einem Brief an seinen Bruder Jakob zitiert356. Im Sinne der Neuschaffung von Elementen kann in diesem Roman dem Neugeborenen, dessen unheimliche Ähnlichkeit mit allen vier Beteiligten wiederholt betont wird, nur die Rolle eines »geheimes Grausen« (vgl. WV 459) auslösenden Hybriden zukommen, wird er doch von sich zu diesem Zeitpunkt nicht anziehenden Partnern gezeugt. Diese stehen aber nicht zuletzt unter den Nachwirkungen, die der Besuch des befreundeten Paares verursacht – der Hergang der Vorgeschichte der fatalen Nacht, des Grafen Bitte, Eduard möge ihm zum Schlafzimmer der Baronesse in den Damentrakt des Schlosses leuchten, Eduards Gang durch die Dunkelheit der Stiegen und Gänge, sein plötzliches Alleinsein vor Charlottes Türe, die Mitternachtsstunde etc. werden genauestens geschildert. Die Wirkung oder Nichtwirkung von Worten scheint dabei ebenso gewissen Gesetzen zu unterliegen und Folgen zeitigen zu können wie andere abstrakte Erscheinungen, z. B. die seelischen Bilder der jeweils eigentlich Geliebten. Mittlers Drohung: »[…] wer mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt« fällt daher nicht zufällig direkt vor dem Besuch des Grafen, der seine Theorie von der Fünfjahresehe vor der Gesellschaft ausbreitet, was Charlotte, beängstigt eben von der Kraft der Rede357, in Sorge um Ottilie verhindern möchte, aber nicht kann. 356 Siehe Härtl, Dokumentation, S. 85: »Über die Wahlverwandtschaften habe ich noch mehrere Stimmen gehört, am originellsten ist die des Genialen [Johann Friedrich Reichardt], der in diesem Buch die Studien zu den andern Teilen der Eugenie, die Goethe aufgegeben, angewendet sieht. Steffens meint, das Kind sterbe wie ein Hund, und doch ist die Szene so rührend und die Nacht darauf recht mit der Stille dargestellt, in welcher man vor oder nach einem großen Unglück angstvoll und bang eine solche zubringt.« (3. Dezember 1809) 357 »[…] so waren ihr dergleichen Äußerungen, besonders um Ottiliens willen, nicht angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts gefährlicher sei als ein allzufreies Gespräch, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zustand als einen gewöhnlichen, gemeinen, ja löblichen
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Eduard taucht also zur Stunde nach Mitternacht bei seiner Frau auf und zeugt mit ihr und Ottilie als innerem Bild das Geisterkind, das dem Hauptmann ähnelt. Die von Worten aufgewühlten inneren Vorgänge (der Graf erinnert Eduard an seine Zeit als Frauenheld) gewinnen also eine als real dargestellte Kraft. Hier möchte ich noch einmal zu von Matts Darstellung der epochemachenden Erforschung des Magnetismus zurückkommen. Für ihn ist an der Beschäftigung mit den neuen Entdeckungen auch grundlegend, daß sich hier die Vorstellung natürlicher Gegebenheiten vermengt mit der Idee von der Macht des Nichtmeßbaren. So werde letztere nicht nur vorstell-, sondern feststellbar. »Keine Metapher!« lautet demnach die Grundthese seines Essays. Im Anschluß an die obige Ausführung zur Elektrolyse heißt es: Dazu tritt wissenschaftsgeschichtlich ein weiteres. 1791, neun Jahre vor der Erfindung der Volta-Säule, hatte Luigi Galvani in Bologna seine Entdeckung bekanntgegeben, daß es im Körper von Lebewesen Elektrizität gibt und daß durch Elektrizität bei sezierten Fröschen Muskelzuckungen ausgelöst werden können. Diese Entdeckung erregte zwar großes Aufsehen358, blieb aber zunächst folgenlos. Solange man nur die Produktion von Elektrizität durch Reibung kannte und etwas anderes nicht vorstellbar war, erschien die sogenannte »tierische Elektrizität« als ein seltsames, in seinen Ursachen dunkles Phänomen. Mit Voltas Nachweis einer rein chemischen Stromproduktion aber wurde Galvanis Kuriosum zu einem epochalen wissenschaftlichen Ereignis, zum Beginn der modernen Biochemie. Davon ahnten die Zeitgenossen nichts. Über die Maßen aufregend war für sie jedoch die Tatsache, daß nun der Beweis erbracht schien für elektromagnetische Phänomene bei Lebewesen und also auch – dies der naheliegende Schluß – zwischen Lebewesen. Die »tierische Elektrizität«, die jetzt ihre chemische Basis gefunden hatte, versprach eine baldige Aufklärung über den ganzen Komplex dessen, was man seit Franz Anton Mesmers Schreiben über die Magnetkur von 1775 als »tierischen Magnetismus« oder »animalischen Magnetismus« europaweit diskutierte. Die neue Karriere, die für den Mesmerschen Magnetismus oder Mesmerismus im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begann, beruhte nicht nur auf der neuen Aufmerksamkeit der romantischen Generation für okkulte Phänomene, sondern auch auf der durch die naturwissenschaftlichen Durchbrüche der Elektrochemie stimulierten Überzeugung, in absehbarer Zeit die unzweideutige Erklärung für die von Mesmer und seinen Schülern behaupteten Phänomene zwischenmenschlicher Anziehungskraft, seelischer Fernwirkung, eines generellen Magnetismus zwischen Menschen zu besitzen.359
Die Folie für den Roman, so von Matt, bilde demnach das soeben entdeckte Phänomen der chemischen Elektrizität und der Elektrolyse. In der Gleichnisrede behandelt; und dahin gehört doch gewiß alles, was die eheliche Verbindung antastet.« (WV 310). 358 Wie erläutert wird, weil man vermutete, auf der Spur des vermittelnden Elements zu sein, das Körper und Seele verbindet, vgl. von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 275, Anm. 21. 359 Ebda., S. 275f.
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werde auf einen schon längst bekannten Vorgang zurückgegriffen, weil eine Schilderung der elektrolytischen Prozesse erzählerisch als zu kompliziert erschien; darauf deute die Vereinfachung des Operierens mit den Buchstaben A, B, C, D. – Vielleicht, könnte man hier von Matts Gedanken folgen, wollte Goethe, dessen Tendenz zur Verschleierung der Romanhintergründe dokumentiert ist, auch keine zu offenen Hinweise geben. – Das Wesentliche ist aber die Konsequenz, die dieser Unterschied hat: In Goethes Vortragsnotizen vom 6. April erscheint die Theorie der Elektrizität, der Elektrolyse, der »Voltaische(n) Säule« und der animalischen Elektrizität (»Wirkung aufs Organische/ Tote Frösche«) bruchlos mit der Theorie der magnetischen Kräfte überhaupt verknüpft. Und in der Wirklichkeit des Romans wird dann auch in der Tat das Wirken magnetischer Anziehung und Abstoßung unvergleichlich wichtiger als die rein chemische Reaktion zwischen den sogenannten wahlverwandten Stoffen. Diese bleibt Gleichnis, Allegorie, eine rhetorische Figur auf der Ebene der uneigentlichen Rede: so wie im Reagenzglas zwischen Kalkstein und Schwefelsäure, kann es zwischen lebendigen Menschen ablaufen. Die magnetische Kraft hingegen gehört im Roman nicht zum Bildspenderbereich des uneigentlichen Redens, sie ist kein Gleichnis, sondern eine körperhafte Wirklichkeit. […] Das stelle ich hiermit fest. Und ich stelle es fest im Bewußtsein, daß sich genau da die Lektüre des Romans entscheidet. Nur wenn ich die magnetische Bindung als eine gleichermaßen physikalische wie seelische Wirklichkeit anerkenne – keine Metapher, sondern eine Gegebenheit im Kosmos –, gewinnt das Geschehen die Dimension einer antiken Tragödie. Die magnetische Bindung zwischen Eduard und Ottilie entspricht dem von Aphrodite über Phädra verhängten Liebeszwang. […] Mittler, diese frappierende Vorwegnahme der therapeutischen Folklore unsrer Tage, tritt mit seinen Lehrsätzen an die Liebe heran wie der Landvermesser mit seiner Magnetnadel an die Natur. Beide wissen nicht, mit welchen Mächten sie es zu tun haben. Und doch haben beide aber auch wieder recht, wenn sie diese Welt vernünftig einrichten wollen, auf daß es den Menschen guten Willens darin gefalle. Was will man denn eigentlich mehr? Man will gar nicht mehr, sagt der Roman, man muß.360
III. 4.2.4. Liebe als elektromagnetische Schließung Unter den im Roman geschilderten magnetischen Ereignissen hebt von Matt besonders jene Szene kurz vor der Gleichnisrede hervor, in der Eduard Charlotte brüsk zurechtweist, da sie ihm beim Vorlesen ins Buch schaut. Und siehe da, Eduards Erklärung wirft eine Formulierung voraus, die, wie wir schon gesehen haben, später in ganz ähnlicher Form in bezug auf Charlotte wiederaufgenommen wird: »Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde.« (WV 269) Für von Matt ist das In-zwei-Stückegerissen-werden ein eindeutiger Vorgang der Entzweiung der Einheit in einen 360 Ebda., S. 277ff.
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Plus- und einen Minuspol, der durch die komplementäre Szene zwischen Eduard und Ottilie, deren Mitlesen er sucht, ergänzt wird. Die Anziehung zwischen Eduard und Ottilie, die also die richtigen Pole verbinde, bildet somit nach von Matt das Phänomen der magnetischen Schließung ab. Das besondere an der Darstellung dieser magnetischen Schließung in den Wahlverwandtschaften ist aber für von Matt, daß sie in einen Zustand der bewußtlosen Zufriedenheit führt. Das zeige die Beschreibung des nicht steuerbaren und wortlosen Zueinandergezogenseins, das Eduard und Ottilie am Schluß bestimmt: Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden. (WV 478)
Eine solche ins Instinktive, fast in die Selbstverständlichkeit des Tierhaften gehende Darstellung ist natürlich das genaue Gegenbild zur Möglichkeit, unter Einsatz von Vernunft und Mäßigung die Macht starker Gefühle zu bändigen. Die – hier im wahrsten Sinn des Wortes – Natur des Menschen entzieht sich der Diskursivierung durch die aufgeklärte Gesellschaft, die im Roman geschildert wird. Auffällig sind daher in dieser von Peter von Matt kommentierten Szene wie in der oben zitierten zu Charlottes Reaktion auf die Nachricht der Abreise des Hauptmanns die Figuren des Nicht-Wissens: Für Eduard und Ottilie wird das Leben zum »Rätsel«, Charlotte »[…] überließ sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von deren Möglichkeit sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte« (Kursivierung I.R.). Von Matt verweist in diesem Zusammenhang noch einmal auf den geradezu zwangsneurotischen Eifer, der aus den detailliert beschriebenen Bemühungen um die Einrichtung des perfekten Gartens spricht. Sie werden verbunden mit einer Reihe von Vorkehrungen zur Verhinderung von Unglücksfällen, schließlich von Krankheit und Armut der Bewohner des Mikrokosmos, der auf Autarkie aus ist und etliche Merkmale eines Paradiesgartens, eines hortus conclusus, aufweise. Die Anachronie des Schlußbildes der unwillkürlichen Anziehung zwischen Eduard und Ottilie kommentiert von Matt so: Zu beachten ist die völlige Willenlosigkeit. Die beiden handeln nicht, es geschieht mit ihnen; sie entscheiden sich nicht, es ist über sie entschieden. […] Planung und Ausführung; Reflexion, Entschluß und Tat; Bewußtsein als höchster menschlicher Zustand, sie sind alle außer Kraft gesetzt, sind wie nie gewesen. […] Das ist der Zustand der magnetischen Schließung, wo nichts mehr anderswohin will, nur da sein, wo es ist, wo aber auch keine andere Kraft in der Welt von irgendwelchem Belang ist außer eben
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dieser Anziehung, die sich im Zusammenschluß vollendet. Die Landvermesser und die Liebenden, sie verkörpern zwei anthropologisch nicht vereinbare Verfassungen. In der einen tritt man mit dem magnetischen Gerät als Kultivator an die Natur heran, in der andern wird man aus der Mitte der Natur heraus selber magnetisch. Und diese magnetische Kraft übernimmt alles, Planung und Ausführung, Reflexion, Entschluß und Tat, und schließlich auch das Bewußtsein. Der Begriff »bewußtlos« fällt im obigen Zitat unüberhörbar. »…im bewußtlosen vollkommnen Behagen« heißt es. Bewußtlos und vollkommen, das ist eine aufregende Wortverbindung. Kleist hat sie wenig später in seinem Aufsatz Über das Marionettentheater exemplarisch diskutiert. Schiller hatte diese Diskussion mit seinem Konzept der Grazie eingeleitet, war aber vor der letzten Konsequenz noch zurückgeschreckt. Bewußtlos und vollkommen steht damit dem Konzept einer Vollkommenheit aus dem reinsten, klarsten, um sich selber wissenden Bewußtsein diametral gegenüber.361
Ich möchte hier die Klammer schließen, die ich mit Abekens Bemerkung zur »neueren Naturlehre« aufgemacht habe. Von Matt führt mit Schopenhauer und Nietzsche vor, wie weit die Idee der naturwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeit und speziell des Magnetismus als Prinzip der Verknüpfung von organischen und psychischen Vorgängen ins 19. Jahrhundert reicht. Die Darstellung dieser Ebene ist daher unerläßlich, um die Tragweite der naturwissenschaftlichen Interessen Goethes zu umreißen. Aus Schaeders, Sprangers und Peter von Matts Zusammenschau dieser Grundlagen ergeben sich also wesentliche Aufschlüsse über Details des Romans, die ohne diesen Hintergrund als wesentlich metaphorische Motive leicht überinterpretiert werden können362. Dies untergräbt nicht die Möglichkeit, den Überbau mythologischer Parallelen zu beleuchten, wie es eine breite Forschungsschiene tut, sondern ergänzt sie. Für unseren Zusammenhang geht es darum, die spezifische Erzähl-Haltung der Wahlverwandtschaften an der Schwelle zwischen realistischer Schilderung und eben mythischer Überhöhung (resp. der Spielarten dieser Überhöhung) besser bestimmen zu können. Wie angedeutet, führt diese komplexe Schwellensituation direkt zum Thema der formalen Gestaltung, der wir uns anzunähern versuchen. Diese bereitet sozusagen hautnah einen Konflikt auf, der einerseits mit den wissenschaftlich fundierten Dimensionen einer unwiderstehlichen, die aktive Psyche ausschaltenden Anziehungskraft unterlegt und andererseits mit den mythischen Dimensionen einer antiken Tragödie ausgestattet ist. Zielt dies aber überhaupt auf jene Art von »Realismus« ab, die Emotionen so inszeniert, daß 361 Ebda., S. 282f. 362 Zur aktuellen Veränderung des Affinitätskonzepts in der Chemie des 18. Jahrhunderts und deren Einarbeitung in den Roman vgl. außerdem Christoph Hoffmann, »Zeitalter der Revolutionen« – Goethes Wahlverwandtschaften im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels (Anm. 235).
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sich der Leser ihnen nicht entziehen kann? Oder ist dies eine unzulässige Deutung aus heutiger Sicht, die übersieht, daß hier eine (nachklassisch) bildhaft-statische Darstellung gesucht wird, die nicht auf erhöhte Emotionalisierung des Betrachters aus ist, sondern im Gegenteil auf Gefühlsausgewogenheit – etwa jene, um die auch die Charaktere mehr und mehr ringen? Wäre somit das Festhalten im Präsens dort, wo wie beim Tod des Kindes die tragischste Konsequenz der verbotenen Liebesbeziehung geschildert wird, als Zeichen einer bildhaften Ästhetik der »edlen Einfalt« und »stillen Größe« zu lesen oder aber ist es spannungssteigerndes Mittel einer Inszenierung, die uns das dramatische Geschehen möglichst nahe bringen und wie auf einer Bühne vor uns ablaufen lassen soll? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es weiterer Grundlagen. Ein ausführlicher Vergleich zwischen einigen Erzählerkommentaren und den Passagen im szenischen Präsens soll daher in einem eigenen Kapitel wenig beleuchtetete Strategien der Emotionalisierung in den Wahlverwandtschaften herausstellen und einen Konnex zu Goethes vorklassischer Schaffensperiode sichtbar machen (vgl. Kap. IV). III. 4.2.5. Zwischen Realität und Metapher: Ottilie Jene Figur, deren Charakter am allermeisten im Sinne einer Ästhetik der »edlen Einfalt« und »stillen Größe« interpretiert oder vielmehr mitunter etikettiert worden ist, ist Ottilie. Im Abekenschen Zitat zum »herrlichen« Bild der Ottilie als Mutter Gottes klingt eine Sichtweise an, die in der Nachfolge beharrlich und mitunter bis zur Klischeehaftigkeit tradiert worden ist. Ich möchte hier nur kurz auf eine Darstellung dieser Art eingehen; die zum Fixpunkt gewordene Sicht auf Ottilie kann wohl als Beleg gesehen werden für die Wirkung ihrer Gestaltung im Roman, der sie im konkreten wie übertragenen Sinn zunehmend zum Bild, Sinnbild, Inbegriff, schließlich zur Ikone macht. Die Heraushebung der Figur der Ottilie vollzieht sich zwar tatsächlich auf verschiedenen Ebenen: Im moralischen Sinn ist sie diejenige, die, als scheinbar unschuldigste aller Beteiligten, die größte Schuld, den Tod des Kindes auf sich lädt; im Sinne der Leserlenkung ist sie, wie schon angedeutet, jene Figur, über deren angenehmes Äußeres uns der Erzähler bei aller Zurückhaltung am detailliertesten informiert (Bettine Brentano mahnt Goethe in einem Brief scherzhaft und ernst, er möge zugeben, daß er in Ottilie verliebt sei363); und in unserem stilistisch-erzähltechnischen 363 Siehe Brief vom 9. November 1809, zit. nach »Urteile Goethes und seiner Zeitgenossen«, HA, Bd. 6, S. 667f.: »Du bist in sie verliebt, Goethe, es hat mir schon lange geahnt, jene Venus ist dem brausenden Meer Deiner Leidenschaft entstiegen, und nachdem sie eine Saat von Tränenperlen ausgesät, da verschwindet sie wieder in überirdischem Glanz. Du bist gewaltig, Du willst, die ganze Welt soll mit Dir trauern, und sie gehorcht weinend Deinem Wink […] ich verstehe es nicht, dieses grausame Rätsel, ich begreife nicht, warum sie alle
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Sinn wird sie über die Zuordnung der längsten Präsensportionen des Romans ebenfalls in den Fokus gerückt. Daß allerdings trotzdem Vorsicht dabei geboten ist, Ottilie aufgrund ihres Erscheinens in jener Szene, die im dramaturgischen und erzähltechnischen Sinn den Höhepunkt der Handlung bildet, automatisch zur »heimlichen« Hauptfigur zu erklären, wie der Tenor der Interpretation oft lautet, geht aus einer Bemerkung Goethes in einem Brief an den Maler und Kunsthistoriker Johann Heinrich Meyer (ab 1807 Direktor des Zeicheninstituts in Weimar und zeitweise auch Goethes Hausgenosse) hervor : Das gute Kind [Sophie Reinhard, Malerin] kann wohl was und könnte noch mehr lernen, aber das schlimmste ist, sie denkt falsch wie die sämmtliche Theecompanie ihrer Zeitgenossinnen: denn in unsrer Sprache zu reden, so hole der Teufel das junge künstlerische Mädchen, das mir die heilige Ottilie schwanger aufs Paradebett legt. Sie wissen besser als ich was ich sage. Jene können nicht vom Gemeinen und Niederträchtigen von der Amme, von der Madonna loskommen und dahin zerren sie alles, wenn man sie auch gelinde davon zu entfernen wünscht. Das todte, wirklich todte Kind gen Himmel zu heben, das war der Augenblick der gefaßt werden mußte, wenn man überhaupt solches Zeug zeichnen will. So wie im andern Falle in der Capelle für malerische Darstellung nichts gelten kann, als das Herantreten des Architekten. Aber wo sollte das Völklein, bey allem freundlichen Antheil, hernehmen, worauf es ankommt.364
Goethes Vermerk gibt einen entscheidenden Hinweis darauf, daß das Erscheinen und Verschwinden des Kindes – ein, wie oben angedeutet, oft vernachlässigtes Moment der kompositorischen und inhaltlichen Interpretation – als der eigentliche Mittelpunkt der Handlung zu sehen ist. Auch hier soll der Analyseteil zeigen, wie die Tempussetzung diese Maxime umsetzt. Dennoch steht die Figur der Ottilie besonders im skizzierten Spannungsfeld, ihre Darstellung in der Sekundärliteratur ist daher ein wichtiger Teil der Forschungsgeschichte.
III. 4.2.6. Ottilies Verklärung: um 1900 Ein Beispiel für eine »typische« Interpretation und die Verfestigung des Bildes der Unschuld Ottilies in nicht unwesentlichen Teilen der Sekundärliteratur bietet der (kursorische) Überblick über Goethes Schaffensperioden, wie ihn Richard M. Meyers »Goethe«365 gibt. Ihm sind die zur Jahrhundertwende um 1900 gängigen Motive der Goethe-Kritik zu entnehmen, außerdem eine immer noch wirkende Skandalisierung des Romans, weswegen er hier kurz dargestellt sei. sich unglücklich machen, warum sie alle einem tückischen Dämon mit stachelichem Scepter dienen; und Charlotte, die ihm täglich, ja stündlich Weihrauch streut, die mit mathematischer Consequenz das Unglück für alle vorbereitet.« 364 Brief vom 27. April 1810, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 154. 365 Richard M. Meyer, Goethe, Mit vierzehn Bildnissen und einer Handschrift, Dritte vermehrte Auflage, Verlag Ernst Hofmann & Co., Berlin 1905.
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Wie über mehrere Werke Goethes […], so ist auch über die »W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n « ein konventionelles Urteil verbreitet, welches die meisten Leser zum unbefangenen Genuß, ja zum unbefangenen Verständnis gar nicht erst gelangen läßt. Daß nach Kunst der Sprache und der Erzählung dieser Roman der vorzüglichste sei, den die deutsche Literatur besitzt, darüber herrscht fast Einhelligkeit; und man sieht auch nicht, welcher Roman den »Wahlverwandtschaften« diesen Platz streitig machen sollte. […] – So einstimmig man nun über den Wert der Form ist, so allgemein liebt man den Inhalt zu tadeln. Neben »Stella« und den »Römischen Elegien« ist dies der dritte Stein des Anstoßes für die Moralisten; ja sie erklären sich noch eher mit dem »Schauspiel für Liebende« um seiner späteren Änderung wegen, mit den Elegien um ihrer antiken Natürlichkeit willen ausgesöhnt, als mit dieser Dichtung, die fatalistische Ergebung in die Leidenschaften lehre und die heiligsten Gesetze, die Ehe selbst den Neigungen unterordne. Auf diesen Vorwurf pflegen die Verteidiger Goethes zu antworten: Goethe lehre überhaupt nicht, er stelle dar.366
Für Meyer, der die Meinung, hier ginge es um bloße Darstellung und nicht um die Vermittlung einer konkret festmachbaren Moral, ausdrücklich nicht teilt, besteht die zentrale Aussage des Romans in der nach ihm vom Autor propagierten »Selbsterziehung«367, der eine »zügellose, mit Einem Wort animalische Natur«368 wie Eduard bedürfe. Deutlich hörbar setzt sich über die in Spuren erhaltene Auffassung der natürlichen Anziehung zwischen Menschen, die hier als dem Wirken der »Mineralien« ähnlich gezeichnet wird, eine Terminologie moralischer Wertung. »Nur der schwache Mensch, lehrt Goethe, e m p f ä n g t sein Schicksal; der starke s c h a f f t sich das seine. Eduard aber ist nicht vom Stamm der Weltüberwinder.«369 ist denn auch die Formel, in der man Meyers Interpretation zusammenfassen kann; wie ich betonen möchte, in äußerster Verkürzung, die Meyers Argumentation als simpler erscheinen läßt, als sie ist. Gemäß einer ins Schablonenhafte tendierenden Darstellungsweise folgt der Ton der Beschreibung der eher trockenen Auflistung in Meyers Inhaltsangabe370, 366 367 368 369 370
Ebda., S. 568. Vgl. ebda., S. 570. Vgl. ebda, S. 571. Ebda., S. 570. Ebda., S. VIIIf.: »D i e W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n «. Herrschendes Urteil über dies Werk. – Die Moral: Eduard richtet die Seinen und sich zu Grunde, weil er sich nichts zu versagen weiß. – […] Die Figuren: Eduard und Charlotte. Ottilie. Der Hauptmann. Nebenfiguren: der Architekt, Mittler, Luciane; der Graf und die Baronesse – Die Geschehnisse mit Nachdruck als Vorkommnisse gezeichnet. Verfehlungen der Hauptfiguren. – Die Gespräche. – Vollendete Technik. (Die Figuren stellen gern hübsche Bilder fürs Auge.) Der Roman gibt sich durchaus als Kunstwerk, nicht als Wirklichkeit. – Ottiliens Tagebuch. Nachfolge. – Persönliche Züge. Der Schluß.« – Ganz kann man sich der satirischen Fassung, die Karl Kraus mit Bezug auf Meyer als Literaturwissenschaftler gibt, nicht entziehen: »[…] mit ihm, der selbst kein Mitleid gehabt hat, als ihn die Literaturgeschichte anflehte, sie lieber ganz als in Dekaden verschnitten zu mißbrauchen.« Siehe »Die neue Art des Schimpfens«, in: Karl Kraus (Hrsg.), Die Fackel Nr. 339/340 vom 30. Dezember 1911, S. 51–
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ohne daß darüber die sprachliche Ausschmückung im biographischen Umriß verloren ginge: »Schon regt sich der Plan eines neuen großen Werkes: der »Wahlverwandtschaften«; aber daneben fährt das zierliche Treiben der jugendlichen Verehrerinnen, unter denen Silvie von Ziegesar eine der lieblichsten Blumen ist, den Dichter zu umspinnen fort.«371 Der Reiz der Meyerschen Darstellung besteht nicht zuletzt in ihren eindeutigen Rollenbildern. Frauen sind geradezu a priori lieblich, Männer standhaft – tragisch ist, wenn sie das nicht sind – und dies gilt für Leben wie Werk des Autors. Unter diesen Gesichtspunkt ist teilweise auch die Zeichnung der Figur der Ottilie geraten: Und nun erscheint O t t i l i e , für diesen Phileros eine Epimeleia, ganz Sanftmut und Hingebung, ganz Liebe und Treue. Zu Eduards sinnlichem, begehrlichen Wesen bildet ihre verklärte, aufopfernde Art den Gegensatz, der anziehen muß; es ist bezeichnend, daß Eduard gern im Trinken unmäßig ist, Ottilie nicht einmal das Nötigste zu essen liebt. Bei ihrer willensschwachen, langsamen und leisen Art schwebte Minna Herzlieb vor, doch hat das Bild auch von Bettinens schwärmerischem Hineindenken in die Seele des Dichters Züge empfangen; den Namen verdankt sie der heiligen Ottilie, der der Odilienberg im Elsaß geweiht ist, der frommen geblendeten Tochter eines gewälttätigen Dynasten. Die heilige Ottilie ist die Schutzpatronin der Blinden und Augenleidenden; hierauf spielt Goethe an, indem er Ottilien nachdrücklich einen »Augentrost« für die Männer nennt. Sie wird für Eduards geistige Blindheit Schutzgöttin zugleich und Verhängnis.372
Daß die heilige Ottilie den Hintergrund für die Romanfigur abgibt, geht auf einen Hinweis Goethes in Dichtung und Wahrheit zurück und wird immer wieder diskutiert, in den neuesten Darstellungen mit großem interpretatorischem Gewinn373. Bezeichnend ist dennoch, daß gerade dieser Aspekt im Kontext der Jahrhundertwende, für den wir hier Meyer als Beispiel anführen, in der Beschreibung in den Vordergrund rückt, vermischt mit biographischen Bezügen. Als Gegenstück fungiert denn auch wenig überraschend Luciane, die als »Charlottens etwas unwahrscheinliche Tochter« eingeführt wird, als »leibhaftige Zwecklosigkeit und Zuchtlosigkeit«374. Walter Benjamin beruft sich in seinem umfangreichen Essay zu den Wahlverwandtschaften375 an verschiedenen Stellen auf diese Werkbeschreibung
371 372 373
374 375
56, hier S. 54 im photomechanischen Nachdruck des Kösel Verlags (Hrsg. Heinrich Fischer), München 1968–1976 (Zweitausendeins), Bd. 6. Meyer, Goethe, S. 561. Ebda., S. 573f. Vgl. besonders Gabriele Brandstetter, Gesten des Verfehlens – Epistolographische Aporien in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Diess. (Hrsg.), Erzählen und Wissen – Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2003 (= Rombach Wissenschaften Reihe Litterae Bd. 96), S. 41–63, hier besonders S. 46ff. Meyer, Goethe, S. 575. Von 1955; die hier verwendete Ausgabe ist 1964 im Insel-Verlag erschienen.
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Meyers und kritisiert dessen Methode, biographischen und werkimmanenten Ansatz gegenüber-, besser zueinanderzustellen. Die Zusammenfassung mag genügen, diese Kritik nachvollziehen zu können; zum Teil noch schärfer angegriffen wird Friedrich Gundolfs Interpretation aus den frühen 30er-Jahren376. Dennoch sei Meyers Auffassung beispielhaft genannt, immerhin präsentiert sie einen Einblick in den Stand der Goethe-Forschung nach einer nunmehr hundertjährigen Tradition. III. 4.2.7. Das Gegenbild Ottilies: Bildungskritik und Frauenbild um 1800 Die diametral entgegengesetzte Interpretation von Ottilie als passiver Heiliger liefert Friedrich Kittler in »Ottilie Hauptmann«377. Sein Aufsatz interpretiert die gesellschaftlichen Bezüge im Roman als Ausdruck des Übergangs vom Adel zum Bürgertum. Dieser bringe neue soziale Paradigmen hervor, und zwar einerseits jenes des prototypischen Beamten, verkörpert vom Hauptmann, dessen Bestimmung die des staatstragenden und selbstlos eifrigen Bürgers sei, der sich ganz der Pflege des Gemeinwohls verschreibe und dementsprechend mit dem Karriereschritt zum Major belohnt wird. Auf der anderen Seite steht für Kittler das der ebenso prototypischen »Mutter«, von Ottilie verkörpert, die, selbst kinderlos, von allen Instanzen zur Erzieherin erzogen werde, eine Berufung, zu der sie gerade ihre im Roman als problematisch geschilderten Lernschwierigkeiten prädestinieren. Ottilies Schweigsamkeit, in vielen Darstellungen als Inbegriff beredter Innerlichkeit interpretiert, die sich folgerichtig nur in den Tagebuchaufzeichnungen entfalte, wird dabei im Gegensatz zur zentralen Eigenschaft im neuen Frauenbild erklärt: Ottilie hat vor ihrer Aufnahme ins Schloß und zusammen mit Luciane, Charlottes Tochter aus erster Ehe, eine Pension für höhere Töchter besucht. Das kennzeichnet zum einen die Sozialisationspraktiken des alten Adels, der seine Nachkommen nicht in Familiarität und Mütterlichkeit tauchte, und zum anderen die arme Waise Ottilie, die erst durch Erziehung wird, was sie ist. Deshalb stehen Luciane und Ottilie einander gegenüber wie feudale Repräsentation und bürgerliche Innerlichkeit, Diskurs und Schweigen […]. Die Pensionsvorsteherin freilich ist verblendet genug, Luciane zu bevorzugen und in ihren Briefen an die Mutter und Pflegemutter Charlotte Ottilies Schweigen mit Schweigen zu übergehen. Genau dieses Versäumnis verschafft aber ihrem Gehülfen die erwünschte Gelegenheit, alle Macht seines Diskurses auf Ottilie zu versammeln. So wird er, noch vor zahllosen Romandeutern, zum verliebten und wortreichen Hermeneuten eines Schweigens und Ottilies Schweigen zur Idee selber von Frau. Die anderen höheren Töchter lernen schneller, schreiben freiere Handschriften 376 Friedrich Gundolf, Goethe, Verlag Georg Bondi, Berlin 1930. 377 In: Norbert W. Bolz (Hrsg.), Goethes Wahlverwandtschaften – Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Verlag Gerstenberg, Hildesheim 1981, S. 260–275.
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und beherrschen mehr Grammatik; der Diskurs nach den Regeln von 1800 ist ihr Element. Aber weil Die Frau diesen selben Regeln zufolge einen Sonderstatus hat und als schweigende Quelle aller faktischen Reden und Schriften firmiert, sprechen die Sprech- und Schreibkünste der anderen nur gegen die Mädchenpädagogik ihrer »trefflichen, aber raschen und ungeduldigen Lehrer«. Sie haben es noch nicht gelernt, den Organismus aller Organismen, die Frau, organisch zu bilden. Ihre sprunghafte Lehre produziert Menschen so sprunghaft und verzogen wie Luciane. Die langsam und stetig lernende Ottilie dagegen erzieht ihren verliebten Lehrer dazu, eine erst neuerlich erfundene Kunst zu üben: den Unterricht. Seine organisch »zusammenhängenden Lehrvorträge«, die immer berücksichtigen, daß ein Kind ein Kind und der Unterricht mithin »beim Anfang anzufangen« ist, produzieren das Pädagogenideal Ottilie. Der Gehülfe zählt sie zu den »verschlossenen Früchten, die erst die rechten, kernhaften sind«.378
Durch diese nach Kittler »multiplikative« Fruchtbarkeit wird Ottilie also zur alle erziehenden Repräsentantin des »Herrschaftsgebildes Bildung«, das die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bestimmt. Als prototypische Erzieherin wird sie, »weil alle Erziehung mit der mütterlichen anzuheben hat«, zur idealen Mutter379. Deswegen versagt sie auch in den öffentlichen Prüfungen, was sie aber umso mehr zur Garantin der Vermittlung von Intimität, von Gefühl und Familie und somit zum komplementären Gegenstück des idealen Beamten werden läßt, der seinerseits nunmehr öffentliche Prüfungen zu bestehen hat, um seine Eignung zu beweisen – Kittler verweist auf die Einführung von Abschlußprüfungen an den höheren Knabenschulen, während an den höheren Töchterschulen öffentliche Prüfungen teilweise überhaupt abgeschafft werden. »Der Prämienglanz von Lucianes Eloquenz vergeht wie ein Geschwätz vor der wortlosen Innerlichkeit, die das Ergebnis wahrer Mädchenpädagogik ist.«380 Der Angelpunkt in der Interpretation Kittlers ist, daß das pädagogisch produzierte Schweigen Ottilies zu einem Stummsein wird, das ihre eigenen Gefühle gleichermaßen verzehrt und sie zu einer Art Vampir werden läßt (der Hauptmann und Ottilie werden als »Sukkubus« und »Inkubus« bezeichnet)381, der dann verzehrend für die anderen wirkt. Dieserart läßt sie Eduard impotent werden, das Begehren des ehemaligen Frauenhelden verstummt vor ihren stummen Gebärden. Selbst als im verschwiegenen Gasthaus alle Gelegenheit zum Vollzug des Seitensprungs gegeben ist, sieht er sie mit einem Textzitat aus dem Roman »gern als seine Tochter«. In logischer Folge ihrer Prägung als Erzieherin wird für Kittler Ottilie dann auch zur Pflegerin des Kindes, das gemäß der neuen Gesellschaftsordnung nicht mehr einer Amme übergeben, sondern 378 379 380 381
Ebda., S. 263. Vgl. ebda., S. 264. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 262.
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von ihr, wie ebenfalls ausdrücklich vermerkt, »mit Milch und Wasser« aufgezogen wird. Sie setzt sich also an die Stelle der biologischen Mutter und bedarf solcherart keiner eigenen Kinder mehr. Als »unfruchtbare und dem Kind endlich tödliche Jungfrau« spiegle sie den biologischen Müttern vor, was nunmehr »eigentliche Mutterschaft heiße«, so Kittler382, der einmal mehr auf ihre Rolle der »neugeschaffenen Himmelskönigin« (WV 404) im lebenden Bild verweist. In der Wiederholung dieser Madonnenszene mit Ottilie als (lesender) Penserosa in der Szene des Kindstodes verursache dann, so Kittler, entsprechend dieser Bestimmung ein Buch den tödlichen Unfall. Dieserart soll sie den anderen Romanfiguren als das »Phantasma einer zugleich idealen und empirischen Mutterschaft« erstehen383 ; Kittler sieht das Gelingen dafür darin, daß der Hauptmann beim Anblick des toten Kindes in seinen Gedanken Ottilie mit einem eigenen Kind auf dem Arm sieht, und zwar als »vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt«, wie es in der Szene heißt. Selbstredend gibt es keine ideale und empirische Mutter. Aber eben darum erscheint Ottilie den Männern und Lesern, um jenem Phantasma Stoff und Futter zu geben. Sie ist erotisierende Funktion unter Bedingungen einer Kultur, die ihre biologische Reproduktion disziplinierend ausbeutet und Frauen deshalb nur in der Dichotomie von Mutter und Hysterica statuiert. Dem unmöglichen und verheißenen Zusammenfall von Charlotte und Ottilie, empirischer und idealer Mutter, begehrter Frau und geliebter Jungfrau jagt Eduard nach, wenn er mit Charlotte schlafend von Ottilie träumt.384
heißt es schließlich mit Bezug auf Foucaults Histoire de la sexualit8. In ähnlicher Weise zeichnet Kittler den Hauptmann als mit Zügen eines idealen Erzeugers und Vaters in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ausgestattet. Wie später Peter von Matt geht auch Kittler den Einrichtungen der ärztlichen und sozialen Versorgung und der Einführung neuer Vermessungsund Verwaltungstechniken nach, die unter der Ägide des Hauptmannes umgesetzt werden und zeichnet ihn als »Scharfrichter« des untergehenden Feudaladels und jenes Systems, mit dem »nach Benjamins Wort mit dem letzten Bettler auch der Mythos vergeht«385, und der das Almosenwesen in eine effektive Vorform des Sozialstaats verwandelt. Auch für dieses »wunderbare Beamtenthos«, das in vorbildlicher Weise schließlich selbst für den geeigneten Nachfolger und Ersatz Sorge trage, indem der Hauptmann den Architekten mit der weiteren Ausführung seiner Pläne beauftragt, nennt Kittler konkrete historische Exponenten als Vorbilder für die Revolutionierung des Staatssystems. Für Kittler 382 383 384 385
Vgl. ebda., S. 265f. Vgl. ebda., S. 266. Ebda. Vgl. ebda., S. 270.
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belegt dies das in den Wahlverwandtschaften durchaus nicht nebensächliche »zeitgeschichtliche Interesse«, das dem Roman in anderen Deutungen abgesprochen wird, so etwa, wie Kittler anführt, von Emil Staiger in dessen zweibändiger Goethe-Monographie aus den 50er-Jahren386. Für Kittler vergeht also mit der Zeit des Mythos der Bettler auch jene des Mythos der Liebe. Ottilie wird als fatale Nullstelle in diesem Summenspiel gesehen, das nunmehr der Unterdrückung von Gefühlen dient, Eduard setzt mit ihr als unfruchtbarer Wunschpartnerin sozusagen aufs falsche Pferd und sucht unter diesen Bedingungen den Tod in jenen Kriegen, die »die Verbesserung Mitteleuropas« in Gang gesetzt haben387. »Der Roman ist das Protokoll einer Nötigung nach Plan und Neigung, Beamtenethos und Mütterlichkeit, die über dem Grab eines Barons ihren stummen Sieg feiert. Der Protokollant aber feiert nicht mit.«388 Diesen Niedergang, schließt Kittler, will Goethe in den Wahlverwandtschaften darstellen; das Motto, das Kittler seinem Aufsatz voranstellt, lautet »I fought in the old revolution / on the side of the ghosts and the kings.« Goethes kritische Sicht auf die neuen Bildungssysteme ist unter anderem den Tagebüchern seines jungen Bekannten Sulpiz Boisser8e zu entnehmen. Von Kittler nicht genannt, dürften diese Aufzeichnungen zu den Quellen für den äußerst konkreten Bildungspessimismus gehören, den Kittler in den Wahlverwandtschaften verwirklicht sieht, oder deuten jedenfalls eindrücklich auf ihn hin: Abends mit Goethe auf dem Geisberg […] Ober-Bergrat Cramer war mit, es wurde eben gezecht in der Schenke. […] Ein Schwager von Cramer von Hanau kam nach – ein Töchterchen des alten Ober-Bergrats – etwa 16jährig – führte ihn zu uns, ein ganz einfaches frisches Kind mit ihrer großen Pestalozzischen Rechen-Kunst. Goethe erzählte uns von der Schule hier und ließ dem Mädchen keine Ruhe bis sie sich selbst eine algebraische Aufgabe – aber in Zahlen – gab und die Auflösung machte. Es war eine verwickelte Aufgabe – 3 unbekannte Zahlen, von denen nur die Verhältnisse unter sich angegeben waren. Mir wurde ganz schwindelig bei der Auflösung – vorerst war es einmal nicht möglich zu folgen – dann aber die Bestimmtheit die Förmlichkeit womit das Kind die trockenen Dinge aussprach, die man sonst nur in den mathematischen Hörsälen zu hören kriegt – und wie sich dies arme Köpfchen was darauf zugut tat, mit den hohlen Zahlen und Verhältnissen herumzuwirtschaften, wie es gar selbst mit über diese Kunst sprach und vernünftelte – warum es Elementar-Unterricht genannt würde, da es, wie Goethe bemerkte, doch ganz darüber hinausging’ – weil jeder alles selbst finde und erfinde – endlich über Buchstaben-Rechnung, Gleichungen usw. Das alles mit der festen schulmeisterlichen Haltung setzte mich wahrhaft in Schrecken. […] Als wir im Dunkel gegen 10 nach Hause kamen, klagte G. seinen Jammer über dies Pestalozzische Wesen. – Wie das ganz vortrefflich nach seinem ersten Zweck und Be386 Vgl. ebda., S. 271. 387 Vgl. ebda. 388 Ebda.
Zeitgenössische Rezension, neuere Forschung
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stimmung, wo Pestaloz nur die geringe Volksklasse im Sinne gehabt, die armen Menschen, die in einzelnen Hütten in der Schweiz wohnten und die Kinder nicht in Schulen schicken können. Aber wie es das Verderblichste von der Welt werde sobald es aus den ersten Elementen hinausgehe, auf Sprache Kunst und alles Wissen und Können angewandt werde, welches notwendig ein Überliefertes voraussetze, und wo man nicht mit unbekannten Größen, leeren Zahlen und Formen zu Werk gehen könne. – Und nun gar dazu der Dünkel, den dieses verfluchte Erziehungswesen errege – da soll ich nur einmal die Dreistigkeit der kleinen Buben hier in der Schule sehen, die vor keinem Fremden erschrecken, sondern ihn in Schrecken setzen! Da falle aller Respect, alles weg was die Menschen unter einander zu Menschen macht, weg. »Was wäre denn aus mir geworden«, sagte er, »wenn ich nicht immer genötigt gewesen wäre, Respect vor anderen zu haben. Und diese Menschen mit ihrer Verrücktheit und Wut alles auf das einzelne Individuum zu reduzieren und lauter Götter der Selbständigkeit zu sein, diese wollen ein Volk bilden und den wilden Scharen widerstehen, wenn diese einmal sich der elementarischen Hand-Haben des Verstandes bemächtigt haben, welches nun gerade durch Pestaloz unendlich erleichtert ist – Wo sind da religiöse, wo moralische und philosophische Maximen, die allein schützen könnten!« Er fühlte recht eigentlich einen Drang mir über alles dies sein Herz auszuschütten, und ich selbst war von alle diesem voll, es sprach mich gleich an wie eine Meldung des Jüngsten Tages, und die Furcht vor den Russen war mir beim Namen Sievers – den Cramer als einen der schärfsten Prüfer und größten Rühmer der hiesigen Schule genannt hatte – in ihrer ganzen Macht aufgestiegen – So führten wir uns wechselseitig in das Gespräch hinein – und Goethe bat mich wiederholt um Gottes willen nicht in die Schule zu gehen, ich würde zu sehr erschrecken. Cramer hatte mir schon vor seiner Rückkehr gesagt daß ihn das Pestaloz. Wesen außerordentlich interessiere und er immer davon spreche. – So hörte ich auch Sonntags – daß er (noch ganz voll von unserem Gespräch des vorigen Abends) in Bieberich bei Hof von dem Töchterchen und dem ganzen Wesen gesprochen habe.389
Von »Liebe« bleibt in Kittlers Darstellung, wie er selbst am Schluß betont, wenig zu sagen übrig390. Seine Sicht auf die allen Protagonisten fatale Rolle der Bildung jedenfalls nimmt ein zentrales Motiv der Interpretation Walter Benjamins wieder auf, setzt aber explizit an die Stelle des dort als »Schein« gefaßten Prinzips einer gefühlsverzehrenden Taubheit, die sich im Herzen des für Benjamin »edelsten Wesens« Ottilie »ansiedelt«, das repressive Prinzip einer »geschlechtsspezifischen und datierbaren Pädagogik«, die »ein pädagogisches Herz mehr« geformt habe391. Die Zeichnung von Ottilie als Produkt einer Gesellschaft, die auf die Formung von begehrensgehemmten und begehrenshemmenden Wesen abzielt und damit eine hysterische Anorektikerin hervorbringt, ist in einigen Darstellungen vor allem aus den 80er-Jahren zu finden, so auch z. B. bei Wolf Kittler392. 389 390 391 392
Sulpiz Boisser8e, Tagebücher 1808–1854, Bd. I. 1808–1823, S. 234f. Vgl. Friedrich Kittler, Ottilie Hauptmann, S. 271. Vgl. ebda., S. 264. Vgl. Wolf Kittler, Goethes Wahlverwandtschaften: Sociale Verhältnisse symbolisch darge-
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III. 4.2.8. Das Geschick der Liebenden: Vernichtung kraft der Natur Während also die älteren Deutungen das Strafgericht für Emotionen, das der Roman in jedem Fall thematisiert, im Allgemeinen als religiöses oder besser : als Problem individueller Sittlichkeit und Ethik, als Problem der Überwindung von Naturgegebenheiten bzw. des ihnen innewohnenden »tragischen Prinzips«, wie es bei Abeken heißt, diskutiert, stellen neuere Interpretation verstärkt politische Dimensionen und Zeitbezüge in den Vordergrund. Als Kontrast dazu und Ergänzung zu ersteren eine Differenzierung zu Abeken; sie soll noch einmal darauf hinweisen, wie sehr in der zeitgenössischen Rezeption die Betonung auf der Beherrschtheit durch Emotionen liegt, während die spätere Deutung beginnt, den Akzent auf die aktive Rolle der Protagonisten beim Beherrschen von Emotionen zu legen: Wo in den übrigen Wesen die Natur ihre Kräfte walten läßt, da entsteht Leben, da ist Dauer; und den Menschen vernichtet sie oft durch eben diese Kräfte. – Das ist das tragische Prinzip, das in den Wahlverwandtschaften herrscht, und das unwiderstehlich uns ergreift und die Menschheit in uns erschüttert. […] Eduard fühlt alsbald, wie nahe er Ottilien angehört; er gibt sich dem Zuge hin, ohne Widerstand zu leisten, und seine Leidenschaft ist mit Bewußtseyn vermählt. – Anders Ottilie. Nicht von bewußter Leidenschaft, sie wird vom Schicksal hingerissen, und findet sich von seinem Strome gefaßt, ehe sie weiß, daß sie hineingerathen ist. Es m u ß t e also seyn. Da beginnt das Tragische der Geschichte, und schon im Anfange des Buches, wir wissen nicht wie, ergreift uns der Schmerz und die bange Ahnung – welche ihre höchste Höhe erreicht an Ottiliens Geburtstage, da Eduard das Feuerwerk in die Lüfte rauschen läßt. Hier ist das erhabene Gedicht in seiner Begeisterung, in einem heiligen Wahnsinne, einer Gärung, von welcher aus sich das glühendste Leben in alle Enden verbreitet. […] Und jener Wahnsinn ist zugleich ein Symbol für das Geschick der Liebenden. Eduards Leidenschaft hat zu Ottiliens Fest das Feuerwerk bereitet; nichts auf der Welt vermag ihn von der Ausführung zurückzuhalten. Und wie die Feuerkugel, mit brennbarem Stoffe gefüllt, wenn sie einmal in Brand gerathen ist, sausend durch die Luft fährt, und ihre Bahn durchstürmt, und keinen Halt kennt – bis sie zerstiebt und sich vernichtet; – so fährt das Geschick mit den Liebenden dahin, da es sie ergriffen und dem Untergange geweiht hat.393
Deutlich ist hier der Lessingsche Aufruf zum Mitleiden mit den Charakteren zu erkennen. Ottilie, die bei Abeken den Prüfungen der »Naturnothwendigkeit« ausgesetzt ist, beweist für ihn durch ihren freiwilligen Verzicht selbst auf Nahstellt, in: Norbert W. Bolz (Hrgs.), Goethes Wahlverwandtschaften – Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Verlag Gerstenberg, Hildesheim 1981, S. 231–259, hier besonders S. 234f. – Zum Hungermotiv vgl. auch Irmgard Egger, »[…] ihre große Mäßigkeit«: Diätetik und Askese in Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«, in: Goethe-Jahrbuch, Herausgegeben von Werner Keller, 114. Bd. der Gesamtfolge, Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1997, S. 253–263. 393 Vgl. Abeken, Fragmente, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 122f.
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rung ihre »heiligen Gedanken«, die ihr »höheres Leben« sind394. Sie machen sie wie eine Märtyrerin zwar verwund- und vernichtbar, aber nicht überwindbar, sie wird somit zum Inbegriff der »Würde der menschlichen Natur, die in dem furchtbaren Drange der Noth und des Leids erst recht hervortritt, siegreich, anbetungswürdig«395. In dieser Dimension wird sie schließlich durch Buße zur Heiligen und der Roman zum Abbild der »Höhe, zu welcher die Kunst steigen kann«, nachdem sich für Abeken schon im Werther die Gestaltungskraft des Autors ankündigt396. Goethes Verdienst besteht für ihn nicht zuletzt darin, vor dem Hintergrund der politischen Wirren den Menschen auf die »Kraft in seinem Innern« aufmerksam zu machen und an Charlotte wie Ottilie »eine Stimmung der Seele« zu zeigen, an der die Gewalt der Natur sich bricht, und die »einen Himmel auf der Erde zu schaffen vermag«397.
III. 5. Das Erbe der Schuld – Antike und Moderne – von Benjamin bis Solger III. 5.1. Sittlichkeit: Freiheit der Bildung Als »Märtyrerin« stirbt Ottilie auch bei Walter Benjamin. Weniger als bei Abeken steht hier jedoch der Anklang an eine letztlich trotz allem christliche Symbolik im Hintergrund, sondern es geht vielmehr um die Verletzung eines mythischen Gesetzes, dem nach Benjamin aus der Romanlogik heraus ein Opfer gebracht wird. Aufs entschiedenste weist er die Deutungen zurück, die in Mittlers Verteidigung der Ehe die persönliche Haltung des Autors wiedergegeben sehen: »Niemandem sollte das Unreine darin entgehen, jene Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit im Leben der Gatten.«398 Für Benjamin ist es nicht der Anspruch einer rechtlichen »Satzung«, der Ehe als Institution, dem genüge getan werden muss, sondern die Ehe ist hier einzig als »Ausdruck für das Bestehen der Liebe, die ihn von Natur im Tode eher suchte als im Leben« zu sehen. Daß im Roman die Rechtsnorm angesprochen wird, begründet sich für Benjamin also darin, daß es Goethe nicht um die »Begründung« der Ehe gehe, wie sie Mittlers Rede faßt, sondern darum, die »Kräfte« zu zeigen, die im Verfall der Ehe aus ihr hervorgehen:
394 395 396 397 398
Vgl. ebda., S. 125f. Vgl. ebda., S. 125. Vgl. ebda., S. 126. Vgl. ebda., S. 126f. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 12.
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Dieses aber sind freilich die mythischen Gewalten des Rechts, und die Ehe ist in ihnen nur Vollstreckung eines Unterganges, den sie nicht verhängt. Denn nur darum ist ihre Auflösung verderblich, weil nicht höchste Mächte sie erwirken. Und allein in diesem aufgestörten Unheil liegt das unentrinnbar Grauenvolle des Vollzugs. Damit aber rührte Goethe in der Tat an den sachlichen Gehalten der Ehe. Denn wenn auch unverbildet diesen [sic, I.R.] darzutun in seinem Sinne nicht lag, so bleibt die Einsicht in das untergehende Verhältnis gewaltig genug. Im Untergange erst wird es das rechtliche, als das Mittler es hochhält. Goethen aber fiel es, wiewohl er von dem moralischen Bestande dieser Bindung eine reine Einsicht nie gewonnen, doch nicht bei, die Ehe im Eherecht zu begründen. Es ist die Moralität der Ehe für ihn im tiefsten und verschwiegenen Grunde am wenigsten zweifelsfrei gewesen. Was er im Gegensatz zu ihr an der Lebensform des Grafen und der Baronesse darzulegen wünscht, ist das Unmoralische nicht so sehr als das Nichtige. Dies eben bezeugt sich darin, daß sie weder der sittlichen Natur ihres gegenwärtigen Verhältnisses sich bewußt sind, noch der rechtlichen derjenigen, aus denen sie ausgetreten sind. – Der Gegenstand der »Wahlverwandtschaften« ist nicht die Ehe. Nirgends wären ihre sittlichen Gewalten darin zu suchen. Von Anfang an sind sie im Verschwinden, wie der Stand unter Wassern zur Flutzeit. Kein sittliches Problem ist hier die Ehe und auch kein soziales. Sie ist keine bürgerliche Lebensform. In ihrer Auflösung wird alles Humane zur Erscheinung, und das Mythische verbleibt allein das Wesen.399
Es geht also nicht um die Bindung an eine soziale oder sonst von außen bestimmende Norm, sondern um die »individuelle Ausprägung des Schicklichen«, die »individuelle Ausprägung des Geistes«, also um »alles dasjenige, was Bildung genannt wird«, und dieses gehört ausschließlich dem »Gebiet der Freiheit« an400. Bildung ist nach Benjamin das, was die Protagonisten vor allem zeigen, der Wert der Bildung aber ist nur dann gewahrt, wenn sie freiwillig bekundet wird. Das »Edle«, so Benjamin, ist mithin an dieses Gesetz der Äußerung gebunden, und die Figuren des Romans lassen es an diesem »Adel« der eindeutigen Bekundung fehlen, indem sie durch Zögern, Schweigen und Nachsicht der Klarheit der Entscheidungen aus dem Weg gehen401. Für Benjamin verfallen damit sie, die gebildeten Menschen, die sich besonders etwa für frei von Aberglauben halten, in Wirklichkeit einer trügerischen Freiheit, ähnlich der Unfreiheit, die Mittler in seiner abergläubischen Angst zeigt, den Friedhof zu betreten. Sie fühlen sich frei, den Friedhof nach ihren Wünschen umzugestalten, die Grabsteine an der Kirchenmauer aufzureihen, Beete anzulegen. Damit entziehen sie sich aber die eigenen Wurzeln: Keine bündigere Lösung vom Herkommen ist denkbar, als die von den Gräbern der Ahnen vollzogene, die im Sinne nicht nur des Mythos, sondern der Religion den Boden unter den Füßen der Lebenden gründen. Wohin führt ihre Freiheit die Handelnden? 399 Ebda., S. 12f. 400 Vgl. ebda., S. 13. 401 Vgl. ebda., S. 13f.
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Weit entfernt, neue Einsichten zu erschließen, macht sie sie blind gegen dasjenige, was Wirkliches dem Gefürchteten einwohnt. Und dies daher, weil sie ihnen ungemäß ist. Nur die strenge Bindung an ein Ritual, die Aberglaube einzig heißen darf, wo sie ihrem Zusammenhange entrissen rudimentär überdauert, kann jenen Menschen Halt gegen die Natur versprechen, in der sie leben. Geladen, wie nur mythische Natur es ist, mit übermenschlichen Kräften, tritt sie drohend ins Spiel. Wessen Macht, wenn nicht die ihre, ruft den Geistlichen hinab, welcher auf dem Totenacker seinen Klee baute? Wer, wenn nicht sie, stellt den verschönten Schauplatz in ein fahles Licht? Denn ein solches durchwaltet – eigentlicher und umschriebener verstanden – die ganze Landschaft. An keiner Stelle erscheint sie im Sonnenlicht.402
So bleiben für Benjamin alle Bemühungen um den Park und die Gestaltung des Gartens leeres Tun, es ist, so betont er, niemals von Saaten die Rede oder anderen dem Unterhalt und nicht der Unterhaltung oder Zierde dienenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten oder Erträgnissen403. Das Gut werde von vornherein zu einer Unterweltlandschaft stilisiert, deren Bewohner sich im Spiel mit dem »Oben« – dem Garten – und dem »Unten«, eben der magnetischen Kraft, die »[d]esto deutlicher« im und aus dem Erdinnern spricht, gefallen404. Mit dieser Kraft haben sie zwar Gemeinschaft, aber ihre Anstalten zur Verschönerung des Gartens bleiben dennoch nur »Wandel von Kulissen einer tragischen Szene«405. Dieserart manifestiert sich in ihrem Dasein eine »verborgene Macht«, die sich auch in der Stille des Sees spiegelt; Wasser, nach Benjamin das »chaotische Element des Lebens«, erscheint im Roman nicht als wild bewegtes, sondern läßt den Menschen in seiner Rätselhaftigkeit, in seiner spiegelnd »toten Fläche« untergehen406. Mit dem fortschreitenden Gelingen der Zusammenführung der stehenden Gewässer, die im Verlauf der Handlung verbunden werden – was schrittweise festes Land kostet – zeige sich nämlich, daß wieder der alte Bergsee entstehe, der sich hier vorher befunden hat. Auf diese Weise enthüllt sich für Benjamin der »übermenschlich[e]« Charakter der Natur, der sich unter den Händen der Protagonisten regt und dem sie auf besondere Art verhaftet bleiben, nämlich als ihr »Spielball«407. Dies knüpft an eine Bemerkung Eduards an, der Charlotte gegenüber äußert, er hänge doch eigentlich nur von ihr ab: Von Anfang an stehen die Gestalten unter dem Banne der Wahlverwandtschaften. Aber ihre wundersamen Regungen begründen, nach Goethes tiefer, ahnungsvoller Anschauung, nicht ein innig-geistiges Zusammenstimmen der Wesen, sondern einzig die besondere Harmonie der tiefern natürlichen Schichten. Die nämlich sind mit der leisen 402 403 404 405 406 407
Ebda., S. 14f. Vgl. ebda., S. 15. Vgl. ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 16f.
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Verfehltheit gemeint, die jenen Fügungen ohne Ausnahme anhaftet. Wohl paßt Ottilie sich Eduards Flötenspiel an, aber es ist falsch. Wohl duldet Eduard lesend bei Ottilie, was er Charlotten verwehrte, aber es ist eine Unsitte. Wohl fühlt er sich wunderbar von ihr unterhalten, aber sie schweigt. Wohl leiden selbst die beiden gemeinsam, aber es ist nur ein Kopfschmerz. Nicht natürlich sind diese Gestalten, denn Naturkinder sind – in einem fabelhaften oder wirklichen Naturzustande – Menschen. Sie jedoch unterstehen auf der Höhe der Bildung den Kräften, welche jene als bewältigt ausgibt, ob sie auch stets sich machtlos erweisen mag, sie niederzuhalten. Für das Schickliche ließen sie ihnen Gefühl, für das Sittliche haben sie es verloren. Nicht ein Urteil über ihr Handeln ist hier gemeint, sondern eines über ihre Sprache. Denn fühlend doch taub, sehend doch stumm gehen sie ihren Weg. Taub gegen Gott und stumm gegen die Welt. Rechenschaft mißlingt ihnen nicht durch ihr Handeln, sondern durch ihr Sein. Sie verstummen.408
Als wichtigste Verbindung des Menschen zur Sprache bezeichnet Benjamin den Namen. Dementsprechend sieht er in der Kargheit der Namensgebung in einem Roman solchen Umfangs ein Zeichen der dunklen Ordnung, die ihre Mitglieder »unter einem namenlosen Gesetze dahinleben« lässt; es ist das Omen eines Verhängnisses, das »ihre Welt mit dem matten Licht der Sonnenfinsternis erfüllt«409. Vor diesem Hintergrund ist es nur wenig überraschend, daß Benjamin auch »die Fülle vorverkündender und paralleler Züge«, also die geradezu überdeutlich Motive wiederholende und miteinander verknüpfende Komposition des Romans (Glas-, Ketten-, Kästchenmotiv etc.) als Kette einer alles verbindenden und den Roman bis ins Tiefste bestimmenden »Todessymbolik« interpretiert410. Mit Bezug auf die oben zitierte Äußerung Goethes zu den »bösen Häusern« und der ebenfalls schon genannten Bemerkung Goethes zu Boisser8e, in der das rasche Herbeiführen der Katastrophe im Roman betont wird, geht Benjamin dieser Motivik im Detail nach und legt besonders die Vorausdeu408 Ebda., S. 17f. Die schweigend unterhaltsame Ottilie geht zurück auf die Bemerkung Eduards zu Charlotte am Beginn des 6. Kapitels, kurz nach Ottilies Ankunft: »Sie ward den Männern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt. […] Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran teilgenommen hätte. Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: »Es ist ein angenehmes, unterhaltendes Mädchen.« »Unterhaltend?« versetzte Charlotte mit Lächeln; »sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan.« »So?« erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, »das wäre doch wunderbar!« (WV 281). – Wieland, der sich mit den Wahlverwandtschaften intensiv beschäftigt hat, die Zeichnung der Figur der Ottilie aber als eindeutigen Schwachpunkt empfindet, bemerkt zu dieser Szene (von Abeken wiedergegeben): »Einzelnes entzückte ihn, so das von Eduard über Ottilie […] ausgesprochene Wort »Sie ist ein angenehmes, unterhaltendes Mädchen,« […] »Für dieses eine Wort, sagte Wieland, würde ich, wenn ich der Herzog wäre, Goethen ein Rittergut schenken.« Sollte wohl Wieland in seiner Bewunderung das volle Gewicht, das Goethe in diese Worte gelegt, erkannt haben?« Zit. nach »Urteile Goethes und seiner Zeitgenossen«, Kommentar HA, Bd. 6, S. 670f. 409 Vgl. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 18. 410 Vgl. ebda., S. 18f.
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tungen des Untergangs offen, die vom Einsinken des Damms an Ottilies bis zur Einweihung des Grabhauses an Eduards Geburtstag alle Feste bestimmt411.
III. 5.2. Weil es die Guten mittrifft: »Schicksal« und »Typik« bei Benjamin In ähnlicher Weise verbindet sich für Benjamin das Kästchen, das Eduard Ottilie schenkt, und das den Stoff enthält, aus dem später ihr Totengewand gemacht wird, mit einem Fund des Architekten. Es dient ebenso dem Putz, stellt jedoch in Wirklichkeit einen Fund aus einer alten Grabstätte dar. Eines der bekanntesten Motive aus den Wahlverwandtschaften ist das Glas, das als Beigabe bei der Grundsteinlegung des neuen Hauses zerbrochen werden soll, aber von einem Handwerker in der Luft aufgefangen wird. Eduard sichert sich das Glas, das eigentlich nur seine eigenen Initialen E & O zeigt und wertet den Vorfall als glückliches Vorzeichen einer nahen Verbindung mit Ottilie – für Benjamin das Urmotiv der Verblendung im Roman: dort, wo die Protagonisten auf die Verkündung des Unheils hören sollten, interpretieren sie die Zeichen als günstig und übersehen deren todbringende Bedeutung412. Ebenso übersehen sie, daß sie der Natur zuwider oder ohne Einsicht in ihr Wirken handeln. Als Eduard später beschließt, nicht als Todsuchender, sondern als einer, »der zu leben hofft«, wie es im Roman heißt, in den Krieg zu ziehen, sagt er, er wolle sich selbst »an Stelle des Glases zum Zeichen machen«, ob die Verbindung zu Ottilie möglich sei oder nicht. Auf diese Weise, so Benjamin, bietet Eduard dem »Geschick« zweimal sein Opfer an413. Entgegen der üblichen Sichtweise, wie sie für Benjamin auch R. M. Meyer vertritt, handelt es sich für ihn bei dieser durchgängigen Zueinanderstellung und Wiederaufnahme der Motive nicht nur um eine für Goethe typische Art der Gestaltung414. Vielmehr ziele der im Sinne der Todessymbolik durchkompo-
411 Vgl. ebda., S. 19ff. 412 Vgl. ebda., S. 20. 413 Vgl. ebda., S. 21. Eine ausführliche Deutung des Glasmotivs im Zusammenhang der Interpretationswut der Figuren in Bezug auf die Schicksalszeichen nimmt Hartmut Böhme im genannten Aufsatz vor: »Kein wahrer Prophet« – Das Zeichen und das Nicht-Menschliche in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, bes. S. 107–119. 414 Die entsprechende Stelle bei Meyer lautet: »Schon bei den »Lehrjahren« hatten wir zu bemerken, daß Goethe auf eigentümliche Erfindung der Abenteuer das geringste Gewicht legt. Hier nun wird das zum Prinzip erhoben; so durchaus sollen alle Ereignisse nur als typische vorgestellt werden, daß ihrer jedes mehrfach auftritt, ja im Leben derselben Person mehrfach in bedeutenden Momenten dasselbe Ereignis sich wiederholt. Die Verwickelungen der Liebespaare werden nicht nur an dem Grafen und der Baronesse vorgebildet, sondern auch in der Unterhaltung mit diesen wird der Konvenienzheirat und der Scheidung als häufiger Vorkommnisse gedacht. […] Es geschehen nicht nur keine außerordentlichen
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nierte Roman darauf ab, im »einander Entsprechenden« die »ewige Wiederkunft alles Gleichen« abzubilden, die das Zeichen des Schicksals sei415. Also nicht nur ein Kunstprinzip, sondern das Prinzip des »schicksalhaften Seins«416 ist es, das nach Benjamin der Kette der wiederkehrenden Symbole zu entnehmen ist: Diese schicksalhafte Art des Daseins, die in einem einzigen Zusammenhang von Schuld und Sühne lebende Naturen umschließt, hat der Dichter durch das Werk hin entfaltet. Sie ist aber nicht, wie Gundolf meint, der des Pflanzendaseins zu vergleichen. Kein genauerer Gegensatz zu ihr ist denkbar. Nein, nicht »nach Analogie des Verhältnisses von Keim, Blüte und Frucht ist auch Goethes Gesetzes-, sein Schicksal- und Charakterbegriff in den Wahlverwandtschaften zu deuten«. Goethes so wenig wie irgendein anderer, der stichhaltig wäre. Denn Schicksal (ein anderes ist es mit dem Charakter) betrifft das Leben unschuldiger Pflanzen nicht. Nichts ist diesem ferner. Unaufhaltsam dagegen entfaltet es sich im verschuldeten Leben. Schicksal ist der Schuldzusammenhang von Lebendigem. […] Und so erscheint es [das Schicksalhafte, I.R.] in den »Wahlverwandtschaften«: als die Schuld, die am Leben sich forterbt.417
Benjamin spricht die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls schon zum Topos gewordene Lesart an, die Wahlverwandtschaften in Hinblick auf die gleichzeitige Entstehung der Farbenlehre und der Beschreibung der »Metamorphose« der Pflanzen zu interpretieren. Genau an dieser Unterscheidungslinie aber arbeitet Benjamin seine Deutung der »Typik« im Roman heraus. »Schicksal« erscheint als genau jene Macht, der sich das »Lebendige« nicht entziehen kann, weil es, wie er einem Vergleich der Wahlverwandtschaften mit dem Lustspiel Die Mitschuldigen durch Zelter entnimmt, »vor jede Tür tritt, weil es die Guten mittrifft«418. Durch seine (vererbte) Schuldverstrickung unterscheidet sich für Benjamin das Menschliche von der natürlichen »Unschuld« der Pflanzen, dies mache den direkten Vergleich mit Wachsen und Werden der Pflanzenwelt unzulässig. Da es somit den unschuldigen, den nicht a priori in Schuld verstrickten Menschen nicht gibt, liegt seine Aufgabe darin, diese »Natürlichkeit« der Schuld zu sehen und als menschliches Los zu akzeptieren, andernfalls ist es genau die Natürlichkeit der Schuld, von der der Mensch eingeholt wird419. Diese Schuld, und das ist für Benjamin das »Natürliche« und gleichzeitig Fatale daran, kommt unweigerlich zum Vorschein, und von hier schließt er auf die Rolle des Kindes im Roman. Als Verstoß gegen die natürliche »Schicksalsordnung« schleppt das
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Dinge, sondern es sollen auch keine geschehen; es handelt sich um ein einfaches Experiment unter normalen Umständen.« Siehe Meyer, Goethe, S. 576. Vgl. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 21. Vgl. ebda., S. 22. Ebda. So Zelter, vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 22f.
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Kind die Schuld seiner Eltern mit sich und erliegt so von vornherein dem Bannkreis ihrer Verstrickung; Benjamin zitiert hier Albert Bielschowsky420 : »Charlotte wird von einem Sohne entbunden. Das Kind ist aus der Lüge geboren. Zum Zeichen dessen trägt es die Züge des Hauptmanns und Ottiliens. Es ist als ein Geschöpf der Lüge zum Tode verurteilt, denn nur die Wahrheit ist wesenhaft. Die Schuld an seinem Tod muß auf die fallen, die ihre Schuld an seiner innerlich unwahren Existenz nicht durch Selbstüberwindung gesühnt haben. Das sind Ottilie und Eduard. – So ungefähr wird das naturphilosophisch-ethische Schema gelautet haben, das Goethe sich für die Schlußkapitel entwarf.« Soviel ist an dieser Vermutung Bielschowskys unumstößlich: daß es ganz der Schicksalsordnung entspricht, wenn das Kind, das neugeboren in sie eintritt, nicht die alte Zerrissenheit entsühnt, sondern deren Schuld vererbend vergehen muß. Nicht von sittlicher ist hier die Rede – wie könnte das Kind sie erwerben –, sondern von natürlicher, in die Menschen nicht durch Entschluß und Handlung, sondern durch Säumen und Feiern geraten. Wenn sie, nicht des Menschlichen achtend, der Naturmacht verfallen, dann zieht das natürliche Leben, das im Menschen sich die Unschuld nicht länger bewahrt als es an ein höheres sich bindet, dieses hinab.421
Diese Bindung an ein »Höheres« bezeichnet Benjamin als den Anteil des »übernatürlichen« Lebens im Menschen; im gleichen Maß, in dem dieser Anteil geringer wird, geht der Mensch immer mehr ein in den Bereich des »bloßen Lebens«, der per definitionem aus Schuld besteht422. Dies mündet in eine ausweglose Situation, in der jedes Handeln nur neue Schuld bedeutet. »Vom Geschick her ermessen ist jede Wahl »blind« und führt blindlings ins Unheil.« heißt es dazu423. Vordringlich entlang der wiederkehrenden Ausführung dieses Verblendungsmotivs ergibt sich Benjamins »mythische« Interpretation der Wahlverwandtschaften; daß dies vor der Folie des antiken Dramas geschieht, ist klar. Die Ausweglosigkeit, die sich aus der Sicht Benjamins für alle Protagonisten ergibt, ist endgültig und total, vor allem in dieser Dimension ist sie mythisch, auch märchenhaft. Doch selbst so gedacht, ist die Schuld, die Benjamin zeichnet, von geradezu monumentaler Größe: Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im Menschen wird sein natürliches schuld, ohne daß es im Handeln gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es in dem Verband des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekundet. Dem Unglück, das sie über ihn heraufbeschwört, entgeht er nicht. Wie jede Regung in ihm neue Schuld, wird jede seiner Taten Unheil auf ihn ziehen. Dies nimmt in jenem alten Märchenstoff vom Überlästigen der Dichter auf, in dem der Glückliche, der allzu 420 Vgl. Albert Bielschowsky, Goethe – Sein Leben und seine Werke, In zwei Bänden, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1904. Das Kapitel »Die Wahlverwandtschaften« findet sich im 2. Bd., S. 257–294. 421 Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 23. 422 Vgl. ebda. 423 Ebda., S. 24.
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reichlich gibt, das Fatum unauflöslich an sich fesselt. Auch dies das Gebaren des Verblendeten.424
III. 5.3. Geschick des modernen Menschen: »Liebe« – Karl Wilhelm Ferdinand Solger Interessant ist, daß Benjamin, der sich auf mehrere Interpreten explizit bezieht, auf die – freilich kurze – Rezension Solgers425, die gerade die Nähe der Wahlverwandtschaften zur antiken Tragödie zum Inhalt hat, nur sehr kursorisch eingeht. Benjamin lehnt hauptsächlich Solgers »sittliches Geschmacksurteil« ab und sieht im Besonderen dessen Charakterisierung der Figur des Eduard als zu kurz greifend426. Das mag damit zu tun haben, daß Solger in seinem Vergleich einen prinzipiellen Unterschied einführt zwischen dem Fühlen und Denken des Menschen der griechischen Tragödie und dem modernen, »individuellen« Menschen vor allem des Romans als neuer Form427. Der Roman ist nach Solger jene Gattung, in der die Problematik dieser modernen Individualität vor allem auch in ihren sozialen Zusammenhängen abgehandelt wird, der antike Mensch dagegen zeigt sich vielmehr eingebunden in den Verband des »Geschick[s] der Menschheit«: […] denn diese war die erste Erzeugung Gottes, die zweite erst setzte einzelne Menschen ab. Diese Einzelnen konnten daher nur bestehen, solange sie das Geschick der Menschheit zu dem ihrigen machten: wollten sie ihr eigenes für sich haben, so wurden sie von jenem allgemeinen ergriffen und zertrümmert. Dies beweist nicht allein die Kunst, welche es in seinen tiefsten Keimen darstellt, sondern auch die Geschichte in den höchsten Resultaten mit ihren Verbannungen, Ostracismen u. s. w. Kein großer Mann Griechenlands, der es durch seine Individualität war, ist anders als im Elende gestorben.428
Gegenüber der Antike, in der der Einzelne den allgemeinen Gesetzen der Einbindung in die »gesamte Menschheit« bzw. in die »Gattung« als gesamte nie entkommen kann, lebt der moderne Mensch nach Solger zwar »in der Gattung durch Anschauung aller übrigen Individualitäten«, sein persönliches Geschick ist aber eben diese Tatsache seiner Individualität bzw. seines »Charakters«429. Er 424 Ebda., S. 23. 425 Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Über die Wahlverwandtschaften (undatierter und unadressierter Brief aus Solgers nachgelassenen Schriften), in: »Urteile Goethes und seiner Zeitgenossen«, Kommentar HA, Bd. 6, S. 652–657; siehe ebenso Härtl, Dokumentation, S. 199–202. Solger war Philologe und lehrte ab 1809 Philosophie in Frankfurt an der Oder, später in Berlin (vgl. Härtl, Dokumentation, S. 471). 426 Vgl. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 16f. 427 Vgl. Solger, Über die Wahlverwandtschaften, Kommentar HA, Bd. 6, S. 653. 428 Solger, Über die Wahlverwandtschaften, zit. nach Kommentar HA, Bd. 6, S. 652. 429 Vgl. ebda., S. 653.
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trägt auch das Ebenbild Gottes in sich, und der Ausdruck dieses Geschicks seiner Individualität sind Liebe und Freundschaft. Ja, mehr noch, das Geschick des modernen Mensch ist die Liebe: Wer seiner Individualität sein Verhältnis zu der Gattung unterwirft, oder dies mit ihr vereinigt, der kommt durch. Und das stellt die Kunst im Roman dar. Alle heutige Kunst beruht auf dem Roman, selbst das Drama (»Iphigenia«, »Tasso«). Wer seine Individualität falsch versteht und meistert, oder … die Stimme des Gewissens überhört und dem klügelnden Verstande folgt, der geht unter. Und das ist der Gipfel der heutigen Kunst, der tragische Roman. Bei den Alten gibt es dagegen eine (so zu sagen) romantische Tragödie, wo der Charakter gerechtfertigt und im Sturze selbst verklärt wird (»Ödipus in Kolonos«).430
Für Solger beginnt in den Wahlverwandtschaften das Unglück schon damit, daß Eduard und Charlotte überhaupt heiraten, dies ist das erste Übel, der »erste Frevel« im Sinne der griechischen Tragödie (nach dem Agamemnon des Aischylos), dem die weiteren nur folgen431. Bezeichnend ist, daß Solger das Ende von Eduards und Charlottes früherer Liebesbeziehung, die sie als junge Leute verband, aber aus finanziellen Berechnungen der Eltern nicht in die Heirat mündete, als »weislich von Gott getrennte Verbindung« bezeichnet432. Schon in dieser Zwischenzeit versucht Charlotte, wie im Roman erwähnt wird, Eduard mit Ottilie zu verbinden. Daraus entsteht dann zwar doch die Ehe zwischen Eduard und Charlotte, aber aus einem »schwankenden Zustande«, wie es bei Solger heißt433. Für ihn stellt somit nicht das Dazukommen Ottilies und des Hauptmanns den Ausgangspunkt der Katastrophe dar, sondern diese gründet auf der Vorgeschichte des Paars Eduard und Charlotte. So ist es bei Solger vor allem der Kampf der Individualitäten mit ihrer Umgebung, von dem für ihn alles ausgeht; im Besonderen wird für ihn Eduard in der Auseinandersetzung mit den anderen immer »einseitiger«434. Hier zeigt sich eines der Leitbilder, denen Solger in seiner Darstellung folgt – für ihn ist Eduard zu schwach, zu wenig »seiner selbst mächtig« – was für Solger die Tragik des Romans mindert; wäre Eduard »innerlich größer«, so Solger, wäre sein Fall dramatischer und würde dem Roman mehr Gewicht verleihen435. Bei der Figur der Ottilie dagegen wird der sonst knappe und eher nüchterne Rezensent Solger überaus schwärmerisch: Aber das Größte und Heiligste darin ist wahrlich die so tief innerliche Ottilie, die ihr keusches Inneres herausgeben muß an den Tag des Schicksals, der dieser Sturm ihre Knospe aufweht und ihren heiligen Blütenstaub verstreut. Und göttlich ist es, daß auch 430 431 432 433 434 435
Ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 654.
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ihr erhabener Vorsatz und ihr Gelübde nichts mehr hilft. Sie kann ihre eigene innere Macht nur noch dazu anwenden, sich durch sich selbst zu vernichten. So ist es gründlich durchgeführt.436
Zur Folie des griechischen Dramas tritt hier wohl jene des bürgerlichen Trauerspiels. Ottilie erinnert in dieser Darstellung verblüffend an Emilia Galotti, die, um ihre Standhaftigkeit fürchtend, sich selbst »vernichtet«, hier noch dazu ganz aus eigener Kraft und nicht im Umweg über den Vater. Für Solger erklärt sich die Zeichnung des »ein wenig zu weichlich[en]« Eduard auch daraus, daß sie die moralische Kraft Ottilies nur umso mehr heraushebe, Ottilie wird dadurch für ihn zur eigentlichen Hauptfigur des Romans, zur Heroine437. An Zurechnung ihres Vergehens kann niemand denken, der diese reine verschlossene Knospe zu verstehen fähig ist. Sie weiß es ja in der Tat nicht, wie es mit ihr und Eduard steht, sondern es i s t so, ja sie selbst ist das ganze Verhältnis. Daß dieses hervorspringt und wirklich von dem verstehenden Leser gefaßt werden kann, ist allein eine Glorie um Goethes Haupt. […] Sie ist ja das wahre Kind der Natur und ihr Opfer zugleich. Mit diesen zwei Worten ist alles Schöne und Große ausgesprochen, was von Frauen zu sagen ist. Und wie unendlich und unerschöpflich ist dies! Es mußte notwendig hier eine Frau die Hauptperson sein.438
III. 5.4. Das »Product der Sünde« – Johann Peter Eckermann Wie sehr die zeitgenössische Rezeption herrschende Zeitmoral und Rollenbilder wiedergibt, ist schon verschiedentlich angeklungen, ausführlicher ließe sich das bei Johann Peter Eckermann untersuchen. Aus seiner Darstellung soll hier nur ein Detail, zwangsläufig verzerrend, ausgeschnitten werden, um noch einmal zu Walter Benjamin zurückzukehren. Eckermann stellt, wie erwähnt, seine »Bemerkungen über Goethe’s Wahlverwandtschaften«439 ganz unter das Motto der Warnung, die der Dichter hier anhand der Verirrungen der Charaktere gebe. Auch für Eckermann sind es v. a. die sittlichen Verfehlungen Eduards, die seiner »blinden, ungebändigten Leidenschaft« entspringen, Resultat einer zu laxen 436 Ebda. 437 Vgl. ebda., S. 656. 438 Ebda. – Die Überzeichnung von Ottilie als Heroine beschreibt Jean Paul schon als Anachronismus – und findet dafür gewohnt ironische Worte: »Sie [de Sta[l] findet Ottilien nicht rührend genug; Rez. aber findet, daß diese das Herz nicht blos bewege, sondern erquetsche. Dieser mehr als weibliche Werther erweckt mehr Antheil an seiner Liebe als der männliche, und in einer frühern Zeit hätte sie alle Herzen thränen-trunken gemacht. Was indeß immer eine Heldin bei der weiblichen Lesewelt zurücksetzt, ist, daß sie nicht der Held ist.« Zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 247. 439 In: Johann Peter Eckermann, Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe, Stuttgard, in der Cottaschen Buchhandlung, 1824, S. 150–189; siehe auch Härtl, Dokumentation, S. 291–303.
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»verkehrten Erziehung«. Sie lösen alles Unheil aus und töten in letzter Konsequenz das Kind und Ottilie440. Mittler bürgt, wie gezeigt, als Rückgrat für die moralische Integrität des Romans, seine genauen Gegenbilder sind für Eckermann der Graf und die Baronesse, die für das Böse an sich stehen, ja, sie läßt der Dichter »bloß auftreten, um die Saat des Bösen auszusäen«, und zwar in Ottilies »bewußtlose[m] Gemüth«441, so Eckermann. Dementsprechend diene ihr zweites Auftreten nur dazu, das in Ottilie Ausgesäte »besser empor zu ziehen«442. In ähnlichem Sinn dämonisiert wird auch das Kind: Die Wahlverwandtschaften gleichen in einem Stücke der Nacht von Correggio. Dort geht vom Kinde das Licht aus, hier das Unheil. Es tödtet schon bei seyner Taufe, es tödtet Ottilie, es tödtet Eduard. Gutes konnte auch aus ihm nicht hervorgehen, denn es ist das Product der Sünde, es ist das Erzeugniß eines doppelten Ehebruchs.443
Bei Eckermann liegt die Verantwortung für das Handeln ganz im Inneren der Charaktere. Das in seiner Fassung geradezu aktiv tötende Neugeborene ist ein Unheilbringer und wird gleichsam zur Sünde personifiziert. Diese Sicht zeigt Parallelen zur Benjaminschen Auffassung, die ebenfalls dem Kind zentrale Symbolhaftigkeit zuschreibt. Die Düsterkeit der Bilder transportiert hier eine ähnliche Grundstimmung, auch wenn Eckermanns Beschreibung mit ihrer Tendenz zur simplifizierenden Schuldzuschreibung (die vermutlich stark den pädagogischen Impulsen entspringt, die in seiner Darstellung nicht zu übersehen sind) aus der Sicht Benjamins wohl unzureichend wäre. Benjamin schreibt dem Kind, wie gezeigt, keinesfalls sittliche Schuld (»wie könnte das Kind sie erwerben«) zu, sondern sieht es als Opfer jener »natürlichen Schuld«, der seine Eltern durch »Säumen und Feiern« verfallen444. Dennoch liegt damit auch bei Benjamin, ähnlich deutlich wie bei Eckermann, ein starker Akzent auf der Rolle des bewußten moralischen Handelns. – Zu fragen bleibt, wo dabei genau der Unterschied zwischen dem an Zucht und Ordnung (»Selbstbeherrschung«) gemahnenden Aufruf Eckermanns bei der Kindererziehung und der etwas bedrohlichen Formel vom »Säumen und Feiern« bei Benjamin liegt. Auch Benjamins Darstellung vom Schicksal als »Schuldzusammenhang von Lebendigem«445 an sich läßt letztlich dem »Menschlichen« wenig Raum.
440 441 442 443 444 445
Vgl. Härtl, Dokumentation, S. 294f. Vgl. ebda., S. 295. Vgl. ebda. Ebda. Vgl. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 23. Vgl. ebda., S. 22.
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III. 5.5. Verblendung und »Todessymbolik« nach Benjamin Was Benjamin bei Solger aber stark kritisiert, ist, wie erwähnt, dessen Zeichnung von Eduard als »weichlichem« Charakter. Dies widerspricht für Benjamin der Ausgeliefertheit der verblendeten und damit falsch handelnden Charaktere an die Mächte des antik-tragischen Schicksals, das nach Solger der Roman darstellt. Solgers Betonung der individuell handelnden »modernen« Charaktere wiederum scheint für Benjamin kein Kriterium – auf die »moderne«, zeitgemäße Dimension des Romans, wie sie bei Solger betont wird, möchte ich gleich noch einmal zurückkommen. Für Benjamin steht der zugrundeliegende »mythische Gehalt«446 der Wahlverwandtschaften fest. Daß Goethe Deutungen wie jene von Abeken und Solger gelobt hat und, wie erwähnt, dafür gesorgt hat, daß sie »an sichtbarer Stelle«, so Benjamin, erschienen, stellt für Benjamin ein Täuschungsmanöver dar447. Goethe, so Benjamin, wollte sich damit nicht nur der kirchlichen Hetze oder der durch die konservative Leserschaft entziehen, sondern zog sich hinter diese Deutungen zurück, einerseits aus der Alterstendenz zum Selbstschutz heraus, andererseits, um das »Geheimnis« des Werkes zu wahren und zu verteidigen448. Für Benjamin stellen die offiziell in Umlauf gebrachten und teils von Goethe geförderten Versionen der zeitgenössischen Interpretation eine Art »Fabel der Entsagung«449 dar, die Goethe benutzte, um aus der Sicht Benjamins »dem Wissen tiefern Zugang zu versagen«450 und die »offenkundigen paganischen Tendenzen«451 des Werks und die »düstern Ritualtendenzen« seines »Ablaufs« für die Zeitgenossen zu verschleiern452. In der Darstellung Benjamins, die somit die Tendenz von Goethes alles bestimmenden Pessimismus in diesem Roman aufdecken will, ist demgemäß die Folge der skizzierten Verblendung der Figuren das Haften an äußeren Zeichen und deren falsche Deutung. Es geht also nicht so sehr oder nicht in erster Linie um einen moralischen Fall, sondern mehr um den geistigen, der den schuldverstrickten Menschen an seine unsichere Wahrnehmung ausliefert. Im »niederen« Zustand dieser dem falschen Aberglauben anhangenden Verfassung und ihrer daraus folgenden Verhaftung in der Welt des »Dinghaften« zeigt sich für Benjamin die mythisch motivierte Dimension der von ihm postulierten »Todessymbolik«453. Die Verblendung ist somit integraler Bestandteil derselben: 446 447 448 449 450 451 452 453
Vgl. ebda., S. 29. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 28f. Vgl. ebda., S. 29. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 27. Vgl. ebda., S. 28. Vgl. ebda., S. 24f.
Das Erbe der Schuld – Antike und Moderne – von Benjamin bis Solger
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Ist der Mensch auf diese Stufe gesunken, so gewinnt selbst Leben scheinbar toter Dinge Macht. Sehr mit Recht hat Gundolf auf die Bedeutung des Dinghaften im Geschehen hingewiesen. Ist doch ein Kriterium der mythischen Welt jene Einbeziehung sämtlicher Sachen ins Leben. Unter ihnen war von jeher die erste das Haus. So rückt hier im Maße, wie das Haus vollendet wird, das Schicksal nah. Grundsteinlegung, Richtfest und Bewohnung bezeichnen ebenso viele Stufen des Untergangs. […] Auch der Mühle im schattigen Waldgrund ist zu gedenken, wo zum ersten Male die Freunde sich im Freien versammelt haben. Die Mühle ist ein altes Symbol der Unterwelt. Mag sein, daß es aus der auflösenden und verwandelnden Natur des Mahlens sich herschreibt. Notwendig müssen in diesem Kreise die Gewalten obsiegen, die im Zerfallen der Ehe an Tag treten. […] Die Ehe scheint ein Geschick, mächtiger als die Wahl, der die Liebenden nachhängen. »Ausdauern soll man da, wo uns mehr das Geschick als die Wahl hinstellt. Bei einem Volke, einer Stadt, einem Fürsten, einem Freunde, einem Weibe festhalten, darauf Alles beziehen, deshalb wirken, Alles entbehren und dulden, das wird geschätzt.« So faßt Goethe in dem Aufsatz über Winckelmann den in Rede stehenden Gegensatz.454
Was dem Geschick entgegensteht, ist die »verletzte Satzung«; diese ist nach Benjamin Teil der »mythischen Urformen« wie die Sühne, die der Verletzung folgen muß455. Die Ehe als »Geschick« (nicht, wie oben erläutert, als rechtliche Institution) wird gestört und erfordert daher – ein Opfer. Auf diesen Endpunkt läuft bei Benjamin die ganze Reihe der der Todessymbolik angehörenden Motivketten zu. Jene Figur, durch die und in der die Opferhandlung ihrer Erfüllung zustrebt, ist auch bei Benjamin Ottilie. In diesem Zusammenhang greift er auf die Rezensionen von Abeken und Solger zurück, um herauszuheben, wie sehr Goethe seiner Ansicht nach auf einen Opferkonflikt hingearbeitet hat. Benjamin zitiert Abeken, der sich auf Ottilies Darstellung als »Schmerzensreiche« im lebenden Bild beruft, und Solger, der, wie dargestellt, Ottilie als »das wahre Kind der Natur und ihr Opfer zugleich« bezeichnet. Dennoch erfassen für Benjamin beide nicht, wie umfassend Ottilies Tod im Sinne einer Opferhandlung zu verstehen sei, da sie, Abeken und Solger, nicht »vom Ganzen der Darstellung«, sondern nur vom Charakter, vom Wesen der Heldin ausgingen, so Benjamin456. Als endgültigen Beweis für die Intention der Darstellung der mythischen Urformen von Sühne und Opfer führt Benjamin schließlich einen gattungstheoretischen an; interessant ist dabei, daß dieser parallelgeführt wird zu einer Überhöhung der Intention des Autors in eine darüberhinaus existierende, davon quasi unabhängige Absicht des »Werks«:
454 Ebda., S. 24. Zur Bedeutung des Hauses im Sinne der Ökonomie und der Haushaltung vgl. Joseph Vogl, Mittler und Lenker – Goethes Wahlverwandtschaften, bes. S. 150ff. 455 Vgl. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 24. 456 Vgl. ebda., S. 25.
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Daß ihr [Ottilies, I.R.] Tod – wenn nicht im Sinn des Dichters, so gewiß in dem entschiedeneren seines Werks – ein mythisches Opfer ist, erweist ein Doppeltes zur Evidenz. Zunächst: es ist dem Sinn der Romanform nicht allein entgegen, den Entschluß, aus dem Ottilies tiefstes Wesen wie sonst nirgends spräche, ganz in Dunkelheit zu hüllen, nein, auch dem Ton der Dichtung scheint es fremd, wie unvermittelt, fast brutal sein Werk an Tag tritt. Sodann: was jene Dunkelheit verbirgt, geht deutlich doch aus allem übrigen hervor – die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit des Opfers nach den tiefsten Intentionen dieses Romans. Also nicht allein als »Opfer des Geschicks« fällt Ottilie – geschweige, daß sie wahrhaft selbst »sich opfert« –, sondern unerbittlicher, genauer, als das Opfer zur Entsühnung der Schuldigen. Die Sühne nämlich ist im Sinne der mythischen Welt, die der Dichter beschwört, seit jeher der Tod der Unschuldigen. Daher stirbt Ottilie, wundertätige Gebeine hinterlassend, trotz ihres Freitods als Märtyrerin.457
Benjamin wendet sich also entschieden gegen die oben zitierte Sicht Solgers, Ottilie opfere sich selbst aus dem Empfinden für ihre Übertretung der Sittlichkeit heraus (die in der Bildsprache Solgers in eine eigenartig verschämtdeutliche Entjungferungsmetapher gefaßt ist). Von solchen Deutungen hebt sich für Benjamin der Roman in der tieferliegenden Intention der Beschwörung der mythischen Welt ab. Für ihn ist somit das Mythische zwar nicht die vordergründige Erscheinung, aber die Grundlage des »Sachgehalts« im Roman: »[…] als ein mythisches Schattenspiel in Kostümen des Goetheschen Zeitalters erscheint sein Inhalt«458 lautet demgemäß Benjamins oft zitierte Schlußfolgerung. III. 5.6. Ganz auf einheimischem und frischem Boden der Zeit: noch einmal Solger Wie zeitbezogen Goethe dieses »Schattenspiel« bis ins Detail gestaltet hat, ist zugleich Tenor vieler Briefäußerungen der Zeitgenossen. »[…] in dergleichen Geschichten aus moderner Zeit« heißt es etwa bei Jakob Grimm459. Achim von Arnim findet im Roman sehr treffend eine ganz bestimmte Gesellschaftsschicht dargestellt, vor allem die des »gebildeten Landedelmannes unserer Zeit« (in der sich nach ihm besonders viele Ehescheidungen finden). Er beteuert in einem Brief an seine spätere Frau Bettine Brentano, wie sehr man »unserm Herrgott und seinem Diener Goethe« danken müsse, daß wieder »ein Teil untergehender Zeit für die Zukunft in treuer, ausführlicher Darstellung aufgespeichert ist«460. In ähnlicher Weise gibt es Stimmen, die vor allem für die Figur des Mittler ganz bestimmte Vorbilder erkennen461. Härtl führt außerdem eine Bemerkung aus Friedrich Schleiermachers Ästhetik an: 457 Ebda. 458 Ebda., S. 26. 459 Vgl. Brief Jakob Grimms an Wilhelm Grimm vom 11. November 1809, in: »Urteile Goethes und seiner Zeitgenossen«, Kommentar HA, Bd. 6, S. 659. 460 Vgl. ebda., S. 660, Brief vom 5. November 1809. 461 Was Eckermann vielleicht bestärkt hat: »Goethe sprach viel über die »Wahlverwandt-
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Doch soll nicht bestritten werden, daß geistreiche Romane nicht auch in der Gegenwart spielen könnten […], z. B. Göthes Wahlverwandtschaften, wo Ansichten und Grundsätze entwickelt sind mit dem tiefsten Geist, die von dem größten Einfluß, von der größten Bedeutung für das gegenwärtige Leben sind.462
Auch negativen Stellungnahmen ist zu entnehmen, als wie realitätsnah die Schilderungen empfunden wurden. So zieht Friedrich Schlegel in einer Rezension das Fazit: Wenn das Urtheil der Welt daher den Geist und die innere Absicht der Wahlverwandtschaften durchaus schlecht und unsittlich findet, so hat die Welt auch dieses Mahl vollkommen Recht; aber nur darum ist das Buch unsittlich und gemein, weil es nichts mehr als den gemeinen Gang und Lauf eben dieser streng urtheilenden, aber nach alter Gewohnheit leicht und leichtsinnig handelnden Welt mit so vieler Kraft als Kunst darstellt.463
Für Solger ist die Schilderung realer Lebensbedingungen im Roman so umfassend, dass sich der Eindruck einer lückenlosen Kulisse ähnlich wie bei Benjamin fast aufdrängt: Über die Details der Umgebungen habe ich mich schon geäußert. So wie diese das ganz tägliche wirkliche Leben der Personen immer in gleicher Schwebung erhalten und gleichsam als Folie dienen, so verhält sich die Einflechtung von allem, was jetzt Mode ist, als Gartenkunst, Liebhaberei an der Kunst des Mittelalters, Darstellung von Gemälden durch lebende Personen und was sonst dahin gehört, zu dem Leben der Leser und des gesamten Zeitalters. […] Sie sind als vollkommen gültig, wahr und in der Zeit lebendig aufgefaßt und von dem höchsten und reinsten Standpunkt aus dargestellt. Sie sind sogar in die Handlung selbst als bedeutend verflochten: wenn zum Beispiel der Architekt am Ende beim Sarge Ottiliens dieselbe Stellung annimmt, die er einst als Hirte in dem Gemälde halten mußte. So sind wir ganz auf einheimischem und frischem Boden der Zeit. In diesem Roman ist, wie im alten Epos, alles was die Zeit Bedeutendes und Besonderes hat, enthalten, und nach einigen Jahrhunderten würde man sich hieraus ein vollkommenes Bild von unserm jetzigen täglichen Leben entwerfen können.464
In ähnlicher Weise wird das Verhältnis des Pensionsgehülfen zu Ottilie als aus »unserm heutigen eigensten Leben heraus gegriffen«465 geschildert. Auch die
462 463 464 465
schaften«, besonders daß jemand sich in der Person des Mittler getroffen gefunden, den er früher im Leben nie gekannt und nie gesehen. »Der Charakter«, sagte er, »muß also wohl einige Wahrheit haben und in der Welt mehr als einmal existieren. Es ist in den ›Wahlverwandtschaften‹ überall keine Zeile, die ich nicht selber erlebt hätte, und es steckt darin mehr, als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen im Stande wäre.« Gespräch mit Eckermann vom 9. Februar 1829, zit. nach Kommentar HA, Bd. 6, S. 644. Zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 264. Ebda., S. 157. Schlegels Rezension »Über Liebe und Ehe in Beziehung auf Goethe’s Wahlverwandtschaften« ist am 21. 5. 1810 im Oesterreichischen Beobachter erschienen. Solger, Über die Wahlverwandtschaften, zit. nach Kommentar HA, Bd. 6, S. 655. Vgl. ebda., S. 657.
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Betrachtungen und Reflexionen der Figuren werden bei Solger als Beweis für die Lebensnähe des Romans angeführt. Diese sind für ihn das wichtigste zeitgemäße Mittel, »auf Menschen zu wirken und in höherem Sinne in der menschlichen Gesellschaft gesellig zu leben«466 – und vor allem dafür, daß es hier stets um die Beobachtung und Untersuchung der menschlichen Individualiät gehe, und zwar auch dann, wenn diese Beobachtungen »von der Natur« ausgehen467. »Seht, wohin selbst das Studium der Natur diesen wahrhaften Dichter des Zeitalters geführt hat! In der Natur selbst erkennt er die Liebe, das sind die Wahlverwandtschaften.«468 Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied zu Benjamins Deutung. Für Solger sind trotz der Ähnlichkeit des Wirkens der Naturmächte mit jenen des Schicksals (was gegen seine These vom prinzipiellen Unterschied des antiken und des modernen Menschen zu sprechen scheint) die »Naturverhältnisse«, also etwa die magische Anziehung zwischen den Figuren, immer nur die Folge der »persönlichen Verhältnisse«469. Diese, die »Naturverhältnisse«, stehen für ihn nie im Vordergrund, ihnen ist »nicht der geringste Spielraum verstattet«, alle geschilderten Handlungsweisen der Protagonisten sind für ihn immer unmittelbar im »Charakter« der Personen gegründet470. Dies steht somit für Solger ganz im Gegensatz zur Antike, wo auch die Handlungen der einzelnen Personen »gänzlich vom Geschick selbst hervorgebracht werden«471. – Und Solgers Deutung steht damit ganz im Gegensatz zu der Benjamins, der eben diese antike Dimension der gänzlichen Abhängigkeit der Figuren vom Schicksal im Roman ohne Ausnahme und bis zur Konsequenz des Sühneopfers Ottilies durchgeführt sieht. Benjamin negiert somit die Willensfreiheit, die für Solger zentral zum »modernen« Menschen, den Goethe nach seiner Ansicht schildert, gehört; darauf fußt Benjamins ganze Interpretation. Unsere Analyse kann diesen Widerspruch nur teilweise klären. Jene Dimension, in der sie aber einen Beitrag leisten kann, ist die Beleuchtung der bei Solger so wichtigen Kategorie der »persönlichen Verhältnisse« und vor allem des »Charakters«. Wie umfassend dieser Terminus zu verstehen ist, geht aus der Gewichtung der Präsensszenen deutlich hervor. So gehört Solger hier das Schlußwort, da ein Teil seiner Interpretation unsere Fragestellung explizit berührt. In Bezug auf die Darstellungsweise, die Goethe für die »Geschichte«, so Solger, des Romans gewählt hat, gibt nämlich Solger wenigstens einen Hinweis
466 467 468 469 470 471
Vgl. ebda., S. 655. Vgl. ebda., S. 654. Ebda. Vgl. ebda., S. 655. Vgl. ebda., S. 654f. Vgl. ebda., S. 655.
Das Erbe der Schuld – Antike und Moderne – von Benjamin bis Solger
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darauf, wie die auffällige Verwendung des historischen Präsens zu verstehen sei. Auch sie führt in die Nähe des antiken Dramas: Die Größe des Gegenstandes und die erhabene und reine Ansicht desselben hat eine solche Einfachheit der äußeren Hilfsmittel der Darstellung hervorgebracht, daß sich auch hierin das Werk der alten Tragödie sehr nähert, und daß man nach gemeiner Ansicht die Geschichte selbst fast nur das Gerippe eines Romans nennen könnte. Daher rührt auch die große Kürze der Erzählung gegen die langen und häufigen Reflexionen, und auch dieses, daß die Erzählung oft in das Präsens übergeht und mit kurzen, auf den ersten Anblick hart erscheinenden Zügen Zustände der Personen umreißt.472
472 Ebda., S. 655.
IV.
Praesens Historicum in den Wahlverwandtschaften: »gnomisches« und szenisches Präsens
IV. 1. »Gnomisches« Präsens – Terminologie, Grammatik, Anwendung im Text IV. 1.1. Terminologische Unterscheidung anhand der älteren Grammatiken: aoristischer Tempusgebrauch und gnomisches Präsens, Folgen für den Erzähltext Solger interpretiert, wie gezeigt, das historische Präsens in den Wahlverwandtschaften als Knappheit und Skizzenhaftigkeit vermittelndes Stilmittel, das aufgrund dieser Lakonie geeignet ist, die Härte und Tragik der antiken Dramenhandlung abzubilden. Diese stellt für Solger den Nukleus der Romanhandlung dar. Diese Interpretation hat Henning Brinkmanns Sichtweise auf die Verwendung des historischen Präsens im Roman als Schicht des Dämonischen sicherlich beeinflußt, auch wenn Solger hier nicht erwähnt wird; wir wollen daher diese Lesart bzw. ihre Ergebnisse anhand der Verteilung der Präsenspassagen im Roman näher untersuchen und vor allem den Versuch machen, die verschiedenen Arten der Präsensverwendung in den Wahlverwandtschaften zu unterscheiden, eine Einteilung, die bei Brinkmann weitgehend fehlt bzw. nur indirekt gegeben wird. Implizit unterscheidet nämlich Brinkmann zwischen den Formen des szenischen Präsens, um das sich seine Überlegungen drehen, und dem Einsatz des Präsens in Erzählerkommentaren und Feststellungen allgemeiner Natur, also jene Form des Gebrauchs, die man mit dem verbreiteten Terminus des gnomischen Präsens473 belegen kann. Diese Form der Verwendung spielt in den 473 Vgl. etwa die Definition des Fremdwörter-Duden unter dem Stichwort »Gnome«: »gnomisches Präsens: in Sprichwörtern u. Lehrsätzen zeitlos verwendetes Präsens (z. B. Gelegenheit macht Diebe; Sprachw.).« Siehe Duden Das Fremdwörterbuch, Herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, Dudenverlag, Mannheim Leipzig Wien Zürich 19976 (=DUDEN BAND 5), S. 296.
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Praesens Historicum in den Wahlverwandtschaften
Wahlverwandtschaften eine wesentliche Rolle in der Herausbildung der genannten distanziert-ironischen, aber dennoch die Verhältnisse überblickenden Erzählerstimme, die wir hier anhand einiger Beispiele vor allem aus dem ersten Teil analysieren wollen. Das heißt also, daß der Begriff des Praesens historicum hier als eine Art Oberbegriff behandelt wird, unter den verschiedene Unterarten subsumiert werden. Im allgemeinen wird die Bedeutung des »historischen Präsens« am ehesten mit der des szenischen Präsens (»Gestern gehe ich ins Kino, kommt mir doch der kranke Kollege entgegen…«) gleichgesetzt, gleichzeitig wird oft eine Form wie die des Praesens tabulare (»49 v. Chr.: Caesar überschreitet den Rubicon.«) mitgemeint. Nicht zufällig sind also verschiedene Bezeichnungen entstanden, die manchmal bedeutungsüberschneidend verwendet werden; sie verweisen somit auf die Notwendigkeit der Differenzierung aufgrund der Verwendungen in verschiedenen Kontexten, in verschiedenen Textsorten. Ein Teil des Folgenden beschäftigt sich also mit solchen Differenzierungen, die besonders aufgrund des zeitlichen Abstands notwendig sind. In den Wahlverwandtschaften steht jene Schicht des Präsensgebrauchs, die in »gnomischen« Erzählerkommentaren zur Anwendung kommt, in engem Zusammenhang mit den Effekten, die das szenische Präsens produziert und auf das sich Solger implizit bezieht, ja sie bereitet sie vor. Wie gezeigt wird, verleihen beide Verwendungsweisen der Erzählung intrikate psychologische Tiefendimensionen, indem die in den Präsensszenen thematisierten emotionalen Vorgänge in der Affektbetontheit der Erzählinstanz gespiegelt werden. Beide Verwendungsweisen treffen sich nämlich grundlegend in dem Merkmal, daß sie auf einen Sprecher, auf eine Erzählerfigur verweisen bzw. diesen simulieren. Ob diese Erzählerstimme daher eine Überlegung oder Reflexion äußert oder ob sie Fakten der Handlung aneinanderreiht, ist auf dieser Ebene noch gleichwertig, beides rekurriert auf ein Sprechen aus einem wie immer gearteten Jetzt, auch Feststellungen allgemeiner Art oder Sprichwörter sind einer Quelle zuzuordnen. Ich vergleiche also zuerst einmal alle Arten des Präsensgebrauchs, die hier vorliegen, und nehme an, daß das Präsens als eine Art Grundform bestimmte Elemente seiner Bedeutung in allen Verwendungen durchsetzt. Da die Schicht der Kommentare im Präsens den Roman fast von Anfang an begleitet, also viel früher einsetzt, stelle ich diesen Teil der Analyse jener der Passagen im szenischen Präsens voran. Zu ergänzen ist allerdings, daß der Begriff des gnomischen Präsens seinerseits ursprünglich eine Spezifizierung darstellte, die jedoch in den neueren Grammatiken und der Erzähltheorie wieder erweitert worden ist und für verschiedene Formen allgemeiner Aussagen einer Erzählerstimme verwendet wird474. Es ist daher notwendig, den Begriff des gnomischen Präsens anhand der 474 Vgl. z. B. die Verwendung bei Franz K. Stanzel in seiner Theorie des Erzählens, S. 145.
»Gnomisches« Präsens – Terminologie, Grammatik, Anwendung im Text
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Definitionen der älteren Grammatiken zu beleuchten. Die kontrastive Darstellung des Begriffswandels gewährt Einblick in die historische Semantik des Tempusgebrauchs, die Grundlage für die Beurteilung der literarischen Anwendung ist. Diese Begriffsklärung wird außerdem verbunden mit einigen Überlegungen zu Fragen der Erzählperspektivierung und des fiktionalen Zeitbezugs.
IV. 1.2. »Absoluter« und »relativer« Tempusgebrauch Der Vergleich mit älteren Grammatiken zeigt, daß die heute gebräuchliche Verwendung eine Engführung früherer Beschreibungen ist. Ich greife zwei Darstellungen des Präsens und seiner Verwendungen heraus, um die dahingehende Begrifflichkeit zu erläutern. Heinrich Bauer geht in seiner Vollständigen Grammatik der neuhochdeutschen Sprache von 1830 explizit von einer breiten Basis verschiedener Grammatiken aus und bietet somit einen Überblick über die zeitgenössische Theorie der späten Goethezeit. Bauers Ausführungen kann man die in den Grammatiken des 19. Jahrhunderts gebräuchliche Einteilung der Tempora unter dem Blickpunkt der absoluten und der relativen Verwendung entnehmen, die in dieser Form nicht mehr geläufig ist: Wenn man in einem einfachen Satze einem Subject sein Prädicat beilegt, so kann das entweder ohne alle Rücksicht auf Zeit, auf irgend eine bestimmte Zeit geschehen, so daß man gleichsam von dem Begriff der Zeit ganz a b s t r a h i r t , indem man die ganze Folge, Succession der Zeit als ein einziges, ungetheiltes Ganzes betrachtet, oder es kann so geschehen, daß man dies Prädicat dem Subjecte für eine gewisse bestimmte Zeit beilegt, daß man aussagen will, das Prädicat soll dem Subject für eine solche einzelne, bestimmte Zeit zukommen, daß man sich dabei aber diesen e i n e n Satz für sich allein ohne alle Verbindung mit andern Sätzen, Zeiten und Zeitwörtern denkt, welche denselben noch n ä h e r bestimmen könnten. Man drückt dann die (im Zeitwort liegende) Kraftäußerung des Subjects, die Thätigkeit, die Handlung, den Zustand oder das Leiden, den Begriff des Zeitworts nur für einen gewissen P u n c t in der Zeit aus, für einen gewissen Z e i t p u n c t , für einen untheilbar gedachten Zeittheil, den man sich aber eben deswegen nicht ausgedehnt, nicht als einen Z e i t r a u m , nicht als eine solche Zeit denkt, in welcher sich noch mehrere Theile, Zeitabschnitte unterscheiden ließen. Dieser dargestellte Zeitpunct kann nun natürlich nur dreifacher Art sein, nämlich entweder der Zeitpunct, der Augenblick, der Moment der Rede selbst, die gegenwärtige Zeit, oder ein vor dieser Rede vorausgehender, als vorausgehend gedachter Zeitpunct, die vergangene Zeit, oder ein nach dem Augenblick der Rede erst folgender, nachfolgend gedachter Augenblick, Zeitpunct oder Moment, die zukünftige Zeit. Mit den zur Bezeichnung dieser Zeitpuncte durch die Sprache Stanzel bringt ein interessantes Beispiel der Anwendung des gnomischen Präsens in erlebter Rede bei D.H. Lawrence, vgl. Theorie des Erzählens, Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 19956, S. 145f.
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bestimmten Sprachformen des Verbums begnügen sich nun vielleicht alle Sprachen zugleich zur Angabe der vorherangeführten Prädicats-, Kraftäußerungs- oder Verbalbestimmungen, bei welchen man eigentlich vom Begriff der Zeit oder Folge (Succession) ganz abstrahiren will. Man nennt d i e s e Zeiten und die sie bezeichnenden Zeitformen des Verbums, um ihrer eben angegebenen H a u p t b e s t i m m u n g willen, a b s o l u t e , beziehungslose, unbezügliche, a b s t r a c t e oder r e i n e Zeiten, auch wohl Aoristen oder unbestimmte Zeiten, welches Ausdrucks man sich aber lieber enthalten möge, da andere Sprachlehrer, z. B. Müller (in seinem de verbo latino, 1817 aus einer bald mitzutheilenden Ursache), sie gerade umgekehrt tempora finita nennen.475
Deutlich beeinflußt wird hier die Tempusauffassung durch den stets vergleichenden Bezug zur lateinischen und altgriechischen Grammatik mit seiner Übertragung der entsprechenden Termini und Konzepte, wie hier dem der aoristischen Verwendung von Zeitformen. Dieser wird die Interpretation des griechischen Aorists als Aspektform, deren Grundbedeutung im Absehen von einem bestimmten Zeitausdruck, einer bestimmten Dauer einer (gegenwärtigen oder vergangenen) Handlung liegt476, zugrundegelegt – findet sich gleichzeitig aber auch schon in Frage gestellt. Die von Bauer angedeutete Verwirrung bezieht sich darauf, daß der griechische Aorist auch, und zwar gerade wenn im Kontrast zum Imperfekt (das immer durativ bzw. iterativ, also auf jeden Fall linear zu interpretieren ist), z. B. in der Erzählung, verwendet, ähnlich dem lateinischen Perfekt eine in der Vergangenheit abgeschlossene, punktuelle, manchmal auch wiederholte Handlung anzeigen kann477. Diese Verwendungsmöglichkeit des griechischen Aorist steht also auf den ersten Blick im Gegensatz zu jener, die eben, da von Zeitdauer absehend, zum Ausdruck allgemeiner Wahrheiten wie etwa »Kühe fressen Gras« gebraucht werden kann; für sie wird im Deutschen das Präsens verwendet und ihre Grundbedeutung wird in die deutsche Grammatik übertragen, wenn wie hier bei Bauer von »Aoristen« oder »unbestimmten« Zeitformen die Rede ist. Dennoch ist diese Terminologie der Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Tempora aufgrund ihrer mitgedachten Aspektoppositionen für unsere Beschreibung der verschiedenen Präsensverwendungen von Interesse. 475 Heinrich Bauer, Vollständige Grammatik der neuhochdeutschen Sprache, Dritter Band, Gedruckt und verlegt bei G. Reimer, Berlin 1830, als unveränderter photomechanischer Nachdruck erschienen bei Walter de Gruyter & Co., Berlin 1967, hier S. 44f. 476 Vgl. agr. a|qistor [ajristos] = nicht abgegrenzt, unbestimmt, ungewiß. 477 Vgl. auch die Definition bei Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 19902, S. 88: »Griechische Bezeichnung für den perfektiven Aspekt, manchmal eingeschränkt auf perfektiven Aspekt im Präteritum. Aorist wurde im Griechischen und Altindischen (Sanskrit), besonders in literarischen Texten als Tempusform für aufeinanderfolgende Handlungen verwendet. Es entspricht in seinem Gebrauch dem lat. Perfekt, bzw. zum Teil dem historischen Perfekt (pass8 simple) im Französischen.«
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Daher hier zur Ergänzung Bauers Darstellung des deutschen Tempussystems: zu den absoluten Tempora rechnet Bauer in Analogie zu den drei Zeitstufen das »absolute oder reine Präsens, die reine Gegenwart, tempus praesens«, das »absolute oder reine Präteritum, tempus praeteritum, die reine Vergangenheit« und das »absolute oder reine Futurum, die reine Zukunft, futurum primum oder simplex«478. Definiert wird schließlich dementsprechend etwa das »absolute« Präsens nach den zwei Möglichkeiten des Bezugs auf einen konkreten Sprechzeitpunkt oder des gänzlichen Absehens von zeitlicher Festlegung: 1) d a s a b s o l u t e o d e r r e i n e P r ä s e n s , die reine Gegenwart, tempus praesens, der Mittelpunct, das Centrum, der Ausgangspunct aller Zeitbestimmung, wodurch man a) in der eigentlich reinen oder absoluten Zeit ein Prädicat im Augenblick der Rede, in der Gegenwart vom Subject aussagt: e s s c h l ä g t (jetzt eben) d r e i Uhr, ich schlage (dich aus Liebe) [sic, I.R.], säßest du (doch jetzt bei mir im Garten), höre auf (zu essen), er wird (jetzt eben) geschlagen, und b) in der Abstraction von aller Zeit als abstracte Zeitform solche Prädicate dem Subjecte beilegt, welche demselben wesentlich, nothwendig (›innerlich‹ der Sache nach für jede Zeit) zukommen, oder doch als ihnen so zukommend gedacht, vorgestellt werden, so daß die Sätze mit ihnen allgemeine (›ewige‹) Wahrheiten und Urtheile ausdrücken: zwei mal zwei ist vier, ein Schock hat vier Mandel, Friede ernährt, Unfriede verzehrt, wäre doch der beste immer auch zugleich der glücklichste Mensch! halte fest an Wahrheit und Sittlichkeit, Lügner werden verachtet.479
Ein wichtiger Unterschied zu späteren Grammatiken ist, daß hier bei der Beschreibung der Tempora von bestimmten Bedeutungen ausgegangen wird, die von den Tempusformen bezeichnet werden, und nicht umgekehrt. In analoger Weise zum Präsens teilt sich für Bauer das »reine Präteritum« in zwei Verwendungsweisen, eine, die »zeitlos« ist (und zum Ausdruck meist das Präsens bevorzugt, wie betont wird) und eine, die tatsächlich auf einen zum Redezeitpunkt vergangenen Zustand (Handlung etc.) Bezug nimmt, »doch so, daß dadurch die F o r t d a u e r der angegebenen Verbindung zwischen Subject und Prädicat nicht aufgehoben, abgeleugnet oder verneint wird«480. Das ist ziemlich genau die Beschreibung, mit der heutige Grammatiken die Grundbedeutung des Perfekts charakterisieren, und es ist auch das Perfekt, das für Bauer das Ausdrucksmittel des »reinen Präteritum« darstellt. Auch an dieser Vorgangsweise sehen wir, wie sehr die Orientierung an den klassischen Sprachen die älteren Grammatiken strukturiert; daß diese im Übrigen bei der Beschreibung des Tempussystems besonders heraussticht, ist klar. Das zeigt auch die Beschreibung der »relativen Tempora« bei Bauer : sie definieren sich aus den »gleichzeitig relativen Zeitverhältnissen« und den »vor478 Vgl. Bauer, Vollständige Grammatik, S. 45f. 479 Ebda., S. 45. 480 Ebda.
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hergehend und nachfolgend relativen Zeitverhältnissen« in der zeitlichen Hierarchie zweier Ereignisse. Genau wird hier unterschieden zwischen compraesentia (»ich wache, während er schläft«), compraeterita (c. imperfecta: »er wachte, als oder während die andern schliefen«, c. perfecta: »er hat oft gewacht, während die andern geschlafen haben« und c. plusquamperfecta: »ich hatte gelesen, so lange er geschrieben hatte«) und confutura, bei den vorhergehend und nachfolgend relativen Zeitverhältnissen dementsprechend zwischen ineinander greifende Ereignisse (»als ich schrieb, trat er herein«: = ante- und postcompraeteritum) und einander nachgeordnete Ereignisse (»als [nachdem] ich geschrieben hatte, trat er herein« = ante und post praeteritum) etc.481 Diese mitunter schwer nachvollziehbare Einteilung unterlegt dem Deutschen die Logik bzw. »Vollständigkeit« der lateinischen resp. altgriechischen consecutio temporum; der dazu später umfangreich geführten Diskussion kann hier freilich nicht nachgegangen werden. Was ich dennoch für unseren Zusammenhang festhalten möchte, ist, daß auch diese bei Bauer überaus detailliert ausgeführten Aufstellungen ein Beleg dafür sind, auf welch prekärem Boden wir uns bei der Beurteilung des Gebrauchs der Tempora als Stilmittel in historischer Perspektive bewegen. Die Konnotationen, die die einzelnen Formen zu transportieren imstande waren, müssen zumindest ansatzweise rekonstruiert werden, um die stilistischen Dimensionen eines Tempuswechsels nachvollziehbar zu machen. Dabei kann es sich freilich nur um Annäherungen handeln, im Falle der Beschreibung in Grammatiken an eine Art kollektives Stilempfinden, anhand konkreter Äußerungen von Autoren oder Interpreten auch an ein individuelles. Die implizite oder explizite Mitberücksichtigung von Aspektoppositionen und Sprechereinstellungen (hier vor allem: die anhaltende Verbindung des Sprechers zur ausgedrückten Handlung im Falle des Perfekts) der älteren Grammatiken bei der Einteilung der Tempora muß so vor allem als Hinweis auf ein komplexer gedachtes und angewandtes System von Tempusbedeutungen bzw. -formen gesehen werden.
IV. 1.3. Stilistische Zuordnung des Präsens Ein grundlegender Unterschied zu den späteren Grammatiken ist die starke Einbeziehung literarischer Beispiele in der älteren Beschreibung482. Bei Fragen der Semantik der Tempora kommt dies besonders zum Tragen. Ein in unserem 481 Vgl. ebda., S. 100ff. 482 Vgl. etwa die von Bauer verwendete Bezeichnung »beschreibendes Imperfect« bzw. »compraeteritum explanativum« für Beispiele wie »im Anfange schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde w a r wüst und leer«: ebda. S. 101.
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Zusammenhang überdies sehr wertvoller Hinweis auf die stilistische Markierung der Präsensverwendung findet sich bei Bauer außerdem in einem Paragraphen, der ausdrücklich dem Gebrauch der Zeitformen gewidmet ist – schon daß hier die Unterscheidung zwischen Beschreibung und Verwendung (also langue und parole) getroffen wird, spricht dabei für die differenzierte Sicht auf das Tempussystem, die in den Grammatiken der Goethezeit zu finden ist und die sich in der ausführlichen Darstellung Bauers, der, wie erwähnt, detailliert andere Autoren zu Wort kommen läßt, niederschlägt: Nach dieser Aufstellung der Meinungen und Eintheilungen der Zeitformen bei den bedeutendsten neuen Sprachlehrern ist es, um Einwürfe und Irrthümer sowohl in Ansehung unsrer eignen als der fremden Aufstellungen zu vermeiden, nothwendig, in Hinsicht des G e b r a u c h s der in unsrer Sprache vorhandenen Tempus oder Zeitformen in der wirklichen Rede sogleich hier zu bemerken, daß für den geltenden Sprachgebrauch in der That kein einziges Tempus der Verben so fest im Besitze der ihm durch die Grammatik sprachgesetzlich, eigentlich oder doch gewöhnlich zuerkannten Zeit ist, daß diese Zeit nicht auch durch andre Tempus ausgedrückt werden könnte. So nimt [sic, I.R.] man sehr oft, besonders um der Sprache mehrere Lebhaftigkeit zu geben, das Präsens statt der vergangenen, und so auch statt der zukünftigen Zeit, vorzüglich in der höhern und edlern Schreibart, worin man die zusammengesetzten Zeiten, ihrer vielen Hülfswörter wegen, gern nach Möglichkeit vermeidet. So hat man in dieser Beziehung volles Recht zu sagen: ihr hört es ja, daß ich nicht komme, statt: ihr habt es ja gehört, daß ich nicht kommen werde oder will; eben so sagt man in derselben Beziehung: ich sage euch, morgen reise ich nach Berlin; kürzlich schenke ich ihm mein Lehrbuch, er aber zerreißt es, und lernt kein Wort von allem, was ich ihm aufgebe; wenn du den nächsten Sonntag zu mir kommst, so findest du den Landrath bei mir, und hast am Abend die Freude, der Liedertafel beizuwohnen; im Jahre 1786 stirbt der große Friedrich, und 1788 fangen schon die französischen Unruhen an.483
Auffallend ist – bei Bauer wie allgemein –, daß der Darstellung der Verwendungsweisen des Präsens in Grammatiken meist viel Platz eingeräumt ist. In diesem Sinn äußert sich auch Käte Hamburger, die ihre Erklärung der Textfunktionen des erzählenden Präteritums auch und gerade am Unterschied zum historischen Präsens herausarbeitet484. Daß die Begriffserklärungen zum historischen Präsens und seiner Unter- oder Nebenformen einen Fixpunkt der älteren Tempuskapitel darstellen, ist vermutlich ebenso Ausdruck der Anbindung an die klassische Grammatik und Rhetorik wie die genaue Einteilung der Tempora. Welchen stilistischen Rang diese Verwendungen jedoch aus der damaligen Sicht einnehmen, wird kaum thematisiert, weswegen Bauers Bemerkung, daß diese Verwendungsweise der gehobenen Schreib- bzw. Sprechweise 483 Ebda., S. 102f. 484 Vgl. dazu Käte Hamburger, Das epische Praeteritum, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), S. 329–357, hier besonders S. 349f.
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angehört, sehr wichtig ist – diese Charakterisierung steht damit in einem Gegensatz zur Auffassung Käte Hamburgers, für die dann mehr als 100 Jahre später, das historische Präsens »in zu großem Ausmaß angewandt« den »schlechten Geschmack« des Autors verrät. Freilich steht dies im Zusammenhang ihrer These der Bedeutungsgleichheit zwischen den Tempora im Erzählen: Von diesen Verhältnissen und Zusammenhängen her [der ästhetischen, i. e. illusionserweckenden Funktion des Präteritums, I.R.] fällt nun auch ein Licht auf das h i s t o r i s c h e P r ä s e n s , das von Autor wie Lesern gemeinhin als ein Mittel aufgefaßt wird, die Handlung »gegenwärtiger«, dramatischer und wirklichkeitsnäher zu machen. Der Erzähler, meint etwa O. Jespersen, »steps outside the frame of history, visualizing and representing what happened in the past as if it were present before his eyes«, um nur eine der überall gleich oder ähnlich lautenden Erklärungen dieser Form anzuführen. Wenn man jedoch einmal das Experiment macht, dieses Präsens überall, wo es vorkommt, wieder durch das Imperfekt zu ersetzen, wird man bemerken, daß hinsichtlich der »Gegenwärtigkeit«, nämlich der Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Handlung oder Szene keine Veränderung erfolgt ist und also die Anschaulichkeit nicht auf dem historischen Präsens beruht. Denn es ist wiederum nicht die reale Gegenwart des Erzähler- und Leser-Ichs, die hier, wie die Theoretiker meinen, im Spiele ist, sondern die fiktive Gegenwärtigkeit der Romangestalten. Das historische Präsens ist wie die erlebte Rede und der Dialog nur ein Ausdruck für die Fiktivität der Handlung und der Gestalten, nämlich ein Mittel, ihr fiktives Jetzt und Hier zu unterstreichen. Der Erzähler, der es anwendet, entfernt sich damit nicht, wie Jespersen meint, aus dem Rahmen der Geschichte, sondern tritt sozusagen tiefer in ihn, d.i. den Raum oder das »Feld« der Fiktion ein. Da aber das Präteritum der Fiktion keineswegs die Vorstellung von Vergangenem erweckt und die Wirkung oder die Illusion des fiktiven Jetzt und Hier gar nicht beeinträchtigt, so erübrigt sich im Grunde die Unterstreichung durch das historische Präsens. Ja, daß es eher störend wirkt und angewandt in zu großem Ausmaß einen schlechten Geschmack des Autors verrät – wofür Werfels ganz im Präsens geschriebener Roman ›Bernadette‹ ein Beispiel ist – ist gelegentlich bemerkt worden. Der Grund für dies ästhetische Mißbehagen dürfte eben darin zu suchen sein, daß dem Präsens die Eigenschaft der Faktizität nicht in derselben eindeutigen Weise anhaftet wie dem Präteritum.485
Hamburgers Argumentation in bezug auf das historische Präsens ist keineswegs unstimmig. Hamburger geht von einer Eigenschaft des Präsens aus, die für sie dessen Funktion im erzählenden Text beeinträchtigt. Sie betont die Polyfunktionalität des grammatischen Tempus Präsens und beurteilt diese als problematisch. In äußerster Verkürzung dargestellt: Das Präteritum ist für Hamburger das »einzige Tempus, das den Charakter der Faktizität völlig adäquat ausdrückt«486. Dadurch, daß »Die Nachtigall singt« sowohl das gegenwärtige Singen einer Nachtigall wie die immer geltende Eigenschaft ausdrücken kann, daß die 485 Ebda., S. 350ff. 486 Vgl. ebda., S. 350.
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Nachtigall singen kann, ist das Präsens für Hamburger eine »weit umfassendere und damit vieldeutigere Zeitform«487. Das Präteritum dagegen: »Die Nachtigall sang« kann nur ein vergangenes Faktum bedeuten: »Wenn das Präteritum als die adäquate Zeitform der erzählenden Dichtung empfunden wird, so ist dies weit mehr in dem Charakter der durch es ausgedrückten Faktizität als dem des Vergangenseins begründet.«488 Diese grundsätzliche Bedeutung der Faktizität trägt nun nach Hamburger das Präteritum in die Erzählung hinein – der Ursprung des Erzählens als tatsächliche, faktisch imaginierte Vergangenheit einer Erzählgemeinschaft, so Hamburger, muß hier mitgedacht werden489 – und sorgt in der Erzählung für die Schaffung der »Illusion der F a k t i z i t ä t «490. Da dem Präteritum also nach Hamburger als einzigem Tempus die Kraft innewohnt, fiktionserzeugend zu wirken, da es für Fiktion steht, ist es dem Präsens und seiner Vieldeutigkeit überlegen. Eine Folge wie »Er wendet das Auge zu den Fenstern, hintern denen die Nacht zu ergrauen beginnt. Da verwandelt sich sein tiefes Mißbehagen in eine zornige Bitterkeit. Ein Fluch sitzt ihm auf den Lippen. Soubirous ist ein sonderbarer Mann […]« bezeichnet Hamburger als logisch nicht durchdacht, weil hier im letzten Satz die fürs Erzählen unerläßliche Fiktionserzeugung gestört werde491. Mit »Soubirous ist ein sonderbarer Mann […]« tritt der Erzähler gleichsam aus seiner Erzählerposition heraus und trifft ein (faktisches) Urteil über die Figur ; dieses letzte Präsens ist somit für Hamburger kein Praesens historicum mehr, sondern ein »grammatisches Präsens«, wie sie es nennt, und damit ein logischer Störfaktor für die Illusionserzeugung. Trotz der Stimmigkeit dieser Argumentation ist somit klar, daß Hamburgers Empfinden, was die Funktionen des Erzählens im Präsens angeht, nicht nur in stilistischer Hinsicht in die der älteren Darstellung entgegengesetzte Richtung geht. Wie dargestellt, halte ich dennoch das Absehen von den stilistischen Möglichkeiten der Tempusverwendung auf Basis der Überzeugung, daß es logisch nicht notwendig sei, für problematisch. Aus meiner Sicht ist das WerfelBeispiel überaus einleuchtend, der Mißton, als den Hamburger die Feststellung am Ende der Periode empfindet, nachvollziehbar. Dennoch sehe ich ihre Beurteilung der Stelle mehr als – interessantes – Indiz des sich verändernden 487 Vgl. ebda. 488 Ebda. 489 Ebda., S. 344: »Denn der Ursprung des epischen oder, wie wir erkenntnistheoretisch besser sagen, fiktionalen Erzählens ist selbst nicht fiktiver Natur. Das Imperfekt bedeutet im alten Epos zunächst eine echte Vergangenheitssaussage. Der Rhapsode erzählt die Geschichten, die als einmal geschehen im Volksbewußtsein leben: die Sagen und Mythen, die »alten Mären«. Während des Erzählens aber wird das Vergangensein dieser Geschehnisse v e r g e s s e n .« 490 Vgl. ebda., S. 350. 491 Vgl. ebda., S. 354.
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literarischen Geschmacks, denn als wirklich schlüssiges Argument, besonders da Hamburger diese Logik der Unterscheidung von grammatischem und historischem Präsens als Stilkriterium auch bei anderen Erzählstellen, namentlich beim teils präsentischen Beginn von Stifters Hochwald, einsetzt und m. E. dort schon zu einer recht starren Auffassung des Präsenseinsatzes kommt492. So kann man Hamburgers Sicht als wichtige Momentaufnahme der stilistischen Einordnung werten, die für die Mitte des 20. Jahrhunderts steht. Aus Hamburgers Ausführungen geht hervor, daß es vor allem bestimmte experimentelle Formen des Gebrauchs sind, die sie ablehnt. Hamburger setzt übrigens, wie Stanzel, Barthes und Casparis, den Einsatz eines »modernen« Präsensgebrauchs (im Gegensatz zum älteren der germanischen Frühzeit und der Sagas) auch im 19. Jahrhundert an493. Somit bleibt interessant, daß bei ihr das historische Präsens als gehobenes Stilmittel auch in seiner klassischen Form, als kurzer Einschub, der Höhepunkte heraushebt, fehlt. Diese Auffassung scheint also in der Zwischenzeit verloren gegangen zu sein. Daß es aber einen »aoristischen« Gebrauch von Zeitformen gibt, ist dagegen zu diesem Zeitpunkt noch selbstverständlich494.
492 Vgl. ebda., S. 334ff. u. a. bezeichnet Hamburger einen speziellen Tempuswechsel hier (vom Präsens zurück ins Präteritum), immerhin am Eingang der Erzählung, als »dem Dichter natürlich völlig unbewußt«. Hamburgers diesbezügliche Auffassung scheint mir allgemein im Widerspruch zu ihrer ausführlichen Beschäftigung mit Tempusfragen zu stehen. Dennoch halte ich Hamburgers Argumentation der Werfel-Stelle in diesem Aufsatz für prägnanter als jene, die sie in der Logik der Dichtung für das historische Präsens anführt, wo sich so eindeutig interpretierte Beispiele m. E. nicht finden. 493 Vgl. ebda., S. 352, Anm. 22: Hamburger vermutet Mörikes Maler Nolten (1832) als einen der ersten Romane mit historischem Präsens »in modernem Sinne«. Dort jedenfalls scheine der Wechsel zwischen Präsens und Präteritum »fast ebenso willkürlich und undurchsichtig […] wie in den Sagas«: »Aber es ist deutlich, daß diese moderne Verwendung des hist. Präs. eine ganz andere Funktion und Bedeutung hat als in der Frühzeit. Es gehört jetzt zu den Mitteln der Bemühung um die Darstellung des Menschen in seiner Ich-Originität, d. h. der Herausarbeitung des Fiktionsfeldes, und steht damit auf einer Ebene mit der erlebten Rede, die auch erst um diese Zeit sich zu einer bewußten Erzählertechnik auszubilden beginnt.« 494 Vgl. ebda., S. 331: Hamburger spricht hier z. B. vom Imperfekt, das als »aoristische Form des Präteritums« interpretiert wird, bzw. vom »aoristischen Imperfekt« in Sätzen wie »Caesar wurde ermordet« oder »Hannibal überstieg die Alpen«, wo das Imperfekt (ähnlich wie das praesens tabulare) in erster Linie betont, daß das Ausgesagte passiert ist, und die Frage der Beziehung des Sprechers oder Schreibers und dessen persönlicher Vergangenheit zum Ausgesagten in den Hintergrund rückt. Nach Hamburger wird hier ein Punkt einer »sozusagen objektiven Vergangenheit« aufgesucht. Hamburger verwendet also »aoristisch« im selben Sinn von »unbestimmt« oder nicht eindeutig zuordnend wie die älteren Grammatiken.
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IV. 1.4. Beschreibung in der neueren Grammatik; Präsens und Fiktion Die Tradition der Einbeziehung des »historischen Präsens« in die Beschreibung der Tempora und ihrer Funktionen hält bis heute an. Selbst ein aufs Notwendigste gekürzter Überblick wie Johannes Erbens Deutsche Grammatik. Ein Leitfaden widmet ihm einen Paragraphen, in dem die wichtigsten Charakteristiken dieser Anwendung zusammengefaßt werden. Bevor wir wieder zur älteren Beschreibung des historischen Präsens zurückkehren und die terminologische Unterscheidung der Formen des gnomischen Präsens abschließen, gebe ich daher Erbens Kürzestvariante wieder, um die Kontinuität aufzuzeigen, die in der Interpretation der Form des historischen Präsens herrscht bzw. auf die die moderne Beschreibung oft zusammenschrumpft. Daran schließe ich einige Überlegungen zu den Textfunktionen von Tempora an. D a s » h i s t o r i s c h e « P r ä s e n s ist eine ›stilistische Variante‹ des Präteritums, wobei Vergangenes gemeint wird, doch der Abstand gegenüber der Sprechsituation unausgedrückt bleibt – ein wirkungsvolles Mittel der Veranschaulichung (lat. re-praesentatio ›Vergegenwärtigung‹). ›Durch die Tempusmetapher des historischen Präsens‹ hat die Erzählung ›Anteil an der Gespanntheit der besprochenen Welt‹. ›Die Stille ringsum war groß. Und aus einem kleinen Tor, das … sich plötzlich aufgetan hatte, bricht – ich wähle hier die Gegenwartsform, weil das Ereignis mir so sehr gegenwärtig ist – etwas Elementares hervor, rennend der Stier‹ Th. Mann.495
Wie wir sehen, finden in Erbens Fassung einige Elemente Eingang, die stichwortartig Teile der Diskussion der 60er-Jahre wiedergeben. Harald Weinrichs Tempus-Theorie wird in ihrer Essenz zitiert, ebenso wird die eben skizzierte Auffassung der Bedeutung des historischen Präsens als sozusagen chronologisch standpunktneutrale Tempusverwendung erwähnt – in dieser Weise findet also das Grundkonzept des aoristischen Gebrauchs von Zeitformen weiter Eingang in die grammatische Darstellung. Genau das ist es jedoch auch, was Erbens Minimalausführung interessant macht, denn es gelingt ihm dadurch, eine Erklärung anzubieten (bei Erben vielleicht mehr angedeutet) für den immer wieder als solchen bezeichneten »vergegenwärtigenden« Effekt des historischen Präsens: wenn der (zeitliche oder auch wie oben dargestellt: jener der persönlichen Anteilnahme des Sprechers) Abstand zwischen Sprecher und Ereignis unausgedrückt bleibt, kann die Tempusform andere Mitbedeutungen transportieren bzw. in den Vordergrund stellen, z. B. eben jene, die Dimension der Bildhaftigkeit der Darstellung zu verstärken. Nach Käte Hamburger ist das die Dimension, in der sich der Gebrauch zwischen erzählendem Imperfekt und historischem Präsens nicht unterscheidet, für sie sind beide Formen in der 495 Johannes Erben, Deutsche Grammatik Ein Leitfaden, 103.–107. Tausend, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1983 [1969], S. 58.
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Erzählung zeitneutral und daher bedeutungsgleich, auch in der Kraft der Vergegenwärtigung oder Performativität. Höchstens noch konzediert sie dem historischen Präsens, wie wir gesehen haben, eine leichte Steigerung in bezug auf das Fiktionserlebnis zu bewirken, indem es die Fiktivität der Handlung unterstreicht und der Erzähler mit ihm gleichsam tiefer ins Feld der Fiktion tritt. – Genau diese Dimension ist aber keineswegs zu unterschätzen, wie man gegen Hamburger anführen muss. Eine Intensivierung bzw. Verdeutlichung des Erzählerstandpunktes ist für die Rezeption der Erzählung auf keinen Fall ohne Folgen. Und ohne einen »Mehrwert« der Funktion hätte das szenische Präsens wohl keinesfalls die Anwendungsbreite finden können, die es in der modernen Literatur gefunden hat. Obwohl also Hamburgers stilistische Hierarchisierung der erzählenden Zeitformen der neueren Tradition der Grammatiken und v. a. der literarischen Praxis entgegensteht, sind ihr gerade aufgrund der Ablehnung dieses Stilmittels detaillierte Überlegungen zum historischen Präsens zu verdanken496. Paradox bleibt nämlich eigentlich, daß bei aller Betonung der »vergegenwärtigenden« Kraft des historischen Präsens in fast allen einschlägigen Quellen dieses erst spät zu einem alternativen Haupterzähltempus geworden ist, obwohl die geradezu schlag(licht)artig funktionierende Veranschaulichung, die das Präsens in verschiedenen Erzählkontexten (mündlich wie schriftlich) und dazu übereinzelsprachlich nachvollziehbar zu leisten vermag, dieses dafür prädestiniert hätte. Diese Dimension, die dem Präsens im Erzählen so nicht nur allfällig und peripher anhaftet, ergibt aufgrund ihres »universellen« Erscheinens gleichsam eine Art literarischen Bedeutungskern, der in verschiedenen Sprachen realisiert ist. So ist hier die Stärke der Hamburgerschen Überlegungen zur Rolle des epischen Präteritums anzusiedeln. Offenbar ist die verrückende Dimension, die beim erzählenden Imperfekt mitschwingt, obwohl seine Zeitbezüglichkeit laut 496 Hamburgers restriktive Auffassung der Verwendung des historischen Präsens als Stilmittel spiegelt wohl nicht zuletzt die dahingehende Präskriptivität der Grammatiken ihrer Zeit. In seinem kurzen Aufsatz »Episches Praeteritum und historisches Praesens« (in: GermanischRomanische Monatsschrift 37 (1956), S. 398–401) führt Herbert Koziol, der selbst wie Stanzel auf den über die Epochen stark unterschiedlichen Einsatz und die Notwendigkeit sorgfältiger einzeltextgebundener Analyse der jeweiligen Funktionen des historischen Präsens verweist, die diesbezügliche Auffassung in der Grammatik von Hermann Wunderlich und Franz Reis, Der deutsche Satzbau, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart Berlin 1924, Bd. I, S. 225f., an: »Der übermäßige Gebrauch des historischen Präsens ist nicht empfehlenswert. Schon die Klarheit der Darstellung läßt, wie auch unsere Mundarten zeigen, wenigstens zu Beginn der Erzählung eine deutliche Vergangenheitsform als unbedingt wünschenswert erscheinen, aber auch bei Fortführung einer Schilderung dürfte das Gebot der Klarheit durch den Gebrauch des Präteritums besser erfüllt werden als durch den des Präsens […]. Daher sollten die Schriftsteller das historische Präsens nur ausnahmsweise und zwar bei sehr lebhafter Erzählung selbsterlebter Ereignisse verwenden.«
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Hamburger im fiktionalen Kontext vergessen wird (aber auf dieses »Vergessen« im Sinne der Transformation kommt es wohl eben an), als Zeichen der »Gemachtheit« der Erzählung (vgl. dazu Roland Barthes in der Einleitung) notwendig und findet in dieser Form den stärkeren oder adäquateren Ausdruck als im Präsens. Bzw. braucht – um die Überlegung weiterzuspinnen – die Erzählung offensichtlich, um sich als solche auszuweisen, auch die Möglichkeit der Abstufung von Aktualitätssignalen, wie sie der Tempuswechsel ausdrücken kann, um es in mehr Weinrichschen Termini zu fassen (eine Erzählung ohne Tempuswechsel scheint es tatsächlich nicht zu geben), bzw. von Stufen der Fiktionalisierung (darauf wird in den genannten Theorien zu wenig Wert gelegt) oder eben solchen, die im Sinne eines Reliefs über verschiedene Formen eine Illusion von Hintergrund und Vordergrund schaffen – aber genau auf diese Weise auf diese Illusion auch hinweisen (so wiederum Barthes zum Pass8 simple), und zwar mit verstärkter Kraft. Sowohl die Termini »Relief« wie die Rede von »Vordergrund« und »Hintergrund« haben also hier zumindest zwei Bedeutungen. Sie beziehen sich einerseits auf den tatsächlichen materiellen Charakter der Tempusformen, die imstande sind, eine bildhafte Tiefendimension der Erzählung zu simulieren, was sozusagen zur Schaffung einer inneren Guckkastenbühne beitragen kann – der in einem solchen Sinn besonders als Illusionserzeuger fungierende Charakter des Präsens ist immer wieder beschrieben worden. Franz K. Stanzel spricht z. B. vom »Tableau-Effekt«, den bestimmte Formen des historischen Präsens (in der Ich-Erzählung) haben497. Daß Tempora darüber hinaus auch von ihrer Grund497 Vgl. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 135f. Stanzel zeigt am 34. Kapitel von Dickens’ David Copperfield (»Another Retrospect«), daß für die dortige Verwendung die Bezeichnung »historisches Präsens« nicht ganz zutreffend sei, da es sich hier selten »um eine die Entwicklung verlebendigende Vergegenwärtigung des Erinnerten handelt«. Der Beginn des Kapitels demonstriert dies: »Once again, let me pause upon a memorable period of my life. Let me stand aside, to see the phantoms of those days go by me, accompanying the shadow of myself, in dim procession. Weeks, months, seasons, pass along. They seem little more than a summer day and a winter evening. Now, the Common where I walk with Dora is all in bloom, a field of bright gold; and now the unseen heather lies in mounds and bunches underneath a covering of snow. In a breath, the river that flows through our Sunday walks is sparkling in the summer sun, is ruffled by the winter wind, or thickened with drifting heaps of ice. Faster than ever river ran towards the sea, it flashes, darkens, and rolls away […] We have removed, from Buckingham Street, to a pleasant little cottage very near the one I looked at, when my enthusiasm first came on […] What does this portend? My marriage? Yes! Yes! I am going to be married to Dora! […] Still I don’t believe it. […]« Für Stanzel wird »[…] das Erinnerte […] wie ein Bild in einiger Entfernung, d. h. gut überschaubar und für die ruhige, distanzierte Betrachtung fixiert, vorgestellt. Auch daraus resultiert eine Distanzierung: das Ich auf dem fixierten Tableau ist fast schon ein Er.« Diese wichtige Diagnose Stanzels verweist einmal mehr auf die kontextspezifischen Funktionen von Tempora und die Notwendigkeit, diese im interpretativen Gesamtzusammenhang eines Textes zu sehen.
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bedeutung her zur Unterscheidung von Vordergrund und Hintergrund dienen können, ist aus den romanischen Sprachen bekannt, auch wenn diese dort grundlegende Opposition im Deutschen nicht systematisch realisiert, daher nur teilweise Gegenstand der grammatischen Beschreibung ist. Andererseits – und dies ist die wohl viel kompliziertere Dimension, auf die Tempusformen in der Erzählung anspielen – sind wir durch diese Art des Formenwechsels dauernd mit den Unwägbarkeiten, besonders sozusagen mit der Zerbrechlichkeit der Fiktionserstellung an sich konfrontiert. Damit ist folgendes gemeint: Durch die gewachsene Erzählkonvention empfinden wir das Haupterzähltempus Präteritum vor allem in der Erzählung in der dritten Person als eher »erzählerneutral«, d. h., seine Funktion kann auch darin bestehen, von der Anwesenheit einer konkreten Erzählerstimme abzulenken und das Geschilderte sozusagen als einfach »anwesend« zu behaupten. Die Frage der Perspektive, aus der erzählt wird, rückt so in den Hintergrund, der Erzähler nimmt sich zurück, betont seine Anwesenheit nicht. Im Gegensatz dazu schreiben wir dem Präsens aufgrund seiner Eigenschaft, die geschilderte Situation als eben ablaufend zu suggerieren, automatisch eine erhöhte Erzählerpräsenz zu, denn indem wir plötzlich in eine Szene versetzt werden, verändert sich die Vorstellung von den Figuren oder von der Situation. Wir sehen sie direkt vor (oder um) uns und werden dadurch, als Zuschauer, zum Teil des Geschehens. Parallel dazu haben wir den Impuls, die Schilderung einer Quelle zuzuordnen, wodurch auch die Vorstellung vom »Erzähler« plötzlich viel konkreter zu der eines leiblich anwesenden Sprechers wird. Man kann dies auch in das Bild fassen, daß wir den Erzähler plötzlich deutlich sprechen hören.
IV. 1.5. Präsens und Perspektivierung, Tempus und Zeitbezug Was also über den Tempuswechsel erreicht werden kann, ist ein Perspektiven(oder Lautstärken)spiel im Sinne einer Variation der Intensität der Erzählerstimme, ohne daß dabei ein tatsächlicher Perspektivenwechsel im Spiel sein muß. Soweit kontextlose Beispiele überhaupt signifikant sind, kann man das an einem einfachen Satz demonstrieren: Um neun Uhr verließ er das Haus, um in die Klinik zu fahren. ist eine Schilderung aus der Außenperspektive, auf Um neun Uhr verläßt er das Haus, um in die Klinik zu fahren. trifft dies, in erzähltheoretischen Termini gedacht498, ebenso zu, trotzdem haben wir deutlich das Gefühl, daß sich hier gerade in der perspektivischen Einstellung etwas verändert. Diese Veränderung betrifft aber genau besehen unseren Anteil, unsere Anteilnahme am Geschehen bzw. die des Erzählers. Im ersten Fall wird das 498 Zu »Innen-« und »Außenperspektive« vgl. Stanzel, ebda., S. 83f.
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Geschehen zuerst einmal nur als Fakt hingestellt, vermutlich folgt dem eine Reihe anderer, die erste Annahme ist, daß diese Aussage nur ein Teil einer geschilderten Ereigniskette ist, sie könnte auch gut deren Anfang darstellen. Suggeriert würde dann auch, daß das eigentlich Spannende der Passage erst vorbereitet wird. Unsere Aufmerksamkeit wird auf jeden Fall nicht oder noch nicht so sehr auf die Details der Aussage gelenkt. Mit Hamburger kann man sagen, daß die Faktizität des im Verb Ausgesagten hier im Vordergrund steht. Im zweiten Fall haben wir dagegen eine Änderung in der Art der Fokussierung oder Akzentuierung vor uns, m. E. wird hier umgehend eine Erwartungshaltung hinsichtlich der Nennung weiterer Details aufgebaut. Das Präsens bewirkt auch eine Art der Verlangsamung, viel deutlicher als im ersten Satz sind wir dazu aufgerufen, dem Ablauf aufmerksam zu folgen, gleichsam nichts zu übersehen und alles zu registrieren, was hier gesagt wird. (Schon daß die beiden Beispielsätze in ganz unterschiedlichen Erzählkontexten vorstellbar sind, spricht für die Tatsache, daß Tempusformen im Erzählen Zusatzinformationen transportieren, die in erzähltheoretische Überlegungen einbezogen werden müssen.) Selbst wenn beide Sätze am Anfang einer Erzählung stünden, wäre das in medias res im zweiten Fall stärker ausgeprägt, weil hier noch eine Dimension dazukommt. M. E. führt uns als Leser/in der Satz im Präsens viel stärker als die Fassung im Präteritum zu der Überlegung, welcher Art genau der Anteil der Figur resp. des Erzählers am Geschehen ist – und das ist der Grund, warum auch wir als Zuschauer stärker beteiligt sind. Das ist noch keine tatsächliche Innensicht, was aber aufgerufen wird, ist ein psychologisches Moment, und diese Tatsache an sich bindet uns schon viel stärker an das Geschilderte, und, wie ich behaupte, ganz besonders an die Figur. Die Frage, was das alles für die Figur bedeutet, etwa mit welchen Gefühlen der beschriebene Vorgang für sie verbunden sein mag etc., steht hier viel stärker im Raum; kurz, die »Spannung«, die das Präsens vermittelt, evoziert eine Spekulation des Lesers. Was hier also angedeutet werden kann, ist eine Art Innensicht in der Außensicht, über die Tempora steht eine Modulation der Perspektivierung der Außensicht auf die Figur zur Verfügung. Auf diese Weise werden wir aber immer wieder mit subtilen Mitteln auf die Komplexität des Erzählens an sich verwiesen, indem die Rolle des perspektivierenden Darstellers des Geschehens und unsere Rolle als Leser/in über den Tempuswechsel immer thematisiert bleibt! In ähnlicher Weise, könnte man sagen, konfrontiert uns die Unbestimmtheit der fiktionalen Vergangenheitsaussage, die über die Tempora transportiert wird, mit der ganzen Komplexität des Charakters von Zeit in der Erzählung. Käte Hamburger stützt ihre Ausführungen zum epischen Präteritum ja primär darauf, daß das Präteritum in der Erzählung in der dritten Person seine Funktion der tatsächlichen Vergangenheitsaussage eines Subjekts aufgibt und zum Fiktionsanzeiger wird. Weinrich spinnt die These noch weiter und und spricht vom
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gänzlich vom Zeitbezug absehenden Präteritum als Leittempus einer »erzählten Welt«499. Was über der Etablierung dieser Grundthesen viel weniger diskutiert wurde, ist die Frage, welche Arten von Aussagen die des Vergangenheitsbezugs entkleideten Tempora begründen. Oder anders formuliert: wenn die Tempora in der Erzählung keinen konkreten Bezug auf Vergangenes oder Gegenwärtiges bezeichnen, welcher Art ist dann dieser Bezug, zu dem wir uns trotzdem derselben Zeichen bedienen? So ist es also problematisch, jene Bedeutungen, die die Tempora in real bezugnehmender Kommunikation haben oder haben können, in der Erzählung als gänzlich deaktiviert zu betrachten. In Analogie zur eben beschriebenen Vielschichtigkeit der Möglichkeiten der Perspektivierung muß wohl davon ausgegangen werden, daß auch das Präteritum nicht immer die Funktion der reinen Fiktionsanzeige erfüllt bzw. dies nicht als für jede Erzählung gleich geltend angenommen werden kann, so zentral diese Überlegung ist. Käte Hamburger setzt in der Herleitung ihres poetologischen Systems einen grundlegenden Unterschied zwischen der Erzählung in der dritten Person und der Ich-Erzählung an, indem letztere als tatsächliche Vergangenheitsaussage gewertet und nur erstere als Fiktion im eigentlichen Sinn beschrieben wird. Das Präteritum in der Ich-Erzählung stellt mithin nach Hamburger tatsächlich den Vergangenheitsbezug her, in der Erzählung in der dritten Person weist das Präteritum auf den fiktiven Charakter der Aussage hin500. Wie erwähnt, hat diese Auffassung einige Irritation ausgelöst, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Dennoch klammert so Hamburgers System die Frage nach der Art des Vergangenheitsbezugs der Erzählung nicht ganz aus (wie es bei Weinrich der Fall ist). Ich nehme daher diese Tatsache in Verbindung mit den skizzierten Möglichkeiten der Modulation als Symptom dafür, daß es realistischer ist, davon auszugehen, daß auch die zeitbezüglichen, zeit(punkt)bestimmenden Bedeutungsanteile der Tempusformen konkurrieren und vom Schöpfer der Erzählung je nach Textaussage unterschiedlich akzentuiert werden. Gerade daran, daß Thomas Mann den semantischen Nimbus, den er dem Präteritum zuschreibt, so genau im Vorsatz zum Zauberberg beschreibt501, kann man diese individuelle Dimension der Verwendung ablesen – und auch, wie sehr diese Verwendung 499 Hamburger kritisiert diese Radikalisierung ihrer These entschieden, u. a. mit dem Hinweis »Aber – ist es ein Zufall – das historische Präsens fällt bei Weinrich unter den Tisch.« vgl. Käte Hamburger, Noch einmal: Vom Erzählen – Versuch einer Antwort und Klärung, in: Rainer Gruenter und Arthur Henkel (Hrsg.): Euphorion – Zeitschrift für Literaturgeschichte, 59. Bd., Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1965, S. 46–71, hier besonders S. 47–52. 500 Vgl. Hamburger, Das epische Praeteritum, S. 354–357. 501 Ähnlich wie Manns Beispiel zum historischen Präsens gehört seine Zeichnung des Imperfekts als »raunendem Beschwörer der Vergangenheit« zum wenig variierten Zitatenschatz literaturwissenschaftlicher Tempusbetrachtung.
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historischen Veränderungen unterworfen ist. Darauf, daß Manns Beharren auf einer »traditionellen« Sicht auf das Imperfekt als Erzähltempus vor dem Hintergrund schon etablierter experimenteller Formen zu sehen ist, wurde in der Einleitung hingewiesen. Was hier daher betont werden soll, ist der Reichtum an Möglichkeiten, der die Funktionen der Tempora in und außerhalb der Erzählung bestimmt. Es ist so zu erwarten, daß diese ganz unterschiedlich genützt werden, und es ist nicht zu erwarten, daß dies einheitlich geschieht. Mann stellt in seiner ironischen Weise im Vorsatz den Bezug des Präteritums auf eine »tiefste Vergangenheit« fest und thematisiert so in Übereinstimmung damit, daß sich das Thema der unsicheren Bestimmung von »Zeit« durch den ganzen Roman zieht, den ebenso oder noch komplizierteren Charakter, den Zeitliches in der Erzählung annimmt. Hier wird also die Tempusform konkret als Symbol dieser Komplexität der verschiedenen Möglichkeiten, Zeit und Zeitverhältnisse zu empfinden, eingesetzt. Mann bedient sich der Bedeutung »Bezug auf Vergangenes«, die das Präteritum in nichtfiktiver Kommunikation hat oder haben kann, und ironisiert diese dahingehend, daß er behauptet, im Erzählen beziehe sich das Imperfekt nicht nur auf Vergangenes oder die sprichwörtliche »tiefe Vergangenheit«, nein, es ist die »tiefste Vergangenheit«. Die Ironie besteht überdies darin, daß es das »Imperfekt« ist, das vom Namen her Unabgeschlossene, dem diese Rolle zukommt. Gleichzeitig betont er, wie kurz der zeitliche Abstand zu den Ereignissen ist, die hier erzählt werden – kurz im Sinne der meßbaren physikalischen Zeit. Das behauptet automatisch, daß sich die psychologische Empfindung von Zeit in diesem Kontext von jener der Physik unterscheidet. Das heißt, Mann nützt die vertraute und reguläre Vergangenheitsbedeutung des Präteritums in widersprüchlicher Art und Weise, um auf den komplexen Charakter des Begriffs »Vergangenheit« hinzuweisen und inhaltlich wie formal den Leser zur Überlegung zu zwingen, welcher Art seine Beziehung zum Konzept »Zeit« ist – oder auch, in welcher besonderen Weise etwa das Ausgesagte als »wahr« einzustufen sei. So ist der Zauberberg eines der prägnantesten Beispiele dafür, daß die Tiefendimension der Zeitbezüge, die von Autoren über die Tempusformen aufgezeigt werden, als die individuellen, die sie sind, erkannt und als solche in die Interpretation einbezogen werden müssen. Manns Beharren auf der Widersprüchlichkeit des Präteritums, das als Im-perfekt zugleich die »tiefste Vergangenheit« bezeichnet, verweist klar auf dessen für ihn zweifelhafte Fähigkeit, Zeitverhältnisse adäquat auszudrücken. Dennoch hält Mann an der Verwendung des Präteritums als Erzähltempus, obwohl dessen Stärke eben gerade nicht in der Bezeichnung der genauen Art des Vergangenheitsbezugs liegt, fest. Seine Beschreibung rückt außerdem die Qualitäten seines Imperfekts in die Nähe des oben dargestellten »zeitlosen« Aorists des griechischen Epos (vgl. Anm. 476) und ist damit wohl auch als Hinweis auf Manns poetologische Konzeption des Zauberberg zu lesen.
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In ähnlicher Weise ist zu erwarten, daß bei vielen Autoren die Art der Bezugnahme auf Zeitliches, die wesentlich von Tempuskonnotationen bestimmt werden kann, Aufschlüsse bietet über das jeweilige Konzept von Fiktionserstellung, und sei es auch nur, weil die Konzepte von »Zeit« und »Fiktion« in ähnlicher Weise komplex sind und sich daher die Parallelisierung so sehr anbietet, wie es bei Mann zum Ausdruck kommt. Vielleicht berühren sich diese Konzepte in einem ähnlichen Fluchtpunkt: So wie sich die Fiktion nie ganz von der Wirklichkeitsaussage löst, sind wir nicht imstande, uns ganz von der Vorstellung zu lösen, daß etwas, das erzählt ist, nicht doch letztlich eine wirkliche Vergangenheit einer wirklichen Sprecherin bezeichnet. Dieser Fluchtpunkt ist rätselhaft und nicht faßbar – genau darauf werden wir aber über eine bestimmte Verwendung von Formen verwiesen, und es wäre geradezu unwahrscheinlich, wenn sich Autoren dieser komplexen Funktionsweise von Tempora nicht bedienen würden, um uns in diese Dimension von »Zeit« zu verstricken. Das kann nun, wie bei Thomas Mann, über eine möglichst durchgängige und durch Selbsterklärung konnotierte Verwendung geschehen, oder aber über die »chromatische« (so der Begriff von Bertinetto, siehe oben Kap. II. 4.) Abwechslung der Formen, die für sich allein schon den dauernd in Frage stehenden zeitlichen wie persönlichen (Erzähler)standpunkt und damit unsere Verstrickung in »Zeit« wie »Wahrheit« thematisiert. Ich möchte also den Grundgedanken der illusionsbezeichenden Kraft des »epischen Präteritums«, der bei Hamburger und Barthes eine wichtige Rolle spielt, etwas erweitern. Angesichts der literarischen Entwicklung hin zur Auflösung feststehender Tempusbedeutungen wäre die Frage zu stellen, ob es nunmehr nicht gerade der Tempuswechsel ist, dem man die Dimension zuschreiben kann, Zeichen der Gemachtheit der Erzählung zu sein. Die Formel würde also lauten, daß die Tatsache, daß die Erzählung formal »abwechslungsreich«, im Sinne einer Reliefgebung durch Tempora und ihre psychologisch wirksamen Mitbedeutungen gleichsam mehrdimensional gestaltet ist, umsomehr darauf hinweist, daß hier ein Gestalter am Werk ist. Gleichzeitig: Der Erzähler, der als auktorialer, also sichtbar (hörbar) anwesender, weil sich selbst präsentierender Erzähler verschwindet, wird vor allem in der Moderne, die den Tempuswechsel stark favorisiert (vielleicht: in Analogie zur bildenden Kunst vermehrt ihren Materialcharakter betont), von der Form der Gestaltung selbst teilweise ersetzt, indem Fragen der Perspektivierung rein von formalen Mitteln transportiert und nicht mehr im Text explizit thematisiert werden. Die Reflexion der Erzählerfigur oder -funktion schrumpft so im modernen Erzählen gleichsam synthetisch auf den Tempuswechsel als Prinzip zusammen.
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IV. 1.6. »Aoristisches« und »gnomisches« Präsens Wir wollen hier zurückkehren zur Beschreibung des historischen Präsens aus der Sicht der älteren Grammatik. Wie oben gezeigt, betont Bauer in seinem Kapitel zum Gebrauch der Zeitformen, daß der Einsatz einer synthetischen Form dem einer zusammengesetzten oft vorgezogen wird, um einen umständlichen und schwerfälligen Satzbau zu vermeiden. In Bezug auf das Präsens als Ersatzform für Tempora der Vergangenheit wird schließlich folgende Darstellung angeführt: Fries sagt […] über diese Vertauschung Folgendes: Das P r ä s e n s wird oft gebraucht a) statt des Imperfects, (historischen Perfects,) und heißt dann das historische Präsens, entweder in malerischen und dichterischen, kurz in lebhaften Schilderungen und Erzählungen, um der Begebenheit mehr (mehrere) Anschaulichkeit zu geben, und selbige (dieselbe) gleichsam zu vergegenwärtigen: ich ersteige den Berg, das Thal entfaltet sich vor meinem Auge, tief unten rieselt ein Bach: da ergreift mich Entzücken u. s. w., [so auch in der Sprache des täglichen Lebens, wenn man mit Feuer, im Aerger, kurz in Leidenschaft erzählt: so wie (als, indem) ich um die Ecke trete, sehe ich den Fremden, er kommt hastig auf mich zu, und überhäuft mich mit Grobheiten,] oder in historischen Tabellen, Registern und andern Inhaltsanzeigen: Friedrich der Einzige wird geboren 1712, kommt zur Regierung 1740, stirbt 1786 statt wurde geboren u. s. w.; b) statt des (reinen) Perfects, zumal besonders in der Sprache des täglichen Lebens: du hörst ja, er sieht nicht auf, als der Vater kommt, statt du hörtest u. s. w., und eben so c) statt des (reinen) Futurums: ich komme morgen zu dir statt ich werde kommen.502
Dies umfaßt die wesentlichen Verwendungsweisen des historischen Präsens; wie man sieht, eine Bezeichnung, die hier vor allem auf den literarischen bzw. erzählenden Bereich eingeschränkt wird. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Beispiele, die genannt werden. Wie wir sehen, verknüpft sich die Anwendung der als das eigentliche »historische Präsens« angeführten Form mit einem anderen Inhalt als oben im Beispiel von Thomas Mann. Als Prototyp wird in der älteren Darstellung offensichtlich mehr eine Beschreibung begriffen, wir werden in eine Szene eingeführt, die auch von ihrem Inhalt her »malerisch« ist und auf die Wiedergabe eines Affekteindrucks abzielt. Gleichsam als Inbegriff des »Malerischen« und »Dichterischen« wird hier das Entstehen einer lyrischen Stimmung »vergegenwärtigt«, während bei Mann dem Präsens vielmehr die Aufgabe zukommt, die ungewöhnliche Begebenheit als solche und ihr plötzliches Eintreten zu markieren. Ohne dies als Symptom überbewerten zu wollen, wollen wir diesen Unterschied in der Handlungsbetontheit festhalten. Er wirft die Frage nach den inhaltlich-formalen Kombinationsmöglichkeiten auf und verweist auf deren Wandel. Er verweist weiterhin auf eine bestimmte Form der 502 Bauer, Vollständige Grammatik, S. 104.
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Inszenierung von Affektregung und Emotion, die für die Epoche kennzeichnend und deren Ton uns vertraut ist, deren formale Gestaltung wir uns dennoch bewußt machen müssen, um den Unterschied zur späteren Verwendung zu erfassen. Die Wahl eines solchen Beipiels in einer Grammatik beweist aber in jedem Fall, daß wir es mit einer etablierten stilistischen Form zu tun haben, deren Vorkommen mithin eher die Norm als die Ausnahme darstellt. Wir stellen daher zur Vervollständigung der Begrifflichkeit, die die Verwendungsformen des historischen Präsens genauer bestimmt, der Beschreibung bei Heinrich Bauer die jüngere von Friedrich Blatz gegenüber. Seine Neuhochdeutsche Grammatik mit Berücksichtigung der historischen Entwicklung der deutschen Sprache ist 1896 erschienen503 und enthält eine für uns wichtige Unterscheidung in bezug auf die Charakterisierung des »gnomischen« Präsens, die, wie erwähnt, später wieder nivelliert wird. Auch bei Blatz wird die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Tempora, die sich nach dem »Ausgangspunkte, von dem aus die Zeit einer Handlung bemessen wird« richtet, beibehalten, die Herleitung dieser Auffassung hat sich im Gegensatz zu Bauer allerdings schon weitgehend verloren: 2. A b s o l u t e Tempora sind diejenigen, bei denen die Zeit der Handlung von dem Zeitpunkt aus bemessen wird, in welchem der Redende sich befindet (= von der G e g e n w a r t d e s S p r e c h e n d e n a u s ), z. B. Gott hat die Welt erschaffen (Die Zeit der Weltschöpfung ist von dem Zeitpunkt aus bemessen, in welchem der die Behauptung Aussprechende sich befindet; sie ist also durch ein absolutes Tempus bezeichnet). 3. R e l a t i v e Tempora nennt man solche, bei denen die Zeit einer e r w ä h n t e n H a n d l u n g den Ausgangspunkt der Zeitbemessung bildet, z. B. Nachdem man die Dielen des Saals a u f g e b r o c h e n h a t t e , entdeckte man ein geräumiges Gewölbe. Die Zeit des Aufbrechens der Dielen ist hier nach der Zeit der Entdeckung des Gewölbes bemessen, erstere Handlung fand vor der zweiten statt, das Tempus (Plusquamperfektum) ist also ein relatives, die Zeit der Entdeckung des Gewölbes dagegen ist von der Gegenwart des Erzählenden aus bemessen, ist also durch eine a b s o l u t e Zeit (Präteritum) ausgedrückt. Das relative Tempus bezeichnet eine die Haupthandlung begleitende N e b e n h a n d l u n g .504
Nach Blatz drückt somit das »absolute Präsens« eine Handlung aus, die im Sprechzeitpunkt dem Sprecher gegenwärtig und das heißt unvollendet ist. Das für Blatz »eigentliche Präsens« bezeichnet so eine Handlung, die eintritt oder fortdauert: »Dort bläht ein Schiff die Segel, frisch saust hinein der Wind.«505 503 Das Tempuskapitel findet sich im zweiten Band zur Satzlehre; Blatz’ Grammatik ist 1970 bei Georg Olms, Hildesheim New York als reprografischer Nachdruck erschienen (= Documenta Linguistica, Quellen zur Geschichte der Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts, Reihe VI. Grammatiken des 19. Jahrhunderts). 504 Ebda., S. 495. 505 Ebda., S. 498.
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Neben der temporal-aspektuellen Grunddefinition des »absoluten« Präsens mit ihrem Bezug auf das System der Ich-Origo, für die das Beispiel steht, gibt es für Blatz dementsprechend noch eine zweite Verwendung, die eben den von zeitlicher Bestimmung absehenden Gebrauch bezeichnet. Dieser wird ähnlich wie bei Bauer definiert: Eine Aussage, die nicht auf eine bestimmte Zeit beschränkt ist, sondern für a l l e Z e i t e n als gültig angenommen wird, findet sich meistens durch das P r ä s e n s ausgedrückt, z. B. Man glaubt gern, was man wünscht. Bisweilen wird aber eine solche Aussage der Vergangenheit oder der Zukunft zugeschrieben und dem Leser überlassen, die Ausdehnung der Behauptung auf die übrigen Zeiten zu ergänzen, z. B. Noch nie ist ein Prophet in seinem Vaterlande anerkannt worden. Ein guter Mann wird stets das Bessere wählen. Den Weisen werden keine Schicksalsschläge entmutigen. Dieser Gebrauch der absoluten Tempora heißt der a o r i s t i s c h e ( u n b e s t i m m t e ) .506
Im Sinne dieser Festlegung kommt daher Blatz auch zu der uns hier interessierenden Unterscheidung zwischen aoristischem Präsens und gnomischem Präsens im eigentlichen Sinn, das sich als Subkategorie des unbestimmten Präsens beschreiben läßt; das absolute Präsens drückt also neben einer aktuell stattfindenden Handlung aus: 2. eine Handlung, die nicht nur in dem Momente der Aussage, sondern in jeder Zeit stattfindet. (U n b e s t i m m t e s oder a o r i s t i s c h e s Präsens). Dieses Präsens dient zur Angabe d a u e r n d e r und w i e d e r h o l t e r Geschehnisse, a l l g e m e i n g ü l t i g e r Behauptungen, zur Bezeichnung einer E i g e n s c h a f t , G e w o h n h e i t , S i t t e , die ständig stattfinden, z. B. Im Frühlinge blühen die Bäume. Der Frost schadet den Feldfrüchten. Der Krater des Vesuvs ist ein ungeheurer Kessel. Die Spanier haben ein großes Vergnügen an Stiergefechten. Der Tell holt ein verlorenes Lamm vom Abgrund. Ich spiele Schach (= kann spielen). Die Stadt Schaffhausen w i r d des benachbarten Rheinfalls wegen Jahr für Jahr von vielen tausend Reisenden b e s u c h t . Das aoristische Präsens findet sich insbesondere auch in S p r i c h w ö r t e r n und S e n t e n z e n (g n o m i s c h e s Präsens genannt), z. B. Blinder Eifer s c h a d e t nur. Übung macht den Meister. Gutes Wort findet guten Ort. Beide s c h a d e n sich selbst: der zu viel v e r s p r i c h t , und der zu viel e r w a r t e t (Less.). Ein feiges Herz freit keine schöne Frau (Wiel.). Der Lohn der Tugend folgt dem edlen Unterfangen (ds.).507
Wir gelangen so anhand der früher üblichen grammatischen Beschreibungspraxis zu einer Differenzierung der Präsensverwendungen, die uns erlaubt, diese auch im Erzählkontext genauer voneinander zu unterscheiden. Jene Schicht der Verwendung, die als erste vom szenischen Präsens zu trennen ist, ist also die des unbestimmten oder aoristischen Gebrauchs mit ihrer Subkategorie des gnomischen Präsens, das nach der älteren Bestimmung ausschließlich dem Sprichwort 506 Ebda., S. 497. 507 Ebda., S. 498.
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und fixen Wendungen zur Verfügung steht. Die in der Erzählung häufiger anzutreffende Form der Verwendung ist mithin jene allgemeinere des aoristischen Präsens, und dies gilt auch für die Wahlverwandtschaften. In einer auktorialen Erzählsituation wie der, die wir hier vor uns haben, bewirkt das Einfügen einer Sentenz oder einer Behauptung »allgemeiner Natur« im Präsens meist eine Verdeutlichung der Erzählerstimme, trägt also wesentlich zu ihrer Konstituierung bei. Im Folgenden wollen wir den Schärfen – und Unschärfen – dieser Verdeutlichung anhand des Gebrauchs des aoristischen Präsens nachgehen.
IV. 1.7. Erzählhaltung und aoristisches Präsens: Gattungswandel und »Nähe zum Drama« Die Eingriffe des Erzählers der Wahlverwandtschaften in die Schilderung des Romangeschehens oder, besser gesagt, das offene Hervortreten der Erzählerstimme, die ihre Anwesenheit demonstriert, sind, wie schon oben bei der Analyse der ersten zwei Kapitel und ihres Ehegesprächs erwähnt, eher rar gesetzt, vor allem am Anfang des Romans. Eine Feinunterscheidung ließe sich hier aber dennoch ansetzen zwischen jenen Formen der Enthüllung der Erzählfunktion, die eine Autorschaft betonen bzw. die Erzählung als Aufzeichnung ausweisen, und jenen, die als gnomisches bzw. im Sinne des eben Dargestellten als aoristisches Präsens zu bezeichnen sind und die auf die Erzählerstimme eigentlich nur eher indirekt verweisen, indem Aussagen allgemeiner Natur, die in eine Erzählung eingeflochten werden, ja einem Ursprung zugeordnet werden müssen. Zur ersteren Kategorie zähle ich also Einschübe wie jenen, der im 3. Kapitel dem Brief der Vorsteherin und des Gehülfen an Charlotte vorangestellt ist: Einem weitläufigen Briefe der Vorsteherin, welcher sich wie gewöhnlich über der Tochter [Luciane] Fortschritte mit Behagen verbreitete, war eine kurze Nachschrift hinzugefügt nebst einer Beilage von der Hand eines männlichen Gehülfen am Institut, die wir beide mitteilen. (WV 263)
Zu dieser Kategorie gehört freilich auch der Romanbeginn – Eduard, so nennen wir – auf dessen signalhafte Natur als Incipit eines »Zeitromans« wir zu Beginn hingewiesen haben – auf die Verwendung des »wir« als entscheidendes Element bei der Konstituierung der »Objektivität« des Erzählers bzw., um es neutraler auszudrücken, zur Vermittlung einer aus der Distanz schildernden Erzählerstimme braucht hier nicht verwiesen zu werden.
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IV. 1.8. Konnotationen des aoristischen Präsens: Der Roman als »Fallgeschichte« Wie erwähnt, ist die Setzung solcher Erzählereinsprengsel allgemein im Roman selten, doch soll an einem weiteren, etwas längeren Textbeispiel gezeigt werden, in welcher Weise hier die Technik des Einsatzes einer Art »Erzählerpräsens« dazu dient, in Abstufungen die sonst geltende Neutralität des Erzählers zu modulieren und sie in der Beschreibung der handelnden Personen mitunter so einzusetzen, daß ein Effekt der unmittelbaren Annäherung an die geschilderte Person bzw. an die Situation eintritt. Damit möchte ich zeigen, daß die Allgemeinheit der Aussagen, die im aoristischen Präsens vom Erzähler getroffen werden, Abwandlungen unterliegen bzw. verschiedenen Zwecken dienen kann. Die folgende Textstelle ist dem 4. Kapitel entnommen, Charlotte hat sich mit der Anwesenheit des Hauptmanns angefreundet; geschildert wird hier der Abend, an dem Eduard und der Hauptmann Charlotte die chemische Wirkungsweise der Elemente darstellen. Der Gleichnisrede direkt voraus geht die Szene, in der Eduard seine »Zerrissenheit« schildert, wenn ihm jemand beim Lesen ins Buch schaut: So benutzte Charlotte die Kenntnisse, die Tätigkeit des Hauptmanns auch nach ihrem Sinne und fing an, mit seiner Gegenwart völlig zufrieden und über alle Folgen beruhigt zu werden. Sie bereitete sich gewöhnlich vor, manches zu fragen, und da sie gern leben mochte, so suchte sie alles Schädliche, alles Tödliche zu entfernen. Die Bleiglasur der Töpferwaren, der Grünspan kupferner Gefäße hatte ihr schon manche Sorge gemacht. Sie ließ sich hierüber belehren, und natürlicherweise mußte man auf die Grundbegriffe der Physik und Chemie zurückgehen. Zufälligen, aber immer willkommenen Anlaß zu solchen Unterhaltungen gab Eduards Neigung, der Gesellschaft vorzulesen. Er hatte eine sehr wohlklingende, tiefe Stimme und war früher wegen lebhafter, gefühlter Rezitation dichterischer und rednerischer Arbeiten angenehm und berühmt gewesen. Nun waren es andre Gegenstände, die ihn beschäftigten, andre Schriften, woraus er vorlas, und eben seit einiger Zeit vorzüglich Werke physischen, chemischen und technischen Inhalts. Eine seiner besondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern Menschen teilt, war die, daß es ihm unerträglich fiel, wenn jemand ihm beim Lesen in das Buch sah. In früherer Zeit, beim Vorlesen von Gedichten, Schauspielen, Erzählungen, war es die natürliche Folge der lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schauspieler, der Erzählende hat, zu überraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freilich dieser beabsichtigten Wirkung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt. Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer so zu setzen, daß er niemand im Rücken hatte. Jetzt zu dreien war diese Vorsicht unnötig; und da es diesmal nicht auf Erregung des Gefühls, auf Überraschung der Einbildungskraft angesehen war, so dachte er selbst nicht daran, sich sonderlich in acht zu nehmen. (WV 268f.)
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Der Erzähler, der hier am Wort ist, bindet im ersten Einschub, den ich hier unterstrichen habe, die Mitteilung (auch durch die Konstruktion als Nebensatz – es könnte ja auch heißen »Einer seiner besondern Eigenheiten war wie bei vielen andern die…« oder ähnliches) in eine direkt situations- und vor allem direkt erzählbezogene Gegenwart ein. Dieser Sprung in die Perspektive des Erzählers, der aus seiner Sicht eine aktuelle Vermutung anstellt, wirkt durch den Gebrauch des Präsens viel unvermittelter, als dies beim ja durchaus denkbaren Gebrauch des Präteritums der Fall wäre. Auf eine solche strikter in der Erzählhaltung verbleibende Lösung wird hier also verzichtet; worauf es hier aber ankommt, ist, daß dieser Effekt der »Vergegenwärtigung«, so wenig spektakulär oder wie konventionell er auf den ersten Blick scheinen mag, sozusagen auf verschiedenen Ebenen wirkt. Der Erzähler richtet die Aufmerksamkeit nicht nur auf sich selbst und gibt sich als Anwesender, Urteilender, jetzt Erzählender zu erkennen, sondern wir sind mit dieser Formulierung auch viel direkter in das aktuelle Geschehen zwischen den Personen versetzt. Der Erzähler richtet sich also nicht nur plötzlich an uns als Leserin, zu der er etwas über die Figur äußert, anhand dessen wir gemeinsam mit dem Erzähler auf die Figur blicken (eigentlich bedeutet der Hinweis auf eine öfter anzutreffende Eigenschaft ja, daß die Figur gerade ihrer Besonderheit enthoben wird), sondern der sehr wichtige Nebeneffekt der eingeflochtenen Bemerkung ist, daß durch die Zeitform die geschilderte Situation als ganze unmittelbarer in die Vorstellung tritt. Das Besondere an der Tempusform ist hier also, daß sie die Kraft hat, sozusagen über ihre unmittelbare Beziehbarkeit hinaus auf andere Elemente des Satzes bzw. des Erzählten übergreifen zu können. Käte Hamburger betont in bezug auf das epische Präteritum, daß es seine illusionserweckende Kraft, einmal etabliert, nicht mehr aufgibt, es verliert seine vergangenheitsaussagende Funktion, »sobald die fiktiven Subjekte die Szene beherrschen. Denn sind diese einmal erschienen, geben sie sozusagen ihre Herrschaft nicht wieder auf, und zwar auch dann nicht, wenn sie zeitweise wieder vom Schauplatze abtreten und reinen Milieuschilderungen Raum geben.«508 Für Hamburger überträgt sich diese Kraft des Präteritums auf alles im Roman Ausgesagte; ein ähnliches Prinzip sehe ich hier verwirklicht. Weiters ist ein wesentliches Element dieser Wirkung auch und ganz besonders das Zusammenspiel mit den anderen Formen bzw. die Art und Weise, wie die Tempusformen miteinander kombiniert werden. Hätten wir in diesem Absatz nur den ersten Erzählereinschub im Präsens vor uns, wäre die vergegenwärtigende Wirkung im Sinne des Hereinholens der Aufmerksamkeit des Lesers in die Situation deutlich abgeschwächt oder könnte überhaupt nicht als solche empfunden werden, würde sie nicht in entscheidender Weise durch die anderen Erzählerkommentare verstärkt, ja gedoppelt. Auch im Fall der zweiten und 508 Hamburger, Das epische Praeteritum, S. 337.
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dritten Verwendung des Präsens in diesem Absatz ist außerdem die Satzkonstruktion zu beachten. Parallel zu Henning Brinkmanns Hinweis, in den Wahlverwandtschaften die Subjekt- und Prädikatfolge im Satz zu berücksichtigen, möchte ich auf die Möglichkeiten der Satzstellung verweisen, die hier ausgenützt werden. Die allgemeine Beobachtung der Vorlieben eines Vortragenden ist nämlich derart in die Erzählung eingebaut, daß wir de facto Eduard dennoch immer als Subjekt dieser Feststellungen vor Augen haben. Das wird dadurch erreicht, daß im ersten Satz Eduard klar als Subjekt im Zentrum steht, es geht um eine seiner besonderen Eigenheiten, die Vermutung, daß er diese mit anderen gemein hat, wird eingeschoben, sodaß er am Ende des Satzes wieder das Thema der Aussage ist: »[…] wenn jemand ihm beim Lesen in das Buch sah«. Daran schließt die Beobachtung an, daß der Vorlesende ebenso wie »der Dichter, der Erzählende, der Schauspieler« die Absicht »hat«, durch seinen Vortrag zu überraschen, der Anfang des Satzes ist jedoch leicht auf Eduards persönliche Vergangenheit zu beziehen, da diese seine Fähigkeit und Vorliebe für das Vorlesen ja schon vorher eingeführt wurden und daher der Satzanfang »In früherer Zeit…«, der an »wenn jemand ihm beim Lesen in das Buch sah« anschließt, dementsprechend vor allem den Blick auf Eduards frühere Gewohnheiten richtet. »In früherer Zeit« »war« es also die »natürliche Folge« der Absicht eines effektvollen Vortrags, Pausen zu machen etc.: in dieser Kombination kann sich die Vergangenheitsbedeutung von »war« nur auf Eduards Gewohnheiten beziehen, er ist also hier noch das Subjekt, als das er jedoch im Relativsatz kurzfristig durch »der Vorlesende« ersetzt wird. Gleichzeitig geschieht hier auf inhaltlicher Ebene der Wechsel von der Exposition des Habituellen (in der Bedeutung »schon in früherer Zeit pflegte Eduard so und so vorzulesen«) zum Spezifischen der jetzigen Situation (»der Grund, warum wir dies erzählen, ist, daß wir eine besondere Situation schildern wollen, in der Eduard gestört wird«) – und dies beeinflußt entscheidend die aoristische Bedeutung der beiden Präsentia, die im Anschluß verwendet werden, sie gewinnen sozusagen die Kraft, obwohl sie fürs Allgemeine stehen, das Spezifische mitbedeuten zu können. Das Präsens »der lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter […] hat« changiert also auf diese Weise zwischen der allgemeinen Feststellung und dem spezifischen Bezug auf die Romanfigur. Auch das sind Möglichkeiten der Modulation, die mithilfe von Tempusformen vorgenommen werden können. Es gibt sozusagen strenger allgemein gehaltene Einschübe und solche, wo durch das Ineinanderfließen der Konstruktionen die Konnotation der »Vergegenwärtigung« der hier und jetzt geschilderten Situation stärker hervortritt und die bloße Mitteilung, daß es sich um eine öfter anzutreffende Eigenschaft bzw. um eine allgemein von Vortragenden beabsichtigte Wirkung handelt, leicht in den Hintergrund tritt. Dies wird im vorliegenden Absatz schließlich noch durch die Wiederholung des eben beschriebenen Vorgangs der »Subjektangleichung« bzw.
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des Zurückkehrens zu Eduard als spezifischem Subjekt verstärkt. »[D]a es denn freilich dieser [spezifischer als »der«, I.R.] beabsichtigten Wirkung sehr zuwider ist […]« sowie die Aufzählung der Effekte: »zu überraschen«, »Pausen zu machen«, »Erwartungen zu erregen« können daher im Verein mit dem wie oben konstruierten letzten Teil des mittleren Satzes: »wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt« ebenso leicht auf Eduard als gedachtes Subjekt der ganzen Passage bezogen werden wie der zweite Präsenseinschub, bei dem vor allem Eduards persönliche Vergangenheit als Vorlesender geschildert zu werden scheint bzw. diese Schilderung und die allgemeine Beschreibung ineinanderfließen. Bezeichnend ist schließlich für diese Strategie auch die Tatsache, daß der vorletzte Satz des Absatzes nicht mit »Eduard« beginnt, sondern mit dem Pronomen: »Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer so zu setzen, daß er niemand im Rücken hatte.« Auf diese Weise schließt sich der ganze Absatz, in dem ausschließlich das Pronomen verwendet wird, inhaltlich an den vorhergehenden an, in dem »Eduards Neigung« explizit genannt ist, bildet also in seiner Gesamtheit gewissermaßen das Rhema zu diesem Thema »Eduard« bzw. »Eduards Eigenheit«. M.E. wird schließlich noch durch die Verwendung des starken »sehr zuwider« diese Komponente des individuellen Bezugs verstärkt; ob dies eine nachvollziehbare Intuition ist, mag hier dahingestellt bleiben. Lesen wir aber das aoristische Präsens, das hier verwendet wird, im eben skizzierten Sinn als mit der Konnotation der Vergegenwärtigung ausgestattet, ergäbe die absichtliche Setzung eines solchen Details durchaus einen Sinn. Lesen wir die Präsentia hier sozusagen in ihrem Wortsinn, also als hineinversetzende Rede, beinhalten sie eine deutlich hörbare Figurenrede, der Anklang etwa an Eduard als Erörternden, der schildert, wie sehr ihm etwas »zuwider« ist, läge hier keineswegs fern bzw. wäre dann dieser Effekt nicht nur im Sinne einer erlebten Rede zu interpretieren, sondern er gewinnt die Qualität einer spezifischen Verschmelzung zwischen Erzähler- und Figurenrede, die in der Angleichung des Erzählers an den »Konversationston« (Paul Stöcklein, siehe Kap. IV. 2.4.) zu suchen ist, der nach vielen Interpreten in den Wahlverwandtschaften nicht nur die Figurenrede, sondern den Erzählton des Romans als ganzen bestimmt (vgl. in dieser Arbeit dazu Peter von Matt Kap. III. 4.2.1.). Das Interessante an einem solchen Einsatz des aoristischen oder unbestimmten Präsens ist also, daß es entgegen seiner sonstigen Funktion zeitloser Verallgemeinerung und damit einer gewissen Distanzierung gerade die Kraft der Annäherung gewinnt, die sonst dem szenischen Präsens zugesprochen wird. Durch den gleichzeitigen Einsatz dieses Stilmittels (des szenischen Präsens) im Roman wiederum wird die zwischen Verallgemeinerung und Annäherung schillernde Verwendungsweise des aoristischen Präsens mehr in Richtung einer gleichzeitig Aktuelles und – diese entscheidende Komponente in der Interpre-
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tation des Romans ist anhand der Thematisierung von Eduard – so nennen wir angeklungen – gerade aufgrunddessen Beispielhaftes zum Ausdruck bringenden Anwendung lesbar. Eduards Fall ist individuell und steht gerade dadurch für andere.509 In diesem Sinne wäre die spezifische Art der Präsensverwendung in den Wahlverwandtschaften als Teil eines Aktes der »Anbindung an die Personen« zu lesen, wie es bei Roland Barthes mit Bezug auf die Verwendung des Präsens und des Perfekts im Roman heißt. Es ist jedoch nicht eine Anbindung der Art, die das Individuelle als Einzelschicksal begreift und stehen läßt, sondern eine, die in der Darstellung des individuellen Einzelschicksals eine allgemeinere Dimension erfassen möchte. In diesem Zusammenhang zeigt die Lesart der Zeitgenossen, den Roman als eine durchaus als aktuell intendierte Abbildung sozialer Zusammenhänge zu sehen, die am Beispiel einer konkret schichtbezogenen Problematik dargestellt wird, ihre Bedeutsamkeit. Die Selbstverständlichkeit, mit der darüberhinaus eine »Fallgeschichte« im historischen Kontext der Entstehung der Wahlverwandtschaften stets als Zeichen eines größeren Ganzen gelesen wird, ist ebenso den Reaktionen der Zeitgenossen und vor allem den Interpretationen von Abeken und Solger zu entnehmen. Sie stellt m. E. den wesentlichsten und immer mitzuberücksichtigenden Unterschied zu einer heutigen Lesart dar. In diesem Sinn kommt Walter Benjamins Auslotung des »Schicksalhaften« in seiner besonderen Bedeutung für Goethe eine wichtige Rolle in der Sekundärliteratur zu, da sie diese historische Dimension des Zeichenhaften rekonstruiert und so zu konservieren imstande ist. Ebenso ist an dieser Stelle an Grete Schaeders dargestellte Fassung des »Symbolischen« zu erinnern, diese kann durch einen Aphorismus der Maximen und Reflexionen ergänzt werden:
509 Im von Hamburger zitierten Aufsatz: Der Bau des epischen Werks, beschreibt Döblin die Dimension der Beispielhaftigkeit des fiktionalen Werks und seiner Figuren u. a. so: »Was nun irgendeinen erfundenen Vorgang, der die Form des Berichtes trägt, aus dem Bereich des bloß Ausgedachten und Hingeschriebenen in eine wahre Sphäre, in die des spezifisch epischen Berichtes hebt, das ist das Exemplarische des Vorgangs und der Figuren, die geschildert werden und von denen in der Berichtform mitgeteilt wird. Es sind da starke Grundsituationen, Elementarsituationen des menschlichen Daseins, die herausgearbeitet werden, es sind Elementarhaltungen des Menschen, die in dieser Sphäre erscheinen und die, weil sie tausendfach zerlegt wirklich sind, auch so berichtet werden können. Ja, diese Gestalten, keine platonischen Ideen, dieser Odysseus, Don Quichote, der wandernde Dante und diese menschlichen Ursituationen stehen sogar an Ursprünglichkeit, Wahrheit und Zeugungskraft über den zerlegten Tageswahrheiten. Und es erheben sich so über der Wirklichkeit eine ganze Reihe von Gestalten, keine große Zahl, an denen immer wieder neu gedichtet werden kann.« [Kursivierung i. O.] In: Alfred Döblin, Aufsätze zur Literatur, Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1963, S. 103–132, hier S. 106f.
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Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.510
Entgegen der lange geltenden Forschermeinung von der zurückhaltenden Klarheit und Kühlheit und der erzähltechnisch hergestellten Distanz und Ausgewogenheit der Darstellungsweise in den Wahlverwandtschaften, läßt sich das Prinzip der Emotionalisierung, das Martin Huber in seiner Studie zum theatralen Erzählen um 1800 zeichnet511, auch hier beschreiben. Um aufzuzeigen, daß die Erzählereinschübe im Roman in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielen und den dahingehenden Effekt des szenischen Präsens vorbereiten und spiegeln, stelle ich die weitere Untersuchung der Verwendung des aoristischen Präsens in den Erzählereinschüben in den Gesamtzusammenhang der Erzählerkommentare im Roman und versuche, deren paradoxe Rolle im Zusammenhang der Leserlenkung herauszustreichen.
IV. 2. Erzählerstimme und aoristisches Präsens: »Klassische Standortsklarheit«? Es geht also bei dem Versuch, genauere Grenzen im Übergang der verschiedenen Verwendungsarten des aoristischen Präsens zu ziehen, nicht um eine Erweiterung der Terminologie um ihrer selbst willen, sondern die Frage nach der Tiefenwirkung von Tempusfunktionen ist im Kontext der Feinkonstruktion der Erzählhaltung und des Form(en)wandels der Gattung Roman zu diskutieren. Die Übergänge zwischen den beschriebenen Verwendungsweisen sind natürlich fließend, dennoch denke ich, daß der Unterschied zwischen einer Verwendung wie der eben dargestellten mit ihrer stärker hineinversetzenden Funktion und jenen Arten des Gebrauchs, die in Richtung eines tatsächlichen gnomischen Präsens gehen, einleuchtend darstellbar ist. Ein Beispiel dafür stellt die oben zitierte Szene dar, in der Ottilies Ankunft geschildert wird, die ich hier noch einmal in einem anderen Ausschnitt wiedergebe: Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren. Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu nähern, warf sich ihr zu Füßen und umfaßte ihre Kniee. »Wozu die Demütigung!« sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war und sie aufheben wollte. »Es ist so demütig nicht gemeint,« versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb. »Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht höher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiß war.« 510 Goethe, Maximen und Reflexionen, HA, Bd. 12, S. 377. 511 Vgl. Martin Huber, Der Text als Bühne, Anm. 29.
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Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich. Sie ward den Männern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt. Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast. Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran teilgenommen hätte. (WV 281)
Diese Textstelle ist der Anfang des sechsten Kapitels. Im Anschluß an das eben zur Schaffung von Szenarien Ausgeführte ist hier außerdem auf die Verwendung des Plusquamperfekts im ersten Satz zu verweisen. Der Einsatz des Plusquamperfekts zur Rahmung eines Kapitels oder zur Einleitung einer Episode, eines Teilgeschehens der Handlung ist ein oft gebrauchtes Mittel, das hier in besonderer Kürze eingesetzt wird512. An den Beginn des Kapitels gestellt, versetzt es sofort in die Handlung bzw. bewirkt die gleichsam resümierende Komponente des relativ gebrauchten Plusquamperfekts die Versetzung an einen bestimmten, noch näher zu definierenden Punkt der Handlung oder Szene. Geschildert wird hier nämlich nicht, wie bei der Ankunft des Grafen und der Baronesse später, eine Detailszene (wie die Kutschen von beiden Seiten in den Hof einfahren, sodaß sie zeitgleich eintreffen), sondern die Tempusform steht sozusagen als Kürzel dafür, daß wir den Anfang der Begrüßungsszene vor uns haben, die auf diese Weise als das eigentlich zu Erzählende herausgestrichen wird. Auch eine solche erzähltechnische Ausformung des in medias res gehört zur Bildhaftigkeit der Wahlverwandtschaften, die im Kontext der Symbolik der Motive und des Romans als Gleichnisrede steht.
IV. 2.1. Auktoriale Distanz und Ottilies Schönheit I Das eben zitierte Beispiel ist, wie erwähnt, im Sinn der dargestellten Unterscheidung als gnomisches Präsens einzustufen. Tatsächlich gibt es in den Wahlverwandtschaften wenige Beispiele, die so eindeutig einer Sentenz gleichkommen wie dieses. Und es sind auch in erster Linie solche Textstellen, aufgrundderer die Erzählsituation des Romans lange als eindeutig auktoriale klassifiziert worden ist. Dies geht vermutlich vor allem auf einen Aufsatz Eduard Sprangers von 1930 zurück, der in bezug auf die Wahlverwandtschaften von »klassischer Standortsklarheit« des allwissenden Erzählers spricht513. Spranger 512 Zum Prinzip der Rahmung als Leitmotiv der formalen Gestaltung der Wahlverwandtschaften vgl. Claudia Öhlschläger, »Kunstgriffe« oder Poiesis der Mortifikation – Zur Aporie des »erfüllten« Augenblicks in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Gabriele Brandstetter (Hrsg.), Erzählen und Wissen – Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2003 (= Rombach Wissenschaften Reihe Litterae Bd. 96), S. 187–204, hier besonders S. 187–192. 513 Vgl. Eduard Spranger, Der psychologische Perspektivismus im Roman, in: Volker Klotz (Hrsg.), Zur Poetik des Romans, Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1965
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betont, daß dies im Zusammenhang der Symbolkräftigkeit des reifen Goetheschen Erzählens zu sehen ist, das seelische Konflikte der Figuren immer anhand ihrer Handlungen darstellt und die moderne »technische Seelenanalyse« nicht kenne, auch dort nicht, wo ihr »Seelenzustand«, so Spranger, direkt besprochen wird514. Solche Schilderungen innerer Konflikte oder Gemütszustände, wie die Beschreibung von Eduards Sehnsucht nach Ottilie im 13. Kapitel des ersten Buches, stehen daher für Spranger nur scheinbar in einem Widerspruch zur verallgemeinernden Sicht, die in den »psychologischen Generalisationen« und »allgemeinen Lebenswahrheiten« zum Ausdruck komme, die für ihn diesen Roman stärker bestimmen als alle anderen Goethes515. Die fallweise Darstellung des Innenlebens der Figuren, so Spranger, bezeichne in den Wahlverwandtschaften Goethe zwar als »Seelenkundigen und Seelenkündiger«; dies sei aber nicht zu verwechseln mit der modernen »Zerlegung« und »Benennung« der inneren Kräfte516. Die psychologische Durchleuchtung der Figuren steht so für Spranger vor der Folie einer »universalen Naturgesetzlichkeit« und zielt für ihn darauf ab, das »menschliche Geschick« der Anziehungen und Abstoßungen als »Spezialfall ewiger Notwendigkeiten« zu beschreiben517. Sprangers allwissender Erzähler ist dies daher sozusagen im wahrsten Sinn des Wortes, die »psychologischen Generalisationen« verweisen für ihn auf die aristotelische Idee, der Poesie höhere Wahrheit zuzuschreiben als der Geschichte, da sich in ihr am scheinbar Zufälligen und Besonderen ein »Gesetz« zeigen lasse518. Dieses, so Spranger, wird in den Wahlverwandtschaften in Form der Einfügung der allgemeinen Reflexionen offen formuliert, »gleichsam auskristallisiert«519, und weise auch solcherart den Roman als Goethes höchststehendes »Produkt bewußten Künstlertums« aus, so Spranger520. Diese Idee des allwissenden Erzählers als Zeichen einer Ordnung, die im Besonderen das Allgemeine abbildet, soll hier aufgenommen, gleichzeitig aber das Konzept des distanzierten auktorialen Erzählers, das sie mittransportiert, anhand anderer Stimmen der Sekundärliteratur und anhand der Analyse weiterer Textstellen relativiert werden. Die der eben zitierten Textstelle folgenden Passagen, in denen das aoristische
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(= Wege der Forschung Bd. XXXV), S. 217–238, hier S. 234. Klotz’ Sammelband stellt mehrere Wiederabdrucke zusammen, Sprangers Aufsatz ist zuerst erschienen im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main, Hrsg. von Ernst Beutler, Frankfurt am Main 1930, S. 70–90. Vgl. ebda., S. 230 und 231. Vgl. ebda., S. 232. Vgl. ebda., S. 231. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 233 Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 231.
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Präsens gebraucht wird, enthüllen nämlich eine ähnliche Strategie wie die Reflexionen zu Eduard als Vorleser : Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug. Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen. Sogleich schnitt das gute, tätige Kind die ihr früher geschenkten Stoffe selbst zu und wußte sie sich mit geringer Beihülfe anderer schnell und höchst zierlich anzupassen. Die neuen, modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt. Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost. Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und innern Sinn. Wer sie erblickt, den kann nichts Übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung. Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen. Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenkünfte. Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger als billig auf sich warten. Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken. Beide zeigten sich überhaupt geselliger. […] In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse kennenlernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blick, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit. Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung. Dazu kam, daß man sie nicht gehen hörte, so leise trat sie auf. (WV 283f.)
Ottilies Wirkung vor allem auf die männliche Umwelt zeigt sich hier wie in der Erzählerstimme gedoppelt. Das Ineinander von Figurenbezug und allgemeiner Feststellung als wiederkehrendes Prinzip des aoristischen Präsens in den Wahlverwandtschaften hat besondere Bedeutung in bezug auf die Figur der Ottilie. Diese Textstelle nimmt die sentenzartige Wendung zur Schönheit als »überall ein gar willkommener Gast« auf und macht sie augenfällig, indem sie sie anhand von detaillierten Bildern und Szenen erläutert. Im gleichen Satz, in dem die Wirkung der neuen Kleider Ottilies beschrieben ist, wird über »das Angenehme einer Person« in der Weise reflektiert, daß der letzte Teil des Satzes schon wieder auf Ottilie beziehbar ist bzw. wird hier das Motiv des Immerwiederhinschauenmüssens entworfen (»so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen«) und schon auf der nächsten Seite in der genauen Aufzählung der »ewigen angenehmen Bewegung(en)« Ottilies inhaltlich wie wört-
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lich wiederholt. Dem als »edel« bezeichneten Gesichtssinn kommt hier die Schilderung selbst ganz und gar entgegen, dem Sehsinn wird sozusagen einiges geboten, indem Ottilie als Sitzende, Stehende, Wiederniedersitzende imaginiert wird. Die Aufzählung zeigt aber nicht nur Ottilie als sich Bewegende, die gleichsam vom Erzähler nicht aus den Augen gelassen wird, sondern als »Kommende, Gehende« bewegt sich Ottilie ja auch von einem gedachten Zentrum weg oder auf ein solches zu, und in dieses Zentrum sind wir damit gleichsam hineinversetzt. Noch »Holen« und »Bringen« wecken die räumliche Vorstellung eines Ziels, aus dessen Perspektive hier geschildert wird. Auf diese Weise vermischt sich die Erzählerperspektive mit jener der männlichen Figuren, in bezug auf Ottilie spart der Erzähler überdies nicht mit eindeutigen Stellungnahmen zu ihrem Äußeren: »daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen«, auch dies eine Strategie, die sich durch den Roman zieht. Gleichzeitig ist auch an dieser Textstelle die Stilisierung Ottilies zum »wahren Augentrost« an der Satzstellung und dem Subjektwechsel abzulesen, der Abstraktes und Konkretes mischt. Ottilie als dem »guten, tätigen Kind« folgen als Satzsubjekte »das Angenehme einer Person«, dann das Pronomen »sie« mit eindeutigem Bezug auf Ottilie, schließlich »der Smaragd« in der Funktion des Vergleichs. Dem beigeordnet ist der Bezug auf »die menschliche Schönheit«, sodaß das Schlußpronomen in »wer sie erblickt« fast schon wieder konkret rückbeziehbar wird auf die Figur der Ottilie. Die Beschreibung der starken Wirkung der menschlichen Schönheit (»mit weit größerer Gewalt« als der Edelstein) auf und über den Sehsinn geht gleichzeitig mit der Ausschaltung anderer Sinne einher. Ottilies Schönheit beruht nicht zuletzt darauf, daß sie nicht hörbar ist, weil sie lautlos auftritt, sie wird also ganz zum ätherischen Wesen, das im Smaragd-Vergleich sogar mit der Fähigkeit der Heil- und Schutzkraft ausgestattet wird. Diese Konzentration auf das Sichtbare ist mit der Figur der Ottilie besonders verbunden. Einblick in ihr Inneres geben überdies die Tagebuchaufzeichnungen, die keiner anderen Figur im Roman zugestanden werden. Auch die Briefzeugnisse des Gehülfen sprechen von ihr ; die Reflexionen des Erzählers über ihr Äußeres entsprechen dem und ergänzen das Vexierspiel auf ihre – nicht zufällig – »erhöhte« Figur (»Die neuen, modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt […]«), auf deren körperhafte Körperlosigkeit auch genau hier im sechsten Kapitel schon hingewiesen wird, indem Charlottes Sorgen über ihre Mäßigkeit im Essen und Trinken erwähnt werden. Dies zeichnet deutlich Ottilies schließliche Auflösung im Hungertod, auch ihre Funktion als Projektionsfläche voraus. Nicht zufällig wird in der Sekundärliteratur immer wieder Bezug genommen auf Grete Schaeders Bemerkung, die in den Wahlverwandtschaften die Entstehung einer Legende beschrieben sieht521. 521 Nach Schaeder zielt Goethe mit dem Motiv der Heiligenlegende um Ottilie darauf ab,
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IV. 2.2. Das Gesetz der Notwendigkeit und der Wechsel der Fokussierung Durch diese Strategie der engen Verquickung der allgemeinen Reflexionen mit der konkreten Situation der Romanfiguren und der gleichzeitigen Bevorzugung einer technisch wie inhaltlich sehr bildhaften Erzählweise entsteht die paradoxe Situation, daß es gerade die ins Allgemeine ausgreifenden Erzählerkommentare sind, die sich nicht vom Besonderen lösen, ähnlich wie Ottilies Erscheinung im Roman am konkretesten beschrieben wird und gleichzeitig am Ende die abstrakteste Überhöhung erfährt. Bild und Bildhaftigkeit erweisen sich so als der Schnittpunkt, auch Fluchtpunkt, zwischen den Modi der Beschreibung, die sich gleichsam im Bild treffen und auf dessen Fläche ihre Kräfte zusammenwirken können. Hinzu kommt, daß einige der »psychologischen Generalisationen«, wie sie Spranger treffend nennt, der Spannung unterliegen, die diese widersprüchliche Formulierung enthält (Psychologie als Bezug auf Individuelles, was einer Religion als Phänomen darzustellen: »Um die Idee der Menschheit in ihrer letzten Tiefe zu fassen, bedarf es des religiösen Gefühls. Wie Kant die Gottesidee aus der Natur des menschlichen Geistes, aus dem Zusammenwirken von theoretischer und praktischer Vernunft hervortreten läßt, so will Goethe auf den Punkt hindeuten, an dem in der Wirklichkeit des sittlichen Lebens mit innerer Notwendigkeit der Glaube einsetzt, der die Geltung des Naturgesetzes nicht durchkreuzt, sondern ergänzt. Und dennoch wird sich der Leser dem Eindruck schwer entziehen können, daß in den ›Wahlverwandtschaften‹ die Kunst und nicht die Religion das letzte Wort spricht. […] Wo das sittliche Handeln sich lebenzerstörend auswirkt, gilt, was Goethe von jedem Urphänomen aussagt: vor ihm muß der Mensch resignieren, hier ist dem Erkennen die Grenze gezogen. Nur der Glaube schafft dem Herzen vor dieser ehernen Mauer Freiheit. Nur im Glauben an ein zukünftiges Leben hat Goethe vor jedem ausweglos tragischen Geschehen Trost empfunden – ›Werther‹ und die ›Wahlverwandtschaften‹ sprechen in dieser Hinsicht die gleiche Sprache. Aber die christliche Form bringt diesen Unsterblichkeitsglauben nur symbolisch-stellvertretend zum Ausdruck. Der Kern der Goetheschen Religion ist der Glaube an die ›allmächtige Liebe, die alles bildet, alles hegt‹. Er sieht in ihr das Gesetz, das die Welt zusammenhält, durch das der Mensch lebt, unbewußt wie alle Natur, und bewußt, wenn er sich durch Anschauung und Erkenntnis täglich von ihm durchdringen läßt. Je mehr sich diese unsichtbare Macht an den Menschen als sittliches Wesen wendet, desto unerforschlicher und unaussprechlicher wird sie. Wenn Goethe die christlichen Namen und Symbole gebraucht, um das allbewegende Leben zu bezeichnen, so tut er es, weil sie für ihn echte Symbole sind, über die nicht hinauszugelangen ist. Nur in diesem Sinn ist der Schluß des zweiten Faust ein religiöses Bekenntnis. Der gleiche Glaube liegt auch den ›Wahlverwandtschaften‹ zugrunde – und dennoch ist der religiöse Ausgang des Romans der am wenigsten christliche Teil in diesem von christlichen Fragestellungen und Entscheidungen durchdrungenen Buch. Goethe übersetzt hier das, was er selber empfindet, in eine andere Sprache. Was er dem Leser vermittelt, ist nicht Religion, sondern die Anschauung, wie eine Legende entsteht. Das Phänomen der Religion wird hier genau so objektiviert, wie in der Darstellung dieses Romans jedes andere menschliche Erleben ein Naturgesetz veranschaulicht. Nicht Goethes eigener Glaube spricht zu uns, sondern seine Ueberzeugung von der Unentbehrlichkeit der Religion, von der inneren Notwendigkeit, mit der sie in bestimmten Lebenslagen entsteht und als eine Naturkraft höherer Art die Schrecknisse anderer Naturgewalten überwindet.« Siehe Grete Schaeder, Gott und Welt, S. 318f.
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Generalisierung im Grunde widerspricht); bei genauem Hinsehen beschreiben sie sogar ganz besonders die jetzt und hier geschilderte Situation und es stellt sich mitunter die Frage, auf welche andere sie überhaupt beziehbar wären. Wie beiläufig wird mitunter etwas als generelle Maxime ausgegeben, was so eindeutig als allgemeines Gesetz gar nicht erkennbar ist. Der Schluß des sechsten Kapitels und die nächste ein aoristisches Präsens enthaltende Textpassage aus dem siebten Kapitel können hier als Beispiele dienen; im ersten Fall geht es um die Annäherung zwischen Charlotte und dem Hauptmann über den gemeinsam geplanten Arbeiten im Park, im zweiten ähnlich um die konkreter werdenden Konsequenzen der spezifischen Konstellation der zusammen lebenden Protagonisten: Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit rasch angefangen, der Hauptmann immer gegenwärtig und Charlotte nunmehr fast täglich Zeuge seines ernsten und bestimmten Sinnes. Auch er lernte sie näher kennen, und beiden wurde es leicht, zusammen zu wirken und etwas zustande zu bringen. Es ist mit den Geschäften wie mit dem Tanze: Personen, die gleichen Schritt halten, müssen sich unentbehrlich werden, ein wechselseitiges Wohlwollen muß notwendig daraus entspringen, und daß Charlotte dem Hauptmann, seitdem sie ihn näher kennengelernt, wirklich wohlwollte, davon war ein sicherer Beweis, daß sie ihn einen schönen Ruheplatz, den sie bei ihren ersten Anlagen besonders ausgesucht und verziert hatte, der aber seinem Plane entgegenstand, ganz gelassen zerstören ließ, ohne auch nur die mindeste unangenehme Empfindung dabei zu haben. (WV 288f.)
Daß das Miteinandertanzen »notwendig«, wie der Text sagt, wechselseitige Sympathie bewirkt, ist so eindeutig wohl wieder nicht, auch wenn davon die Rede ist, daß Tanzende »gleichen Schritt halten«, eine Verallgemeinerung, könnte man sagen, die gerade durch den Inhalt dieses Romans konterkariert wird. Denn schließlich steht dieser Aussage wenige Kapitel zuvor eine ausführliche Schilderung der mißlichen Nichtübereinstimmung des Ehepaares Charlotte-Eduard beim Musizieren gegenüber, in der es genau um die unterschiedlichen Ausprägungen des jeweiligen Taktgefühls geht, die nur Charlottes Fähigkeit, Eduards dilettantischen Eigenheiten stillschweigend (eben taktvoll) zu folgen, ausgleicht (vgl. WV 257). Und die oben schon angesprochene Symbolkraft genau dieser Schilderung erweist sich gleich wenige Seiten nach der hier zitierten Stelle, wenn der seelische Gleichklang zwischen Eduard und Ottilie wiederum in das Bild des diesmal tatsächlich glückenden gemeinsamen Musizierens gefaßt wird (vgl. WV 297). Die Betonung der »Notwendigkeit« des Geschehenden finden wir auch in der zweiten Textstelle, die ich als Beispiel heranziehen möchte. Ich zitiere diese in einem längeren Ausschnitt, weil sich hier zeigen läßt, daß auch die Abfolge der geschilderten Episoden mitunter einem ähnlichen Prinzip des Wechsels vom
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Allgemeinen zum Besonderen unterliegt wie die Einstreuung der »Stellungnahmen« des Erzählers: Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten, das der Jugend Ottilies besonders zusagte. Sie erinnerten sich gern früherer Zeiten, wo sie einander gesehen; es stiegen diese Erinnerungen bis in die ersten Epochen der Neigung Eduards zu Charlotten. Ottilie wollte sich der beiden noch als des schönsten Hofpaares erinnern; und wenn Eduard ihr ein solches Gedächtnis aus ganz früher Jugend absprach, so behauptete sie doch, besonders einen Fall noch vollkommen gegenwärtig zu haben, wie sie sich einmal bei seinem Hereintreten in Charlottens Schoß versteckt, nicht aus Furcht, sondern aus kindischer Überraschung. Sie hätte dazusetzen können: weil er so lebhaften Eindruck auf sie gemacht, weil er ihr gar so wohl gefallen. Bei solchen Verhältnissen waren manche Geschäfte, welche die beiden Freunde zusammen früher vorgenommen, gewissermaßen ins Stocken geraten, so daß sie für nötig fanden, sich wieder eine Übersicht zu verschaffen, einige Aufsätze zu entwerfen, Briefe zu schreiben. Sie bestellten sich deshalb auf ihre Kanzlei, wo sie den alten Kopisten müßig fanden. Sie gingen an die Arbeit und gaben ihm bald zu tun, ohne zu bemerken, daß sie ihm manches aufbürdeten, was sie sonst selbst zu verrichten gewohnt waren. Gleich der erste Aufsatz wollte dem Hauptmann, gleich der erste Brief Eduarden nicht gelingen. Sie quälten sich eine Zeitlang mit Konzipieren und Umschreiben, bis endlich Eduard, dem es am wenigsten vonstatten ging, nach der Zeit fragte. Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte, seine chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, so doch zu ahnen, daß die Zeit anfange, ihnen gleichgültig zu werden. Indem so die Männer einigermaßen in ihrer Geschäftigkeit nachließen, wuchs vielmehr die Tätigkeit der Frauen. Überhaupt nimmt die gewöhnliche Lebensweise einer Familie, die aus den gegebenen Personen und aus notwendigen Umständen entspringt, auch wohl eine außerordentliche Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie in ein Gefäß auf, und es kann eine ziemliche Zeit vergehen, ehe dieses neue Ingrediens eine merkliche Gärung verursacht und schäumend über den Rand quillt. Bei unsern Freunden waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen von der angenehmsten Wirkung. Die Gemüter öffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang aus dem besonderen. Jeder Teil fühlte sich glücklich und gönnte dem andern sein Glück. (WV 289ff.)
In dieser Passage mit der berühmten Schilderung der Selbstvergessenheit des Hauptmanns haben wir einen bemerkenswerten Wechsel der Fokussierungen vor uns. Die Gespräche zwischen Eduard und Ottilie werden zuerst als öfter stattfindend suggeriert (»sie erinnerten sich gerne«) und dann auf eine bestimmte Begebenheit in der Vergangenheit eingegrenzt, der Beginn des zweiten Absatzes schildert die Situation wieder als zeitlich unbestimmte. Dies geht recht unvermittelt in die Darstellung der einzelnen Tätigkeiten und die Szene mit der stehengebliebenen Uhr über, um anschließend den Fokus zu erweitern auf den Vergleich zwischen der nachlassenden Tätigkeit der Männer und der Geschäf-
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tigkeit der Frauen. Auch hier ist der Blickwinkel wieder der einer Überblicksperspektive, die den nicht genauer bestimmten Zeitraum, von dem die Rede ist, als ganzen umfaßt. Das heißt, der Wechsel der Fokussierung betrifft gleichzeitig verschiedene Ebenen: die zeitliche, da sich längere und sehr kurze Zeiträume abwechseln; fast zwangsläufig geht damit ein Wechsel von Nah- und Ferneinstellungen auf das Geschehen einher, indem sehr spezifische Momentaufnahmen (Ottilies erste Verliebtheit in Eduard, die Sekundenuhr) festgehalten werden. Durch eine solche Einbettung gewinnen diese Mikro-Szenen stark an Symbolcharakter, ihr Signalwert wird unmittelbar einsichtig. Nicht zu unterschätzen ist dementsprechend auch in dieser Passage der zwiespältige Charakter der Reflexion über die »gewöhnliche Lebensweise« einer Familie, die mit einer »außerordentlichen Neigung« konfrontiert wird. Der Wortlaut spiegelt die Extreme wider, die im Bild angedeutet werden: die Ruhe ist nur Schein und kündigt den Sturm an, der – vom Erzähler wie selbstverständlich behauptet – unweigerlich folgen muß. Die Stärke des Bildes, die pessimistische Metapher der Gärung und des unkontrollierten Ausbruchs im Überschäumen, steht dabei im Widerspruch zur Darbietung, die die Form eines scheinbar streng logischen und rationalen Erzählereinschubs hat. Die Emotionalität des Bildes verbirgt sich hinter der Fassade der kühlen Feststellung, die fatale Vorausdeutung wird wie beim Bild des Tanzes als eine Art Naturgesetz dargestellt, dessen Zwangsläufigkeit sich von selbst versteht; höchstens noch, suggeriert die Stelle, ist zu überlegen, welchen Zeitraum der Prozeß in Anspruch nehmen wird (es ist nicht zufällig von einer Uhr die Rede). Überdies wird gleichzeitig versichert, daß die »Öffnung der Gemüter« für alle Beteiligten positive Auswirkungen hat, obwohl eine solche Öffnung soeben im Bild konterkariert und die »werdende Leidenschaft« geradezu als Büchse der Pandora hingestellt worden ist. Doch mit welcher Kompetenz, so möchte man fragen, stellt der Erzähler eigentlich das Gesetz auf, daß die Leidenschaft einer »außerordentlichen Neigung« unweigerlich in den Abgrund führt? Dies erinnert an Peter von Matts Diagnose der Doppelbödigkeit, die für ihn den Roman in allem bestimmt. Ist es ein Zufall, daß mit der Zunahme der Neigungen gewissermaßen eine Umkehrung der Rollen, eine verkehrte Welt, eintritt, die Männer träge und die Frauen tätig werden? Die »chronometrische« Sekundenuhr, die als das Kennzeichen des zur Beherrschung und rationalen Überlegung tendierenden Hauptmanns Zeit und Raum im kleinsten bändigt, wird so gleichsam nutzlos und unwirksam angesichts der Gärung von Gefühlen, im Stehenbleiben taugt sie gewissermaßen nicht einmal mehr zur Stoppuhr des Ausbruchs. Dennoch steht dieser unübersehbar als gefährlich suggerierten Öffnung der Gemüter die Euphorie der geschilderten Emotionen gegenüber, auch diese Spannung korrespondiert dem Wechsel der Fokussierung. Der unmittelbar an die eben zitierte Stelle anschließende Erzählerkommentar behandelt das Ver-
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gessen der weltlichen und technischen Zeit und Bedingungen, das die Möglichkeit anderer Erfahrung mit sich bringt; ihm folgt die Schilderung eines Spaziergangs, die die unmittelbar bewußtseinserweiternde Wirkung der Verliebtheit auf Eduards Wahrnehmung demonstriert: Ein solcher Zustand erhebt den Geist, indem er das Herz erweitert, und alles, was man tut und vornimmt, hat eine Richtung gegen das Unermeßliche. So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung befangen. Ihre Spaziergänge dehnten sich weiter aus, und wenn dabei Eduard mit Ottilien, die Pfade zu wählen, die Wege zu bahnen, vorauseilte, so folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender Unterhaltung, teilnehmend an manchem neuentdeckten Plätzchen, an mancher unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur jener rascheren Vorgänger. Eines Tages leitete sie ihr Spaziergang durch die Schloßpforte des rechten Flügels hinunter nach dem Gasthofe, über die Brücke gegen die Teiche zu, an denen sie hingingen, soweit man gewöhnlich das Wasser verfolgte, dessen Ufer sodann, von einem buschigen Hügel und weiterhin von Felsen eingeschlossen, aufhörte, gangbar zu sein. Aber Eduard, dem von seinen Jagdwanderungen her die Gegend bekannt war, drang mit Ottilien auf einem bewachsenen Pfade weiter vor, wohl wissend, daß die alte, zwischen Felsen versteckte Mühle nicht weit abliegen konnte. Allein der wenig betretene Pfad verlor sich bald, und sie fanden sich im dichten Gebüsch zwischen moosigem Gestein verirrt, doch nicht lange; denn das Rauschen der Räder verkündigte ihnen sogleich die Nähe des gesuchten Ortes. Auf eine Klippe vorwärts tretend, sahen sie das alte, schwarze, wunderliche Holzgebäude im Grunde vor sich, von steilen Felsen sowie von hohen Bäumen umschattet. Sie entschlossen sich kurz und gut, über Moos und Felstrümmer hinabzusteigen, Eduard voran; und wenn er nun in die Höhe sah und Ottilie leicht schreitend, ohne Furcht und Ängstlichkeit, im schönsten Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm folgte, glaubte er ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte. Und wenn sie nun manchmal an unsicherer Stelle seine ausgestreckte Hand ergriff, ja sich auf seine Schulter stützte, dann konnte er sich nicht verleugnen, daß es das zarteste weibliche Wesen sei, das ihn berührte. Fast hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, gleiten, daß er sie in seine Arme auffangen, sie an sein Herz drücken könnte. Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache: er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen. Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich. (WV 291f.)
Der Erzählereinschub, der diese Passage eröffnet, hat aufgrund des Inhalts und des unpersönlichen »man« am ehesten noch den Charakter einer »allgemeinen Feststellung«. Es bleibt aber bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit in diesen kurzen Bemerkungen bestimmte Behauptungen aufgestellt werden. Es ist außerdem, als würde die gewohnte Form der Kommentare benützt, um im Grunde sehr persönliche Einschätzungen zu transportieren, das scheint auch hier der Fall. An vielen Stellen folgt also der Reflexion des Erzählers die unmittelbare Rückbindung an die Handlung, als würde sogleich am Exemplum demonstriert werden, was gemeint ist; der Bemerkung zur »Richtung gegen das
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Unermeßliche« folgt sofort Eduards Erkundung des lange nicht betretenen Terrains gemeinsam mit Ottilie – und das »Unermeßliche« kann sogleich wieder als Signal dafür dienen, daß dieser Spaziergang verbotenes Terrain betritt. Aufgrund dieser sofortigen Anbindung an die Figuren werden die Einschübe sehr nachvollziehbar und arbeiten darüberhinaus mit einer Art Wiedererkennungseffekt. Man fühlt sich in vielen der Überlegungen angesprochen und bereit, zuzustimmen: Eine innere Geselligkeit mit Neigung, wie sie sich unter unseren Freunden erzeugt hatte, wird durch eine größere Gesellschaft immer nur unangenehm unterbrochen. Alle vier waren zufrieden, sich wieder im großen Saale allein zu finden; doch ward dieses häusliche Gefühl einigermaßen gestört; indem ein Brief, der Eduarden überreicht wurde, neue Gäste auf morgen ankündigte. (WV 304) Ein ausgesprochnes Wort ist fürchterlich, wenn es das auf einmal ausspricht, was das Herz lange sich erlaubt hat; und um nur für den Augenblick auszuweichen, erwiderte Eduard: »Es ist mir ja noch nicht einmal klar, was du vorhast.« (WV 343) Wir vermissen ungern gering scheinende Gewohnheiten, aber schmerzlich empfinden wir erst ein solches Entbehren in bedeutenden Fällen. Eduard und der Hauptmann fehlten, Charlotte hatte seit langer Zeit zum erstenmal den Tisch selbst angeordnet, und es wollte Ottilien scheinen, als wenn sie abgesetzt wäre. (WV 346) Wie seltsam mußte nach solchen Ereignissen, nach diesem aufgedrungenen Gefühl von Vergänglichkeit und Hinschwinden Ottilie durch die Nachricht getroffen werden, die ihr nicht länger verborgen bleiben konnte, daß Eduard sich dem wechselnden Kriegsglück überliefert habe. Es entging ihr leider keine von den Betrachtungen, die sie dabei zu machen Ursachen hatte. Glücklicherweise kann der Mensch nur einen gewissen Grad des Unglücks fassen; was darüber hinausgeht, vernichtet oder läßt ihn gleichgültig. Es gibt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung eins werden, sich einander wechselseitig aufheben und in eine dunkle Fühllosigkeit verlieren. Wie könnten wir sonst die entfernten Geliebtesten in stündlicher Gefahr wissen und dennoch unser tägliches, gewöhnliches Leben immer so forttreiben. Es war daher, als wenn ein guter Geist für Ottilien gesorgt hätte, indem er auf einmal in diese Stille, in der sie einsam und unbeschäftigt zu versinken schien, ein wildes Heer hereinbrachte, das, indem es ihr von außen genug zu schaffen gab und sie aus sich selbst führte, zugleich in ihr das Gefühl eigener Kraft anregte. (WV 376)
Bei näherem Hinschauen zeigen die Beispiele mehr und mehr, daß sich der Erzähler als auktoriale Instanz besonderer Art etabliert: er thematisiert vor allem psychische Befindlichkeiten. Auf diese Weise transportieren gerade die allgemeingültig scheinenden Feststellungen sehr viel Wissen über die Figuren, nicht zuletzt über den Erzähler selbst. Die neuen Gäste, die im ersten Beispiel erwähnt werden (der Graf und die Baronesse), werden dementsprechend in durchaus perspektivischer Weise dargestellt:
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Das Gespräch war lebhaft und abwechselnd, wie denn in Gegenwart solcher Personen alles und nichts zu interessieren scheint. (WV 308) Luciane, wie alle Menschen ihrer Art, die immer durcheinander mischen, was ihnen vorteilhaft und was ihnen nachteilig ist, wollte nun ihr Glück im Rezitieren versuchen. Ihr Gedächtnis war gut, aber, wenn man aufrichtig reden sollte, ihr Vortrag geistlos und heftig, ohne leidenschaftlich zu sein. Sie rezitierte Balladen, Erzählungen und was sonst in Deklamatorien vorzukommen pflegt. Dabei hatte sie die unglückliche Gewohnheit angenommen, das, was sie vortrug, mit Gesten zu begleiten, wodurch man das, was eigentlich episch und lyrisch ist, auf eine unangenehme Weise mit dem Dramatischen mehr verwirrt als verbindet. (WV 391)
Henning Brinkmann beginnt seinen Aufsatz Zur Sprache der ›Wahlverwandtschaften‹ mit dem Hinweis auf die verschiedenen »Schichten« der Erzählung: Man hat die Sprache der ›Wahlverwandtschaften‹ stets als kühl und sachlich empfunden. Benjamin meint, der Dichter verzichte darauf, »die Teilnahme des Lesers in das Zentrum des Geschehens selbst hineinzurufen«; Stöcklein spricht von dem »einfachen, klaren Tonfall, der niemals schwankt, auch wenn das Erregendste zu erzählen ist«, von der Spannung »zwischen dem verworren süßen Geheimnis des sehnend irrenden Herzens und der wasserkühlen Klarheit« des Stils. Das stimmt durchaus, könnte aber den Eindruck erwecken, als ob das Geschehen des Romans im gleichen Tonfall erschiene, in einer Sprache, die denselben Grundton festhält. In Wirklichkeit aber offenbart sich das eigentümliche Ineinander von heiterer Vernunftfreiheit und leidenschaftlicher Notwendigkeit, auf das Goethe in seiner Selbstanzeige hinweist, gerade in der Sprache des Romans, der über zwei Darstellungsweisen verfügt.522
Brinkmann behandelt, wie im Forschungsbericht dargelegt, in seinem Beitrag vor allem das szenische Präsens, das nach ihm die Funktion hat, das Wirken des Dämonischen auf die Figuren zu bezeichnen. Mit den zwei »Darstellungsweisen« sind hier also das Erzählen im Präteritum und das Erzählen im Präsens gemeint. Dieser Gedanke der Verflechtung der verschiedenen Erzählweisen birgt aber vor allem auch den Hinweis auf die starke Dynamik, die, wie hier im Zitat angedeutet, Sprache, Stil und Perspektivik des Romans im Einzelnen bestimmt, auch wenn die Gesamtbeurteilung des Erzählstils der Wahlverwandtschaften bei Brinkmann in die Richtung tendiert, die er hier zu Beginn aufzeigt. Insgesamt zielt auch für ihn die Technik der Mischung der verschiedenen »Schichten« auf die Schaffung des Eindrucks einer ausgeglichenen und auf klassische Ausgewogenheit konzentrierten Erzählweise. Besonders wichtig ist dabei, daß Brinkmann auf die Zwei- bzw. Mehrschichtigkeit der Erzählweisen überhaupt hinweist, sodaß diese Elemente der Dynamisierung stärker bewußt werden. Die zitierte Textstelle zum Spaziergang etwa, die in der Verengung der zeitlichen wie optischen Perspektive (»und wenn er nun in die Höhe sah«) Eduards sehnlichen 522 Henning Brinkmann, Zur Sprache der ›Wahlverwandtschaften‹, S. 254.
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Blick auf die »schwebende« Ottilie inszeniert, zeigt deutlich eine solche Dynamisierung in der Gestaltung der Perspektiven. Und ebenso darf, wie oben gezeigt, die Rolle der zeitlichen und dramaturgischen Fokussierungen nicht übersehen werden. Unbestreitbar ist in jedem Fall die Tatsache, daß die formale Fassung der Erzählerkommentare in den Wahlverwandtschaften vielfältiger Natur ist. Der letztlich überschaubaren Zahl an »psychologischen Generalisationen« (Eduard Spranger, vgl. Kap. IV. 2.1.) im Präsens steht dabei natürlich eine größere Zahl an Erzählerkommentaren im Haupterzähltempus Präteritum gegenüber. Die oft nur scheinbare Dimension der Verallgemeinerung der Aussage, die in vielen Präsenseinschüben erreicht wird, ist hier von vornherein eine »Stellungnahme« der Erzählerstimme. Diese Kommentare fallen viel weniger als solche auf, da sie als integraler Bestandteil des Erzählflusses gelesen werden. Einige wenige davon stechen dennoch heraus, da sie auf einen persönlich urteilenden Erzähler verweisen. Ein solches Urteil findet sich im Anschluß an die Szene, in der Eduard Ottilie bittet, das Bild ihres Vaters, das sie um den Hals trägt, zu entfernen, da es zerbrechen und sie verletzen könnte. Ottilie bittet ihn, das Bild für sie aufzubewahren, bis sie wieder im Schloß zurück seien: Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu drücken, aber er faßte ihre Hand und drückte sie an seine Augen. Es waren vielleicht die zwei schönsten Hände, die sich jemals zusammenschlossen. Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte. (WV 293)
Die äußerst seltenen Kommentare dieser Art gehören inhaltlich zu den stärksten Zeichen der sich explizit bemerkbar machenden Erzählerstimme. Auf den ersten Blick hebt sich ein Urteil dieser Art vom Rest der Erzählung ab. Wie die Stelle zeigt, wird jedoch auch hier die Beurteilung in die Form einer Vermutung gefaßt. Das heißt, selbst innerhalb der kleinen Gruppe dieser eindeutig urteilenden Erzählerkommentare werden Abstufungen geschaffen. Das Prinzip der Modulation wird also auch in solchen Kommentaren fortgesetzt, die sich am meisten aus der Schilderung der Situation herauszubewegen scheinen und diese gleichsam aus der Sicht eines Dritten zusammenfassen. Dieser Dritte wird aber durch die Nuancierung seiner Sicht umso lebendiger, denn die starke Emotion Eduards, die hier geschildert wird, setzt sich in der Emotion des »vielleicht«, »schönsten« und »jemals« des Erzählers fort! Auf diese Weise bleibt selbst ein so eindeutiger Erzählerkommentar wie dieser letztlich in die Situation eingebunden, man kann ihm sogar den Anklang an mögliche Gedanken Eduards entnehmen. Die Emotionalisierung, der Affekt, der den Erzähler erfaßt, konterkariert also die Schaffung einer aus der Entfernung urteilenden auktorialen Instanz, die den Überblick ihrer Erzählhoheit betont. Es ist geradezu, als würde
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dieser Erzähler von seinem eigenen Bild überwältigt, sozusagen lustvoll seine Erzählinstanz aufgeben. Auf gewisse Weise kommt damit dem Erzählerkommentar die Rolle eines Kulminationspunktes zu, der noch dazu die heftigen Emotionen Eduards doppelt. Tatsächlich bildet dieser Kommentar auch die Mitte der drei Sätze, die der Absatz umfaßt. Dies schafft einen starken Subtext, in dem gerade der scheinbar heraustretende Erzählerkommentar die Eduard verbotene Vereinigung mit Ottilie über das Bild der sich berührenden Hände andeutet.
IV. 2.3. Auktoriale Leerstellen: Zur Verschwiegenheit des Erzählers Der von Brinkmann zitierte Paul Stöcklein macht in seinem Aufsatz zu Stil und Geist der ›Wahlverwandtschaften‹523 in einem Kapitel zur »Verschwiegenheit des Erzählers« auf die Rolle des Erzählers im Spiel mit dem erotischen Subtext im Roman aufmerksam. Für Stöcklein ist die Rolle des Erzählers die eines Enthüllers von Eduards unbewußten Trieben, dies zeigt sich für ihn besonders in der Szene mit dem Medaillon. Stöcklein betont die starke Symbolik der Szene des Abstiegs auf dem dicht verwachsenen Waldweg mit seinen steilen Klippen und dem rauschenden Wildbach: In ihm erwacht zum ersten Male der Wunsch, sie in seine Arme zu schließen. »Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan.« Er habe sich gefürchtet, sie zu verletzen, verrät uns der Erzähler, um mit einem Lächeln den weiteren Hergang einzuleiten: »Wie das [dies, I.R.] gemeint sei, erfahren wir sogleich.« Eduard bittet bei der nächsten Rast Ottilie mit den schönsten, väterlich fürsorglichen Worten um die Herausgabe eines großen, glasbedeckten Medaillons ihres Vaters, das sie unter dem Kleid auf ihrer Brust trägt; es könne bei irgendeinem unvorhergesehenen Sturz oder einer Hantierung im Haushalt gefährlich splittern und verletzen. – Alles ist Vorwand. In Wirklichkeit will er natürlich das Hindernis beseitigen, das bei einer stürmischen Umarmung splittern und verletzen kann. In ihm arbeitet die vorsorgliche Schlauheit und Strategie des unbewußt Verführerhaften im Mann. Mit der Beseitigung des Hindernisses wird er auch die Bindung des jungen Mädchens an die Mächte der Familie und Religion lockern, die sich in dem Medaillon verkörpern. Aber er lügt keineswegs. Eduard ist ein so unbewußter Mensch, daß er nichts von der Kraft und Schlauheit seines Triebes ahnt. Kindlicherweise wähnt er sich immer besonders frei, während er völlig im Netz, im Schlepptau des Triebes sich bewegt. »Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.« Hier spricht Ottilie im Tagebuch sein Urteil, natürlich ohne es in diesem Augenblick zu wissen. (Hier spricht Goethe wohl überhaupt dem optimistischen Freiheitswahn des Fichtezeitalters das Urteil.) […] Der Schlußsatz des Erzählers enthüllt endlich das Gefühl außerordentlicher Erleichterung, das in keinem Verhältnis zum 523 In: Ewald Rösch (Hrsg.), Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung Bd. CXIII), S. 215–235.
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Anlaß stünde, wenn dieser nur im Erfolg väterlicher Fürsorge gegeben wäre. »Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte.« Der Erzähler scheint eine Pointe beabsichtigt zu haben. Mit scheinhaft väterlichen Gefühlen reißt Eduard das Kind aus väterlicher Bergung und Ordnung.524
Für Stöcklein dient diese Szene vor allem dazu, die »Doppeltheit«, von Eduards Wunschvorstellungen und den ihm selbst unbewußten Antrieb zum Ausdruck zu bringen. Das wird für Stöcklein vom Erzähler in einer immer »verschwiegen andeutenden Erzählweise« dargebracht, die vor allem darauf abziele, den Leser das meiste erraten zu lassen525, so wie es die erste Bemerkung Eduards über Ottilie als »unterhaltendes Mädchen« beabsichtige, obwohl sie in seiner Gegenwart noch kein Wort gesprochen hat (vgl. WV 281). Stöcklein unterlegt also dem Erzählereinschub »Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich.«, daß mit ihm der Erzähler auf den wahren Grund für Eduards Befürchtung, er könnte Ottilie verletzen, »beschädigen«, hinweist. Mit Gewalt? Stöcklein sieht vor allem der Szene mit dem Feuerwerk den doppelten erotischen Boden unterlegt: Die Hintergründigkeit des Erzählers erreicht dann einen Höhepunkt in der Schilderung des Feuerwerks. Eduard, allein gelassen mit Ottilie unter den nächtlichen Bäumen, erlebt in dem Feuerwerk am See offenbar etwas ganz anderes als nur ein Feuerwerk. Merkwürdig genau schildert diesmal der Erzähler die »gewaltsamen« Stöße und die dramatisch gesteigerten Explosionen. Parallel dieses (im Seespiegel verdoppelten) Feuerwerks ist das Schlußgeschehen der klassischen Walpurgisnacht: »So herrsche denn Eros …« Fest des Feuers und Wassers! Parallelismus bis in Einzelheiten! Nachdem der Erzähler gezeigt hat, wie Eduards kindlich berauschtes Auge das künstlich entfesselte Elementarereignis trinkt, die Hochzeit in der Phantasie vorauskostend (denn so ist hier zu deuten), da richtet er zuletzt einen Blick auf Ottilie: »Ottiliens zartem, aufgeregten Gemüt war dieses rauschende blitzende Entstehen und Verschwinden eher ängstlich als angenehm. Sie lehnte sich schüchtern an Eduard, dem diese Annäherung, dieses Zutrauen das volle Gefühl gab, daß sie ihm ganz angehöre.« Schon sein Wort, bevor das Feuerwerk beginnt, deutet voraus, daß seine Phantasie ahnungsvoll sich ein Hochzeitsfest bereiten will, das freilich gar nicht nach der Wirklichkeit, auch nicht nach der der Geliebten, fragt, deren Schüchternheit ja sein rauschhaftes Gefühl mißversteht und genießt. Vor dem Feuerwerk: »Du bist die meine! … wir wollen es nicht mehr sagen und schwören, nun soll es werden.« Die Befriedigung dieses Verlangens findet er im Phantasiegenuß. Parallel ist die Gedankensünde der Nacht bei Charlotte. Daß die Sünde der Phantasie nicht minder schlimm (und vielleicht schwerer heilbar) ist als die tatgewordene Sünde, drückt Goethe in dem zitierten Brief über den Kern, über den Sinn des Romans aus.526
524 Ebda., S. 224f. 525 Vgl. ebda., S. 225. 526 Ebda., S. 225f. Stöcklein bezieht sich auf den oben zitierten Brief Goethes an Zauper vom 7. 9. 1821: »Der sehr einfache Text dieses weitläufigen Büchleins sind die Worte Christi:
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Als Beispiel für die andeutende Erzählweise, die Stöcklein beschreibt, kann man als Gegenstück eine Szene anführen, die sich bei der Grundsteinlegung des Lusthauses zwischen Eduard und Ottilie im 9. Kapitel des ersten Teils abspielt. Obwohl es um Charlottes Geburtstag geht, der mit der Einweihung der Grundmauern gefeiert wird und daher die Gatten im Mittelpunkt stehen müßten, wird schnell klar, wer die neu zusammengehörigen Paare sind. Der Hauptmann hat einige Anstrengung darauf verwandt, daß alles zum richtigen Datum bereit ist, und überwacht den Zug der Gäste, sodaß Charlotte sich vergnügen kann. Sie versteht die Absicht der sorgfältigen Vorbereitungen und drückt aus Rührung »dem Hauptmann herzlich die Hand« (WV 299). Die anschließende Rede wird durch die Schilderung einer ähnlich bedeutungsvollen Geste unterbrochen: Man folgte der sachte fortschreitenden Menge, die nun schon einen Kreis um den künftigen Hausraum gebildet hatte. Der Bauherr, die Seinigen und die vornehmsten Gäste wurden eingeladen, in die Tiefe hinabzusteigen, wo der Grundstein, an einer Seite unterstützt, eben zum Niederlassen bereit lag. Ein wohlgeputzter Maurer, die Kelle in der einen, den Hammer in der andern Hand, hielt in Reimen eine anmutige Rede, die wir in Prosa nur unvollkommen wiedergeben können. »Drei Dinge«, fing er an, »sind bei einem Gebäude zu beachten: daß es am rechten Fleck stehe, daß es wohl gegründet, daß es vollkommen ausgeführt sei. Das erste ist eigentlich die Sache des Bauherrn; denn wie in der Stadt nur der Fürst und die Gemeine bestimmen können, wohin gebaut werden soll, so ist es auf dem Lande das Vorrecht des Grundherrn, daß e r sage: hier soll meine Wohnung stehen und nirgends anders.« Eduard und Ottilie wagten nicht, bei diesen Worten einander anzusehen, ob sie gleich nahe gegen einander über standen. (WV 299f.)
Auch wenn man im historischen Kontext der Wahlverwandtschaften auf die Kodierung von Gefühlsszenen gefaßt ist und daher die Scham- und Verlegenheitsgebärde am Ende dieser Textstelle nicht überliest, entfaltet sie ihre Bedeutung erst im größeren Zusammenhang. Es werden im Roman viele kleine Berührungen zwischen den Figuren erwähnt und es ist klar, dass man jene auszumachen aufgefordert ist, die den Rahmen des gesellschaftlich Zulässigen überschreiten. Diese Szene steht aber noch ganz am Anfang der Schilderung der zunehmenden Zuneigung zwischen Eduard und Ottilie. Ihr voraus gehen als Signale Eduards Neigung, Ottilie zu erlauben, ihm beim Vorlesen ins Buch zu schauen, jene Angewohnheit, die er bei seiner Frau so scharf zurückweist, und das ebenso überraschend harmonische Musizieren. Beides wird zu diesem Zeitpunkt von Charlotte und dem Hauptmann noch als fast kindliche Geste belächelt. Daher erscheint auch dieses nächste Signal noch eher harmlos, eben W e r e i n W e i b a n s i e h t , i h r e r z u b e g e h r e n etc. Ich weiß nicht, ob irgend jemand sie in dieser Paraphrase wieder erkannt hat.« Vgl. Härtl, Dokumentation, S. 270.
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als kurz in die Rede eingeflochtene Formel der noch schamhaften Verliebtheit. Der herauslösende Schnitt soll aber deren Dimension deutlicher machen. Die Szene setzt einerseits den schon eingeführten Topos des Schauens und Blickens aus der Buch-Szene fort, der dort auch auf der lexikalischen Ebene deutlich ausgearbeitet ist – Ottilie liest mit, weil sie » […] ihren eigenen Augen mehr als fremden Lippen« traut, von Eduard heißt es, »[…] dem die Augen vor Freude glänzten«, als er sie bittet, ihn am Klavier zu begleiten (vgl. WV 296f.). Schon in dieser Hinsicht etabliert sich der Nicht-Blick zwischen ihnen bei der Grundsteinlegung als Veränderung des Umgangs miteinander und deutet auf ein schon größeres Maß an Verlegenheit hin, als es angesichts der bisherigen Vorkommnisse zwischen ihnen der Fall sein müßte. Das aber verweist auf den Deutungszusammenhang, in den Stöcklein Eduards Phantasien stellt. Kaum haben sie einander in den vorausgehenden Szenen auch nur gesehen, bedeutet dies, schon haben sie in der nächsten Szene Anlaß, von schuldhafter Scham überwältigt zu sein. Die Rede vom »Augenblick« (der Versuchung) gewinnt in den folgenden Kapiteln des Besuchs des Grafen und der Baronesse große Bedeutung. Die Szene hat so eine wichtige Dimension, sie ist nichts anderes als der vorweggenommene, von Anfang an die Verbindung zwischen Eduard und Ottilie bezeichnende Sündenfall, der in die kurze Schilderung verpackt ist, und den Goethe, wie dargestellt, als den Kern des Romans bezeichnet hat: »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren […]«. Nicht das Verhalten des Ehepaares schildert die Stelle, sondern das sich die Ehe erträumende Paar wird in die Mitte der Rede versetzt, die vom rechten Hausbau spricht. Die Rede des Maurers enthält so gesehen auch Elemente, die das schon schlechte Gewissen des Paares, das sich seiner Verstricktheit noch nicht einmal ganz bewußt ist, verstärkt. Der Hinweis auf den Kalk etwa als Bindemittel für den Mauerbau und der damit verbundene Vergleich des Zusammenhalts in der gesetzlichen Verbindung der Ehe gewinnt dadurch den recht düsteren Charakter einer Warnung, der gesenkte oder abgelenkte Blicks hat eine athmosphärische Tiefendimension, die auch das flüchtige Lesen erfasst.527 Auch hier wird also mit der emotiven Qualität der bildhaften Thematisierung von Gefühlen gearbeitet, die zur Deutung auffordert und damit effizienter als der explizit genannte Händedruck zwischen Charlotte und dem Hauptmann auf den Sub- oder Paratext der Phantasiearbeit sowohl der Figuren als der Leser abzielt. Noch eine wichtige Dimension erschließt der Bedeutungsreichtum solcher 527 Zur Bedeutung des Augenblicks als Schlüsselmoment bei Goethe im wörtlichen (zeitlichen) wie übertragenen Sinn (des erkennenden Blicks zwischen Mann und Frau) vgl. Gerhard Neumann, Wissen und Liebe. Der auratische Augenblick im Werk Goethes, in: Christian W. Thomsen / Hans Holländer (Hgg.): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Wissenschaftlcihe Buchgesellschaft, Darmstadt 1984, S. 282–305.
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Szenen, der sich bei der Erstlektüre vielleicht primär als Gefühlsintensität vermittelt. Sie verweisen auf eine Dimension der Bildhaftigkeit im tatsächlichen malerischen Sinn. Das zuerst intuitive, aber bald befriedigte Wissen, daß alle diese Bilder auf ein Ende zulaufen, das uns die Deutung ermöglichen wird, macht uns nämlich letztlich zu Betrachtern eines »synchronen« Bildes. Goethes eigene und – wie fast alle Selbstäußerungen zu den Wahlverwandtschaften – vielzitierte Hinweise darauf, daß das Buch nur bei mehrmaligem Lesen zu entschlüsseln sei528, sind möglicherweise als Hinweis auf diese spezifische Intention der Bildhaftigkeit seines Erzählens zu lesen, die vermutlich aus dem Abstand immer schwerer faßbar ist. Das »Enträtseln« der vielfachen An- und Vorausdeutungen und der engmaschig gesetzten Symbole und Motive bedingt das mehrfache Lesen, weil es ein Vor- und Zurückgehen bedeutet. Das ist aber nichts anderes als das synchrone Lesen, das eine Bildszene erfordert – wie jene, die im Roman genannt werden (Gerard Terborchs Väterliche Ermahnung, Nicolas Poussins Esther und Ahasverus, der früher Van Dyck zugeschriebene Blinde Belisarius529). Wie in einem Gemälde gehen wir also bei wiederholter Lektüre in den Wahlverwandtschaften zwischen den Hinweisen hin und her, um das Gesamte als Nebeneinander zu erschließen. Da Motive und Symbole sich aber nur durch die Wiederholung und ihr Miteinander im gesamten Roman »richtig« lesen, also entschlüsseln lassen, verweisen sie letztendlich auf die Gleichzeitigkeit der einzelnen Momente in dieser Kette der Hinweise. Auf diese Weise ist der Roman tatsächlich ein Gemälde, dessen Bilderreichtum sich immer wieder um 528 Vgl. den Brief Goethes an Cotta vom 1. Oktober 1809: »Es ist manches hineingelegt, das, wie ich hoffe, den Leser zu wiederholter Betrachtung auffordern wird.« und das Gespräch mit Eckermann vom 9. Februar 1829: »Es ist in den ›Wahlverwandtschaften‹ überall keine Zeile, die ich nicht selber erlebt hätte, und es steckt darin mehr, als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen im Stande wäre.« Siehe Die Wahlverwandtschaften, Kommentar, HA, Bd. 6, S. 639 und S. 644. 529 Zur Bedeutung der im Roman genannten Gemälde vgl. u. a. Gertrude Brude-Firnau, Lebende Bilder in den Wahlverwandtschaften. Goethes Journal intime vom Oktober 1806, in: Rainer Gruenter und Arthur Henkel (Hrsg.), Euphorion – Zeitschrift für Literaturgeschichte, 74. Bd., Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1980, S. 403–416. Brude-Firnau interpretiert die Werke, die als Vorlagen der Tableaux vivants dienen, als Abbild des zeithistorischen Hintergrunds. Goethe wählt nach Brude-Firnau Gemälde aus, die vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege direkten Bezug nehmen auf die Ereignisse im Herzogtum Sachsen-Weimar, vor allem im Jahr 1806, dem Jahr der Besetzung Weimars durch die französischen Truppen. Viel weiter in der Einbindung in den kulturhistorischen, bildwissenschaftlichen, intertextuellen und vor allem den textinternen Zusammenhang gehen die neueren Deutungen, vgl. bes. Nils Reschke: Die Lebenden Bilder in den Wahlverwandtschaften, in: Helmut J. Schneider / Ralf Simon / Thomas Wirtz (Hgg.): Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2001, S. 113–143, und im selben Band Rita Lennartz, »Von Angesicht zu Angesicht«. Lebende Bilder und tote Buchstaben in Goethes Die Wahlverwandtschaften, S. 145– 183.
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die Mitte der von Goethe genannten Fabel anordnet. Bedenkt man die für die Rezeption von Malerei in der Epoche selbstverständliche Kenntnis der Fabel einer dargestellten Geschichte, eröffnet sich dies als zusätzlicher Aspekt zu der von vielen Interpreten betonten Redundanz der Motiv- und Symbolketten.
IV. 2.4. Erotischer Subtext und Bildhaftigkeit: Ottilies Schönheit II Paul Stöcklein betont also die starke Bildhaltigkeit der Wahlverwandtschaften als wichtiges Moment ihrer Erzählweise, indem er den Blick für die Anspielungen in den Kommentaren der Erzählerfigur schärft. Die Dimension des Andeutens ist es vor allem, die für ihn das Moment der Überlegenheit des Erzählers vermittelt. Dieser »überlegene« Erzähler ist aber für Stöcklein keine einfach zu fassende Figur, vielmehr hebt er hervor, wie sehr gerade die »trockene« Erzählweise den Leser fordere530. Sie zwinge ihn nämlich, aus den sorgfältig, eben »wissenschaftlich« aneinandergereihten Einzelheiten, aus den Gesprächen, Gebärden der Figuren, vor allem jenen Ottilies, den leitmotivisch wiederkehrenden Symbolen etc. das »umfassende Seelen- und Zeitgemälde« Goethes zu erschließen531. Im Eingangsbild des Pfropfens ist für Stöcklein die ganze Problematik des Romans enthalten: die »Veredlung des Triebes« als »Problem aller Kultur«; der Leser ist so auch laut Stöcklein dazu aufgerufen, von Anfang an die Bilder zu entschlüsseln532. Dennoch – und damit sind wir wieder beim Prinzip der Verlebendigung durch Aussparung – entsteht für Stöcklein gerade aus der Zurückhaltung nach und nach eine (sehr) konkrete Vorstellung: Es gilt vor allem, den Erzähler zu fühlen. Wir könnten ihn namentlich benennen, wenn die ›Wahlverwandtschaften‹ noch als Novelle in den ›Wanderjahren‹ stünden. Dort erzählen sehr verschiedene Persönlichkeiten in sehr verschiedenen Stilen. Jetzt können wir ihn nur fühlen, ihn, der Goethe ist und doch wieder nicht Goethe. Der Erzählende kann uns allmählich deutlich werden aus Tonfall und Gebärde, deutlich bis zur Erscheinung seines Gesichtes. Goethe erzählt hier jedenfalls ganz anders als in dem unmittelbar darnach begonnenen farbigen Erzählwerk ›Dichtung und Wahrheit‹. Hinter diesem einfachen klaren Tonfall, der niemals schwankt, auch wenn das Erregendste zu erzählen ist, hinter diesem weltkundigen, »hohen Konversationston«, der in seiner Gesellschaftlichkeit die Äußerung persönlicher Gefühle oder behagliches Malen ausschließt, hinter dieser lakonischen Erzählweise, die gelassen Tatsachen an Tatsachen scharfäugig und vieldeutig knüpft, hinter dieser (zu klassischer Einfachheit stilisierten) Hofsprache des 18. Jahrhunderts, zu der kein lebenswarmer Hauch aus den Gründen der Volkssprache gedrungen zu sein scheint, hinter all dem taucht allmählich 530 Vgl. Stöcklein, Stil und Geist der ›Wahlverwandtschaften‹, S. 216f. 531 Vgl. ebda., S. 216. 532 Vgl. ebda.
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immer deutlicher ein faszinierendes Gesicht auf, das Gesicht des Erzählers: ein grauhaariges, gepflegtes, vornehmes, faltengeprägtes Gesicht, fraglos noch aus dem echten 18. Jahrhundert, dem eleganten und rationalen, vergleichbar dem des Abb8 aus den ›Unterhaltungen‹, doch weltläufiger, härter und geheimnisvoller. Dieser Erzähler im Empiresessel scheint für einen Club erfahrenster Weltleute zu erzählen, für die ein Wink genügt.533
Stöckleins Zeichnung des Erzählers (mit Goethes Konterfei unterlegt?) mag man als übertrieben empfinden, doch spricht sie eine spezifisch persönliche Färbung an, die in der Erzählerstimme mitschwingt. Wichtig ist der Hinweis auf das Dahinter. Mit Stöckleins Bild von der Doppelnatur des Erzählers, der sich in wenigen Bemerkungen als weltmännisch beurteilende Figur darstellt, ist m. E. genau der Raum bezeichnet, der Platz läßt für die Phantasie des Lesers, der hinter dem knappen Vordergrund eine umso vielschichtigere Instanz mit Neigungen und eindeutigen Weltanschauungen erahnen kann. Daß dieses Spiel mit der Unterkühltheit, die die Phantasie umso mehr anregt, letztlich auf den Autor selbst als Instanz schielt, wird von Stöcklein mehr angedeutet als ausgeführt. Ich möchte deswegen diese Strategie Goethes, durch die starke, gerade weil unterschwellig dargebrachte Emotionalisierung der Erzählerfigur die Spekulation auf den »Wahrheitsgehalt« ihrer Kommentare in Gang zu setzen, herausstreichen. Die leichte Verwirrung, die ein Erzählerkommentar wie der zu den »vielleicht schönsten Händen« inmitten der sonstigen Sachlichkeit auslöst, rechnet mit der Zuschreibung zu einer real mitempfindenden Instanz, als deren Quelle sich, wiederum in Ermangelung anderer Angebote (etwa eines fiktiven Herausgebers wie im Werther), nur der »Autor« anzubieten scheint. Stöcklein verweist auf eine Veränderung im Tonfall des Erzählers, die ich in diesem Zusammenhang für wichtig halte: Etwas Anekdotisches und Profilierendes liegt in seiner Erzählweise. Er beschreibt niemals Zustände, nie Farben, nie das Firmament (wie ungoethisch!). Er beschreibt aber auch niemals ein Gesicht. Er beschwört mittels charakteristischer, sozusagen anekdotischer Züge. – Er ist übrigens weniger Künstlerpersönlichkeit, als Sammler, Wissenschaftler und Gesellschaftsmensch. Letzteres so sehr, daß er vom Hauptmann nie mehr als dem »Hauptmann« spricht, nachdem dieser befördert worden ist, sondern nur mehr von dem »Major«, wohl nicht ohne bedeutsame Ironie gegen diesen ein wenig erstarrten Typus. Er ist so diskret, daß selbst seine lebenskundlichen und philosophischen Bonmots und Betrachtungen mehr rhythmisch gesetzt zu sein scheinen als aus lehrhaftem oder bekennendem Drang; so endet er mit Vorliebe ein Kapitel mit einem solchen Bonmot, so beginnt er gerne ein Kapitel mit einer solchen gesellschaftlich verbindlichen Sentenz und Betrachtung. Selbst in seinen Worten für Ottilie: »das liebe Kind«, »das gute Mädchen«, »das himmlische Kind« liegt zunächst die ritterlich-weltläufige Art des 18. Jahrhunderts (dem diese Ausdrücke geläufige Münzen 533 Ebda., S. 216f.
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sind), um dann freilich im Fortgang der Erzählung einer sehr tiefen väterlichen Anteilnahme zu weichen, die kaum zu verbergen ist, sosehr sich der Diskrete auch bemüht, – eine Anteilnahme, deren zarte Farbe einen einprägsamen Kontrast zur Leidenschaft Eduards abgibt, die jeglichen väterlichen Einschlags ermangelt.534
Der Einschlag der Väterlichkeit, die für Stöcklein die Erzählerstimme prägt, ist ein wichtiges Indiz im Zusammenhang des Subtextes der Emotionalisierung. In Analogie zu Stöckleins Zeichnung von Eduard scheint es aber nicht so sehr Väterlichkeit, die die Erzählerfigur an Ottilie bindet, zumindest nicht nur. In die hier von Stöcklein aufgezählten Attribute mischen sich zunehmend auch solche, die Ottilies anziehende körperliche Schönheit beschreiben. Entlang der Veränderung dieser auffällig-unauffällig in den Text eingearbeiteten Formulierungen läßt sich recht deutlich eine (paradoxe, weil am Ende wieder zurückgenommene) Frauwerdung Ottilies ablesen. Ich stelle einige Kommentare verschiedener Figuren zusammen, in denen sich die Veränderung der Sicht auf Ottilie widerspiegelt: Als Charlotte das erste Mal von Ottilies mißlicher Lage im Pensionat spricht, zitiert sie die Institutsvorsteherin, die von dem »übrigens so schön heranwachsenden Mädchen« (WV 251) berichtet, daß es sich scheinbar nicht entwickeln und keine Fähigkeiten und Fertigkeiten zeigen wolle. Der Brief der Vorsteherin im 3. Kapitel wiederholt am Ende wie zur Bestätigung die Formel: »Soviel von diesem übrigens so schönen und lieben Kinde.« (WV 264) Der anschließende Brief des Gehülfen thematisiert Charlottes Fortschritt im Lernen, er spricht vom »schönen Leben«, zu dem sich die jetzt noch »verschlossene Frucht« Ottilie entwickeln wird und bezeichnet sie hier ebenfalls noch als »Kind« (WV 265). Sein nächster Brief geht noch genauer auf ihr Äußeres ein, er nennt sie nun fast durchgehend beim Namen oder »die gute Ottilie« und schildert die körperlichen Auswirkungen ihres Kopfschmerzes, die ungleichmäßige Färbung der Wangen, von denen eine rot und eine blaß wird. Besonders wichtig für den Romanverlauf ist der Schluß seines Briefes, der ausführlich Ottilies stumm bittende Geste beschreibt, mit der sie etwas ablehnt, das sie aus Überforderung oder innerer Überzeugung nicht erfüllen kann: »Sie tut das mit einer Gebärde, die für den, der den Sinn davon erfaßt hat, unwiderstehlich ist.« (WV 279f.) Die Verliebtheit des Gehülfen, die nicht nur aus dieser Formulierung, sondern aus allen Briefen und der Genauigkeit, mit der er schildert, leicht zu erraten ist, erstreckt sich später auf andere Protagonisten, besonders auf den Architekten, der unwillkürlich Ottilies Porträt in jene des Deckenfreskos der Heiligenkapelle einfließen läßt. Auch hier zeigt sich die geradezu überdeutlich in Szene gesetzte Tendenz, Ottilie mehr und mehr als begehrenswertes Wesen zu konstituieren, 534 Ebda., S. 217.
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und zwar wiederum anhand einer für den Leser leicht nachvollziehbaren Aufdeckung der unbewußten Wünsche der jeweils Sprechenden. Für Eduard gilt dies natürlich in besonderem Maß, wobei seine zunehmende Verstricktheit zu Beginn noch etwas mehr kodiert wird bzw. als unterschwellig gesetztes Signal Spannung aufbaut. Auf den Brief des Gehülfen reagiert Eduard mit dem Ausruf, daß es doch zuvorkommend von der »Nichte« sei, den Kopfschmerz links zu haben, auf diese Weise ergänze er sich mit dem seinen auf der rechten Seite, was »ein Paar artige Gegenbilder« (WV 281) ergeben müsse. »Der Hauptmann wollte das gefährlich finden.« heißt es nur, doch fordert ihn Eduard auf, sich nur selbst nicht in den neuen Gast zu verlieben, damit er ihnen als Freund erhalten bleibe. Am Schluß dieser Szene beteuert er seine Liebe zu Charlotte mit einer impulsiven Gebärde, die sich über Ottilies Gebärde der bittend zusammengedrückten Hände legen läßt: er springt auf und drückt Charlotte an seine Brust. Erst hier trifft Ottilie selbst ein und wird von nun an immer differenzierter mit verschiedenen Attributen belegt. Die Szene ihrer Ankunft wurde oben schon zitiert. Der Personifizierung in »Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.« (WV 281) folgt der Erzählerkommentar, der, »daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen«, Ottilie zum »wahren Augentrost« (WV 283) der Männer erklärt. Schon bald wird sie Eduard ein »freundlicher Schutzgeist« (WV 289), auch diese Zuschreibung erfolgt nicht in direkter Rede, sondern durch den Erzähler. Und schließlich »glaubte er [Eduard]«, in der Szene des Abstiegs zur Mühle, »ein himmlisches Wesen« zu sehen (WV 291). Ottilie erscheint ihm als das »zarteste weibliche Wesen«, das ihn berührt (WV 292), es folgt die Szene, in der Eduard Ottilies Hände an die Augen drückt. Die Erotisierung, der die Szene folgt, wurde schon beschrieben; auffallend ist, daß Ottilie bei ihrem nächsten Erscheinen »schon völlig Herrin des Haushaltes« ist (WV 296). Ihr »stilles und sicheres Betragen« und ihre weltabgewandte Häuslichkeit veranlassen Eduard dazu, seine Vorlieben den ihren anzupassen und das Freie nach Sonnenuntergang zu meiden. Stattdessen wird er zum abendlichen Vorleser von Gedichten, »in deren Vortrag der Ausdruck einer reinen, doch leidenschaftlichen Liebe zu legen war« (WV 296). Es folgen die Szenen der Annäherung beim Lesen, des gemeinsamen Musizierens von Eduard und Ottilie und die eben beschriebene Verlegenheit bei der Grundsteinlegung, die nahelegt, daß die Protagonisten selbst die Harmlosigkeit ihrer Gefühle anzweifeln. Wie um zu besiegeln, daß sie der Welt der Kindheit entwachsen ist, löst Ottilie die Kette, an der das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und fügt sie den für eine »entfernte Nachwelt« als Erinnerung eingemauerten Gaben hinzu. Das Kelchglas, das bei der Feier schließlich aus Übermut zerbrochen werden soll, aber aufgefangen wird, erweist sich als Jugendbesitz Eduards und zeigt die Buchstaben »E und O in sehr zierlicher Verschlingung«
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(WV 303). Kurz zuvor hatte Eduard seine Frau Charlotte als sein »A und O« bezeichnet. Die Mißdeutung der Sprache der »Gott-Natur«, wie sie Grete Schaeder zeichnet (vgl. Kap. III. 2.2.1. und Anm. 248), wird so sehr schnell zum Bestandteil des Bezugs auf Ottilie. Wesentlich sind also Ottilies Rollen an der Vielfalt der Beschreibungen ihrer Person abzulesen. Diese unterliegt zudem noch einer gewissen Rhythmisierung, denn in den folgenden Kapiteln wird Ottilie wieder zurückverwandelt in ein »liebes Kind«, so zuerst in der Anrede durch Eduard in der Szene, in der Eduard Ottilie darauf hinweist, daß die Pappel- und Platanengruppe am Teich, die er gepflanzt hat, ungefähr ihr Alter hat: »Ja, liebes Kind, ich pflanzte schon, da Sie noch in der Wiege lagen.« (WV 303f.)535 Diese Stelle entspricht einer Art Neugeburt Ottilies, in den folgenden Bezugnahmen sehen wir Ottilie gleichsam nochmals aufwachsen. (Die Stilisierung Ottilies zur Kindfrau und, intrikater, ihre Parallelisierung zum neugeborenen Sohn Eduards findet ihren Höhepunkt in der Tatsache, daß das Kind – aus Eduards Sicht – ihre »großen, schwarzen« Augen hat (vgl. WV 455); aus der Szene geht deutlich hervor, daß das unwillkommene Kind dadurch für Eduard eine ganz andere Bedeutung gewinnt.) Ottilies Attraktivität ist also wiederkehrendes Thema im Roman. Warum ist Ottilies Schönheit so wichtig? In Jenseits der Bilder – Goethes Politik der Wahrnehmung536 untersucht Fritz Breithaupt u. a. Goethes Schönheitsbegriff anhand einiger Schriften aus den Jahren 1788–1800, so Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt (1788), Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (1789), Inwiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen angewendet werden könne (1794) und vor allem Über Laokoon (1797, gedruckt 1798). Die Umsetzung der dort entwickelten Phänomenologie belegt Breithaupt in einem Traktat zu den Wahlverwandtschaften und in einem Annex anhand von Faust II. Für Breithaupt ist Goethes Thematisierung von Wahrnehmung zentral – seine These ist, daß Goethes wiederkehrende Beschäftigung mit den Konzepten der »Anschauung«, des »Schattens« und des »Symbols« Begriffsrevisionen darstellen, die der von Goethe konstatierten Verselbständigung, Ausweitung und Selbst-Perpetuierung von Bildsystemen entgegenwirken sollen537. »Verbildlichungen des Wirklichen«, so Breithaupt, sind das Produkt jeder menschlichen Vergesellschaftung, Bilder der allgemeine Referenzrahmen der Verständigung, »Bildordnungen und Zei-
535 Zu den Pappeln als antikem Todesbaum vgl. David E. Wellbery, Die Wahlverwandtschaften, in: Paul Michael Lützeler und James E. McLeod (Hrsg.), Goethes Erzählwerk – Interpretationen, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1985, S. 291–318, hier S. 306. 536 Fritz Breithaupt, Jenseits der Bilder – Goethes Politik der Wahrnehmung, Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2000 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae Bd. 73). 537 Vgl. ebda., S. 9.
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chensysteme« sind somit die Form dieser Verständigung538. Diese gewinnen jedoch, so Breithaupt, im gesellschaftlichen Zusammenhang eine Eigendynamik, die sie jenseits der menschlichen Bedürfnisse trägt, so »verlangt beispielsweise die von Goethe gezeichnete Antike Menschenopfer, um die Gültigkeit ihrer Götterbilder unter Beweis zu stellen«539. Eideologiekritik ist mithin für Breithaupt Goethes Ziel in der Revision der Begriffe von Anschauung und Ideenbildung, nicht eine Bildtheorie oder neue Wahrnehmungslehre an sich; die »verbildlichte Festschreibung des Wirklichen« aufzubrechen und von den auf es gemachten Ansprüchen zu befreien, so Breithaupt, ist das Anliegen von Goethes »Politik der Wahrnehmung«540. Dem Begriff der »Schönheit« kommt dabei eine tragende Rolle zu. Da Wirklichkeit für Goethe, so argumentiert Breithaupt, nicht in den Dingen an sich gegründet ist, sondern nur in ihrer Produktion durch die Wahrnehmung, rückt die Frage der Erscheinungsweise der Dinge ins Zentrum. In der Gegenstandskonstitution durch die Wahrnehmung liegt für Breithaupt der Ausgangspunkt von Goethes »Politik des Bildlichen«, er diskutiert daher »Politik« vor dem Hintergrund von Goethes Phänomenologie541. Sie beruhe darauf, so Breithaupt, daß Goethe stets auf einer von der Theorie nie einholbaren Wirklichkeit beharre, die gleichzeitig ohne Bild, Anschauung und Theorie nicht sein kann: Dinge an sich, wenn es sie gibt, brauchen keine Politik. Sie sind einfach da, egal ob und wie sie wahrgenommen werden. Für Goethe dagegen liegt die Wirklichkeit in den Erscheinungen begründet; der Schein, so die Maxime, ist das Sein. »Das Wort Augentäuschung«, summiert Goethe in der Farbenlehre, »wünschten wir ein für allemal verbannt. Das Auge täuscht sich nicht.« Wirklichkeit liegt demnach nicht in den Dingen verbürgt, die vom Auge mal besser und mal schlechter erfaßt werden, sondern ist eine genuine Leistung des Auges. Das Auge »macht«, was es betrachtet, »zur Realität«. Täuschen könnte sich das Auge nur, wenn die von ihm erfaßten Sinneseindrücke mit den realen Dingen verglichen werden könnten. […] Damit folgt Goethe der von Kant vollzogenen kopernikanischen Wende der Seinslehre. […] Erst Kant verweist die Gegenstände ausschließlich auf das menschliche Erkenntnisvermögen: sie sind für uns nur das, als was wir sie wahrnehmen können, Erscheinungen, Bilder. Nicht hinter den Erscheinungen, sondern in ihnen liegt die Wirklichkeit.542
Breithaupt verknüpft dies mit Platon: »Erscheinung also und Wahrnehmung ist dasselbe«, und schließt dann auf verschiedene Arten der Gegenstandskonstitution, die er bei Goethe realisiert findet543. Der Begriff der Schönheit sei dabei 538 539 540 541 542 543
Vgl. ebda. Ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 10f. Ebda., S. 11. Vgl. ebda., S. 11f.
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deswegen zentral, weil er im Kern der Gegenstandskonstitution ruhe, ja gleichsam dessen Kern bilde; Breithaupt beschreibt dies anhand weitreichender Konsequenzen: Goethe bezeichnet dasjenige, was alle Phänomene gemeinsam haben, als Schönheit. Schönheit ist dabei nicht eine von vielen Eigenschaften der Phänomene, sondern ist ihre Fähigkeit, überhaupt erscheinen zu können, mit anderen Worten, ist ihre Phänomenalität. Alles, was wahrnehmbar ist, ist schön; häßlich und anästhetisch ist nur das Unsichtbare. Damit klärt sich eine Frage, die an Goethes Wahrnehmungslehre zu richten wäre: Wenn Wahrnehmung individuell ist, wenn überhaupt jeder Gegenstand erst individuell in der Wahrnehmung existiert, wie kommt es, daß verschiedene Menschen ähnliche Gegenstände sehen? Goethes Antwort zeichnet sich nun ab: aufgrund der Schönheit. Schönheit ist die Erscheinungs- und Wahrnehmungsweise der Gegenstände; wer sie teilt, teilt auch grundsätzliche Vorstellungen darüber, was als wirklich und wahr, ja auch als ethisch richtig gelten kann und was nicht. Schönheit schafft Gemeinschaft. Die maßgebliche Erscheinungs- und Wahrnehmungsweise einer Kultur oder Epoche findet als Schönheit ihr Echo in allen Phänomenen; umgekehrt gehören die Phänomene einer Epoche aufgrund der ihnen (scheinbar) innewohnenden Schönheit an, auf die sie als ihr geheimes Zentrum konzentriert sind. Mit der Schönheit ist für Goethe die Struktur einer Kultur gegeben (konkret setzt Goethe dies etwa im Faust II um). Doch eine jede Schönheit macht blind, verhindert andere Wahrnehmungen, andere Wirklichkeiten. Und daher ist Schönheit der eigentliche Gegenstand des Politischen.544
Mit dieser Definition von Schönheit ist Ottilies Attraktivität mit hoher Bedeutung unterlegt. Die wiederholt inszenierte Zuwendung vor allem der männlichen Figuren – außer Eduard unterliegen vom Gehülfen über den Architekten bis zum Grafen immer wieder männliche Figuren Ottilies angenehmer Erscheinung – kann somit über das »bloße« erotische Interesse hinaus als Motiv der Faszination für Ottilie als das eigentlich Lebendige und schlechthin Repräsentative gesehen werden. In Anlehnung an Breithaupt kann man Ottilie als Erscheinung im Sinne der Repräsentation eines Gemeinschaft schaffenden Prinzips sehen, in der Empfindung von Ottilies Schönheit treffen sich die (An)sichten der anderen Figuren, dies erklärt Ottilie zum gleichsam überindividuellen Prinzip, auch zu einer Art transzendierender Einheit. Wie wir gleich noch sehen werden, wird das Motiv der übereinstimmenden Sicht der Figuren überdies auch noch in der Rolle der Erzählerfigur gespiegelt. Die Natur von Ottilies innerlich wie äußerlich ausgeglichenem Wesen ist immer wieder Gegenstand der Untersuchung in der Sekundärliteratur. Darauf geht auch Manfred Osten in seinem Beitrag »Alles Veloziferisch« – Goethes Ottilie und die beschleunigte Zeit« ein. Für Osten verweist zuerst Ottilies Verweigerung des »Verstandesunterrichts« im Pensionat auf die chthonische Natur 544 Ebda., S. 12.
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ihres Denkens. Ihr eigne, so Osten, nicht der übereilte rationale Verstand der Vernunftmenschen rund um sie, sondern eine »Vernunft der Gefühle«. Dem entspricht für Osten ihre äußere Erscheinung, sodaß beide Teile ein perfekt harmonisches Wesen ergeben: In den Schriften zur Kunst (De G8rard: Portraits Historiques) bemerkt Goethe, daß »die Schönheit unteilbar ist und den Eindruck einer vollkommenen Harmonie verleiht!« Die Harmonie ihres Wesens läßt auch Ottilie als schön erscheinen. Im Roman wird ihre Schönheit geschildert mit den Worten: »leicht schreitend ohne Furcht und Ängstlichkeit, im schönsten Gleichgewicht«. […] Ottilies Schönheit wirkt aus diesem Grund auch unmittelbar sittigend auf andere […]. Es ist eine Schönheit, in der im klassischen Sinne das Wahre mit dem Guten sich verschränkt. […] Immer wieder scheint im Roman Ottilies geheimer Beruf, der Beruf ihres schönen Wesens auf: sie wirkt retardierend auf jene ungeduldigen Bestrebungen des Verstandes, die in den anderen Gestalten des Romans die Harmonie durchkreuzen und das Glück verdüstern und zerstören. Ausdrücklich wird erwähnt, daß Ottilie gegenüber Eduard zu verhüten sucht, »was ihn ungeduldig machen könnte«. Mittlers eingangs erwähntes Wort, daß es »Ungeduld ist, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt und er dann beliebt, sich unglücklich zu finden […]«, erscheint im Roman in tausend wiederholten Spiegelungen. Ottilies schönes Wesen ist hierzu das geduldige Gegen-Bild. Ihre Gestalt ist gleichsam der geheime Probierstein der Charaktere des Romans und zugleich der Schlüssel zu seiner tragischen Konzeption.545
In Analogie zu Osten kann man damit Ottilies Attraktivität auch als Probierstein der Erzählerrede werten. Die dargestellte Konkurrenz der Prinzipien von Emotionalisierung und Distanzierung ergeben eine Art double-bind-Erzähler, der aufgrund der unterschwellig wirksamen Signale seiner Verhaftetheit gar nicht zum außerhalb stehenden Kommentator werden kann. Auf diese Weise ironisiert sich der Erzähler der Wahlverwandtschaften letztlich selbst. (Nicht unähnlich den ironischen Erzählerfiguren des englischen Romans wie in Tristram Shandy. Daß es also gerade ein Eingländer sein soll, der sich, wie Stöcklein u. a. annehmen, als Erzähler-Figur anbietet, wird vielleicht nicht zufällig insinuiert.) Mit einem solchen Vorentwurf eines unreliable narrator (W. C. Booth) aber wird ein entschieden modernes Bild eines Erzählers eingeführt bzw. eine deutliche Hinwendung zu einem »perspektivischen Erzählen« im Sinne Stanzels vollführt546. Eine Erzählerfigur, die ihre Vorlieben eindeutig macht, unterwan545 Manfred Osten, »Alles Veloziferisch«: Goethes Ottilie und die beschleunigte Zeit«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002 (= SfR Stiftung für Romantikforschung Bd. XXI), S. 213–229, hier S. 225. 546 In leichter Abwandlung von Stanzels Zeichnung des »Aperspektivismus«, also der Tendenz zur geringen Abgrenzung der Haltungen und Werturteile von Charakteren und meist auktorialem Erzähler im älteren Roman, und der vor allem im 19. Jahrhundert sich verfestigenden Verfeinerung der Unterscheidung zwischen der Welt der Charaktere und der
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dert auf jeden Fall das Bild einer objektiv schildernden Instanz, die »Bevorzugung« Ottilies durch den Erzähler kommt so einer Aufhebung gültiger Aussagen überhaupt gleich. Indem er persönliche Bewertung zu erkennen gibt, enthebt sich der Erzähler gleichsam jeglicher auktorialer Instanz – und jener der überlegen moralisch urteilenden.547 des Erzählers, von Stanzel als »Perspektivismus« oder »perspektivierender Erzählstil« bezeichnet. Ich plädiere also dafür, die auktorialen Unbestimmtheiten des Erzählers in den Wahlverwandtschaften nicht einer noch wenig ausgeprägten Form des Perspektivierens zuzurechnen, wie es in der Sekundärliteratur diskutiert wurde, sondern diese vielmehr im Gegenteil als Zeichen eines bewußt mehrdeutig perspektivierenden Erzählens anzusetzen. Zu Aperspektivismus vs. Perspektivismus bei Stanzel siehe dessen Theorie des Erzählens, S. 26ff. Die Meinung, daß es Erzählerfiguren bei Goethe nicht gebe, vertritt am deutlichsten Stefan Blessin, der dieses Konzept erst im späteren 19. und 20. Jahrhundert verwirklicht sieht: »Für Goethe trifft das nicht zu. Sein Erzähler ist, wenn er nicht wie im Werther ausdrücklich als Herausgeber ausgewiesen ist, keine festumrissene Gestalt. Er ist kein über längere Passagen durchgehaltener Standpunkt und keine ausgewiesene Perspektive. Deshalb sind alle Versuche, die Erzählhaltung in Goethes Romanen zu formulieren, gescheitert oder einfach im Sande verlaufen. Besonders der Erzähler der Wahlverwandtschaften geht nicht in dem auf, was wir eine Rolle, einen Standpunkt, eine Perspektive nennen. Er ist ein Quidproquo. Er spiegelt nicht vor, er tut nicht als ob, er verstellt sich nicht, um dahinter eine Wahrheit sichtbar hervortreten zu lassen. Weder ist er die Lüge in Person noch ist er irgendeiner Wahrheit verpflichtet. Der Erzähler räumt von Fall zu Fall Meinungen ein. Er legt dem Leser jeweils eine Meinung nahe. Als solcher ist er einer variablen Funktion vergleichbar. Denn die Meinung kann wechseln. Das Erscheinen des Erzählers signalisiert geradezu, daß es sich so, wie er sagt, verhalten kann oder auch anders. […] Gleich mit dem ersten Satz der Wanderjahre [sic] nennt er den Baron Eduard. Später hören wir, daß Eduard eigentlich Otto heißt und sich den klangvollen Namen Eduard selbst gegeben hat. Der Erzähler erhebt kaum das Wort: »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter« [..], und schon schafft er Platz – nicht für eine, sondern für viele und auch konkurrierende Meinungen. Ebenso räumt er im Falle Ottilies durchaus ein, daß ihre apotheotische Erhöhung möglich, ja wahrscheinlich sei. Dieser Erzähler ist der legitime Erbe des alten Rhapsoden, wie wir ihn aus den Homerischen Epen kennen. Von dem Rhapsoden sagt Goethe, daß keiner sprechen darf, dem er nicht das Wort erteilt hat. So gibt es in seinen Romanen keine Meinung, die nicht der Erzähler eingeräumt hätte.« Siehe Stefan Blessin, Goethes Romane – Aufbruch in die Moderne, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn München Wien Zürich 1996, S. 223f. 547 In einer Untersuchung der erlebten Rede in den Wahlverwandtschaften betont Roy Pascal die Nähe des Erzählers zu den Figuren und die an mehreren Stellen feststellbare Auflösung der auktorialen Erzählerrolle, vgl. Roy Pascal, Free Indirect Speech (›erlebte Rede‹) as a Narrative Mode in Die Wahlverwandtschaften, in: Tradition and Creation. Essays in honour of Elizabeth Mary Wilkinson, Edited by C.P. Magill et al., W.S. Maney & Son Limited, Leeds 1978, S. 146–161, hier bes. S. 156. Auch Pascal stellt die Folgen der Unbestimmtheiten der Erzählfunktion für die moralische Beurteilung der Figuren heraus: »[…] the recognition of the use of free indirect speech unmasks what seem to be authoritative opinions and judgements of the narrator as subjective views of the characters, modified in many cases by an irony that itself often evades positive commitments. Thus we very largely lack an objective moral criterion that would rank the characters and actions and motives in an order of value – unless it be the principle of sympathy and tolerance. The story itself, its shape and ending, counters this uncertainty by providing a hierarchy of interest, since Ottilie moves more and more into the centre, and her resolve and fate constitute the climax. But she is not, I believe,
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Die radikale Nicht-Bewertung der Moralität der Figuren wurde bei der Darstellung der Reaktionen der Zeitgenossen schon als das Skandalon der Wahlverwandtschaften bei ihrem Erscheinen beschrieben. Diese Qualität wird heute in noch stärkerem Maß als Kennzeichen der Modernität des Romans behandelt. Benedikt Jeßing arbeitet in seinem Nachwort zur Reclam-Ausgabe dessen Sonderstellung vor dem zeithistorischen wie romantheoretischen Hintergrund heraus. Er geht dabei von der Frage aus, was es denn eigentlich sei, das Goethe in den Wahlverwandtschaften zeichne – die untergehende Epoche des deutschen Landadels, der in stiller Abgeschiedenheit, aber aufgeklärt und beflissen vom Bildungs- und Vernunft-Gedanken versuche, die Ideale der französischen Revolution umzusetzen, aber an seiner Grundhaltung des Dilettierens scheitere, oder doch mehr die »vivisektierende« Untersuchung des Verhaltens einiger Figuren, die auf kleinem Raum zusammengebracht und einem Experiment ausgesetzt werden, das letztlich die Brüchigkeit einer Institution wie der Ehe aufzeigt und ebenfalls die Unterminierung des Aufklärungsgedankens durch »Natur, Trieb, Mythos« modellhaft abhandle548. Jeßing betont den vielfach ironischen Blick des Erzählers auf adliges Verhalten, das sich etwa in Eduards »Befehls- und Herrschaftston« und seinem Festhalten an der feudalistischen Hierarchie in der Organisation der Feste kundtut, an denen alle Bewohner des Guts im Sinn der Ordnung seines Oberhaupts teilnehmen und so ihre Zugehörigkeit zu Eduards Besitz, der Geld, Boden und Menschen umfaßt, demonstrieren. Viel deutlicher noch sei die Kritik am Müßiggang des Adels, so Jeßing, an der Figur der Luciane als Repräsentantin der »großen« Welt abzulesen, die gegenüber den Hauptfiguren so gut wie keine moralischen Vorzüge mehr aufweise. Im Blick auf das eben untergegangene Heilige Römische Reich Deutscher Nation erscheint der Adel hier, betont Jeßing, als politisch, ökonomisch und sozial überflüssig, ja schädlich549. Dagegen entwickelten die Protagonisten stark bürgerliche Tugenden, vor allem eine fast bürgerliche Rationalität – die allerdings in rätselhafter Weise vom Mythischen unterlaufen werde. Alle Bemühungen des Hauptmanns etwa, so Jeßing, dienen der Verbesserung im Sinn des Gemeinwohls, Charlotte lernt von ihm und setzt ebenso Initiativen zur besseren ärztlichen Versorgung, Hygiene etc. Vor allem der Umgang mit dem Tod zeigt für Jeßing den Versuch des rationalen Zugriffs auf alle Lebens- und Denkbereiche550. Ottilie habe zwar die Ambition, aus der Vorbestimmung ihres Standes auszubrechen, doch entkomexemplary like the more usual heroine; it is rather that of all characters she is the most absolute, the most vulnerable, the most touching in her youth.« Ebda., S. 160. 548 Vgl. Benedikt Jeßing, Nachwort zu: J.W. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2003, S. 263–282, hier S. 269f. 549 Vgl. ebda., S. 271. 550 Vgl. ebda., S. 274.
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me sie Eduards Anziehung nicht und verbleibt im Kreis der Freunde, sie wird für Jeßing zuallererst Trägerin des Mythischen. Obwohl es durchgehend Zeichen des Zweifels an der Wirksamkeit des Rationalen gebe – Jeßing führt vor allem Charlottes Bemerkung zum Bewußtsein als unzulängliche, ja manchmal gefährliche »Waffe« an (»für den, der sie führt« WV 248) – führe das Auftreten Ottilies sehr rasch zu einer deutlicher und deutlicher werdenden Zersetzung der Ordnung der »Gesellschaft im Kleinen«, die der Roman zeichne. Sie lebt für Jeßing durch Grundbesitz dem »Reiche der Notwendigkeit« enthoben und hat sich die liberale Geisteshaltung der »heitern Vernunftfreiheit« angeeignet, doch erfährt sie jetzt den Einbruch des Mythischen […] nicht als ungeheuerliche Naturmacht oder »Schicksal«, sondern zunächst nur als Unverständliches, dem aufgeklärten Bewusstsein nicht Zugängliches, als Wunderbares und als Liebe, als zeichenhafte Andeutungen einer andersartigen Sinnhaftigkeit des Seins, dann jedoch als Schuld und Tod und zuletzt als legendenhafte Verklärung.551
Jeßing zeichnet Ottilie als Figur, die das Irrationale in Eduard anregt – und umgekehrt ist sie selbst für ihn »Perspektivfigur« des Mythischen, da sie von Anfang an als rätselhaft und wunderbar erscheine. Abzulesen sei dies an den Motiven ihrer Nicht-Anpassung an den Lehrbetrieb, ihrem Unverständnis für die Regeln der Grammatik, ihrer Langsamkeit und der ihr eigenen Art, über (Demuts-)Gesten und Gebärden zu sprechen. Ottilies Reich liege »jenseits der aufgeklärten Feudalwelt der Anderen«552, als Figur stehe sie hiermit für das im Roman zitierte goldene Zeitalter und das »verlorene Paradies«. Obwohl so Ottilie als mit sich selbst identisch und in Harmonie erscheint, ist ihre Wirkung fatal, so Jeßing. Selbst Charlotte und der Hauptman kommen aus dem Tritt, an ihnen als vernunftbetonten Figuren sei der Eintritt des Irrationalen besonders gut darzustellen. Jeßing betont, daß der Kontrollverlust beim Gegenpaar noch als in Grenzen verlaufend dargestellt wird, Eduard hingegen »verliert hier doppelt Maß: ruhige Contenance und Selbstbeherrschung ebenso wie die Möglichkeit rationalen Zugriffs auf Natur, Geld und das eigene Selbst«553. Die Macht der Liebe zersetze »innerhalb kürzester Zeit« die heitere Gesellschaft, mit ihr, so Jeßing, hält die Schuld als Form des Mythischen Einzug. Dazu bedarf es für ihn einer besonderen Logik: nämlich der, daß die Figuren ihre Schuld anerkennen. Genau darin liegt für Jeßing die Rolle Ottilies: sie deute vor allen anderen ihr Handeln als in höchstem Maß schuldhaft und rechne die Zerstörung der Ehe und den Tod des Kindes ausschließlich sich selbst zu. Mit ihrer Begründung »[…] ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen […]« verweist sie, so Jeßing, auf ein jenseitiges Gesetz und bezeichnet 551 Ebda., S. 274. 552 Vgl. ebda., S. 275. 553 Vgl. ebda., S. 276.
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ihr Handeln sogar als »Verbrechen«. Ihre Reaktion setzt dies fort: Sühne durch »Selbstaushungerung«, wie es Jeßing nennt554. Diese Logik legt für Jeßing den grundsätzlichen Zug des Romans frei. Als dessen zentrale Thematik sieht er das Scheitern des aufgeklärten Bewußtseins; indem Mythisches einbrechen kann, wird die Hilflosigkeit der Figuren offenbar : Die mythische Rede vom Selbstopfer als Sühne übermäßiger Schuld setzt die tranzendentale Instanz der Entgegennahme eines solchen Opfers voraus – die Semantik der mythischen Schuld impliziert also den gänzlich irrational gewordenen Weltdeutungszusammenhang der Figuren.555
Vor allem der Tod werde im Laufe der Handlung »sichtbares Zeichen mythischer Macht«556. Wie Benjamin verweist Jeßing auf die Überdeutlichkeit, mit der Eduards Geschenk an Ottilie (der Koffer mit dem Kleid, das ihr Leichenkleid wird), vor allem Charlottes Umgraben des Kirchhofs, die Ausgestaltung der Kappelle zum Grabmal etc. zu Todessymbolen werden. Das Besondere aber, und vor allem hier erweist sich für Jeßing die Abweichung von den Erwartungen an den Zeitroman, sei die Verklärung, die an die Stelle von Aufklärung trete. Indem Ottilie in der Kapelle zum Engelsbild und bei der Aufführung des tableau vivant zur Madonna stilisiert wird und schließlich die Folgen ihres »märtyrerhaften Opfertods« vollends auf die Legende als Form rekurrieren, unterwandert, so Jeßing, der Roman seine eigenen Gesetze und entzieht sich gleichsam selbst den Forderungen der Ratio und dem Schema der Aufklärung557. Jeßing zitiert hier eine Stelle, die in unserem Zusammenhang der Rekurrenzen auf Ottilie eine besondere Rolle spielt. Ottilie wird in der Rolle der weihnachtlichen Maria vom Erzähler mit folgenden Worten bedacht: Ottiliens Gestalt, Gebärde, Miene, Blick übertraf aber alles, was je ein Maler dargestellt hat. Der gefühlvolle Kenner, der diese Erscheinung gesehen hätte, wäre in Furcht geraten, es möge sich nur irgend etwas bewegen; er wäre in Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas wieder so gefallen könne. Unglücklicherweise war niemand da, der diese ganze Wirkung aufzufassen vermocht hätte. Der Architekt allein, der als langer, schlanker Hirt von der Seite über die Knieenden hereinsah, hatte, obgleich nicht in dem genauesten Standpunkt, noch den größten Genuß. Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskönigin? Die reinste Demut, das liebenswürdigste Gefühl von Bescheidenheit bei einer großen, unverdient erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unermeßlichen Glück bildete sich in ihren Zügen, sowohl indem sich ihre eigene Empfindung, als indem sich die Vorstellung ausdrückte, die sie sich von dem machen konnte, was sie spielte. (WV 404) 554 555 556 557
Vgl. ebda. Ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 277f.
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Im Zusammenhang der Erzählerkommentare, die Ottilie als begehrenswert und herausragend konstituieren, kann man diese Stelle als die Vollendung ihres Bildes sehen. Das Urteil, das hier getroffen wird, enthüllt gleichsam endgültig Geschmack und perspektivisches Sprechen eines Erzählers, der alles andere als unbeteiligt seine Betroffenheit als »Kenner« kundtut. Die Stelle ist von kaum zu übertreffender Vielschichtigkeit, in ihr läuft das oben Ausgeführte prägnant zusammen. Der Erzähler spricht eindeutig von sich, zuerst in der Tatsache, daß er das zusammenfassende Urteil fällt – »was je ein Maler dargestellt hat« ragt aus der Reihe der Kommentare durch die Verwendung des Perfekts und somit als gültige Etablierung des Rechts auf einen Kommentar heraus558. (Sie ist das Gegenstück zu »Es waren vielleicht die zwei schönsten Hände, die sich jemals zusammenschlossen.«) Auch hier beginnt der Kommentar im Präteritum, wie an anderen Stellen, die wir schon gesehen haben. Der Einsatz des quasi abschließenden Perfekts ist aber überaus ungewöhnlich, ich habe keine andere Stelle dieser Prägung gefunden. Gleichzeitig kann es wohl keine größere Ironisierung des perspektivischen Sprechens geben als die sofortige Überführung dieses anwesenden Sprechers in das Phantasma, das uns eben dieser Sprecher in Gestalt des potentiellen »gefühlvollen Kenners« im Konjunktiv vorstellt. Durch die vorherige Feststellung im (faktischen) Perfekt entspricht die enthusiastische Beschreibung der »Erscheinung« seinem Gefühl, er fürchtet, es möge sich zu früh etwas bewegen, es ist seine Sorge, ob er jemals wieder an etwas solchen Gefallen finden wird. Die Emotionalität, die der schwärmerischen Aufzählung der Details unterliegt, erlaubt uns nicht, sie abgekoppelt von einer tatsächlichen Sprecherquelle zu lesen. Der Erzähler, der so aus seiner Reserve ausbricht, handelt nach innerem Diktat und in der Absicht, eine tatsächliche und tiefe Ergriffenheit mitzuteilen. In diesem Pathos liegt eine ganz wesentliche Qualität des Erzählers dieses Romans. Denn diese Emotionalität, so das Wissen, das hier vermittelt wird, ist unsere, wir als Leser haben die einzigartige Möglichkeit der Anteilnahme gehabt, wir haben 558 Zur »Urteilskraft« des Perfekts vgl. Henning Brinkmanns grammatische Beschreibung: »Das Perfekt unterscheidet sich vom Präteritum zunächst dadurch, daß es das genannte Ereignis isoliert, nicht im Kontinuum des Erinnerten beläßt, sondern für sich herausnimmt. Das ist die Ursache dafür, daß im Perfekt in der Regel nicht erzählt werden kann; denn Erzählen setzt eben das Kontinuum der Erinnerung voraus. Allen Verwendungen des Perfekts ist gemeinsam, daß sie ein Geschehnis nicht in Verbindung mit anderen Geschehnissen der Vergangenheit sehen. Der gemeinte Vorgang wird nicht in seinem Verlauf, sondern in seinem Wesen (Begriff) erfaßt. […] Infinit II liefert den geforderten Vollzug, das Präsens von sein oder haben verweist auf die Situation des Sprechers. Man wird die im Perfekt vorausgesetzte Haltung am besten Urteil nennen (Urteil im weitesten Sinn). Nicht der zeitliche Wert des jeweiligen Verbums wird im Perfekt realisiert, sondern die Ta t s ä c h l i c h k e i t des Vollzugs.« in: Die deutsche Sprache – Gestalt und Leistung, Pädagogischer Verlag Schwann, Düsseldorf 19712, S. 338f.
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gesehen, wir waren zusammen mit dem Erzähler da, um diese Wirkung zu erfassen. Wie als Draufgabe wird betont, daß der Architekt leider nicht in der richtigen Perspektive stand. Unser Genuß ist also größer. Diesem Effekt, behaupte ich, können wir uns nicht entziehen, denn es ist der Dialog der Leserin mit dem Roman. Glauben wir dem Affekt des Erzählers nicht, versagen wir uns seiner Geschichte, und Erzählen und Erzählung münden in Sinnlosigkeit. Die Selbstironisierung des Sprechers in den Wahlverwandtschaften thematisiert damit meines Erachtens zwar wohl die Tatsache, daß er wie alle Protagonisten perspektivisch spricht (handelt), zielt aber nicht auf eine Dekonstruktion der Sinnhaftigkeit des Erzählens, sondern ist von der Kraft getragen, mit dem Hörer der Geschichte umso stärker in Verbindung zu treten. Es geht sozusagen um gesteigerte Kommunikation, nicht so sehr um Meta-Kommunikation (diese ergibt sich wie nebenbei). Dieser ir(on)isierende Erzähler, der sich und uns als Niemande bezeichnet, gipfelt schließlich in der Frage nach der Beschreibung der »neugeschaffene[n] Himmelskönigin«. Die lupenreine Rhetorik mündet in Superlative: »reinst«, »liebenswürdigst«, und vor allem in die Beschreibung der Vermischung von »Empfindung« und »Vorstellung«, die sich in Ottilie abspielen und auf ihren Zügen als Ausdruck eines »unbegreiflich unermeßlichen« Glücks abbilden. Die spezielle Ironie dieses Erzählens muss hier unbedingt festgehalten werden, sie erweist sich in den Wahlverwandtschaften als letztlich stets positive Strategie; die Unterwanderung, die hier stattfindet, ist nicht so sehr an einer Dekonstruktion interessiert, sondern zielt vielmehr auf eine Feier des Erzählens und der Bildlichkeit, die es ermöglicht. Die Konjunktive, über die wir hier geschaffen werden, sind das Gegenteil von kühl, sie sind der rhetorisch wärmste Ausdruck, den der Autor für seine Geschöpfe finden kann. So wie Ottilie immer mehr zur Legende, also zur reinen Erfindung zu werden beginnt, sind wir anwesende Niemande – die aber genießen können! Das »Wunderbare« an Ottilie ist also, daß sie der Inbegriff der Imagination ist und daß wir als Genießende an ihrer überirdischen Schönheit als an der Schönheit der Erfindungskraft teilhaben können. (Siehe oben den Verweis zu Bettine Brentanos Bemerkung zu Goethes Verliebtheit in Ottilie als Figur, vgl. Kap. III. 4.2.5. und Anm. 363.) In diesem Sinn lässt sich also sagen, daß inmitten all der Todessymbolik und zentnerschweren Vorausdeutungen Goethe einen strahlenden Roman konzipiert. Ich denke, es ist nachvollziehbar, daß der Gestus der Erzählerkommentare nie der eines dekonstruktiv-ironischen, sondern wenn, der eines empathischironischen ist. Bei aller Düsternis spüren wir deutlich, daß im Sinne eines Ergriffenseins erzählt wird, und daß die moralische Nicht-Beurteilung der Figuren einen ähnlichen Ursprung hat wie die Verzückung über Ottilies Schönheit. Es ist eine akzeptierende Diskretion, die einer Zuwendung entspringt und der nicht an der Bloßlegung der Figuren gelegen ist. (Ebenso ist kein Spott vorhanden für die
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Zuschauer als »Niemande«, sondern wird ihr Dasein geradezu im Konjunktiv als Ehrenanrede zelebriert.) Auch wenn man diese Beobachtung nicht nachvollziehbar oder nicht zutreffend findet, halte ich es für wichtig, die sich hier zeigende Frage nach dem Niederschlag historischer Intentionen im »Sprechen« wie Rezipieren im Auge zu behalten und die formale Umsetzung von Empathiekonzepten mitzubedenken, denn es hat mit der Ratlosigkeit, die für Jeßing und andere das Signum der Modernität dieses Romans ist, direkt zu tun. Diese Dimension in der Beurteilung der Rolle des Erzählers in den Wahlverwandtschaften ist m. E. unbedingt festzuhalten. Auf der Erzählerrolle fußt nämlich Benedikt Jeßings Befund der Auflösung der aufklärerischen Romanintention. Auch für ihn erklärt sich das Befremden, das der Roman bei Zeitgenossen wie späteren Generationen ausgelöst hat, aus einer radikalen Absage an »jede moralische, positive, weltdeutende Lektüre«559. Es ist für ihn also nicht so sehr die Kritik an einer überlebten Gesellschaftsform wie der des Landadels oder die (für die Zeitgenossen) monströse Erfindung des Kindes als physischem Abbild des inneren Ehebruchs, die so starke Irritation auszulösen imstande war, sondern die Verweigerung der wertenden Aussage. Die Rolle des Erzählers wird hier gleichermaßen zum Knackpunkt, denn dessen Allmacht wird, so Jeßing, im Roman überall betont: Es ist in jedem Sinne der Erzähler, der das im Roman ausgeführte Experiment organisiert. Er ist es, der die abgeschlossene Welt der Wahlverwandtschaften konstruiert, sozusagen die Laborbedingungen simuliert. Er ist es, der die Figuren zusammenführt – auch und gerade in ›schicksalhaften‹, zufällig erscheinenden Begegnungen – und die dabei nach und nach frei werdenden (leidenschaftlichen) Energien beobachtet, bis zur letzten, tödlichen Konsequenz. Er ist es, der die Romanwelt gottgleich erschafft; er ist es sogar, der den Figuren ihren Namen gibt: explizit bei Eduard: »so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter«. Von hier, vom Romanbeginn aus wird jede Namenswahl der Figuren, auch jede davon abgeleitete Buchstabensymbolik als Arrangement des Erzählers kenntlich: Schicksalhafte Bedeutsamkeit erhalten Namen und Buchstaben nur aus der eingeschränkten Perspektive der Figuren. Der Erzähler betont also einerseits seine Macht als Arrangeur, Experimentator und Beobachter. Andererseits scheint er allerdings selbst den ›mythischen‹ Gewalten zu unterliegen, die seine Figuren töten, ihre Lebensentwürfe zerstören. Spätestens im legendenhaften Schluß, in Ottilies Verklärung und dem vermeintlich auf ein Jenseits verweisenden Schlusssatz, verlässt ihn scheinbar die schöpferhafte Distanz und Überschau; scheinbar wird der Roman hier zur Legende. Dies ist aber mitnichten ein Versehen, ein unausweichliches Unterliegen des Erzählers unter der Macht seines Stoffes. Vielmehr ist auch dieser Schluss provokative Pointe.560
559 Vgl. Jeßing, Nachwort, S. 281f. 560 Ebda., S. 280f.
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Diese Pointe besteht für Jeßing in der absichtlichen Nicht-Auflösung der Rätsel, die der Roman aufgibt. Jeßing stellt der Leichtigkeit, mit der die Figuren die chemische Gleichnisrede zuerst spielerisch auf ihre Situation anwenden, den tragischen Ausgang der Handlung gegenüber : Diesen sehen wir zwar durch bestimmte Anmerkungen des Erzählers, wie jener von der Gärung, die das Ingrediens der Leidenschaft im »Gefäß« der Familie verursacht, voraus, doch bleiben wir, so Jeßing, letztlich mit all diesen Andeutungen allein. Der Erzähler führe zwar Handlungen, die er selber inszeniert, vor und beobachte sie, doch er kommentiere nirgends in einem wertenden Sinn, »Unschuld, Unrecht und Schuld« würden so weder den Handlungen noch den Gedanken der Figuren zugeordnet; vor allem formuliert, so Jeßing, der Erzähler keine Lehren561. Jeßing bezeichnet daher die Erzählweise als im gesamten Roman »gleichsam neutral«, auch wenn gelegentlich Sympathien oder Aversionen des Erzählers gegen bestimmte Figuren durchscheinen562. Selbst der Schluß heilige nicht im Nachhinein Ottilies Handeln: Vielmehr zitiert der Erzähler hier die Form der Legendenerzählung: Er erschafft nicht nur den Stoff, sondern hat auch Macht über die literarische Form, die dieser gewinnt – und steigert mit diesem Abschluss die Unberatenheit, in die der Roman seine Leserinnen und Leser stürzt.563
Im Sinn des Ausgeführten halte ich es für notwendig, hier zu differenzieren und die perspektivische Kraft der Erzählerkommentare zu Ottilie nicht zu unterschätzen. Dem Befund des nicht wertenden Erzählers ist zuzustimmen, dennoch ist gleichzeitig anhand der Figur der Ottilie eine deutliche Gewichtung festzustellen. Nicht zuletzt erfahren wir über sie die meisten körperlichen Details. In der Sekundärliteratur wird verschiedentlich auf die Erwähnung Ottilies dunkler Augen verwiesen. In der Szene des zweiten tableau vivant, das aufgeführt wird, heißt es dazu noch etwa: »Unter ihren langen Augenwimpern hervorblickend […]« (WV 405). Die wiederkehrenden Bezugnahmen auf ihre Schönheit oder angenehme Erscheinung, die ich oben zusammengestellt habe, werden also weiter mit Details versehen. (Hier ist Stöcklein zu widersprechen, der, wie gezeigt, anführt, es werde in den Wahlverwandtschaften nie ein Gesicht geschildert.) Diese Details erhöhen gerade auf der Folie der Zurückhaltung die Aufmerksamkeit für die Figur – vor allem lenken sie den Blick auf den Blick des Erzählers. Ästhetische und emotionale Urteile liegen also vor, wenn auch keine (negativ wertenden) moralischen. Dies schafft, so argumentiere ich, eine Art verführbaren Erzähler – in dem wir als verführbare Leser uns wiederfinden – und eine sehr spezifische Kontrapunktik. 561 Vgl. ebda., S. 281. 562 Vgl. ebda. 563 Ebda.
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Für Jeßing ist es gerade die Macht des Erzählers in den Wahlverwandtschaften, die auf seine bevorstehende Abdankung deutet: Jedes aufgeklärte Konzept romanhaften Erzählens wird hier verabschiedet: Es gibt nichts mehr, über das einer sich auktorial-allwissend, belehrend und ratgebend äußern könnte. Ähnlicher Abstand herrscht zum klassizistischen Konzept: Wohl ist die Anlage des Romans bis ins Detail symmetrisch – die Kapitel- wie die Figurenkonstellation. Aber diese gleichsam harmonische Symmetrie zitieren die Wahlverwandtschaften nur noch als Form, als Möglichkeit literarischer Gestaltung – denn nirgends wird im Roman Kunst, wie noch im Rest-Optimismus der klassizistischen Projekte Goethes, als Vorausbild einer erfüllten und unentfremdeten Menschlichkeit perspektiviert.564
So steht der Roman für Jeßing auch dem Projekt der Romantik konträr gegenüber, indem er keine »neue«, positive Mythologie an die Stelle aufgeklärter Rationalität setzt: Die Provokation der Wahlverwandtschaften besteht in ihrer negativen Mythologie: Der Roman weiß um das Andere der tatsächlichen Welt, das Andere des ›Reiches heiterer Vernunftfreiheit‹, maßt sich allerdings nicht mehr an, dieses in schlüssige Sinnkonzepte oder gar Lebensorientierungen umzumünzen. Er beobachtet ein in Teilen rätselhaftes Geschehen – und mutet uns bis heute diese ungelösten Rätsel zu.565
Dieser Diagnose ist, wie erwähnt, gar nicht zu widersprechen. Dennoch treiben m. E. die Strategien der Emotionalisierung, die in den Wahlverwandtschaften zur Anwendung kommen, einen Keil in eine solche gänzliche Absage an jede Deutbarkeit, oder stellen zumindest die Frage, ob diese das einzige Ziel sein muß. Der »gefühlvolle«, auch: gütige Erzähler appelliert an das Gefühl des Lesers und bringt ihm auf diese Weise die Geschichte nahe, zumindest dies bleibt bestehen: der Roman existiert. Selbst wenn er »nur« ein Monument der Anteilnahme ist, das weder Trost noch Gewißheit spenden kann, transportiert er doch das Wissen um die Tragödie; dies halte ich für das zentralste Anliegen seiner (aufwendigen) Gestaltung. Der Wert liegt so gesehen zuerst einmal vor allem im (kunstvollen) Berichten (wenn man so will: im Malen des Gemäldes). (So deute ich auch die Verwendung des szenischen Präsens als möglichste Nacktheit des Berichts im Sinne der Solgerschen Skizzierung des Schicksals der Figuren, die aber gleichzeitig auf die Kunstform der Ausgestaltung hinweist.) 564 Ebda., S. 281f. 565 Ebda., S. 282. Im selben Sinn deutet Roy Pascal: »This reserved, non-committal narrator of Die Wahlverwandtschaften does not betray what was the author’s, Goethe’s, interpretation; the limitations of his understanding, the reservations he imposes on himself, seem to invite us, the readers, to look beyond him, without giving us a clue except his tolerant sympathy. That is, Goethe throws the whole thing open to us, to wrestle with as we may, much more than in any other of his works. This itself is an extraordinarily modern conception of a novel, and for this purpose this narrator, and the use of free indirect speech, seem ideally suited.« Roy Pascal, Free Indirect Speech, S. 161.
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Was die deutenden Leser daraus machen, unterliegt ohnehin deren perspektivischer Sicht, so wie alle Figuren des Romans als in ihrer Perspektive be- oder gefangen gezeichnet werden566 und auch der Roman selbst als Produkt perspektivischen Berichtens ausgewiesen ist, indem die Sicht der Erzähler-Figur immer wieder thematisiert wird. So gesehen, kann das Ausbleiben eines moralischen Urteils genauso als Appell wie als Konstatierung eines Defizits gelesen werden. Worauf die Erzählung abzielt, wäre dann, sich ergreifen und berühren zu lassen und eben das Absehen von einem Urteil als moralische Haltung zu fordern. Die Botschaft ist dann der Aufruf zur Bereitschaft zur Hinwendung, Hingabe – und in diesem Sinn hat der Roman schließlich bis heute seine Wirksamkeit. Auch das Bemühen um die Form ist dann keine leere Hülle, die sich schon selbst überlebt hat, sondern versucht genau dieses: die Form zu bewahren, um die Geschichte haltbar und transportierbar zu machen. »[M]it Teilnahme schauen« ist damit die Formel, die aus der Gleichnisrede (als Inbegriff des Versuchs einer Fassung) wie ein Monolith herausragt und die Experimentanordnung der Wahlverwandtschaften als ganzes (als nächstgrößere Einheit des Versuchs der Fassung) als zentrales Moment beleuchtet: »Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!« sagte Charlotte. »Man sollte dergleichen«, versetzte der Hauptmann, »nicht mit Worten abtun. Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden. Jetzt müßte ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gäben. Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit 566 Einige Detailanalysen zur perspektivischen Ausgestaltung finden sich in Mat&as Mart&nez, Doppelte Welten – Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996 (= PALAESTRA Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie Bd. 298), vgl. besonders die Darstellung der Nanny-Episode, S. 48–54. Mart&nez faßt das Ergebnis so zusammen: »Der Erzähler enthält sich jeder direkten Darstellung des Kerns des wunderbaren Geschehens, Nannys sofortiger Heilung. Keineswegs mutet er »seinen Lesern [zu], für erwiesen und wahr zu halten, daß aus Ottilie eine Heilige wird, daß sie wunderbare Genesungen bewirkt«. Vielmehr muß sich der Leser die Szene anhand der einzig mitgeteilten Wahrnehmung beteiligter Figuren rekonstruieren und bleibt an die epistemische Beschränktheit einer fokalisierten Darstellung gebunden. Das zentrale Ereignis, wodurch das Geschehen (innerhalb der erzählten Welt) unwiderruflich zum Wunder und die erzählte Welt eindeutig zu einer phantastischen (in Todorovs Terminologie: einer wunderbaren [merveilleux]) würde, bleibt als nicht konkretisierte Leerstelle vom Leser nach widersprüchlichen Vorgaben zu füllen.« Ebda., S. 51. Die Darstellung im Roman, so Mart&nez, erlaube letztlich zwei Lesarten, das Geschehen kann als zwar unwahrscheinlich, aber doch immerhin möglich und als von der Menge abergläubisch mißinterpretiert gelesen werden oder aber tatsächlich als Wirkung eines »übernatürlichen Eingriffs in das natürliche Weltgeschehen«. Die verschiedenen Positionen, der Skeptiker, der Ungläubigen oder Unschlüssigen, finden sich im Roman sehr wohl beschrieben, dieses »doppelte Rezeptionsangebot« zieht sich, so Mart&nez, als strukturelle Zweideutigkeit durch den ganzen Roman, vgl. ebda., S. 53f.
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innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen.« (WV 275f.)
Da es (wie in der direkten Rede) das Präsens ist, das in einigen Erzählerkommentaren dazu eingesetzt wird, das perspektivische Sprechen zu bezeichnen, möchte ich zum Schluß noch einmal auf diese erzähltechnische Feingestaltung und den Formenreichtum des Romans in bezug auf die Modi der Wiedergabe überhaupt hinweisen. Einige Textstellen weisen eine markante Vermischung der Ebenen der Figurenrede oder der Wiedergabe ihrer Gedanken oder Ansichten mit jener einer möglichen Erzähleransicht auf. An die Szene, in der der Graf seine Vorstellungen zur Fünfjahres-Ehe ausführt, schließt eine Reflexion Charlottes an, die dieses Prinzip der Vermischung der Ebenen auf besondere Weise veranschaulicht: So artig und lustig dies klang und so gut man, wie Charlotte wohl empfand, diesem Scherz eine tiefe moralische Deutung geben konnte, so waren ihr dergleichen Äußerungen, besonders um Ottiliens willlen, nicht angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts gefährlicher sei als ein allzufreies Gespräch, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zustand als einen gewöhnlichen, gemeinen, ja löblichen behandelt; und dahin gehört doch gewiß alles, was die eheliche Verbindung antastet. Sie suchte daher nach ihrer gewandten Weise das Gespräch abzulenken; da sie es nicht vermochte, tat es ihr leid, daß Ottilie alles so gut eingerichtet hatte, um nicht aufstehen zu dürfen. (WV 310)
Durch den Einsatz des Präsens kommt diesem Einschub eine bemerkenswerte Polyfunktionalität zu. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine recht eindeutige erlebte Rede bzw. um eine klare Wiedergabe von Charlottes persönlicher Ansicht. Dennoch ist die Gestaltung dieser Wiedergabe auffallend komplex. Für heutige Lesegewohnheiten wäre hier die durchgehende Verwendung des Präteritums denkbar (wenn auch weit weniger elegant, das ist aber eine andere Ebene, nämlich tatsächlich eine stilistische), gleichzeitig macht eine solche Fassung klar, welche Eindeutigkeiten hier umgangen werden: »Sie wußte recht gut, daß nichts gefährlicher war als ein allzufreies Gespräch, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zustand als einen gewöhnlichen, gemeinen, ja löblichen behandelte; und dahin gehörte doch gewiß alles, was die eheliche Verbindung antastet(e?).« Auffallend ist also im Text schon die Überleitung im Konjunktiv »sei« und noch mehr die Fassung des Gedankeninhalts im Präsens, den wir vor allem aufgrund des Inhalts als persönliche Meinung ein- und diese Charlotte zuordnen. Wir gehen also davon aus, daß es eine Aussage über Charlottes Moralbegriff ist, die hier getroffen wird.
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Genau das wird aber in der Verwendung des Präsens nicht eindeutig festgelegt, die die Möglichkeit, daß es eine einfließende Stellungnahme des Erzählers sein könnte, der etwa hier im Sinn eines Mittler urteilt, immerhin offenläßt. In der Vielfalt der Gestaltung der Erzählerkommentare im Roman wäre dies schließlich denkbar, auch wenn wir dem Erzähler eben kein so eindeutig moralisierendes Urteil zutrauen. Genau in dieser Unschärfe der Zuordnungsmöglichkeit sehe ich aber die Funktion dieses Präsenskommentars, und zwar ungeachtet der Frage, ob es nicht einfach die ältere Ausformung der erlebten Rede ist, die das Präsens bevorzugt. Der Befund wäre dann lediglich umgekehrt der, daß die älteren Formen der erlebten Rede eben komplexer waren, analog zur differenzierten Beschreibung der Präsensverwendung in den Grammatiken, die ich zu Beginn dargelegt habe. Dafür, daß an dieser Stelle bewußt Mehrdeutigkeit suggeriert werden soll, spricht der Gesamtzusammenhang von uneindeutigen Erzählerkommentaren in den Wahlverwandtschaften, der netzartig den Roman durchzieht. Es gibt einige Verwendungen des Präsens in Nebensätzen, die auf den ersten Blick unauffällig sind, aber dennoch, so wie hier, die Frage nach dem »Wer spricht?« immer wieder aufleuchten lassen. Auf einige dieser Textstellen möchte ich daher eingehen, da sie ihrerseits auf die Rolle des bisher gezeichneten »engagierten« Erzählers verweisen.
IV. 2.5. Erzählerstimme und aoristisches Präsens: im Nebensatz Der dem Roman oft zugeschriebenen Vielfalt in den Methoden der Präsentation, womit die Abwechslung zwischen Erzählerbericht und der Darbietung in Form der Briefe der Vorsteherin und des Gehülfen, später Ottilies Notiz an die Freunde und ihre Tagebucheintragungen, gemeint ist, entspricht also die Abwechslung in der Gestaltung der Erzählhaltung. Wie wir gesehen haben, sind selbst in der Ausformung der als auktorial zu wertenden Erzählerkommentare unterschiedliche Grade der Distanzierung, besser : der Annäherung zu registrieren. Trotzdem also in den Wahlverwandtschaften in erzähltechnischer Hinsicht ein so hohes Maß an Variation vorliegt, galt oder gilt der Roman als Inbegriff eines ideal ausgewogenen Erzählens oder überhaupt »klassischer Standortsklarheit«, wie der Begriff Eduard Sprangers lautet. Das Aufleuchten der Erzählerstimme zeigt sich in einigen Einschüben explizit, am Ende der oben zitierten Textstelle hieß es: »Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich.« Wie zu Beginn des letzten Abschnitts erwähnt, sind diese Einschübe im ersten Teil eher selten, vor allem bei ihnen ist die durchgehende Kürze auffallend. So konterkarieren sie z. B. die Ausführlichkeit der Eingangsbemerkungen des fiktiven Herausgebers der Briefe Werthers:
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Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen. Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.567
Dieser Breite gegenüber ist das Auftauchen der Erzählerstimme als Fiktion eines anwesenden Erzählers, der mit »Wie dies gemeint sei […]« ordnend eingreift und seine Erläuterung ankündigt, in den Wahlverwandtschaften tatsächlich als kurz gehalten zu bezeichnen. Die Schlußerzählung des Werther enthält jedoch eine ähnlich kurze Stellungnahme, zu der es ein direktes Gegenstück im späteren Roman gibt: Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. »Emilia Galotti« lag auf dem Pulte aufgeschlagen. Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts sagen. Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte den Sterbenden unter den heißesten Tränen. (Kursivierung I.R.)568
In den Wahlverwandtschaften heißt es nach Eduards Abreise: Es war für Ottilien ein schrecklicher Augenblick. Sie verstand es nicht, sie begriff es nicht; aber daß ihr Eduard auf geraume Zeit entrissen war, konnte sie fühlen. Charlotte fühlte den Zustand mit und ließ sie allein. Wir wagen nicht, ihren Schmerz, ihre Tränen zu schildern. Sie litt unendlich. Sie bat nur Gott, daß er ihr nur über diesen Tag weghelfen möchte; sie überstand den Tag und die Nacht, und als sie sich wiedergefunden, glaubte sie, ein anderes Wesen anzutreffen. (WV 346; Kursivierung I.R.)
Diese eindeutig auktorialen Erzählereinschübe in den Wahlverwandtschaften, die in ähnlicher Weise wie im Werther und meist unter Verwendung des »wir« eine Art Herausgeber-Ich simulieren, nehmen im zweiten Teil an Häufigkeit zu, so wie auch die längeren Reflexionen der Erzählerfigur vor allem zu Beginn des zweiten Teils dominanter werden, eine Dominanz, die dem Roman häufig als Schwerfälligkeit ausgelegt worden ist. Diese explizite und daher am eindeutigsten auktoriale Kennzeichnung der Erzählerstimme stellt jedoch nur eine Facette der komplexen Erzählerfigur in den Wahlverwandtschaften dar. Wie in den eben zitierten Beispielen zu Lotte und Ottilie kann man dabei auch einigen dieser Verwendungen eine Strategie unterlegen, in der gerade die Kürze wesentlicher Bestandteil ihrer Wirkung ist. Es ist, mit Stöcklein gesprochen, der Gestus des »Verschweigens«, der hier zusammenwirkt mit dem Eingriff des 567 Goethe, Die Leiden des jungen Werther, HA, Bd. 6, S. 7. 568 Ebda., S. 124.
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Erzählers, der sich aber gerade dadurch als teilnehmender Beobachter bemerkbar macht. Dieser rhetorische Gestus wird verschiedentlich wiederholt, so als sich Mittler nach Eduards Verschwinden auf die Suche nach ihm begibt: Ein wohlerhaltenes Vorwerk, mit einem reinlichen, bescheidenen Wohnhause, von Gärten umgeben, fiel ihm [Mittler] endlich in die Augen. Er vermutete, hier sei Eduards gegenwärtiger Aufenthalt, und er irrte nicht. Von diesem einsamen Freunde können wir soviel sagen, daß er sich im stillen dem Gefühl seiner Leidenschaft ganz überließ und dabei mancherlei Plane sich ausdachte, mancherlei Hoffnungen nährte. Er konnte sich nicht leugnen, daß er Ottilien hier zu sehen wünsche, daß er wünsche, sie hieher zu führen, zu locken, und was er sich sonst noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte. (WV 352)
Dieses Zusammenschnurren eines »Erzählers mit Leib«569 auf minimale Einschübe macht sich jedoch noch in einer anderen und sehr subtilen Verwendung des Präsens bemerkbar, die an einigen Stellen zum Einsatz kommt und immer wieder auf die Frage der Quelle der Äußerung zurückweist. Im folgenden Textausschnitt zeigt sich exemplarisch die Zuspitzung der Bildlichkeit, die mit dem Einsatz des Präsens verbunden ist: Vom Müller geführt, langten Charlotte und der Hauptmann auf einem bequemeren Pfade herunter. Man begrüßte sich, man erfreute und erquickte sich. Zurück wollte man denselben Weg nicht kehren, und Eduard schlug einen Felspfad auf der andern Seite des Baches vor, auf welchem die Teiche wieder zu Gesicht kamen, indem man ihn mit einiger Anstrengung zurücklegte. Nun durchstrich man abwechselndes Gehölz und erblickte nach dem Lande zu mancherlei Dörfer, Flecken, Meiereien mit ihren grünen und fruchtbaren Umgebungen; zunächst ein Vorwerk, das an der Höhe mitten im Holze gar vertraulich lag. Am schönsten zeigte sich der größte Reichtum der Gegend, vor- und rückwärts, auf der sanfterstiegenen Höhe, von da man zu einem lustigen Wäldchen gelangte und beim Heraustreten aus demselben sich auf dem Felsen dem Schlosse gegenüber befand. Wie froh waren sie, als sie daselbst gewissermaßen unvermutet ankamen! Sie hatten eine kleine Welt umgangen; sie standen auf dem Platze, wo das neue Gebäude hinkommen sollte, und sahen wieder in die Fenster ihrer Wohnung. Man stieg zur Mooshütte hinunter und saß zum erstenmal darin zu vieren. Nichts war natürlicher, als daß einstimmig der Wunsch ausgesprochen wurde, dieser heutige Weg, den sie langsam und und nicht ohne Beschwerlichkeit gemacht, möchte dergestalt 569 Vgl. den Begriff »Ich mit Leib« bei Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 124f. und 127ff. Stanzel nennt Felix Krull als prototypische Ausformung eines erzählenden »Ichs mit Leib«, nicht zuletzt, weil der Erzähler der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull seine »Leiblichkeit« konkret thematisiert, indem er auf seine Müdigkeit, die Anstrengungen des Aufzeichnens etc. verweise. Das »Ich mit Leib« ist im Sinne Stanzels das genaue Gegenteil eines auktorialen Erzählers, der in seiner prototypischen Ausformung ganz außerhalb der Welt der Figuren steht, vgl. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 123f. Wie dargelegt, wurde in den Wahlverwandtschaften der englische Begleiter des Lords aus dem zweiten Teil als Erzählerfigur gesehen, vgl. Stöcklein, Stil und Geist der ›Wahlverwandtschaften‹, S. 218f.
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geführt und eingerichtet werden, daß man ihn gesellig, schlendernd und mit Behaglichkeit zurücklegen könnte. Jedes tat Vorschläge, und man berechnete, daß der Weg, zu welchem sie mehrere Stunden gebraucht hatten, wohlgebahnt in einer Stunde zum Schloß zurückführen müßte. Schon legte man in Gedanken unterhalb der Mühle, wo der Bach in die Teiche fließt, eine wegverkürzende und die Landschaft zierende Brücke an, als Charlotte der erfindenden Einbildungskraft einigen Stillstand gebot, indem sie an die Kosten erinnerte, welche zu einem solchen Unternehmen erforderlich sein würden. (WV 293f.)
»[W]o der Bach in die Teiche fließt«: das Besondere an diesem NebensatzEinschluss ist, daß er sowohl als Beitrag zur Illusionierung eines präsentierenden Erzählers gelesen werden kann, der sich an die Verwendung der Erzählereinschübe wie »Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich« anschließt, als auch als Fragment einer Figurenrede. In beiden Fällen wird eine entscheidende Verlebendigung im Erzählfluss dieser Mikroerzählung bewirkt. Im ersten Fall, als Zeichen der Erzählerstimme gelesen, reiht der Einschub mit der finiten Verbform im Präsens die hier angedeutete Skizze von Mühle, Bach und Weganlage sozusagen in das Gesamtbild der im Verlaufe des Romans ausführlich geschilderten Park- und Gartenanlage mit den Teichen und ihrer Umgebung. In diesem Fall wendet sich der Erzähler als Zeichner direkt an die Leserin. Wir erinnern uns an Peter von Matt, der die detaillierte Beschreibung der Umgebung und der genauen Höhenverhältnisse als Aufforderung liest, diese nachzuzeichnen, ihnen gleichsam nachzugehen – man könnte also fragen: um selbst Teil der Skizze zu werden? »[W]o der Bach in die Teiche fließt« steht in diesem Sinn auf einer Ebene mit »Eduard – so nennen wir« und stellt über die Simulation eines persönlich anwesenden Erzählers eine direkte, überaus wirksame Verbindung auf der Achse Autor-Leser her. Die in diesem Fall stimm- und körperhafte Figur des Erzählers wendet gleichsam den Kopf aus dem Bild der Erzählung heraus und wendet sich direkt an uns. Diese Inszenierung ist also bühnenhaft in dem Sinn, daß sie die Faktoren Figuren-Erzähler-Autor-Leser ins Spiel bringt und diese dramaturgisch anordnet. Alle werden zu – gleichberechtigten – Personen desselben Bildes. Auch drängt sich die Lesart einer Doppelung oder Spiegelung der Verhältnisse Figuren-Erzähler und Autor-Leser geradezu auf, besonders unter Berücksichtigung der sonst für den Roman geltenden Spiegelungstechniken570. In jedem Fall bedeutet eine solche Lesart, daß die Perspektive, der Blick der 570 Vgl. dazu besonders Stefan Blessin, Erzählstruktur und Leserhandlung – Zur Theorie der literarischen Kommunikation am Beispiel von Goethes »Wahlverwandtschaften«, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1974 (= Probleme der Dichtung Bd. 15), S. 39–67, außerdem Ann-Theres Faets, »Überall nur eine Natur?« Studien über Natur und Kunst in Goethes Wahlverwandtschaften, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main Berlin Bern New York Paris Wien 1993 (= Europäische Hochschulschriften Reihe I Deutsche Sprache und Literatur Bd. 1385), S. 206–266.
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Rezipientin, des Lesers in der Erzählung mitinszeniert wird, der Schöpfer der Erzählung signalisiert: ich weiß, daß du mitschaust, mitdenkst. Die zweite Lesart, den Einschub als Figurenrede zu deuten, mag aus heutiger Sicht als die wahrscheinlichere erscheinen (die Frage stellt sich aber, ob dies nicht eine vorschnell getroffene nachmoderne Deutung wäre)571. In der Dimension der Verlebendigung (deutlich hörbar wird von den Figuren gesprochen) würde sich dadurch nichts ändern, die Perspektive verbliebe freilich ganz im Bereich der Figuren der Erzählung. Die Erzählung wäre damit »flacher« im Sinne der Fläche eines Bildes, auf das der Blick gelenkt wird, bzw. guckkastenartiger im Gegensatz zu dem epischen Theater, das die Einbeziehung der Leserfigur im ersten Fall schafft. Diese Verwendung des aoristischen Präsens im Nebensatz zieht sich durch den ganzen Roman, ist also als bewußt eingesetztes Mittel zu sehen. Ich gebe im Folgenden einige Beispiele, die diesen Gebrauch demonstrieren und in unterschiedlicher Weise die Frage nach der Perspektive, aus der hier gesprochen wird, aufwerfen. Das recht unvermittelte Auftauchen des Präsens in einem kurzen Nebensatz und zumeist im Indikativ ist dabei das Grundmuster dieser Anwendung; für alle Beispiele gilt, daß die Verwendung des Präsens nicht zwingend notwendig ist. Die Textausschnitte sind daher jeweils so lang gewählt, um den Einschub in dieser Eigenschaft erkennbar werden zu lassen: Charlotte, ohnehin gewohnt, die Gegenwart zu nutzen, fühlte sich, indem sie ihren Mann zufrieden sah, auch persönlich gefördert. Verschiedene häusliche Anstalten, die sie längst gewünscht, aber nicht recht einleiten können, wurden durch die Tätigkeit des Hauptmanns bewirkt. Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln bestanden, ward bereichert und Charlotte sowohl durch faßliche Bücher als durch Unterredung in den Stand gesetzt, ihr tätiges und hülfreiches Wesen öfter und wirksamer als bisher in Übung zu bringen. Da man auch die gewöhnlichen und dessen ungeachtet nur zu oft überraschenden 571 Im in der Einleitung zitierten Aufsatz »Über den »Stil« Flauberts« beschreibt Proust eine ganz ähnliche Verwendung: »Die Pducation sentimentale ist der lange Bericht eines ganzen Lebens, ohne daß die Leute gewissermaßen aktiv an der Handlung teilnehmen. Manchmal unterbricht das pass8 d8fini das Imperfekt, wird aber dann wie dieses etwas Unbestimmtes, das sich verlängert: »Er reiste. Er lernte die Melancholie der Dampfschiffe kennen … Er hatte noch andere Liebesverhältnisse« (»Il voyagea. Il connut la m8lancolie des paquebots … Il eut d’autres amours encore«), […]. Manchmal bewirkt auf der geneigten und ganz im Halbschatten liegenden Ebene der Imperfektformen das Präsens des Indikativs ein Geraderichten und läßt flüchtig eine volle Beleuchtung wirksam werden, die unter den vorüberziehenden Dingen eine dauerhaftere Wirklichkeit unterscheiden: »Sie wohnten in der Tiefe der Bretagne … Es war ein niedriges Haus mit einem Garten, der bis zum Gipfel des Hügels anstieg, von wo aus man das Meer erblickt« (»Ils habitaient le fond de la Bretagne … c’8tait une maison basse, avec un jardin montant jusqu’au haut de la colline, d’oF l’on d8couvre la mer«).« in: Gerd Haffmann und Franz Cavigelli (Hrsg.), Über Gustave Flaubert, Diogenes Verlag, Zürich 1979, S. 217f. (Kursivierung i.O.)
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Notfälle durchdachte, so wurde alles, was zur Rettung der Ertrunkenen nötig sein möchte, um so mehr angeschafft, als bei der Nähe so mancher Teiche, Gewässer und Wasserwerke öfters ein und der andere Unfall dieser Art vorkam. Diese Rubrik besorgte der Hauptmann sehr ausführlich, und Eduarden entschlüpfte die Bemerkung, daß ein solcher Fall in dem Leben seines Freundes auf die seltsamste Weise Epoche gemacht. Doch als dieser schwieg und einer traurigen Erinnerung auszuweichen schien, hielt Eduard gleichfalls an, so wie auch Charlotte, die nicht weniger im allgemeinen davon unterrichtet war, über jene Äußerungen hinausging. (WV 267f.) Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschäftigung fand, so war die Folge, daß sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte. Für sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille, freundliche Neigung in seinem Herzen. Gegen jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; daß sie es gegen ihn am meisten sei, das wollte seiner Selbstliebe scheinen. Nun war keine Frage: was für Speisen und wie er sie liebte, hatte sie schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Tee zu nehmen pflegte und was dergleichen mehr ist, entging ihr nicht. Besonders war sie sorgfältig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er eine übertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau, der es nicht luftig genug sein konnte, manchmal in Widerspruch geriet. (WV 289)
Immer wieder und in unterschiedlicher Stärke spielen diese Einschübe auf eine mögliche Figurenrede an: Es war Abend geworden. Eduard, Charlotte und der Hauptmann, welche die Fremden, ehe sie sich in den Wagen setzten, eine Strecke zu Fuß begleitet hatten, wurden einig, noch einen Spaziergang nach den Teichen zu machen. Ein Kahn war angekommen, den Eduard mit ansehnlichen Kosten aus der Ferne verschrieben hatte. Man wollte versuchen, ob er sich leicht bewegen und lenken lasse. Er war am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten Eichbäumen angebunden, auf die man schon bei künftigen Anlagen gerechnet hatte. Hier sollte ein Landungsplatz angebracht, unter den Bäumen ein architektonischer Ruhesitz aufgeführt werden, wonach diejenigen, die über den See fahren, zu steuern hätten. »Wo wird man denn nun drüben die Landung am besten anlegen?« fragte Eduard. »Ich sollte denken, bei meinen Platanen.« (WV 322f.)
Durch die dem Einschub gleich nachfolgende direkte Rede Eduards überwiegt vermutlich der Eindruck, daß »die über den See fahren« Teil eines Gesprächs ist, das gerade zwischen den Figuren geführt wird. Dennoch ist es bemerkenswert, daß immer wieder in dieser Weise Gesprächspartikel in die Erzählung eingeflochten werden. Entweder ist es also wiederholt die Einbindung direkter Rede der oder einer Figur, die über die Präsensverwendung hier erreicht wird, oder es ist immer wieder der Erzähler, der die Erzählung an sich bindet. In beiden Fällen zählt aber wiederum der Effekt der Annäherung, der durch diese Verwendung bewirkt wird. Auch hier geht es um eine verstärkte Einbindung des Lesers in das Geschehen, die Gedanken der Figuren, das Gebäude des Romans. Wie im Fall von »was dergleichen mehr ist« ist an etlichen Stellen die Unterlegung eines
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direkten Gesprächs zwischen den Figuren nicht möglich, was wieder zum ungewohnten Effekt der Deckung der Gedanken der Figur mit jenen des Erzählers führt: Beide Arbeiten aber, wie sie ineinander wirken konnten, waren schon angefangen, und hier kam ein junger Architekt, ein ehemaliger Zögling des Hauptmanns, sehr erwünscht, der teils mit Anstellung tüchtiger Meister, teils mit Verdingen der Arbeit, wo sichs tun ließ, die Sache förderte und dem Werke Sicherheit und Dauer versprach; wobei sich der Hauptmann im stillen freute, daß man seine Entfernung nicht fühlen würde. Denn er hatte den Grundsatz, aus einem übernommenen unvollendeten Geschäft nicht zu scheiden, bis er seine Stelle genugsam ersetzt sähe. Ja er verachtete diejenigen, die, um ihren Abgang fühlbar zu machen, erst noch Verwirrung in ihrem Kreise anrichten, indem sie als ungebildete Selbstler das zu zerstören wünschen, wobei sie nicht mehr fortwirken sollen. (WV 332f.) Der Hauptmann hatte unterdessen, je näher der Tag heranrückte, seine polizeilichen Einrichtungen getroffen, die er für so nötig hielt, wenn eine Masse Menschen zusammenberufen oder gelockt wird. Ja sogar hatte er wegen des Bettelns und andrer Unbequemlichkeiten, wodurch die Anmut eines Festes gestört wird, durchaus Vorsorge genommen. (WV 334)
In »[…] was dergleichen mehr ist« scheint der Eingriff des Erzählers am deutlichsten, die Stelle ist so innerhalb der hier zitierten Textstellen die unauffälligste. Hier würde sogar umgekehrt die Verwendung des Präteritums schwerfällig wirken, wie auch im folgenden Beispiel: Das persönliche Verhältnis Ottiliens zum Architekten war ganz rein und unbefangen. Seine angenehme und tätige Gegenwart hatte sie wie die Nähe eines ältern Bruders unterhalten und erfreut. Ihre Empfindungen für ihn blieben auf der ruhigen, leidenschaftslosen Oberfläche der Blutsverwandtschaft; denn in ihrem Herzen war kein Raum mehr ; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedrängt ausgefüllt, und nur die Gottheit, die alles durchdringt, konnte dieses Herz zugleich mit ihm besitzen. (WV 389f.)
Hier verbietet sich die Verwendung des Präteritums aus logischen Gründen. So fällt die Wahl auf eine Relativsatz-Konstruktion mit dem finiten Verb im Präsens, was aber nicht selbstverständlich ist. Es könnte ja auch heißen »die alles durchdringende Gottheit«, ohne daß dies dem Goetheschen Duktus widerspräche. Er wählt jedoch den Nebensatz und so steht dem »ganz gedrängt ausgefüllten« Herzen »durchdringt« als finites Verb gegenüber. Es ist naheliegend, dies im Zusammenhang der Wahlverwandtschaften als bewußt gewählte Formel zu interpretieren. Die stets geltende Präsenz einer übergeordneten Macht wird so nicht nur behauptet, sondern sehr aktiv in Szene gesetzt. Diese hat dadurch wie selbstverständlich am Leben der Figuren Anteil, wie uns der Erzähler hier glaubhaft versichert. Die alles durchdringende Gestaltung des Erzählers der Wahlverwandtschaften scheint jedenfalls auch aus der Präsensverwendung ei-
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niger dieser Nebensätze zu sprechen, denn, ob Zufall oder nicht, werfen sie wichtige Motive, die die Passagen im szenischen Präsens als Untergangsmomente beleuchten, schon voraus. »Die über den See fahren« und »wenn eine Masse Menschen zusammenberufen oder -gelockt wird« finden ihre Entsprechung in den beiden Katastrophen am See, sodaß sich die angeschafften Hilfsmittel: »was zur Rettung der Ertrunkenen nötig sein möchte«, als nutzlos erweisen; auf eines der zentralsten Motive aber verweist die Ablehnung des Hauptmanns der »Selbstler«. Sowenig die Stelle hier auf Eduard gemünzt ist, so sehr bestimmt besonders sein zerstörerischer Egoismus fast alle negativen Entwicklungen der Wahlverwandtschaften. Die Frage des Charakters und des persönlichen Verhaltens, die hier angesprochen wird, zeigt sich aus der Sicht der Szenen im historischen Präsens als die zentralste Problematik des Romans. Die Erzählerkommentare im aoristischen Präsens inszenieren ein Bemühen: es geht um die Erfassung der Vorfälle, die versuchterweise in eine Erklärung eingebettet werden. Diese Erklärung aber ist brüchig, und doch scheinbar die einzig zur Verfügung stehende, kurz: sie ist von Menschen gemacht. Ähnlich wie bei Schaeders Interpretation der Religiosität im Roman, die vor allem der Illustration menschlicher Verhaltensweise in einer Situation dient, die den Verstand übersteigt und die Individuen als auf ihren Glauben zurückgeworfen zeigt, klingt der mitunter geradezu verzweifelte Versuch durch, eine Erklärung zu finden. Unterschwellig gemahnt dies an die komischen Züge Mittlers, dessen Erklärungs- und Handlungsansätze so eindeutig fehlgehen. Dies findet sich gespiegelt in der Art und Weise, wie die Erzählereinschübe »Wahrheiten« vermitteln, die auf den ersten Blick so etwas wie eine allgemein nachvollziehbare, gleichsam wissenschaftliche Beweisbarkeit liefern wollen, auf den zweiten Blick aber nicht standhalten. Die Erzählerkommentare bilden so auf den ersten Blick ein Gegengewicht zur Affektivität der Figuren und deren Handlungen, als sollten sie sie faßbar machen, in eine gültige, gleichsam verwertbare Form bringen. Gleichzeitig zeigt der Roman, daß es gerade die Normen (repräsentiert z. B. durch Mittler) sind, die Schaden bringen. Sie bieten keinen Ausweg, deswegen geht es so sehr um die Reflexionen der Figuren darüber, was sie tun sollen, diese Überlegensprozesse sind damit die Handlung. Die Figur des Mittler zeigt einen ins Groteske übersteigerten Berater, der versucht, alles im Griff zu behalten. Die Melancholie dieser Figur aber, ihre Hilflosigkeit, findet sich wieder im Erzähler, der versucht, das Geschehen mit höheren Gesetzmäßigkeiten und wissenschaftlichen Versuchsanordnungen zu erklären, ohne daß der Boden wirklich fester wird, wie die angeführten Beispiele des »unsicheren« Erzählers zeigen. Der Vergleich mit den Naturnotwendigkeiten enthält so gerade noch den Trost, daß auch menschliches (Fehl)verhalten Teil der natürlichen Gegebenheiten ist, auf diese Weise aber verbietet sich das moralische Urteil und weicht der bloßen Darstellung im Sinne eines Festhaltens. Im Gegensatz zu Mittler also, der sehr
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wohl moralisch urteilt, hält die Figur des Erzählers Urteile zurück, ja es ist beinahe, als wollte sie im Erfinden eben von »Naturgesetzen« die Charaktere vor Urteilen schützen. In diesem Sinn ist der auktoriale Erzähler der Wahlverwandtschaften sehr wohl ein distanzierter und an vielen Stellen auch ironischer Beobachter, aber da sich seine Distanz aus Mitfühlen, Empathie bestimmt, kein entfernter Beurteiler, keine übergeordnete Instanz, sondern eine, die gleichsam aus der Nähe des Wohlwollens zu fassen bemüht ist, was es zu fassen gilt: die bestürzende Geradlinigkeit eines schicksalhaften Verlaufs und das Bemühen der Charaktere, diesen zu ordnen und ihm beizukommen. Nicht umsonst ist wiederholt von »unsern Freunden« die Rede, die Position, die uns in der behutsamen Erzählerfigur nahegelegt wird, gemahnt an eine mitfühlende, aber hilflose Haltung, die Freunde Freunden gegenüber einzunehmen gezwungen sind, wenn es um Gefühlskonflikte geht. Daneben ist aber noch kurz auf die Dimension der Zeitlichkeit dieses Erzählers hinzuweisen. Die analysierten Beispiele zeigen, daß das aoristische Präsens in jener Verwendungsweise im Roman immer wiederkehrt, die man heute als gnomisches Präsens bezeichnet und der in erster Linie die Funktion einer Distanzierung und Bezeichnung einer eindeutigen Erzählhaltung zugeschrieben wird. Im spezifischen inhaltlichen und erzähltechnischen Zusammenhang der Wahlverwandtschaften wird diese Konnotation der Distanzierung stark unterwandert und ist daher differenzierter zu interpretieren. Vor allem ist herauszustreichen, daß die beiden Verwendungsweisen des Präsens in den Wahlverwandschaften, aoristisches und szenisches Präsens, nur teilweise als Gegensatz zu betrachten sind. Dadurch, daß schon das Präsens der Erzählerkommentare sozusagen in verschiedenen Schattierungen vorliegt und immer wieder imstande ist, mehr emotionale Anbindung als Entfernung zu signalisieren, kommt es in eine ähnliche Rolle wie das szenische Präsens im Roman, das einerseits für das Bemühen steht, die Vorfälle möglichst kommentar- und emotionslos zu erfassen, andererseits aber geradezu als formale Chiffre für die Unmöglichkeit der Distanzierung gelesen werden muß. Denn schon dadurch, daß es die Präteritumerzählung unterbricht, wirkt das historische Präsens dynamisierend. Diese Belebung setzt sich aber vor allem auf anderen Ebenen wie der zeitlichen bzw. räumlichen (zoom-Effekt) und emotionalen fort, wenn es in verschiedenen Funktionen eingesetzt wird. Ich möchte daher im folgenden Kapitel die Kontexte des Einsatzes des szenischen Präsens näher beleuchten, um zu zeigen, daß hier ähnliche Strategien zum Tragen kommen wie beim aoristischen Präsens, wodurch diese beiden Verwendungsweisen stark miteinander verbunden sind. Sie schaffen ein subtiles Beziehungsgeflecht, innerhalb dessen sich die konnotativen Wirkungen gegenseitig beeinflussen und bedingen. Es ist also die gleichzeitige Anwesenheit beider Verwendungsweisen im Roman, die diesen so außergewöhnlich komplex werden lassen. Franz K. Stanzel beschreibt in der Theorie des
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Erzählens die Tendenz im englischen Roman des 19. Jahrhunderts, daß ein zu Beginn klar auktorialer Erzähler sich an einem gewissen Punkt der Handlung als eine anwesende Figur des Personenkreises der Erzählung zu erkennen gibt. Stanzel bezeichnet dies als »Ansatz zu einer Bildungs- und Entwicklungsgeschichte« des auktorialen Erzählers, der nunmehr verstärkt versucht, seiner Persönlichkeit auch physische Existenz zu verleihen und als Gestalt von Fleisch und Blut aufzutreten572. Damit aber, so Stanzel, geht eine entscheidende Dimensionenveränderung einher : Denn die Andeutung einer solchen Entwicklungsgeschichte macht bewußt, was sonst völlig unbeachtet bliebe, nämlich daß ein auktorialer Erzähler als Person in der Regel nicht am Ablauf der Zeit teilhat, sondern von einem fixierten Punkt der Zeit aus mit einer fixierten Persönlichkeit, d. h. oft auch ohne persönliche Erinnerungen an eine eigene Vergangenheit, die Geschichte seiner Figuren erzählt. In der Ich-Erzählsituation, so wie sie in den quasi-autobiographischen Ich-Romanen David Copperfield, Der grüne Heinrich u. a. gestaltet ist, wird gerade die Verknüpfung des Erzählaktes und der persönlichen Erfahrung des Erzählers zum Hauptanliegen des Romans.573
Wenn wir also in den Wahlverwandtschaften die Anlage zu einem solchen persönlich anwesenden Erzähler vor uns haben, ist damit die ganz entscheidende Dimension der persönlichen zeitlichen Anbindung ins Spiel gebracht, die den Erzähler, so kurz und knapp er als Persona stilisiert sein mag, zu einer geschichtlichen Figur, gleich den anderen Figuren der Wahlverwandtschaften, macht. Ähnlich wie der Gestus der Diskretion der Eingangsformel so nennen wir die wahren Personen schützen möchte und damit den Effekt einer wirksamen Beglaubigung ihrer Existenz hervorruft (und zwar nicht nur im Sinne eines »sie leben noch, und deswegen ist Diskretion angebracht«, sondern noch stärker : »sie leben hier und jetzt, sie könnten dein Nachbar sein, daher darf ich die Namen nicht nennen«), machen die in den Erzählfluß eingreifenden Präsenseinschübe hellhörig. Sie lenken die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf die Tatsache, daß zu einer so aktuellen Äußerung ja eine Quelle vorhanden sein muß und daß diese zeitlich verankert ist. Der auktoriale Erzähler, der also wie beiläufig selbst die Gedanken seiner Figuren in einer Art von Kommentar wiedergibt, oder umgekehrt: den Kommentar zu einem Teil der Reflexionen der Figur macht, bewegt sich auf einem höchst schillernden Zeitniveau – und dieses spiegelt sich im szenischen Präsens der Wahlverwandtschaften wider. Das Präsens als Element zwischen Aktualisierung und Zeitlosigkeit ist demnach auch hier das Thema.
572 Vgl. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 261ff. 573 Ebda., S. 262f.
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IV. 3. Szenisches Präsens – Werther und Wahlverwandtschaften IV. 3.1. Romangestaltung um 1800: »Theatrales Erzählen« nach Martin Huber Die Nähe zum Drama, die für die Zeitgenossen einen wichtigen Wesenszug des Romans als Gattung ausmacht, wie Solgers Darstellung der Wahlverwandtschaften gezeigt hat, gehört zu jenen Elementen, die später, ähnlich wie Benjamins Freilegung der mythischen Bezüge, erst wieder rekonstruiert werden müssen. Als Zeichen dafür, daß der Ausdruck dieser Nähe zum Drama gerade im Wandel begriffen ist, kann eine kurze Äußerung aus einem Brief des Dichters Theodor Körner gelesen werden. Sie bezieht sich auf den im negativen Sinn theatralischen Handlungsreichtum, der sich aus jener Tradition des Barockromans herleitet, dessen komplizierte äußere Verwicklungen nunmehr in die Formel des »Romanhaften« gefaßt werden: Was für schiefe Urteile habe ich schon über die Wahlverwandtschaften hören müssen. Unausstehlich ist’s, daß man den meisten Leuten nicht deutlich machen kann, daß es nicht auf die Überraschung ankomme, und daß im Roman das Romanhafte gerade das ekelhafteste sei.574
Vor dem Hintergrund des Formwandels vom barocken zum psychologischen Roman verändert sich parallel zur Entschlackung der Handlung und zur Konzentration auf innere seelische Konflikte der Darstellungsmodus, und vordergründig wird dem »nüchternen« epischen Bericht nun mehr Platz eingeräumt bzw. etablieren sich mit den neuen Formen des Briefromans oder der Bekenntnisliteratur andere Arten der Präsentation; so schlägt Körner hier die Wahlverwandtschaften klarerweise der neueren Romangattung zu. Wie wir gesehen haben, rühmen die Zeitgenossen Goethes »klaren« Stil des Berichts, und Germaine de Sta[l beklagt anhand dieses Romans die Kopflastigkeit des deutschen Romans überhaupt, der aus ihrer Sicht die zum Mitfühlen notwendigen theatral(isch)en Elemente zu gering schätzt (vgl. oben Kap. III. 3.2.2.). Das meint in erster Linie eine lebhafte Handlungsentwicklung, im weiteren eine konsequent durchgeführte Vorbereitung darauf, »im Herzen« das Leid der Protagonisten »mitempfinden« zu können; das Werk stellt für sie »eine seltsame Mischung von gemächlichem Leben und stürmischen Gefühlen« dar575. Eine allzu realistische Schilderung der alltäglichen Lebensumstände der Protagonisten nämlich, wie sie die Wahlverwandtschaften für de Sta[l bieten, werden von ihr 574 Brief von Theodor Körner an Christian Gottfried, Minna und Emma Körner vom 26. November 1809, zit. nach Härtl, Dokumentation, S. 82. 575 Vgl. Madame de Sta[l, Über Deutschland, Vollständige Ausgabe, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1985, S. 447.
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nicht nur als langweilig empfunden, sondern stehen vor allem einer für sie zentralen Forderung an die Romangattung an sich im Weg: Man findet zwar in diesem Werke eine Menge Gedanken und scharfsinnige Beobachtungen, aber das Interesse stockt auch oft, und man findet im Romane fast so viele Lücken als im alltäglichen Leben des Menschen selbst. Doch darf ein Roman nicht Memoiren gleichen; alles fesselt in dem, was wirklich dagewesen, aber Dichtung kann nur wie Wahrheit wirken, indem sie die Wahrheit übertrifft; indem sie nämlich mehr Kraft, mehr Einheit, mehr Handlung als die Wirklichkeit darlegt.576
Mit den kurzen Zitaten Körners und de Sta[ls sei darauf hingedeutet, wie sehr die Diskussion um die Romangattung vor dem Horizont ganz bestimmter Kompositionsprinzipien und -elemente stattfindet. Und zwar verweist de Sta[ls konkrete Forderung nach fiktiver Überhöhung und in diesem Sinn artifizieller Umgestaltung der »Wirklichkeit« zum Zwecke der Rührung der Leser letztlich mehr auf Elemente des barocken Dramas als des barocken Romans, zumindest jenen in der Tradition von Grimmelshausens Simplicissimus. Als die Romangattung, von dem sich dieser und später der psychologische Roman abheben, muß die Form des Ritter- oder Räuberromans gesehen werden, der auch um 1800 noch den »Massenroman« darstellt und inhaltlich wie kompositorisch mit seiner stoffreichen Handlung und komplizierten Verwicklungen wesentlich barocke Dramenelemente konserviert577. Es ist also diese Tradition, an der sich die Romandefinition auch zu diesem Zeitpunkt noch reibt, da ihre Produkte noch stark im Umlauf sind. Diese extreme Verkürzung der zeitgenössischen Auffassung des Romanbegriffs soll nur den größeren Zusammenhang andeuten, in dem die Untersuchung der »neuen« Romangestaltung zu sehen ist. Sie soll aber nicht nur auf den Bruch, sondern auch auf eine Konstante in diesem Bruch hinweisen. Denn der psychologische Roman verzichtet zwar inhaltlich auf »Haupt- und Staatsaktionen« und die ausschließliche Darstellung der Leidensstationen gekrönter Häupter, bewahrt aber dennoch in der Form mehr dramatische bzw. dramatisierende Elemente, als für heutige Lesegewohnheiten auf den ersten Blick erkennbar ist. Neu ist also vor allem, daß es das Innenleben der Charaktere ist, das nunmehr thematisiert und in der Weise gestaltet wird, daß man von einer bühnenartigen Darstellung sprechen kann. Das ist die Kernthese von Martin Hubers Studie Der Text als Bühne zur Inszenierung von Gefühlen im Roman um 1800. Huber demonstriert an Werken 576 Ebda., S. 446. 577 Bzw. muß man aufgrund der neuen, verbilligten Verbreitungsmöglichkeiten, die den Buchmarkt in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts rasch veränderten, von einem Wiederaufleben des Schauer- und Abenteuerromans sprechen, vgl. Karlheinz Schulz, Goethe Eine Biographie in 16 Kapiteln, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, S. 289f.
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aus den frühen Schaffensperioden vor allem Goethes und Jean Pauls im Detail, in welcher Weise die Schaffung von Körper-, Bewegungs- und Naturszenarien den Text zur »Bühne« machen. Wie werden Gefühle zu Literatur? fragt Huber und untersucht dies vor dem Hintergrund der Verquickung und des Austausches grundlegender Kompositionselemente zwischen Roman und Drama um 1800: der Roman wird theatral konzipiert (und damit aufgewertet, wie Huber betont), das Bühnenstück wandelt sich zunehmend zum Lesedrama, eine Entwicklung, die man laut Huber etwa beispielhaft anhand der Gegenüberstellung von Schillers Räubern im Unterschied zu Maria Stuart zeigen kann578. Für Huber geht es dabei vor allem darum, bestimmte Traditionen aufzuzeigen, die dieser gegenseitige Formentausch für beide Gattungen im weiteren bewirkt hat: für das Drama z. B. wird besonders die Abwertung von unmittelbar körperlichen Elementen und die damit einhergehende Aufwertung des Diskursiven wirksam für das gesamte 19. Jahrhundert. Dieser nunmehr »literarisierte Theaterbegriff« sorge, so Huber, in der Folge für die weitgehende Ausgrenzung eines Stückes wie Büchners Woyzeck, da es sich einer den Zeitgenossen zu radikalen Körpersprache bediene – die Inszenierung von Körperlichem bestimme aber entscheidend den Gefühlsdiskurs, der im Roman neu entsteht579. Huber definiert dabei »Theater« als sehr umfassendes Konzept, als »paradigmatisches Kulturmodell zur literarischen Beschreibung und Erklärung von Welt«580. Der Bereich von Theatermetaphorik und Theatermotivik bei einzelnen Autoren ist nach Huber wohldokumentiert, ebenso der Niederschlag der am Ende des 18. Jahrhunderts lebendigen sozialen wie literarischen Auseindersetzung mit der Theaterthematik in Gattungen wie dem Brief- und besonders dem Bildungsroman581. Dies steht für Huber vor dem Hintergrund einer sogar schichtenübergreifenden Begeisterung für das Theater als Ort der Begegnung, des Austauschs und der sozialen wie intellektuellen Kommunikation, konkret manifestiert in der Gründung unzähliger Laienspielgruppen und empfindsamer Privattheater, und weist das Schauspiel als zentrale Denk- und Vorstellungskategorie um 1800 aus. Speziell das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts, so Huber, stehe im Zeichen einer tatsächlichen »Theatromanie«, er verweist auf die Vielzahl von verschiedenen Gattungen, die in dieser Zeit die Spielpläne bestimmen und die lebhafte Aufnahme, die neben Lessing, Schiller und Goethe den Trivialautoren wie Kotzebue und Iffland galt582. – Eine Anleitung für Amateur578 579 580 581 582
Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 10, Anm. 1. Vgl. ebda., Anm. 3. Vgl. ebda, S. 27. Vgl. ebda., S. 26f. Vgl. ebda., S. 28. Huber verweist darauf, daß die Auswertung von Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts ein breites Spektrum an Gattungen und theatralen Formen ergibt und listet das lateinische Passionspiel, das Puppenspiel, die französische Oper und das Singspiel
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schaupieler von 1795, das Taschenbuch für Liebhaber des Privattheaters, kann so bereits auf 20 Jahre Privattheater zurückblicken und schildert die begeisterte Anteilnahme auch der niederen Stände an der Förderung der schönen Künste: eindringliche Bilder beschwören die Rollen studierende Köchin, die der Herrschaft das Essen verdirbt, den Friseur, der, vom Mäzenatentum träumend, sich seines Standes zu schämen beginnt583. Auf diese Weise, so Huber, gibt es auch Stimmen zu Wilhelm Meisters Lehrjahre, die dessen ersten Teil als Reaktion auf die Allgegenwart des Theatersujets sehen und in dieser Themenwahl als wenig originell kritisieren584. Nicht zuletzt darauf sei es zurückzuführen, daß Goethe seinen Helden im Verlauf des Romans in kritische Distanz zum Theater bringt und in andere Lebenskreise einführt585. Was über den sozialen und persönlich-intellektuellen Faktor hinaus aber für Huber ausschlaggebend ist an der »Theater«-Begeisterung um 1800, ist die Möglichkeit eines sowohl sinnen- als sinnreichen Zugangs zur Welt, der nach der Verunsicherung durch die kopernikanische Wende, deren Folgen durch Kant ins Bewußtsein dringen, ein Instrument zur Bewältigung dieser Verunsicherung an die Hand gibt: Genuin literaturwissenschaftliche Erklärungen der dominanten Rolle, die Theater für die literarische Fiktionsbildung einnimmt, scheinen mir weniger mit motivgeschichtlichen oder gattungstheoretischen Ansätzen zu gewinnen zu sein als vielmehr im Blick auf die Integration von ›Theater‹ oder ›theatralen Elementen‹ in nichtdramatische Texte als ein spezifisches Medium zur literarischen Konstitution von Sinn.586
»Theater« als Konzept eines Weltzugangs, so Huber, vermittle also eine ganz besondere Erkenntnisleistung, und den spezifischen literarischen Ausformun-
583 584
585 586
bis zum Schäferspiel auf, außerdem die Fastnachtsschwänke, Ballett und Pantomime. Dies entspreche den Bedürfnissen des Theaterpublikums nach dem Theater als einem sozialen Treffpunkt »der gemischten Unterhaltung und Zerstreuung«: »Ein Theaterabend im 18. Jahrhundert hatte […] mehr mit der Spektakelästhetik eines gesellschaftlichen ›Events‹ am Ende des 20. Jahrhunderts gemeinsam, als uns das Bildungsprogramm des 19. Jahrhunderts gemeinhin glauben läßt. Theateraufführungen waren ›Nummernprogramme‹, die aus unterschiedlichen, wohl aufeinander abgestimmten Einzelteilen bestanden und das gesprochene Wort nie alleine ohne die Begleitung von Musik und Tanz auf die Bühne gestellt hätten […].« Ebda. Vgl. ebda., S. 30. Vgl. ebda., S. 25: Huber zitiert einen Brief des Breslauer Philosophieprofessors und Publizisten Christian Garve, der seiner Verwunderung darüber Ausdruck gibt, daß gerade Goethe, »ein Mann, der die Welt im Großen kennt«, sich auf einen Gegenstand kapriziert, der »in Romanen schon so oft ist geschildert worden«. Keine Gruppe sei »häufiger abkonterfeyt, keine Leidenschaft öfter zum Triebrad einer romanhaften Geschichte gemacht worden, als die Schauspieler und die Liebe zu Schauspielern«. Eine Bekannte, heißt es bei Garve, sei über der weitschweifigen Entwicklung des Puppenspiels eingeschlafen, wie könne Goethe glauben, den »nicht in ihn verliebten Lesern« ginge es besser? Vgl. ebda., S. 26. Ebda., S. 27.
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gen dieser Erkenntnisleistung geht Huber nach. Auch hier gibt es für ihn eine wichtige Prämisse, und zwar die Rolle der Äußerung von Emotionen, die die Wirkungsgeschichte des Theaters im 18. Jahrhundert prägen. Zeitgenössische Berichte zeigen, so Huber, wie häufig heftige Reaktionen von seiten der Zuschauer bis hin zum lauten Dazwischenrufen sind, etwa jene eines Wiener Hofschaupielers, der schildert, wie er beim Anblick des dolchziehenden Meuchelmörders nicht mehr an sich halten kann und »laut aufschrie: ›Halt er ein! es ist ja sein Onkel‹!«587. Die Reaktionen der anderen Zuschauer sind ihrerseits anteilnehmend, nicht nur Damen, auch »Männer von Gefühl und Würde« loben die Aufmerksamkeit, mit der der junge Mann das Schaupiel verfolgt und trösten ihn in seiner tränenreichen Aufregung. Solche Schilderungen, so Huber, gehören zwar zu den Höhepunkten der Überlieferung jener Emotionalität, in deren Kontext er seine Untersuchung stellt. Trotzdem seien Gefühlsausbrüche im Theater nicht die Ausnahme; Aufspringen, Schluchzen, Weinen bis hin zu Ohnmachten stellen das Repertoire der Reaktionen der Zuschauer dar. Die Berichte seien zwar vor nachträglicher Stilisierung nicht gefeit: Dennoch zeigen die Rezeptionsdokumente, daß Theater in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts soziale Praxis ist, die neben Bewegung und Sprache auf der Bühne in selbstverständlicher Weise auch Emotionen und damit den Körper des Zuschauers einschließt. Zu den Wahrnehmungen auf der Bühne gehört auf der anderen Seite die Beobachtung des eigenen Körpers und des Körperausdrucks und der Handlungen der Nachbarn.588
Den Inszenierungen von Körper und Körperwahrnehmungen im Roman gilt in der Folge das besondere Augenmerk Hubers, doch geht es ihm nicht darum, diese als plane Spiegelung sozialer Gepflogenheiten zu präsentieren. Die »gefühls-, körper- und wahrnehmungsbetonte Theaterpraxis« stelle zwar ein Faktum der Zeit dar, die Attraktivität von »Theater« für die nicht-dramatische Literatur erkläre sich darüberhinaus aber nur in ihrer Inbeziehungsetzung zu den zwei prominenten Problemfeldern der Folgen der Aufklärung: jenem der »Zersplitterung und des Zusammenwirkens der sinnlichen Wahrnehmung« und jenem der Kritik an der »objektiven Erkenntnisfähigkeit« des Menschen589. Nach Hubers Auffassung ist hier also die zentrale Aufgabe des sinnlichen »Theater«Konzepts anzusetzen, seine Sinnstiftung soll zu einer neuen »Zusammensetzung« des Menschen beitragen, der im Zuge der Aufklärung die Möglichkeit, über seine Wahrnehmung zu gesicherter Erkenntnis zu gelangen, in Frage stellen mußte: 587 Vgl. ebda., S. 29. Es geht um eine Aufführung des Kaufmann von London von George Lillo 1755 in Magdeburg, der Hofschauspieler ist Johann H. F. Müller. 588 Ebda., S. 29f. 589 Vgl. ebda., S. 31.
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Der Prozeß der Aufklärung ist wesentlich an die Betonung sinnlicher Wahrnehmung gekoppelt. Insbesondere das Auge und dessen Beobachtungskunst wird im Licht der Aufklärung zum Scharnier zwischen Natur und Mensch. Aufklärung heißt, seine Sinne gebrauchen und vor allem, die Augen öffnen. Im Einflußbereich einer vermehrt auf Beobachtung und Experiment gestützten empirischen Naturwissenschaft hat sich dabei auch das Wissen vom Menschen verändert. Die anthropologische Ausgangsfrage »Was ist der Mensch?« bedeutet seit dem 17. Jahrhundert immer mehr »Wie funktioniert der Mensch?« Neben der Physiologie interessieren besonders die spezifischen Fähigkeiten des Menschen, mit seiner Außenwelt in Kontakt zu treten: also seine Körpersinne. Daraus entsteht die bis heute noch anhaltende Debatte über die Hierarchisierung dieser Sinne in der philosophischen Selbstbeschreibung des Menschen. Für das 18. Jahrhundert stellt sich aber zunächst das Problem, wie aus den unterschiedlichen Wahrnehmungen wieder ein ›ganzer‹ Mensch zusammengefügt werden soll. Im Bereich der Literatur zeigt sich die Diskussion jenes Problemfeldes unter anderem an neuen anthropologischen Sichtweisen auf den Menschen.590
Exkurs: Die Bedeutung der Sinne im Diskurs der Aufklärung591 Die aufklärerische Hierarchisierung der Sinne besteht in der genauen Festlegung einer Skala an Funktionalität. Dem Auge kommt dabei im Sinne eines Instruments der Erkenntnis die wichtigste Rolle zu, ihm nachgeordnet werden das Ohr, der Tastsinn, dann der Geschmacks- und schließlich der Geruchssinn. In absteigender Reihenfolge werden die Sinne nach ihrer Kapazität bewertet, Aufschluß über die Umwelt und deren Beschaffenheit zu geben. In einer umfassenden Studie wird die Sinnesdiskussion des 18. Jahrhunderts auch von Peter Utz beleuchtet, er verweist auf die Anordnung, wie sie Kant am Ende des Jahrhunderts in seinen Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik von 1798 formuliert. Diese sei hier kurz zitiert: Der Sinn des Gesichts ist, wenn gleich nicht unentbehrlicher als der des Gehörs, doch der edelste; weil er sich unter allen am meisten von dem der Betastung, als der eingeschränktesten Bedingung der Wahrnehmungen, entfernt, und nicht allein die größte Sphäre derselben im Raume enthält, sondern auch sein Organ am wenigsten affiziert fühlt (weil es sonst nicht bloßes Sehen sein würde), hiemit also einer reinen Anschauung (der unmittelbaren Vorstellung des gegebenen Objekts ohne beigemischte merkliche Empfindung) näher kommt.592
Utz demonstriert anhand einer eingehenden Analyse aufklärerischer Schriften aus Philosophie, Medizin und Literatur die Vielzahl der konkurrierenden Mo590 Ebda., S. 31f. 591 Das folgende nach Huber, Der Text als Bühne, S. 31–39, und Peter Utz, Das Auge und das Ohr im Text – Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, Wilhelm Fink Verlag, München 1990, S. 19–38. 592 Zit. nach Peter Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 24.
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delle, die in bezug auf die Hierarchisierung der Sinne den Diskurs der Aufklärung bestimmen. Der Bevorzugung des Auges werden dabei vor allem in der Kunstbetrachtung andere Systeme entgegengestellt. In der Diskussion um die Bildhauerkunst wird der Tastsinn aufgewertet. Herder, dessen Ideen den frühen Goethe beeinflussen, plädiert in Vom Ursprung der Sprache (1771) für das Ohr als Vermittler zwischen den Sinnen und bezeichnet es als »die eigentliche Thür zur Seele«593. In der Ursprünglichkeit und Intensität seiner Wahrnehmung sei es imstande, die Sprache der Natur zu vernehmen, der Mensch »als ein horchendes, merkendes Geschöpf zur Sprache natürlich gebildet«594 – wie wichtig die Erfassung der »Sprache der Natur« für Goethe ist, haben wir bei Grete Schaeder gesehen (siehe Kap. III. 2.2.1.). Für Herder stellt das Ohr eine direkte Verbindung zwischen Natur und Seele her, das ist seine entscheidende Leistung. Die Zuschreibung dieser Qualitäten verweist auch auf ein Unbehagen, das die aufklärerische Bevorzugung des Auges ausgelöst hat, nämlich die Empfindung von dessen »Kälte«. Herders Beschreibung der Bedeutung des Gehörs, so Utz, gibt daher Aufschluß über die kontroverse Natur der Sinnendiskussion im 18. Jahrhundert und über deren wichtigstes Manko: Herders Aufwertung des Ohrs ist damit schon die kritische Reaktion auf eines der fundamentalen Defizite des Sinnendiskurses […]: den Verlust an Wahrnehmungstotalität. Gleichzeitig ist sie aber auch, wie sein Plädoyer für den Tastsinn im Aufsatz über Plastik, eine Polemik gegen das Auge. […] Im vierten der kritischen Wälder wird die »Macht des Gehörs« über die anderen Sinne unmißverständlich expliziert: »Das Auge, die äußere Wache der Seele, bleibt immer ein kalter Beobachter ; es sieht viele Gegenstände, klar, deutlich, aber kalt und wie von Außen. Das Gefühl, ein starker gründlicher Naturforscher unter den Sinnen, gibt die richtigsten, gewissesten und gleichsam vollständigsten Ideen: es ist sehr mächtig, um die Leidenschaft zu erregen und mit dieser vereint, übertrieben; immer aber bleibt noch sein Gefühl außen. […] Das Gehör allein, ist der Innigste, der Tiefste der Sinne. Nicht so deutlich, wie das Auge ist es auch nicht so kalt; nicht so gründlich wie das Gefühl ist es auch nicht so grob; aber es ist so der Empfindung am nächsten, wie das Auge den Ideen und das Gefühl der Einbildungskraft. Die Natur selbst hat diese Nahheit bestätigt, da sie keinen Weg zur Seele besser wußte, als das Ohr und – Sprache.«595
Die zueinander in Konkurrenz gebrachten Sinne, so Utz, haben also eine fatale Auswirkung: die Zersplitterung der Wahrnehmung und damit die Dekomposition des Selbstgefühls. Darauf nimmt auch Martin Huber Bezug: So zeigt sich Herders Erklärungsmodell nicht zuletzt auch als Reaktion auf den unauflöslichen Widerspruch am Ende des sensualistischen Aufklärungsprozesses: Das aufgeklärte Subjekt ist gerade in dem Bereich seiner genuinen Beziehung zur Welt, der 593 Vgl. ebda., S. 23. 594 So Herder, zit. nach Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 23. 595 Ebda., S. 23f.
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Wahrnehmung, in seine fünf Sinne zersplittert. Am Ende der Aufklärung erweist sich der Mensch also ganz und gar nicht als unteilbares Individuum, sondern steht vor dem Problem, sein ›Ich‹ in der Diskussion der Sinneshierarchie selbst aushandeln zu müssen.596
Der Prozeß der Auflösung der Wahrnehmungstotalität in der Diskussion um die Leistungen der Sinne beginnt für Peter Utz schon bei John Locke und damit vor dem Beginn des 18. Jahrhunderts597. In dessen zweiten Hälfte fällt Kants Kardinalfrage nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die ihrerseits eine Spaltung beschreibt und sowohl für Utz’ wie Hubers Studie zentral ist. Ins Bild der kopernikanischen Wende, so Martin Huber, wird die Diskrepanz zwischen sinnlicher Erfahrung und Verstandeswissen gefaßt. Kants Formulierung in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) beschreibt Kopernikus, »der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortgehen wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ«598. Huber thematisiert dabei die Gleichzeitigkeit der Erschütterungen durch die Sinnendiskussion und Kants Zweifel an der Fähigkeit des Menschen zu objektiver Erkenntnis aufgrund der Tatsache, daß die Möglichkeiten seiner Wahrnehmung Beschränkungen unterliegen. Das Subjekt bleibt in Bezug auf die Gegenstandswelt lediglich mit dem Abbild zurück, das ihm die in seinem Erkenntnisvermögen angelegten Prinzipien der Gegenstandserkenntnis liefern. Auch am Ende dieser Argumentation, so Huber, stehe der Mensch »inmitten einer Welt bloßer Erscheinungen«599. Für Huber geht es im Weiteren vor allem um den Zwiespalt zwischen Verstand und Gefühl, der sich in der Schwierigkeit auftut, das Wissen um die astronomischen Verhältnisse zwischen Erde und Sonne mit der sinnlichen Alltagserfahrung zu vereinen. Aber nicht nur aufgrund der Schwierigkeit, es verstandesmäßig zu erfassen, braucht es nach Huber so lange, bis das heliozentrische Weltbild ins allgemeine Bewußtsein dringe. Die Verunsicherung sei natürlich auch religiöser Natur. Huber verweist auf Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei als Ausdruck des Erschreckens der Menschen des 18. und 596 Huber, Text als Bühne, S. 34. 597 Anhand der Gegenüberstellung der Möglichkeiten der Tasterfahrung und des Sehens, die die Wahrnehmung Blindgeborener thematisiert. Das Gedankenexperiment eines französischen Arztes wird von Locke in seinem Essay concerning human understanding (1690) diskutiert; vgl. Utz, Auge und Ohr, S. 19f. 598 Zit. nach Huber, Text als Bühne, S. 35. Siehe Kant, Prologomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. In: Werke in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 5, Frankfurt am Main 1974, S. 154. 599 Vgl. ebda., S. 35.
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frühen 19. Jahrhunderts »angesichts eines möglicherweise leeren Himmels«600. Der Gott suchende Christus geht durch die »Welten«, »Sonnen«, »Milchstraßen« und »Wüsten« des Himmels und findet nur Sturm und Abgründe601. Das zentrale Motiv des Auges, so Huber, kehrt auch in dieser Schreckensvision wieder : »Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an […]«. Der Abgrund zwischen Wissen und Sehen bleibt so für Huber letztlich für den modernen Menschen bestimmend: Neben den religionskritischen Turbulenzen, die mit der fortschreitenden, von den Naturwissenschaften ausgelösten Trennung von Gefühl und Verstand einsetzten, war mit dem Verlust der Erde als Zentrum im Kosmos aber auch unumkehrbar die Relation zwischen Beobachter und Beobachtungsgegenstand problematisch geworden. Dies macht ein Blick auf die aufgehende Sonne, also nichts weniger als das Lieblingsbild der Aufklärer, deutlich. Und an der Problemlage hat sich bis heute wenig verändert. So beobachten auch wir mit eigenen Augen einen Sonnenaufgang. Dennoch geht, wie wir wissen, die Sonne ja keineswegs auf, vielmehr drehen wir uns zusammen mit der Erde um die Sonne. Sicher verifizierbar geglaubte, sinnliche Wahrnehmung per Augenschein läßt sich von der Täuschung nicht mehr unterscheiden. Das Dilemma also ist: Der moderne Mensch kann sich die Sonne sehr wohl als stillstehende denken, mit seinen Wahrnehmungsorganen sinnlich erleben wird er sie aber weiterhin als aufgehende. Der Realitätsstatus menschlicher Wahrnehmungen steht seither grundsätzlich in Frage und führt Europa am Ende des 18. Jahrhunderts die naturwissenschaftlich ausgelöste Trennung von Erkenntnis und Bewußtsein, von Verstand und Gefühl unabwendbar vor Augen. Zugleich scheint damit eine der zentralen Problemkonstellationen der Moderne formuliert, nämlich die immer wieder neu zu leistende Vermittlung zwischen Reflexionsvermögen und Gefühl, die unsere Kulturgeschichte begleitet.602
Vor diesem Hintergrund wird klar, worauf Hubers Entwurf des Modells eines »theatralen Erzählens« um 1800 zielt. Literatur und Kunst reagieren auf die Verunsicherung, die der Fragmentierung der Sinnesfunktionen folgt und bilden Sinnsysteme aus, die zum einen diese Problematik thematisieren – die Literatur wird eine »betont aisthetische«, wie Huber herausstreicht – und zum anderen in Modellen der Synästhesierung zu bewältigen suchen603. Das Konzept »Theater« im Sinn von Huber vereinigt also »zentrale menschliche Kommunikationsfelder« wie Wahrnehmung, Bewegung und Sprache und enthält außerdem, begründet im Verhältnis zwischen Darsteller und Zuschauer, »konstitutiv die Beobachtung der eigenen Wahrnehmung«604. 600 601 602 603 604
Vgl. ebda., S. 35f. Vgl. ebda., S. 36. Ebda., S. 36f. Vgl. ebda., S. 38. Vgl. ebda.
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Unter Einbeziehung der Verhältnisse von Beobachtern und Beobachteten, die Huber an frühen dramatischen Texten Goethes untersucht und zu Niklas Luhmanns Systemtheorie in Beziehung setzt, wird das »Theater«-Modell entwickelt, das für Huber »gewissermaßen als Experimentalwerkstatt für die Reflexion der Bedingungen von Erkenntnis« gelesen werden kann. Ebenso erfüllt es, so Huber, die Funktion, einen »emotionalen Erfahrungsraum einer geglückten Synästhesie der Sinne«605 zu bieten.
IV. 3.2. »Narrative Inszenierungen« – »Nähe zum Drama« und psychologische Darstellung IV. 3.2.1. Emotionalisierung im Briefroman: »Mitleid« als Ziel Jener Teil von Hubers Modell des theatralen Erzählens, der neben dem SinnenDiskurs in unserem Zusammenhang besonders wichtig ist, ist dessen Umsetzung in Form von »narrativen Inszenierungen«606. Damit bezeichnet Huber also im besonderen die Übernahme theatraler Elemente in literarische Texte, die er in Hinblick auf ihre spezifische »Konstruktionsweise«, wie es Huber nennt, von Emotionalität untersucht607. Wie angedeutet, lassen sich für Huber die grundlegenden Veränderungen, die den Roman um 1800 bestimmen, besonders an drei großen Bereichen ablesen, die alle dem Bereich der theatralen Darstellung entspringen: es geht zunehmend um Beobachtungsprozesse, um Wahrnehmungsvorgänge und körperorientierte Kommunikation. Ersteres wird etwa an Hamlet demonstriert: Huber führt die Wiederentdeckung Shakespeares in der Aufklärung u. a. darauf zurück, daß die Reichhaltigkeit der Perspektivik in den Dramen Shakespeares jetzt auf ein starkes Interesse stößt. Der Briefroman ist ein mit Perspektiven spielender Roman, der aus der Diversität der verschiedenen Blickwinkel der Figuren seine Spannung erhält. Aus diesem den Briefroman motivierenden Interesse erwache, so Huber, die Faszination für ein Stück wie Hamlet und dessen berühmter Theater-im-Theater-Szene zur Entlarvung des Königs neu608 ; in dieser Szene, so Huber, gehe es vor allem um einander beobachtende Figuren und um deren jeweilige Interpretation des Geschehens609. Die Zuschauer am Hof, die nicht wissen, was der Zweck von Hamlets Aufführung ist, sehen in ihr nur die Provokation und eine öffentliche Drohung Hamlets610. 605 606 607 608 609 610
Vgl. ebda., S. 39. Zur Definition dieses Begriffs vgl. besonders ebda., S. 81ff. Vgl. ebda., S. 93. Vgl. ebda., S. 63. Vgl. ebda., S. 62. Vgl. ebda.
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Hamlet selbst erfährt zwar, was er wissen will, nämlich daß seine Aufführung Claudius aufs tiefste beunruhigt; für die Augen der uneingeweihten Zuschauer geht es aber um einen Neffen, der seinen Onkel, den König, ermordet611. Sie müssen also das Stück als offene Drohung interpretieren und stellen sich folgerichtig nicht auf die Seite Hamlets, sondern auf die Claudius’: So zeigt diese Szene deutlich, daß jeder auf der Bühne beim Beobachten der anderen etwas anderes sieht – allein der Zuschauer hat die potentielle Chance, diese gegenseitigen Beobachtungen insgesamt zu überblicken.612
Huber entlehnt von Niklas Luhmann das Prinzip der »Beobachtung von Beobachtungen« oder der Beobachtung erster, zweiter und dritter Ordnung und macht sie zu einem der Bezugspunkte seiner Definition von »Theater« und »Inszenierung«613. Die Fragen der Wahrnehmungsvorgänge und der körperhaften Kommunikation hängen damit folgerichtig aufs engste zusammen. Auch hier geht Huber von einem Beispiel aus der dramatischen Literatur aus: in Lessings Miß Sara Sampson ist es der Vater, der dem Diener detaillierte Anweisungen zur Beobachtung seiner Tochter gibt; er soll sie bei der Lektüre seines Briefes beobachten. Was Sara wirklich über ihn denkt und für ihn fühlt, so führt Huber aus, versucht William Sampson in erster Linie daraus zu erfahren, welche körperlichen Signale sie während der Lektüre zeigt. Er instruiert also den Diener, auf »alle ihre Mienen« acht zu geben und sich nicht die geringste Veränderung im Ausdruck entgehen zu lassen: »Du wirst ihre ganze Seele in ihrem Gesichte lesen.« Denn wenn ihn Sara nicht mehr liebt, ist der Vater überzeugt, offenbart sich dies an den äußerlich sichtbaren Reaktionen, die sie zeigt. Für Sampson, so Huber, ist die Körpersprache der Tochter ein Garant für Wahrheit, denn in der kurzen Zeit, in der sie der höfischen Durchtriebenheit ausgesetzt war, kann sie deren Prinzipien der »Verstellung« und der »Larven«, die nur das »eingewurzelte Laster« kennt, noch nicht gelernt haben614. Wahre und falsche Kommunikation über den Körper und die nunmehr vermehrte Thematisierung von Körpersprache, die über Erröten, Seufzer, Tränen etc. geführt wird, ist also ein wichtiges »theatrales« Prinzip, das für Huber aus dem Drama in die Erzählung wandert. Der theatrale Körper auf der Bühne ist nach Huber von jeher »Spielfläche«, also Austragungsort von verschiedenen Aspekten von Kommunikation. Die Rede kann eine Wahrheit vermitteln, die Körpersprache eine andere. Das ergibt verschiedene Informationen und im komplexen »Zusammenspiel von Information, Mitteilung und Verstehen« setzt 611 612 613 614
Vgl. ebda. Ebda., S. 62f. Vgl. ebda., S. 61ff. Vgl. ebda., S. 68.
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Huber die besondere Verbindung zu Dramen- und Erzähltexten der Empfindsamkeit an615. Auch hier, so Huber, ist wesentlich, daß der Adressat einer Kommunikation niemals nur eine Information enthält616. Die Körpersprache dramatischer Figuren stellt so ein wichtiges Element im Wahrnehmungs- und Kommunikationsdiskurs um 1800 dar und mit dem Transfer dieses Diskurses in die erzählende Literatur gehen auch Teile der Motivsprache dieser körperorientierten Kommunikation in den Roman ein. Über dieses Motiv kann eine Beziehung zu den Wahlverwandtschaften hergestellt werden, wiederum zentriert um die Figur der Ottilie. Ihre GebärdenSprache wird, wie dargestellt, im Roman nicht nur detailliert geschildert (und von anderen Figuren wiederholt thematisiert), sondern am Schluß zur einzig ihr verbleibenden Form der Kommunikation. Die Gesten, die als ihr ganz eigen geschildert werden, konstituieren sie als Figur mit großem Charisma und statten sie in der Sicht ihrer Umwelt mit dem Charakter besonderer Innerlichkeit und somit besonderer Wahrhaftigkeit aus, parallel zu den Beglaubigungen ihrer Schönheit, die Ottilie zur »Erscheinung« im Sinn eines (Natur)phänomens machen. Daß Ottilie zu sprechen aufhört und nur noch über Blicke und Gesten spricht, läßt sie außerdem, wie an den Szenen ihres Sterbens gezeigt werden kann, aus dem Zusammenhang sozialer Interaktion überhaupt herausfallen, vor allem aber setzt es eine ganze Maschinerie an Beobachtungs- und Interpretationsversuchen durch die anderen Figuren in Gang. Diese Motivik, nach Huber zentral für die empfindsame Literatur, setzt sich so nicht nur bis zu den Wahlverwandtschaften fort, sondern findet hier eine Art Überhöhung. Ottilie, so zeigt Mat&as Mart&nez an der Nanny-Episode617, wird auch zu jener Figur im Roman, an der man dessen strukturelle Mehrdeutigkeit ablesen kann. Hubers Untersuchung stellt heraus, daß der Effekt der Erzählbedingungen im Werther sich in jenem größeren Zusammenhang von Theatralität bewegt, deren Definition, von den Theaterwissenschaften ausgehend, in den verschiedenen Disziplinen neu betrieben wird. Die Themenfelder Beobachtung, Wahrnehmung und körperorientierte Kommunikation bilden also die Grundlage des »Theater«-Modells, das Huber auf den Roman anwendet. Jene spezifischen Qualitäten des Theaters sind es deshalb auch, die derzeit aus dem engeren Kontext der Theaterwissenschaft herausgelöst werden und als kulturhistorische Kategorie ›Inszenierung‹ und ›Theatralität‹ diskutiert werden. Abgelöst vom konkreten Medium Theater zielt die weitgefaßte kulturwissenschaftliche Anwendung
615 Vgl. ebda. 616 Vgl. ebda., S. 68f. 617 Siehe Anm. 566.
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des Begriffs ›Theater / Theatralität‹ darauf ab, Kultur mit besonderem Blick auf Momente der ›Inszenierung‹ als Kern jeder sozialen Struktur zu beschreiben.618
Anhand von Textbeispielen aus Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz zeigt Huber, wie »konstituive Elemente« des Theaters für das Erzählen um 1800 bestimmend werden. Zu Beginn der Erzählung werde etwa eine »regelrechte Bühnenszene« geschaffen: der Ort des Erzählens wird angesprochen (»der Großvaterstuhl, aus dem ich herauserzähle«) und vor dem Leser ein Publikum adressiert: Ausgangspunkt der Erzählung ist also die szenisch vergegenwärtigte Fokussierung auf einen (Binnen-) Erzähler. Erzeugt wird dies wie im Theater durch Bündelung und Selektion der Wahrnehmung. »Jetzt, aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsere Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden«. Mit dem Schließen der Vorhänge wird ein ›Zuschauerraum‹ geschaffen, zudem hilft die Verdunkelung dabei, abschweifende Gedanken an die ausgegrenzte Öffentlichkeit zu unterbinden (»an die grand monde über der Gasse drüben und ans Palais royal muß keiner von uns denken«).619
Für Huber liegt das theatrale Prinzip der »Wahrnehmungsselektion und Wahrnehmungsfokussierung« als narratives Modell der ganzen Erzählung zugrunde; er bezeichnet es als die »Erinnerungsmethode«, mit der Wutz sich seine Kindheit ins Bewußtsein ruft (»[…] jeden Tag nahm er einen andern Tag vor […]«)620. Gleichzeitig malt sich Wutz die Szenen seiner Vergangenheit, die er Stück für Stück aus seinem Gedächtnis holt, unter Beigabe der prächtigsten Naturszenarien aus. Ich zitiere eine Textstelle, die das Prinzip der »narrativen Inszenierung« besonders gut veranschaulicht, mit den Hervorhebungen durch Huber : Er ging da sonntags nach der Abendkirche heim nach Auenthal und hatte mit den Leuten in allen Gassen Mitleiden, daß sie da bleiben mußten. Draußen dehnte sich seine Brust mit dem aufgebaueten Himmel vor ihm aus, und halbtrunken im Konzertsaal aller Vögel horcht’ er doppelselig bald auf die gefiederten Sopranisten, bald auf seine Phantasien. Um nur seine über die Ufer schlagende Lebenskräfte abzuleiten, galoppierte er oft eine halbe Viertelstunde lang. Da er immer kurz vor und nach SonnUntergang ein gewisses wollüstiges trunknes Sehnen empfunden hatte – die Nacht aber macht wie ein längerer Tod den Menschen erhaben und nimmt ihm die Erde –: so zauderte er mit seiner Landung in Auenthal so lang’, bis die zerfließende Sonne durch die letzten Kornfelder vor dem Dorfe mit Goldfäden, die sie gerade über die Ähren zog, sein blaues Röckchen stickte und bis sein Schatten an den Berg über den Fluß wie ein Riese wandelte. Dann schwankte er unter dem wie aus der Vergangenheit herüber618 Huber, Text als Bühne, S. 69. 619 Ebda., S. 79. 620 Vgl. ebda.
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klingenden Abendläuten ins Dorf hinein und war allen Menschen gut, selbst dem Präfektus.621
Huber verweist darauf, wie sorgfältig Wutz seine »Selbstinszenierungen« gestaltet bis zum perfekt ausgeleuchteten Hintergrund, den die Abendsonne bietet622. Sie versieht sein blaues Röckchen (das »Wertherkostüm«) mit Goldfäden und läßt seinen Schatten ins Gigantische wachsen und mit der umgebenden Landschaft zerfließen. Huber hebt diese Umgebung als riesige Theaterkulisse, inklusive Vogelgezwitscher und Glockenläuten, hervor623 : Das theatrale Wahrnehmungsmuster, mit dem Wutz sich hier buchstäblich inszeniert, ist aber mehr als nur ein schrulliges Modell, das nur mit der Figur Wutz zu verbinden ist, und dem der Erzähler in der Beschreibung von Wutz’ Leben aus dessen selbstverfaßter Bibliothek folgen muß. Enthält diese ja nichts anderes als Wutz’ Leben in Form seiner narrativen Selbstinszenierungen, da er alle Texte ›aus sich selbst‹ geschrieben hat.624
Das Besondere schließlich, so Huber, an Jean Pauls Erzählung ist, daß dieses Muster des narrativen Inszenierens selbst dann aufrechterhalten wird, wenn der Erzähler am Schluß selbst eingreift, um Wutz’ Tod zu schildern. Entworfen wird auch dort ein ganzes »Leidenstheater«, wie es der Text selbst bezeichnet, mit Mondlicht, Uhrenmetaphorik und dem personifizierten Tod625. Hubers Modell der »narrativen Inszenierung« richtet also das Augenmerk auf »erzählte visuelle und akustische Zeichen im Text«: Elemente wie Licht, Geräusche und Musik und der Entwurf landschaftlicher Szenerien, die den Protagonisten als Hintergrund dienen oder metaphorisch den Inhalt der Erzählung spiegeln626. Deren Funktion gilt aber nicht im Sinne eines Einzelmotivs, vielmehr soll der Blick eröffnet werden auf das Zusammenwirken der Bezugsfelder von »Aisthesis, Kinesis und Semiosis« als sinnkonstituierende Prinzipien dramatischer wie erzählender Literatur627. Am Motiv der Beobachtung verweist Huber auf den Gegensatz zum barocken theatrum mundi, in dem Gott der »große Regisseur« ist und die Menschen Teil des Welttheaters, auf dem sie ihre Rollen spielen. Im Theater-Verständnis hingegen, auf das sich Kunst und Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beziehen, sind die Menschen zwar immer noch Mitspieler, 621 Jean Paul, Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal Eine Art Idylle, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1977, S. 16f. 622 Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 80. 623 Vgl. ebda. 624 Ebda. 625 Vgl. ebda, S. 80f. 626 Vgl. ebda., S. 82. 627 Vgl. ebda., S. 81.
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doch gleichzeitig auch Beobachter des gesamten Schauspiels – also auch Beobachter ihres eigenen Spiels. In der besonderen Gewichtung von Beobachtung und Selbstbeobachtung liegt die Bedeutung des Theaterkonzepts im späten 18. Jahrhundert gegenüber dem Repräsentationsmodell des Barocktheaters. Theater ist zumindest für den hier betrachteten Zeitraum insbesondere ein Medium der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion.628
Diese wichtige Komponente überträgt sich also für Huber auf die Prosa, narrative Inszenierungen weisen so darauf hin, daß die Wahrnehmung der Figuren begrenzt ist. In Analogie zum Theaterzuschauer mache die erzählende Literatur der Epoche diese Begrenztheit für den Leser beobachtbar629. Huber verweist auf Szenen von Beobachtung und Selbstbeobachtung im Wilhelm Meister und darauf, daß Goethe hier stark mit »Elementen der szenischen Verdichtung« arbeite630. Das Modell der narrativen Inszenierung diene somit einerseits »erfolgreich als Mittel der ästhetischen Bearbeitung der […] Probleme von Sinneshierarchisierung und Vermittlung von Gefühl und Verstand«; gleichzeitig verbinde es diese Problematik mit dem für die Zeit zentralen Thema: mit dem »Problemfeld« der Individualität631. Im Briefroman schließlich sieht Huber die ideale Möglichkeit der Umsetzung dieses Interesses des 18. Jahrhunderts an Fragen der Wahrnehmung, der Konstitution des Ich und der durch die Aufklärung erschütterten Neukonzeption des menschlichen Bewußtseins, die in eine Neudefinition des Verhältnisses von ratio und Emotion münde: Das Schreiben in Briefen scheint insbesondere geeignet, sinnliche Wahrnehmung im Prozeß der Verschriftlichung in Gefühle zu übertragen und diese damit literarisch diskursivierbar zu machen.632
Am Werther zeigt Huber die Techniken der Inszenierung von Gefühlen. Die neuen Möglichkeiten der »epischen Textorganisation«, die die Orientierung am Drama bringe, äußern sich für ihn vor allem im »Schreibmodell ›Brief‹«: über dessen Prinzipien der Dialogisierung und der Polyperspektivität werden die neuen Textsorten wie der Briefroman, aber auch die Ballade, zu erfolgreichen Gattungen633. Wesentliche Vorteile des Romans in Briefen seien dabei der Wechsel von Innen- und Außenperspektive und die Möglichkeiten der »radi-
628 629 630 631 632 633
Ebda., S. 85. Vgl. ebda, S. 85f. Vgl. ebda., S. 87. Vgl. ebda. Ebda., S. 91. Vgl. ebda., S. 26.
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kalen Perspektivenbeschränkung« auf die je subjektive Perspektive des einzelnen Briefschreibers634. Die theatrale Komponente trage dies schon in sich: Ist der Brief als Gattung per se die ›narrative Inszenierung‹ eines Dialogs von Abwesenden, so erfährt diese Konstellation im Briefroman eine geradezu dramatische Vergegenwärtigung dadurch, daß sie vor imaginierten Dritten (den Lesern) vorgeführt wird.635
Huber verweist auf die schnelle »europaweit[e]« Verbreitung des Erzählmodells Briefroman ab den 1740er-Jahren sowie dessen fast schlagartiges Verschwinden um 1810636. Dies sei nicht allein durch die Möglichkeit der Multiperspektivität zu erklären (wir bekommen verschiedene Perspektiven auf das Geschehen durch die Sicht der einzelnen Briefschreiber), sondern das Faszinosum der Form bestehe vor allem in der Darstellbarkeit des Inneren des Menschen637. Huber stützt sich hier auf Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman von 1774, der am Werther genau dies hervorhebe: Texte können dadurch Selbst- und Fremdbeobachtungen des modernen Individuums im Spannungsfeld zwischen Vereinzelung und Einbindung in eine Gesellschaft mitteilen, sie kommunizieren Rollenentwürfe über Körperempfindung als Gefühle, das heißt in narrativ vermittelten Innen- und Außenperspektiven. Dadurch erst kann ›empfindsame‹ Literatur entstehen.638
So ist es für Huber vor allem das Vermitteln von Gefühlen, das die Modernität des Briefromans im 18. Jahrhundert ausmacht: epistolares Erzählen gebe es schließlich schon in der Antike, doch gehe es dort eher um die Vermittlung von Fakten639. Demgegenüber komme es jetzt in der Verbindung von Briefform und romanhaftem Erzählen zur Ausschöpfung des Potentials dieser Erzählform; diese werde so zur »geeigneten Plattform für eine Veränderung der narrativen Semantik«640. In dem Moment, wo die auf dem »Experimentierfeld ›Erzählen in Briefen‹ gewonnenen erzählerischen Möglichkeiten zur Diskursivierung von Gefühlen« in andere Formen übertragen werden, verliert, so Huber, der Briefroman seine Wichtigkeit und wird ohne diese »experimentelle Füllung« zum bloßen Schema, dessen Bedeutung rasch verlorengeht641. Der Werther trifft daher für Huber auf den Schnittpunkt all dieser Interessen und noch dazu auf die zeitgenössische Diskussion um den richtigen Gegenstand 634 635 636 637 638 639 640 641
Vgl. ebda., S. 92f. Ebda., S. 93. Vgl. ebda., S. 92. Vgl. ebda., S. 93. Ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 94. Vgl. ebda.
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des Romans, wie sie bei Blanckenburg stattfindet. »Gefühle und Handlungen der Menschheit [sind] der eigentliche Innhalt der Romane« – diese Maxime Blanckenburgs stellt Huber seiner Untersuchung voran642. Sie figuriert für die Aufwertung des Romans als Gattung, die Blanckenburg vorantreibt. Die Wahrheit, die der Romancier über eine Person zu vermitteln hat, ist vornehmlich eine innere Wahrheit und Blanckenburg benennt zugleich die Faktoren dieser inneren Entwicklung. Sollen die Personen nicht als »Maschine« des Dichters erscheinen, so sind deren Handlungen in das doppelte Verhältnis zwischen Wirkung vorhergegangener und Ursache folgender Begebenheiten zu rücken.643
Da Blanckenburgs Forderung der Plausibilität der psychologischen Figurenzeichnung im Zusammenhang der Wahlverwandtschaften als wichtige Prämisse zu lesen ist und gleichzeitig Hubers Konzept der narrativen Inszenierung weiter veranschaulicht, gebe ich sie hier, wiederum im Ausschnitt Hubers, wieder : Bey den, auf uns wirkenden Ursachen, vermöge deren ein gewisser Gemüthszustand so und auf diese Art erfolgt, kommt es nicht allein auf die, auf uns wirkende Ursache an, sondern auch auf den damaligen Zustand unserer Gemüthsfassung, und auf tausend Kleinigkeiten mehr, die alle zusammen kommen müssen, wenn eine gewisse Wirkung erfolgen soll. Die ganze vereinte und ineinander geflossene Summe unserer Ideen und Empfindungen; – der Zustand unsers Körpers, Krankheit oder Gesundheit, Gesellschaft und Wetter und viele namenlose, dem Ansehn nach sehr unbedeutende Dinge können diesen Gemüthszustand mehr oder weniger günstig gestimmt haben, so daß der Ton erfolgt oder nicht. Unser Körper hat nur zuviel Einfluß auf den Zustand unserer geistigen Empfindungen. […] So verhält es sich im wirklichen Leben. Das Innre und das Aeußere des Menschen hängt so genau zusammen, daß wir schlechterdings jenes kennen müssen, wenn wir uns die Erscheinungen in diesem, und die ganzen Äußerungen des Menschen erklären und begreiflich machen wollen.644
Huber hebt besonders die Konzentration auf den Zusammenhang zwischen Innen und Außen hervor und jene auf die Beschreibung des körperlichen Zustands als Spiegelbild oder Vorbedingung des Außen. In den Wahlverwandtschaften kehrt diese Nennung der im wahrsten Sinn des Wortes atmosphärischen Zustände, namentlich die Hinweise auf Wetter, Tageszeit und etwa die dadurch herrschenden Lichtverhältnisse, wieder, ebenso andere Elemente der Aufzählung Blanckenburgs (besonders die Frage der körperlichen Verfassung), und in diesem Zusammenhang stehen auch die Präsenspartien in den Wahlverwandtschaften, die den szenischen Charakter der herausgehobenen Passagen im Sinne einer minutiösen Darstellung verstärken und damit Signalwirkung für 642 Vgl. ebda. 643 Ebda., S. 95. 644 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1965, S. 261ff. Bei Huber siehe Text als Bühne, S. 95.
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das Romanganze entfalten. In ihnen oder in ihrem direkten Umfeld wird, wie ich zeige, immer wieder mit den Elementen der »narrativen Inszenierung« gearbeitet. Huber geht außerdem auf eine weitere Folge dieser Forderung nach »umfassenden sensorischen Informationen«645, wie er sie nennt, ein. In Blanckenburgs Fassung bedeutet die genaue Ausgestaltung der Erzählung durch die Beschreibung der äußeren wie inneren Einflüsse auf den Menschen, daß der Dichter umso mehr zum »Schöpfer« seiner Gestalten wird. Diese […] haben ihre ganzen Eigenschaften, ihr ganzes Seyn von ihm erhalten, sie leben in einer Welt, die er geordnet hat. Mit dieser Voraussetzung werden wir nun, bey dem Wirklichwerden irgend einer Begebenheit, das ganze innre Seyn der handelnden Personen, mit all’ den sie in Bewegung setzenden Ursachen in dem Werk des Dichters sehen müssen, wenn der Dichter sich nicht in den bloßen Erzehler verwandeln soll.646
Für Blanckenburg besteht demnach in der Möglichkeit des Romans, Szene und Kommentar abwechselnd einsetzen zu können, einer der großen Vorteile der Gattung. Huber verweist auf Wielands Agathon als ursprünglich idealtypisches Vorbild des Romans bei Blanckenburg647. Entsprechend seiner Forderung nach psychologischer Erhellung der Handlungsweise der Figuren anhand der Schilderung innerer wie äußerer Ursachen ist klar, so Huber, daß aus der Sicht Blanckenburgs der Einschub von reflektierenden Passagen im Roman notwendig ist, um kausale Verbindungen herstellen zu können. Es ist eines der Mittel, um den Zusammenhang zwischen »Handlung und Empfindung« der Menschen überzeugend darstellen zu können. Auf diese Weise wird für Blanckenburg schließlich Werther der zentrale Roman, in ihm sieht er nunmehr die Einlösung der von ihm geforderten »Summe unserer Ideen und Empfindungen«, so Blanckenburg648. Auch das Skandalon der Selbstmordproblematik beirrt Blanckenburg nicht, so Huber, im Gegenteil, das »richtig ineinander gegründete werdende Ganze« im Werther (Blanckenburg) birgt die Kraft der moralischen Besserung durch die Möglichkeit der direkten Anteilnahme an Glück, Leben und Freude eines Menschen649. Es ist also vor allem die ästhetisch hochstehende Ausführung, die in Blanckenburgs Beurteilung des Werther eine große Rolle spielt, so Huber. Durch sie erfülle der Roman die Funktion, eine Morallehre zu geben, und zwar indem er das »Gefühl des Mitleids in uns zeugt, belebt, nähret«, so Blanckenburg650. 645 646 647 648 649 650
Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 95. Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 264f. (Hervorhebungen dort). Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 96. Vgl. ebda. Vgl. ebda. Vgl. ebda. Huber zitiert aus Blanckenburgs »Rezension zu J.W. Goethes Die Leiden des jungen Werthers« aus der Faksimiledruck-Ausgabe der Texte zur Romantheorie II (1732–1780), München 1981.
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Im Anschluß an das zu den Erzählereinschüben Ausgeführte möchte ich diese Dimension des romantheoretischen Zeithintergrunds auch für die 30 Jahre später entstandenen Wahlverwandtschaften ausdrücklich festhalten. Auch wenn Blanckenburg den Briefroman Werther idealtypisch hervorhebt, ist es wichtig, im Auge zu behalten, daß für die zeitgenössische Theorie die Kategorie des »Mitleids« als zentrale Forderung lebendig ist. Meine These ist daher, daß es eine Konstanz der Emotionalisierung des Lesers zwischen Werther und Wahlverwandtschaften gibt und daß beide Romane sehr ähnliche Strategien der Aufladung des Blicks auf die Figuren aufweisen. Vergleicht man Werthers Briefe mit den oft als steif und zu gelehrt empfundenen Tagebucheintragungen Ottilies, ergeben zweifelsohne nur erstere den Prototyp emotionaler Innenschau. Dennoch kommt in den Wahlverwandtschaften das Innere der Figuren sehr viel mehr zur Sprache, als dies die Anordnung des Experiments, die Emotionalität in erster Linie als zu untersuchenden Gegenstand zu behaupten scheint, vermittelt. Der Gegensatz zum viel umittelbarer ergreifend wollenden Werther liegt hier einerseits auf der Hand. Dennoch sehe ich eine grundlegende Ähnlichkeit in der hohen Forderung nach Empathie in der Erzählhaltung beider Romane, auch wenn dies der abwägende Erzählton der Wahlverwandtschaften weniger nahelegt als Werthers Briefe und die Aufforderung des fiktiven Herausgebers, seinem Geschick »die Tränen nicht zu versagen«. Als deren Transformation kehrt m. E., wie dargelegt, die in die Gleichnisrede eingeflochtene Formel »mit Teilnahme schauen« im späteren Roman wieder651. Als das Äquivalent zur Unmittelbarkeit der brieflichen Inszenierung der Innenschau sehe ich die Verwendung des szenischen Präsens in den Wahlverwandtschaften, die ebenso den Fokus auf die genauen Bedingungen und Abläufe der inneren Konflikte richtet, die alle Figuren des Romans durchleben bzw. erleiden. In diesem Sinn ist signifikant, daß die Schlußerzählung des Werther, wie in der Einleitung anhand der Tempuswechsel im Zusammenspiel mit Details und Vermutungen zur Selbsttötung gezeigt, eine emotionale Subsprache bereitstellt, die jene der Briefe weiterführt; so wie Huber in Bezug auf Schulmeisterlein Wutz festhält, daß die Schlußerzählung die Strategien der narrativen Inszenierung beibehält. Die Schlußerzählung des Werther zeigt daher aus meiner Sicht durch die Art der Präsensverwendung in Kombination mit der Inszenierung der 651 Neben Erzählerkommentaren, die, wie ebenfalls im vorigen Kapitel dargelegt, eine direkte Erzähler-Rezipienten-Achse ansprechen, vgl. den Beginn des 3. Kapitels des zweiten Teils: »Es ist eine so angenehme Empfindung, sich mit etwas zu beschäftigen, was man nur halb kann, daß niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird, noch den Künstler tadeln dürfte, wenn er über die Grenze seiner Kunst hinaus in einem benachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat. Mit so billigen Gesinnungen betrachten wir die Anstalten des Architekten zum Ausmalen der Kapelle. Die Farben waren bereitet, die Maße genommen […].« (WV 370; Kursivierung I.R.)
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Auffindung Werthers ebenso eine deutliche formale Parallele zu den Wahlverwandtschaften und deren Strategien der Emotionalisierung. Ich gehe daher vor der Analyse des szenischen Präsens in den Wahlverwandtschaften noch einmal anhand von Hubers Untersuchung der Methoden der Verschriftlichung von Gefühlen im Werther auf deren wichtigste Merkmale ein.
IV. 3.2.2. Werthers emotives Erzählprinzip nach Martin Huber Für Huber hängt der Erfolg des Werther bzw. dessen Kraft der emotiven Vermittlung von Gefühlszuständen im besonderen mit drei erzähltechnischen Entscheidungen zusammen652. Zum ersten wählt Goethe, so Huber, eine monologische Darstellungsweise. Der Briefroman weise zu diesem Zeitpunkt durch die berühmten Vorgänger wie Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Heloise von 1761 schon »alle technischen Möglichkeiten« bis hin zum polyperspektivischen Erzählen auf. Goethe hingegen verändere die Parameter leicht und gehe zurück zur Form, die Samuel Richardson für Pamela. Or, Virtue Rewarded von 1740 gewählt hat, er erzählt, so Huber, fast ausschließlich aus der monoperspektivischen Sicht der Hauptfigur ; auch in Pamela werde fast nur aus der Sicht der Hauptfigur erzählt, mit eingestreuten auktorialen Erzählerkommentaren (die eine Intrige gegen Pamelas Eltern schildern). Huber setzt dies in Verbindung zum Nachtrag von Werthers Ende durch den Erzähler, der unter Beibehaltung des Erzählmusters erfolgt. Dieses Prinzip des Ausschlusses zu vieler verschiedener Sichten stützt für ihn ganz wesentlich die Konzentration auf das Schicksal der Hauptfigur Werther : Wie in Pamela werden die Ereignisse in der Form »Der Herausgeber an den Leser« monoperspektivisch als vorgefertigte Deutungssynthese aus verschiedenen Wahrnehmungen von Werthers letzten Tagen erzählt. Eine Wiedergabe der unterschiedlichen Perspektiven auf Werthers Tod durch die Personen seiner Umgebung selbst hätte hingegen Raum für divergierende Interpretation gelassen. Auf diese Weise wird Werthers monoperspektivisches Erzählen, das er durch das Weglassen der Gegenbriefe erzeugt, auch in der Herausgeberfiktion so weit wie möglich beibehalten.653
Das zweite wichtige Erzählmoment stellt für Huber der Einsatz eines »szenischen Erzählens« im Werther dar654. In Erweiterung des erzähltheoretischen Begriffs des szenischen Erzählens im Sinne eines Erzählens mit geringer Distanz wie in der Wiedergabe direkter Rede meint dies das dargestellte »narrative Muster« der Inszenierungen, in denen mit den genannten Requisiten der 652 Das folgende nach Huber, Text als Bühne, S. 104–115. 653 Ebda., S. 104. 654 Vgl. ebda., S. 105.
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Lichtregie, der körperbetonten Selbst- und Fremdwahrnehmung etc. gearbeitet wird. Diese werden hier sogar explizit als solche bezeichnet: Passagen des Textes erweisen sich, über eine metaphorische Verwendung des Begriffs ›Szene‹ hinausgehend, nämlich geradezu als kleine Bühnenszenen und werden im Text auch so genannt. Werther etwa bemüht selbst den Vergleich mit einem Schauspiel für seine erste Begegnung mit Lotte. Ich gieng durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Thüre trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich jemals gesehen habe.655
Huber führt Beispiele aus zeitgenössischen Rezensionen an, die zeigen, daß diese tatsächlichen Bühnenszenen im Werther auch genau als solche gelesen wurden. Enthusiastisch wird darauf verwiesen, wie »voller Handlung«, nämlich Werthers »innerer Geisteshandlung«, der Roman sei und wie sehr die Anordnung der Szenen, »Scenen der lachenden Natur«, dann »ländliche Scenen«, »Werthern mitten unter unschuldigen Kindern und Landleuten«, die »Erweckung« des Gefühls zu steigern imstande sei656. Neben diesem Beschreibungsrepertoire der Rezensionen hält aber die zeitgenössische Rezeption noch eine besondere Tradition bereit, die Huber als wesentliches Argument eines verbreiteten »theatralen Lesens« sieht: die Buchillustrationen, die im Fall des Werther eine wichtige Rolle spielen. Vor allem von Daniel Nikolaus Chodowiecki wurden zwischen 1775 und 1787 verschiedene Illustrationen zum Werther geschaffen. Als Motiv erscheinen dabei genau jene Szenen, die Huber als »Bühnenszenen« analysiert, also vor allem Werthers erste Begegnung mit Lotte, die sogenannte »Brotschneideszene« und die Kußszene bei der gemeinsamen Ossianlektüre: Wechselweise tragen diese Bilder dann bei nachfolgenden Lesern wiederum dazu bei, eine ›szenische‹ Rezeption des Textes mitzuerzeugen und die ›theatrale‹ Lektüre zu stabilisieren. Chodowieckis überaus populäre Bilder, die auch als Einzeldruck gekauft werden konnten und deren Reproduktionen Stammbücher wie zeitgenössisches Porzellan schmückten, zeigen unter einem Idealporträt von Lotte oder Werther jeweils eine Schlüsselszene des Textes.657 655 Ebda. Huber verwendet zur Analyse jeweils die Erstfassung von 1774. Die hier zitierte Stelle vgl. S. 38/39 in der Studienausgabe: Die Leiden des jungen Werthers Paralleldruck der beiden Fassungen, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999. 656 Vgl. ebda., Anmerkung 24. 657 Ebda., S. 106. Die entsprechenden Abbildungen finden sich bei Huber, S. 107f. (das Porträt von Lotte mit der Brotschneideszene darunter und Werthers Porträt mit der Kußszene im unteren Bildteil). Weitere Abbildungen von Chodowieckis Stichen und andere zeitgenössische Illustrationen sowie eine Abbildung des von Huber erwähnten Porzellans finden sich im folgenden Katalog: Sturm und Drang Katalog zur Ausstellung im Frankfurter GoetheMuseum (Freies Deutsches Hochstift) 2. Dezember 1988–5. Februar 1989, Hrsg. von
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Huber verweist auf die Detailgestaltung der kleinen Stiche, deren Perspektive die eines Bühnenraums ist und die deutlich bestimmte im Text genannte Requisiten zeigen. Besonders auffallend sind z. B. in der Kußszene bei Chodowiecki die beiden gleich großen brennenden Kerzen, die nicht nur als Lichtquelle dienen, sondern vor allem auf die Abendstunde verweisen und darüber hinaus die »gleichmäßig und stark brennende Liebe« der beiden symbolisiert658. Im Text selbst sind es vor allem die die erste Begegnung zwischen Werther und Lotte bestimmenden Tanzszenen, die Huber im Sinne seiner These der »narrativen Inszenierungen« interessieren. In ihnen ortet Huber eine ganz besondere Qualität der Vermittlung von Werthers Gefühlszuständen; die Schilderung des Ballbesuchs, so Huber, gibt viel Gelegenheit, von Gesten, Blicken, Bewegungen während des Tanzes zu erzählen659. Diese werden in den chronologischen Handlungsablauf eingeflochten und enthalten auch Werthers Bemerkungen zu den eigenen Gefühlen und deren körperlichen Ausdruck. D. h., Werther beobachtet Lotte und verliebt sich in sie beim Tanzen, seine und ihre und innere wie äußere Bewegung gehen somit, betont Huber, konform660. Was Huber dabei besonders herausstreicht, ist die stets äußerst kontrollierte Erzähltechnik661. Im Verein mit den erotischen Untertönen, die Werthers erregt-erregende Schilderung der Berührungen beim Tanz ohnehin mit sich bringt, wirkt nach Huber die Dynamik der Wahrnehmungsfokussierung als Garant von Authentizität: Werther als Briefschreiber gelingt es souverän, weil nahezu unbemerkt, die Wahrnehmungsperspektiven hin und her zu schieben. Kommunikationstheoretisch gesehen stärkt Werther durch diese Technik die Mitteilungsseite gegenüber der Informationsseite und erzeugt so ein hohes Maß an ›Wahrhaftigkeit‹.
658 659 660 661
Christoph Perels, Frankfurt am Main 1988, S. 104–116, besonders S. 113 (Frühstücksplatte aus Meißner Porzellan mit einer Werther-Illustration von Johann David Schubert, um 1788/ 1790). Vgl. auch den Beitrag »Frauen in der Epoche des Sturm und Drang« von Ulrike Prokop im selben Katalog, S. 350–370. Auch Prokop befaßt sich mit der Veränderung des Rezeptionsmodus von Literatur in der Epoche des Werther und faßt diese u. a. so zusammen: »Literatur hatte einen neuartigen Zug angenommen. Sie wurde mit dem Leben verwechselt, was in der Vergangenheit dem Publikum ferngelegen hatte. Literatur, so empfanden es Autoren und Publikum um 1770, bildete die Seele ab. Und so behauptete es auch der Geniekult: die Wahrheit spricht unmittelbar aus der Tiefe der Seele. Das Genie kennt keine Regeln, es bildet »Natur« ab. So war ›Werther‹ also nicht ein Text zur Ehren der Geliebten, sondern er galt als Text, der diese Geliebte in absoluter Wahrheit abbildete – im Spiegel der Liebe des Autors, der ebenfalls ungebrochen mit dem Erzähler in eins gesetzt wurde. Lotte Buff sah sich ständig mit der gereizten Frage konfrontiert, was an ihr denn nun so Besonderes sei, daß sie eine solche Glut verdiene.« Ebda., S. 354. Huber zitiert hier die Interpretation von Jutta Assel: »Werther-Illustrationen. Bilddokumente als Rezeptionsgeschichte«, in: Georg Jäger, Die Leiden des alten und neuen Werther, München 1984, S. 57–105, hier S. 100. Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 114. Vgl. ebda., S. 116. Vgl. ebda.
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[…] wie wohl mir’s war, als sie [Lotte] auch in der Reihe die Figur mit uns anfieng, magst du fühlen. Tanzen muß man sie sehen. Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabey, ihr ganzer Körper, eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände, und in dem Augenblikke gewiß schwindet alles andere vor ihr. […] Die Wahrnehmung wechselt vom Erzähler (»wie wohl mir’s war«) zum Leser (»magst du fühlen«), nimmt dann eine übergeordnete Außenperspektive ein (»Tanzen muß man sie sehen«), bindet diese wieder an den Leser an (»Siehst du«), wandert dann wieder zum Erzähler, der die Wirkung von Lottes Verhalten nach außen beschreibt (»ihr ganzer Körper, eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre«), um schließlich aus einer Innenperspektive Lottes momentanes Gefühl zu vermuten (»und in dem Augenblikke gewiß schwindet alles andere vor ihr«). Mit multiperspektivischem Erzählen, das der Briefroman gattungstypisch anwendet, hat dies freilich nichts zu tun, mehrere eigenständige Perspektiven werden nicht entwickelt. Die besondere Leistung des Erzählens in Passagen wie der zitierten ist vielmehr die Plausibilisierung eines einzigen Bewußtseinszustandes, nämlich der des Helden und der dazugehörigen Gefühle, – dies erst schafft die Voraussetzung für eine gesteigerte Empathie des Lesers mit der Figur.662
Auch Details, so Huber, werden gegeben, ohne daß Werthers Brief vom 16. Juni erzählerisch einfach Fakten aneinanderreihe. So heißt es z. B., daß er bei der Ankunft »so in Träumen rings in der dämmernden Welt verloren« war (kurz vorher hat er Lotte zum ersten Mal gesehen), daß er »auf die Musik kaum achtete«, die aus dem ersten Stock kommt. Auf »subtile Weise«, so Huber, wird der Leser über Hintergrunddetails informiert, ohne daß es ein chronologischer Bericht wäre663. Die bemerkenswerteste Szene ist für Huber folgende: Nun giengs, und wir ergözten uns eine Weile an mannchfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! Und da wir nun gar an’s Walzen kamen, und wie die Sphären um einander herumrollten […] Nie ist mir’s so leicht vom Flekke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben, und mit ihr herum zu fliegen wie Wetter, daß alles rings umher vergieng und – […]664
Für Huber ist dies der »erste Paartanz der deutschen Literatur, der aus der Perspektive des Tanzenden erzählt wird«; keine Schilderung vorher stelle den Tanz in ähnlicher Weise »kinetisch wie emotional als Bewegung« dar, für Werther wird, so Huber, der Tanz mit Lotte zu einem »intensiven Glückserlebnis«665 : Durch die heftige Drehbewegung bewegen sich nicht nur die Sphären, Werther meint gar, sich über seine Existenz zu erheben; der Tanz mit Lotte in den Armen löscht die 662 663 664 665
Ebda., S. 114f. Textstelle in der Studienausgabe (Anm. 655), S. 44/45. Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 114f. Werther, Studienausgabe, S. 46. Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 116.
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ganze Umgebung aus. Werther hat mit Lotte ein Glück der Selbstauflösung im Tanz erfahren, das den konventionalisierten Formen des Tanzes in der höfischen Gesellschaft eigentlich zuwiderläuft. Die emotionale, […] erotische Bedeutung, die Werther diesem Tanzerlebnis beimißt, läßt sich daran erkennen, daß er selbst schwört, ein Mädchen, das er liebt, nie mit einem anderen Mann ›walzen‹ zu lassen.666
An der Störung des Tanzes durch die Ermahnung von außen lasse sich, so Huber, dementsprechend Werthers Irritation ablesen, als er begreift, daß Lotte verlobt ist. Seine Reaktion sei bezeichend, er »verwirrt sich« und gerät »zwischen das unrechte Paar hinein«, wie es im Text heißt, Lotte kann ihn gerade noch zurück in die Reihe ziehen. Auf diese Weise, so Huber, antizipiert der erste Tanz schon Werthers spätere Stellung im Dreiecksverhältnis und nimmt seine gesellschaftliche Position als Außenseiter vorweg667. Was die Szene für Huber außerdem zeigt, ist, daß es im Werther generell nicht um Spannungsaufbau im herkömmlichen Sinn gehe. Denn Werther und mit ihm der Leser haben die Information, daß Lotte verlobt ist, schon bekommen (als Werther Lotte abholt). Die Szene beim Tanz steuert also nicht, so Huber, auf diese Information als Höhepunkt zu. Genauso könne ja der aufmerksame Leser das unglückliche Ende schon der Vorbemerkung entnehmen und die Art des Selbstmordes vorausahnen, da sich Werther in einer Szene als »Grille« Alberts Pistole an die Stirn hält. Das eigentliche Ziel dieser Arrangements und somit deren Inhalt ist dagegen für Huber die Vermittlung der Gefühls- und Bewußtseinszustände, die sich für den Leser ereignen sollen: Mehr als von den Fakten der Handlung hängt die emotionale Beteiligung der Leser, die ein Gradmesser für die Spannung ist, ab von Werthers Gefühlsleben und dessen Mitteilung nach außen. Ausschlaggebend für die Lesespannung sind Werthers Erlebnisse und Gefühle, die schließlich seinen Selbstmord unvermeidbar machen und die Art und Weise, wie dies narrativ transportiert und begründet wird.668
Die Szenarien der Bewegung, der Beobachtung und der Blickkontakte beim Tanzen werden schließlich laut Huber ergänzt und vertieft durch die Elemente der Natur. Der Ball wird unterbrochen durch das Gewitter, das ebenfalls schon zuvor im Text erwähnt wird. Für Huber ist das Gewitter nicht so sehr im Sinne einer vordergründigen Spannungslösung (als reinigendes Gefühlsgewitter) zu lesen, sondern gibt vielmehr Anlaß zu neuen Berührungsszenen669, diesmal im 666 667 668 669
Ebda. Vgl. ebda., S. 117. Ebda., S. 111. Vgl. ebda., S. 118. Wie Paul Stöcklein in bezug auf die Feuerwerksszene der Wahlverwandtschaften macht Huber hier auf die Wortwahl aufmerksam. Das Gewitter, das laut Huber eben nicht der Entladung der im Rausch des Tanzes aufgebauten erotischen Spannung dient, ist der Übergang zu weiteren »emotionalen Entwicklungen und Enthüllungen. Der »Stoß«, den die »Lustbarkeit« erlitten hat, eröffnet dem Briefschrieber und seinem
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Spiel, das Lotte zur Ablenkung der ängstlichen Mädchen anregt, deren »Grimassen« und Tränen Werther vorher schon geschildert hat, so wie die Versuche der jungen Männer, die Gebete »von den Lippen der schönen Bedrängten wegzufangen«, wie es im Text heißt. Das Pfänderspiel findet in einem Raum statt, der »Läden und Vorhänge« hat, für Huber steht dies wiederum für eine Verengung auf einen künstlichen »Spiel-Raum«, der der weiteren Erotisierung dient670. Im Spiel werden »Patsch eine Ohrfeige« und »immer geschwinder«, Maulschellen ausgeteilt, wie der Text sagt; Werther wähnt »mit innigem Vergnügen«, von Lotte stärkere Ohrfeigen als die anderen zu erhalten. Nachher gesteht sie, daß sie nur »mutig gespielt« habe; Huber interpretiert dies im Sinne seiner These zur wechselnden Funktion der Körpersprache, die auch hier sowohl vorgetäuschte als authentische innere Vorgänge vermitteln könne671. Lottes »echte« Empfindungen träten dagegen wieder in der berühmten Schlußszene des Ballgewitters zutage und hier dient, so Huber, die Naturkulisse auch wieder als »Stimulans für die gemeinsamen Gefühle«; er verweist auf die in der Forschung immer wieder beschriebene »Wechselwirkung zwischen literarisch vermittelter Natur und sinnlich wahrgenommener Naturempfindung«672. Wir traten an’s Fenster, es donnerte abseitwärts und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquikkendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihrem Ellenbogen gestüzt und ihr Blik durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! Ich versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Loosung über mich ausgoß. Ich ertrugs nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollesten Thränen. Und sah nach ihrem Auge wieder – Edler! hättest du deine Vergötterung in diesem Blikke gesehn, und möchte ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören!673
Auch in der Klopstock-Szene hebt Huber nicht so sehr die »vordergründigen Körperzeichen« der Tränen hervor, sondern verweist vor allem auf das »szenische Arrangement« der Blicke. Diese bewegen sich, so Huber, in einem schnellen Wechsel der Wahrnehmungsperspektiven zwischen Lotte und Werther hin und her, Lottes Blick beschreibe dabei eine »Bewegungsfigur« zwischen Umgebung, Himmel und Werther und könne so als »Kreislauf der gegenseitigen emotionalen Selbstversicherung« gelesen werden674. Klopstock als »literarische »Loo-
670 671 672 673 674
eigentlichen Erzählthema – die Persönlichkeit Lottes und seine Gefühle ihr gegenüber – ein neues Feld der Beziehung zwischen Körper(sprache) und Emotion.« Ebda. Vgl. ebda., S. 119. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 119f. Werther, Studienausgabe, S. 52. Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 120.
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sung« und ›vergötterte‹ Persönlichkeit zugleich« dient, so Huber, als dessen Haltepunkt675 : Werther hingegen verzichtet im zweiten Halbkreis darauf, den Umweg über die Natur zu gehen. Stimuliert durch die anzitierten Empfindungen bindet er seine ambivalent empfindsam-erotischen Gefühle, denen er zunächst in Tränen und Küssen freien Lauf läßt, ohne die Natur noch einmal wahrzunehmen, direkt an Lottes Auge zurück – und findet dort wiederum Klopstock! Das Neue an der Liebeskonzeption in Werther, so ist sich die Forschung einig, liegt in der Verknüpfung von enthusiastischer Liebe und religiöser Ekstase, die für Werther austauschbar werden.676
Für Huber wird die Technik dieser Überblendung also an Klopstock sichtbar, mit ihm werde »gleichsam als religiöser Text eine Ode aufgerufen«, Natur-Erleben zum Gottesdienst; durch Lottes vergötternden Blick werde Klopstock in den Rang eines Heiligen erhoben677. Huber geht außerdem dem Prinzip der intertextuellen Unterlegung des Werther anhand von Textstellenvergleichen aus Klopstock-Oden nach und beschäftigt sich mit der Rolle, die Werthers HomerLektüre für den Roman spielt. Auch an diesen Verknüpfungen hebt Huber das Prinzip der Überblendungen heraus, das in seiner Konzeption der erzähltechnischen Methoden der Gefühlssuggestion im Werther eine wichtige Rolle spielt. Als drittes Element des emotiven Erzählprinzips, das für Huber die nachhaltige Wirkung des Werther begründet, nennt er die Doppelungsstruktur zwischen erstem und zweitem Teil678. Werther besucht bestimmte Orte im Text zweimal. Diese Doppelungen erfüllen für Huber verschiedene Funktionen: über Landschaft und Natur könne Werthers psychische Verfassung gespiegelt werden, »Natur« als Konzept könne aber auch der Gesellschaft gegenübergestellt werden; in ihr erlebe Werther jene »Einheit und Ganzheit des Seins«, die er in der Gesellschaft nicht findet679. Die Erlebnisse, die an bestimmte Orte gebunden sind, machen diese dann im zweiten Teil zu »Erinnerungsorten«, so Huber680. Aus der zeitlichen Differenz zum ersten Besuch und der Evokation der damaligen Stimmung schöpft Werther das Potential seiner gegenwärtigen Stimmung. Die Rückkehr macht eine Beobachtung zweiter Ordnung möglich und eröffnet in der schriftlichen Fixierung eine gesteigerte Selbstbeobachtung, wie auch der metaphorischen Überhöhung und Sinngebung einzelner Bildzeichen des literarischen Textes.681
675 676 677 678 679 680 681
Vgl. ebda. Ebda. Vgl. ebda., S. 120f. Vgl. ebda., S. 109f. Vgl. ebda., S. 109. Vgl. ebda. Ebda.
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Die Kombination aus radikaler Monoperspektivierung, narrativen Inszenierungen und Doppelungsstruktur stellt also für Huber das »Erfolgsgeheimnis« der Erzähltechnik im Werther dar. Bei Blanckenburg sieht Huber ein Programm der »dramatischen Gegenwärtigkeit« in der Forderung nach unmittelbarer Vergegenwärtigung des Geschehens in der »Illusion des Lesers«, wie es bei Blanckenburg heißt, entwickelt682. Das stützt, so Huber, die Psychologisierung des Erzählens; daneben diene das Drama hinsichtlich der Verteilung von Redeund Handlungstext als wesentliches Vorbild: mehr Dialogpartien werden in den Roman eingeführt683. Hubers Plädoyer, so kann man zusammenfassen, besteht dabei darin, die Diskussion über die Verbindungen von Roman und »Theater« in Bezug auf die Texte der Empfindsamkeit nicht nur auf jener Ebene zu führen, die Dramentheorie in den Romanen sucht. Verstehe man statt dessen narrative Inszenierungen, so Huber, als »Funktionsäquivalente« zu Blanckenburgs Programm der dramatischen Gegenwärtigkeit, so lasse sich in dessen Begeisterung für den Werther ein Gespür für »autonome, nur von der Ästhetik geleitete Texte« erkennen684. Damit werden nämlich, so Huber, Werther und andere empfindsame Texte des 18. Jahrhunderts in ihre richtungsweisende Rolle gerückt: Sie sind nicht nur der emotionale Ausgleich zur verstandesbetonten Aufklärung, und auch nicht die Vorstufe der Klassik mit dem Modell Bildungsroman, sondern ein eigenständiges technisches Experimentierfeld des Erzählens, ohne das die Entwicklung des modernen Erzählens anders verlaufen wäre. Seither lassen Erzähltexte die Leser auf suggestive Weise teilhaben an der sinnlichen Erfahrung und den Emotionen ihrer Protagonisten.685
Diese Diagnose Hubers spiegelt sich in den Präsenspartien der Wahlverwandtschaften und dazu paralleler Phänomene wie den hier ebenfalls deutlichen »narrativen Inszenierungen« von Gefühlsmomenten der Figuren. Das szenische Präsens kann aber vor allem als euphorischer Hinweis auf die Autonomie des Textes gelesen werden, der in dieser formal auffälligen und seine Gemachtheit betonenden Form stets einen Dialog mit dem Leser führt und so dessen Gefühlsmomente mitdenkt. Ein zentrales Parallelphänomen sind dabei jene Szenen, in denen Eduard und Ottilie einander als Tagtraum- oder Traumfiguren imaginieren, die in steter Bewegung begriffen sind, auch darauf komme ich zurück. In diesen Szenen werden Eduard und Ottilie wesentlich als das eigentliche Liebespaar der Wahlverwandtschaften entworfen; Charlotte und den Hauptmann verbindet diese Motivik nur in Andeutungen. Wie Huber lese ich dieses Moment der Darstellung der emotionalen Verbundenheit zwischen 682 683 684 685
Vgl. ebda., S. 98. Vgl. ebda. Vgl. ebda., S. 98f. Ebda., S. 99.
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Eduard und Ottilie über eine sehr spezifische Körper- und Bewegungssymbolik als Moment der Intensivierung und gesteigerten Vermittlung von Gefühlskonstruktionen, die noch dazu auch die Figuren selbst aktiv hervorzurufen suchen. Ich möchte also an Hubers Conclusio zum Werther mit meiner Untersuchung anschließen und herausstreichen, daß auch die Wahlverwandtschaften die von Huber herausgearbeitete Qualität der Suggestivität aufweisen und das hier bereitgestellte Formeninventar weitertragen. Im Sinne der Intensität der Vermittlung von Gefühlsinhalten stehen die Wahlverwandtschaften keineswegs hinter den empfindsamen Werther zurück, sondern bauen auf Hubers »Experimentierfeld« emotiver Suggestion wesentlich auf, variieren aber auch den Einsatz der schon entwickelten Erzähltechnik. Ich lenke daher noch den Blick auf das präsentische Erzählen im Inneren des Werther, um die Vielfalt von dessen Gebrauch bei Goethe zu demonstrieren.
IV. 3.2.3. Präsens und Psyche: Beispiele aus Werther und Anton Reiser Blankenburgs Konzept der »dramatischen Vergegenwärtigung« ist also für die Interpretation des szenischen Präsens in den Wahlverwandtschaften festzuhalten. Neben »narrativen Inszenierungen« (Huber) steht hier die Ausweitung des Erzählens im Präsens, das im Schlußteil des Werther den Erzählton wesentlich bestimmt und in unserem Sinn die wichtigste Parallele darstellt. Wie wir an den Beispielen gesehen haben, die in der Auswahl Hubers zitiert wurden, hat das Präsens innerhalb der Briefe Werthers offensichtlich nicht die Rolle, diese wichtigen Passagen der Begegnung oder später des Abschieds zwischen Lotte und Werther herauszuheben. Das Präsens spielt natürlich in der Form der vielen Reflexionen eine große Rolle in den Briefen, doch finden sich in den erzählenden Schilderungen Werthers selten Passagen im historischen Präsens. So beschreibt Werther seine erste Begegnung mit Lotte, wie zitiert, als das »reizendste Schauspiel«, doch wird die Szene der ersten Begegnung nicht über das Präsens markiert, was ja denkbar wäre, da Werther den überraschenden Eindruck, den Lotte auf ihn macht, beschreibt. Sein Brief an Wilhelm ist auch sonst so aufgebaut, daß die Zuspitzung auf den Moment des Zusammentreffens klar ist. Er erwähnt zuerst den Amtmann, Lottes Vater, deutet den »Schatz« an, den er in dessen Haus nicht vermutet hätte, und schildert dann die Umstände der Fahrt zum Ball, auf der er von Lottes Verlobung hört. »Die Nachricht«, heißt es im Text, »war mir ziemlich gleichgültig.« Dann widmet sich ein Absatz den Vorboten des Gewitters und der Schilderung der Schwüle der Abenddämmerung (»Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebürge […] es war sehr schwühle«). Auf diese Weise wird die Szene des Zusammentreffens sorgfältig vorbereitet:
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Ich war ausgestiegen. Und eine Magd, die an’s Thor kam, bat uns, einen Augenblik zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich gieng durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Thüre trat, fiel mir das reizendste Schaupiel in die Augen, das ich jemals gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder, von eilf zu zwey Jahren, um ein Mädchen von schöner mittlerer Taille, die ein simples weisses Kleid mit blaßrothen Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brod und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stük nach Proportion ihres Alters und Appetites ab, gabs jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rufte so ungekünstelt sein: Danke! indem es mit den kleinen Händchen lang in die Höh gereicht hatte, eh es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrode vergnügt entweder wegsprang oder nach seinem stillern Charakter gelassen davon nach dem Hofthore zugieng, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darinnen ihre Lotte wegfahren sollte. Ich bitte um Vergebung, sagte sie, daß ich Sie herein bemühe, und die Frauenzimmer warten lasse. Ueber dem Anziehen und allerley Bestellungen für’s Haus in meiner Abwesenheit, habe ich vergessen meinen Kindern ihr Vesperstük zu geben, und sie wollen von niemanden Brod geschnitten haben als von mir. Ich machte ihr ein unbedeutendes Compliment, und meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und hatte eben Zeit, mich von der Ueberraschung zu erholen, als sie in die Stube lief ihre Handschuh und Fächer zu nehmen.686
Das szenische Präsens taucht in den Briefen Werthers dennoch an einigen Stellen auf, so zuerst, als er sich in Wahlheim mit den Kindern anfreundet und dann deren Mutter kennenlernt: Ich bin, wie ich sehe, in Verzükkung, Gleichnisse und Deklamation verfallen und habe drüber vergessen, dir auszuerzählen, was mit den Kindern weiter worden ist. Ich saß ganz in mahlerische Empfindungen vertieft, die dir mein gestriges Blatt sehr zerstükt darlegt, auf meinem Pfluge wohl zwey Stunden. Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die sich die Zeit nicht gerührt hatten, mit einem Körbchen am Arme und ruft von weitem: Philips, du bist recht brav. Sie grüßte mich, ich dankte ihr, stand auf, trat näher hin, und fragte sie: ob sie Mutter zu den Kindern wäre? Sie bejahte es, und indem sie dem Aeltesten einen halben Wek gab, nahm sie das Kleine auf und küßte es mit aller mütterlichen Liebe.687
Das historische Präsens erscheint hier in der (häufigen) Funktion, eine unvermutete Begegnung zu kennzeichnen. Ich habe im ersten Teil des Werther nur zwei andere Stellen gefunden, wo das szenische Präsens zum Einsatz kommt. Diese jedoch verbinden sich schon in eindeutigerer Form mit der Romanhandlung. Die erste findet sich in einer der Tanzszenen auf dem Ball und kann als Vorausdeutung auf das störende Element zwischen Werther und Lotte gelesen werden: 686 Werther, Studienausgabe, S. 38/40. 687 Ebda., S. 28.
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Beym dritten Englischen waren wir das zweyte Paar. Wie wir die Reihe so durchtanzten, und ich, weis Gott mit wie viel Wonne, an ihrem Arme und Auge hieng, das voll vom wahrsten Ausdrukke des offensten reinsten Vergnügens war, kommen wir an eine Frau, die mir wegen ihrer liebenswürdigen Mine auf einem nicht mehr ganz jungen Gesichte, merkwürdig gewesen war. Sie sieht Lotten lächelnd an, hebt einen drohenden Finger auf, und nennt den Nahmen Albert zweymal im Vorbeyfliegen mit viel Bedeutung. Wer ist Albert, sagte ich zu Lotten, wenns nicht Vermessenheit ist zu fragen. Sie war im Begriffe zu antworten, als wir uns scheiden mußten die grosse Achte zu machen, und mich dünkte einiges Nachdenken auf ihrer Stirne zu sehen, als wir so vor einander vorbeykreuzten.688
Die dritte Präsensstelle im ersten Teil ist ebenso mit Albert verknüpft, sie bezieht sich auf Albert und Lotte als Paar : Es ist wahr, wenn meine Krankheit zu heilen wäre, so würden diese Menschen es thun. Heut ist mein Geburtstag, und in aller Frühe empfang ich ein Päkgen von Alberten. Mir fällt bey’m Eröfnen sogleich eine der blaßrothen Schleifen in die Augen, die Lotte vorhatte, als ich sie kennen lernte, und um die ich sie seither etlichemal gebeten hatte. Es waren zwey Büchelgen in duodez dabey, der kleine Wetsteinische Homer, ein Büchelgen, nach dem ich so oft verlangt, um mich auf dem Spaziergange mit dem Ernestischen nicht zu schleppen. Sieh! so kommen sie meinen Wünschen zuvor, so suchen sie all die kleinen Gefälligkeiten der Freundschaft auf, die tausendmal werther sind als jene blendende Geschenke, wodurch uns die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Ich küsse diese Schleife tausendmal, und mit jedem Athemzuge schlürfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit denen mich jene wenige, glückliche, unwiederbringliche Tage überfüllten.Wilhelm es ist so, und ich murre nicht, die Blüthen des Lebens sind nur Erscheinungen!689
Es finden sich einige Briefstellen, in denen das Präsens als Tempus der Beschreibung von (wiederkehrenden) Szenen zwischen Werther und Lotte verwendet wird. Es sind solche Stellen, wo Werther ganz in der Gegenwart des Briefberichts von den Details des Umgangs zwischen ihm und Lotte schwärmt: Ach wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unversehns den ihrigen berührt, wenn unsere Füsse sich unter dem Tische begegnen. Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts, mir wird so schwindlich vor allen Sinnen. O und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im Gespräch ihre Hand auf die meinige legt, und im Interesse der Unterredung näher zu mir rückt, daß der himmlische Athem ihres Mundes meine Lippen reichen kann. – Ich glaube zu versinken wie vom Wetter gerührt. Und Wilhelm, wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses Vertrauen – Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht! Schwach! schwach genug! Und ist das nicht Verderben?690 688 Ebda., S. 48. 689 Ebda., S. 112. 690 Ebda., S. 76/78.
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Wenn ich nicht schon hundertmal auf dem Punkte gestanden bin ihr um den Hals zu fallen. Weis der große Gott, wie einem das thut, so viel Liebenswürdigkeit vor sich herumkreuzen zu sehn und nicht zugreifen zu dürfen. Und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit. Greifen die Kinder nicht nach allem was ihnen in Sinn fällt? Und ich?691
Diese Stellen sind natürlich im Sinne der Gefühlsbetonung überaus wichtig, vor allem eben, weil sie die starke Unmittelbarkeit des Eindrucks dieser Szenen auf Werther herausstreichen. Durch deren Darstellung als öfter sich wiederholende Ereignisse kommen sie gleichsam in den Rang der Versicherung der währenden Liebe zwischen Werther und Lotte. Dennoch ist es nicht das szenische Präsens, das eine Präteritumerzählung ersetzt oder unterbricht. Auch in der Wiedergabe des Gesprächs zwischen Albert und Werther über die junge Selbstmörderin gebraucht Werther in einer längeren Passage das Präsens, um ausführlich den Fall zu schildern. Im Sprechen beginnt er die Geschichte so mit Details zu unterlegen, daß klar wird, daß Werther sie zur Fallgeschichte einer jungen Frau macht, die von ihrem Geliebten verlassen wird: »deren feurige Natur fühlt nun endlich innigere Bedürfnisse, die durch die Schmeicheleyen der Männer vermehrt werden, all ihre vorige Freuden werden ihr nach und nach unschmakhaft, bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf den sie nun all ihre Hofnungen wirft, die Welt rings um sich vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen, sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. […]«692 Werther malt die Gefühle des Betrogenseins und Verlassenwerdens genau aus, um Albert davon zu überzeugen, daß es Gefühlszustände gibt, die Selbstmord als einzigen Ausweg erscheinen lassen. Auch in dieser Beispielgeschichte, deren Details Werther konstruiert, steht das Präsens also für die Erregung und Anteilnahme Werthers, der Alberts trockenen Standpunkt nicht verstehen kann. Die eindringlichsten Beispiele für die Verwendung des historischen Präsens in Werthers Briefen hängen jedoch mit seiner Schilderung des Zerwürfnisses mit der Gesellschaft des Grafen im zweiten Teil zusammen und veranschaulichen deutlich Zorn und Erregung: Ich hab einen Verdruß gehabt, der mich von hier wegtreiben wird, ich knirsche mit den Zähnen! Teufel! Er ist nicht zu ersezzen, und ihr seyd doch allein schuld daran, die ihr mich sporntet und triebt und quältet, mich in einen Posten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne war. Nun hab ich’s nun habt ihr’s. Und daß du nicht wieder sagst: meine überspannten Ideen verdürben alles; so hast du hier lieber Herr, eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das aufzeichnen würde. Der Graf v. C. liebt mich, distingwirt mich, das ist bekannt, das hab ich dir schon 691 Ebda., S. 180. 692 Ebda., S. 100.
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hundertmal gesagt. Nun war ich bey ihm zu Tische gestern, eben an dem Tage, da Abends die noble Gesellschaft von Herren und Frauen bey ihm zusammenkommt, an die ich nie gedacht hab, auch mir nie aufgefallen ist, daß wir Subalternen nicht hinein gehören. Gut. Ich speise beym Grafen und nach Tische gehn wir im grossen Saale auf und ab, ich rede mit ihm, mit dem Obrist B. der dazu kommt, und so rükt die Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke, Gott weis, an nichts. Da tritt herein die übergnädige Dame von S.. mit Dero Herrn Gemahl und wohl ausgebrüteten Gänslein Tochter mit der flachen Brust und niedlichem Schnürleib, machen en passant ihre hergebrachten hochadlichen Augen und Naslöcher, und wie mir die Nation von Herzen zuwider ist, wollt ich eben mich empfehlen, und wartete nur, bis der Graf vom garstigen Gewäsche frey wäre, als eben meine Fräulein B.. herein trat, da mir denn das Herz immer ein bißgen aufgeht, wenn ich sie sehe, blieb ich eben, stellte mich hinter ihren Stuhl, und bemerkte erst nach einiger Zeit, daß sie mit weniger Offenheit als sonst, mit einiger Verlegenheit mit mir redte. Das fiel mir auf. Ist sie auch wie all das Volk, dacht ich, hohl sie der Teufel! und war angestochen und wollte gehn, und doch blieb ich, weil ich intriguirt war, das Ding näher zu beleuchten. Ueber dem füllt sich die Gesellschaft. Der Baron F.. mit der ganzen Garderobe von den Krönungszeiten Franz des ersten her, der Hofrath R.. hier aber in qualitate Herr von R.. genannt mit seiner tauben Frau etc. den übel fournirten J. nicht zu vergessen, bey dessen Kleidung, Reste des altfränkischen mit dem neu’st aufgebrachten kontrastiren etc. das kommt all und ich rede mit einigen meiner Bekanntschaft, die alle sehr lakonisch sind, ich dachte – und gab nur auf meine B.. acht. Ich merkte nicht, daß die Weiber am Ende des Saals sich in die Ohren pisperten, daß es auf die Männer zirkulirte, daß Frau von S.. mit dem Grafen redte (das alles hat mir Fräulein B.. nachher erzählt:) biß endlich der Graf auf mich losgieng und mich in ein Fenster nahm. Sie wissen sagt er, unsere wunderbaren Verhältnisse, die Gesellschaft ist unzufrieden, merk ich, sie hier zu sehn, ich wollte nicht um alles – Ihro Excellenz, fiel ich ein, ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich hätte eher dran denken sollen, und ich weis, Sie verzeihen mir diese Inkonsequenz, ich wollte schon vorhin mich empfehlen, ein böser Genius hat mich zurük gehalten, setzte ich lächelnd hinzu, indem ich mich neigte. Der Graf drükte meine Hände mit einer Empfindung, die alles sagte. Ich machte der vornehmen Gesellschaft mein Compliment, gieng und sezte mich in ein Cabriolet und fuhr nach M.. dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen, und dabey in meinem Homer den herrlichen Gesang zu lesen, wie Ulyß von dem treflichen Schweinhirten bewirthet wird. Das war all gut. Des Abends komm ich zurük zu Tische. Es waren noch wenige in der Gaststube, die würfelten auf einer Ekke, hatten das Tischtuch zurük geschlagen. Da kommt der ehrliche A.. hinein, legt seinen Hut nieder, indem er mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise: Du hast Verdruß gehabt? Ich? sagt ich – der Graf hat dich aus der Gesellschaft gewiesen – Hol sie der Teufel, sagt ich, mir war’s lieb, daß ich in die freye Luft kam – Gut, sagt er, daß du’s auf die leichte Achsel nimmst. Nur verdrießt mich’s. Es ist schon überall herum. – Da fieng mir das Ding erst an zu wurmen. Alle die zu Tische kamen und mich ansahen, dacht ich die sehen dich darum an! Das fieng an mir böses Blut zu sezzen. Und da man nun heute gar wo ich hintrete mich bedauert, da ich höre, daß meine Neider nun triumphiren und sagen: Da sähe man’s, wo’s mit den Uebermüthigen hinausgieng, die sich ihres bißgen Kopfs überhüben und glaubten, sich darum über alle
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Verhältnisse hinaussezzen zu dürfen, und was des Hundegeschwäzzes mehr ist. Da möchte man sich ein Messer in’s Herz bohren. Denn man rede von Selbstständigkeit was man will, den will ich sehn der dulden kann, daß Schurken über ihn reden, wenn sie eine Prise über ihn haben. Wenn ihr Geschwätz leer ist, ach! da kann man sie leicht lassen.693 Es hezt mich alles! Heut tref ich die Fräulein B.. in der Allee. Ich konnte mich nicht enthalten sie anzureden, und ihr, sobald wir etwas entfernt von der Gesellschaft waren, meine Empfindlichkeit über ihr neuliches Betragen zu zeigen. O Werther, sagte sie mit einem innigen Tone, konnten Sie meine Verwirrung so auslegen, da Sie mein Herz kennen.694
Die Stelle kennzeichnet markant den Wendepunkt in der Geschichte Werthers, von dem an sich Werther mehr und mehr seiner beruflichen und sozialen Außenwelt entfremdet. Die Affäre, die die Umgebung aus seinem unbeabsichtigten Fauxpas macht, beschämt und erbittert ihn so sehr, daß er sich endgültig in sich zurückzieht und sich letztlich mit niemand anderem mehr als mit Lotte in innerer Übereinstimmung sieht. Diese Passage stellt daher das Pendant zu den zwei mit Albert verknüpften Verwendungen im ersten Teil dar, denn sie weist auf das Einwirken und Eindringen der Außenwelt hin, deren starren Regeln sich Werther mehr und mehr ausgeliefert sieht. Dies korrespondiert mit der Entwicklung der Darstellung von Alberts Charakter, der im ersten Teil noch als toleranter Verlobter, im zweiten Teil aber zunehmend als ungnädiger und regelbedachter Ehemann erscheint, der Lottes inneren Reichtum nicht zu sehen imstande ist und sie mit einiger charakterlicher Kleinlichkeit konfrontiert. Albert wird so allmählich zum steifen und allzu konventionell denkenden Repräsentanten jener ständischen Gesellschaftsordnung, die Werther ablehnt und an deren Normen er verzweifelt. Die Verknüpfung der drei Szenen besteht also darin, daß sie alle drei Momente markieren, in denen Werther in Gegensatz zur Außenwelt gerät; die Affäre um seinen Ausschluß aus der Gesellschaft des ihm wohlwollenden Grafen ist so nur die äußere und in größere Zusammenhänge gehende Erweiterung seines Konflikts mit Albert. Es fällt auch auf, daß das Präsens in der langen Schilderung vor allem dann wiederkehrt, wenn es um das Auftreten jener Mitglieder der Gesellschaft geht, die Werther verabscheut: »Da tritt herein die übergnädige Dame von S..«, »Ueber dem füllt sich die Gesellschaft.«, »das kommt all«. In diesem Sinn könnte man auch die erste Verwendung des szenischen Präsens, Werthers Begegnung mit der jungen Mutter aus niederem Stand und deren Kindern in Wahlheim, als in diese Kette gehörig betrachten. Sie stünde dann für Werthers Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, vorurteilslos an seine Umwelt heranzugehen und Standesgrenzen eben 693 Ebda., S. 142/144/146. 694 Ebda., S. 146/148.
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nicht zu beachten, wenn Menschen ihn berühren. So ist die Begegnung mit der jungen Mutter das Vor-Bild zur Begegnung mit Lotte, die von Anfang an als Zuneigung aufgrund weltanschaulicher Übereinstimmung geschildert wird (die Szenen sind außerdem über das Motiv des Brotausteilens verbunden). Eine ähnliche Begegnung kehrt überdies im zweiten Teil wieder, nämlich jene mit dem früheren Schreiber von Lottes Vater, der sich in Lotte verliebt hat und über dieser Liebe wunderlich geworden ist. Auch Heinrichs »Fall«, der Werther sehr rührt, wird von dessen hinzukommender Mutter im Präsens zusammengefaßt: Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen, wo ich hintrete, begegnet mir eine Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt. Heut! O Schiksal! O Menschheit! Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war so öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Berge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal hinein. Von ferne seh ich einen Menschen in einem grünen schlechten Rokke, der zwischen den Felsen herumkrabelte und Kräuter zu suchen schien. Als ich näher zu ihm kam und er sich auf das Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah ich eine gar interessante Physiognomie, darinn eine stille Trauer den Hauptzug machte, die aber sonst nichts als einen graden guten Sinn ausdrükte […]. Heinrich! rufte eine alte Frau, die den Weg herkam. Heinrich, wo stikst du. […] Ist das euer Sohn? fragt’ ich zu ihr tretend. Wohl mein armer Sohn, versetzte sie. […] Er war ein so guter stiller Mensch, der mich ernähren half, seine schöne Hand schrieb, und auf einmal wird er tiefsinnig, fällt in ein hitzig Fieber, daraus in Raserey, und nun ist er, wie sie ihn sehen.695
Die Begegnung mit der jungen Mutter bildet so den Anfang und jene mit Heinrich den Ausgang der Begegnungen mit der weiteren Umwelt, die Werther hat. Die Verknüpfung der positiven wie negativen Begegnungs-Szenen mit dem Gebrauch des Präsens ist daher im Werther recht eindeutig. Im Sinne von Hubers »Doppelungstruktur« könnte man sie auch als wiederkehrende Momente der Beobachtung interpretieren. Entweder geht es um Beobachtungen, die Werther macht, oder um solche, die die Außenwelt an ihm vornimmt. Dies ergibt eine enge Verbindung zwischen dem Präsens und der psychischen Dimension, die die Begegnungen für Werther haben. Das szenische Präsens innerhalb der Briefe Werthers ist so gleichsam in doppelter Weise mit der »Gefühls«-Struktur des Romans verknüpft. Einerseits erfüllt es seine »kanonische« Funktion, die besondere Erregung des Schreibenden auszudrücken, besonders im hochemotionalen Briefbericht über den Ausschluß aus der Gesellschaft des Grafen. Andererseits besteht in diesen Passagen eine Verbindung zum Thema des Kontrastes zwischen Innen- und Außenwelt, sie streichen daher auch aus der Sicht der Makrostruktur des Romans Werthers starkes Gefühl (für Lotte, für gesellschaftliche Zusammenhänge) als 695 Ebda., S. 188/190/192.
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den Dreh- und Problempunkt der Handlung heraus. Wie schon in der Einleitung vorgezeichnet, ist es auch in der Schlußerzählung, die der Erzähler von Werthers Tod gibt, die Reaktion der anderen, die im Zentrum der Präsenspassage des Schlußteils steht. Man kann dies der von Huber im Schulmeisterlein Wutz beobachteten Fortführung des emotiven Erzählprinzips in der Rahmenerzählung gleichsetzen (siehe IV. 1.3.1.). Auch der Erzählerbericht im Werther greift auf dieselben Strategien der Emotionalisierung zurück wie der Briefbericht. Die Präsensverwendung steht so auch hier im Zusammenhang der Plausibilisierung und wird in der Wechselwirkung zwischen beiden Teilen zum doppelten Beglaubigungsmoment aufgeladen. Ich möchte außerdem zur Ergänzung meiner These der Verbindung zwischen Präsens und Verpersönlichung der Darstellung kurz auf die Präsensverwendung in Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785) hinweisen. Auch im ersten »psychologischen Roman« lassen sich Belege finden, die die Präsensverwendung als Mittel der Dynamisierung und Perspektivierung der Erzählsituation ausweisen. Vor allem am Beginn von Anton Reiser greift der »Ich«-Erzähler mitunter in der Form des szenischen Präsens auf die Vergangenheit zu oder stellt die Verbindung zwischen damals und heute mit einem Kommentar im Präsens her : »Die Vorstellungen von […] mischen sich noch immer unter seine angenehmsten Gedanken.«696 Dadurch, daß in Anton Reiser der Ich-Erzähler von sich als »er« spricht, gewinnen diese Einschübe eine eigene perspektivische Kraft der Kommunikation mit der Vergangenheit. Vor allem angenehme oder besonders eindrückliche Erinnerungen aus der frühen und frühesten Kindheit werden des öfteren von einem Präsenskommentar eingeleitet oder begleitet. Dies geschieht daher vermehrt am teilweise achronologisch erzählten Anfang des Romans, und verliert sich mit dem Größerwerden des Kindes Anton. Für eine eingehende Untersuchung ist hier nicht der Platz, festhalten möchte ich aber das Prinzip der Auflockerung des Erzähltextes durch den Wechsel der Formen an sich, die manchmal auch innerhalb des Satzes geschieht, und die Tatsache, daß hier das Präsens die genaue Betrachtung innerer Vorgänge unterstützt. Im Vergleich zwischen Damals und Jetzt scheint dem Ich-Erzähler die Hervorhebung bestimmter Szenen durch die Verwendung des Präsens zu helfen bzw. gewinnt es die Kraft, besondere Momente für die Erinnerung ausdrücklicher festzuhalten – um sie dadurch gleichsam analysierbar zu machen: Zu seinem Hause [v. Fleischbein] geschahen Wallfahrten von allen Seiten, und unter denen, die jährlich wenigstens einmal dieses Haus besuchten, war auch Antons Vater. Dieser, ohne eigentliche Erziehung aufgewachsen, hatte seine erste Frau sehr früh 696 Karl Philipp Moritz, Anton Reiser Ein psychologischer Roman, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1979, S. 16.
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geheiratet, immer ein ziemlich wildes, herumirrendes Leben geführt, wohl zuweilen einige fromme Rührungen gehabt, aber nicht viel darauf geachtet. Bis er nach dem Tode seiner ersten Frau plötzlich in sich geht, auf einmal tiefsinnig und, wie man sagt, ein ganz andrer Mensch wird und bei seinem Aufenthalt in Pyrmont zufälligerweise erstlich den Verwalter des Herrn von Fleischbein und nachher durch diesen den Herrn von Fleischbein selber kennen lernte. Dieser gibt ihm denn nach und nach die Guionschen Schriften zu lesen, er findet Geschmack daran und wird bald ein erklärter Anhänger des Herrn von Fleischbein. Demohngeachtet fiel es ihm ein, wieder zu heiraten, und er machte mit Antons Mutter Bekanntschaft, welche bald in die Heirat willigte, das sie nie würde getan haben, hätte sie die Hölle von Elend vorausgesehen, die ihr im Ehestande drohete. Sie versprach sich von ihrem Manne noch mehr Liebe und Achtung, als sie vorher bei ihren Anverwandten genossen hatte, aber wie entsetzlich fand sie sich betrogen.697 Da sein Vater im Siebenjährigen Kriege mit zu Felde war, zog seine Mutter zwei Jahre lang mit ihm auf ein kleines Dorf. Hier hatte er ziemliche Freiheit und einige Entschädigung für die Leiden seiner Kindheit. Die Vorstellungen von den ersten Wiesen, die er sahe, von dem Kornfelde, das sich einen sanften Hügel hinanerstreckte und oben mit grünem Gebüsch umkränzt war, von dem blauen Berge und den einzelnen Gebüschen und Bäumen, die am Fuß desselben auf das grüne Gras ihren Schatten warfen und immer dichter und dichter wurden, je höher man hinaufstieg, mischen sich noch immer unter seine angenehmsten Gedanken und machen gleichsam die Grundlage aller der täuschenden Bilder aus, die oft seine Phantasie sich vormalt. Aber wie bald waren diese beiden glücklichen Jahre entflohen!698 Allein, sobald er merkte, daß wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetzten Buchstaben ausgedrückt waren, so wurde seine Begierde, lesen zu lernen, von Tage zu Tage stärker. Sein Vater hatte ihm kaum einige Stunden Anweisung gegeben, und er lernte es nun zur Verwunderung aller seiner Angehörigen in wenig Wochen von selber. Mit innigem Vergnügen erinnert er sich noch itzt an die lebhafte Freude, die er damals genoß, als er zuerst einige Zeilen, bei denen er sich etwas denken konnte, durch vieles Buchstabieren mit Mühe herausbrachte.699 Am dritten Tage war die Geschwulst und Entzündung am Fuße schon so gefährlich geworden, daß man am vierten zur Amputation schreiten wollte. Antons Mutter saß und weinte, und sein Vater gab ihm zwei Pfennige. Dies waren die ersten Äußerungen des Mitleids gegen ihn, deren er sich von seinen Eltern erinnert, und die wegen der Seltenheit einen desto stärkeren Eindruck auf ihn machten.700
697 698 699 700
Ebda., S. 13f. Ebda., S. 15f. Ebda., S. 17. Ebda., S. 19.
Szenisches Präsens – Werther und Wahlverwandtschaften
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Aber von seinem zweiten und dritten Jahre an erinnert er sich auch der höllischen Qualen, die ihm die Märchen seiner Mutter und seiner Base im Wachen und im Schlafe machten: wenn er bald im Traume lauter Bekannte um sich her sahe, die ihn plötzlich mit scheußlich verwandelten Gesichtern anbleckten, bald eine hohe düstre Stiege hinaufstieg und eine grauenvolle Gestalt ihm die Rückkehr verwehrte, oder gar der Teufel bald wie ein fleckigtes Huhn, bald wie ein schwarzes Tuch an der Wand ihm erschien.701 Eine von Antons seligsten Erinnerungen aus den frühesten Jahren seiner Kindheit ist, als seine Mutter ihn in ihren Mantel eingehüllt durch Sturm und Regen trug. Auf dem kleinen Dorfe war die Welt ihm schön, aber hinter dem blauen Berge, nach welchem er immer sehnsuchtsvoll blickte, warteten schon die Leiden auf ihn, die die Jahre seiner Kindheit vergällen sollten. Da ich einmal in meiner Geschichte zurückgegangen bin, um Antons erste Empfindungen und Vorstellungen von der Welt nachzuholen, so muß ich hier noch zwei seiner frühesten Erinnerungen anführen, die seine Empfindung des Unrechts betreffen. Er ist sich deutlich bewußt, wie er im zweiten Jahre, da seine Mutter noch nicht mit ihm auf dem Dorfe wohnte, von seinem Hause nach dem gegenüberstehenden über die Straße hin und wieder lief und einem wohlgekleideten Manne in den Weg rannte, gegen den er heftig mit den Händen ausschlug, weil er sich selbst und andre zu überreden suchte, daß ihm Unrecht geschehen sei, ob er gleich innerlich fühlte, daß er der beleidigende Teil war. Diese Erinnerung ist wegen ihrer Seltenheit und Deutlichkeit merkwürdig; auch ist sie echt, weil der Umstand an sich zu geringfügig war, als daß ihm nachher jemand davon hätte erzählen sollen. Die zweite Erinnerung ist aus dem vierten Jahre, wo seine Mutter ihn wegen einer wirklichen Unart schalt; indem er sich nun gerade auszog, fügte es sich, daß eines seiner Kleidungsstücke mit einigem Geräusch auf den Stuhl fiel: seine Mutter glaubte, er habe es aus Trotz hingeworfen, und züchtigte ihn hart. Dies war das erste wirkliche Unrecht, was er tief empfand und was ihm nie aus dem Sinne gekommen ist; seit der Zeit hielt er auch seine Mutter für ungerecht, und bei jeder neuen Züchtigung fiel ihm dieser Umstand ein.702
Anton Reiser holt also vor allem die Bilder der frühen Ereignisse seiner Kindheit, vorrangig mithilfe der Formel »erinnert er sich«, ins Gedächtnis zurück, und es fällt auf, daß dort, wo es um die frühesten Erinnerungen geht, der Vorgang des Erinnerns am meisten reflektiert wird. So ergibt sich am Eingang des Romans eine Verbindung zwischen dem Präsens und der Thematik der Rückschau, die eine wirkungsvolle Einleitung auch in die Mühen des autobiographischen Erzählens darstellt. Da der Erzähler des Anton Reiser von sich in der dritten Person spricht, gewinnen diese Reflexionen und der Gestus des Herholens zu Beginn eine wichtige Funktion, denn sie beglaubigen das »Ich«, das in der Erzählung 701 Ebda., S. 33. 702 Ebda., S. 35f.
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nicht genannt wird. Außerdem schildern alle Textstellen Episoden, die in der einen oder anderen Form für das damalige Ich des Anton Reiser von besonderem emotionalem Belang sind oder, wie z. B. die Entdeckung des Lesens, Weichen für das spätere Leben gestellt haben. Auf diese Weise steht auch hier das Präsens im Zusammenhang psychischer Vorgänge und gewinnt eine Dimension von Innerlichkeit, die sie im Fortlaufen der einzelnen Verwendungen immer wieder bereitstellen kann. Dieses Weitergeben einer »introspektiven« Bedeutung des Präsens spielt auch in den Wahlverwandtschaften eine wichtige Rolle.
IV. 4. Szenisches Präsens in den Wahlverwandtschaften »Nähe zum Drama«, wie es oben genannt wurde, meint also in unserem Zusammenhang und vor dem Hintergrund der Thesen Martin Hubers sehr konkrete Formen der Szenengestaltung; und ebenso tragen die Effekte des Tempusgebrauchs der Wahlverwandtschaften wie im Werther zur bühnenartigen Illusionierung und In-Szene-Setzung von Gefühlen, Gedanken und Beobachtungen bei. Die Belegbeispiele aus dem Text gehen in diesem Sinn ineinander über und werden entsprechend ihrem Erscheinen im Text chronologisch analysiert. Gezeigt wird, wie sehr diese Szenen lexikalisch wie motivisch miteinander verknüpft sind und in dieser Verknüpftheit den formal wie psychologisch inneren Handlungskern herausarbeiten, der gleichzeitig Motivations- wie Hemmungsursachen der Figuren beleuchtet und so die eigentlichen Krisenmomente der Handlung angibt. Die Szenen im historischen Präsens übernehmen daher an vielen Stellen die Funktion, die Innenschau der Figuren anzudeuten, die als Gegengewicht zur Fabel der chemischen Gleichnisrede mit ihrer Behauptung der naturgegebenen Vorbestimmtheit entscheidend den Romanverlauf bestimmt. Daher werden diese Szenen detailliert in ihrem Ablauf beleuchtet und z. B. Eingang wie Ausgang der Szenen immer wieder thematisiert, um auf ihre minutiöse Komposition hinzuweisen. Die bei Huber dargestellte Vielschichtigkeit der formalen Gestaltung spiegelt sich darüberhinaus in den Wahlverwandtschaften im Nebeneinander der epischen Erzählpassagen (telling) und jener Teile wider, die, wie die Dialoge zwischen Charlotte und Eduard in den ersten Kapiteln, Dramenelemente im Sinne des showing einbringen. Dazu treten markante In-Szene-Setzungen, wie sie Huber für den Werther beschreibt, auch in den Wahlverwandtschaften. Auch hier finden sich auffallend häufig Bewegungssequenzen, die Ausgestaltung von Szenen durch eine Lichtregie und immer wieder Inszenierungen des Geschehens vor einem sorgfältig dargebotenen Natur-Hintergrund. Ich gebe für diese Darstellungsarten im folgenden als Überleitung zur ersten Präsenspassage einige Beispiele, da zum einen das Moment der Einbildungs- oder Vorstellungskraft, im weiteren das des
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Wünschens und Herbeibegehrens im Roman in den Präsenspassagen eine zentrale Rolle spielt. Außerdem arbeiten diese Techniken der Präsentation aufeinander zu, die »narrativen Inszenierungen« bewirken starke inhaltliche Fokussierungen. Vor allem Eduard und Ottilie werden immer wieder als Sichbewegende dargestellt und imaginieren darüberhinaus einander gegenseitig als solche. Ottilie wird von Anfang an im Roman so eingeführt: Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen. Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenkünfte. Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger als billig auf sich warten. Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. […] In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse kennenlernte, desto lebhafter griff sie eine, desto schneller verstand sie jeden Blick, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit. Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung. Dazu kam, daß man sie nicht gehen hörte; so leise trat sie auf. (WV 283f.)
Dieses Bild von Ottilie wiederholt sich in Eduards Vorstellung, nachdem er auf Charlottes Wunsch, Ottilie zu entfernen, selbst das Schloß verlassen und sich auf ein kleines Landgut zurückgezogen hat: Als er [Mittler] hiernach auf eine freundliche Weise Eduarden wegen seines einsamen Lebens tadelte, erwiderte dieser : »O, ich wüßte nicht, wie ich meine Zeit angenehmer zubringen sollte! Immer bin ich mit ihr beschäftigt, immer in ihrer Nähe. Ich habe den unschätzbaren Vorteil, mir denken zu können, wo sich Ottilie befindet, wo sie geht, wo sie steht, wo sie ausruht. Ich sehe sie vor mir tun und und handeln wie gewöhnlich, schaffen und vornehmen, freilich immer das, was mir am meisten schmeichelt. Dabei bleibt es aber nicht; denn wie kann ich fern von ihr glücklich sein! […] Wenn sie mich liebt, wie ich glaube, wie ich weiß, warum entschließt sie sich nicht, warum wagt sie es nicht, zu fliehen und sich in meine Arme zu werfen? Sie sollte das, denke ich manchmal, sie könnte das. Wenn sich ewas auf dem Vorsaale regt, sehe ich gegen die Türe. Sie soll hereintreten! denk ich, hoff ich. Ach! und da das Mögliche unmöglich ist, bilde ich mir ein, das Unmögliche müsse möglich werden. Nachts, wenn ich aufwache, die Lampe einen unsichern Schein durch das Schlafzimmer wirft, da sollte ihre Gestalt, ihr Geist, eine Ahnung von ihr vorüberschweben, herantreten, mich ergreifen, nur einen Augenblick, daß ich eine Art von Versicherung hätte, sie denke mein, sie sei mein. (WV 353f.)
Als Ottilie auf den Wunsch des Architekten, der die Kapelle ausgemalt hat, diese besichtigt, trifft sie auf ein sorgfältig für sie vorbereitetes (Licht-)Szenario, in dem sie selbst die Rolle der sich bewegenden und bewegten Figur spielt. Auf diese Weise wird Ottilie ein weiteres Mal für den Leser in Szene gesetzt:
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Durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes, buntes Licht herein; denn es war von farbigen Gläsern anmutig zusammengesetzt. Das Ganze erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer eigenen Stimmung. Die Schönheit des Gewölbes und der Wände ward durch die Zierde des Fußbodens erhöht, der aus besonders geformten, nach einem schönen Muster gelegten, durch eine gegossene Gipsfläche verbundenen Ziegelsteinen bestand. Diese sowohl als die farbigen Scheiben hatte der Architekt heimlich bereiten lassen und konnte nun in kurzer Zeit alles zusammenfügen. Auch für Ruheplätze war gesorgt. Es hatten sich unter jenen kirchlichen Altertümern einige schön geschnitzte Chorstühle vorgefunden, die nun gar schicklich an den Wänden angebracht umherstanden. Ottilie freute sich der bekannten, ihr als ein unbekanntes Ganzes entgegentretenden Teile. Sie stand, ging hin und wider, sah und besah; endlich setzte sie sich auf einen der Stühle, und es schien ihr, indem sie auf- und umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte; und nur als die Sonne das bisher sehr lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst und eilte nach dem Schlosse. (WV 373f.)
In allen drei Szenen wird deutlich, wie sehr Ottilies Bild im Roman immer wieder zwischen Wirklichkeit und Imagination gehalten wird. Zwar werden zuerst ihre Tatkräftigkeit und Tüchtigkeit in praktischen Dingen des Lebens betont, doch gibt es, wie oben gezeigt, schon dort den Hinweis auf ihr gleichzeitig ätherisches, lautloses Wesen. Zu einem solchen wird sie immer mehr stilisiert, als Traumwesen taucht sie Eduard auf, in der Kapelle ist sie schließlich ganz allein und wird durch ihre Gedanken für die Leserin fast zu einer Schattenfigur : »als wenn sie wäre und nicht wäre«. Die Szene in der Kapelle bestimmt eine Art Aufhebung physischer Gegebenheiten, man folgt dem lebhaften Umherschauen Ottilies. Wie Huber für den Werther analysiert, wird auch hier eine Verknüpfung hergestellt zwischen Blickregie und Emotion703. Das Nachdenken und Reflektieren wird vor allem im zweiten Teil das Ottilie zugeordnete Element, der Abschluß des ersten Teils kündigt dies an: »Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewährt uns ihr Tagebuch, aus dem wir einiges mitzuteilen gedenken.« (WV 359) Neben den Tagebucheinträgen Ottilies stehen Szenen des Nachdenkens wie die eben zitierte in der Kapelle. Auf Ottilies Beschreibung als »Penserosa«, als tagträumende oder lesende Madonna, bei Friedrich Kittler wurde schon verwiesen (siehe Kap. III. 4.2.7)704. Auch Ottilies Träume von Eduard werden geschildert und hier wiederholt sich das Motiv der Imagination des Geliebten als in Bewegung begriffener Gestalt. Ottilie wird 703 Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 113–116. Vgl. auch die Kurzdarstellung in Kap. IV. 1.3.2. 704 Vgl. dazu auch Waltraud Wiethölters Stellenkommentar der Frankfurter Ausgabe (FA): Goethe Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, I. Abteilung, Bd. 8, In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hrsg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt am Main 1994, S. 1039: »Das ikonographische Arrangement folgt dem Muster einer Maria im Gehäuse und referiert damit auf das Sujet einer Verkündigungsszene.«
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dabei eine besondere Kraft der Vorstellungsgabe zugeschrieben, sodaß sogar von »Erscheinungen« die Rede ist. Gleichzeitig geht aus der entsprechenden Szene hervor, wie vielfältig im Roman über Betrachten und Imaginieren, über Einbilden und Sehen reflektiert wird. Nicht zufällig schließt sich die Traumszene an den Tod des Pfarrers während der Kindstaufe an (als ihm das Kind zum Taufakt hingehalten wird, sinkt er zuerst darüber hin, dann tot zurück). Der starke Eindruck dieser widersprüchlichen Bilder wird thematisiert: So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege nebeneinander zu sehen und zu denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft, sondern mit den Augen diese ungeheuern Gegensätze zusammenzufassen, war für die Umstehenden eine schwere Aufgabe, je überraschender sie vorgelegt wurde. Ottilie allein betrachtete den Eingeschlummerten, der noch immer seine freundliche einnehmende Miene behalten hatte, mit einer Art von Neid. Das Leben ihrer Seele war getötet; warum sollte der Körper noch erhalten werden? Führten sie auf diese Weise gar manchmal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der Vergänglichkeit, des Scheidens, des Verlierens, so waren ihr dagegen wundersame nächtliche Erscheinungen zum Trost gegeben, die ihr das Dasein des Geliebten versicherten und ihr eigenes befestigten und belebten. Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt und im süßen Gefühl noch zwischen Schlaf und Wachen schwebte, schien es ihr, als wenn sie in einen ganz hellen, doch mild erleuchteten Raum hineinblickte. In diesem sah sie Eduarden ganz deutlich, und zwar nicht gekleidet, wie sie ihn sonst gesehen, sondern im kriegerischen Anzug, jedesmal in einer andern Stellung, die aber vollkommen natürlich war und nichts Phantastisches an sich hatte: stehend, gehend, liegend, reitend. Die Gestalt, bis aufs kleinste ausgemalt, bewegte sich willig vor ihr, ohne daß sie das mindeste dazu tat, ohne daß sie wollte oder die Einbildungskraft anstrengte. Manchmal sah sie ihn auch umgeben, besonders von etwas Beweglichem, das dunkler war als der helle Grund; aber sie unterschied kaum Schattenbilder, die ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Bäume und Gebirge vorkommen konnten. Gewöhnlich schlief sie über der Erscheinung ein, und wenn sie nach einer ruhigen Nacht morgens wieder erwachte, so war sie erquickt, getröstet; sie fühlte sich überzeugt, Eduard lebe noch, sie stehe mit ihm noch in dem innigsten Verhältnis. (WV 422f.)
In besonders wichtigen Szenen treten beide Elemente, das der Bewegung und das der detaillierten Angabe der äußeren Szenerie, zusammen auf. Auf diese Weise wird zum Beispiel Eduards nächtlicher Besuch bei Charlotte vorbereitet, der zu einem Zeitpunkt stattfindet, an dem Eduards Neigung zu Ottilie längst feststeht. Ein Grund wird gegeben, warum Eduard den Frauentrakt betreten muß (kurz nach der Ankunft des Hauptmanns waren die Männer in einen Teil des Schlosses, die Frauen in den anderen gezogen): er muß den Grafen zu einem nächtlichen Stelldichein mit der Baronesse leiten. Durch die Beigabe der Beleuchtungsszenerie wird der Gang zu Charlotte zu einem Tappen im Dunkeln: »Nur ohne Sorge!« sagte der Graf; »die Baronesse erwartet mich. Sie ist um diese Zeit gewiß auf ihrem Zimmer und allein.«
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»Die Sache ist übrigens leicht,« versetzte Eduard und nahm ein Licht, dem Grafen vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem langen Gang führte. Am Ende derselben öffnete Eduard eine kleine Türe. Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem Grafen, dem er das Licht in die Hand gab, nach einer Tapetentüre rechts, die beim ersten Versuch sogleich sich öffnete, den Grafen aufnahm und Eduarden in dem dunklen Raum zurückließ. Eine andre Tür links ging in Charlottens Schlafzimmer. Er hörte reden und horchte. Charlotte sprach zu ihrem Kammermädchen: »Ist Ottilie schon zu Bette?« – »Nein,« versetzte jene, »sie sitzt noch unten und schreibt.« – »So zünde Sie das Nachtlicht an,« sagte Charlotte, »und gehe Sie nur hin: es ist spät. Die Kerze will ich selbst auslöschen und für mich zu Bette gehen.« Eduard hörte mit Entzücken, daß Ottilie noch schreibe. ›Sie beschäftigt sich für mich!‹ dachte er triumphierend. Durch die Finsternis ganz in sich selbst geengt, sah er sie sitzen, schreiben; er glaubte zu ihr zu treten, sie zu sehen, wie sie sich nach ihm umkehrte; er fühlte ein unüberwindliches Verlangen, ihr noch einmal nahe zu sein. Von hier aber war kein Weg in das Halbgeschoß, wo sie wohnte. Nun fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Türe, eine sonderbare Verwechselung ging in seiner Seele vor; er suchte die Türe aufzudrehen, er fand sie verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hörte nicht. Sie ging in dem größeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab. Sie wiederholte sich aberund abermals, was sie seit jenem unerwarteten Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um und um gewendet hatte. Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen. Er füllte noch das Haus, er belebte noch die Spaziergänge, und er sollte fort, das alles sollte leer werden! (WV 319f.)
Die Angabe der Lichtverhältnisse bezeichnet aufs deutlichste die Intimität der Szenerie. Da Eduard dem Grafen den Leuchter überlassen muß, ist er kurzfristig ganz ohne Licht. Als Folge oder Analogie wird aber auffälligerweise eine Art vorübergehende Sinnenverwirrung oder -betäubung in psychischer Hinsicht inszeniert: »Durch die Finsternis ganz in sich selbst geengt«. Dem entspricht Charlottes Reaktion auf sein Klopfen. Erschrocken fragt sie, wer da sei, und als Eduard antwortet »Ich bins.«, heißt es: »Wer?« entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte.« (WV 320) Die Atmosphäre der Sinnlichkeit wird auch auf Charlottes Seite als Moment der Verwirrung gezeichnet. Eduard scherzt und flirtet mit seiner Frau, beide sind halb verlegen und halb erregt, Eduard »war so liebenswürdig, so freundlich, so dringend«, heißt es, »und löschte zuletzt mutwillig die Kerze aus.« Beleuchtung und Begehren gehen ineinander über, in fast kausaler Verknüpfung: In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innere Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander. Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben. Sie brachten
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einen Teil der Nacht unter allerlei Gesprächen und Scherzen zu, die um desto freier waren, als das Herz leider keinen Anteil daran nahm. Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; er schlich sich leise von ihrer Seite, und sie fand sich, seltsam genug, allein, als sie erwachte. (WV 321)
Am folgenden Abend, wieder zur Dämmerung, kommt es zu den ersten entscheidenden Szenen zwischen den neuen Paaren. Ottilie ist immer noch mit der Abschrift für Eduard beschäftigt und zieht sich zurück, Eduard läßt seinerseits Charlotte und den Hauptmann auf einer frühabendlichen Kahnfahrt alleine, weil er es nicht erwarten kann, ins Schloß und zu Ottilie zurückzukommen. Er eilt nach Hause: Dort vernahm er, Ottilie habe sich eingeschlossen, sie schreibe. Bei dem angenehmen Gefühle, daß sie für ihn etwas tue, empfand der das lebhafteste Mißbehagen, sie nicht gegenwärtig zu sehen. Seine Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke. Er ging in dem großen Saale auf und ab, versuchte allerlei, und nichts vermochte seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie wünschte er zu sehen, allein zu sehen, ehe noch Charlotte mit dem Hauptmann zurückkäme. Es ward Nacht, die Kerzen wurden angezündet. Endlich trat sie herein, glänzend von Liebenswürdigkeit. Das Gefühl, etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über sich selbst gehoben. (WV 323)
Eduard besieht das Blatt, er ist tief ergriffen von der Tatsache, daß Ottilies Handschrift sich der seinen vollkommen angeglichen hat, es kommt zum beiderseitigen Liebesgeständnis und zur Umarmung: »Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen.« (WV 324) Besonders Eduard wird in diesen Bewegungs- und Imaginationsszenen, außerdem in der zentralen Szene des Ehebruchs in Gedanken, vornehmlich mit einer bestimmten Tageszeit verbunden, diese nachtaktive Seite Eduards gewinnt später, wie wir sehen werden, umfassende Bedeutung. Zeitgleich mit Eduards und Ottilies Liebesgeständnis befinden sich Charlotte und der Hauptmann auf dem Teich, auch diese Szene spielt sich in spärlicher werdender Beleuchtung und vor allem vor dem Hintergrund einer ausführlich dargestellten Naturkulisse ab: Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattin und Freund dem schwankenden Element selbst überantwortete, sah nunmehr Charlotte den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten hatte, in der Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen. Sie empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit. Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Windhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der Vögel, das Blinken und Widerblinken der ersten Sterne: alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille. Es schien ihr, der Freund führe sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen. Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht weinen. (WV 324f.)
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Auch hier kommt es zu einer Verwirrung, der Hauptmann findet beim Zurückrudern die Anlegestelle nicht mehr : »Dunkel fing es an zu werden;« Charlotte wird ängstlich. Schließlich trägt er sie an einer seichten Stelle an Land, er umarmt sie und küßt sie. Der Kuss bringt »Charlotten wieder zu sich selbst«, sie fassen sich und kommen »stillschweigend« zum Schloß zurück. »Fromme Wünsche und Hoffnungen« Auf diese gleichzeitig erfolgenden Liebesgeständnisse folgt auch die grundlegende Veränderung im Erzählmodus, von jetzt an kommt durch die Verwendung des szenischen Präsens ein weiteres Element zum theatralen Erzählen hinzu. Das Ende des zwölften Kapitels des ersten Teils zeigt Charlotte in ihrem Zimmer, noch unter der Einwirkung des Erlebnisses mit dem Hauptmann: Nun aber stand sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich als Gattin Eduards empfinden und betrachten mußte. Ihr kam bei diesen Widersprüchen ihr tüchtiger und durchs Leben mannigfaltig geübter Charakter zu Hülfe. Immer gewohnt, sich ihrer selbst bewußt zu sein, sich selbst zu gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer, durch ernste Betrachtung sich dem erwünschten Gleichgewichte zu nähern; ja sie mußte über sich selbst lächeln, indem sie des wunderlichen Nachtbesuches gedachte. Doch schnell ergriff sie eine seltsame Ahnung, ein freudig bängliches Erzittern, das in fromme Wünsche und Hoffnungen sich auflöste. Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan. Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern vorüber. Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt. Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein. (WV 326)
Das »Ergreifen« als Motiv der Liebesbegegnung wird hier wiederholt, nur nicht das körperliche Ergreifen wie vorher zwischen Eduard und Ottilie. Was Charlotte ergreift, ist eine Ahnung, die sich aber bald sehr wohl als Folge des körperlichen Ergreifens erweist: Charlotte gedenkt des »wunderlichen Nachtbesuches« ihres Ehemanns und beginnt zu ahnen, daß sie schwanger sein könnte. Und wie zur Bestätigung dieser Verwandlung des Abstrakten in Konkretes wird das »Ergreifen« wiederholt, und zwar diesmal statt im Präteritum im Präsens: »Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein.« Der Hinweis auf die Müdigkeit, die sie überkommt, ist schon wie eine Festschreibung der Folgen ihres ungeplanten TÞte-/-tÞtes mit Eduard in der Nacht zuvor: Charlotte ist schwanger. Bezeichnend ist der Satz »Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt.« Durch ein Kind, so wird nicht wenig doppeldeutig angedeutet, kommen die Verwirrungen zu einem Ende; es ist, als ob die gefühlsmäßige »Wiederherstellung«, also Beruhigung Charlottes in der Herstellung der geänderten Körperumstände ausgedrückt wird. Charlottes Episode mit dem Hauptmann schmilzt noch am Abend der beiderseitigen Liebeserklärung auf die Folge »Freundschaft, Neigung, Entsagen« zusammen. Die vorher in den Liebesszenen durcheinandergeratenen Bilder
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werden hier zu »heitern Bildern«, die vor Charlottes innerem Auge vorüberziehen. Charlottes Sorgen, die ihre Neigung zum Hauptmann und Eduards Neigung zu Ottilie betreffen, klären sich. Und doch scheint in dieser wiederholten Erwähnung der Bilder zusammen mit der Geschwindigkeit, mit der die »Hoffnungen« gleich zur guten Hoffnung zu werden scheinen, vor allem das Prinzip der Traumerfüllung angesprochen. Wie kann Charlotte so schnell »wissen«, daß sie schwanger ist? Ist gar der Wunsch der Vater des Kindes? Mit dem Einsatz des szenischen Präsens scheint auf jeden Fall jene »Gegenwart« Einzug zu halten, die sich, wie in der Schilderung der Nacht mit Eduard vorausgedeutet, ihr »ungeheures Recht nicht rauben läßt«. Mit diesem Faktum kommt in die Erzählung der neue Ton, der von nun an immer wieder die Ereignisse bestimmt, und der gleichzeitig, wie im vorigen Kapitel dargestellt, mit dem Präsens des Erzählerkommentars eine komplexe Verbindung eingeht. So steht dem Präsens der Eingangsformel »Eduard – so nennen wir […]« der Beginn des 13. Kapitels gegenüber, das Eduards Reaktion auf den Abend seines Liebesgeständnisses an Ottilie ebenfalls im Präsens zeigt; auch hier ist von inneren Vorgängen und erfüllten Wünschen die Rede: Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung. Zu schlafen denkt er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfällt, sich auszuziehen. Die Abschrift des Dokuments küßt er tausendmal, den Anfang von Ottiliens kindlich schüchterner Hand; das Ende wagt er kaum zu küssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt. ›O daß es ein andres Dokument wäre!‹ sagt er sich im stillen; und doch ist es ihm auch schon die schönste Versicherung, daß sein höchster Wunsch erfüllt sei. Bleibt es ja doch in seinen Händen! und wird er es nicht immerfort an sein Herz drücken, obgleich entstellt durch die Unterschrift eines Dritten? Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Eduarden ins Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen. Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit. Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenstern. Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe. ›Mauern und Riegel‹, sagt er zu sich selbst, ›trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht getrennt. Stünde sie vor mir, in meine Arme würde sie fallen, ich in die ihrigen, und was bedarf es weiter als diese Gewißheit!‹ Alles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich; so still wars, daß er das wühlende Arbeiten emsiger Tiere unter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind. Er hing ganz seinen glücklichen Träumen nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher, als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die frühsten Nebel gewältigte. (WV 327)
Auch diese Szene, die jener von Charlottes nächtlicher Erregung und Beruhigung direkt folgt, ist ganz von der Ausgestaltung mit den Mitteln der narrativen Inszenierung geprägt. Der abendlich ruhige Park wird vom Mond beleuchtet und in dieser Kulisse streift Eduard als Träumer und Schwärmer umher. Es fällt auf, wie romantisch die Szene anmutet, bis hin zum Wühlen »emsiger Tiere«
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unter der Erde, das das Bild einer Welt als ganzheitliche Schöpfung schafft. Das Präsens wirkt hier tatsächlich »szenisch«, und es unterstützt den Eindruck der übersteigerten Gefühlsintensität, in der sich Eduard befindet. Das überaus Romantische ist daher die Übereinstimmung zwischen Eduard und der Außenwelt, die aber teils ebenso über das Präsens hergestellt wird. Es könnte ja auch heißen »Der abnehmende Mond stieg über den Wald hervor.« Diese Außenperspektive des Erzählers wird aber erst später wiederaufgenommen. Auf diese Weise entsteht ein Kontinuum zwischen dem Mond, der warmen Nacht, die Eduard »lockt«, und seinem Umherstreifen, alles scheint eine logische Kette zu ergeben. Hineingewoben sind schließlich seine Gedanken, die er sich »im stillen« sagt, so wie alles um ihn her, zweimal betont, »still« ist. Die Gedanken erscheinen einerseits als »direkte Rede«, also in direkter Wiedergabe, und andererseits in der Form der erlebten Rede. Diese Vielfalt ist erstaunlich für einen so kurzen Textabschnitt. Auch hier wirkt das Präsens als verbindendes Element. Die direkte Gedankenrede (›O daß es ein andres Dokument wäre!‹) verschmilzt so mit der erlebten Rede, die eben nicht lautet »Blieb es ja doch in seinen Händen! und würde er es nicht immerfort an sein Herz drücken, obgleich entstellt durch die Unterschrift eines Dritten?«, sondern im Präsens gegeben wird. Diese Variante verweist eindrücklich auf die Konvention, die hier umgangen wird. Eduards innerer Zustand wird geschildert als der Zustand der Welt, der gerade für ihn herrscht. Nicht zufällig betont der erste Satz »Eduard von seiner Seite« und stellt auch Rahmen und Thema der Präsensszene her : »Stimmung«. (Das Wort kennzeichnet rückwirkend auch Charlottes Zustand.) Es geht um Eduards psychische Verfassung und ganz gemäß Brinkmanns These von der Fremdbestimmung der Figuren tauchen hier »Der abnehmende Mond«, »Die warme Nacht« und »Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück« als Subjekte bzw. Ortsergänzung am Satzanfang auf. Viele Elemente der Szene bezeichnen Eduards perspektivische Sicht auf die Dinge. Die Bezeichnung »Ottiliens kindlich schüchterner Hand« ist nur ein Mittel der Perspektivierung und weniger eindeutig als das viel häufigere: die vielen Ausdrücke, die auf Eduards innere Vorgänge Bezug nehmen. Geht man die Verben des ersten Absatzes durch, verweist der weitaus größte Teil auf seine Gedanken und Gefühle: »Zu schlafen denkt er so wenig«, »daß es ihm nicht einmal einfällt«, »das Ende wagt er kaum zu küssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt«, »sagt er sich im stillen«, »ist es ihm auch schon die schönste Versicherung«. Auch »sein höchster Wunsch« verbindet sich mit dem Konjunktiv, der Eduards Sicht wiedergibt: »daß sein höchster Wunsch erfüllt sei«. Es folgen der bewegte Ausruf und die Frage der Gedanken-Rede im Präsens: »Bleibt es ja doch in seinen Händen!«, »und wird er es nicht immerfort an sein Herz drücken [..]?« Auch daß das Dokument durch die Unterschrift eines Dritten »entstellt« ist, verweist auf die Perspektive Eduards.
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Ebenso spricht das »Locken« der Nacht von Eduards Gemütsbewegung und sein unruhiges Herumstreifen wird schnell als Folge dieser inneren Bewegung deutlich. Diese wird bezeichnenderweise schon hier als zwiespältiger Zustand beschrieben: »er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen«. Die Gärten »sind ihm zu enge«, das Feld »wird ihm zu weit«, gleichzeitig »wandelt« er über diesen ganz selbstbezogenen Gedanken wie in Trance durch die Gärten und »findet sich« unter dem Einfluß der Anziehungskraft des Schlosses und Ottilies unter ihrem Fenster wieder, freilich um weitere Selbstgespräche zu führen. Diese enden mit dem Wort »Gewißheit!«. (Die Assoziation zum Schlafwandeln drängt sich auf; in Ottilies Tagebuch kehrt das Wandeln wieder, in der Reflexion über die Veränderung des Charakters je nach den äußeren Lebensumständen: »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.« (WV 416); die Stelle findet sich im 7. Kapitel des zweiten Teils.) An dieser Stelle tritt mit dem Präteritum wieder die Schilderung der äußeren Umgebung in den Vordergrund: »Alles war still um ihn her.« Weiter ist aber von Eduards Sinneswahrnehmung die Rede ist, er kann das Wühlen der Tiere unter der Erde »vernehmen«. Das großartige Bild, in das Eduards übersteigerte Wahrnehmungsfähigkeit gefaßt wird, verbindet sich mit der Verwendung des Präsens in Nebensätzen, das ich oben dargestellt habe: »denen Tag und Nacht gleich sind.« Es könnte kein Präteritum an dieser Stelle stehen, ohne daß sie wesentlich an Kraft einbüßte, und genau das ist das Bemerkenswerte an dieser Verwendung: »denen Tag und Nacht gleich sind« gewinnt im Zusammenhang der Präsensszene vorher eine merkwürdige Art des Doppelbezugs. Es scheint auf den ersten Blick ein gewöhnlicher Erzählereinschub, denn »denen Tag und Nacht gleich waren« verbliebe ganz in Eduards Sicht. Doch scheint es inhaltlich nicht logisch, daß ein Erzählerkommentar das Bild von Eduards intensiver Wahrnehmung auf diese Weise bestätigen sollte, zumal im sachlichen Rahmen der Wahlverwandtschaften. So scheint es viel wahrscheinlicher, daß es sich hier um einen spontanen Gedanken Eduards handelt, vor allem im Kontext dieser Szene der Innenschau. Es sei denn, der Erzähler teilt diesen Gedanken. Diese Spekulation verweist wie oben auf den Effekt, den die wenigen, aber prägnanten Einschübe dieser Art haben. Sie deuten immer wieder an unvermuteten Stellen auf die Frage nach dem »Urheber« der Bemerkung oder des Gedankens hin. Ich gebe dafür ein anderes, sehr eindringliches Beispiel aus der Szene, die Eduards nächtlichem Besuch bei Charlotte direkt vorangeht. Die Stelle zeigt ebenso den sehr spezifischen Einsatz der erlebten Rede, der die Erzählweise der Wahlverwandtschaften stark prägt: Sie ging in dem größeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab. Sie wiederholte sich aberund abermals, was sie seit jenem unerwarteten Vorschlag des Grafen [dem Hauptmann
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eine Stellung anzubieten, I.R.] oft genug bei sich um und um gewendet hatte. Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen. Er füllte noch das Haus, er belebte noch die Spaziergänge, und er sollte fort, das alles sollte leer werden! Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie antizipierte, wie man gewöhnlich pflegt, den leidigen Trost, daß auch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert werden. Sie verwünschte die Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie verwünschte die totenhafte Zeit, wo sie würden gelindert sein. (WV 319f., Kursivierungen I.R.)
Kursiviert sind die Präsentia, die ich als ungewöhnlich oder auffallend empfinde. Am wenigsten ist dies vielleicht noch bei »was man sich sagen kann« der Fall, es kommt dem Muster des üblichen Einschubs in »wie man gewöhnlich pflegt« sehr nahe. Trotzdem scheint hier die Anteilnahme an den Schmerzen der Figur viel stärker durchzuklingen als in dem formelhaften »wie man gewöhnlich pflegt«. Das Präteritum wäre aber hier noch sehr holprig, wenn nicht falsch: »sie sagte sich alles, was man sich sagen konnte«(?). Dazu gibt es aber m. E. eine Steigerung. In der Nachbarschaft von »das alles sollte leer werden!« würde man wohl »daß auch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert würden« als etwas beschwerende, überkorrekte Zukunft der Zeitenfolge der erlebten Rede empfinden; vielleicht auch, weil ein Kontrast entstünde zum »leidigen« Trost, der auf perspektivische, da emotionale Sicht verweist und so den Ausdruck von Charlottes Verzweiflung verstärkt. So ist auch hier noch das Präsens vor allem die elegantere Wahl, obwohl es durch das Präteritum ersetzt werden könnte. Dennoch ist es aber wieder, als schwebe im Zusammenwirken von Präsens und verstärkendem Adjektiv das Mitempfinden des Erzählers mit. Noch viel näher am Geschehen und damit an Charlottes Gedanken scheint aber »die Zeit, die es braucht«. Zumindest wäre hier das Präteritum vermutlich die weniger auffallende Variante; das Präsens schafft dagegen einen starken, gleichzeitig verbindenden, Kontrast zwischen dem Bangen des Jetzt und dem von Charlotte gefürchteten Schicksal, ihre Gefühle der »totenhafte[n]« Zukunft zu opfern. Beide Phasen des langen Heilungsprozesses, an den Charlotte denkt, kommen so stärker zum Ausdruck. Die »Zeit, die es braucht«, betont stärker als »brauchte« den Prozess, den Vorgang der Heilung und damit deren Schmerzhaftigkeit; rhetorisch stehen sich außerdem die beiden Attribute gegenüber : die »Zeit, die es braucht« und die »totenhafte Zeit«. Das Präsens »braucht« wirkt so auf die Dauer der »totenhafte[n] Zeit« hinüber, diese wird in ein Kontinuum geholt, das durch »brauchte« nicht betont würde. (Die Phasen des Schmerzes spiegeln sich zugleich in der Anapher von »Sie verwünschte«.) Im Zusammenhang der anderen Präsentia in dieser Passage und der oben gezeigten Verwendungen dieser Art halte ich also den Effekt einer schwebenden Perspektive, die mit »braucht« in besonders komplexer Weise Zeitlichkeit und Emotion diskutiert, auch hier für bewusst gesetzt, daher interpretiere ich »denen Tag und Nacht gleich sind« ähnlich.
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Das Auffällige an den Einschüben dieser Art bleibt jedenfalls, daß sie gleichzeitig die Emotion der Figur und eine gleichsam Überaktuelles andeutende Erzählerstimme transportieren können. Der Erzähler, der so eindeutig von der »Zeit, die es braucht« oder von Tag und Nacht unter der Erde spricht, scheint auf die immerwährenden Mächte und dämonischen Naturkräfte Bezug zu nehmen, die in der Wirkung der chemisch-menschlichen Wahlverwandtschaft behauptet werden. Auf diese Weise verbindet sich der Erzählgestus mit Brinkmanns These vom Wirken des Dämonischen, das sich für ihn allerdings auf das Auftreten des szenischen Präsens beschränkt. In den zwischen Figurengedanken und auktorialen Einschüben schillernden Erzählerkommentaren sehe ich dagegen eine ähnliche Kraft des Szenischen zum Ausdruck kommen, indem nämlich der Erzähler auf ein größeres Szenario ausgreift und dessen Wirken als selbstverständliche Tatsache hinstellt. Der Erzähler erscheint dadurch als ebenso emotionalisiert wie die Figuren, denn er entpuppt sich schließlich auf diese Weise als Instanz, die an das Vorhandensein der geheimnisvollen Wirkmächte der Natur und des Dämonischen glaubt. Ich halte daher die Ambiguität des Präsens in bestimmten Erzählerkommentaren für beabsichtigt und sehe sie so als verbindendes Element zwischen den eindeutig als Erzählerreflexionen zu wertenden längeren Einschüben und dem szenischen Präsens mit seiner Kraft der Emotionalisierung. Diese uneindeutigen Verwendungen verstärken außerdem den Ausdruck der Doppelnatur der Sprache nach von Matt, der, wie dargestellt, von der »Präsenz des Ominösen in jeder verständigen Äußerung« und dem Anklang der »dunklen, antiken Orakelrede« unter dem »leichten Duktus der geselligen Konversation« in den Wahlverwandtschaften spricht.705 Die Szene von Eduards nächtlichem Herumstreifen im Park handelt also in erster Linie von seiner psychischen Befindlichkeit; das szenische Präsens korrespondiert dieser Darstellung. Der Konnex, der hier geschaffen wird, beeinflußt daher auch den präsentischen Erzählereinschub der Szene, sodaß dieser als Weiterführung des Prinzips der Zuordnung von Präsens zu Innenschau gelesen werden kann bzw. nicht mehr eindeutig zuordenbar ist. Da die semantischen Felder von Gedanken und Gefühlen zu einem großen Anteil von den finiten Verben konstituiert werden, verstärkt sich die Konnotierung des Präsens als Träger von Emotion und Reflexion der Figur weiter. Eduards Denken zeigt sich ganz bestimmt von seinen Gefühlen, sodaß selbst die äußere Szenerie in diesen Sog der ganz individuellen Sicht gerät. Wie schon in der Szene von Charlottes nächtlicher Erregung, in der von »heitern Bildern« die Rede ist, fällt auch hier ein Wort, das Eduards »Stimmung« schließlich zusammenfaßt. Im Anschluß an »denen Tag und Nacht gleich sind« heißt es im präteritalen Teil der Szene schließlich: »Er hing ganz seinen glücklichen Träumen nach, schlief endlich ein 705 Vgl. Peter von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 267.
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und erwachte nicht eher wieder […]«. Dies schließt nicht nur die nächtliche Szene ab; in der Charakterisierung von Eduards Selbstgesprächen und Wunschvorstellungen als »Träume« zeichnet sich zudem dasselbe Motiv ab wie bei Charlotte vorher. Nachdem Charlotte von der »seltsamen Ahnung« ergriffen wird, die »in fromme Wünsche und Hoffnungen sich auflöste«, kniet sie nieder und wiederholt den Eheschwur: »Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt.« Eduards nächtliche Glücksphantasien gehören einer ähnlichen Kategorie an, sie sind »Träume«, obwohl er nicht schläft. So wie bei Charlotte vorher folgt also auch bei Eduard der Schlaf dem Träumen statt umgekehrt. Das mit den »frommen Wünschen und Hoffnungen« und dem Traum verbundene Motiv der Selbsttäuschung ist von nun an mit der Verwendung des szenischen Präsens aufs engste verknüpft. Der Inhalt des 13. Kapitels sind vor allem die Reaktionen der anderen Figuren auf das Offenbarwerden jener Gefühle, die bisher nur unter der Oberfläche gegärt haben. Das szenische Präsens – das ist besonders herauszustellen – begleitet damit weder die Szenen des Kennenlernens oder die der Liebesgeständnisse zwischen den beiden neuen Paaren, und auch nicht Eduards unvermuteten nächtlichen Besuch bei seiner Frau, der das zentrale Faktum schafft706. Es tritt erst auf, als es um die Folgen dieses 706 Benno von Wiese interpretiert in seinem Nachwort zu den Wahlverwandtschaften (siehe HA, Bd. 6, S. 672–688) die Nacht der Zeugung als Herzstück des Novellengeschehens im Roman und dementsprechend als die zentrale Stelle des ersten Teils. Für von Wiese ergibt sich daraus sehr viel eindeutiger, als es sonst thematisiert wird, das Kind als Dreh- und Angelpunkt der Handlung, eine Deutung, die sich durch den Einsatz des szenischen Präsens genau im Moment von Charlottes erster Ahnung der Schwangerschaft erheblich erhärten läßt: »Die unerhörte Begebenheit in den Wahlverwandtschaften kann nur jene verhängnisvolle Nacht sein, in der das seltsame Kind gezeugt wird, (I, 11), das dann später in seiner Bildung eine so auffallende Ähnlichkeit mit dem Hauptmann hat, in seinen Augen aber der Ottilie gleicht (II, 8). Paul Stöcklein hat den unerhörten »Fall« als echtes Novellenthema gesehen: »Untreue in der Treue, Ehebruch im Ehebett« […]. Aber das bedarf noch des näheren Verständnisses. Die Gatten begehen die Sünde der Phantasie, sie umarmen sich leibhaftig, aber das Bild der Abwesenden steht vor ihrer Seele. Eigentlich ist das eine doppelte Untreue, die sich hier ereignet, Untreue gegen die Liebe, die mißbraucht und zum bloßen Phantasiebild entwertet wird, Untreue aber auch gegen die Ehe, die dieses Surrogates bedarf, um sich über die Gegenwart hinwegzulügen. Die Ehe wird in einer geistigen Sünde gebrochen […]; aber auch die Liebe wird zweideutig und frevelhaft durch das unwirkliche Spiel, in das sie hineingezogen wird. […] Wenn irgendwo, dann ist an dieser Stelle der Einbruch des Dämonischen in den Wahlverwandtschaften erzählt, die Menschen sind als schuldiger Spielball eines Geschehens dargestellt, das weit über sie hinwegreicht und in dem Ertrinken des todgeweihten Kindes und dem Entsagen der Ottilie gipfelt. Selbst die gescheite und lebenskluge Charlotte verfällt hier den Mächten, die sie, genau wie Eduard, bis ans Ende niemals begreift. Was im dunklen Schoß der Nacht geschah, ist nicht mehr zurückzunehmen; es findet in dem Kinde und seinem Schicksal das Symbol, das Zeugung und Tod auf geheimnisvolle Weise verknüpft. Durch beides grenzt die Ehe an das Geheimnis der Mächte. […] Die unerhörte Begebenheit bildet die innere Mitte dieses Novellengeschehens; die Kapitel, die ihr vorausgehen, bereiten vor, zeigen die unheilvolle Veränderung der Lage, die durch das Hinzutreten Dritter und Vierter entsteht. […] Die
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Besuchs und um die Folgen des endgültigen Ausbruchs der Gefühle geht. Dieser betrifft vor allem Eduard, deshalb gehört auch ihm als dem impulsivsten Charakter die erste lange Präsensszene. Festzuhalten ist aber auch hier, daß die Verknüpfung Eduards mit dem Element des Nächtlichen in dieser Szene zuerst wörtlich weitergeführt wird.
Sichtveränderung In der direkt anschließenden Szene geht es ganz um die Auswirkungen der neuen Situation auf Eduard, der bei Sonnenaufgang erwacht: Nun fand er sich den ersten Wachenden in seinen Besitzungen. Die Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben. Sie kamen; es schienen ihm ihrer zu wenig und die vorgesetzte Tagesarbeit für seine Wünsche zu gering. Er fragte nach mehreren Arbeitern; man versprach sie und stellte sie im Laufe des Tages. Aber auch diese sind ihm nicht genug, um seine Vorsätze schleunig ausgeführt zu sehen. Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr ; es soll schon alles fertig sein, und für wen? Die Wege sollen gebahnt sein, damit Ottilie bequem sie gehen, die Sitze schon an Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen könne. Auch an dem neuen Hause treibt er, was er kann; es soll an Ottiliens Geburtstage gerichtet werden. In Eduards Gesinnungen wie in seinen Handlungen ist kein Maß mehr. Das Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, treibt ihn ins Unendliche. Wie verändert ist ihm die Ansicht von allen Zimmern, von allen Umgebungen! Er findet sich in seinem eigenen Hause nicht mehr. Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles; er ist ganz in ihr versunken, keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur gebändigt war, bricht los, sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilie. (WV 327f.)
Auch hier ist von den Wünschen und Vorstellungen Eduards die Rede. Der einleitende Teil des Absatzes im Präteritum enthält aber neben den »Wünschen« und dem zweimaligen »schienen ihm« noch ein anderes wichtiges Element, das diesen Teil dem Hauptstrang der Präteritumerzählung angleicht: die Zeitangabe. Durch »im Laufe des Tages« wird die erzählerische Chronologie hergestellt und der Moment, von dem die Rede ist, in ihr verankert. Aber genau diese Verankerung wird mit dem Eintritt des Präsens auch gleich wieder unterbrochen und von einer anderen Zeitdimension gleichsam eingeholt bzw. überholt. Die Dynamisierung, die der Tempuswechsel mit sich bringt, unterstreicht Eduards Ungeduld, alles sofort erledigt sehen zu wollen, und kennzeichnet gleichzeitig den abermaligen Wechsel in den fixierten Wahrnehmungsmodus des Verliebten, der ihn in der Nacht zu Ottilies Fenstern getrieben hat. Dieser sieht ganz von den Vorgänge der Seele sind ganz ins Unbewußte verlegt und spiegeln sich nur in Symbolen […]. Erst der Wendepunkt der Nacht, bei dem das Unterbewußte im Akt der Zeugung abgründig durchbricht, entbindet das Bewußtsein der Liebe. Nicht die Ehegatten finden sich wieder, sondern die Liebenden erkennen sich gegenseitig.« HA, Bd. 6, S. 682ff.
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realen Umsetzungsmöglichkeiten seiner Pläne ab und besteht nur noch im Wünschen, das für das Zeitempfinden der anderen und die Abläufe in der äußeren Welt unempfänglich ist: »Aber auch diese sind ihm nicht genug«, Eduards »Vorsätze« sollen »schleunig« ausgeführt werden. Der Präsensteil hier ist ganz diesem Außersichsein gewidmet und stellt Eduards plötzliche Hyperaktivität sehr eindringlich als aus dem Ufer laufende Reaktion auf seinen Gefühlszustand dar. Ein deutliches Warnsignal wird ausgesprochen: »Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr«; die Wiederholung von »treibt« ist bezeichnend: »an dem neuen Hause«, das im Park auf der Höhe gebaut wird, »treibt er, was er kann«, das »Bewußtsein«, geliebt zu werden, »treibt« ihn aber »ins Unendliche«. Die Stelle bestätigt somit die Gefährlichkeit des Bewußtseins als »Waffe«, wie sie Charlotte schon im ersten Kapitel in der Auseinandersetzung um Eduards Einladung an den Hauptmann voraussagt. Nur Menschen, die »dunkel vor sich hinleben«, sagt Eduard bei diesem ersten Streit, sind in Gefahr, daß sich ihre Lage durch das Hinzukommen einer neuen Person »völlig umkehrt«, nicht solche, die »schon durch Erfahrung aufgeklärt, sich mehr bewußt sind« (vgl. WV 248). Eine solche Dunkelheit überkommt jetzt Eduard, die Hinweise auf die Irrationalität seines Verhaltens sind zahlreich und unterliegen zudem einer bemerkenswerten Steigerung. Zuerst sind es wieder seine Gedanken, an denen wir direkt teilhaben, auf engstem Raum wiederholen sich dabei jeweils zweimal »schon«, jeweils dreimal »soll« und »Ottilie«. Ihr Geburtstag ist das Ziel, auf das sich alles richtet, gleich anschließend folgt die Steigerung, die die Folge des Zeitverlusts ist: in seinen »Gesinnungen« wie »Handlungen« ist kein »Maß« mehr. So wie der Einsatz des Präsens in dieser Szene aus der chronologischen Erzählung gleichsam heraustritt, löst sich diese Zusammenfassung von Eduards Treiben an diesem Tag, an diesem Nachmittag noch einmal und diesmal wie aus jeglichem Zeitzusammenhang heraus. Der Satz bezieht sich auf einen nicht zu bestimmenden Zeitraum, und erst im nächsten Absatz wird ein solcher angedeutet. Statt dessen fällt der Ausblick auf das »Unendliche« und gibt dem ganzen einen Ton von Endgültigkeit707. Wieder »ist 707 Geht man zurück zur chemischen Gleichnisrede, findet man das Bild vom »Unendlichen« vorausgezeichnet. Charlotte verwendet es in ihrem Kommentar zur Darstellung der chemischen Reaktionen der Elemente, die der Hauptmann mit dem Vergleich der »Wahlverwandtschaft« belegt: »Verzeihen Sie mir,« sagte Charlotte, »wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt. Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott! In dem gegenwärtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsäure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben muß.« »Natur« und »Wesen« werden also schon hier in Verbindung gebracht, dazu tritt hier »Körper«. Gleich darauf heißt es: »Der Gips hat gut reden,« sagte Charlotte;
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ihm« die »Ansicht« von allem verändert. Die Erwähnung des Hauses kehrt wieder, diesmal nicht das, das er in Gedanken für Ottilie bereitet, unter deren Fenstern er sich in der Szene vorher findet. Diesmal ist es sein eigenes Haus, in dem er »sich nicht mehr findet«. Die Veränderung von Eduards Wahrnehmung wird geradezu als Verzerrung geschildert, das Schlußbild dieser Szene gewinnt überhaupt gefährliche Ausmaße. Deutlich fühlt man, daß sich Ottilies »Gegenwart« nicht so sehr auf ihre tatsächliche bezieht, sondern auf Eduards dauerndes Empfinden dieser Anwesenheit. Deswegen kann sie ihm alles »verschlingen«, in dieser Empfindung ist er »versunken«. Das macht ihn blind für jede »andre »der ist nun fertig, ist ein Körper, ist versorgt, anstatt daß jenes ausgetriebene Wesen noch manche Not haben kann, bis es wieder unterkommt.« (WV 274; Kapitel I, 4). Die Gleichnisrede ist gezeichnet von der Direktheit, mit der von den Figuren Abstraktes und Konkretes in Verbindung gebracht wird. Das Gleichnis wird eben nicht als solches belassen, sondern eigentlich übergangslos als tatsächliche Gesetzmäßigkeit auch emotionaler Vorgänge dargestellt. Dies passiert vor allem in der nur scheinbar doppelten Abstrahierung der »Zeichensprache«, mit der der Hauptmann unter Zuhilfenahme der Buchstaben A, B, C und D den chemischen Vorgang beschreibt, gerade dabei aber schon von »Paaren« spricht. Von Eduard kommt zwar die Bezeichnung als »Gleichnisrede«, aber er setzt gleich hinzu, daß man aus ihr eine »Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen wolle« und setzt dann selbst die Zeichen des Hauptmanns A und B direkt mit sich und Charlotte gleich, C mit »Kapitän«, das sich auf den Hauptmann bezieht, und D mit dem »Dämchen Ottilie«. So argumentiert Eduard Ottilies Einladung. Entgegen dem Eingang des Gesprächs, wo sie um nähere Beschreibung bittet, ist es dann Charlotte selbst, die dieser Direktheit der Vergleiche gegenüber skeptisch ist und auch sprachlich mehr differenziert. Sie bezieht sich auf die Beziehungen zwischen ihr, Eduard und dem Hauptmann als auf »diese Natur- und Wahlverwandtschaften unter uns«. Ebda., S. 276 (Kursivierung I.R.) – Diese Prekarität der selbstgesuchten Symbole und den »Zusammenbruch des Symbolischen« im Roman als ganzes behandelt David Wellbery in »Die Wahlverwandtschaften (1809) – Desorganisation symbolischer Ordnungen« (siehe Anm. 235). Die Gleichnisrede sieht er im Sinne der Selbstbezogenheit der Figuren als eine der prekärsten Stellen: »Hier wird ein Gespräch vorgeführt, das ein nicht ganz durchsichtiges Fragment wissenschaftlichen Diskurses unversehens in ein Bild verwandelt, in dem die Teilnehmer sich selbst zu erkennen meinen. Zu bedenken ist, daß das Gespräch eingeleitet wird von Eduards Wort: »der Mensch ist ein wahrer Narziß.« Ein Mythos, der vom Verstricktsein im Bilde, von der Koinzidenz von Identitätsfindung und Identitätsverlust und von der Unerreichbarkeit des begehrten Gegenstandes erzählt, breitet also sein tristes Licht über die ganze Diskussion aus. Die Redenden werden aber hier nicht durch ein echtes Spiegelbild in den narzißtischen Irrtum geleitet, sondern durch die Figürlichkeit ihrer eigenen Sprache. So warnt Eduard seine Frau am Anfang des Gesprächs: »Es ist eine Gleichnisrede, die dich verführt und verwirrt hat«, um dann seinerseits am Schluß der Unterhaltung die chemische Formel als »Gleichnisrede« zu deuten, die er unbekümmert auf sich und seine Gesprächspartner anwendet. Dabei entspricht sein Verfahren seiner sonstigen Praxis genau: Er läßt die Buchstaben A, B, C, D in ein Bild übergehen, das das von ihm Begehrte im Schein präsent macht.« In: Paul Michael Lützeler und James E. McLeod (Hrsg.), Goethes Erzählwerk – Interpretationen, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1991, S. 291–318, hier S. 302f. Auf den Narzismus der Protagonisten und das Unendliche als Ort absoluter Einsamkeit, in dem alle Figuren enden, geht Ernst Osterkamp ein: Einsamkeit und Entsagung in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Helmut Hühn (Hrsg.), Goethes »Wahlverwandtschaften«. Werk und Forschung, Verlag Walter de Gruyter, Berlin New York 2010, S. 27–45, hier bes. S. 37f.
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Betrachtung« und und taub für das Gewissen, das hier eben nicht »ihm zu« spricht708. Am Schluß folgt noch ein deutlicher Hinweis auf ein Vorher-FolgeSchema, das mithilfe des Präsens oft ausgedrückt wird: alles, was »gebändigt war«, bricht jetzt aus. Wieder wird hier auf ein viel größeres Szenario zugegriffen. Eduards »Natur« wird zweifach lesbar, vordergründig bezeichnet sie seine persönliche Veranlagung, sein »Wesen«, wie es im Text gleich heißt. Durch die Unterlegung mit dem Bild eines wahrhaften Dammbruchs steht aber auch hier im Hintergrund das gewaltige Wirken von Mächten jenseits der menschlichen Dimension. »Alles« vorher in seiner Natur Gebändigte »bricht los«. Die Tragweite von Gefühlen wird also hier mit sehr eindringlichen Bildern belegt. Eduard als demjenigen Charakter, der im Roman von Anfang an als der affektbetonteste geschildert wird, in Ungeduld und Jähzorn wie in Zunei708 Zum Begriff des »Gewissens« in den Wahlverwandtschaften vgl. Manfred Osten, »Alles Veloziferisch«: Goethes Ottilie und die beschleunigte Zeit, S. 218ff.: Osten interpretiert Ottilie als jenen Charakter im Roman, der aufgrund der Begabung mit jenem »mäßigen, ruhigen Sinn«, den Goethe den vielfältigen Formen der Beschleunigung seines Zeitalters (wirtschaftlich wie gesellschaftlich) als nunmehr umso notwendiger werdende Eigenschaft entgegensetzt, als einziger zu wahrer Sittlichkeit fähig sei. In ihrem »Gewissen« bündle sich diese Fähigkeit, denn, so Osten, S. 220f.: »[…] es läßt sich nicht bestimmen von den übereilenden Tendenzen des Verstandes und verweigert daher auch konsequent jede verstandesmäßige Wertung und Hierarchisierung der beiden zentralen Phänomene der Wahlverwandtschaften: der Liebe und der Ehe. […] Ihr Gewissen lebt nicht in den Teilen, sondern im Ganzen der Wahrheit. Es ist gehorsam gegenüber dem Geist, den Goethe in den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan als das »obere Leitende« definiert hat. Die von den Verständigen im Roman in Betracht gezogene Möglichkeit der Ehescheidung zugunsten der Liebe ist unvereinbar mit der Natur ihres Gewissens: die für den Verstand selbstverständliche Freiheit der Wahl zwischen beiden Möglichkeiten ist Ottilie verschlossen. […] Vor der Natur ihres Gewissens versagen die eilfertigen Antinomien des Verstandes wie Pflicht und Neigung, Sollen und Sein, Natur und Moral, Freiheit und Notwendigkeit. Diese Antinomien sind in Ottilies Gewissen gleichsam dialektisch »aufgehoben« in einem Zustand höherer Einheit, einer Einheit vor aller Entzweiung, die Licht wirft auf den Begriff der Willensfreiheit als einer Chimäre der Ungeduld des aufgeklärten Verstandes. […] Das Gewissen erscheint in ihr als Quellgrund einer letztlich heiligen, d. h. heilen, nicht mit sich selber entzweiten Geist-Natur, als die höchste natürlich-sittliche Instanz im Menschen, die Goethes Gedicht Vermächtnis nennt: »Sofort nun wende Dich nach innen:/ Das Zentrum findest Du da drinnen, woran kein Edler zweifeln mag./ Wirst keine Regel da vermissen:/ Denn das selbständige Gewissen/ Ist Sonne Deinem Sittentag.« Diesem Gewissen allein hat Goethe Autorität zugeschrieben; nicht dem Verstand, über den er in der Geschichte der Farbenlehre den denkwürdigen Satz notiert: »Dagegen kann man dem Verstand gar keine Autorität zuschreiben, denn er bringt nur immer seinesgleichen hervor, sowie denn offenbar aller Verstandesunterricht zur Anarchie führt.« – Die Wortschöpfung im Titel findet sich in einem Brief Goethes an den Verwaltungsbeamten Nicolovius von 1778 und setzt sich zusammen aus »Velocitas« und Luzifer (vgl. Osten, »Alles Veloziferisch«, S. 213f.). Unter dem Gesichtspunkt von Ostens Interpretation gewinnen Eduards Blindheit und sein Treiben eine noch endgültigere Dimension, er kann Ottilie gar nicht in ihrem Wesen erkennen und sein rastloses Tun wird zum Ausdruck der veloziferischen, eilig-teuflischen Beschleunigung.
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gungsbereitschaft und Leidenschaft (vgl. das Streitgespräch zwischen ihm und Charlotte in III. 2.2.2.), kommt daher die Rolle des Auslösers der dramatischen Folgen des allgegenwärtigen Begehrens zu. Er ist gleichzeitig der aufnahmebereiteste und aktivste der Charaktere, das Bild vom Dammbruch führt diese Logik weiter und steht ganz im Zusammenhang der übrigen Wasser-Metaphorik im Roman, der, wie in III. 4.1. dargestellt, von Walter Benjamin ausschließlich bedrohliche Züge zugeschrieben werden. So brechen während der Geburtstagsfeier Teile des Seeufers ab und Menschen kommen zu Schaden, doch Eduard wird eigensinnig darauf bestehen, das geplante Feuerwerk für Ottilie abzubrennen. Wie wir gesehen haben, unterliegt seine Wahrnehmung schon beim Auftreten Ottilies einer Störung, indem er sie als angenehme Gesprächspartnerin beschreibt, obwohl sie noch kein Wort gesprochen hat. Ähnliche Störungen bestimmen auch seinen nächtlichen Besuch bei Charlotte. Doch hier, in der Szene des endgültigen Gefühlsausbruchs, wird seine Blendung nicht als vorübergehende dargestellt, sondern als eine Art Erfüllung jenes Schicksals, das das Auftreten des Präsens angekündigt hat: So holt das Bild seines »gegen Ottilien« strömenden Wesens durchaus den eigentlich von ihm gewünschten Zeugungsakt nach, bezeichnenderweise aber genau unter der Bedingung, der er von Anfang an in Bezug auf Ottilie unterliegt und unter der er in Charlottes Zimmer gefunden hat: der seiner Sinnenbetäubung. Die »verschlingende« Gegenwart Ottilies, wie es nun heißt, macht aber Eduard gleichsam zum ersten Opfer der angedeuteten Flut; die sexuellen Anspielungen könnten dramatischer nicht sein709. Gleichzeitig werden wir als Leser in diesen Textstellen immer näher mit Ursachen, Beginn und Wirkung des Dramas konfrontiert. Das Präsens wirkt wie eine Metapher für die Steigerung der Wahrnehmung auf seiten des Beobachters. Durch all die Hinweise, die so konsequent immer wieder die Etappen der Gefühlsentwicklung durchziehen, wie eben beim Motiv von Eduards Blendung, kommen wir als Leser immer gleichsam in die Lage, alles ganz genau in seinem Werden und Entstehen beobachten zu können, es bleibt sozusagen kein noch so 709 Auch »verschlingen« schreibt sich aus dem Vokabular der Gleichnisrede her. Es ist von der »übers Kreuz« funktionierenden Reaktion vierer Elemente die Rede, und Charlotte bittet den Hauptmann, ihr einen »solchen Fall« zu beschreiben. Dieser verweist auf die viel größere Anschaulichkeit des Experiments, das er ihr zeigen wolle, fährt aber nicht weniger anschaulich fort: »Jetzt müßte ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gäben. Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen.« (WV 275f., Kursivierung I.R.).
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kleines Detail der Handlung unerklärt, und das Gefühl des Vorauswissens wird immer zwingender. Die Handlung besteht nun aus einem wahren Emotionstheater, wie ich es in Anlehnung an Huber nennen möchte, und in ihrem Ablauf wird der Leser zunehmend in den Zustand versetzt, bei einiger Aufmerksamkeit für die Signale des Subtextes deren Akte mühelos zusammensetzen. Wie Huber in Bezug auf den Werther feststellt, geht es dort vor allem um die emotionale Spannungssteigerung, die der Leser mitmachen soll. In den Wahlverwandtschaften kommt eine ähnliche Gewichtung zum Tragen. Auch hier wird, wie oben anhand der Selbstäußerungen Goethes dargestellt, der Ausgang sehr schnell klar. Es steht also nicht die Spannungssteigerung in Bezug auf äußere dramaturgische Handlungsmomente wie erste Begegnung oder Gefühlsaustausch im Vordergrund, sonst wären diese Momente im Präsens hervorgehoben. Das Drama spielt sich vielmehr in den Reflexions- und Entscheidungsprozessen der Figuren ab und darauf weist der Wechsel der Tempora immer wieder hin. Das Präsens wirkt hier wie ein Scheinwerfer, der immer genauer zuerst Ursachen und dann Wirkungen beleuchtet und seine Dynamik als Darstellungsmodus der genauen Betrachtung immer mehr enthüllt. Insofern ist der Gebrauch des Präsens das genaue Äquivalent zur Aufforderung der Gleichnisrede, »diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen […] recht zu beobachten« und setzt selbst den Gestus des forschenden Betrachtens in Szene. Der Zoom-Effekt des Präsens ist wie eine Art musikalischer Oktavschritt der Wiedergabe und beschreibt gleichzeitig die schrittweise Verzauberung, gleichsam Mesmerisierung des Lesers, der ganz ins Beobachten hineingezogen wird. Dennoch bleibt, bei all der In-Szene-Setzung von Betrachtungen und Täuschungen, Charlottes nächtlichen »heitern Bildern« und Eduards »Träumen«, für den Leser, der alles genauer und genauer beschrieben bekommt, für das Folgende ein unheimlicher Rest, wie angedeutet: wird das Kind, das allen ähnlich schaut und später punktgenau in der Flut ertrinkt, die gleichsam Eduard zuerst erfaßt, jemals wirklich gezeugt? Der Gang der Handlung macht aus ihm jedenfalls einen »tot scheinenden« Homunculus. Beobachtung, Beschleunigung Was Huber für das »theatrale« Erzählen um 1800 ausführt, gilt also auch für die Wahlverwandtschaften: Beobachtungsvorgänge sind ein zentrales Thema. Dies äußert sich in verschiedenen Szenen und Motiven des Romans, ganz besonders ist es aber mit den Präsenspassagen des 13. Kapitels des ersten Teils verknüpft; sie umkreisen das Thema des Teilnehmens und Zuschauens in vielfältiger Weise. Direkt im Anschluß an Eduards Gefühlsausbruch rücken die Reaktionen der anderen Figuren in den Blickpunkt:
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Der Hauptmann beobachtet dieses leidenschaftliche Treiben und wünscht den traurigen Folgen zuvorzukommen. Alle diese Anlagen, die jetzt mit einem einseitigen Triebe übermäßig gefördert werden, hatte er auf ein ruhig freundliches Zusammenleben berechnet. Der Verkauf des Vorwerks war durch ihn zustande gebracht, die erste Zahlung geschehen, Charlotte hatte sie der Abrede nach in ihre Kasse genommen. Aber sie muß gleich in der ersten Woche Ernst und Geduld und Ordnung mehr als sonst üben und im Auge haben; denn nach der übereilten Weise wird das Ausgesetzte nicht lange reichen. Es war viel angefangen und viel zu tun. Wie soll er Charlotten in dieser Lage lassen! Sie beraten sich und kommen überein, man wolle die planmäßigen Arbeiten lieber selbst beschleunigen, zu dem Ende Gelder aufnehmen und zu deren Abtragung die Zahlungstermine anweisen, die vom Vorwerksverkauf zurückgeblieben waren. Es ließ sich fast ohne Verlust durch Zession der Gerechtsame tun; man hatte freiere Hand; man leistete, da alles im Gange, Arbeiter genug vorhanden waren, mehr auf einmal und gelangte gewiß und bald zum Zweck. Eduard stimmte gern bei, weil es mit seinen Absichten übereintraf. (WV 328)
Jeder Charakter reagiert nun auf seine Weise auf Eduards tatsächlich »treibende« Kraft der Veränderung. Diese äußert sich, da Eduard ja auf Ottilies Geburtstag hin plant, zuerst in dessen übermäßiger Geschäftigkeit beim Hausbau. Die Tempusaufteilung ist in dieser Passage besonders auffallend. Die zwei Präsenspartien umrahmen eine Plusquamperfektpassage. Zu Beginn beobachten wir den Hauptmann beim Beobachten und sowohl diese als die Präsenspartie am Schluß des ersten Absatzes, die auf Charlottes Sicht eingeht, enthalten wiederum perspektivische Elemente, die nahelegen, daß es die Gedanken der Figuren zum Geschehen sind, die hier wiedergegeben werden. Im ersten Satz kann man »dieses leidenschaftliche Treiben« noch als die Zusammenfassung des Vorhergehenden lesen, die die Erzählerstimme gibt, doch kehrt »diese« bei »Alle diese Anlagen« wieder, und hier sind wir schon viel mehr in der Sicht der Figur. Durch die Verbinhalte »beobachten« und »wünschen« wirken die dazugehörigen Objekte wie Beurteilungen des Hauptmanns, er ist es, der »dieses« Treiben als leidenschaftlich empfindet und dessen Folgen sofort als traurige sieht. Auch bei ihm ist also im Präsens vom Wünschen die Rede, und der nächste Satz suggeriert m. E. noch mehr seine Sicht. Neben »diese Anlagen« ist es auch die neuerliche Einschätzung von Eduards Verhalten als »einseitiger Trieb« und die Hinzufügung von »übermäßig«, die für mich diese kurze Passage zu einer stark perspektivisch gestalteten machen. Auch das »jetzt« in diesem zweiten Satz kann man natürlich als verstärkendes Element lesen, das überdies wieder auf das Vorher-Nachher-Schema verweist. Als Zeitangabe ist »jetzt« durch den in der Szene vorher vermittelten Zeitverlust Eduards nicht zu interpretieren, wir wissen an dieser Stelle nicht genau, wieviel Zeit vergangen ist. Während es also in der Eingangspassage im Präsens um Wünsche und Beurteilungen geht, holt der Plusquamperfektteil in rascher Zusammenschau die bisherigen Fakten nach.
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Auch dieser Teil gibt keine Orientierung in Bezug auf die Zeitspannen, von denen hier die Rede ist, wir sind darauf angewiesen, zu vermuten, wie lange die genannten Vorgänge brauchen. In diesem kurzen Plusquamperfekteinschub ist von »berechnet«, »Zahlung« »Verkauf« und »Kasse« die Rede. Der Teil leitet über zu Charlotte, und es fällt ein entscheidendes Wort fürs Kommende: »Abrede«. Denn die wichtigste Folge von Eduards Verhalten ist, daß Charlotte und der Hauptmann verstärkt zur Zusammenarbeit gezwungen sind. Wie bei der gemeinsamen Kahnfahrt von Charlotte und dem Hauptmann, die Eduard selbst veranlaßt, sieht er aber auch jetzt nur, daß seine »Absichten«, wie es am Ende des zweiten Absatzes heißt, dadurch befördert werden. Im zweiten Präsensteil des ersten Absatzes steht dagegen Charlotte im Mittelpunkt. Auch hier geht es zuerst um die Folgen, die das Geschehen für sie hat, vermittelt von der Wahl des Verbs: sie »muß«. Charlottes Eigenschaften werden aufgezählt, zwei davon betreffen vor allem innere Charaktereigenschaften, »Ernst« und »Geduld«, erst dann folgt die »Ordnung«. Wieder wird eine Wendung gebraucht, die auf das richtige Sehen verweist: sie muß die genannten Eigenschaften »mehr als sonst üben und im Auge haben«. Der Zeitangabe »gleich in der ersten Woche«, die die Fokussierung auf Charlottes Sorge begleitet, folgt das Futur des Nebensatzes. Dem werden im zweiten Absatz ziemlich unmittelbar Gedanken gegenübergestellt, die nach der vorigen Einführung der Perspektive des Hauptmanns auch hier seine Sicht ins Spiel bringen: »Wie soll er Charlotten in dieser Lage lassen!« Wieder faßt hier der erste Satz im Präteritum ähnlich wie vorher der Plusquamperfekteinschub die Situation rasch zusammen: »Es war viel angefangen und viel zu tun.« Der Ausruf der Sorge um Charlotte schließt an diesen Satz so unmittelbar an, daß der Wechsel zwischen den Gedankenperspektiven des Hauptmanns und Charlottes die drängende Eile zu reagieren und das fieberhafte Überlegen beider zum Ausdruck bringt. Dem »soll« dieses Ausrufs wird dabei ein Wollen gegenübergestellt. Eduards überstürztes Handeln zwingt den verliebten Hauptmann zur Überlegung, was aus Charlotte wird, seine Sorge ist dabei nicht einmal als rhetorische Frage, sondern als Ausruf und Feststellung formuliert – »Wie soll er […]!« Für den Leser ist diese Reaktion von seiten des als vernünftig und verläßlich eingeführten Hauptmanns nicht nur einsichtig, sondern an diesem Punkt schon die einzig logische. Als Leser sind wir somit ganz bei ihm, wenn er sich diese Frage stellt, da wir seinen Charakter kennen, wissen wir, er kann nicht anders handeln, als Charlotte zu helfen. Wie bei Blanckenburg für den Roman gefordert, erfolgt die psychologische Erklärung der Handlungsweise der Figuren in den Wahlverwandtschaften ausführlich. Die bis dahin schon konsequente Zeichnung des Hauptmanns als überlegt und gleichzeitig handlungsfähig erübrigt daher hier neuerliche Motivationen und mündet wie selbstverständlich in seine jetzige Reaktion. Auf die oben herausgestellte »Abrede« folgt hier die Beratung: »[…]
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sie beraten sich und kommen überein, man wolle […]«. Auch hier kennzeichnet das Präsens als Folgewirkung der von außen auf sie zu stürzenden Handlungsnotwendigkeit die Überlegungen der Figuren, diesmal in konkreter Weise die Tätigkeit des Sichberatens und der Entschlußfassung. Worin besteht aber der Entschluß? »Man« nimmt sich etwas vor, wie die Textstelle sagt: »lieber selbst beschleunigen«. Wiederum wird im Präteritumteil am Ende der Szene in schneller Abfolge der unpersönlich formulierten Sätze das äußere Ergebnis der Beratung am Ende des zweiten Absatzes zusammengefaßt, eingeleitet vom Plusquamperfekt »zurückgeblieben waren«. Dies bezieht sich wie im ersten Absatz auf die Modalitäten der Geldgeschäfte, die notwendig geworden sind und deren neuerliche Übereilung offensichtlich ist. Es soll Geld aufgenommen werden, das mit noch ausstehenden Geldern aus dem Vorwerksverkauf zurückgezahlt werden soll. Die Intention des Geldaufnehmens, die noch Teil der Präsens-Verhandlung ist, wird nun übergeführt in Fachtermini: »Zession« und »Gerechtsame«. Die Vokabeln scheinen wie die Tempus- und Perspektivenwechsel dieser Passagen der Bewegung der Beschleunigung zu folgen: »man leistete, da alles im Gange, Arbeiter […] vorhanden waren, mehr auf einmal und gelangte gewiß und bald zum Zweck«. Dieser Zweck trifft Eduards obengenannte »Absichten«, von denen wir schon wissen, daß sie seiner Fixierung entspringen. Der »Zweck« wird so zum Ziel der unter Druck erfolgten Bemühungen von Charlotte und dem Hauptmann und bleibt damit fragwürdig710.
Herzen I Auf die weiteren äußeren Folgen geht die Erzählung an dieser Stelle aber nicht ein, es bleiben die inneren Auswirkungen, die – die gleich folgenden – Präsenspassagen des 13. Kapitels des ersten Teils bestimmen. Diese sind weiter mit 710 Wie gezeigt, betont von Matt, daß im Disput zwischen Charlotte und Eduard zur Einladung des Hauptmanns dessen Rolle als Beschleuniger von Eduard wörtlich vorausgezeichnet wird: »Wenn mir nur nicht«, versetzte Eduard […], »bei alle dem, was du mir so liebevoll und verständig wiederholst, immer der Gedanke beiginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns würde nichts gestört, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt. Auch er hat einen Teil meiner Wanderungen mitgemacht; auch er hat manches, und in verschiedenem Sinne, sich angemerkt: wir benutzten das zusammen, und alsdann würde es erst ein hübsches Ganze werden.« (WV 247). Manfred Osten zitiert im genannten Beitrag zu Goethes Kritik an der modernen Beschleunigung einen Brief Goethes an Zelter (11. Oktober 1826), darin heißt es zur Erklärung der Formel des »Veloziferischen«: »So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: Die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen; das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist.« Siehe Osten, »Alles Veloziferisch«: Goethes Ottilie und die beschleunigte Zeit«, S. 220.
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dem Motiv der Wahrnehmung und der Interpretation der Geschehnisse durch die Charaktere verknüpft: Im innern Herzen beharrt indessen Charlotte bei dem, was sie bedacht und sich vorgesetzt, und männlich steht ihr der Freund mit gleichem Sinn zur Seite. Aber eben dadurch wird ihre Vertraulichkeit nur vermehrt. Sie erklären sich wechselseitig über Eduards Leidenschaft, sie beraten sich darüber. Charlotte schließt Ottilien näher an sich, beobachtet sie strenger, und je mehr sie ihr eigen Herz gewahr worden, desto tiefer blickt sie in das Herz des Mädchens. Sie sieht keine Rettung, als sie muß das Kind entfernen. Nun scheint es ihr eine glückliche Fügung, daß Luciane ein so ausgezeichnetes Lob in der Pension erhalten; denn die Großtante, davon unterrichtet, will sie nun ein für allemal zu sich nehmen, sie um sich haben, sie in die Welt einführen. Ottilie konnte in die Pension zurückkehren, der Hauptmann entfernte sich wohlversorgt; und alles stand wie vor wenigen Monaten, ja um so viel besser. Ihr eigenes Verhältnis hoffte Charlotte zu Eduard bald wiederherzustellen, und sie legte das alles so verständig bei sich zurecht, daß sie sich nur immer mehr in dem Wahn bestärkte: in einen frühern, beschränktern Zustand könne man zurückkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen. (WV 328f.)
Charlottes nächtlicher Schwur, Eduard treu zu bleiben, findet hier seine Fortsetzung. Der Beginn des Absatzes holt den Schwur im Rückblick nach. Es fällt auf, daß die Formel aus einer Doppelung besteht: »was sie bedacht und sich vorgesetzt«. Vorsätze, Absichten, Beschlüsse folgen wie bei der Darstellung der ersten übereilten Reaktionen auf Wünsche, Phantasien und gedankliches Begehren. Nicht zufällig wird aber Charlottes beharrendes Herz hier zu Beginn im Präsens genannt, es verknüpft sich diesem verhängnisvollen Folge-Schema und, wie wir weiter unten sehen werden, setzt es in ihm einen wichtigen Schritt. Der Hauptmann bleibt seiner Rolle treu und steht daher Charlotte auch im inneren Verzicht »männlich« zur Seite. Doch gerade diese Tapferkeit ist es ja, die Charlotte an ihm anzieht, auch das ist an diesem Punkt schon durch verschiedene Szenen im Roman dargelegt worden. So scheint es widersprüchlich, daß der Hauptmann gerade jetzt als »männlich« bezeichnet wird (eine sehr seltene Vokabel, wenn nicht die einzige Nennung hier). Die Zuordnungen erfolgen aber gleichzeitig nach einem klaren Geschlechter-Schema. Er steht Charlotte »mit gleichem Sinn« zur Seite, sie befragt ihr »Herz«. Die solcherart eingeführte Mann-Frau-Thematik zeitigt ihrerseits schnell Folgen, sie doppelt die wachsende Vertraulichkeit zwischen beiden. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt der nächste Satz einige Ambiguität. Sie »erklären sich wechselseitig über Eduards Leidenschaft«. Das Aussprechen der Tatsachen, das Sprechen über Eduard wird damit zum Moment des Anlasses weiterer Liebes-Erklärungen zwischen Charlotte und dem Hauptmann, so deutet die Stelle an. Wie schon beim Hausbau, den Eduard für Ottilie plant und den paradoxerweise auch Charlotte und der
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Hauptmann gemeinsam betreiben, »beraten« sie sich auch über Eduards Gefühle. So wirkt das neuerliche Beraten parallel zum Motiv der sich anhäufenden Schulden wie ein gesteigerter Schritt im Folge-Schema, es ist gleichsam ein Folge-gibt-Folge-Muster, das hier anknüpfend ans Vorhergehende aufgebaut wird und so die Logik der Gefühlsaufschauklung zwischen Charlotte und dem Hauptmann abbildet. Charlotte selbst zeigt nun die gleiche Reaktion wie vorher der Hauptmann in Bezug auf Eduard: sie beobachtet Ottilie. Wieder kommt es aber, wie in ihrem Wunsch, schwanger zu sein, zu einer eigentümlichen Übereinanderlegung in Charlottes Sicht. Diese ergibt sich aus einer Kette von vier Blickbewegungen. Der Beobachtung Ottilies folgt bei Charlotte der Blick auf ihr »eigen Herz«, der aus der Präsensschiene heraustritt und als Entwicklung angedeutet wird, »je mehr sie ihr eigen Herz gewahr worden« (Herz als Akkusativobjekt: als würde Charlotte ihr Herz betrachten). Der Blick in Ottilies Herz ist für Charlotte dadurch »desto tiefer«, d. h. sie schließt von ihrem Herz automatisch auf die Vorgänge in Ottilie. Als Ergebnis »sieht« sie die einzige Lösung in der Entfernung des (wiederum perspektivischen) »Kindes«. Das den Absatz eröffnende Herz Charlottes, das sich durch und für den Hauptmann hier noch mehr erwärmt, steht so im Zentrum und durchläuft eine ähnliche Kreisbewegung wie jene, die das Folge-gibt-Folge-Schema der Beratungen beschreibt. Suggeriert wird, daß Charlotte geradezu von sich auf Ottilie schließen muß, von der sie noch gar nicht weiß, ob sie Eduards Gefühle in gleicher Stärke erwidert. Charlotte sieht also vor allem ihr eigenes Herz und dessen frisch belebten Aufruhr, und es wiederholt sich die Logik der Szene ihres nächtlichen Treueschwurs, in der Charlotte ihrer Neigung abschwört. Einem Imperativ gleich faßt sie den Entschluß, sie »muß« Ottilie in die Pension zurückschicken. Dabei bleibt auch das andere Element der Schwurszene hier nicht aus, die Illusion: »Nun scheint es ihr eine glückliche Fügung […]«, wobei die unbestimmte Zeitangabe auch als Folgerung gelesen werden kann. Der Inhalt dessen, was Charlotte als »Fügung« empfindet, erscheint noch als Teil der Präsensschiene und enthält mit »ein für allemal« noch eine Wendung, in der Charlottes fester Entschluß gleichsam nachklingt. Die Absichtserklärung der Großtante fügt sich ebenso in die Kette der Vorhaben und in die Wollen-Sollen-Kette ein, die sich nun schon etabliert hat, diese »will« Luciane um sich haben und in die Gesellschaft einführen. Charlottes Entschlußkraft macht sie dem »männlich« ihr zur Seite stehenden Hauptmann sehr viel ähnlicher als ihrem impulsiven Mann. Genauso wie die Tatkraft des Hauptmanns aber die zweifelhaften Geldgeschäfte nur beschleunigen hilft, deutet sich in Charlottes Fähigkeit zum Beharren einer der Gründe der Katastrophe an. Diese Motive weisen auf ein zentrales Paradox der Charaktere der Wahlverwandtschaften, nämlich daß es gerade deren beste Eigenschaften sind, die den Untergang herbeiführen helfen. Am Beginn der Kata-
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strophen stehen so auch positiv zu bewertende Gedanken, Gefühle und Überlegungen, ist die Botschaft. Hier kommt den Präsenspassagen ihre besondere Funktion und Bedeutung als Mikro-Szenen zu: sie spiegeln die Aporien, die der Roman im Großen inszeniert, im Kleinen, in Gedankenprozessen und Detailentscheidungen. Deswegen möchte ich noch auf das Ende dieser Textstelle hinweisen. Im Rest des zweiten Absatzes wird der Inhalt von Charlottes Überlegungen wieder im Präteritum wiedergegeben, was sich hier wohl tatsächlich Gründen der Ausgewogenheit verdankt. (Eine Weiterführung im Präsens hätte die Präsenspassage ähnlich lang wie einige der vorigen werden lassen, was das schnelle Hin und Her zwischen den Perspektiven einschränkt. Setzt man die Stelle ganz ins Präsens, merkt man außerdem, daß auf diese Weise eine übergroße Verdeutlichung von Charlottes erlebter Rede eintritt, eine so klare Unterbrechung des Erzählflusses wurde somit hier entweder als Übertretung empfunden oder ist nicht intendiert, was ich angesichts der sonstigen Verwendung für wahrscheinlicher halte. Die Stelle zeigt damit m. E., wie genau die Tempuswechsel gesetzt sind.) Der Passus bringt jedoch vor allem so wie jener am Ende der ersten langen Präsensszene von Eduards nächtlichem Umherschweifen im Park eine Beurteilung der Überlegungen Charlottes. Die vorliegende Stelle ist aber viel stärker als die Kennzeichnung der »Träume« Eduards. Die Erzählerstimme zählt die Details des Plans auf, den Charlotte sich zurechtlegt, aber vor allem ihre Gedankenrede der Selbsttäuschung: »und alles stand wie vor wenigen Monaten, ja um so viel besser«. Folgerichtig zeichnet der Erzählerbericht ihr Räsonieren als Konstrukt, doch nicht ohne zarten Hinweis auf Charlottes voraussehbar vergebliches Bemühen: »sie legte das alles so verständig bei sich zurecht«. Die Beurteilung dieses Konstrukts ist somit nicht nur deutlich, sondern faßt alles Kommende voraus: »daß sie sich nur immer mehr in dem Wahn bestärkte«. Und am Schluß dieses Absatzes, dem bis zum Ende des 13. Kapitels keine Präsenspassagen mehr folgen, steht ein Bild von geradezu brutaler Offenheit, wenn auch im Konjunktiv indirekter Rede und scheinbar als bloße Sentenz wiedergegeben. Das Bild von Charlottes Wahn: »ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen«, fügt der Kette von unheimlichen Elementen, die, indem Bilder von Geburt und Werden entworfen werden, auf das Kind rekurrieren, ein wichtiges Moment hinzu. Es ist jedoch von weitaus höherer Grausamkeit als jenes, das Charlottes gleichsam durch Einbildungskraft selbstbewirkte Zeugung andeutet. Hier hat Charlotte, die wir ja schwanger wissen, das Kind, dessen Ertrinken man in der Szene von Eduards dammbruchartigem Gefühlsausbruch vorausgedeutet sehen kann, praktisch schon geboren. Das Bild kehrt zurück zu dieser Gefühlsexplosion Eduards und kann analog zur dortigen Metapher des Überfließens gelesen werden, tut dies aber mit einer Wendung, die zur freudig erwartenden Charlotte einen wilden Kontrast bildet. So erscheint am
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Horizont die Szene eines doppelt grausam malträtierten Neugeborenen, das dem Körper gewaltsam entzogen und nun wieder ebenso gewaltsam einverleibt wird. Dieses Bild stellt sich zum über allem liegenden Motiv des gleichsam irrtümlich gezeugten und dann durch Ungeschick umkommenden Kindes, so als könne niemand mit ihm etwas anfangen. Wir erinnern uns an die Bemerkung in einem Brief Wilhelm Grimms, das Kind sterbe »wie ein Hund«. Diese Behandlung durch den Text, der der werdenden Mutter auch eine so grausame Wendung zuordnet, scheint hier noch einmal vorausgezeichnet und stellt außerdem selbst eine Art Fortzeugung dar. Es zeichnet das Bild einer erschrockenen Mutter – und Charlottes Kinderwunsch, der dem Beginn der Präsenspassagen überhaupt korrespondiert, als den Ursprung der Büchse der Pandora. Dieser schwebenden Logik folgend läßt sich die Szene auch zurückbinden an Charlottes Entschluß betreffend Ottilie: »Sie sieht keine Rettung, als sie muß das Kind entfernen.« Man kann dies durchaus als Variante der semantischen Doppelbödigkeiten lesen, die einen nach von Matt beim Lesen dieses Romans auf Schritt und Tritt verfolgen. Das von Goethe selbst empfohlene mehrfache Lesen löst solche Stellen aber nicht auf, sondern läßt sie, wie ebenfalls von Matt betont, nur noch mehr hervortreten. Auch dies kann man außerdem als Strategie der Emotionalisierung sehen. Hinter jedem Nomen entdeckt sich ein Omen711; dies bewirkt beim Leser die stete Aufmerksamkeit für das double-bind des Vernunft-Triebes der Figuren. Sprechen und Deuten Charlottes Vernunftstärke bestärkt also ihren »Wahn«. Die Präsenspassagen im 13. Kapitel und das in ihnen dargelegte Zusammenspiel der Reaktionen der Figuren auf die offenbar werdenden Veränderungen legen insgesamt den Grundstein für die Entwicklung des psychischen Dramas der Wahlverwandtschaften. Die letzten Präsensstellen im 13. Kapitel stellen wieder vor allem Charlottes innere Vorgänge ins Zentrum und weisen sie damit als den eigentlichen Angelpunkt dieser ersten Reaktionen aus. Es fällt auf, daß bis zu diesem Punkt in den Präsensszenen noch keine perspektivische Gestaltung der Sicht Ottilies aufgetaucht ist. Das bleibt auch so bis kurz vor Ende des Kapitels. Nach der Szene mit dem Bild der rückgängig gemachten Geburt wird die zunehmende Entfremdung geschildert, zu der es nun zwischen den Figuren kommt, vor allem zwischen Eduard und seiner Frau. Dieser fühlt, daß »man« ihm Hindernisse in den Weg legt, mit Ottilie zu sprechen. Dieses »man« wird bis zum Ende des Kapitels mehrmals wiederholt und es ist klar, daß es wie in der Präsensszene der gemeinsamen Verkaufsberatungen weiter Charlotte und der Hauptmann sind, 711 Vgl. Von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 269.
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die dahinterstehen. So kommt auch in Eduards Gespräche mit Ottilie ein anderes Element, er beschwert sich über das Verhalten seiner Frau und des Freundes. Von Ottilie heißt es dagegen nur kurz, daß auch sie sich einigermaßen Charlotte und dem Hauptmann »entfremdete« (vgl. WV 329). Dann wird jedoch ein Fauxpas geschildert, den ausgerechnet die rücksichtsvolle Ottilie begeht. Sie erzählt Eduard von einer Bemerkung des Hauptmanns, in der dieser Eduards Spiel als »Flötendudelei« bezeichnet. Hier wird ein ähnliches Bild entworfen wie jenes der Büchse der Pandora, das zuvor Charlottes Überlegungen begleitet: »Kaum hatte sie es gesagt, als ihr schon der Geist zuflüsterte, daß sie hätte schweigen sollen; aber es war heraus.« (WV 330) Die Verstrickungen der Figuren in den Wahlverwandtschaften werden immer wieder an kleinen Mißgeschicken und Alltagskatastrophen dieser Art gezeigt; diese Szenen thematisieren auch die Frage der persönlichen Veranlagung, wie in diesem Fall Ottilies Mißgriff, der eigentlich gegen ihre diskrete Natur geht. Tatsächlich zeitigt die unglückliche Bemerkung nicht geringe Folgen. Der empfindliche und aufbrausende Eduard ist tief getroffen: »Er war beleidigt, wütend, um nicht wieder zu vergeben. Er fühlte sich von allen Pflichten losgesprochen.« (WV 330) Die zuvor übereilte und nun zunehmend verunglückende Kommunikation ist so der erste Niederschlag der Folgen der Gefühlsverwirrung, der die Figuren unterliegen, und kündigt ihrerseits in sorgfältiger Detailzeichnung die kommenden Katastrophen an. Schon nach Eduards Nacht mit Charlotte treten kleine Veränderungen ein, die zuvor harmonische Stimmung der kleinen Gesellschaft schwindet, Verlegenheit kommt auf. Eduard versucht, mit Ottilie heimlichen Briefkontakt zu halten. Auch diese Verständigung läuft schief. Eduard verliert ein Zettelchen, das Ottilie ihm geschrieben hat, aus der Westentasche. Charlotte hebt es auf und gibt es ihm zurück mit einer Bemerkung, aus der Eduard nicht schließen kann, ob sie die Handschrift Ottilies, die sich seiner angeglichen hat, erkannt hat. Das macht ihn mißtrauisch, er denkt, Charlotte könnte sich verstellen. Auch hier kehrt das Motiv des »Scheins«, das als Illusion und Gedankenbindung die ersten Präsensszenen kennzeichnet, in Form eines Erzählerkommentars im Präsens wieder: Er war gewarnt, doppelt gewarnt; aber diese sonderbaren, zufälligen Zeichen, durch die ein höheres Wesen mit uns zu sprechen scheint, waren seiner Leidenschaft unverständlich; vielmehr, indem sie ihn immer weiter führte, empfand er die Beschränkung, in der man ihn zu halten schien, immer unangenehmer. Die freundliche Geselligkeit verlor sich. (WV 331)
Eduards schlechtes Gewissen Charlotte gegenüber nimmt zu, das entfernt ihn aber nur noch weiter von ihr. Er versucht, mit Humor darüber hinwegzugehen, auch das mißlingt, kurz, es ist alles aus dem Lot. Der Schluß des Kapitels enthält noch einmal eine Präsenspassage:
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Über alle diese Prüfungen half Charlotten ihr inneres Gefühl hinweg. Sie war sich ihres ernsten Vorsatzes bewußt, auf eine so schöne, edle Neigung Verzicht zu tun. Wie sehr wünschte sie, jenen beiden auch zu Hülfe zu kommen! Entfernung, fühlte sie wohl, wird nicht allein hinreichend sein, ein solches Übel zu heilen. Sie nimmt sich vor, die Sache gegen das gute Kind zur Sprache zu bringen; aber sie vermag es nicht; die Erinnerung ihres eignen Schwankens steht ihr im Wege. Sie sucht sich darüber im allgemeinen auszudrücken; das Allgemeine paßt auch auf ihren eignen Zustand, den sie auszusprechen scheut. Ein jeder Wink, den sie Ottilien geben will, deutet zurück in ihr eignes Herz. Sie will warnen und fühlt, daß sie wohl selbst noch einer Warnung bedürfen könnte. Schweigend hält sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und die Sache wird dadurch nicht besser. Leise Andeutungen, die ihr manchmal entschlüpfen, wirken auf Ottilien nicht; denn Eduard hatte diese von Charlottens Neigung zum Hauptmann überzeugt, sie überzeugt, daß Charlotte selbst eine Scheidung wünsche, die er nun auf eine anständige Weise zu bewirken denke. Ottilie, getragen durch das Gefühl ihrer Unschuld, auf dem Wege zu dem erwünschtesten Glück, lebt nur für Eduard. Durch die Liebe zu ihm in allem Guten gestärkt, um seinetwillen freudiger in ihrem Tun, aufgeschlossener gegen andre, findet sie sich in einem Himmel auf Erden. So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre. (WV 331f.)
Natürlich ist auch im Haupterzählstrang im Präteritum immer wieder von den Gefühlen oder Vorsätzen der Figuren die Rede. Eduards Reaktion auf die Szene mit dem Zettelchen demonstriert seine zunehmend perspektivisch verengte Wahrnehmung. Gerade er, der an die »bewußten« im Gegensatz zu den »dunkel vor sich hinlebenden« Menschen glaubt (vgl. WV Kap. I, 1), wird nun schwankend in seiner Interpretation der Dinge, die um ihn vorgehen und bezieht alles auf sich. Er ist doppelt »gewarnt«, wie die Stelle sagt, und doch gleichzeitig blind für die Zeichen von oben, die der Erzähler andeutet. (Hier sind wir wieder gefordert, dem Erzähler die Existenz der »sonderbaren, zufälligen Zeichen« von oben abzunehmen oder sie selbst als Aberglaube zu lesen. Die Stelle bleibt in der Schwebe.) – Auch der Beginn der Schlußpassage des 13. Kapitels hat Charlottes »inneres Gefühl« und ihren »ernsten Vorsatz« zum Inhalt und wird im Präteritum erzählt. Als Eingang der Schlußerzählung hat auch er den Charakter einer Zusammenfassung der bisherigen Geschehnisse, auf die noch einmal der genauere Blick ins Innere folgt. Dieser beginnt schon durch die Satzstellung als Reflexion. Die vorgezogene »Entfernung« betont den Gegenstand von Charlottes Überlegung und knüpft damit motivisch an das Ende der vorhergehenden Präsenspassage an: »sie muß das Kind entfernen«. Die Wortwiederholung wird zum Signal, daß wir nun wieder an Charlottes Gedanken teilhaben. Das Futur: »wird nicht allein hinreichend sein« verstärkt Charlottes Gedanken-Standpunkt
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wie oben in der Frage der Geldgebahrung (»nach der übereilten Weise wird das Ausgesetzte nicht lange reichen«). Neben dieser Wiederholung des Musters kehren andere Schlagworte wieder. »Sie nimmt sich vor«, Sie sucht sich darüber […] auszudrücken«, »Ein jeder Wink, den sie […] geben will«, »Sie will warnen und fühlt«; die Konzentration auf diese Motive der Vorsätze, des Wollens und des Suchens nach einer Lösung ist in den Präsenspassagen des 13. Kapitels des ersten Teils immer wieder auffällig. Das wichtigste Signal ist aber die Wiederkehr der Aporie der Herzensschau: wieder sieht Charlotte vor allem ihr eigenes Herz. Jetzt wird die Ausweglosigkeit aber noch gesteigert, denn diesmal kommt sie vor lauter Zweifeln nicht einmal zu ersten Schritten, zumindest nicht im Absatz mit dem Präsensbeginn. Dieser stellt Charlottes Zögern in vier aufeinanderfolgenden Sätzen dar. Die antithetische Bewegung des verhinderten Anlaufs ist dabei immer die gleiche: »Sie nimmt sich vor […] aber sie vermag es nicht […]«; »Sie sucht sich darüber im allgemeinen auszudrücken […] das Allgemeine paßt auch auf ihren eignen Zustand […]«; »Ein jeder Wink, den sie geben will […] deutet zurück […]«; »Sie will warnen und fühlt […]«. Das Hin und Her ihres inneren Argumentierens macht Charlotte handlungsunfähig. Der »zurückdeutende« Wink wird so zum Bild der ganzen Passage. Bevor Charlotte noch zu irgendeiner Handlung kommt, ist der Zug des Vorhabens schon gestoppt von der »Erinnerung ihres eignen Schwankens« und vom Rückschluß auf ihren »eignen Zustand« und »ihr eignes Herz«. So ist auch hier Charlottes Herz ganz Schauplatz der Handlung. Diese besteht darin, daß Charlotte eben nicht handelt. Denn wie Eduard hat sie ein schlechtes Gewissen, davon handelt die Szene: das hier wiederkehrende »Schwanken« deutet zurück zur Szene der Kahnfahrt, wo vom »schwankenden Element« des Wassers die Rede ist. Die »Erinnerung ihres eignen Schwankens« hier ist damit schon sehr konkret konnotiert und das Schwanken bezieht sich nicht nur auf gefühlsmäßige Unentschlossenheit, sondern evoziert deutlich die nicht wenig erotische Szene zwischen ihr und dem Hauptmann, der vor Verwirrung die Anlegestelle nicht mehr findet. (Zudem deutet gerade die Notwendigkeit von Charlottes wiederholter Selbstbeherrschung umso stärker auf die Tiefe ihrer Gefühle.) Die überwiegende Thematisierung von Charlottes Innensicht in den Präsenspassagen des 13. Kapitels führt so das erste Auftauchen des szenischen Präsens in der Szene ihres nächtlichen Treueschwurs weiter. Es versetzt uns hier, nur wenige Seiten später, gleich mitten in den Konflikt, dem jetzt Charlotte am meisten ausgesetzt ist. Da sie als Ehefrau die erste und Hauptbetroffene ist, ist es auch entscheidend, wie sie reagiert. Ein wichtiger Umstand kommt dazu, von dem bis jetzt nur »wir« Leser wissen: ihr Zustand. An diesem Punkt der Handlung ist es so schon schwierig, auch die Erwähnung von Charlottes »Zustand« hier als nur auf ihren Gefühlszustand bezogen zu lesen. Die Assoziation zu ihrer Schwangerschaft drängt sich auf. Auch hier wirkt die Verkettung der
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Konnotationen, die sich gegenseitig verstärken. Das Präsens, das sich als erstes mit dem Motiv der Schwangerschaft verknüpft, kann später dieses Motiv gleichsam von selbst evozieren, es reicht eine Andeutung. Wie in IV. 2.3. gezeigt, spricht Paul Stöcklein von der stets »verschwiegen andeutenden Erzählweise« der Wahlverwandtschaften; dies geschieht hier auch und entscheidend einerseits über die lexikalische Feinarbeit und Wortvariation, über die Szenen verknüpft werden, andererseits aber auch über die Weitergabe der formalen Gestaltung712. Da jetzt also alles an Charlotte hängt, entspricht es dieser dramaturgischen Zuspitzung, daß in dieser Passage fast wie nebenbei (im Plusquamperfekteinschluß im dritten Absatz) das entscheidende Wort fällt: »Scheidung«. Das zweimalige »überzeugt« Eduards in dieser Passage weist schnell darauf hin, daß es sein Wunsch ist, daß Charlotte die Scheidung »wünsche, die er nun auf eine anständige Weise zu bewirken denke«. Charlotte dagegen möchte (mit Beginn des Präsenseinsatzes) »ein solches Übel« heilen. Zweimal ist in der Textstelle aus ihrer Sicht von der »Sache« die Rede. Ihr Wunsch ist, alles klein zu halten und möglichst als vorübergehenden Anfall zu sehen. Die ganze erste Präsenspassage spricht dabei von verhinderten, unterlassenen Sprechakten: »zur Sprache zu bringen«, »(vermag es nicht), auszudrücken«, »auszusprechen scheut«. »Wink«, »Warnung« – Charlottes Handlungshemmung äußert sich zu allererst in der Unfähigkeit zu kommunizieren. »Schweigend« ist daher ein weiteres zentrales Wort, das Charlottes Handeln betrifft, und steht am Anfang des nächsten Paragraphen. Die Sprache des Herzens stellt sich also bei Charlotte an die Stelle des äußeren Sprechens, dafür haben wir an dieser umso mehr Anteil. Schließlich: »Leise Andeutungen«. Läßt man diese und die vorhergehenden Szenen auf sich wirken, ist klar, daß dies im Gewirr der verhinderten Sprechakte und schief laufender Kommunikationsversuche nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann. Dieser heiße Stein, so möchte man sagen, ist Ottilie. Ottilie ist »getragen durch das Gefühl ihrer Unschuld« (Erzähler), »das gute Kind« (Charlotte), und erscheint selbstvergessen glücklich. Bisher erfolgte kein Hinweis auf ihr Inneres, 712 Man kann die Stelle sogar als Hinweis auf die im vorigen Kapitel dargestellten intrikaten Erzählverhältnisse lesen. Charlottes Versuch, mit Ottilie zu sprechen, scheitert daran, daß das »Allgemeine« auch auf »ihren eignen Zustand paßt«. Dies spiegelt den distanziertnahen Erzähler, der so gut wie keine »allgemeingültigen« Aussagen macht, die nicht von den konkreten Figuren sprechen. Dasselbe Dilemma hat Charlotte: wie soll sie Ottilie warnen, wenn sie nicht vom konkreten Fall spricht? Die Überlegung liegt nahe: durch ein Gleichnis. Genau das kann Charlotte aber nicht finden (wohl weil als tertium comparationis das Herz fungieren müßte, bei dem aber Charlotte, wie gezeigt, zwischen ihrem und Ottilies nicht differenziert). Die Stelle wiederholt so das Problem, das die Figuren mit der Gleichnisrede haben, deren Bedeutung sie nicht von der eigenen Situation trennen. Umgelegt auf den Erzähler bedeutet dies, jede Darlegung ist per se spezifisch – oder umgekehrt jedes Erzählen Gleichnis?
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Ottilie wird nicht als Nachdenkende oder Zweifelnde dargestellt, so hier : sie »lebt nur für Eduard«. Obwohl sie gerade vorher den für ihre Sensibilität (die sie bisher Charlottes leiseste Winke wahrnehmen ließ, wenn es um Fragen gesellschaftlicher Feinfühligkeit ging) untypischen Fauxpas begangen hat, erscheint sie nun als durch die Liebe zu Eduard »in allem Guten gestärkt« und »aufgeschlossener gegen andre«. Damit bekommen wir zwar ganz am Schluß des Kapitels und auch noch innerhalb der Präsenshandlung Einblick in Ottilies Sicht. Der Kontrast zur Darstellung der Reaktionen der anderen könnte aber größer nicht sein. Im Vergleich zu den heftigen inneren Bewegungen Charlottes werden Ottilies Gefühle gleichsam nur von außen gezeigt bzw. einfach festgestellt. Nicht zufällig ist von ihrem freudigeren »Tun« die Rede. So bleibt es unauffällig, wie schnell sie Eduards Überzeugung, Charlotte wünsche die Scheidung, zu teilen bereit ist. Es erfolgt zwar der Hinweis auf ihre für Charlottes Andeutungen tauben Ohren, doch insgesamt wird Ottilies Wahrnehmung in den Präsenspartien des ersten Teils kaum thematisiert; im zweiten Teil ändert sich das. Zwar erscheint ihr Handeln als widersprüchlich, aber wir erfahren nichts von ihren inneren Motiven und werden nicht mit ihren Überlegungen konfrontiert. Als Gegenbild zu Eduards überstürzten Vorkehrungen zu ihrem Geburtstag wird auch bei Ottilie eine Bewegung angedeutet: sie ist hier in der letzten Präsenspassage des 13. Kapitels auf dem »Wege zu dem erwünschtesten Glück«, während Charlotte zweifelnd und abwägend auf der Stelle tritt, ihr Schwanken »steht ihr im Wege«. Charlottes Handlungshemmung erweist sich in doppelter Weise als von ihren mütterlichen Gefühlen bedingt. Ihr Blick auf Ottilie ist der auf »das gute Kind«, die Andeutung ihres »Zustands« verweist auf ihre Schwangerschaft. So gesehen könnte man die Präsensportion, die Charlottes fatale Hemmung zeigt, als genau von diesem Rahmen begrenzt sehen. Mit dem Gedanken an das »gute Kind« Ottilie setzt sie ein, mit der Nichtwirkung auf Ottilie endet sie, der Plusquamperfektteil holt das Davor nach. Charlottes Unfähigkeit, ihre immer wieder gefaßten Vorsätze in die Tat umzusetzen, erklärt sich dadurch quasi von selbst. Hatte schon der allererste Einsatz des Präsens ihre Müdigkeit zum Inhalt (»Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein.«), kehrt nun das Gemisch ihrer Gefühle ebenso als Präsensszene wieder. Und was wäre logischer, als beide Szenen gleichermaßen der Euphorie, der Gefühlsbetontheit und schließlich der Trägheit der werdenden Mutter zuzuschreiben? Das Folge-gibtFolge-Schema bleibt so eine zentrale Bewegung der Präsenshandlung: Wunsch erzeugt Wunsch, ein »Schwanken« ergibt das nächste, die Beratungen mit dem Hauptmann über Geld bedingen die Notwendigkeit der Beratungen über Gefühle. Ebenso deutlich ist die Progression der Hindernisse. Mit dem Hauptmann kann Charlotte sprechen, mit Eduard kommt es zu Mißverständnissen, mit Ottilie gelingt das Gespräch gar nicht mehr. Diese »findet sich« nun, nachdem
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Eduard sich in der ersten langen Präsensszene als nächtlicher Galan »unter Ottilies Fenstern« fand, »in einem Himmel auf Erden«. Ottilie gelingt damit schon hier eine Form der Entrückung und die bedingungslose Hingabe an ihre Gefühle. Beide Motive werden in den Präsensszenen des zweiten Teils noch deutlich verstärkt. Daß die Reaktionen der Figuren je nach Charakter das Thema des 13. Kapitels bilden, wird schließlich noch im Erzählerkommentar am Schluß explizit: »So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort«. Auch worin die Weise besteht, wird hier klar gesagt und scheint gerade den Inhalt der Präsenspassagen noch einmal zusammenzufassen: »mit und ohne Nachdenken«. Der letzte Absatz bezeichnet explizit den dramaturgischen Höhepunkt, den das Kapitel zum Inhalt hatte: »wo alles auf dem Spiele steht«. In einer Mischung aus szenischem Präsens und Erzählerkommentar wird das durch Nachdenken bedingte Zögern der Figuren als eines der Handlungsmomente herausgestellt, das den Grund für alle weiteren Verwicklungen darstellt. Noch einmal verweist »alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen« auf die Realitätsverweigerung der Figuren. Emotional gefärbte Wahrnehmung wird damit hier in teils sehr dramatischer Weise als verzerrte, getrübte Wahrnehmung dargestellt.713 Dies gilt vor allem für Eduard. In Hinblick auf Charlotte gewinnt die Frage der Wahrnehmung aber fast noch größere Dimension. Eduard fungiert zwar als Auslöser der sich zuspitzenden Ereignisse, doch Charlotte muß nun agieren. Die genauen Bedingungen ihrer Sicht werden daher minutiös motiviert, auf diese Weise wird der Leser zum intimen Zeugen des Moments von Charlottes Versäumnis. Nicht um Schuld geht es dabei, sondern um (gefühls)logische Herleitung. Der wiederholte Blick auf die Vorgänge in Charlottes Innerem in den Passagen im szenischen Präsens stellt daher auch ihre Reaktion als möglichen 713 Susanne Konrad deutet in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und das Dilemma des Logozentrismus, Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1995 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3. Folge Band 144), S. 208ff. Charlottes Konflikt zwischen persönlicher Identität und gesellschaftlichen Erwartungen als paradigmatisch für die bürgerliche »(Anti-)Heldengestalt« und sieht Charlotte als »tragische Heldin im Sinne der Moderne« (vgl. ebda., S. 208). Sie ist »[…] dem Konflikt von zwei Seiten ausgesetzt. Auf der einen würde die Scheidung von Eduard ihre Identität bedrohen, auf der anderen rühren ihre Gefühle für den Hauptmann an die Verletzung ihrer Persönlichkeit. Ihn zu begehren muß sie als unmoralisch empfinden, also läßt sie als einzig mögliches Gefühl das der Freundschaft zu. […] Das Resultat dieses Konfliktes ist Charlottes Isolation. Nicht nur sich selbst, auch den drei Menschen, die ihr am wichtigsten sind, ist sie psychisch entfremdet. Entfremdet ist sie aber zugleich der Gesellschaftsordnung, in der nur ihre soziale Identität Bestätigung findet, ihr Inneres aber nicht gefragt ist. Dies ist die Symptomatik, die Horkheimer und Adorno für das tragische bürgerliche Subjekt konstatieren. Sie sprechen von der »absolute(n) Einsamkeit, die am Ende der bürgerlichen Ära offenbar wird.«« Ebda., S. 212f.
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Kairos des Handelns für die gesamte Konstellation heraus. Auch von dieser Tragweite ist hier am Schluß des Kapitels noch einmal die Rede: »wie man auch in ungeheuren Fällen […] noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre«. Schon bei Eduards nächtlichem Besuch bei Charlotte, dem Moment der Zeugung des Kindes also, war von dem »ungeheuren Recht« der Gegenwart die Rede. Auch davon, daß »leider« das Herz »keinen Anteil nahm« an den Scherzen und Gesprächen, die zum Liebesakt zwischen dem Ehepaar führen. Charlottes durch die Gespräche mit dem Hauptmann erwärmtes Herz erweist sich dagegen nun als Hindernis genau in jenem Moment, an dem Handeln noch möglich wäre, so stellt es die letzte Präsenspassage im 13. Kapitel zentral heraus. Charaktere und Anlagen In den nächsten Kapiteln bis zum Schluß des ersten Teils der Wahlverwandtschaften taucht das szenische Präsens nur mehr an einzelnen Stellen und nicht mehr, wie im 13. Kapitel, in enger Aufeinanderfolge auf. Dennoch sind diese Stellen durch ihre Anbindung an die Motivkette, die ich eben dargestellt habe, so miteinander verbunden, daß sich an ihrem Fortgang jeweils der Kern der negativen Entwicklungsmomente ablesen läßt. Die nächste Textstelle im szenischen Präsens findet sich am Beginn des 14. Kapitels. Dessen erster Absatz beschreibt den Brief des Grafen an den Hauptmann, der »ein entschiedenes Anerbieten für die Gegenwart enthielt, eine bedeutende Hof- und Geschäftsstelle« (vgl. WV 332). Der Hauptmann verschweigt aber zunächst seine schon kurz bevorstehende Abreise. Dann heißt es: Indessen setzte er die gegenwärtigen Geschäfte lebhaft fort und machte in der Stille Einrichtungen, wie alles in seiner Abwesenheit ungehinderten Fortgang haben könnte. Es ist ihm nun selbst daran gelegen, daß für manches ein Termin bestimmt werde, daß Ottiliens Geburtstag manches beschleunige. Nun wirken die beiden Freunde, obschon ohne ausdrückliches Einverständnis, gern zusammen. Eduard ist nun recht zufrieden, daß man durch das Vorauserheben der Gelder die Kasse verstärkt hat; die ganze Anstalt rückt auf das rascheste vorwärts. Die drei Teiche in einen See zu verwandeln, hätte jetzt der Hauptmann am liebsten ganz widerraten. Der untere Damm war zu verstärken, die mittlern abzutragen und die ganze Sache in mehr als einem Sinne wichtig und bedenklich. (WV 332)
Wieder erweist sich der Hauptmann unter dem Eindruck der auf ihn jetzt zukommenden neuen Pflichten als Motor der Verhältnisse. Der Verweis auf Termine und Geldgeschäfte bleibt auch hier nicht aus und vor allem nicht der auf Ottilies Geburtstag. Neu ist, daß es der Hauptmann ist, der sich nun auch dieses Datum zum Ziel setzt. Diese Übernahme der Fixierung Eduards auf das Fest bewirkt eine vorübergehende Wiederannäherung der Freunde. Motiviert wird der Einsatz des Hauptmanns, der die Vorbereitungen mit doppelter Kraft vor-
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antreibt, um Ottilies Geburtstag zu »verherrlichen«, wie es später heißt (vgl. WV 333), durch seinen Charakter : Denn er hatte den Grundsatz, aus einem übernommenen unvollendeten Geschäft nicht zu scheiden, bis er seine Stelle genugsam ersetzt sähe. Ja er verachtete diejenigen, die, um ihren Abgang fühlbar zu machen, erst noch Verwirrung in ihrem Kreise anrichten, indem sie als ungebildete Selbstler das zu zerstören wünschen, wobei sie nicht mehr fortwirken sollen. (WV 333)
Wie beim Erzählereinschub in der langen Szene von Eduards nächtlicher Wanderung im Park: »[…] denen Tag und Nacht gleich sind« findet sich hier ganz in der Nähe der Passage im szenischen Präsens, die dem Hauptmann gewidmet ist, eine innere Fortsetzung seiner Sicht im Präsens des Erzählerkommentars. Der verläßliche Charakter des Hauptmanns wird so in diesen beiden Textstellen noch einmal nachdrücklich herausgestellt. Indem der Erzählerkommentar bei »zu zerstören wünschen« im Präsens verbleibt und nicht das Präteritum verwendet wird, kommt die Stelle fast einer Zustimmung des Erzählers gleich. Sie suggeriert daher eine umso größere Folgerichtigkeit der Handlung des Hauptmanns. Wieder nicht hinterfragt wird dagegen auch hier, welchen Zweck denn das rasche, im Text »rascheste«, Vorrücken der Anstalten hat, das der Hauptmann bewirkt. In Charlottes Sinn sind sie nicht, darüber werden wir informiert. Denn Charlotte befürchtet, daß Eduards übergroße Verliebtheit das Fest zu einer Huldigung an Ottilie geraten läßt und so seine Neigung auch für alle anderen offensichtlich wird; was dann auch genauso eintrifft. Nicht zufällig macht sich so der Hauptmann um den Zustand der Teiche Sorgen, die bei Ottilies Geburtstag eine wichtige Rolle spielen. Trotzdem »ist ihm nun selbst daran gelegen, daß für manches ein Termin bestimmt werde«. Sein redlicher Charakter als Ingenieur der Beschleunigung erlaubt ihm keine andere Sicht, scheint die Stelle zu bedeuten; auch die Sicht des Hauptmanns verengt sich damit. Warum nämlich genau die »ganze Sache in mehr als einem Sinne wichtig und bedenklich« ist, wird nicht erläutert. Stattdessen tritt eine neue Figur hinzu, der Architekt; geschildert wird nur die Zufriedenheit des Hauptmanns, daß dieser ihn ersetzen kann (also seine Funktion als stets verläßlicher Beistand übernehmen kann). Dies geschieht im zitierten Kommentar, der die nochmalige Betonung seiner unbedingten Integrität und Bescheidenheit enthält. Und noch ein Kommentar ganz ähnlicher Art deutet auf die Sorgen des Hauptmanns hin, die für den Leser das Signal des sich ankündigenden Unfalls sind. Der Inhalt der nächsten Absätze betont zuerst die »Anstrengung«, mit der »man« nun (alle wirken wieder zusammen) auf das Fest hinarbeitet; dann ist wieder von Eduards Neigung zu Ottilie die Rede, diese wird nun als »grenzenlos« bezeichnet (WV 333). Zum Zeichen seiner Liebe läßt er ihr den rot ausgeschlagenen Koffer mit wertvollem Schmuck und Kleidern zusammenstellen.
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Dazu berät er sich mit seinem Diener, dieser macht auch den Vorschlag, ein Feuerwerk abbrennen zu lassen. Dies alles geschieht im geheimen, Eduard verrennt sich also im Stillen immer mehr in seine Pläne (vgl. WV 333f.). Die nächste Passage des szenischen Präsens nimmt ebenso ein im Erzählerkommentar vorausgedeutetes Motiv wieder auf. Im 13. Kapitel war von Eduards Mißtrauen gegenüber Charlotte die Rede, als diese sein Briefchen an Ottilie findet. Der Erzählereinschub spricht dabei von den »sonderbaren, zufälligen Zeichen, durch die ein höheres Wesen mit uns zu sprechen scheint«. Diese Zeichensprache bestimmt nun Eduard immer mehr. Zur besseren Sicht auf das Feuerwerk läßt er unter einer Baumgruppe den Boden von Gestrüpp befreien, damit die Gäste dort Platz finden, »und nun erschien erst die Herrlichkeit des Baumwuchses« (WV 334). Eduard ist darüber höchst erfreut und erinnert sich, daß die Pflanzung ungefähr zur selben Jahreszeit erfolgte: Sobald er nach Hause kam, schlug er in alten Tagebüchern nach, die sein Vater, besonders auf dem Lande, sehr ordentlich geführt hatte. Zwar diese Pflanzung konnte nicht darin erwähnt sein, aber eine andre häuslich wichtige Begebenheit an demselben Tage, deren sich Eduard noch wohl erinnerte, mußte notwendig darin angemerkt stehen. Er durchblättert einige Bände, der Umstand findet sich. Aber wie erstaunt, wie erfreut ist Eduard, als er das wunderbarste Zusammentreffen bemerkt! Der Tag, das Jahr jener Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt. (WV 334)
Daß der »Umstand«, der auf die Baumpflanzung hinweist, mit Ottilies Geburtstag zusammenfällt, kann man als Bild für Eduards Schöpferphantasien lesen, die seinen Charakter im Roman von Anfang an prägen. Beim Bäumeveredeln finden wir ihn im Anfangsbild, und die Gestaltung des Gartens und die Pflege des Besitzes bilden im ganzen ersten Teil seine einzige Tätigkeit. Die Bestätigung, die Eduards Zeichnung hier erfährt, ist so gesehen eine doppelte. Seine Fixierung auf Ottilies Geburtstag wird durch das für ihn eindeutige Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit noch verstärkt, dies beschleunigt Eduards Verstrickung in seine (selbstisolierende) Liebeslogik, die er sich schon in der Überzeugung, Charlotte wünsche die Scheidung, zurechtlegt. Die »sonderbaren, zufälligen Zeichen« verwandeln sich hier für Eduard in das »wunderbarste Zusammentreffen«. (Überdies »findet sich« der »Umstand«, so wie sich Eduard »unter Ottilies Fenstern« und Ottilie sich am Ende des 13. Kapitels »in einem Himmel auf Erden findet«.) Das zentrale Wort dieses Präsensteils, der den Schluß des 14. Kapitels bildet, ist in diesem Sinn »bemerkt«. Die Passage reiht sich so einerseits in die Kette der fatalen Überzeugungen und Wunschphantasien ein, die die Figuren nach und nach heimsuchen. Die Stelle bestätigt Eduard aber auch als Herrscher über sein Reich. Dies verbindet die Passage mit der Kette der Charakter-Logik, die ebenfalls die Präsensstellen durchzieht. Ottilies Geburt eben an dem Tag, an dem Eduard die
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Bäume gepflanzt hat (daß er selbst es war, wird explizit gesagt), kann natürlich eine sexuelle Konnotation unterlegt werden, indem man die Bäume als PhallusSymbol liest. Ich möchte aber vorschlagen, die solcherart unterlegte Zeugungssymbolik in einem abstrakteren Sinn zu lesen, nämlich als eine Art Instanterfolg eines ehrgeizigen Gärtners (so Eduards Zeichnung als Müßiggänger714). Ottilie wird so zu einem Teil von Eduards »Schöpfung«: seinem Besitz715. 714 Zu Eduards Zeichnung als (Reform-)Gärtner vgl. Michael Niedermeier, Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, ›Gartenrevolution‹ in Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«, Peter Lang Verlag, Berlin Wien 1992, bes. S. 21, 26ff., 128f., 153. Niedermeier stellt ausführlich die historischen Bezüge, etwa die Rolle des Obstbaus heraus, zeigt aber auch, dass die arkadische Idylle zu kippen beginnt, als die Figuren sich in der Utopie einer sozialen Standesgleichheit verlieren. Mit dem Auftauchen Ottilies und dem Beginn der Neigungen zum letztlich sozial unerreichbaren Objekt bei beiden Ehepartnern, so Niedermeier, kommt mit der Idee eines möglichen Standesausgleichs eine umso höhere Gefühlsintensität und in deren Folge Müßiggang und Ziellosigkeit in die zuvor zielgerichteten und nützlichen Bemühungen um Reformen am Landgut. 715 Auf Eduards »Besitz«-Denken und seine primäre Rolle als Erhalter seiner ererbten Güter verweisen verschiedentlich v. a. neuere Quellen der Forschung, besonders aber Giovanni Sampaolo, der die Wahlverwandtschaften als explizite Kritik am »Gesamtphänomen ›Moderne‹« interpretiert und als wichtiges Motiv zum Ausdruck dieser Kritik die an Eduard dargestellte Logik moderner, ich-zentrierter Besitzgier herausarbeitet. Wie Manfred Osten (siehe Anm. 708) sieht Sampaolo Ottilie insofern als Gegensatz zu allen anderen Figuren konzipiert, da sie ein Prinzip verkörpere, das innerhalb der zum Scheitern verurteilten anderen Lebensentwürfe, die die Charaktere repräsentieren (so Charlotte als bewahrende, aber rückwärtsgewandte Ceres/Demeter, der Hauptmann als ihr zwar aufklärerisch reformierender Gegenpart, der aber trotzdem in der alles bestimmenden Beschleunigung der Epoche nicht zeitgemäß agiert), auf Ganzheitlichkeit und Überlieferung einer spontanen Moralität abziele, der »kalokagathia« von Goethes Menschenideal: vgl. Giovanni Sampaolo, »Proserpinens Park« – Goehes Wahlverwandtschaften als ›mythologische‹ Kritik der Moderne, in: Helmut Koopmann et al. (Hrsg.), Aurora – Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft für die klassisch-romantische Zeit, Nr. 61, Jan Thorbecke Verlag, Stuttgart 2001, S. 9–31. In der »Entwicklungsgeschichte« von Goethes literarischen Kunstmitteln, so Sampaolo, sei im Übergang zum Spätwerk ein »deutlich zunehmender Hang zur Typisierung der Figuren« zu vermerken, die Dichtung des alten Goethe ziele immer resoluter auf das »Generische«, d. h. auf das Transparentmachen von Archetypen, die chiffrenhaft und abstrakt das Mannigfaltige in sich verdichten« (vgl. ebda., S. 11). Eduard ist so für Sampaolo der dionysische Gegensatz zu Ottilie, vital und »reich an Charme und gewinnendem Überschwang«, der diese aber bedingungslos und quasi beutegleich vereinnahme, geprägt von seiner »egozentrischen Lust zu unmittelbarer Befriedigung des Ich«, die der »naturhaften Langsamkeit« Ottilies kontrastiere (vgl. ebda., S. 20 und 27). Eduards Charakter spiegelt so für Sampaolo die moderne Gier nach Abwechslung und dem »Bedürfnis des modernen Subjekts nach ständig neuer Sensation«, die sich auch in der Umgestaltung des Parks als Vergewaltigung der Natur zeige, »um der fiktiven Flucht aus Realität und Zivilisation eine bezaubernde Kulisse zu liefern« (vgl. ebda., S. 21 und 22). Ottilie ist dieser (neuen geschichtlichen) Gewalt nicht gewachsen: »Die von ihr [Ottilie] bei der Geburt des Kindes getroffene Entscheidung, den Baron von nun an »völlig uneigennützig«, d. h. spinozistisch zu lieben (425), ist ohnmächtig gegen die Zerstörungskraft von Eduards Besitzdenken. Die räuberische, asymmetrische Dynamik der Eduard-Ottilie-Beziehung wird zwar in der Sekundärliteratur zugunsten vordergründigerer Symmetrien gern übersehen. Alle schein-
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(Die zwei Komponenten seiner Einführung im Roman umreißen so auch hier Eduards Bild: »einen reichen Baron im besten Mannesalter«. Schon die eingängige Nebeneinanderstellung scheint Eduards Zeugungskraft als Vermögen der Besitzvermehrung vorzuzeichnen.) Tatsächlich wird seine Neigung zu Ottilie eine Seite vorher, an der Stelle, wo sie als »grenzenlos« bezeichnet wird, auch so beschrieben: »Wie er sich Ottilien zuzueignen begehrte […]« (WV 333). Das Nebeneinander von Zueignen und Begehren kennzeichnet Eduards Herkunft und Prägung als die eines Großgrundbesitzers, der in erster Linie auf Vergrößerung der Besitzungen aus ist. Daß sich hier bestätigt, daß Eduard alt genug ist, um Ottilies Vater sein zu können, ist wohl aus dem historischen Kontext heraus eher nebensächlich. Eduard erscheint aber hier insofern als Ottilies Erzeuger, als ihre Existenz wie eine Bestätigung dafür ist, daß auf seinem Grund und Boden nichts ohne das Zutun seines Herrschers passiert. Sie ist ganz das Geschöpf, das er sich erschafft, und Eduard verliebt sich in dieses Geschöpf gleichsam als Spiegelung seiner selbst. So wie Eduard nach ihrem ersten Zusammentreffen Ottilies angenehme Unterhaltung erwähnt, obwohl sie noch gar nichts gesagt hat, ist er hier vor allem begeistert darüber, daß sich seine Vermutung bestätigt und er Ottilie weiter als seine Kopfgeburt denken darf.716 baren Ähnlichkeiten zwischen Ottilie und Eduard vermögen aber nur den Narzißmus des letzteren auf die Spitze zu treiben. Das Paradebeispiel dafür ist seine Liebeserklärung: nachdem Eduard sich in seiner eigenen durch Ottilie nachgeahmten Schrift erkennt, gesteht er nicht seine Liebe zu ihr, sondern ihre Liebe zu ihm selbst: »Ottilie, du liebst mich!« (324). […] Seine Liebe ist auf das eigene Ich zentriert, was besonders im despotischen Akt der Belagerung zutage tritt. Diese Geschichte zählt zu einem Repertoire von ähnlichen Goetheschen Erzählkonstruktionen, die das Thema Verführung variieren – diesmal in der Verflechtung mit der Prädestination der beiden verwandten Seelen. Verführungsgeschichten wie die Gretchen-Tragödie im Faust betraut Goethe mit der parabolischen Erzählung des schmerzlichen Übergangs von der antiken, naturnahen (weiblichen) Unschuld zum egozentrischen (männlichen) Hedonismus der Moderne. Zweifellos ist Ottilies und Eduards Leidenschaft vollkommen wechselseitig, nur besteht ein Unterschied eben in der Art, wie sie beide lieben. Eduards Verführen besteht in der Aufforderung, die Ansprüche des Ich und dessen Sentiment als absolut zu setzen. Dabei erklärt er Grenzen als nichtig, die Ottilie von sich aus, ohne seine Überredung, nicht überschreiten würde.« Ebda., S. 27f. (Sampaolos Seitenangaben beziehen sich auf die auch hier verwendete HA, Bd. 6.) 716 Auf Charakter- und Veranlagungsfragen der Protagonisten geht auch Wolfgang Binder in seinem Aufsatz »Zum Ironie-Problem in den ›Wahlverwandtschaften‹« (in: Wolfgang Binder, Aufschlüsse – Studien zur deutschen Literatur, Artemis Verlag, Zürich München 1976, S. 131–145) ein. Binder demonstriert an den Eingangsbildern von Eduard und Charlotte – er beim Bäumeveredeln »aufklärerisch-nützlich«, sie beim Bau der Mooshütte mit dem Blick in heitere Ferne »sentimental-empfindsam« tätig, wie Binder betont – die sozusagen verkehrte erste Anordnung der Figuren. Lernt man deren Charaktere im Lauf des Romans näher kennen, so Binder, erkenne man die Ironie, die hinter der Anfangszeichung steckt, denn Eduard erweise sich als der »Empfindende« und Charlotte als die »praktisch Kluge«: »Also sind ihre Beschäftigungen der Ausdruck eines konventionellen, modischen Verhaltens, und womöglich deuten sie auf die Situation zweier Menschen voraus, denen, vorsichtig ausgedrückt, die Freiheit, sich mit irgendetwas Beliebigem abzugeben, nicht gut
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Hilfe und Verweigerung Das Motiv von Eduards Verblendung führt schließlich zur sorgfältig angekündigten ersten Katastrophe, und ein dem flüchtigen Blick wenig spektakulärer Teil dieser Katastrophe wird im Präsens geschildert. Beim Fest für Ottilie bricht ein Teil der Dämme ein, von denen aus die Besucher das von Eduard geplante Feuerwerk genießen sollen. Genannt wird auch die Tageszeit; es ist »Dämmerung« und die Sonne am Untergehen. Der Hauptmann, der erst jetzt Eduards heimliche Arrangements versteht und ein Unglück befürchtet, will mit ihm sprechen, dieser weicht aus. Die Menge der Leute auf dem Dammstück wird zu groß, das Erdreich gibt nach, einige stürzen ins Wasser. Die meisten können sich selbst retten, bis auf einen Knaben, doch der einzige Kahn zur Rettung ist auf der anderen Seite, mit Sprengstoff für das Feuerwerk gefüllt. Die ganze Episode wird im Präteritum geschildert, das Präsens tritt erst ein, als der Höhepunkt der Aktion schon vorüber ist. Diese ist ganz dem Hauptmann überlassen: »er warf die Oberkleider weg, aller Augen richteten sich auf ihn, und seine tüchtige, kräftige Gestalt flößte jedermann Zutrauen ein« (WV 337). Ein Schrei begleitet seinen Sprung ins Wasser, noch einmal heißt es »jedes Auge begleitete ihn«, er schwimmt hinaus und bringt den Knaben ans Ufer. Man weiß nicht, ob der Knabe noch lebt. Indessen ruderte der Kahn herbei, der Hauptmann bestieg ihn und forschte genau von den Anwesenden, ob denn auch wirklich alle gerettet seien. Der Chirurgus kommt und übernimmt den totgeglaubten Knaben; Charlotte tritt hinzu, sie bittet den Hauptmann, nur für sich zu sorgen, nach dem Schlosse zurückzukehren und die Kleider zu wechseln. Er zaudert, bis ihm gesetzte, verständige Leute, die ganz nahe gegenwärtig gewesen, die selbst zur Rettung der einzelnen beigetragen, auf das heiligste versichern, daß alle gerettet seien. Charlotte sieht ihn nach Hause gehen, sie denkt, daß Wein und Tee und was sonst nötig wäre, verschlossen ist, daß in solchen Fällen die Menschen gewöhnlich verkehrt handeln; sie eilt durch die zerstreute Gesellschaft, die sich noch unter den Platanen betut. Ohne ein kommentierendes Wort wird dem Positiven – ihren Beschäftigungen – die Eigenschaft des Problems verliehen, erkennbar allerdings erst aus dem Fortgang der Erzählung. […] Es folgen weitere Details dieser Art. Charlotte läßt ihren Mann so in der Mooshütte niedersitzen, daß er »durch Tür und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte«. Ein hübsches Arrangement, hinter dem nichts weiter zu suchen ist. Ist man aber einmal mißtrauisch geworden, so fragt man sich doch, ob dieses Überblicken des eigenen Besitzes, noch dazu wie durch Bilderrahmen, nicht auf eine gewisse Sterilität deute, die das »erwirb es, um es zu besitzen« nur mehr spielerisch betreibt. Und ob es noch sehr weit bis zur fatalen Lust des alten Faust auf seinem Luginsland ist, Zu überschaun mit einem Blick / Des Menschengeistes Meisterstück. Jedenfalls sieht man auch bei den hernach erwähnten Projekten, bis hin zur Vermessung des Gutes durch den Hauptmann, die dringende Notwendigkeit nicht ein. Die Tätigkeiten des Ehepaars scheinen unter dem unausgesprochenen Motto zu stehen: »Ut aliquid fieri videatur«.« Ebda., S. 137f.
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findet. Eduard ist beschäftigt, jedermann zuzureden: man soll bleiben; in kurzem gedenkt er das Zeichen zu geben, und das Feuerwerk soll beginnen. Charlotte tritt hinzu und bittet ihn, ein Vergnügen zu verschieben, das jetzt nicht am Platze sei, das in dem gegenwärtigen Augenblick nicht genossen werden könne; sie erinnert ihn, was man dem Geretteten und dem Retter schuldig sei. »Der Chirurgus wird schon seine Pflicht tun,« versetzte Eduard. »Er ist mit allem versehen, und unser Zudringen wäre nur eine hinderliche Teilnahme.« Charlotte bestand auf ihrem Sinne und winkte Ottilien, die sich sogleich zum Weggehen anschickte. Eduard ergriff ihre Hand und rief: »Wir wollen diesen Tag nicht im Lazarett endigen! Zur barmherzigen Schwester ist sie zu gut. Auch ohne uns werden die Scheintoten erwachen und die Lebendigen sich abtrocknen.« (WV 337f.)
Die Textstelle ist wie eine Bestätigung, daß sich die eigentlichen Katastrophen der Wahlverwandtschaften im Inneren der Figuren abspielen. Wieder steht Charlotte im Zentrum der Präsenserzählung. Die zweimalige Wiederholung der Formel »Charlotte tritt hinzu und bittet […]« verweist auf deren Kern. Die erste Bitte findet Gehör. Charlotte ist ganz Sorge und damit ganz in ihrer Rolle. So wie im 13. Kapitel dem Beginn der Szene ihres »Schwankens«, das dann im Versäumnis des Schweigens mündet, ihr Wunsch voransteht, Eduard und Ottilie aus ihrer (moralisch) unrechtmäßigen Verliebtheit zu helfen und damit eine Grundkonstante ihres Charakters717 angesprochen wird, wird auch hier Char717 Wie in Anm. 715 erwähnt, interpretiert Giovanni Sampaolo Charlotte als Ceres oder Demeter, die gleichzeitig ein ganz bestimmtes Frauenbild, gleichsam eine utopische Weimarer Variante dieser Göttin transportiert: vgl. »Proserpinens Park«, S. 16ff. Sampaolo führt die Grundkonstellation der Wahlverwandtschaften auf einen einzigen Mythos zurück, jenen der Tochter Ceres’, Persephone/Proserpina [= Ottilie], die von Pluto geraubt und in die Unterwelt verschleppt wird, was im antiken Mythos den Wechsel von Wachsen und Ableben der Pflanzen, v. a. des Getreides, verdeutlicht. Ottilie als das »liebe Kind«, so Sampaolo, lebt »geradezu in Symbiose mit der Pflanzenwelt« und muß wie Persephone im Herbst vergehen, Charlotte als ihre Mutter ist die eigentliche »Landwirtin« und »gute Haushälterin« des Gutes; ihr zugeordnet sind die Ressourcen, die »Wintervorräte«, die »Kasse« und insgesamt die »›positive‹ Ordnung des Lebens«: »Auf ihr Verwurzeltsein im Konkreten gestützt, vertritt sie eine typisch aufklärerische Auffassung der Ehe als eines rationellen ›contrat social‹, nach dem alle persönlichen Leidenschaften mit Rücksicht auf Gemeinwohl und Gemeinnutz aufzugeben sind. Im Schillerschen Ceres-Mythos war es eben diese Göttin, die an zwei Menschen die erste Trauungszeremonie vollzog, und solche Handlung war in einen allgemeinen Prozeß eingebettet, der die triebhafte Anarchie des Einzelnen überwinden sollte, um zu einer geregelten gesellschaftlichen Eintracht überzuführen. Wie die Göttin bei Schiller an der Brutalität einer der Barbarei verfallenen Menschheit leidet, so ist Charlotte die einzige Gestalt im Roman, die sich über den in der Gesellschaft herrschenden Antagonismus besorgte Gedanken macht.« Ebda., S. 17. Sampaolo sieht in Charlotte als Erbauerin der Mooshütte und Schirmherrin des neuen Gebäudes, deren Geburtstag mit der Grundsteinlegung gefeiert wird, auch im weiteren Sinn das Programm der »Erbauung« als »humanistisch-pädagogische Metonymie neben der ›Kultivierung‹« verwirklicht und verweist auf ihr »Emblem« des Kranz- und Feldfruchtschmuckes, mit dem sie zur Ankunft des Hauptmanns die Mooshütte verziert: »So nimmt dieses unscheinbar figurale Zeichen das Streben der ›Weimarer Klassik‹ in sich auf, eine Kulturform aufzubauen, die in der Natur
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lotte als Helfende gezeigt. Sie entspricht damit ihrer Rolle als besorgte Hausherrin und Gastgeberin, es ist aber auch die Gelegenheit, sie als Liebende und eine weitere Szene unterschwelliger Erotik zu zeigen. Der Hauptmann erfüllt seine schon bekannte Funktion als Beistand und rettender Held seinerseits bis ins Detail, bis zur Versicherung, daß es nichts mehr zu retten gibt. An diesem Punkt hört er auf Charlotte und geht ins Schloß zurück, ein mit Charlotte schon zuvor verknüpftes Motiv taucht hier wieder auf: das der Beobachtung. Ihr schauen wir gleichsam dabei zu, wie sie den Hauptmann zurückgehen sieht und in Gedanken weiter bei ihm ist. »Charlotte sieht ihn nach Hause gehen« knüpft dabei an die vorher zweimal genannten Blicke der versammelten Gesellschaft an und führt dieses Motiv im Zoom auf Charlotte als Beobachtende weiter ; das Präsens des Satzes hat hier die Kraft, geradezu filmisch die Bewegung ihrer Augen mitzuzeichnen, wie in Zeitlupe können wir verfolgen, daß ihr Blick ganz auf ihn konzentriert ist. Da die Schilderung der Szene vorher das Detail der abgeworfenen »Oberkleider« nennt, richtet also Charlotte ihre Bitte an den halb nackten Hauptmann. Der läßt sich »aufs heiligste« versichern, daß nichts mehr zu tun ist. Charlotte »sieht« und »denkt«. Ganz wie in den Präsenspassagen im 13. Kapitel sind wir aufs engste mit ihrer Perspektive verbunden, ihre Gedanken hängen am Detail für den Hauptmann: Tee und Wein. Der Chirurgus, der den Präsensteil einleitet, ist so das Element, das die Sorge um den Knaben abnimmt und die Szene freimacht für Charlottes Sorge um den Hauptmann. Charlotte möchte die Gesellschaft auflösen und alle zur Rückkehr bewegen. Doch beim zweiten Mal trifft ihre Bitte auf taube Ohren. Und nicht nur taub, Eduard zeigt sich hartherzig. Seiner fixen Idee, dem Feuerwerk für Ottilie, opfert er jedes Mitgefühl. Eduard betreibt Schadensbegrenzung im Sinn seines egoistischen Vorhabens: »man soll bleiben«, »in kurzem gedenkt er«, »das Feuerwerk soll integriert sei. […] Charlottes Emblem deutet den Wunsch an, eine Gemeinschaft zu stiften, die sich nach dem optimistischen Willen richtet, Triebe (einschließlich der erotischen Elementaranziehung) zu sublimieren und durch die gesellschaftlichen Institutionen (vor allem die Ehe) eine permanente Erziehung des Menschen zu vollziehen.« Ebda., S. 18. Im Zusammenhang des größeren historischen Kontexts stellt Sampaolo die Verbindung zu Schillers Hymnus Das eleusische Fest (1798) her, in der Schiller Ovids Ceres aus den Fasti, die den Menschen zur Überwindung ihres Raubtier-Daseins die unblutige Kunst des Ackerbaus beibringt und damit in den Frieden einweiht, noch mit zusätzlichen Attributen versieht: so schreibe Schiller mit »Arbeit und Zeitrechnung, Baukunst und Recht, Ehe, Künste und Religion« Ceres und ihrer Lehre schließlich »die Enstehung sämtlicher Elemente des zivilisierten Lebens« zu und lasse sie so zur Begründerin der ersten menschlichen Gesellschaft werden, die auf solidarischem Zusammenleben beruhe: vgl. ebda., S. 15 (Hervorhebungen i.O.). Dies wiederum steht, so Sampaolo, vor dem Hintergrund von Schillers Anprangerung der »unmenschlich ›triebhaften‹ Ausschreitungen« der Französischen Revolution: »Ceres beschwören heißt insofern die Humanisierung einer Epoche herbeiwünschen, in deren tiefer Barbarei alle Institutionen und Künste dringend von Grund auf umfundiert werden müssen.« Ebda.
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beginnen«. Charlottes Bitte, das »Vergnügen« zu verschieben, enthüllt dessen wahre Bedeutung für Eduard. Zeitliches und Räumliches drängen sich in ihrer Bitte zusammen, »das jetzt nicht am Platze sei, das in dem gegenwärtigen Augenblick nicht genossen werden könne«. Als dritten Versuch fügt Charlotte eine Mahnung an. Sie »erinnert« Eduard daran, was man »schuldig« sei. Doch Eduards Wahrnehmungsveränderung, die sich in den ersten Präsenspassagen angekündigt hat, erweist sich jetzt selbst im Moment der offensichtlichen Not als nicht mehr korrigierbar. »Pflicht« ist daher eine Kategorie für den Chirurgus, nicht für ihn. Der Hinweis auf den Chirurgus steht damit auch am Ende des Präsensteils, den sein Erscheinen eingeleitet hat. Was die Szene herausstellt, ist so die verkehrte Welt zwischen den Eheleuten; Charlottes Gedanke, daß »in solchen Fällen die Menschen gewöhnlich verkehrt handeln« wirft so mehr ihre eigene Verwirrung oder Eduards Reaktion voraus, als daß sie zur Tüchtigkeit des Hauptmanns passen würde. Charlottes wiederholtes Bitten, das den Rahmen des Präsensteils und dessen inhaltliches Zentrum darstellt, macht klar, wie nahe sie sich dem Hauptmann fühlt, der ihre Bitte erfüllt und situationsgemäß handelt, und wie sehr sie und Eduard sich schon voneinander entfernt haben. Ihre Bitte an Eduard gewinnt damit eine hochdramatische Dimension und markiert einen weiteren Moment der Weichenstellung für die gesamte Handlung. Tatsächlich sind die Folgen direkt abzusehen, sie werden aber ab »versetzte Eduard« wieder als Teil der Haupterzählung gegeben. So wie Charlotte Eduard gebeten und gemahnt hat, folgen dann zwei Hinweise auf Eduards Verweigerung des einfachsten Mitleids. Eduard bezeichnet die Hilfestellung, die er als Gastgeber und letztlich auch als Verursacher des Unglücks als erster gewähren sollte, zuerst als »hinderliche Teilnahme«. Dieses Argument scheint gar nicht unsinnig, wir wissen ja, daß schon für den Hauptmann nichts mehr zu tun war. Doch enthüllt sich Eduards Selbstbezogenheit und die Dimension der Verweigerung seiner Anteilnahme in seinem Appell an Ottilie, nicht mit Charlotte nach Hause zu gehen, in hochaufgeladenen Worten. Er bezeichnet Ottilie als zu gut zur »barmherzigen Schwester« und gibt damit einen deutlichen Hinweis auf seine Verblendung. Eduard verweigert sich aber nicht nur selbst im Moment der Dringlichkeit dem Gebot der Caritas, sondern versucht, auch Ottilie auf diesen Weg zu bringen. Ottilie will diesmal auf den Wink (das Winken) Charlottes reagieren und wendet sich zum Gehen, doch Eduard »ergriff ihre Hand« und auch dieses Mal läßt sie sich überzeugen. Das Einschlagen des richtigen Wegs ist ein Motiv, das in den Präsenspassagen des zweiten Teils prominent wiederkehrt. Eduards Argument folgt dabei in der vorliegenden Stelle einer biblischen Diktion und endet so in geradezu blasphemischer Ironie: »Auch ohne uns werden die Scheintoten erwachen und die Lebendigen sich abtrocknen!« Nicht zufällig spricht vorher Charlotte von dem aus dem Wasser geborgenen Knaben als dem »Geretteten« und vom Hauptmann
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als dessen »Retter«. Die Vokabel »retten« zieht sich in nicht weniger als fünf Abwandlungen durch die Szene der bittenden Charlotte, im obigen Ausschnitt sind diese Stellen alle enthalten. Da überdies im Moment von Eduards Ausruf noch gar nicht eindeutig ist, ob der Knabe auch wirklich noch lebt (diese Information wird erst eine Seite später nachgeholt), erweist sich Eduards Bezeichnung der »Scheintoten« als äußerst zynisch. Sie faßt noch einmal seine Verblendung in den Begriff des »Scheins«, den er hier im Moment der Krise nicht mehr richtig zu deuten vermag. Natürlich weist die ganze Szene des möglicherweise ertrinkenden Kindes auf den Tod von Eduards eigenem Kind voraus. Etliche Elemente der Szene, die hier gleichsam in der Kurzfassung vorausgezeichnet ist, kehren auch in der Szene des Kindstods, die fast zur Gänze im szenischen Präsens geschildert wird, wieder. Der Chirurgus, der hier am Anfang der Präsensszene der Bitten Charlottes auftritt und diese einrahmt, fungiert wie Charlotte selbst als mahnende Figur. Er verweist auf die Dringlichkeit der Situation, die mögliche Todesgefahr, vor der Eduard sich abwendet, um eigene Pläne zu verfolgen. Später, in der Szene des Kindstods, die sich im zweiten Teil auf die Kapitel 13 und 14 erstreckt, bezeichnet der Auftritt des Chirurgus die Grenze zwischen den beiden Kapiteln, damit aber auch die Grenze zwischen Leben und Tod. Denn in der späteren Szene werden seine Versuche zu helfen genauer dargestellt, er wird aber nicht mehr helfen können. So verbindet die beiden Szenen das Motiv der Hilflosigkeit, der letztlich der Leser auch unterliegt, indem er über die szenische Kraft des Präsens zum intensiven Zuschauer gemacht wird. Die stark über symbolträchtige Bilder arbeitende Dramatik der Präsensszenen unterstreicht dieses Motiv des hilflosen Zuschauens. Charlottes Bitten ist hier so vergeblich wie die Hilfe des Chirurgus, dem wir später ebenso genau zuschauen im durch das detaillierte Schildern begründeten Wissen, daß es nichts nützen wird. Das Wiederauftauchen anderer Elemente, wie die Abenddämmerung, zu der sich alles abspielt, oder der Kahn, der ein Eigenleben hat718, verbindet zusätzlich die beiden Szenen, auch der Ort wird sorgfältig gespiegelt. So befindet sich Ottilie in der späteren Szene den Platanen gegenüber, unter denen sich hier das Unglück abspielt. Wie oben gezeigt, sind die Platanen und Ottilie sozusagen durch ihre Geburtsstunde miteinander verbunden, indem Eduards Pflanzung mit Ottilies Geburt zusammenfällt. In der Szene des Kindstods steuert damit Ottilie direkt auf diese Platanen zu, weil von dort der Weg zum Sommerhaus auf der Höhe geht, und sie nicht um den See gehen möchte. Ottilie begibt sich damit genau zurück zum Ausgangspunkt des Unglücks und, wenn man Eduards Pflanzerphantasien
718 Vgl. dazu Mat&as Mart&nez, Doppelte Welten – Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, S. 55ff.
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phallisch unterlegt, auch zurück zum Ausgangspunkt des fatalen Geschehens: der Zeugung des Kindes, die ja Eduards Begehren für Ottilie entspringt. Daß Eduards Besitzwunsch in der Szene des nächtlichen Feuerwerks ihren ersten Höhepunkt erfährt, stellt der Text deutlich heraus. Im Anschluß an die Szene von Charlottes Bitten heißt es: »Charlotte schwieg und ging.« Sie räumt also resigniert das Feld, wieder mündet ihr Versuch, zu helfen, in Schweigen. Eduard dagegen bleibt mit Ottilie allein, diese ist ängstlich. Auch sie bittet ihn, ins Schloß zurückzukehren. Für Eduard besiegeln dagegen die Geschehnisse die Richtigkeit seiner Intention: »Dieser überraschende Vorfall von heute abend bringt uns schneller zusammen. Du bist die Meine!« Er, »dessen Busen brannte«, läßt das Feuerwerk abbrennen und verfolgt es »mit lebhaft zufriedenem Blick« (vgl. WV 338). Daß Ottilie ängstlich ist, bestärkt ihn im Gefühl des Beschützers und darin, »daß sie ihm ganz angehöre« (vgl. WV 339). Sie gehen zurück, als die Nacht »kaum in ihre Rechte wieder eingetreten« war (vgl. WV 339), bei aufgehendem Mond, die Szene wird so rückgebunden an Eduards nächtliche Szene im Park. Alle Katastrophen in den Wahlverwandtschaften spielen sich somit bei untergehender Sonne ab, der Mond ist jenes Element, das wie in Eduards nächtlichem Herumstreifen zur Wahrnehmungsveränderung beiträgt. So auch hier. Es tritt ihnen ein Bettler in den Weg und möchte ein Almosen. »Der Mond schien ihm ins Gesicht«, Eduard erkennt so den Bettler, der ihm schon einmal im Beisein des Hauptmanns begegnet ist. Diesmal ist er trotz des Verbots des Bettelns an diesem Abend freigiebig. Unter dem Eindruck des Gefühlsfeuerwerks, das er gerade mit Ottilie genossen hat, also unter dem Einfluß der Befriedigung seiner Fixierung und der Mondstimmung, löst sich seine Verhärtung wieder auf. Er, der gerade seine Hilfe verweigert hat, als es um Leben und Tod ging, gibt dem Bettler ein Goldstück. Aber auch hier wird auf den Schein verwiesen, der Eduard bestimmt, und auf die Maßlosigkeit, die ihn seit der ersten Präsensszene des 13. Kapitels ausschließlich leitet. Er will das Glück des anderen, »da sein Glück ohne Grenzen schien« (vgl. WV 339). Charlottes Bitte um Eduards Beistand und dessen Verweigerung ist also eine Szene, die im Sinn der Trübung der Wahrnehmung, die die Figuren heimsucht, einen entscheidenden Moment herausstellt. (Doch geht es auch hier nicht in erster Linie um Schuldzuweisungen an die Figuren.) Die im szenischen Präsens herausgehobene Mahnung Charlottes zeigt sehr eindringlich einen weiteren Schritt in der Kette der Versäumnisse, dieses Mal ein Versäumnis Eduards. Damit bezeichnet das szenische Präsens die innere Katastrophe, die sich nach der äußeren abspielt und einmal mehr die moralische Ebene als den Schauplatz der Handlung. Nicht das Urteil über moralische Schuld steht aber dabei im Mittelpunkt. Eduards Fehlverhalten wird zwar sehr deutlich gezeigt, aber ebenso deutlich ist auch die Einbettung seines Tuns in die Logik seiner Sicht. So gesehen bildet die ganze Szene des beinahe ertrinkenden Knaben und des Feuerwerks
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eine Einheit (für beide ist das »Fest« der Rahmen), in dessen Mitte die Präsensszene steht. Die Beigabe dieser ganzen Szenerie bewirkt jedoch, daß wir Eduards Versäumnis erstens nicht sofort in ihrer Tragweite erkennen, aber vor allem, daß wir verschiedene Ansichten seines Charakters kennenlernen, deswegen ist die konterkarierende Episode mit dem Bettler wichtig. Das heißt, wir erhalten insofern eine Motivation für Eduards Handeln, als wir sehen, unter welchen Bedingungen er agiert. Es geht daher nicht darum, ihn zu verurteilen, sondern darum, die Umstände anzuerkennen, unter denen er handelt. Es entspricht daher der Logik einer psychologisch mehrdimensionalen Figurenzeichnung, daß wir Eduard in kurz aufeinanderfolgenden Szenen als ganz unterschiedlich reagierenden Charakter kennenlernen. Ja es erhöht diese noch, da wir ihn eben als auf verschiedene Umstände Re-Agierenden sehen und so sein Bild für uns mit Fehlern und Vorzügen vollständiger wird. Die »narrativen Inszenierungen«, die in den Wahlverwandtschaften alle wichtigen Szenen detailliert begleiten, sind daher als wichtiges Element der Herleitung zu sehen. Sie gehen mit den Stellen im szenischen Präsens eine Allianz der Heraushebung der psychologischen Prozesse als den eigentlichen Handlungsmomenten ein. Auch in den Wahlverwandtschaften spiegeln die Naturvorgänge, wie im Werther, seelische Vorgänge, dasselbe Ziel haben die Passagen im szenischen Präsens. Sie erhöhen die Vorstellungskraft in bezug auf die Entscheidungsprozesse der Figuren und damit das Verständnis für deren Reaktionen. Auf diese Weise wird auch die Folgerichtigkeit von Emotionen aufgezeigt, dieser Logik kann sich wieder der Leser kaum entziehen. In dieser Hinsicht basieren die Wahlverwandtschaften auf ganz ähnlichen Strategien wie jenen, die Martin Huber für den Werther beschreibt. In beiden Romanen ist die Zuspitzung auf ein unglückliches Ende hin von Anfang an sichtbar, der Akzent liegt auf der für den Leser möglichst folgerichtigen, im Sinne seiner Emotionalisierung »spannenden« Abwicklung. Das bedingt die Möglichkeit, die Perspektive der Figuren so unmittelbar wie möglich nachvollziehen zu können. Während aber im Werther durch die Form der Brieferzählung die Möglichkeit perspektivischer Zuspitzung von vornherein gegeben ist, kommt in den Wahlverwandtschaften den Passagen im szenischen Präsens eine wichtige Rolle der Perspektivierung zu. Sie lassen in der Durchsetzung von szenischer Handlungsdarbietung mit erlebter Rede oder Anklänge daran sozusagen aus nächster Nähe die Perspektive der Figuren nachempfinden und übertragen damit das Prinzip der Emotionalisierung auch auf die Er-Erzählung der Wahlverwandtschaften.
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Szenisches Präsens im II. Teil Aufbruch und Rückkehr Die restlichen Kapitel des ersten Teils weisen keine Passagen im szenischen Präsens mehr auf. Nach der Abreise des Hauptmanns beschließt Charlotte, ganz auf ihn zu verzichten und trifft Vorbereitungen für Ottilies Rückkehr in die Pension. Denselben Verzicht verlangt sie nun von Eduard. Sie wiederholt einen Ausdruck, der in der Szene der rückgängig gemachten Geburt gefallen ist, sie möchte »völlig in den alten Zustand zurückkehren« (vgl. WV 340). Eduard mißdeutet zuerst ihre Worte und glaubt, sie spricht von einer Rückkehr in den Zustand vor ihrer Ehe. Als er merkt, daß er sich geirrt hat, versucht er auszuweichen und Aufschub zu erlangen. Wie in den ersten beiden Kapiteln des Romans wird das Gespräch des Ehepaares ausführlich wiedergegeben, diesmal aber ist es eine Folge von Mißverständnissen und Täuschungsmanövern. Schließlich reist Eduard heimlich ab, stellt aber in einem Brief die bei Giovanni Sampaolo als heftige Drohung des besitzzentrierten Eduard interpretierte Bedingung, daß Ottilie nicht aus ihrer Umgebung gerissen werden dürfe: »[…] fremden Menschen anvertraut, gehört sie mir, und ich werde mich ihrer bemächtigen« (vgl. WV 344). In einem Tag hat sich die gesamte Konstellation verändert, Charlotte und Ottilie bleiben allein zurück. Ottilie versucht, aus Charlottes Verhalten zu erraten, ob sie auch abreisen muß. Von Eduard hat sie keine Nachricht. So wird Ottilie, wie zuvor Eduard, mißtrauisch und beginnt, Zeichen zu deuten, sie achtet auf »jeden Wink« und jede Regung Charlottes: »Ottilie war klug, scharfsinnig, argwöhnisch geworden, ohne es zu wissen.« (WV 348) Charlotte versucht weiter, alles als »leidenschaftlichen Vorfall« (vgl. WV 348) zu sehen und richtet ihre Energien auf die Erhaltung von Schloß und Park. Eduard hat sich auf ein kleines Gut zurückgezogen, um abzuwarten, ob sich die Lage ändert. Dort wird er von Mittler aufgesucht, Eduard hofft, Mittler würde sich als »himmlischer Bote« (vgl. WV 353) entpuppen und Nachricht von Ottilie bringen. Von ihr träumt er, wie oben ausgeführt, so plastisch, daß er sie gehen und sich bewegen und sie auf sich zukommen sieht. Trotzdem sind seine Bilder von ihr zwiespältig, manchmal sieht er, wie beide einen Kontrakt unterschreiben, die Namenszüge und Hände »löschen einander aus, beide verschlingen sich« (vgl. WV 354). Das Bild von der Vermischung der Dinge und Zustände, Ottilie als wahrnehmungsverändernde Kraft, die Eduards Gefühlsausbruch begleitet hat, wiederholt sich hier. Die Stärke seiner Emotionen erschreckt Mittler. Da er Eduard abergläubisch an dem Glas mit den Initialen E & O als Zeichen seiner und Ottilies Verbundenheit und am Gedanken an Scheidung festhalten sieht, verläßt er Eduard. Von Charlotte erfährt er, daß sie schwanger ist. Sie möchte, daß Mittler Eduard
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die Nachricht überbringt und feststellt, »was zu tun, was herzustellen sei«. Mittler verweigert das, ist aber hocherfreut: »Alles ist schon getan«, rief er aus.« (WV 358) Charlotte soll schreiben und einen anderen Boten schicken. Mit Mittlers Ausruf wird gleichsam die Aussichtslosigkeit der Konstellation, die zu diesem Zeitpunkt schon eingetreten ist, in paradoxer Weise bestätigt. Die ganze Szene, die das Ende des 18. Kapitels und damit den Schluß des ersten Teils bildet, spricht von der Euphorie Mittlers und auch Charlottes, daß mit dem Kind sich alles von allein regle. Das Gegenteil ist der Fall, und Mittlers Satz erweist sich als Orakel. Eduard ist wörtlich »versteinert« von der Nachricht (vgl. WV 358); als Reaktion sucht er willentlich den Tod im Krieg719. Auch Ottilie reagiert mit Entsetzen auf Charlottes Schwangerschaft, damit endet der erste Teil. Die ersten Kapitel des zweiten Teils konzentrieren den Blick zunehmend auf Ottilie. Dies geschieht vor allem durch Hinzufügung der Eintragungen aus ihrem Tagebuch. Wie im Werther tritt auch in den Wahlverwandtschaften im zweiten Teil der Erzähler öfter hervor. Er gibt sich als ordnende und auswählende Instanz von Ottilies Eintragungen zu erkennen. Die Handlung geht über zur Umgestaltung des Friedhofs durch Charlotte, zur Instandsetzung der Kirche durch den Architekten und dessen Verliebtheit in Ottilie. Darüberhinaus finden sich immer wieder Reflexionen über Kunst. Eine davon, ein Eintrag Ottilies, knüpft an den oben besprochenen Erzählerkommentar des »ungeheuren Rechts«, das sich die Gegenwart nicht rauben läßt (vgl. WV 321), im ersten Teils an und gibt das Motto des zweiten Teils vor: »Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.« (WV 370) Zu einem Denkmal wird im zweiten Teil Ottilie selbst. Charlotte ist froh, daß Ottilie durch den Architekten und seine Aktivitäten abgelenkt ist. Die beiden Frauen richten sich in Erwartung des Kindes in ihrer Situation ein. Ein Erzählerkommentar beschreibt Charlottes (wie insgeheim Ottilies) Verfassung und motiviert gleichzeitig die poetische Notwendigkeit, die
719 Giovanni Sampaolo (siehe Anm. 715) interpretiert Eduards Flucht in den Krieg im Zusammenhang seiner Charaktertypologie der Figuren als Ausdruck von Eduards übersteigerter Vereinnahmungs- und Besitzgier. Mit Verweis auf eine Bemerkung in der Campagne in Frankreich 1792 faßt er Eduards Verschwinden vom Schauplatz als Folge der »Hypertrophie der subjektiven Genußsucht«, die »Realitätsverlust, ja geradezu einen Hang zum Tod« nach sich ziehe: »Als die Verwirklichung seiner [Eduards, I.R.] Verbindung mit Ottilie auf erste Schwierigkeiten stößt, stürzt er sich, um seine Vernichtung zu suchen, in den allgemeinen »Vortod«, den nach Goethe der Krieg darstellt. Eduard verläßt plötzlich das Landgut und dessen naturhaft-zyklische Zeit, verschwindet ins beschleunigte, chaotische Nacheinander der Geschichte, das in der Tat sein eigentliches Element ist. Denn er war schon immer ein launenhafter Reisender, ein unsteter Stadtbewohner, ein Soldat mit Abenteuerlust. Sein imperativer Anspruch auf augenblickliche Befriedigung seiner Wünsche macht ihn zum Urtyp des modernen Individualisten, des ›enfant du siHcle‹.« Sampaolo, »Proserpinens Park«, S. 22.
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Handlung in andere Gebiete zu lenken. Derselbe Grund klingt durch, die Geburt des Kindes muß abgewartet werden: Wenn gewöhnliche Menschen, durch gemeine Verlegenheiten des Tags zu einem leidenschaftlich ängstlichen Betragen aufgeregt, uns ein mitleidiges Lächeln abnötigen, so betrachten wir dagegen mit Ehrfurcht ein Gemüt, in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet worden, das die Entwicklung dieser Empfängis abwarten muß und weder das Gute noch das Böse, weder das Glückliche noch das Unglückliche, was daraus entspringen soll, beschleunigen darf und kann. (WV 371)
Charlotte erfährt, daß sich Eduard in einer Schlacht ausgezeichnet hat, und errät, daß er absichtlich die Gefahr sucht. Ottilie hilft dem Architekten, denkt aber weiter über dem Ausmalen der Kirche nur an Eduard. Als auch sie erfährt, wo Eduard ist, greift wieder der Erzähler ein, um ihre Erschütterung darzustellen: Glücklicherweise kann der Mensch nur einen gewissen Grad des Unglücks fassen; was darüber hinausgeht, vernichtet ihn oder läßt ihn gleichgültig. Es gibt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung eins werden, sich einander wechselseitig aufheben und in eine dunkle Fühllosigkeit verlieren. Wie könnten wir sonst die entfernten Geliebtesten in stündlicher Gefahr wissen und dennoch unser tägliches, gewöhnliches Leben immer so forttreiben. (WV 376)
Wie oben beim Kommentar, der am Ende der Präsenspassagen im 13. Kapitel den Beginn des Tragödienverlaufs mit »So setzen alle zusammen […] das tägliche Leben fort […]; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen« zusammenfaßt, wird hier auf den Gang des alltäglichen Lebens und die Reaktionen der Figuren als Flucht in den Alltag angespielt. Der Erzählerkommentar hier beschwört dasselbe Bild und wiederholt so den Eindruck, daß der Roman die Stationen einer unglücklichen Geschichte schildert. Die Beschreibung von Ottilies hoffnungslosem Zustand wird von einem anderen Element abgelöst, dem Besuch des »wilden Heers«, der Gästeschar Lucianes. Insgesamt werden zu Beginn und im Laufe des zweiten Teils die retardierenden Elemente sehr deutlich in ihrer Funktion hervorgehoben. Ironisch wirkt dadurch auch die Motivation des Erzählers, daß es wie das Wirken eines »guten Geistes« für Ottilie ist, der den Besuch bringt und Ottilie beschäftigt (vgl. WV 376). Möglicher Ausweg Durch Lucianes Besuch dringt wie beim Besuch des Grafen und der Baronesse im ersten Teil das Element der Außenwelt in die geschlossene Welt der Hauptfiguren720. Dem Besuch Lucianes folgt ein neuerlicher Besuch des Grafenpaars. 720 Giovanni Sampaolo interpretiert die Besucher von außen, vor allem Luciane und den Lord, als Bewohner des Orkus, der für Eduards Reich steht. Sie, so Sampaolo, tragen alle Kenn-
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Im Gegensatz zum ersten Teil, wo der Graf seine Theorie der Fünfjahres-Ehe entwickelt und Eduard daran erinnert hat, daß er früher ein Lebemann war, was dessen nächtlichen Besuch bei Charlotte auslöst, werden Graf und Baronesse nun als sich konsolidierendes Paar gezeigt. Sie hoffen auf baldige Vermählung, da die Gräfin inzwischen gestorben ist. Wie wir gleich sehen werden, ist dieses Detail nicht ohne Bedeutung für die Handlung. Der Graf bringt Luciane auf die neue Mode der »lebenden Bilder«, über dieser Beschäftigung vergeht viel Zeit. Nach zwei Monaten reisen alle wieder ab. Über die Beschreibung der Tableaux vivants wird vor allem Ottilie als Gegenbild zu Luciane und als Inbegriff der beschaulichen Schönheit herausgehoben. Mit Charlottes Einverständnis stellt Ottilie in der Folge die Mutter Gottes im Krippenbild dar, in der Logik des Romans wirft diese Rolle, die ihr der Architekt zuweist, Ottilie zugleich als Ersatzmutter des Kindes voraus. Bei der Aufführung des Krippenbildes stehen Ottilie und das Kind im Mittelpunkt, die Szene geht detailreich auf die Art der Ausleuchtung ein. Im Zentrum steht die Idee des Architekten, »daß alles Licht vom Kinde ausgeht« (vgl. WV 403)721. Die Inszenierung ist ganz auf Ottilie und das Kind hin ausgerichtet, Charlotte, inzwischen mit Beschwerlichkeiten der Schwangerschaft konfrontiert, ist tief ergriffen von der Darstellung. So deutet der Roman selbst sein zentrales Bild von Ottilie mit dem toten Kind in Händen im »lebenden Bild« voraus. zeichen der beschleunigten und zunehmend chaotischen Welt, die Goethe beschreibe, so Luciane als »Kulturindustrie im Kleinformat«, die stets auf der Suche nach dem »vorprogrammierte[n] Staunen angesichts des Immer-Neuen« und in der Inszenierung der neuen Mode der lebenden Bilder nach der »Spektakularisierung des Ich vor dem Publikum« sei; beim Lord ist es für Sampaolo das Motiv des ewigen Reisens, das seine Entwurzelung in der Suche des dauernden »Kulissenwechsels« kennzeichne. Daß die Außenwelt im Roman eher undeutlich gezeichnet ist, deutet Sampaolo im Sinne seiner These der Kritik an der Moderne: »Die dem Landgut gegenüberstehende »Welt«, aus der solche Besucher kommen, wird insistierend und doch nur fragmentarisch im Hintergrund angedeutet, eben weil sie eine fragmentarische Wirklichkeit ist. Diese Raumprojektion der Epoche zeichnet sich in ihrer dunklen, gestaltlosen Unübersichtlichkeit als eine feindliche, »verrucht[e], kalt[e] Welt« (451) mit allen Kennzeichen einer Hadeswelt ab, wo sich unruhige Schatten herumtreiben – sind doch bei Goethe die Verdammten des Orkus Urbilder allen »fruchtlose[n] Bemühen[s]«, ja ein Symbol der Vergeblichkeit alles geschichtlichen Handelns. Walter Benjamin spürte diese Unterweltatmosphäre zwar mit großem Feinsinn, ging nur darin zu weit, daß er sie eindeutig dem ganzen Roman zuschrieb. […] Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber Mythologie in Goethes Händen ganz im Gegenteil als ein Instrument polemischer Kulturkritik. In seinem Roman geht es ja um keine archaischen Mächte, es geht vielmehr um den »Hades der Sozietät«.« Sampaolo, »Proserpinens Park«, S. 23f. (Letztere Formulierung geht zurück auf einen Brief Goethes an Schiller vom 13. Januar 1804.) 721 Vgl. auch den Stellenkommentar der FA, S. 1044, der auf eine entsprechende Darstellung in der Heiligen Nacht von Correggio verweist, die Goethe vermutlich aus der Dresdener Galerie kannte. Zu Ottilie als Madonna und die Einarbeitung entsprechender Anspielungen im Text vgl. ebenfalls »Zur Deutung« und Stellenkommentar ebda., S. 1039, 1044, 1045, 1048, 1049, 1050f. und 1052.
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Während der Aufführung des Praesepe-Bildes, das das Abschiedsgeschenk des verliebten Architekten darstellt, kommt ein weiterer Verehrer an. Die Kette der Bewunderer Ottilies weist auf diese Weise keine Lücke auf722. Der Gehülfe besucht die Damen nicht ohne Grund. Als zukünftiger Leiter des Pensionats möchte er seine Chancen bei Ottilie sondieren, er sieht in ihr die ideale Gefährtin bei der Leitung der Schule. Gemeinsam beschäftigen sie sich mit der Erziehung der Kinder am Gut, alles scheint in die richtige Richtung zu weisen. Daß dies die eigentliche Motivation des Gehülfen ist, wird aber erst gegen Ende seines Besuchs nachgetragen; auch, daß der letzte Anstoß zu seiner Reise von außen gekommen ist. Ein Rückblick gibt seine Beratungen mit der Institutsleiterin wieder, die die Überlegung, Ottilie zu heiraten, beinhalten (vgl. WV 412f.). Im Abwägen, ob er die Reise zu ihr antreten soll, erhält er eine entscheidende Motivation durch den Besuch des Grafen und der Baronesse. Vor allem letztere rät ihm zu. Der Besuch des Paares im Institut wird durch einen Erzählerkommentar vorbereitet, der dessen später deutlich werdenden Charakter als Wendepunkt der Handlung angibt: Doch wäre man zu keinem Entschluß gekommen, kein Schritt wäre geschehen, hätte nicht ein unvermuteter Besuch auch hier eine besondere Anregung gegeben, wie denn die Erscheinung von bedeutenden Menschen in irgendeinem Kreise niemals ohne Folge bleiben kann. (WV 412)
Mit diesem Besuch des Grafen und der Baronesse ist das Wiederauftreten des szenischen Präsens im zweiten Teil verbunden. Wie erwähnt, werden die Stationen 722 Auch David Wellbery (Anm. 235) sieht ähnlich wie Giovanni Sampaolo und in expliziter Bezugnahme auf Friedrich Kittlers Interpretation von Ottilie und dem Hauptman als Abbilder neuer historischer Sozial- und Geschlechterrollen in »Ottilie Hauptmann« (siehe III. 4.2.7.) in den Figuren bestimmte Typisierungen angelegt. Bei Wellbery leben aber in dieser Hinsicht die Figuren gleichsam jeweils zwei entgegengesetzte Prinzipien aus, auch in dieser Interpretation kommt Ottilie eine besondere Funktion zu: »Die Viererkonstellation drückt nämlich auch eine Isolierung von Momenten aus, die als gleichzeitig zu denken sind. Was den Hauptmann auszeichnet, ist die Verinnerlichung der Pflicht; sein Leben ist durch den Verzicht geprägt. Eduard hingegen geht ganz in dem auf, was dieser Verzicht ausschließt: im kindlichen Wunsch. Die zwei Männer, die in ihrer Jugend ununterscheidbar waren, jedenfalls bis zu Eduards Namenswechsel, stellen also eine wahrhaftige »Sonderung« (29) dar, eine »Spaltung« (vgl. »spalten«, 29), die durch das männliche Innere geht. Bei den Frauenfiguren liegt eine ähnliche Teilung vor, vorerst die zwischen der wirklichen und der idealen Mutter. Charlotte übernimmt die sittliche Funktion der Frau, ist gleichsam die Hera des Romans, während Ottilie der Gegenstand des Begehrens ist. Zu bemerken ist in dieser Hinsicht, daß alle Männer im Roman, bei denen überhaupt vom Begehren geredet werden kann – alle natürlich bis auf den Hauptmann – Ottilie lieben. Der Hauptmann hat schon auf seinen Jugendwunsch verzichtet [in der Novelle der wunderlichen Nachbarskinder, I.R.], dem Architekten gelingt es, seine Liebe in der Kunst zu sublimieren, dem Gehülfen ist Ottilie die Muse seiner Pädagogik. Nur Eduard läßt von dem Wunsch nicht los; er will das Bild der idealen Mutter, d. h. Ottilie, in der Wirklichkeit umarmen.« Wellbery, »Die Wahlverwandtschaften«, S. 314f.
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der Handlung im zweiten Teil der Wahlverwandtschaften in der Erzählung immer wieder als solche gekennzeichnet, der Roman gibt recht explizite Hinweise auf seinen Aufbau. Dies passiert auch hier, der Kommentar bereitet das Auftreten des Besucherpaares im siebten Kapitel des zweiten Teils vor. Sie kommen unter dem Vorwand, das Institut zu besichtigen. Nach Gesprächen mit Charlotte möchte die Baronesse alles dazutun, daß Ottilie aus dem Umkreis von Charlotte und Eduard verschwindet. Ihre Ansicht wird in ähnlichen Worten wiedergegeben wie jene, die die Szene von Charlottes Herzensschau begleiten: »Sie bestand aber- und abermals darauf: Ottilie müsse entfernt werden.« (WV 412) Die Baronesse, die sich bei dem Gespräch mit der schwangeren Charlotte selbst schon wieder als Ehefrau sieht, versucht diese energisch zu überzeugen: Sie suchte Charlotten hiezu [zur Entfernung Ottilies, I.R.] Mut einzusprechen, welche sich vor Eduards Drohungen noch immer fürchtete. Man sprach über die verschiedenen Auswege, und bei der Gelegenheit der Pension war auch von der Neigung des Gehülfen die Rede, und die Baronesse entschloß sich um so mehr zu dem gedachten Besuch. Sie kommt an, lernt den Gehülfen kennen, man beobachtet die Anstalt und spricht von Ottilien. Der Graf selbst unterhält sich gern über sie, indem er sie bei dem neulichen Besuch genauer kennengelernt. Sie hatte sich ihm genähert, ja sie ward von ihm angezogen, weil sie durch sein gehaltvolles Gespräch dasjenige zu sehen und zu kennen glaubte, was ihr bisher ganz unbekannt geblieben war. Und wie sie in dem Umgange mit Eduard die Welt vergaß, so schien ihr in der Gegenwart des Grafen die Welt erst recht wünschenswert zu sein. Jede Anziehung ist wechselseitig. Der Graf empfand eine Neigung für Ottilien, daß er sie gern als seine Tochter betrachtete. Auch hier war sie der Baronesse zum zweitenmal und mehr als das erstemal im Wege. Wer weiß, was diese in Zeiten lebhafterer Leidenschaft gegen sie angestiftet hätte! Jetzt war es ihr genug, sie durch eine Verheiratung den Ehefrauen unschädlicher zu machen. (WV 412f.)
So kurz der Präsensteil hier ist, so prägnant nimmt er wichtige Elemente der Präsenspassagen des ersten Teils auf: »man beobachtet« und »spricht«. Der Präsensteil markiert damit den nächsten Schritt der Verwicklung, der hier ein Versuch der Entwicklung durch die Baronesse ist. Durch »beobachtet« bezieht sich die »Anstalt« auf den Vorsatz der Baronesse, die Konstellation zwischen Charlotte, Eduard und Ottilie zu ändern. Daß der Graf sich gern mit Ottilie »unterhält«, wird so zur Andeutung einer anderen möglichen Verwicklung, die die energische Baronesse sofort unterbindet. Deutlich wird sie als entschlußfreudiger Charakter geschildert, der sofort in die Tat umsetzt, was er sich vornimmt. Schon beim ersten Besuch des Paares wurde die Baronesse so dargestellt: »Denn niemand besaß sich mehr als diese Frau […]« (vgl. WV 315). Diese Selbstbeherrschung, wird argumentiert, macht sie geneigt, auch über andere bestimmen zu wollen (vgl. WV 315). Auch ihr Entschluß, in die Ehe von Charlotte und Eduard auf ihre Weise einzugreifen, datiert von diesem ersten Besuch
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(der gleichzeitig die Liebesnacht und damit die Zeugung des Kindes ausgelöst hat). So bezeichnet der Besuch der Baronesse im Institut des Gehülfen einen wichtigen Handlungsmoment. Er ist ein retardierendes Element, so wie umgekehrt der erste Besuch des Paares die Verwicklung ins Laufen gebracht hat. Von außen kommt ein Impuls, ein Anstoß, der die Dinge in eine andere Richtung leiten soll. Die Baronesse, die bald den Grafen ehelichen soll, möchte ihrer schwangeren Freundin Charlotte zu Hilfe zu kommen. Die Tatkraft der Baronesse tritt damit vorübergehend an die Stelle der durch die Komplikationen der Schwangerschaft geschwächten Entschlußkraft Charlottes. So wie in den Szenen von Charlottes Überlegungen am Ende des 13. Kapitels des ersten Teils von der Erinnerung an ihr »Schwanken« die Rede ist, die ihr »im Wege« steht, wird hier das Bild vom »Weg« wieder aufgenommen. Zuerst besprechen Charlotte und die Baronesse mögliche »Auswege«, dann ist Ottilie der Baronesse selbst »im Wege«, da der Graf eine väterliche Neigung zu ihr faßt (und sich so vorübergehend an die Stelle Eduards setzt). Am Ende der zitierten Passage fällt daher das – aus der Sicht der Baronesse – entscheidende Wort: durch »Verheiratung« will sie Ottilie den verheirateten Frauen »unschädlicher« machen. Der Gehülfe, der überraschend während der Darstellung des lebenden Bildes bei Charlotte und Ottilie auftaucht, ist also von der Baronesse geschickt. Den Entschluß zur Reise faßt er auf direkten Ratschlag der Baronesse. Diese hat im Institut alles in diese Richtung gelenkt: Mit vollkommener Beistimmung der Vorsteherin trat er daher seine Reise an und hegte in seinem Gemüte die besten Hoffnungen. Er weiß, Ottilie ist ihm nicht ungünstig; und wenn zwischen ihnen einiges Mißverhältnis des Standes war, so glich sich dieses gar leicht durch die Denkart der Zeit aus. Auch hatte die Baronesse ihn wohl fühlen lassen, daß Ottilie immer ein armes Mädchen bleibe. Mit einem reichen Hause verwandt zu sein, hieß es, kann niemanden helfen; denn man würde sich selbst bei dem größten Vermögen ein Gewissen daraus machen, denjenigen eine ansehnliche Summe zu entziehen, die dem näheren Grade nach ein vollkommeneres Recht auf ein Besitztum zu haben scheinen. (WV 413)
Der Gehülfe stellt jene Figur dar, die am ehesten den Gang der Handlung verändern könnte. Sein Wissen um Ottilies Zuneigung, von der Baronesse bestärkt, ist der Antrieb seiner Reise. In einer Mini-Szene erhalten wir hier über »Er weiß« Einblick in sein Inneres. Der Gehülfe ist der Heiratskandidat für Ottilie, sorgfältig wird dies anhand der gemeinsamen pädagogischen Aktivitäten während seines Aufenthaltes gezeigt, überdies trifft er genau in dem Moment ein, in dem er Ottilie als Maria, als Mutter mit dem Kinde sehen kann. Wie gezeigt, bringen die ersten Kapitel des zweiten Teils mehr als einen Bewunderer Ottilies, auch der Architekt wäre im passenden Alter. Aber keiner erscheint so geeignet wie der Gehülfe, den richtigen Ehemann für Ottilie abzugeben. Doch kann er mit dem »lebendigen Gemälde, das ihn bei seiner Ankunft empfing«, gar nichts anfangen
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(vgl. WV 407). Auch die Engelsgesichter in der Kirche, die unter der Hand des verliebten Architekten alle zum selben Porträt geworden sind, sodaß es scheint, »als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Räumen heruntersähe« (vgl. WV 372), lehnt er als naiv-konkrete Darstellung abstrakter menschlicher Werte ab. Die höchsten Eigenschaften sind für ihn dagegen »gestaltlos« und äußern sich in »edler Tat« (vgl. WV 407). (Daß sich also der prinzipientreue Gehülfe gerade in die von Gefühlen sogar zum Treuebruch geleitete Ottilie verliebt, kann man als weiteres Moment der Ironie sehen.) In allen Belangen zeigt sich damit der Gehülfe als rationaler und bodenständiger Intellektueller, seine Auffassung der Kindererziehung folgt überdies strengen Geschlechtermustern. Nicht zufällig scheint es daher, daß der nüchterne Aufklärer um Gefühle »weiß«, dazu passen die Überlegungen, die er in bezug auf Ottilie als zukünftige Institutsleitersgattin hegt (vgl. WV 411f.). Nicht von romantischer Zuneigung ist hier also so sehr die Rede, als von Geld und Standesunterschieden, die ihm die Baronesse jedoch als Startvorteil suggeriert. Doch immer, wenn sich der Gehülfe seinem »Zwecke«, wie es im Text heißt, nähern will, hält ihn eine »gewisse innere Scheu« vor dem Antrag zurück (vgl. WV 414). So versucht er, Charlotte und Ottilie zu überzeugen, daß letztere ins Pensionat zurückkehren müsse, um die Ausbildung weiterzuführen, da sie aus »zusammenhängenden Lehrvorträgen« gerissen worden sei (vgl. WV 414). Das ist ein inneres Stichwort für Ottilie, zusammenhängend erscheinen ihr die Dinge nur mehr im Hinblick auf Eduard, ohne ihn nicht (vgl. WV 414). Doch ist es Charlotte, die diesen Plan aufschieben möchte. Sie hofft, daß sich Eduard als glücklicher Vater »wiederfinden und einfinden« wird (vgl. WV 415), Ottilie soll ihr dagegen in der Zeit bis zur Geburt beistehen. So bleibt das Kind das Argument für den Aufschub der Pläne, die die Baronesse so sorgfältig eingefädelt hat. Charlotte ist überzeugt, daß sich alles von selbst ergibt, wenn das Kind erst da ist (vgl. WV 415). Der Gehülfe reist ab, als Charlotte kurz vor der Niederkunft steht. Ottilie bleibt bei ihr, sie möchte Charlotte »völlig ergeben« (vgl. WV 420) zur Seite stehen, zweifelt aber daran, daß es eine Lösung für alle geben kann. Die Geburt des Kindes selbst wird äußerst lapidar geschildert: »Ein Sohn war glücklich zur Welt gekommen, und die Frauen versicherten sämtlich, es sei der ganze leibhafte Vater.« (vgl. WV 420) Die Geburt des Kindes ist also gegenüber dem ersten Gedanken an es kein Ereignis, das im szenischen Präsens wiedergegeben wird. Erwähnt wird nur Charlottes Bedauern, daß Eduard, der schon bei den »Anstalten zur Verheiratung« Lucianes nicht da war, nun auch bei der Geburt seines Sohnes abwesend ist und den Namen für das Kind nicht bestimmen soll. Der wird ausgerechnet von Mittler bestimmt, der sich als erster Besuch einstellt und voller Triumph die Geburt des Knaben ankündigen will, um Gerüchten entgegenzuwirken (und so den sichtbaren Erfolg seiner Paartherapie zu
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bestätigen) (vgl. WV 420f.). Die am ausführlichsten geschilderten Momente rund um die Geburt des Kindes sind wie im zitierten Satz, der dessen Geburt in der Rückschau des Plusquamperfekts einem Nebenumstand gleich nachholt, die Interpretationen, die die Umwelt seinem Aussehen gibt. Ottilie kann nicht finden, daß das Neugeborene Eduard ähnlich sieht, bei der Taufe, die Mittler durchaus selbstherrlich organisiert, erschrickt sie, als das Kind sie anschaut, sie »glaubte in ihre eigenen [Augen] zu sehen« (vgl. WV 421). Mittler erschrickt ebenfalls, er sieht eine solche Ähnlichkeit mit dem Hauptmann, »dergleichen ihm sonst noch nie vorgekommen war« (vgl. WV 421). Was Ottilie und Mittler sehen, so kann man interpretieren, sind die Inhalte ihrer eigenen Gedanken. Ottilie sieht ihr schlechtes Gewissen im Kind verkörpert, der ehrgeizige Mittler das Gespenst eines persönlichen Mißerfolges: daß einer Ehe, die er vermeintlich gekittet hat, doch ein außerehelich gezeugtes Kind entspringt. Die Taufe endet mit weiteren Vorausdeutungen. Der altersschwache Geistliche stirbt über der langen Ansprache Mittlers, noch bevor der eigentliche Taufakt vollzogen ist. Von Anfang an begleiten also das Kind die nebeneinanderstehenden Bilder von »Geburt und Tod, Sarg und Wiege« (vgl. WV 422), wie der Text betont. Wichtig ist auch das Motiv des hier verunglückenden oder aus dem Ruder laufenden Sprechens in der fatalen Ansprache Mittlers, das im 13. Kapitel des ersten Teils entwickelt wird, hier seine Fortsetzung findet und später in bezug auf Ottilie eine prominente Funktion gewinnt. Daß das Kind einen prekären Eintritt ins Leben hat, bezeichnet auch die Tatsache, daß über die Verleihung des Namens selbst beim Akt der Taufe im Roman stillschweigend hinweggegangen wird (vgl. WV 422).723 So sinkt der Geistliche tot über das Kind hin, ohne daß noch eine Taufformel erwähnt wird – das Kind bleibt also gleichsam ohne Namen – und die Schilderung wechselt gleich zu Ottilies Reaktion; auch sie ist eine Vorausdeutung von Ottilies eigenem Tod. Sie beneidet den »Eingeschlummerten«: »Das Leben ihrer Seele war getötet; warum sollte der Körper noch erhalten werden?« (WV 422) Wie im Zusammenhang der Bewegungsbilder zu Ottilie und Eduard erwähnt, lebt sie zunehmend in ihren Träumen von Eduard. Durch die Eintragungen in ihr Tagebuch und die vermehrten Schilderungen ihrer Empfindungen rückt Ottilies Inneres so im zweiten Teil mehr in den Blickpunkt. Das szenische Präsens kommt dabei vorerst nicht zum Einsatz. Wie im ersten Teil rücken dann auch die nächsten Präsensszenen noch Charlotte und Eduard in den Vordergrund, an zwei Text-
723 Zur Überkreuzung aller Hauptfiguren der Wahlverwandtschaften im Namen OTTO vgl. Heinz Schlaffer, Namen und Buchstaben in Goethes »Wahlverwandtschaften«, bes. 214ff. Auch Sampaolo verweist auf die etymologische Bedeutung des Namens nach Adelung, hergeleitet aus der germanischen Wurzel od = reich. Otto bedeutet also »der Reiche«, und ist so gleichbedeutend mit dem griechischen ›plouton‹, vgl. Sampaolo, »Proserpinens Park«, S. 26.
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stellen nehmen sie vor allem das Motiv des Beobachtens, Sehens und Interpretierens durch die Figuren wieder auf.
Gedeih und Verderb Nach der Schilderung des Versuchs der Baronesse, in die Verhältnisse durch Anbahnung der Heirat zwischen Ottilie und dem Gehülfen einzugreifen, kehren bis zum 10. Kapitel keine Präsenspassagen wieder. Die Frauen sind weiter mit dem Neugeborenen allein. Ottilie kümmert sich als zweite Mutter um das Kind, das keiner Amme übergeben wird, sondern das sie mit Milch und Wasser aufzieht. So wie der Knabe, der beim lebenden Bild in der Krippe liegt, schläft das Kind in fast allen Szenen, in denen es vorkommt. Es ist vor allem von den Überlegungen der beiden Frauen über das Kind die Rede, es selbst wird kaum beschrieben und nur einmal anders erwähnt als als schlafendes Paket, das von einer der beiden herumgetragen wird. Keine Szene zeigt das Kind als Wickelkind oder beschreibt Unruhe, Freude oder Weinen, nur der erwähnte Hinweis auf die Art seiner Ernährung und Ottilie als seine »Pflegerin« (vgl. WV 425) wird gegeben. Hauptsächlich ist vom blühenden Garten und dessen Pflege die Rede, auch Ottilies Eintragungen zeigen keine Erwähnung, geben keine Perspektive auf das Kind. Sie erwähnen zwar Kinder als Vergleich mit den Blumen des Frühlings, beinhalten aber sonst meist Betrachtungen über das Vergehen der Jahreszeiten mit melancholischem Unterton724. Auf diese Weise bleibt das Kind 724 Als Melancholiker sind nach Waltraud Wiethölter alle vier Hauptfiguren konzipiert, siehe Stellenkommentar der FA, S. 1019. Wiethölter folgt hier vor allem Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986, siehe bes. S. 123–263. Buschendorf führt die Unterlegung der Wahlverwandtschaften mit der Bild- und Symboltradition der Melancholie v. a. an Ottilie und Eduard aus und verweist auf die Verbindung des Motivs mit der astrologischmagischen Deutung des Saturn als langsamstem der Planeten und Spiegel der melancholischen Veranlagung beim Menschen, vgl. Buschendorf, Goethes mythische Denkform, S.127ff. Zur Melancholie als zentralem Thema der Wahlverwandtschaften vgl. auch Thorsten Valk, Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2002 (= Studien zur Deutschen Literatur Bd. 168), S. 231–289, der Symptome der Melancholie an allen Figuren erläutert. In Bezug auf Charlotte verweist Valk im besonderen auf ihr »Trauma der ersten Ehe« (vgl. ebda., S. 252), das ihre ursprüngliche Verliebtheit in Eduard durch eine erzwungene Heirat aus finanziellem Kalkül harsch unterbricht und in Charlotte den unbedingten Wunsch entstehen läßt, das Versäumte nun in einer möglichst stabilen und nicht mehr durch Veränderungen geprägten Ehe mit Eduard nachzuholen. Derselbe Wunsch nach Stabilität aufgrund früherer Enttäuschung ist nach Valk der Grund für Charlottes Drang, überhaupt den Fluß der Zeit anzuhalten und frühere Verhältnisse wiederherstellen zu wollen. Das melancholische Verharren erlaube es ihr nun auch nicht mehr, ihrer Verliebtheit in den Hauptmann nachgeben zu können, um das mühsam konstruierte Glück mit Eduard nicht zu gefährden; vgl. ebda., S. 251–259.
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vor allem zu Beginn eine unheimliche Erscheinung, es ist, als würde es nie wirklich zu leben beginnen. Nur in den Augen seiner Mutter scheint es lebendig zu sein, dies wird in der nächsten Präsensszene dargestellt: Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl. Sie freut sich an dem tüchtigen Knaben, dessen vielversprechende Gestalt ihr Auge und Gemüt stündlich beschäftigt. Sie erhält durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz. Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder ; sie erblickt, wo sie auch hinsieht, im vergangenen Jahre vieles getan und empfindet Freude am Getanen. Von einem eigenen Gefühl belebt, steigt sie zur Mooshütte mit Ottilien und dem Kinde; und indem sie dieses auf den kleinen Tisch als auf einen häuslichen Altar niederlegt und noch zwei Plätze leer sieht, gedenkt sie der vorigen Zeiten, und eine neue Hoffnung für sie und Ottilien dringt hervor. Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder jenem Jüngling um, mit stiller Prüfung, ob sie ihn wohl zum Gatten wünschten; wer aber für eine Tochter oder einen weiblichen Zögling zu sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher. So ging es auch in diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung des Hauptmanns mit Ottilien nicht unmöglich schien, wie sie doch auch schon ehemals in dieser Hütte nebeneinander gesessen hatten. Ihr war nicht unbekannt geblieben, daß jene Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat [des Hauptmanns, I.R.] wieder verschwunden sei. (WV 427f.)
Die Textstelle ist der Beginn des zehnten Kapitels im zweiten Teil der Wahlverwandtschaften und nimmt jene Formel wieder auf, die im ersten Teil die Szene von Eduards nächtlichem Herumschweifen im Park einleitet: »Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung.« Die frühere Stelle folgte direkt auf das erste Einsetzen des szenischen Präsens am Ende des 12. Kapitels des ersten Teils, hier im zweiten Teil kontrastiert die Erwähnung von Charlottes Befindlichkeit nun Ottilies Melancholie. Doch knüpft die Stelle in Motivik und Gestaltung stark an die Präsenspassagen im ersten Teil an. Im Zentrum steht auch hier Charlottes Interpretation der Dinge. So wie Eduards Fixierung auf Ottilie im ersten Teil das Thema der ersten langen Präsensszene ist, wird hier Charlottes Bezug auf das Kind deutlich als Grundlage aller ihrer Wahrnehmungen bezeichnet. Die Verbindung zwischen »Auge und Gemüt« und der Hinweis darauf, daß der Anblick des Kindes sie »stündlich beschäftigt«, stellen ihre neue Sicht in den Mittelpunkt. Dieser Blick regt den auf die Umgebung an, wieder werden Charlottes Blickfolgen und innere Bilder geschildert: sie »erblickt, wo sie auch hinsieht«, sie »sieht« zwei Plätze in der Mooshütte leer, vor ihrem inneren Auge »dringt« eine neue Hoffnung im Gedanken an die frühere harmonische Ordnung hervor. Das Motiv der neu aufkeimenden Hoffnung bindet die Stelle zurück an den Beginn der Präsensszenen, den ich als eine Art gedankliche Selbstbefruchtung Charlottes kraft ihres dringenden Kinderwunsches zur Stabilisierung ihrer Ehe interpretiert habe. Charlotte als Mutter ist
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ebenso hier das bestimmende Thema, sie kehrt damit ganz in diese ihre Rolle zurück: als Gebärende von Bildern, Gedanken und Hoffnungen. Charlottes positive Gefühlsregungen sind so das andere Hauptthema der Präsenspassage: sie »befindet sich munter und wohl«, »freut sich« an dem Knaben, »erhält durch ihn einen neuen Bezug«, sie »empfindet Freude am Getanen«. Auffallend ist auch, daß die Veränderung als gleichsam selbsttätig ablaufender Vorgang in ihr dargestellt wird, so heißt es »Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder«, Charlotte ist »von einem eigenen Gefühl belebt«. Die Mooshütte ist zudem der bevorzugte Ort von Charlottes Gefühlsregungen. Es ist der Ort, der ganz zu Beginn der Wahlverwandtschaften als ihr neuestes Werk und ihre »Schöpfung« bezeichnet wird. Das erste Gespräch zwischen Eduard und Charlotte im Roman findet hier statt, Eduard war die Hütte zu »eng«, gerade ein »Dritter« hätte noch Platz; Charlotte meint bei diesem Gespräch, auch »ein Viertes« (vgl. WV 243). Aus der Stelle geht hervor, daß sie von Kindern spricht, während Eduard den Hauptmann meint. Im zehnten Kapitel des ersten Teils zieht sich die beherrschte Charlotte nach der Nachricht, daß der Hauptmann das Gut verläßt, in die Mooshütte zurück, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Nun wird die Mooshütte zum Schauplatz der erneuerten Hoffnung Charlottes – und gleichzeitig zum Schauplatz der ersten konkreten Vorausdeutung auf das Schicksal des Kindes: es wird auf den Tisch als »häuslichen Altar« gelegt und damit geopfert725. Wie im Bild von der rückgängig gemachten Geburt tut sich hier gerade in den positivsten Gefühlen Charlottes ein Abgrund auf. Wie in den Erläuterungen zum Forschungsstand gezeigt, wird vor allem in der neueren Sekundärliteratur mit ihrer Konzentration auf die seelische Fernsteuerung immer wieder auf Ottilies Schuld am Tod des Kindes hingewiesen. Ottilie, so die Diagnose vor allem Friedrich Kittlers, führe unbewußt Eduards Willen aus, als ihr das Kind in den See entgleitet. Diese unheimliche und abgründige Komponente der Gefühlsregungen kommt aber m. E. allen Figuren der Wahlverwandtschaften zu, wie oben anhand von Charlotte und Eduard demonstriert, und wie die vorliegende Stelle zeigt, und läßt vor allem Charlotte als Mutter nicht aus. Die Präsensstelle knüpft so wieder an die Kette der zwiespäl725 Zu dieser Interpretation vgl. A.G. Steer, Goethe’s Elective Affinities – The Robe of Nessus, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1990 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Folge 3 Bd. 101), S. 205: »There is the irony of the undreamt-of meaning. The entire chemical conversation is redolent with this kind of concealed significance. Similarly, after the child was born, Charlotte took him to the moss-covered hut and there laid him on the table, »…als auf einen häuslichen Altar..« (as if on a domestic altar). Goethe was eminently bibelfest and here had in mind, almost certainly, Abraham’s almost-sacrifice of Isaac. Thus the omens were ominous indeed for little Otto.« Vgl. den Stellenkommentar der FA, S. 1046: »Anklang an die Darbringung Jesu im Tempel (vgl. Lk 2,22–40); in typologischem Rückgriff ist aber auch an Abrahams Bereitschaft zu erinnern, seinen Sohn Isaak als Opfer darzubringen (vgl. Gen 22).«
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tigen Empfindungen an, die das Kind von Anfang an umgeben und die dessen Funktion als Projektionsfläche aller Figuren bestätigen. Unbewußt legt so Charlotte das Kind gleich in der ersten Szene, die sie und das Kind zeigt (bei der Geburt ist zwar von ihr als Wöchnerin die Rede, sonst aber nur davon, daß sie Eduard als Vater vermißt, vgl. WV 420), auf den Opferstein und weist damit auf den immer wieder sich verselbständigenden Charakter der Wunschbilder der Figuren hin. Das »eigene Gefühl«, das Charlotte hier »belebt« und zur Mooshütte hinaufsteigen läßt, gewinnt so einen ähnlich grausamen Zug wie das Bild vom »gewaltsam Entbundenen«, das wieder ins »Enge« gebracht werden soll (vgl. WV 329)726. Der nun in Erfüllung gegangene Kinderwunsch Charlottes bleibt weiter mit der Assoziation der Büchse der Pandora behaftet. In der Umgebung 726 Dieses Bild kehrt außerdem im Roman an unscheinbarer, da in anderen Kontext gebetteter Stelle wieder. Am Beginn des achten Kapitels des zweiten Teils unterhalten sich Charlotte und der Gehülfe kurz vor seiner Abreise (und Charlottes Niederkunft) über die Zukunft des Guts und die Veränderungen, die der Ablauf der Generationen für die Gestaltung des Schloßparks bedeutet. Der Gehülfe zeichnet ein Bild der regelmäßigen Abfolge von einander abwechselnden, jeweils konträren Bestrebungen von Eltern und Kindern und der Rückbesinnung einer Generation auf die jeweiligen Vorhaben der Großeltern. Charlotte überträgt das Bild in einen noch größeren Kontext, in dem freilich das Bild des englischen Gartens, das beschworen wird, parallel zu ihrer und Eduards Geschichte gelesen werden kann: »Ganze Zeiträume«, versetzte Charlotte, »gleichen diesem Vater und Sohn, den Sie schildern. Von jenen Zuständen, da jede kleine Stadt ihre Mauern und Gräben haben mußte, da man jeden Edelhof noch in einen Sumpf baute und die geringsten Schlösser nur durch eine Zugbrücke zugänglich waren, davon können wir uns kaum einen Begriff machen. Sogar größere Städte tragen jetzt ihre Wälle ab, die Gräben selbst fürstlicher Schlösser werden ausgefüllt, die Städte bilden nur große Flecken, und wenn man so auf Reisen das ansieht, sollte man glauben der allgemeine Friede sei befestigt und das goldne Zeitalter vor der Tür. Niemand glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freien Lande ähnlich sieht; an Kunst und Zwang soll nichts erinnern; wir wollen völlig frei und unbedingt Atem schöpfen. Haben Sie wohl einen Begriff, mein Freund, daß man aus diesem in einen andern, in den vorigen Zustand zurückkehren könne?« »Warum nicht?« versetzte der Gehülfe; »jeder Zustand hat seine Beschwerlichkeit, der beschränkte sowohl als der losgebundene. Der letztere setzt Überfluß voraus und führt zur Verschwendung. […] Glauben Sie mir : es ist möglich, daß Ihr Sohn die sämtlichen Parkanlagen vernachlässigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern und unter die hohen Linden seines Großvaters zurückzieht.« (WV 418). Indem Charlotte vom Gehülfen in ihrer Vorstellung bestätigt wird, bereitet die Stelle, wenn auch in anderem Zusammenhang, eine Rückwärtsbewegung vor, die den zweiten Teil der Wahlverwandtschaften stark bestimmt, wie noch weiter gezeigt wird. Die wiederholte Abhandlung des Motivs der Rückkehr oder Verwandlung in verschiedenen Kontexten bzw. unter negativen wie positiven Vorzeichen – einmal als widernatürlicher und hier als zuhöchst natürlich ablaufender Prozeß – scheint zwar einerseits auf Ausgewogenheit im Sinn einer perspektivischen Mehrfachbeleuchtung des Motivs zuzusteuern, doch mindert das die Unheimlichkeit des Bildes der rückgängig gemachten Geburt nicht, die vom Romanverlauf selbst verstärkt wird. – Das Gespräch zwischen Charlotte und dem Gehülfen ist außerdem ein Beispiel dafür, daß Fragen der sozialen wie persönlichen Umstände und Lebensbedingungen und deren Einfluß auf das Individuum im Roman immer wieder diskutiert werden. Nicht zuletzt bezeichnet der Gehülfe außerdem indirekt Eduards Verschwendungssucht und bestätigt so dessen Zeichnung als maßloser Charakter.
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von Charlottes »Schöpfung« bereitet sie das Kind gleichsam auf eine fröhliche Opferung vor; als sollte immer wieder auf die Macht der Mutter verweisen werden, über Gedeih oder Verderb des Kindes bestimmen zu können. Der Präsensteil umfaßt also auch hier den Kern einer biblisch unterlegten Szene, die an Charlotte als Bittende und Mahnende in der Szene des Feuerwerks anknüpft. (Die biblische Welt, so könnte man dies auf den Roman als ganzes beziehen, enthält die Umkehrung des Paradieses stets in sich.)727 Als Mutter sieht Charlotte somit auch weiterhin Ottilie. Paradoxerweise denkt sie aber nicht wie die Baronesse an den Gehülfen als zukünftigen Gemahl, sondern geht zurück auf ein Bild der Vergangenheit. Auch hier erweist sich ihre Grundintention der gewaltsamen Umkehrung der Ereignisse, die nun das geborene Kind besiegeln helfen soll. Noch im Präsensteil heißt es »gedenkt sie der vorigen Zeiten«, am Ende des zweiten hier zitierten Absatzes nach dem Erzählerkommentar im Präsens sieht sie ebenfalls ein Bild von früher, Ottilie und den Hauptmann, die nebeneinander in der Mooshütte sitzen. Die in der Präsensstelle noch angedeuteten Überlegungen Charlottes stehen also weiter im Zusammenhang der Verheiratungsabsichten der Baronesse und damit weiter im Zusammenhang der Absicht der Entfernung Ottilies, die im ersten Teil Charlottes erste Reaktion auf Eduards Gefühlsausbruch war. Der Erzählerkommentar im Präsens packt diese Absicht in eine allgemeine und im Gesamtverlauf des Romans höchst natürlich erscheinende Überlegung zu den Sorgen derer, die sich nach einem passenden Ehepartner für ihre Zöglinge umschauen. Er bedeckt auf diese Weise ebenso die bedrohlichen Bilder, die die Stelle transportiert, wie er die Betonung von Charlottes Freude als frischgebackene Mutter überführt in die gleichzeitig in ihr stets präsente Sorge um die Erhaltung ihres hartnäckig erkämpften Glücks, die für sie davon abhängt, ob Ottilie so untergebracht wird, daß der Neigung zwischen ihr und Eduard eine Tabugrenze gesetzt wird. Wie sehr Charlotte in dieser Textstelle sich selbst zu beruhigen sucht, zeigt die Wiedergabe ihrer einander schnell abwechselnden Gedanken, die gleich im Anschluß an den eben zitierten Anfang des 10. Kapitels dieses weiterführen. Auch diese Gedanken werden im Präsens wiedergegeben, vor allem möchte ich 727 Einer dreifachen Lektüre, im Sinn der antiken, der christlichen und, »bezogen auf ein seltsames Amalgam antiker und christlicher Mythen, einer alchemistischen Lektüre« unterzieht Waltraut Wiethölter die Wahlverwandtschaften in: Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 56. Jahrgang, Heft 1, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1982, S. 1–64, hier S. 7. Die Übereinanderlegung dieser Schichten ergibt für Wiethölter einen spezifischen Bezug auf »Realität« und Zeit: »Wo immer der Roman von einer »Gegenwart« spricht, die ihr »ungeheures Recht« verlange (86), ist daher nicht von einer im gewöhnlichen Sinne fingierten ›Wirklichkeit,‹ sondern von der Präsenz einer mythischen Zeit, der im Lesen und Erzählen vergegenwärtigten Gegenwart einer Erzählung die Rede.« Ebda.
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aber zeigen, wie unvermittelt sie einsetzen und in ihrer schnellen Abfolge als Gegenbild zu ihrer äußeren Ruhe auf Charlottes unruhiges Inneres verweisen: Charlotte stieg weiter, und Ottilie trug das Kind. Jene überließ sich mancherlei Betrachtungen. Auch auf dem festen Lande gibt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das schnellste zu erholen und herzustellen, ist schön und preiswürdig. Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet! Wer macht nicht irgendeine Anlage und wird darin gestört! Wie oft schlägt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft werden wir von einem scharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt, um ein höheres zu erreichen! Der Reisende bricht unterwegs zu seinem höchsten Verdruß ein Rad und gelangt durch diesen unangenehmen Zufall zu den erfreulichsten Bekanntschaften und Verbindungen, die auf sein ganzes Leben Einfluß haben. Das Schicksal gewährt uns unsre Wünsche, aber auf seine Weise, um uns etwas über unsere Wünsche geben zu können. Diese und ähnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum neuen Gebäude auf der Höhe gelangte, wo sie vollkommen bestätigt wurden. Denn die Umgebung war viel schöner, als man sichs hatte denken können. Alles störende Kleinliche war ringsumher entfernt, alles Gute der Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran getan hatte, trat reinlich hervor und fiel ins Auge, und schon grünten die jungen Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Lücken auszufüllen und die abgesonderten Teile angenehm zu verbinden. (WV 428)
Die Stelle verweist auf Charlottes und Ottilies Ablenkungsmechanismen. Beide beschäftigen sich neben der Pflege des Kindes vor allem mit der Pflege des Parks und der Umgebung und gehen im Genuß der künstlich geschaffenen bukolischen Landschaft auf. Sie ziehen mit dem Kind in das Haus auf der Höhe, um den Sommer dort zu verbringen. Wie dargestellt, ist dies Charlottes Refugium, von dem aus sie, so kann man unterlegen, den Blick auf ihren Besitz: Eduards Besitzungen, das Schloß und den Park, genießt. Der freie Blick auf die bereinigte Landschaft wird hier ebenso thematisiert wie in der Szene des Unglücks unter den Platanen, Charlotte tritt in dieser Gedankenrede sozusagen als Co-Schöpferin und Co-Besitzerin Eduards auf, nicht umsonst heißt es in der Präsensszene zuvor, daß sie durch Otto »einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz« erhält. In der Abwesenheit Eduards konkurrieren somit beide Frauen um den Erhalt von dessen Besitz, der, wie wir gesehen haben, die Verkörperung von Eduards wichtigstem Charakterzug darstellt. Lebensentwürfe Der Sommer bringt neuerlichen Besuch, den englischen Lord und seinen Begleiter. Sie vertreiben den Damen die Zeit und bewundern die Anlage des Parks. Der Lord wird als Kenner eingeführt, er gibt Ratschläge zur weiteren Gestaltung. Gleichzeitig spricht er von seiner Lebensform des ständigen Reisens und erinnert die Frauen damit noch mehr an Eduard, von dem keine der beiden Nach-
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richt hat. Der Begleiter des Lords erzählt zur Unterhaltung Geschichten, darunter die Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern. Mit ihr trifft er aber noch mehr ins Herz Charlottes, die weiß, daß es im Kern die Geschichte einer Jugendliebe des Hauptmanns ist. Auch in der Novelle findet sich eine kurze Passage im szenischen Präsens. Diese markiert innerhalb des Höhepunkts der Handlung einen präzisen Moment. Diesen Höhepunkt stellt eine Schiffsfahrt dar, auf der die weibliche Hauptfigur beschließt, sich aus Kummer über die Zurückweisung durch den Geliebten umzubringen. Dieser steuert das Schiff auf der Vergnügungsfahrt, die die Gesellschaft unternommen hat. Das Schiff kommt an eine schwierig passierbare Stelle, die das ganze Geschick des jungen Helden als Steuermann erfordert: Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge. In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit einem Blumenkranz in den Haaren. Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden. »Nimm dies zum Andenken!« rief sie aus. »Störe mich nicht!« rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing; »ich bedarf aller meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit.« – »Ich störe dich nicht weiter,« rief sie; »du siehst mich nicht wieder!« Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang. Einige Stimmen riefen: »Rettet! rettet! sie ertrinkt.« Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit. Über dem Lärm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder ergreifen, der jüngere es ihm übergeben, aber es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend, stürzte er sich ins Wasser und schwamm der schönen Feindin nach. (WV 439)
Wie die Stelle zeigt, wird hier nicht der Moment, in dem die weibliche Hauptfigur ins Wasser springt, im szenischen Präsens herausgehoben, sondern jener, in dem der Steuernde die Herrschaft über das Ruder verliert und das Schiff strandet. Mit dem Erwachen des eigentlichen Steuermanns wird vom Sprung der jungen Heldin abgelenkt und der Moment betont, in dem auch der Kapitän nicht mehr helfen kann. Dieser Kontrollverlust über das Schiff fällt in der Logik der Novelle mit dem Entschluß des Helden zusammen, zugunsten seiner Freundin, die eigentlich verlobt ist und deren Verlobter sich an Bord befindet, Konventionen hinter sich zu lassen und dem Gefühl nachzugeben. Der Schiffbruch wird so zum Augenblick seiner Entscheidung für die Liebe zu ihr, die er vorher im Blick auf seine Karriere wenig ernst genommen hat. Die Dramatik der Handlung, der Selbstmordversuch und die Rettung aus dem Wasser, entsprechen der unerhörten Begebenheit der Novelle. Die ausführliche Behandlung der Gefühlsgeschichte ihrer Hauptfiguren verknüpft diese aber deutlich mit der Romanhandlung und verweist so auf den metaphorischen Charakter der Präsenspassage der Novelle als deren psycholo-
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gischen Wendepunkt728. Über die Figur des Hauptmanns ist sie explizit in die Romanhandlung eingebettet, ohne daß wir erfahren, wie dessen Jugendgeschichte nachher weitergegangen ist und warum er mit der Vergangenheit einer solchen Liebesgeschichte im Hintergrund unverheiratet auftritt. Knüpft man aber die Entscheidung des jungen Helden der Novelle zurück an das parallele Verhalten des Hauptmanns in der Szene des Dammbruchs (das Detail der abgelegten Oberkleider aus der früheren Szene kehrt hier wieder: »die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend«), ergibt sie das Spiegel- und Gegenbild zu dessen vernunftbezogener Tatkraft und Lebenswahl. Im jugendlichen Hauptmann der Novelle wird so ein Jüngling imaginiert, der (noch) imstande ist, die spontane Gefühlsentscheidung vor eine allzu rational Rücksicht nehmende zu stellen und seiner Neigung trotz des Hindernisses einer konkreten Bindung seiner Geliebten nachzugeben. Der Hauptmann der Dammbruchszene ist zwar genauso bereit, die Rolle eines Retters 728 Unter den zahlreichen Interpretationen der Novelle in den Wahlverwandtschaften verweist jene von Fritz Breithaupt auf den Moment des Un-Bewußtseins als entscheidenden Faktor im Handeln des Helden der Novelle. Dessen Sprung ins Wasser geschieht »ohne Besinnung nur mechanisch«, wie es im Text heißt. Für Breithaupt ist dies der Schlüssel zur Novelle als Gegenbild zur Romanhandlung: »Dem Paar in der Novelle gelingt damit eben das, woran die Personen des Romans scheitern: der Schritt aus den Fesseln der Institution Ehe, aus den Grenzen eines institutionalisierten Selbst und einer Wirklichkeit (es kommt im Roman nicht nicht zur von allen erwünschten Paarbildung von Eduard und Ottilie, Charlotte und dem Hauptmann). Dieser Schritt ist kein bewußter Schritt, sondern ein Schritt ohne Bewußtsein und aus dem Bewußtsein heraus und ein Schritt, der ein Bewußtsein je erst ermöglicht.« Siehe Fritz Breithaupt, Jenseits der Bilder – Goethes Politik der Wahrnehmung, Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2000 (= Rombach Wissenschaften Reihe Litterae Bd. 73), S. 178. In diesem Sinn kennzeichnet der Einsatz der Präsenspassage in der Novelle jenen Moment, in dem sich der Held zwischen der Steuerung des (Lebens-)Schiffs und der Lebensrettung seiner Freundin entscheidet, und zwar eben ohne Überlegung. Im Präteritum heißt es noch »Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit.«, dann folgt der Präsensteil, der den Blick auf den alten Schiffsmeister und damit weg vom Entscheidungsprozeß des Helden lenkt. Im Präteritum geht es dann weiter mit »stürzte er sich ins Wasser«. So gesehen und angesichts der im Roman eher negativ belegten Selbstbeherrschung (besonders bei der Baronesse als Gewalt gegen sich selbst, aber auch an Charlotte dargestellt) kann man das Herz dieser Präsenspassage: »es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln«, ebenso in den Zusammenhang des unbewußt richtigen Handelns des Helden stellen. Auf ihn allein und seinen Entscheidungsprozeß bezogen bedeutet dies, daß ihm vor allem die Zeit fehlt, Herrschaft und Kontrolle über sich selbst zu gewinnen, wodurch er instinktiv entscheidet. Dies wird nicht nur durch den Gewinn der Freundin belohnt, sondern auch dadurch, daß weder das gestrandete Schiff noch einer der Passagiere letztlich zu Schaden kommt. Das Motiv des durch zu viel Überlegung behinderten Handelns verbindet schließlich besonders die Figur der Charlotte mit der des Hauptmanns und stellt so diese Präsenspassage jenen gegenüber, in denen es um Charlottes »Herzensschau« und Handlungshemmung gerade durch Selbstintrospektion geht. Darüberhinaus gibt es ein bemerkenswertes Requisit in der Novelle, das deren Heldin deutlich mit Charlotte verbindet: den Blumenkranz. Wie wir gesehen haben, schreibt Sampaolo diesen typischen Schmuck der Ceres/Demeter Charlotte zu; die auffälligste Parallele ist freilich die der Schifffahrt, die an den Hauptmann und Charlotte im Kahn erinnert.
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zu übernehmen, aber einen Anspruch auf Charlotte rein aufgrund seiner starken Neigung geltend zu machen, ist ihm aufgrund gesellschaftlicher Schranken wie Karrierebewußtsein verwehrt. Die Novelle imaginiert so den alternativen glücklichen Ausgang für die Romanfiguren, den ihr »reales« Leben ihnen nicht bietet. – Einige Ironie liegt so gesehen auch in der Tatsache, daß Eduard, wie wir gleich sehen werden, den Hauptmann als seinen idealen Ersatz nicht nur an Charlottes Seite, sondern vor allem als Vater des Kindes sieht. In den Motiven der Novelle gesprochen, ist Eduard sozusagen mehr als bereit, dem Hauptmann das Ruder zu übergeben, doch – in der Charakter- und Anlagenlogik der Romanfiguren gesprochen – ist der Hauptmann kein Besitzender wie Eduard, sondern mit seinem Beruf verheiratet und durch ihn definiert. Seine durchgehende Bezeichnung mit dem militärischen Rang und sein Avancement zum Major im zweiten Teil bezeichnet so das Verharren in seiner vorgegebenen Rolle. Entgegen dem Jüngling der Novelle hat er den Zeitpunkt der Umorientierung verabsäumt und sich früh für die Karriere entschieden (entscheiden müssen). Eduards Sieg All dies wird im Umkreis der Novelle im Roman, wie erwähnt, nicht explizit thematisiert. Was wir erfahren, ist nur, daß Charlotte »höchst bewegt« (vgl. WV 442) auf die Geschichte reagiert und sogar das Zimmer verlassen muß. Es liegt nahe, ihre Bewegtheit mit dem Gefühlsgehalt der Novelle in Verbindung zu bringen, sodaß auch hier die Verknüpfung zur Gegenwart ihrer Gefühlsgeschichte mit dem Hauptmann gesehen werden kann. So ist klar, daß die Spiegelfunktion der Novelle die jetzige Abgeklärtheit des Hauptmanns herausstreicht, der andererseits aber immer noch der Lebensretter und gute Schwimmer ist, als der er in der Novelle erscheint. Dies haben wir an seiner Reaktion beim Bruch der Dämme beim Feuerwerk gesehen. Der Hauptmann erfüllt so gesehen zwar die Pflichten seiner Rolle, indem er den Sprung ins Wasser zur Rettung des Kindes wagt, doch ist es kein Sprung für Charlotte und in die Risiken des Gefühlslebens. Der Hauptmann bleibt so im Gegensatz zum stets verheirateten Eduard gleichsam aus Unsicherheit ein ewiger Junggeselle, der die emotionale Seite seiner Persönlichkeit nicht auslebt oder nicht ausleben kann. Am Motiv des Wassers kann man ebenso die Unterschiede zur Romanhandlung ablesen. In der Novelle ist es ein Strom, aus dem der Held seine Freundin rettet, und es wird darauf hingewiesen, daß das Wasser für den, der es »zu behandeln weiß«, ein »freundliches Element« sei (vgl. WV 439f.). Der junge Hauptmann der Novelle wird so auch vom Wasser getragen (vgl. WV 440), wie der Text sagt, seine Kraft entspricht der Kraft des fließenden Gewässers. Die künstlich angelegten Seen des Parks im Roman dagegen sind stehende Gewässer und allesamt mit der Konnotation der unheimlichen, verschlingenden Tiefe aufgeladen (vgl. Walter Benjamins Interpretation in III. 4.1.).
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Sie sind kein tragendes Element für Gefühle, und wenn Ottilie es zu ihrer Lieblingsbeschäftigung macht, auf den See hinauszurudern und sich beim Lesen von den Wellen sanft schaukeln zu lassen, so bereitet dies (auch im Rückgriff auf den ambivalenten Kahn) mehr die finale Katastrophe vor und ist Vorzeichen ihrer Entrückung, als daß es auf eine Beruhigung der Situation verweist. Ottilie und ihre »Gewandtheit« als »schöne Schifferin« sind denn auch Gesprächsgegenstand des Lords und seines Begleiters (vgl. WV 443), dessen elektromagnetische Versuche an Ottilie der Inhalt des elften Kapitels sind. Danach wird die Abreise der Gäste, ähnlich abrupt wie die Erwähnung der Geburt des Kindes, von einem Absatz auf den anderen nachgeholt, die Frauen wenden sich wieder ganz dem Kind und Ottilie der Lektüre zu. Auch das zwölfte Kapitel bringt einen schnellen Schauplatzwechsel. Eduard und der Hauptmann, inzwischen Major, kommen auf dem Gut zusammen, wo Eduard vor seiner Flucht in den Krieg von Mittler besucht worden war. Es erweist sich, daß Eduard über alles, was die Frauen betrifft, Bescheid weiß, er hat sich die ganze Zeit über auf dem Laufenden halten lassen. Die Freundschaft zwischen ihm und dem Hauptmann blüht wieder auf. Eduard zeigt sich durch die Kriegserlebnisse in seinem Vorsatz bestärkt, mit Ottilie leben zu wollen. Er spricht von der Lebendigkeit ihres Bildes in seinem Inneren, das ihn durch alles Erlebte begleitet hat; die bewegten Bilder, die beide während der Trennung phantasieren, wurden oben dargestellt. Eine bekannte Vokabel, der mit Charlotte im ersten Teil verknüpfte »Wahn«, begleitet die Begründung für sein Vorhaben: »Das Glück mit ihr [Ottilie] war so schön, so wünschenswert, daß es mir unmöglich blieb, völlig Verzicht darauf zu tun. So manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn bestärkt, Ottilie könne die Meine werden.« (WV 447)
Daß er den Tod gesucht, doch jede Schlacht überstanden hat und mit Auszeichungen dekoriert aus dem Feld heimkehrt, ist für Eduard der Beweis, daß er nun mit ebensolcher Entschlossenheit sein Leben weiter gestalten soll. Das Glas mit den Initialen E und O, das bei der Grundsteinlegung im ersten Teil als gutes Omen für den Hausbau zerbrochen hätte werden sollen (vgl. WV 303), doch unversehrt bei ihm ist, nimmt Eduard als Zeichen der Berechtigung, nun seine Wünsche in die Tat umzusetzen. Seine Ehe mit Charlotte bezeichnet er als Torheit. Auch hier kehrt ein bekanntes Motiv wieder. Eduard verweist auf seinen und Charlottes Selbstbetrug, in der Ehe Versäumtes nachholen zu wollen: »Wehe dem Menschen, der vorwärts oder rückwärts zu greifen durch Umstände oder durch Wahn veranlaßt wird!« (WV 448) Die Zeit der Trennung hat also die Unterschiede des Ehepaares noch mehr herausgebracht. Während Charlotte aber, wie wir in der Szene ihrer wiedererwachenden Hoffnung im Haus auf der Höhe gesehen haben, den gegenwärtigen Zustand zurückdrehen möchte, sieht
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Eduard den vorigen als Irrtum. Dennoch sind beide überzeugt, daß ein Eingreifen möglich ist. Das Kind als Grund für eine Versöhnung ist für Eduard kein Argument. Für ihn ist es »bloß ein Dünkel der Eltern«, wenn diese glauben, daß »ihr Dasein für die Kinder so nötig sei« (vgl. WV 448). Der Hauptmann als nunmehriger Major gibt zu bedenken, daß unter der Scheidung das Ansehen der Familien leiden könnte. Auch das beeindruckt Eduard nicht. Der Hauptmann greift schließlich zum Argument der Umständlichkeit der Ehescheidung und Besitztrennung, da er auf Eduards Ungeduld hofft. Diese ist groß, doch er beharrt auf seinem Vorhaben: »Das, was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge; ich werde es ergreifen und gewiß bald und behende.« (WV 450) In der Wendung des Im-Auge-Behaltens und des Ergreifens kehren die Motive von Eduards fixierter Wahrnehmung und das (Besitz-)Ergreifen als Liebesmotiv wieder729. Der Major gibt schließlich auf, auch weil er Eduards Argument, daß die Ehe mit Charlotte unter den gegebenen Umständen nur traurig enden könne und Ottilie als Opfer der Situation übrigbliebe, nicht recht widerlegen kann (vgl. WV 451f.). Der Beginn des 13. Kapitels bringt eine ähnlich überraschende Wendung wie das zwölfte, in dem mit der Rückkehr der Männer die finale Handlung in Gang kommt. In weiteren Gesprächen zwischen dem Major und Eduard kommt wie nebenbei eine Entscheidung Charlottes ans Licht. Diese habe »Eduarden, als er von Reisen zurückgekommen, Ottilien zugedacht, […] zu vermählen gemeint« (vgl. WV 452). Eduard, bis zur Verwirrung entzückt über diese Entdeckung, sprach ohne Rückhalt von der gegenseitigen Neigung Charlottens und des Majors, die er, weil es ihm gerade bequem und günstig war, mit lebhaften Farben ausmalte. Ganz leugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr. Er dachte sich alles nicht als möglich, sondern als schon geschehen. (WV 452)
Dieser Mitteilung des Majors geht an keiner Stelle eine entsprechende Szene oder Erwähnung von Charlottes Entschluß voraus. Der Major tritt ebenso überraschend wie Eduard wieder auf den Plan, eine Korrespondenz zwischen ihm und 729 Giovanni Sampaolo verweist auf die Wiederkehr der Pronomina: »[…] was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge; ich werde es ergreifen […]«. In Eduard als Kriegsheimkehrer sieht Sampaolo gemäß seiner Goethe folgenden Interpretation des Krieges als »Vortod« eine zentrale Botschaft verankert, er verweist dementsprechend auf die gerade hier zu entschlüsselnde Detailgestaltung. Die Andeutung des Texts, der (Eingang des 12. Kapitels des zweiten Teils) nur besagt, daß Eduard im Krieg »Ehrenzeichen« erhielt und »rühmlich entlassen« wurde, sieht Sampaolo so als weiteren Hinweis auf Eduards plutonische Veranlagung und seine bestimmende Rolle als Eroberer und Krieger ; keineswegs unwesentlich ist so für ihn, daß die Stelle die Vermutung nahelegt, Eduard habe Feinde getötet: vgl. Sampaolo, »Proserpinens Park«, S. 26.
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Charlotte wird erst hier angedeutet. Der Effekt auf Eduard ist dagegen weniger überraschend, das »schon geschehen« seiner Gedanken erinnert an das fatale »Alles ist schon getan«, das Mittler auf die Nachricht von Charlottes Schwangerschaft am Ende des ersten Teils ausruft. So scheint es kein Zufall, daß auch hier am Beginn des 13. Kapitels des zweiten Teils Mittlers letzte Aktion als Namensgeber des Kindes wieder Erwähnung findet (vgl. WV 453). Eduards innere Bilderflut kommt mit der Nachricht des Majors in rasante Bewegung, er sieht sich und Ottilie als Reisende (wie gezeigt, entspricht die Welt der Touristen dem Orkus), den Major und Charlotte als gerechte Aufteiler der Güter, die er und Charlotte besitzen. Das Bild, »wovon er sich den größten Vorteil zu versprechen schien«, ist aber, daß der Hauptmann der denkbar beste Vater für das Kind wäre; für Eduard ist es ein weiteres positives Vorzeichen, daß das Kind bei der Taufe den beiderseitigen Namen Otto (Eduards eigentlicher und der Vorname des Majors) erhalten hat (vgl. WV 453). Die Zeichen sind es auch, die Eduard weiter, wie im ersten Teil, von nun an endgültig leiten. Er möchte »keinen Tag länger anstehen«, die Scheidung ins Werk zu setzen (vgl. WV 453). Er begleitet den Major auf dem Weg zum Schloss, wo dieser mit Charlotte verhandeln soll. In einer Stadt in der Nähe will Eduard auf das Ergebnis der Besprechung warten. Auf dem Ritt durch die Stadt geraten sie, ins Gespräch vertieft, immer weiter in die Nähe des Guts. Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Höhe, dessen rote Ziegeln [sic] sie zum erstenmal blinken sahen. Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen Abend alles abgetan sein. In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten; der Major soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht überraschen und durch den unerwarteten Antrag sie zu freier Eröffnung ihrer Gesinnung nötigen. Denn Eduard, der seine Wünsche auf sie übergetragen hatte, glaubte nicht anders als daß er ihren entschiedenen Wünschen entgegenkomme, und hoffte eine so schnelle Einwilligung von ihr, weil er keinen andern Willen haben konnte. Er sah den glücklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieser dem Lauernden schnell verkündigt würde, sollten einige Kanonenschläge losgebrannt werden und, wäre es Nacht geworden, einige Raketen steigen. (WV 453)
Der Eingang des Finales wird wieder im szenischen Präsens gegeben und ist gekennzeichnet durch Eduards Wollen. Die roten Ziegel des Hauses auf der Höhe, wo Charlotte und Ottilie wohnen (was Eduard und der Major noch nicht wissen), fungieren als Auslöser. Rot ist die Farbe, die der Erzähler im bekannten Motto Ottilies Tagebucheintragungen als verbindendes Element zuschreibt: Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, daß ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, daß sie der Krone gehören.
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Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch werden diese Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnsprüche und was sonst vorkommen mag, der Schreibenden ganz besonders eigen und für sie von Bedeutung. Selbst jede einzelne von uns ausgewählte und mitgeteilte Stelle gibt davon das entschiedenste Zeugnis. (WV 368)
Der »Faden der Neigung und Anhänglichkeit« verbindet, wie angedeutet, in Ottilies Eintragungen hauptsächlich Reflexionen über Lebensmaximen und vor allem über Kunst; es sind keine privaten Aufzeichnungen. Was genau also mit dem roten Faden, der sie durchzieht, gemeint ist, ist den Eintragungen selbst schwer zu entnehmen. Rot als Signalfarbe durchzieht aber in auffälliger Weise die Liebesgeschichte zwischen Eduard und Ottilie. Nach dem Feuerwerk zu ihrem Geburtstag findet Ottilie Eduards Geschenk in ihrem Zimmer vor, das kostbare Köfferchen ist mit »rotem Saffian überzogen« (vgl. WV 333). Aus der Beschreibung geht hervor, daß dies das Geschenk ist, das ein Liebhaber seiner Angebeteten macht730. Die Signalwirkung auf Eduard hier in der Textstelle, wo er das Haus erblickt, wird noch erhöht durch die Beigabe, daß er die Ziegel »blinken« sieht. Gleich darauf wird Eduard auf Ottilie treffen, die Beschreibung weist daraufhin, daß Ottilie im untergehenden Sonnenlicht liest und ein »rötliches Streiflicht« auf sie fiel (vgl. WV 454). »Eduarden ergreift« – deutlich zeigt die Voranstellung von Eduard als Objekt, daß etwas mit ihm geschieht, das unmittelbar seine Entschlüsse beeinflußt. Die Kette der Verben im Präsensteil wiederholt das Wollen-Muster, das wir schon aus den Präsenspassagen des 13. Kapitels im ersten Teil kennen. Es »soll« noch diesen Abend alles geschehen sein, nahe »will er sich verborgen halten«, der Major »soll« – es klingt tatsächlich wie eine militärische Aktion: »dringend vorstellen«, »überraschen«, »nötigen«. Charlottes »Vorsicht« ist Eduards Hindernis; wie in einem umgekehrten Heiratsantrag soll Charlotte mit dem »unerwarteten Antrag« der schnellen Scheidung konfrontiert werden, damit alles sofort passiert. Die Raketen als Signal, das zurück zum Feuerwerk weist, sollen den Erfolg der Verhandlungen verkünden731. Eduard ist gleichsam noch im 730 Zum Koffer vgl. den Stellenkommentar der FA, S. 1035. 731 Raketen und Feuerwerke gehören zum plutonischen Charakter Eduards, vgl. Sampolo, »Proserpinens Park«, S. 25: »Nicht nur im Triumph, sondern auch sonst kommt Pluto in Goethes Œuvre ausschließlich unter zeitkritischem Vorzeichen zum Vorschein, mit satirischer bis derb komischer Überzeichnung, in der Nachfolge von Lucians Totengesprächen. Daß Eduard nach einem solchen Vorbild modelliert wird, versichert ihm ein prägnanteres Profil als dem Repräsentanten einer kritisch anzusehenden, destruktiven Moderne. Seine ›eruptive‹ Lust an lärmenden Feuerwerken, Raketen und Kanonendonnern als Zeichen seiner ungestümen Leidenschaft (338, 374, 453, 456, und 461) weist so in die Richtung des »Plutonisch grimmig[en] Feuer[s]«, eines der zentralen Bilder moderner Willkür in Geschichte und Natur(wissenschaft) bei Goethe.«
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Krieg, der eben beförderte Major rückt als Vorposten aus. Ein anderes Schema wiederholt sich ebenfalls in Eduards Pawlowschem Reflex: die biblische Fabel des Romans, die Goethe selbst angegeben hat. »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen« unterliegt so der Stelle als Sehen-und-WollenSchema. Eduard sieht die rote Farbe, die für ihn für seine Verbindung mit Ottilie steht, und will sofort »alles abgetan« sehen. Die Präsenspassage ist ganz auf ihn und sein Vorhaben zentriert und gibt seine Wünsche wieder ; sie lesen sich wie Befehle an den Major. Mit dem Präteritum kehrt dann wieder die Reflexion des Erzählers über Eduard ein: »[…] weil er keinen andern Willen haben konnte«. Dies entspricht der Aufeinanderfolge von Szene und Kommentar, die, wie wir bei Hubers Darstellung der »narrativen Inszenierungen« gesehen haben, von Friedrich von Blanckenburg als Vorteile der sich erneuernden Gattung Roman beschrieben werden. Für Blanckenburg trägt wie gezeigt die Aufteilung zwischen szenischer Darstellung und Kommentar dazu bei, die Handlungsweise der Figuren psychologisch herzuleiten und zu erklären (vgl. IV. 1.3.1.; »das ganze innere Seyn der handelnden Personen, mit all’ den sie in Bewegung setzenden Ursachen«, Hervorhebung i.O.). In der vorliegenden Passage fällt das szenische Präsens zum größeren Teil mit der erlebten Rede Eduards an den Major zusammen und rückt so stark in die Nähe einer dialogischen Gestaltung, wie sie bei Blanckenburg mit »Szene« (im Unterschied zur Erzählerausführung) gemeint ist. Wie außerdem gezeigt, spielt für Blanckenburg die genaue Darstellung innerer wie äußerer Einflüsse auf den Menschen eine wichtige Rolle bei der Motivierung ihrer Handlungen. Huber spricht, wie gezeigt, von den »umfassenden sensorischen Informationen«, die eine der wichtigsten neuen Forderungen an den Roman darstellen. In diesem Sinn ist die Herleitung von Eduards Reaktion über den Auslöser eines starken Sinneseindrucks nicht nur ein leitmotivisches Signal der Verbindung zwischen Eduard und Ottilie, das über die Farbe Rot funktioniert, sondern vor allem ein wichtiger Anhaltspunkt für Eduards Beweggründe732. Auch die weitere Vorbereitung der Szene des Zusammentreffens zwischen Eduard und Ottilie im Park enthält genaue Schilderungen der äußeren 732 Im Sinn der im vorigen Abschnitt (IV. 2.4.) dargestellten Interpretation von Goethes »Wahrnehmungspolitik« durch Fritz Breithaupt, die Wirklichkeit als »genuine Leistung des Auges« herausstreicht, und auch die selektive Wahrnehmung betont, die die Konzentration auf »Schönheit« bedingt, kann man den Impuls, der Eduard beim bloßen Anblick des Hauses und der roten Ziegel erfaßt, auch als Ausdruck seiner endgültig pervertierten Fixierung aufs Objekt (Ottilie) und seiner einseitigen Wahrnehmung verstehen. So reicht gleichermaßen nun schon der verdinglichte, an sich unbedeutende Platzhalter der Erinnerung, um von neuem Eduards »unwiderstehliche Sehnsucht« (die sich nicht nur auf Ottilie, sondern auch auf die sofortige Umsetzung des Scheidungswunsches richtet) reflexartig auszulösen.
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Bedingungen, unter denen dieses stattfindet. Wie beim Gewitter, vor dessen Kulisse Werther und Lotte ihre gemeinsame »Loosung« Klopstock finden, wird sie vor allem eingebettet in die Schilderung der Natur-Szenerie, vor deren Hintergrund sich alles abspielt. Genealogisches Wie in der langen nächtlichen Präsensszene des 13. Kapitels des ersten Teils, in der Eduard durch den Park streift, treibt es ihn auch jetzt dort um. Nicht als Schloßherr ist er aber jetzt, da der Major in seinem Auftrag zu Charlotte reitet, unterwegs, sondern gleichsam als Späher : Eduard indessen, von unüberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus seinem Hinterhalte durch einsame Pfade, nur Jägern und Fischern bekannt, nach seinem Park und fand sich gegen Abend im Gebüsch in der Nachbarschaft des Sees, dessen Spiegel er zum erstenmal vollkommen und rein erblickte. (WV 454)
In der Fortführung des Bildes der militärischen Inbesitznahme seines Territoriums wird Eduard zum Jäger im eigenen Revier733. Auch hier begleitet die 733 Für Sampaolo ist Eduards Flucht in den Krieg das zentrale Handlungsmoment, markiert die Mitte des Romans und motiviere die Zweiteilung zwischen erstem und zweitem Teil, vgl. Sampaolo, »Proserpinens Park«, S. 22. In Analogie dazu interpretiert er Eduards Rückkehr nun als tatsächlich gewaltsames Aufbrechen der geschützten Welt des Gutes und seiner Bewohner, wobei er die Szene des Wiedersehens als »Raub der Ottilie« zeichnet und auf deren mythologische Unterlegung hinweist: »Die räumliche Gegenüberstellung vom grünen, inselartigen Landgut, wo Ottilie gedeiht, und der weiten, düsteren ›Welt‹, wo der verschwundene Eduard so lange Krieg führt, polarisiert sich im zweiten Teil immer mehr zum Gegensatz von »Proserpinens Park« und dem »Schattenreiche«. Die tragische Wende des Romans besteht im abrupten Einbruch der Gewalt, die schließlich durch den Baron von der ›modernen‹ Außenwelt in die Idylle eindringt und sie unwiederbringlich verwüstet. Diese entscheidende Szene läßt in allen Details den Palimpsest des »prägnanten Augenblicks« (Lessing) aus dem Proserpina-Mythos, nämlich des Raubes der Göttin, erkennen, und zwar in der Ovidischen Version, die Goethe seit seiner Kindheit so gut wie auswendig kannte und bereits in seinem Proserpina-Monodrama umgeschrieben hatte. Eduard kehrt nach einem Jahr ganz unerwartet aus seinen Kriegsunternehmungen zurück […]. Als ein Siegender will er sich nun endlich Ottilies ›bemächtigen‹, wie er schon drohte. […] »[I]n allen Proserpina-Rezeptionen, die auf Ovids Metamorphosen zurückgehen, steht […] die Heilheit der jungfräulichen Proserpina-Welt in einem umgekehrten Verhältnis zu der liebenden Heftigkeit und Hast Plutos«. Ottilies Überrumpelung durch Eduard findet in einer verträumten Seeuferlandschaft statt, die dem Schauplatz gleich sieht, wo Ovids Proserpina von ihrem Liebhaber überfallen wird – eben am Ufer eines Sees. »[D]er ganze idyllische Zustand« – schreibt Goethe nur sechs Jahre später von seiner Proserpina – »tritt mit ihrer Nymphengestalt uns vor Augen, in welcher sie die Liebe des Gottes reizte und ihn zum Raube begeisterte«.« Sampaolo, »Proserpinens Park«, S. 26f. Neben Goethe zitiert hier Sampaolo aus Herbert Anton, Der Raub der Proserpina. Literarische Traditionen eines erotischen Sinnbildes und mythischen Symbols, Carl Winter Verlag, Heidelberg 1967. Ich möchte durch meine Analyse der Szene diese Interpretation Sampaolos ausdrücklich
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Abendstimmung im Park die Szene und bereitet deren Verlauf durch die inzwischen feststehende Assoziation des drohenden Unheils vor. Dies wird ähnlich wie im 13. Kapitel des ersten Teils durch ein vordergründig überaus romantisch anmutendes Bild kontrastiert. Die Szene wechselt zu Ottilie, die »versenkt in ein Buch, in sich selbst« mit dem schlafenden Kind neben sich bei den Eichen am See sitzt, »so liebenswürdig anzusehen, daß die Bäume, die Sträuche ringsumher hätten belebt, mit Augen begabt sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen« (WV 454). Die Ausgestaltung der Szene erinnert an die Form der narrativen Inszenierungen, die Huber für Schulmeisterlein Wutz beschreibt und bindet diese Szene zurück an das Bild von Eduards nächtlicher Wanderung im Park, bei der er das emsige Wühlen der Tiere unter der Erde hört. Hier sind es die Büsche, denen Augen für Ottilies Schönheit gewünscht werden. Damit wird auch das Motiv der vielen Perspektiven auf Ottilie wieder aufgegriffen, das den Roman durchzieht, doch bisher hauptsächlich durch die Blicke der männlichen Bewunderer bis hin zum Erzähler selbst symbolisiert wurde. So wie Jean Pauls Wutz den Moment seiner abendlichen Rückkehr ins Dorf als von der untergehenden Sonne großartig beleuchtete Selbstinszenierung imaginiert, wird hier ein Szenario geschaffen, das ganz auf die Verbildlichung Ottilies ausgerichtet ist. Das schon genannte Licht fällt dabei so auf sie, daß nicht nur das Bild in seiner Farbenpracht ausgeschmückt wird, sondern daß auch der Blickwinkel bezeichnet ist, von dem aus Ottilie angeschaut wird: »Und eben fiel ein rötliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter.« (WV 454) Da wir wissen, daß der spähende Eduard nicht weit ist, die Büsche also tatsächlich Augen haben, erfüllt auch hier die Nennung der Signalfarbe ihre Funktion: Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen, der seinen Park leer, die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter. Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen, er sieht Ottilien, sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füßen. Nach einer langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen versuchen, erklärt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen. Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden. Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiß auch nie an der seinigen. Er bitte sie um ihre Einwilligung. Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten Rechte geltend machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf das Kind hin. stützen und wie er noch einmal mehr auf die genaue Detailgestaltung hinweisen, die sich in der nur scheinbar metaphorischen Wortwahl des militärischen Vokabulars hier, außerdem im von Sampaolo im Goethe-Zitat gezeigten Reiz-Reaktion-Schema, das dem Raub der Proserpina unterliegt, und sich überdies, wie ich gleich zeige, auch noch in der Tempussetzung ausdrückt.
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Eduard erblickt es und staunt. »Großer Gott!« ruft er aus, »wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen. Ist dies nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen.« »Nicht doch!« versetzte Ottilie; »alle Welt sagt, es gleiche mir.« (WV 454f.)
Der Schilderung des Bildes, das Ottilie bietet, folgt direkt anschließend diese Szene des Aufeinandertreffens. Eduard als Späher trifft also auf das Bild, in das Ottilie schon am Ende des 11. Kapitels gefaßt wird: als »gar anmutige Penserosa« (vgl. WV 446). Im Präsens hervorgehoben wird gleichsam Eduards Einbruch in dieses Bild. Auch hier sind die Passagen im szenischen Präsens und die ihr folgende indirekte Rede fast ganz auf Eduard als Handelnden und Sprechenden zentriert: »Endlich bricht er durch das Gebüsch«, »er sieht Ottilien, sie ihn«, »er fliegt auf sie zu«, »Nach einer langen, stummen Pause […], erklärt er ihr«, »Er habe«, »Nie habe er«, »Er bitte sie«. Mit »Sie zauderte« bis »sie deutete auf das Kind hin« kehrt mit Ottilies Reaktion und Eduards Umarmung das Präteritum zurück. Eduards Blick auf das Kind und sein erstaunter Ausruf werden wieder im Präsens gegeben. Die Präsensszenen wiederholen daher hier zweimal das Muster der vorigen Präsenspassage, in der Eduard das Haus auf der Höhe erblickt und seine Pläne sofort in die Tat umsetzen möchte. Auch hier folgt der Wahrnehmung jeweils eine Sprechhandlung Eduards, er »erklärt« und »bittet«, als er das Kind sieht, »ruft er aus«. Auch die Motive der Beschleunigung und des Ergriffenwerdens durch eine übermenschliche Macht kehren wieder und beziehen sich auf Eduard. Im Anblick Ottilies sieht er sich am Ziel seiner Wünsche und »fliegt auf sie zu«. Über eine Wortparallele kann man die Szene auch zurückbinden an die erste lange Präsenspassage mit dem Bild von Eduards Gefühlsausbruch. Dort heißt es »[…] alles, was in seiner Natur gebändigt war, bricht los«. Daß Eduard nun durch das Gebüsch »bricht«, knüpft an dieses Bild an, zeigt aber Eduard gemäß seiner neuen Rolle als Krieger und Eroberer inmitten der verwilderten Natur-Szenerie; gleichzeitig wird nicht verabsäumt, darauf hinzuweisen, daß Eduard »seinen Park« leer findet. Die Verortung der Szene am Seeufer ist ein Hinweis darauf, daß es die vom Hausherren geschaffene künstliche Landschaft ist, in der sich die Protagonisten nun bewegen. Mit den Eichen ist ein genauer Punkt bezeichnet, es ist die Stelle, an der man über den See setzen kann und zu den Platanen gelangt, die, wie gezeigt, mehrfach besetzt sind durch die Szenen, die sich dort abgespielt haben. Auf diese Weise werden hier am Beginn des Handlungshöhepunkts des zweiten Teils, der die meisten Präsensszenen aufweist, die Vorgaben für eine Bildregie geschaffen, die in der Folge Eduards auch Ottilies Handeln beeinflußt. Es sind also zwei Wahrnehmungsakte Eduards, die hier im Mittelpunkt der Präsenspassagen stehen. Dem Anblick Ottilies folgt der Anblick des Kindes (auf das ihn Ottilie allerdings erst hinweisen muß). Eduard zeigt die gleiche Reaktion
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wie Mittler bei der Taufe des Knaben. Mit Schrecken empfindet er dessen »Bildung« ganz als die des Majors. Daß es sein Kind ist, zieht damit Eduard gleichsam von Beginn in Zweifel. Es fällt zwar das Wort »zeugen«, doch nur in ganz gegenteiligem und negativem Sinn, »fürchterlich« würde das Aussehen des Kindes »gegen« Charlotte und den Major zeugen. Mit »diese Gestalt« gebraucht Eduard überdies beim ersten Anblick seines Sohnes ein in diesem Kontext seltsam doppeldeutiges Wort, das die Reihe der unheimlichen Bezüge auf das Kind noch weiter verstärkt. Der Beginn der Präsenspassagen im 13. Kapitel des zweiten Teils nimmt damit die Motivkette der individuellen Wahrnehmungsmuster des 10. Kapitels wieder auf. Charlottes Projektionen einer glücklichen Zukunft mit dem Kind und ihre Wahrnehmung des Knaben wurden dabei ebenso mit dem Wort »Gestalt« verknüpft. Wie oben gezeigt, ist es die »vielversprechende Gestalt« des Knaben, die Charlottes Auge in der Textstelle im 10. Kapitel »stündlich beschäftigt«. Dem wird hier Eduards spontane Reaktion gegenübergestellt, die dem Wort einen vernehmbaren Doppelsinn unterlegt und seinen Sinn so wie den von »zeugen« ins Negative kehrt. Während also Eduards Reaktion auf den Anblick Ottilies eine sofortige Hinwendung auslöst, zeigt seine Reaktion auf den zweiten im Präsens geschilderten Wahrnehmungsakt deutlich seine Vorbehalte gegen das Kind. Die Ironie der Stelle liegt auch darin, daß ja Eduard selbst kurz zuvor den Major noch als den besten Vater für das Kind imaginiert hat, dessen sichtbare Ähnlichkeit mit dem Major nun aber als Schock empfindet. So zeigen die Reaktionen aller männlichen Figuren, jene Mittlers bei der Taufe, die Eduards hier und später die des Majors, alle dasselbe Muster, alle drei erschrecken beim Anblick des Kindes; es bleibt so mit der Zwiespältigkeit der Empfindungen der Figuren verbunden. So wie im Bild von der rückgängig gemachten Geburt im 13. Kapitel des ersten Teils eine über das Resultat der Geburt erschrockene Mutter anklingt, erschrickt Ottilie beim ersten Blick in die Augen des Kindes und erschrickt nun Eduard. Bezeichnenderweise ist es aber der Gedanke, daß man dem Kind einen tatsächlichen Seitensprung ansehen könnte, der Eduard als erstes beschäftigt. Er, der gerade alle Bedenken des Majors bezüglich der gesellschaftlichen Konsequenzen, die die von ihm angestrebte Scheidung haben könnte, zerstreut hat, scheut selbst am meisten vor dem Gedanken der Erfüllung des Bildes vom Major als Vater des Kindes zurück. So wie im Anklang von Charlottes Kinderwunsch als Büchse der Pandora scheint sich hier die Schraube weiterzudrehen, indem es gerade die tatsächliche Wunscherfüllung ist, vor der die Figuren letztlich am meisten zurückschrecken. So führt auch das Ertrinken des Kindes nicht zum Ziel der von allen erwünschten Paarkonstellation, obwohl es die männlichen Figuren und letztlich sogar Charlotte gerade in diesem Sinn interpretieren, sondern zur Umkehr der ganzen Handlung. Eduards erste Reaktion auf das Kind wird jedoch aufgehoben, als es die Augen
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aufschlägt, und Eduard in ihnen die schwarzen Augen Ottilies sieht, so wie Ottilie selbst es bei der Taufe tut. »Du bists!« rief er aus, »deine Augen sinds.« (WV 455) Dennoch verändert das seine Haltung gegenüber dem Kind nicht wirklich. Eduard interpretiert die Ähnlichkeit des Kindes mit Ottilie mehr im Sinn der Angleichung ihrer Handschrift an die seine. Er ist bereit, die »herrlichen Augen« (vgl. WV 455) des Kindes als Ausdruck seiner Liebe zu Ottilie zu sehen – seine Schlußfolgerung ist aber die, daß er das Original bevorzugt: »Ach! aber laß mich nur in die deinigen schaun. Laß mich einen Schleier werfen über jene unselige Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab.« (WV 455) Eduard sieht das Kind als Ausdruck seines »Verbrechens«, das er nur in Ottilies Armen »abbüßen« kann, von ihm kommt an dieser Stelle auch das Wort vom »doppelten Ehbruch«, dem das Kind entstamme (vgl. WV 455). Indem er mit »diesem Wesen« noch einmal ein distanzierendes Wort wählt, zeigt sich seine Ablehnung des Kindes trotz der Ähnlichkeit mit Ottilie. Diese Ähnlichkeit, in der die Figuren je nachdem, ob sie in die Augen des Kindes schauen oder nicht, die mit dem Major oder mit Ottilie sehen (ob Charlotte eines davon sieht, wird nicht gesagt), verbleibt damit im Bereich der ambivalenten Bezüge auf das Kind, die später außerdem noch über den Tod des Knaben hinaus anhalten. Selbst die kurze Schilderung dieser Augen enthält ein Element, das zu Säuglingsaugen nicht recht passen will: »zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich« (vgl. WV 455). Die Intensität des Blickes, die hier mit »durchdringend« dem Kind zugeschrieben wird, scheint vielmehr zu den Beschreibungen von Ottilies großen, dunklen Augen und ihrer Intensität der Blicke und Gebärden zu gehören, die die letzten Kapitel bestimmen. Durch die widersprüchlichen Angaben gewinnt das Kind Züge einer Puppe, deren jeweils offene oder geschlossene Augen das Vexierspiel der Interpretationen der Figuren einleitet. Die immer wiederkehrende Thematisierung der Ähnlichkeiten des Kindes verweist damit auf dessen Rolle als Projektionsfläche. Charlotte sieht im Kind die Möglichkeit einer glücklichen Zukunft mit Eduard und nimmt es daher als »tüchtigen Knaben« (später sogar als »Wunderkind«, vgl. WV 445) wahr, bevor sie es auf den »häuslichen Altar« niederlegt. Ottilie wird für das Kind zur zweiten Mutter vor allem, weil es Eduards Sohn ist. Sie ist die »unmittelbare Pflegerin« des Kindes (vgl. WV 425), das sie stets in den Gärten mit sich herumträgt. Diese sieht sie, ähnlich wie Charlotte, mehr und mehr als die zukünftigen Besitzungen des Kindes734, sie übernimmt also die eigentlich Eduard zukommende Per734 Vgl. WV 425: »Es sollte in jener schönen Zeit der freien Luft genießen; und so trug sie es am liebsten selbst heraus, trug das schlafende, unbewußte zwischen Blumen und Blüten her, die dereinst seiner Kindheit so freundlich entgegenlachen sollten, zwischen jungen Sträuchen und Pflanzen, die mit ihm in die Höhe zu wachsen durch ihre Jugend bestimmt schienen. Wenn sie um sich her sah, so verbarg sie sich nicht, zu welchem großen, reichen Zustande das Kind geboren sei; denn fast alles, wohin das Auge blickte, sollte dereinst ihm gehören.«
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spektive auf den Erben und Nachfolger. Für Mittler schließlich ist das Kind, wie erwähnt, Zeugnis seines Erfolges als Eheberater, die Taufe der Moment seines Triumphes. Eduard und dem Major als seinen beiden Vätern jedoch ist das Kind ein Hindernis. Eduard verwendet noch einmal in der Rede, die der Anblick des Kindes bei ihm auslöst, das Wort »zeugen«, aber auch diesmal im umgekehrten Sinn: »Mag es denn gegen mich zeugen […]«; das Kind, so Eduard, soll für seinen »Fehler« stehen, es mit Charlotte gezeugt zu haben, und nicht mit Ottilie (vgl. WV 455). Eduards Zusammentreffen mit Ottilie im Park und sein Blick auf das Kind, das gegen ihn selbst zeugen soll, leiten so im Präsens gleichsam die endgültige Rückführung des Kindes an seinen Ursprungsort ein. In der ersten langen Präsensszene im 13. Kapitels des ersten Teils hatte es von Eduard geheißen: »Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles; er ist ganz in ihr versunken […]«; diese Gegenwart übt hier im 13. Kapitel des zweiten Teils wieder ihre Kraft auf ihn aus. In der ganzen Zeit seiner Abwesenheit hatte er sie sich über die möglichst naturgetreue Imagination der sich bewegenden Ottilie lebendig erhalten. Beim Wiedersehen sucht er nun im Kind die Möglichkeit eines Liebesbeweises für Ottilie, kann darüber hinaus aber nur Negatives mit der reellen Präsenz des Kindes verbinden. Den Liebesbeweis sucht Eduard in den Augen des Kindes; dessen Blick auf ihn und Ottilie fungiert so als Spiegel, in dem beide das Zeichen ihrer Zuneigung, also vor allem: einander sehen. (Dies wiederholt die von Huber beschriebene Funktion der Blickkonstellation im Werther bei der KlopstockSzene, die bei Charlottes Blick in ihr eigenes Herz wiederkehrt; im Dreiecksblick bestätigt sich also die Intensität der Zweisamkeit.) Unwillkürlich ist man außerdem daran erinnert, daß Eduard den See vor dem Treffen auf Ottilie in eben dieser Qualität wahrnimmt: »[…] dessen Spiegel er zum erstenmal vollkommen und rein erblickte« (vgl. WV 454). Der See liegt also ganz ruhig, vom selben See wissen wir, daß er schon einmal einen Knaben fast verschlungen hat, seine Ruhe wird so, ähnlich wie die des Kindes selbst, zum stetig unheilvolleren Zeichen (ein See mit spiegelblanker Oberfläche ist außerdem dem Auge undurchdringlich, d. h. er verbirgt seine Gefahren). Daß Ottilie über den See muß, um mit dem Knaben nach Hause zu kommen, ist daher ein weiterer Mosaikstein in der Logik des Untergangs. Mit der Fahrt über den See erfüllt Ottilie gleichzeitig die Bewegung des Zurück, die die unterschwellig präsenten Gedanken der Eltern des Kindes vorgezeichnet haben. Wie erwähnt, bewegt sich Ottilie von den Eichen auf die Platanen zu. Der Platz Die Stelle zeichnet das Kind als tatsächlichen Erben Eduards und seiner Besitzverhältnisse; die Ingredienzien der Kindheit des Knaben bestehen im Anklang an Eduards Pflanzung der Platanen aus den mit ihm wachsenden Sträuchern und dem Reichtum an Grundbesitz, dessen Begrenzung bzw. Nicht-Begrenzung mit »wohin das Auge blickte« einmal mehr mit der Grundformel Sehen = Haben unterlegt wird, die Eduard so sehr bestimmt.
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unter den Platanen war nicht nur der Schauplatz der Entfremdung des Ehepaars beim Feuerwerk, sondern die Bäume sind, wie gezeigt, mit Ottilie als deren »Geburtsort« verbunden. So kommen nun gleichsam die »reellen« wie die Kopfgeburten des Ehepaars am selben Ort zusammen, um am selben Ort unterzugehen und sozusagen in sich selbst zurückzukehren. Das Kind als Gedankenschöpfung Charlottes und Eduards, der es im Gedanken an Ottilie gezeugt hat, ertrinkt im See als der anderen gemeinsamen Schöpfung des Ehepaares, dessen Aktivitäten und Rollen von diesen drei Elementen: der Parkgestaltung, dem See und dem Kind als einander fort- und ersetzende und allesamt zwiespältige Projektionsflächen (Vorentwürfe im wahrsten Sinn des Wortes) umrissen sind. Das Phantasma des Kindes kehrt so zurück in den künstlichen Kosmos der Ideen und Weltschöpfungen, den sich seine Eltern in der Abgeschiedenheit des Landguts – und der Ehe – geschaffen haben. Ottilie fungiert in diesem Sinn in der Identifikation mit Eduards Wunschzielen tatsächlich als die ferngesteuerte Mörderin, als die sie in der Sekundärliteratur beschrieben wird; ihr Tod kann aber dabei ähnlich wie der des Kindes als Untergehen in den divergierenden Wünschen der Eltern gesehen werden. Wie das Kind fällt Ottilie gleichsam in den Spalt, der sich zwischen den Vorhaben Charlottes und jenen Eduards auftut. Eduards teilweise Stilisierung zu Ottilies Vater korrespondiert damit der Konstellation, daß Charlotte Ottilies Pflegemutter ist; Giovanni Sampaolos Interpretation der Wahlverwandtschaften als Kritik am modernen Drang zur (umgehenden) Wunscherfüllung folgend, kann man außerdem in dieser Dreiecksgeschichte auch den Egoismus und die Andere opfernde Selbstzentriertheit eines (müßiggehenden) Ehepaars schlechthin sehen, für das Außenstehende, zumal die wie der Hauptmann vom Wohlwollen des Paares abhängige Ottilie (die entsprechenden Vermögensverhältnisse wurden im Umkreis der kurzen Präsensszene des Gehülfen deutlich geschildert) lediglich als Garanten ihres eigenen Wohlbefindens fungieren. Die parallelen Züge zwischen Ottilie und dem Kind werden in den letzten Präsenspassagen jedenfalls noch weiter ausgebaut. Herzen II Vom Einsatz des szenischen Präsens an, der Charlottes Müdigkeit als Zeichen der Empfängnis begleitet, ist also die Handlung der Präsenspassagen mit dem Thema des Kindes und dessen fataler Rolle als Spielball der Projektionen der Figuren verbunden. Das andere große Thema der Präsensszenen im ersten Teil des Romans ist der Blick ins Innere der Figuren, der deren von Emotionen geleitetes Wunschdenken zeigt und ihre Reflexionen und Wahrnehmungen als Elemente des Tragödienverlaufs entdeckt, die handlungshemmend wirken und Versäumnisse zur Folge haben oder negative Handlungsprozesse in Gang setzen
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und beschleunigen. Dies ist immer wieder verbunden mit einer Technik der Blickregie, die die Wahrnehmungen der Figuren nachzeichnet und sie nicht zuletzt als Reaktionen auf bestimmte Reize darstellt. Im zweiten Teil der Wahlverwandtschaften spiegeln die Präsenspassagen diese Motive des ersten Teils, stellen aber nun die äußeren Folgen der zuvor etablierten Problematik der individuellen Interpretationsprozesse dar. Das szenische Präsens kennzeichnet daher in den Schlußkapiteln des zweiten Teils die Auswirkungen der dramatischen Konstellation und stellt diese in längeren Szenen dar. Das Präsens wird dieserart am Schluß des Romans teilweise zum alternativen Erzähltempus, vor allem der Höhepunkt der Handlung im 13. und 14. Kapitel und die sich daraus ergebenden Konsequenzen werden in langen Präsenspassagen geschildert. Diese Passagen sind daher stark bühnenhaft und bewirken außerdem eine Raffung und Beschleunigung der Handlung hin zum Tod des im zweiten Teil zentralen Paares Eduard und Ottilie. Wahrnehmung und Blickregie beherrschen so weiterhin die Szene des Zusammentreffens zwischen Eduard und Ottilie am See. Nach der Rede, die der Anblick des Kindes in Eduard auslöst und die einem Ehebruchsgeständnis an Ottilie gleichkommt, »glaubte« Eduard einen Schuß zu hören und denkt, es könnte das Zeichen des Majors sein. Ottilie sieht, daß die Sonne »[…] sich hinter die Berge gesenkt hatte. Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebäudes zurück.« (WV 455) Das wird für Ottilie das Signal zum Aufbruch, sie bittet Eduard, sich zu entfernen, um in Ruhe den Ausgang der Verhandlungen des Majors abzuwarten. Jetzt ist auch sie von Eduards Ungeduld angesteckt: »Ottilie sprach in Hast«; sie trennen sich »gewaltsam und schmerzlich« (vgl. WV 456)735. Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte schon und duftete feucht um den See. Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem Berghause hinüber und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu sehen. Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens ungeduldiges Harren nach dem Kinde. Die Platanen sieht sie gegen sich über, nur ein Wasserraum trennt sie von dem Pfade, der sogleich zu dem Gebäude hinaufführt. Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen. Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen, verschwindet in diesem Drange. Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht, daß ihr Herz pocht, daß ihre Füße schwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohn. Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab. Sie muß Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewärts. Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn. Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen. Die 735 Zur Hast als Zeichen Eduards vgl. Benno von Wiese, Kommentar HA, Bd. 6, S. 698.
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freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingts, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen. In dem Augenblicke kehrt ihre ganze Besonnenheit zurück, aber um desto größer ist ihr Schmerz. Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern, sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte es ihr geholfen, jemanden zu sehen! Von allem abgesondert, schwebt sie auf dem treulosen, unzugänglichen Elemente. Sie sucht Hülfe bei sich selbst. So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört. Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es erlebt. Sie entkleidet das Kind und trocknets mit ihrem Musselingewand. Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach! und kein Lebendiges. Die kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälten ihren Busen bis ins innerste Herz. Unendliche Tränen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberfläche des Erstarrten einen Schein von Wärme und Leben. Sie läßt nicht nach, sie überhüllt es mit ihrem Schal, und durch Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen glaubt sie jene Hülfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt sind. Alles vergebens! Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der Kahn auf der Wasserfläche; aber auch hier läßt ihr schönes Gemüt sie nicht hülflos. Sie wendet sich nach oben. Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an Kälte dem Marmor gleicht. Mit feuchtem Blick sieht sie empor und rüft Hülfe von daher, wo ein zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt. Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln hervorzublinken anfangen. Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach den Platanen. (WV 456ff.)
Mit Ottilies Wahrnehmungen wird die Szene eingeleitet; wie vorher Eduard den Schuß zu hören »glaubte«, »glaubte« nun Ottilie, Charlottes weißes Kleid zu sehen. Das Präsens setzt mit Ottilies Sicht auf die Platanen ein, die auf sie eine magische Anziehungskraft auszuüben beginnen: »Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen.« Der See wird als »Wasserraum« bezeichnet, als ob Ottilie einen Weg auf festem Untergrund vor sich hätte. Die Kraft ihrer Vorstellung verkürzt außerdem diesen Weg, Wahrnehmung und Wunsch werden eins: »Gedanken« und »Augen« sind gleich schnell. Ottilies Wahrnehmung verengt sich ähnlich wie die Eduards, der Wunsch trübt ihre Sicht und wird hier zu einem »Drange«, der sie jede Vorsicht vergessen läßt. Nicht nur die »Bedenklichkeit« des Unternehmens versinkt darüber für Ottilie, sie wird auch taub für ihre Körperwahrnehmungen: sie »fühlt nicht« das pochende Herz, das Schwanken ihrer Füße, die versagenden Sinne. Auch auf Ottilie wirkt sich der Ausbruch der Gefühle als Störung der Wahrnehmungsfähigkeit aus – Peter von Matt verweist darauf, daß der Moment direkt vor dem Ertrinken des Kindes Ottilie mit Eduard »glücklich« zeige und dieses am Horizont auftauchende
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Glück sie unbewußt das Kind als störendes Element beseitigen lasse736. Dieses Motiv steht damit auch hier als Auslöser der finalen Katastrophe am Beginn der Szene, so wie im ersten Teil in Eduards Gefühlsausbruch ein die Sinne verdunkelndes Untergangsszenario entworfen wird. Wie ausgeführt, kann man Eduard selbst als dessen erstes Opfer sehen, hier in der Szene des Kindstods fällt das Wort, das das Bild gleichsam abschließt und ergänzt: »alles ins Wasser«. Ottilie entgleiten »Kind und Buch«, die sie am selben Arm hält. Beide stehen für die Tagträume und Illusionen, denen sich Ottilie während Eduards Abwesenheit zugewandt hat. Die Parallelisierung von Kind und Buch, von Lesen und Nähren, zeichnet von der Geburt des Kindes an Ottilies Beziehung zu ihm. Die Scheinwelt, in die sie sich mehr und mehr zurückzieht, ist es auch, die ihren Aufbruch verzögert hatte: »Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder loslassen.« (WV 454) sagt der Erzählerkommentar kurz vorher. Mit dem Kind ertrinkt also auch das Buch, in der Szene scheinen beide wie bloße Objekte genannt. Als das wahre Paradox erscheint aber, wie wir bei 736 Vgl. Von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 296f. Von Matt stellt die Szene der vom Begleiter des englischen Lords festgestellten Geschicklichkeit Ottilies beim Rudern gegenüber und sieht in diesem ausdrücklichen Hinweis den Schlüssel zur unbewußten Tat, die Ottilie unter dem Einfluß der Fremdsteuerung durch Eduard begeht (im Text heißt es »Sie war glücklich in Eduards Nähe […]«). Eduard selbst sei aber kein dämonisch bewußter Steuernder, sondern unterliege hier in der Szene der ersten leidenschaftlichen Umarmung, die Ottilie erwidert, ebenso der Wirkung der magnetischen Schließung wie sie, für von Matt »die langersehnte Besiegelung des seelischen Einsseins«. So begehen für ihn beide die Tat zusammen. Von Matt stellt Eduards Antwort auf Ottilies Bitte, im Dorf die Entwicklung abzuwarten, heraus: »Und wenn genau jetzt, wo eines so ganz nur denkt und fühlt wie das andere, der Satz fällt: »Ich gehorche deinen Befehlen«, hat das den furchtbar ominösen Klang, den man beim zweiten, dritten Lesen des Romans immer schallender aus hundert Sätzen vernimmt. Er wie sie und sie wie er, und eines gehorcht dem andern. So kommt das Kind zu Tode. So geschieht im neuen Paradies der erste Mord.« Ebda., S. 297. Die – vermutlich erste – psychoanalytische Deutung der Wahlverwandtschaften sieht in Ottilies »verhängnisvolle[r] Zufallshandlung« außerdem die Möglichkeit einer zweiten »Wunschregung«, die jene der Beseitigung des Kindes ergänze: »Wir denken daran, daß ein Kind ins Wasser werfen der Gegensatz davon ist, ein Kind aus dem Wasser zu holen, oder retten: daß also Ottiliens Handlung in symbolischer Weise eine u m g e k e h r t e R e t t u n g s p h a n t a s i e darstellen könnte. Nun lautet die Deutung der entsprechenden Rettungsphantasie durch F r e u d also, daß, wenn eine Frau im Traume ein Kind aus dem Wasser rettet, bekennt sie sich damit als seine Mutter. Die u m g e k e h r t e Darstellung dieses Wunsches mit demselben symbolisch-assoziativen Mittel (ins Wasser stürzen usw.) ist aber in Träumen – deren Mechanismus mit dem der Dichtungen eine kaum mehr anzweifelbare Verwandtschaft aufweist – nicht weniger häufig. Somit könnten wir meinen, daß die Handlung Ottiliens zugleich ihren Wunsch zum Ausdruck bringt, sich selbst ein Kind vom geliebten Manne zu schaffen. Das Kind wäre demnach in ihrem Unbewußten ihr eigenes, das sie aus dem Wasser rettet, d. h. zur Welt bringt.« J. H#rnik, Psychoanalytisches aus und über Goethes »Wahlverwandtschaften«, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Herausgegeben von Prof. Dr. Sigmund Freud, Redigiert von Otto Rank und Dr. Hanns Sachs, Hugo Heller & Cie., Leipzig und Wien, 1. Jahrgang, Heft 1, März 1912, S. 507–518, hier S. 516f.
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Friedrich Kittler gesehen haben (siehe III. 4.2.7.), daß Ottilie das Buch unbedingt mitnehmen und in der Hand halten muß, während sie das Kind trägt und mit ihm in das Boot steigt737. Ottilies Schwanken deutet zurück zu jenem von Charlotte in der Szene ihrer Herzensschau im ersten Teil, wo es von dieser heißt »die Erinnerung ihres eignen Schwankens steht ihr im Wege« (vgl. WV 331). Dieses Mal setzt es sich erdbebenartig fort, von Ottilies Beinen überträgt es sich auf den Kahn und schließlich wieder zurück auf Ottilie. Auch das Motiv des Ergreifens kehrt hier wieder, Ottilie »ergreift« das Ruder, es ist aber kaum vorstellbar, wie sie mit Kind und Buch ins Boot »springt« und das Ruder gleichzeitig greifen kann. Dieses hat ähnlich wie das Boot ein Eigenleben, aktivisch »entfährt« es ihr, nachher »schwimmt« es fern738. Überhaupt tritt Ottilie ganz aus ihrer sonst so oft betonten körperlichen Anmut und Wendigkeit heraus, so sehen wir sie im Kahn gleichsam mit den Objekten der Dingwelt kämpfen, die ihr alle entgleiten oder sie behindern. Daß sie zu beiden Seiten etwas verliert, zeigt Ottilie gleichsam als zerrissen vom Gefühlsaufruhr, in den sie das Zusammentreffen mit Eduard gestürzt hat. Sie schwankt zwischen den Gefühlen für ihn und der Verpflichtung gegenüber Charlotte (entsprechend meiner obigen Interpretation also zwischen Vater und Mutter). Das Ergreifen (das die Figuren sonst von außen erfaßt) ist Ottilie auch nicht mehr möglich. Im zweiten »ergreift« faßt sie schon nur mehr das Gewand des Knaben, aber es nützt nichts mehr. Die Augen des Kindes, die vorher Eduards Liebesbeteuerung ausgelöst haben, sind schon geschlossen. Dieses Zeichen will Ottilie nicht wahrhaben, an die geschlossenen Augen des Kindes schließt der Beginn des nächsten Absatzes mit dem »Augenblick« von Ottilies Verzweiflung an. Kurzfristig gibt es Hoffnung, vor dem Hintergrund der getrübten Sinne Ottilies und der zunehmenden Dunkelheit (»es dämmerte schon«) kehrt Ottilies »ganze Besonnenheit zurück«739. Auch jetzt sucht sie zuerst mit den Augen nach Hilfe, doch sie »erblickt niemanden am Ufer«. Während 737 Zu den komplexen ikonographischen Bezügen, die in Ottilie als »Penserosa« zusammenlaufen, vgl. Gerhard Neumann, Bild und Schrift. Zu Goethes »Wahlverwandtschaften«, in: Freiburger Universitätsblätter, Herausgegeben im Auftrag des Rektors der Albert-LudwigsUniversität Freiburg, 28. Jahrgang, Heft 103, März 1989, S. 119–128. 738 Mart&nez verweist auf den numinosen Charakter nicht nur des Kahns, sondern auch der Ruder, von denen nun nur mehr eines genannt wird, während vorher stets zwei Ruder erwähnt werden. Mart&nez übernimmt hier einen Ausdruck Walther Killys, der in bezug auf diese augenfällig widersprüchlichen Informationen im Text von der »Dämonie des Details« spricht, vgl. Mat&as Mart&nez, Doppelte Welten – Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, S. 54f. 739 Die Sonne wird Ottilie mehrmals zugeordnet, als Gegensatz zu Eduards Beziehung zum Mond, vgl. besonders die am Beginn von IV. 2. angeführte Stelle, in der Ottilie in der neu ausgestalteten Kapelle umhergeht und dabei die Lichteffekte der farbigen Glasfenster studiert (vgl. WV 373f.): »[…] und nur als die Sonne das bisher lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst und eilte nach dem Schlosse.« (WV 374)
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sie vorher nur die Platanen gesehen hat, schaut sie nun umher, doch wird sie dadurch erst ihrer Einsamkeit gewahr. Es ist eine umfassende, unwirkliche Einsamkeit, sie »schwebt« auf dem Wasser als dem »treulosen […] Elemente«, das damit ziemlich genau die Mitte der Präsenspassage bezeichnet. Der »Wasserraum«, als der es vorher erschienen war, erweist sich nun als »unzugänglich«. Während das Wasser in der Novelle als tragendes, »freundliches Element« beschrieben worden war, verlassen nun Ottilie in ihrer Zerrissenheit ihre Ruderkünste und sie ist der ganzen Willkür der Naturmacht ausgeliefert. Das vermenschlichte »treulose« Element des Wassers in der Mitte der Szene kennzeichnet Ottilies inneren Zwiespalt und den Abgrund aus Schuldgefühlen, um den sie innerlich kreist. Er ist das Dilemma, aus dem Ottilie keinen Ausweg findet, und in das sie der Tod des Kindes, den sich alle anderen später als mögliche Lösung imaginieren, reißt. Am Ende der Szene ist ihre Brust so kalt wie die des Kindes; das Wort, das hier das Kind am häufigsten beschreibt, das »Erstarren«, kehrt bei Ottilies eigenem Tod wieder. Ottilies verzweifelter Kampf ist so schon der um ihre eigene Existenz (im Sinne der Rollen-Logik der Figuren auch der um ihre Rolle; Ottilie hat als einzige der Figuren keine feste Rolle: diese wird im ganzen Roman gesucht; der Hauptmann ist als Militär in dieser Hinsicht definiert, Ottilies Abhängigkeit vom Wohlwollen der anderen ist dagegen wie die des Kindes umfassend). Noch versucht sie aber, dem »Erstarren« entgegenzuwirken. So folgt Ottilies hilfesuchendem Blick nach Menschen am Ufer wieder eine Umkehrbewegung, sie sucht Hilfe »bei sich selbst«. Doch wie im 13. Kapitel des ersten Teils Charlottes Blick in ihr Herz ihr Schwanken bedingt hat, ist auch jetzt bei Ottilie genau dies der problematischste Ort. Zweimal wird ihr Herz genannt, zuerst das »innerste Herz«, dann ist ihr »zartes Herz« das Organ, mit dem sie um Hilfe von oben ruft. Jeweils zweimal werden auch ihre »Brust« und ihr »Busen« genannt, doch haben die »kalten Glieder« des toten Kindes die Kraft, sie bis ins Innerste zu »verkälten«. So bleibt die knieende und flehende Ottilie zum Schluß als Statue übrig, ihre »unschuldige Brust« gleicht »an Weiße und leider auch an Kälte« dem Marmor. Das anteilnehmende »leider« des Erzählers verbindet die Szene mit der Nacht der Zeugung, an der die Herzen von Eduard und Charlotte »leider« keinen Anteil haben (vgl. WV 321). Ottilie erstarrt zur Bildsäule, das Bild bezeichnet den Moment, an dem der Konflikt ihres Herzens nicht mehr zu lösen ist, umso mehr, wenn man Ottilie in ihrer Situation als abhängiges Mündel des Ehepaars Eduard und Charlotte sieht. Ottilies Pech ist in diesem Sinn, daß sie die Aufmerksamkeit des Plutokraten Eduard erregt, aufgrund ihres Standes aber keinerlei Möglichkeit hat, seinem (und ihrem eigenen) Begehren selbstbewußt zu begegnen. Ihre Gefühle sind überdies natürlich moralisch an ihre Ziehmutter Charlotte gebunden, der Erfolg ihrer dementsprechenden Erziehung wird in den Briefen des Gehülfen ausführlich geschildert, die Figur der Ottilie als Inbegriff
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von Moralität wurde schon geschildert. Ottilies Herz ist so das verwundbarste Herz aller Figuren. Liest man außerdem Ottilie und das Kind insofern als Parallelfiguren, als beide den ständigen Projektionen der anderen Figuren ausgesetzt sind, ist es überdies Ottilies Kampf gegen die Erstarrung im Bild, der hier geschildert wird und zu der das Kind gleichsam von Anfang an verdammt ist. (Ottilie als Projektion erfährt also schon hier ihren Höhepunkt, dem ihr Verstummen bis zu ihrem Tod und ihre Verwandlung in eine Legendenfigur danach als graduelle Schritte folgen. Die sich verkältende Brust Ottilies ist so auch der Vorgang, durch den Ottilie im Moment der Verzweiflung gleichsam als Märtyrerin irdischer Schuldverstrickung verewigt wird.740) Ihr »schönes Gemüt«, wie der nächste Absatz sagt, schützt also Ottilie nicht davor, als Spielball der Wunschideen unterzugehen, dies zeichnet das Bild ihrer vakuumartigen Einsamkeit, in der auch die Elemente seltsam still bleiben. Denn selbst die Antwort der Naturelemente ist zwiespältig: der »sanfte« Wind, der schließlich aufkommt, treibt Ottilie zu den Platanen, und damit zu dem Ort, wo sie das erste Mal schuldig wurde, indem sie Eduards Drängen, mit ihm das Feuerwerk zu genießen, nachgab, anstatt Charlotte nach Hause zu folgen. Der erste Teil der Präsenspassage beschreibt die Ursache und den Verlauf des Ertrinkens des Kindes, der zweite Teil ist ganz Ottilies Schmerz und vor allem ihrer Weigerung gewidmet, zu glauben, was sie sieht. Das Bild von Ottilie hält also den Moment größter Not und Verzweiflung fest und ist durch das Präsens zugleich statisch und dynamisch. Letzteres bedingt sich durch die starke Handlungsbetontheit der ganzen Szene, der ausgeprägte Verbalstil nützt die dynamisierende Komponente des Präsens aus. Dieser wird unterstützt von einer Reihe von Wortwiederholungen und Gegensatzpaaren, die die Szene zusätzlich rhythmisieren. Die Wiederholung von »Lebendiges« in der Negation »ach! und kein Lebendiges« faßt die Zweierrhythmen, die vor allem den vierten Absatz bestimmen, am prägnantesten. Neben den genannten Elementen der Kälte und des Bezugs auf Ottilies Brust, der das Zentrum der dramatischen Handlung am 740 Zur Art von Ottilies Schuld vgl. den Stellenkommentar der HA, Bd. 6, S. 739: »Hankamer vergleicht die Verschuldung der Ottilie mit der Paria-Legende […], noch jenseits aller menschlich-sittlichen Ordnungsbegriffe: «Verführung von oben«. Daher können Ottilie und die Brahmanin als besondre und reinste Naturen »nicht mehr in ihre Menschlichkeit zurück«. Vgl. auch die Deutung bei Kurt May […]: »… erschreckend ist die Erkenntnis, daß hier ein Zwiespalt aufklafft, von göttlichem Leben und von göttlichem Geist und Willen. Denn es wird ja die Liebe Ottiliens […] zum Grund ihres ›Verbrechens‹. Hier steht nicht ein sündiger Mensch gegen das göttliche Gesetz, sondern: deus contra deum, wie einst Prometheus gegen Jupiter […]. Es gibt hier … nicht wie in so vielen Goethischen Dichtungen eine Läuterung. Nicht geläutert wird das Dämonische in Ottilien, vielmehr ausgetilgt mit ihrem Leben aus der Welt. Im christlichen Märtyrerdrama wird der sündige, von Gott abgefallene Mensch von seinen Leidenschaften gereinigt. Hier dagegen ist die Spannung so viel heftiger und schmerzlicher. Denn in der notwendigen Erhebung über die Naturgewalt der Leidenschaft wird das Leben in ›seliger Notwendigkeit‹ vernichtet.« [Kursivierung i.O.]
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deutlichsten bezeichnet, fallen etliche Vokabeln zweimal, so etwa »Augen«, »Tränen«, »Hülfe« (außerdem »Hülfsmittel« und »nicht hülflos«), und »ohne Bewegung«. Ähnlich korrespondieren »abgesondert« und »Abgeschnittenheit«, »des Erstarrten« und »das erstarrte Kind«, »nach oben« und »empor«. Einen Zweierrhythmus zeigen auch einige Verbalpaare: »Sie entkleidet das Kind und trocknets«, »Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn«, »Tränen entquellen ihren Augen und erteilen […]«, »liegt das Kind […] steht der Kahn«. Diese syntaktische wie lexikalische Durchgestaltung trägt stark zur äußeren Dynamisierung der Handlung bei. Doch so wie das »Lebendige« gleich negiert wird, überwiegen die Nennungen der Kälte und Starre, und auch »Wärme und Leben« sind nur ein »Schein«. Ottilie sucht die »größte Fülle«, wenn es antithetisch »überall mangelt«. So verweist die Handlungs- und sprachliche Vielfalt der Szene selbst zuletzt am meisten auf die Vergeblichkeit von Ottilies Bemühungen und die Kette von »Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen« bestätigt das Bild, das zugrunde liegt, nämlich daß Ottilie nicht wahrhaben will, was sie sieht, und daß alle Aktion ihr Gegenteil herausstreicht. Nicht zufällig ist von der »Oberfläche« des schon erstarrten Kindes die Rede. Auf diese Weise bezeichnet die äußere Unruhe umso stärker den Stillstand, der schon eingetreten ist. Der Formel »alles ins Wasser« steht schließlich »Alles vergebens!« gegenüber. Der Versuch der Wiederbelebung des Kindes ist so geprägt von Ottilies Verzweiflung, der sie Handlung entgegenzusetzen versucht. Die Bewegung ihrer Blicke zeichnet dabei ihre innere Bewegung nach. Da der Blick ans Ufer keine Hilfe verspricht, bleibt ihr nur die Blickrichtung in ihr »schönes Gemüt« und zuletzt die stumme Bitte um Hilfe »von oben«. Diesem Dialog mit den Mächten und dem Himmel, den Ottilie führt, unterliegt stark die Stimmung der Szene, in der Charlotte nach dem Unglück bei den Platanen Eduard um Hilfe bittet. Die Sprechakte Ottilies hier sind innere, stumme: »Sie wendet sich nach oben.« und machen ihre Blicke und Gesten zu Worten: »Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hülfe«. Die Thematisierung der Wahrnehmungen Ottilies durchzieht die Präsenspassage von ihrer anfänglichen Fixierung auf die Platanen über ihr hilfesuchendes Umhersehen bis zu den Maßnahmen, mit denen sie das Kind beleben zu können »glaubt«. Am Ende stehen ihre hochaufgeladenen Blicke zum Himmel, wo sie Hilfe »zu finden hofft«. Die Bewegungen ihres »schönen Gemüts« und die der Blicke gehen ineinander über und erhöhen so den Eindruck der heftigen Emotionen Ottilies. Dem steht gleichsam als Gegenströmung das Bild ihrer kalten Marmorbrust gegenüber, das nicht zuletzt auf die Elemente von Gefühlskälte verweist, die sich immer wieder in den Bezügen der Figuren auf das Kind finden. So erweist sich auch die Hilfe der Naturmacht als blindes Motiv bzw. steht als Trugschluß am Ende. Die Sterne, die nun einzeln »hervorblinken«, korrespondieren der Sonne, die in der Szene am Seeufer in den Fenstern des Hauses auf der Höhe »blinkte« und Ottilie an ihre Untreue Charlotte gegenüber
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erinnern. Sie war für Ottilie das Aufbruchssignal. Die freundlich blinkenden Sterne dagegen können den weiteren Prozess nur begleiten, nicht aufhalten. Die Sprache der Natur erscheint so als gleichmütig bzw. spiegelt lediglich das in sie gesetzte Vertrauen. Als Ottilies Ziel stehen die Platanen am Schluß der Szene, die auch das Ende des 13. Kapitels ist. Die Präsensszene wird also genauestens von der Nennung der Bäume eingerahmt, und zwar bemerkenswerterweise in Form einer Satzklammer, die über die ganze Szene reicht und diese buchstäblich umschließt. So hieß es zuvor in Objektvoranstellung »Die Platanen sieht sie gegen sich über […]«, am Ende erhebt sich der sanfte Wind »und treibt den Kahn nach den Platanen.« Verwandlung I Das szenische Präsens ist auch das Erzähltempus des Beginns des 14. Kapitels. Dieser zeigt Ottilie weiterhin mit dem Versuch der Rettung des Kindes beschäftigt. Ähnlich wie sie reagieren die anderen hinzukommenden Figuren. Die äußere Tätigkeit drückt weiter die Verzweiflung und Weigerung aller aus, den Tod des Kindes wahrhaben zu wollen. Jene Figur, die beim Unfall vor dem Feuerwerk die Funktion hatte, Charlottes Ermahnung Eduards zu verkörpern, tritt nun als hilfloser Helfer auf: der Chirurgus. Sie eilt nach dem neuen Gebäude, sie ruft den Chirurgus hervor, sie übergibt ihm das Kind. Der auf alles gefaßte Mann behandelt den zarten Leichnam stufenweise nach gewohnter Art. Ottilie steht ihm in allem bei; sie schafft, sie bringt, sie sorgt, zwar wie in einer andern Welt wandelnd, denn das höchste Unglück wie das höchste Glück verändert die Ansicht aller Gegenstände; und nur, als nach allen durchgegangenen Versuchen der wackere Mann den Kopf schüttelt, auf ihre hoffnungsvollen Fragen erst schweigend, dann mit einem leisen Nein antwortet, verläßt sie das Schlafzimmer Charlottens, worin dies alles geschehen, und kaum hat sie das Wohnzimmer betreten, so fällt sie, ohne den Sofa erreichen zu können, erschöpft aufs Angesicht über den Teppich hin. Eben hört man Charlotten vorfahren. Der Chirurg bittet die Umstehenden dringend, zurückzubleiben, er will ihr entgegen, sie vorbereiten; aber schon betritt sie ihr Zimmer. Sie findet Ottilien an der Erde, und ein Mädchen des Hauses stürzt ihr mit Geschrei und Weinen entgegen. Der Chirurg tritt herein, und sie erfährt alles auf einmal. Wie sollte sie aber jede Hoffnung mit einmal aufgeben! Der erfahrne, kunstreiche, kluge Mann bittet sie nur, das Kind nicht zu sehen; er entfernt sich, sie mit neuen Anstalten zu täuschen. Sie hat sich auf ihren Sofa gesetzt, Ottilie liegt noch an der Erde, aber an der Freundin Kniee herangehoben, über die ihr schönes Haupt hingesenkt ist. Der ärztliche Freund geht ab und zu; er scheint sich um das Kind zu bemühen, er bemüht sich um die Frauen. So kommt die Mitternacht herbei, die Totenstille wird immer tiefer. Charlotte verbirgt sichs nicht mehr, daß das Kind nie wieder ins Leben zurückkehre; sie verlangt es zu sehen. Man hat es in warme wollne Tücher reinlich eingehüllt, in einen Korb gelegt, den man neben sie auf den Sofa setzt; nur das Gesichtchen ist frei; ruhig und schön liegt es da.
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Von dem Unfall war das Dorf bald erregt worden und die Kunde sogleich bis nach dem Gasthof erschollen. (WV 458f.)
Das Vergehen der Hoffnung ist der Inhalt dieser Passage. Ottilies »hoffnungsvollen Fragen« kann der Chirurg nichts erwidern als das Nein, auf das sie zusammenbricht. So wie im Kahn fällt sie nun zu Boden und in einen »halben Totenschlafe«, wie es Charlotte später nennt (vgl. WV 460). Der Effekt des Geschehenen auf Ottilie wird wiederum als Frage der Wahrnehmung thematisiert: »das höchste Unglück wie das höchste Glück verändert die Ansicht aller Gegenstände«. Gleichzeitig bezeichnet der Satz den Wendepunkt, der mit dem Tod des Kindes eintritt, vom »höchstem Glück« zum »größten Unglück«. Liest man »wie in einer andern Welt wandelnd« als Rückbezug auf Ottilies Maxime: »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen« (vgl. WV 416), deren zweiter Teil die veränderten Gesinnungen unter anderen Lebensumständen (»in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zuhause sind«) reflektiert, erweist sich Ottilie hier als die Gestrafte, deren Wahrnehmung von nun an anderen Bedingungen unterliegt. Der Kern von Ottilies Wandlung, die alles weitere bestimmt, ist somit hier schon angegeben, diese begründet sich einmal mehr als Frage der individuellen Sicht. Wahrnehmung und Interpretation, so bezeichnet die Stelle, ist abhängig von Erfahrung. Noch einmal möchte ich auf Blanckenburgs Forderung der psychologischen Charakterzeichnung im Roman hinweisen, nach der es »nicht allein auf die, auf uns wirkende Ursache« ankommt, sondern auf die Schilderung der psychischen und physischen Verfassung anhand eines Gesamtbildes von Einflüssen. Für Blanckenburg macht nur diese detaillierte Darstellung die Entscheidungen einer Figur plausibel, für ihn kommt es »auf den damaligen Zustand unserer Gemüthsfassung, und auf tausend Kleinigkeiten mehr, die alle zusammen kommen müssen, wenn eine gewisse Wirkung erfolgen soll«741. Die verbzentrierte Darstellungsweise überwiegt auch hier, der zweite Absatz zeigt überdies ein ähnliches Prinzip der Wiederholung wie die Schlußszene des 13. Kapitels davor. Der Chirurg »bittet« zweimal, die Figuren betreten den Raum wie eine Bühne, Charlotte »betritt« ihr Zimmer, der Chirurg »tritt herein«. Als Überbringer der Botschaft fungiert er hier vor allem als Lenker der Wahrnehmungsprozesse: »um sie mit neuen Anstalten zu täuschen«. »Hoffnung« ist so auch Charlottes erste Reaktion auf die über sie hereinbrechende Botschaft, sie erfährt »alles auf einmal«, kann aber »mit einmal« die Hoffnung nicht aufgeben. So umspannt die Szene den Bewußtwerdungsprozeß, den zuerst Ottilie und dann Charlotte durchmachen; die Bewegungen und Bemühungen des Arztes, er »geht ab und zu«, stehen für den inneren Kampf, den die Figuren durchleben. Charlotte treibt diesen Prozeß voran, indem sie das Kind zu sehen verlangt. Dies 741 Vgl. Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 261.
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stellt sie am Ende der Szene der Bitte des Arztes, das Kind nicht anzuschauen, entgegen: »Charlotte verbirgt sichs nicht mehr«. Der Anblick des Knaben scheint freilich dessen Rolle von vorher zu perpetuieren: »ruhig und schön« liegt das ertrunkene Kind da (allerdings ist das tote Kind also »schön«). Die nächste Reaktion auf den Anblick des Kindes folgt. Der Major, der schon alles erfahren hat, kommt noch in derselben Nacht zu den Frauen, sein Eintreffen schließt direkt an die Präsensszene an. Charlotte zeigt ihm das Kind, die Umstände, unter denen er es zum ersten Mal sieht, werden durch Licht- und Farbverhältnisse bezeichnet: »Sie hub die grünseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bei dem dunklen Schein einer Kerze erblickte er nicht ohne geheimes Grausen sein erstarrtes Ebenbild.« (WV 459) Mit diesem letzten Eindruck des (grünlich beleuchteten) toten Kindes schließt sich die Kette der ambivalenten Bezüge auf das Kind, selbst der beherrschte Major erschrickt bei seinem Anblick. Die Reaktionen der Figuren auf den Tod des Kindes sind auf seiten der Männer denkbar pragmatisch. Charlotte beschließt in der langen Nacht der Überlegung, in die Scheidung einzuwilligen. Sie interpretiert den Tod des Kindes als von ihr selbst mitverschuldet: »[…] durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getötet. Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt.« (WV 460) Sie sieht sich nun als Weichenstellerin für das weitere Geschehen. Mit dem Argument, daß »Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige« gegen das Schicksal nichts vermögen (vgl. WV 460), sieht sie nun ihre Aufgabe darin, Eduard und Ottilie glücklich zu machen. Charlotte kehrt damit in ihrer auf Handlung und Sorge bedachten Argumentation zu ihrer Rolle als Pflegemutter Ottilies zurück. Der Schluß ihrer Rede an den Major, der als Abgesandter Eduards gekommen ist, enthält schon jene Interpretation, die auch die männlichen Figuren dem Tod des Kindes geben: »Wie soll sie [Ottilie] leben, wie soll sie sich trösten, wenn sie nicht hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat? Und sie kann ihm alles wiedergeben nach der Neigung, nach der Leidenschaft, mit der sie ihn liebt. Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch mehr, alles zu ersetzen. An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden.« (WV 460f.)
Im Sinne ihrer Rolle und Charakterlogik gedacht, stirbt für Charlotte mit dem Kind das Objekt ihrer Illusionen und Fixierungen (ähnlich wie Ottilie »Kind und Buch« versenkt). Ihre Reaktion als prototypische Mutter ist wie eine Suche nach Ersatz: sie sieht Ottilie nicht nur sofort als Eduards neue Gattin, sondern auch beide schon mit einem neuen Kind. Auch der Major kehrt zurück in eine frühere Rolle. Er betont zwar, daß der »Fall«, in dem er Charlotte findet, so »ungeheuer« ist, daß seine Botschaft ihren Wert verliere (vgl. WV 460), nichtsdestotrotz führt er unverzüglich seinen Auftrag aus, als Eduards Abgesandter in Sachen Schei-
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dung zu fungieren. So stellt der Tod des Kindes in der tatsächlichen Reaktion der Figuren eigentlich keinen Hinderungsgrund für ihre Vorsätze und Vorhaben dar, sondern scheint vielmehr ein weiterhin paradox wirkendes Element in der Logik der Beschleunigung zu sein. Noch in derselben nächtlichen Unterredung mit Charlotte stellt ihr daher der Major zum Abschied die Frage, was er »für sich« hoffen dürfe (vgl. WV 461). Charlotte möchte ihm vorerst die Antwort schuldig bleiben, da sie nicht verdient hätten, »zusammen glücklich zu sein« (vgl. WV 461). In der anschließenden Überlegung des Majors erscheint das Kind nun explizit als »Opfer«; die Vokabel ergänzt die Vorausdeutung des Kindes als Opfergabe in der Präsensszene des 10. Kapitels, als Charlotte es auf den Tisch in der Mooshütte legt. Auch der zurückhaltende Major sieht überdies erstaunlich schnell alle Verhältnisse in jener Ordnung, die Eduard anstrebt; für ihn ist der Tod des Kindes eine »Fügung«742 : Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können. Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schoße, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild trüge als der abgeschiedene. So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als er auf dem Rückwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der die ganze Nacht im Freien den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen, kein Donnerlaut ein glückliches Gelingen verkünden wollte. Er wußte bereits von dem Unglück, und auch er, anstatt das arme Geschöpf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sichs ganz gestehen zu wollen, als eine Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre. (WV 461)
Eduard begibt sich weiterhin in Warteposition, um die Scheidung abzuwarten. Charlotte bleibt mit Ottilie zurück, die die Nacht im schlafähnlichen, aber luziden Zustand zubringt. Der Major verabschiedet sich beim Morgengrauen743, Ottilie, die die Gespräche zwischen Charlotte und dem Major mitangehört hat, erwacht aus ihrer Erstarrung und verweigert die Einwilligung in deren Pläne. Mit der oft zitierten Formel »ich bin aus meiner Bahn geschritten« gibt Ottilie ihren Entschluß bekannt, auf Eduard zu verzichten und damit ihr »Verbrechen« zu büßen (vgl. WV 462). Ottilies innerer Prozeß zeitigt damit weitgehendere Folgen, als er es für die anderen Figuren tut. Die Dimensionen dieses Prozesses 742 Zur problematischen Wahrnehmung der Figuren, die bei Charlotte, Eduard und dem Hauptmann in mangelndes Mitleid für das Kind münden, vgl. Jeremy Adler in der genannten Arbeit »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Chemie seiner Zeit, S. 187–195, bes. 194f. 743 Auch hier scheint die Detailgestaltung bezeichnend für Charlottes Entschluß, in ihrer Mutterrolle zu verharren: »Der Major stand auf. Sie reichte ihm ihre Hand über Ottilien weg.« (WV 461, Kursivierung I.R.)
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bezeichnet Ottilie selbst: »Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet […]« (vgl. WV 463)744. Ottilies Reaktion auf den Tod des Kindes bringt so eine entscheidend neue Richtung in den Handlungsverlauf. Mit ihrem Schwur stemmt sie sich gegen die Zukunftsphantasien, die Eduard, der Major und selbst Charlotte als Antwort auf den Tod des Kindes so schnell parat haben. So ist wiederum die Reaktion Charlottes auf den Schwur Ottilies bezeichnend, mit Sorge interpretiert sie ihn zwar als Zeichen des übermäßigen Schmerzes, doch hofft sie darauf, »durch Zeit und Vorstellungen etwas über sie zu gewinnen« (vgl. WV 463). Gerade von der Kraft des guten Zuredens und des Entwurfs neuer Hoffnungen verspricht sich also Charlotte, Ottilie umzustimmen. Diese bleibt bei ihrem Entschluß. Sollte Charlotte in die Scheidung einwilligen, oder sollte sie jemand von ihrem »Vorsatz« abzubringen versuchen, droht Ottilie, »büße ich in demselbigen See mein Vergehen, mein Verbrechen« (vgl. WV 463). Mit Ottilies Schwur am Ende des 14. Kapitels kommt endgültig auch der Charakter der Tragödienhandlung in den Ablauf der Ereignisse. Der Rest des zweiten Teils konzentriert sich ganz auf Ottilie als Hauptfigur und ihre Versuche, dem Geschehen eine andere Wendung zu geben. Sie scheitert damit jedoch in erster Linie an Eduards heftigem Verlangen, seine Wünsche verwirklicht zu sehen. Der Rest der Passagen im szenischen Präsens ist so um die Stationen von Ottilies Scheitern angeordnet. Dieses besteht vor allem auch aus einem Scheitern ihrer Kommunikationsversuche. Nicht zufällig bezeichnet daher die nächste Szene im Präsens jenen Moment, in dem Ottilie aufhört zu sprechen. Sie beginnt, nur noch über Gesten und Gebärden mit den anderen Figuren zu kommunizieren. Ottilies Verstummen stellt damit jenes Mittel dar, das sie den Vorhaben der anderen, die weiter ihre Pläne verfolgen, entgegensetzt. Gleichzeitig wird sie selbst mehr und mehr zur bildhaften Figur und schließlich zur Legende. Am Ende wird Ottilie in der Kapelle aufgebahrt und geht damit in einen Ort endgültiger Verbildlichung ein; ihr Porträt in den Engelsbildern der 744 Die Stelle führt das Motiv von Ottilies Erstarrung weiter; ihren halbwachen Zustand beschreibt Ottilie für Charlotte so: »Auf deinem Schoße ruhend, halb erstarrt, wie aus einer fremden Welt vernehm ich abermals deine leise Stimme über meinem Ohr […]« (WV 462f.). Vgl. dazu den Stellenkommentar der FA, S. 1050f., der auf die enthaltene Vorausdeutung hinweist: »Referenz auf das Schema des Marienlebens, in dem – als Pendant zur Verkündigung – »zum zweitenmal« […] ein himmlischer Bote ins Leben der Madonna tritt, um ihr das nahe Ende anzukündigen. Zugleich nimmt Ottilie eine topische Haltung der Melancholie ein; ihre Entrückung ließe sich darum auch als Zustand melancholischer Starre (stupor) deuten. In Zuständen solcher Entrückung wird die Seele nach neuplatonischer Vorstellung zur Rückwendung zu Gott fähig. G. H. von Schubert stellte in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808), neuplatonischer Tradition folgend, den todähnlichen magnetischen Schlaf als Phänomen des Somnambulismus heraus, in dem der Körper von einem inneren Licht durchströmt werde […].«
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Kapelle wurde durch den Architekten schon vorgezeichnet. Daß Ottilie nicht mehr spricht, sondern nur mehr deutet, wird zum zentralen Motiv der restlichen Kapitel des zweiten Teils. Mit der Sprache verweigert sich Ottilie vor allem der Bildermacht der Sprache und den Vorhaben und Vorsätzen der anderen ab dem Moment, in dem das Scheitern ihres nunmehr einzigen Vorsatzes, Eduard zu entsagen, seinen Verlauf nimmt.
Hoffnungen und Bilder Das 15. Kapitel schildert dementsprechend, in welcher Weise Ottilie dieses Vorhaben umsetzen will. Der Beginn des Kapitels enthält einen überaus kurzen Nachtrag auf den Tod des Kindes (ähnlich wie die Lakonie der Mitteilung »Ein Sohn war glücklich zur Welt gekommen […]« WV 420): »Ganz in der Stille«, so heißt es, hat Charlotte das Kind in die Kapelle bringen lassen. Der Erzähler läßt keinen Zweifel an der Vorbedeutung: »Es ruhte dort als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses.« (WV 464) Charlotte lenkt sich ab, indem sie ihre Mütterlichkeit ganz auf Ottilie konzentriert: Charlotte kehrte sich, soviel es ihr möglich war, gegen das Leben zurück, und hier fand sie Ottilien zuerst, die ihres Beistandes bedurfte. Sie beschäftigte sich vorzüglich mit ihr, ohne es jedoch merken zu lassen. Sie wußte, wie sehr das himmlische Kind Eduarden liebte; sie hatte nach und nach die Szene, die dem Unglück vorhergegangen war, herausgeforscht und jeden Umstand teils von Ottilien selbst, teils durch Briefe des Majors erfahren. (WV 464)
Ottilie kommt Charlotte entgegen: »sie war offen, ja gesprächig«, doch von »dem Gegenwärtigen oder kurz Vergangenen« sprechen sie nicht (vgl. WV 464). Charlotte hofft weiter, ein »ihr so wertes Paar« verbunden zu sehen – vor allem die Schilderungen der inneren Disposition der Figuren nach dem Tod des Kindes erinnern immer wieder an Peter von Matts Beschreibung der Wahlverwandtschaften als »Ehebruchsroman ganz ohne Eifersucht«.745 Charlottes Verhalten nimmt verschiedene Elemente ihrer vorherigen Strategien der Krisenbewältigung wieder auf. So kommt sie nicht zuletzt zum Schluß, daß die Gestaltung der Umgebung aufs Neue verändert werden soll. Die Objekte, die Charlotte ins Auge faßt, zählen die Schauplätze der Handlungsstationen auf und umreißen noch einmal die abgeschlossene Welt, in der die Figuren leben: So verfloß einige Zeit, und Charlotte fühlte, wie sehr Haus und Park, Seen, Felsen- und Baumgruppen nur traurige Empfindungen täglich in ihnen beiden erneuerten. Daß man den Ort verändern müsse, war allzu deutlich, wie es geschehen solle, nicht so leicht zu entscheiden. (WV 464) 745 Vgl. Von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 266.
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Zur Verwirklichung dieser neuerlichen Umgestaltungspläne beschließt Charlotte, daß Ottilie vorübergehend ins Pensionat zurückkehren soll. Eine treibende Kraft aus dem Hintergrund tritt wieder auf den Plan. Briefe der Baronesse werden erwähnt, die Charlotte überzeugen will, Ottilie zu einer Erbtante zu geben, damit sie in die Gesellschaft eingeführt werden kann (vgl. WV 465). Dies verweigert Ottilie mit dem Hinweis darauf, daß sie, von Schuld gezeichnet, ihre Bestimmung anders als im Umgang mit der »großen Welt« suchen müsse. Die Gegenwart eines so gezeichneten Menschen, argumentiert Ottilie, » […] erregt in allen, die ihn sehen, die ihn gewahr werden, eine Art von Entsetzen.« (vgl. WV 465). Sie begreift ein tätiges Leben in Arbeit und Pflichterfüllung als den einzigen Ausweg aus dem Dilemma der Schuldverstrickung, in das sie geraten ist. Charlotte verweist darauf, daß der Rückzug in ein Kloster nicht möglich sei: »Klöster haben wir nicht, in denen sonst eine Freistatt für solche Gefühle zu finden war.« (WV 466) Im Vergleich mit den Einsiedlern, die auch in der Wüste ihrem Schicksal nicht entgehen, weist Ottilie die Idee des Klosters aber ohnehin zurück. Sie sieht ihre Aufgabe in der Kindererziehung, als Lehrerin will sie zurück ans Institut (vgl. WV 466f.). Auch der Gehülfe, an dessen Heiratsabsichten Charlotte Ottilie erinnert, wird in ihr eine »geweihte Person erblicken«, so Ottilie (vgl. WV 467). Ottilies Darstellung des Unterrichtens trägt ganz die Züge der Bußtätigkeit. Schuld und Auflösung von Schuld werden darüberhinaus aber von Ottilie als das Wirken von Kräften und Gegenkräften dargestellt. Das »ungeheure Übel« ist für Ottilie nur so vielleicht »aufzuwiegen«, daß der schuldig Gewordene »[…] sich dem Heiligen widmet, das, uns unsichtbar umgebend, allein gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen kann.« (vgl. WV 467f.). Charlotte beginnt zu begreifen, daß sie Ottilie in ihrem Entschluß, auf Eduard zu verzichten, nicht umstimmen kann. Der Rat, den sie ihr daher gibt, thematisiert wiederum das zentrale Motiv der Bildlichkeit. Ottilie, gibt Charlotte zu bedenken, müsse sich vor allem vom Anblick Eduards fernhalten: »Wenn dein Entschluß,« entgegnete ihr Charlotte, »Eduarden zu entsagen, so fest und unveränderlich ist, so hüte dich nur vor der Gefahr des Wiedersehens. In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach außen erstreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geschwind sind wir aus diesem Irrtum gerissen, wenn dasjenige, was wir entbehren zu können glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen steht.« (WV 468)
Charlotte nimmt Ottilie das Versprechen ab, Eduard nicht wiederzusehen. Sie sieht die Gefahr, daß Eduard Ottilie zu einer »Unterredung« drängen und Ottilie dem nachgeben könnte. Dagegen schließt sie mit ihr einen »Bund«: »[…] daß du
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dich mit ihm nicht einlassen willst« (vgl. WV 468). Das Versprechen, in das Ottilie sofort einwilligt, nimmt damit die Motive des Erblickens und Sprechens wieder auf, die im ersten Teil immer wieder die Präsenspassagen als Momente der problematischen Wahrnehmung oder der Versäumnis bestimmen. Anhand dieser Motive läßt sich auch die Entwicklung der dramatischen Schlußmomente beschreiben. Davon nämlich, wie stark die Bilder in Ottilies Innerem von Eduard sind, hat Charlotte, so sehr sie Ottilies Inneres erforscht, keine Kenntnis. Genausowenig ahnt sie, wie stark Eduards innere Bilder von Ottilie sind. Hier erweist sich die Brisanz des Motivs der gegenseitigen Imagination, die Eduard und Ottilie über die Zeit der Trennung aufrechterhalten. In der Szene des Kindstods, als Ottilie den Chirurgen hinzuholt, kehrt dieses Motiv wieder, wenn es von ihr als unermüdlicher Helferin heißt »sie schafft, sie bringt, sie sorgt, zwar wie in einer andern Welt wandelnd« (vgl. WV 458). Diese Macht der inneren, stets abrufbaren Bilder von Ottilie ist es nun nach der Zäsur des Kindstods, die Eduards Antrieb, sie trotz allem als seine Braut besitzen zu wollen, mit neuer Kraft in Gang setzt. Charlotte berät sich nämlich mit Mittler, wie Eduard auf Ottilies Entschluß vorzubereiten sei. Dieser überredet Charlotte dazu, für eine schnelle Abreise Ottilies zu sorgen, da er es für besser hält, Eduard vor gemachte Tatsachen zu setzen (vgl. WV 469). Auf Charlotte hat die Beratung mit Mittler eine unmittelbare Wirkung. Auch sie deutet eine innere Bilderflucht an. Charlotte »eilte schon in Gedanken aus diesen Umgebungen weg« (vgl. WV 470), sie möchte Eduards Zimmer, die Ottilie bewohnt hat, in den alten Zustand versetzen. Die auffällige Rückkehr der letzten Kapitel des Romans zu den Konstellationen des ersten Teils betrifft auch – wie oben bei Martin Huber dargestellt, in Analogie zur Spiegelstruktur des Werther – die Orte. Von Ottilies Rückwärtsbewegung zu den Platanen war schon die Rede. Nun kehrt Charlotte zu ihrer ursprünglichen Idee der ehelichen Idylle mit Eduard zurück; dies bringt eine Wiederholung des Gesprächs zwischen Mittler und Eduard auf dessen kleinem Gut, wohin ihm Mittler am Ende des ersten Teils die Nachricht von Charlottes Schwangerschaft gebracht hat. Auch das Grundmuster des Botengangs wiederholt sich. Charlotte schickt Mittler, um Eduards Verfassung auszukundschaften und die ihrer Ehe verbliebenen Chancen zu sondieren. Daneben ist sie aber auch in Sorge um ihr nunmehriges Ersatzkind Ottilie. Denn Charlotte »schwebte«, ganz wie vor der ersten Abreise Eduards, immer noch dessen Drohung »vor der Seele«, auf eine Entfernung Ottilies aus dem Schloss und von Charlotte mit der Entführung Ottilies zu reagieren (vgl. WV 468). Der Erzählerkommentar enthüllt dabei Charlottes zurückkehrende Vorstellung der Sanierung ihrer Ehe als von Mittlers Drängen eingegeben:
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Die Hoffnung, ein altes Glück wiederherzustellen, flammt immer einmal wieder in dem Menschen auf, und Charlotte war zu solchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genötigt. (WV 470)
Mit den von Mittler beschleunigten Reisevorbereitungen für Ottilie endet daher das 15. Kapitel. Das 16. zeigt Eduard und Mittler im Gespräch, als weiteres Zeichen der Rückkehrbewegung zu den Motiven der Ausgangskonstellation findet Mittler Eduard mit jenen Kopfschmerzen vor, von denen im ersten Teil gesagt wird, daß sie Eduard auf der rechten und Ottilie auf der linken Seite plagen (vgl. WV 280f.). Für Eduard bedeutet dies eine positive Erinnerung, »nur mächtiger, deutlicher, lebhafter schwebt mir das Bild ihrer Geduld, von allen ihren übrigen Vorzügen begleitet, vor der Seele« (vgl. WV 470f.). Auf Mittlers Beschreibung der Vorhaben der Frauen reagiert Eduard kaum, Mittler findet ihn vor Schmerz resigniert und reist wieder ab746. Dennoch wirkt Mittlers Besuch auf Eduard beunruhigend: Kaum war er allein, so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und wider. Er fühlte seinen Schmerz nicht mehr, er war ganz außer sich beschäftigt. Schon unter Mittlers Erzählung hatte die Einbildungskraft des Liebenden sich lebhaft ergangen. Er sah Ottilien allein oder so gut als allein auf wohlbekanntem Wege, in einem gewohnten Wirtshause, dessen Zimmer er so oft betreten; er dachte, er überlegte, oder vielmehr er dachte, er überlegte nicht; er wünschte, er wollte nur. Er mußte sie sehn, sie sprechen. Wozu, warum, was daraus entstehen sollte, davon konnte die Rede nicht sein. Er widerstand nicht, er mußte. (WV 471)
Ähnlich wie für Charlotte setzen sich auch in Eduard die inneren Bilder wieder in heftige Bewegung. Davon spricht die ganze Stelle, Eduards Hinundhergehen ist nur die Folge der bemerkenswert selbständigen Kraft seiner Gedanken: seine Einbildungskraft hatte sich »lebhaft ergangen«. Die Stelle ist von hoher Prägnanz und weist deutlich Eduards Gefühlsreaktion als Kurzschluß zwischen 746 Immer dann, wenn die Figuren sich in tatsächlichen Gefühlsnöten befinden, also am meisten des Beistands bedürfen, empfindet sich Mittler als nicht mehr zuständig oder verabschiedet sich, so auch hier bei seinem zweiten Besuch bei Eduard. Wie die in Anm. 352 genannten Interpreten verweist auch A.G. Steer in seiner Studie auf diese besondere Ironie, die in der Charakterzeichnung der Figur hervortritt, so am Beginn, als Charlotte und Eduard ihn um Rat fragen, ob sie den Hauptmann einladen sollen, antwortet er : »Glaubt ihr, daß ich in der Welt bin, um Rat zu geben? Das ist das dümmste Handwerk, das einer treiben kann.« Vgl. A.G. Steer, Goethe’s Elective Affinities – The Robe of Nessus, S. 202. In der Szene, als Mittler Eduard zum ersten Mal aufsucht, empfiehlt er Eduard auf dessen leidenschaftliches und in Tränen endendes Plädoyer für die Liebe »aufrichtig und derb«, er solle sich fassen und seiner Manneswürde erinnern. Auch ist dort von den »dunklen Regionen« der Gefühle die Rede, in die sich Mittler »geführt sah, in denen er sich immer unbehaglicher fühlte«, vgl. WV 357. – Die Haltung, in der Mittler Eduard bei seinem zweiten Besuch hier vorfindet: »[…] den Kopf in die rechte Hand gelehnt, den Arm auf den Tisch gestemmt [..]« (WV 470) stellt, vgl. Stellenkommentar der FA, S. 1051, die »prominenteste Ausdrucksgeste der Melancholie« dar.
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Vorstellung und Handlung aus. So ist Eduard auch nicht »mit sich«, sondern »ganz außer sich beschäftigt«. Die Wirkmächtigkeit der inneren Bilder Eduards von Ottilie erweist sich so bis in den Untergang als treibende und unbewußte Kraft seiner Gefühlslogik. Diese löscht auch hier deutlich die Logik des Verstandes aus, Warum und Wozu werden nebensächlich: »er wünschte, er wollte nur«. Bezeichnend ist auch, daß es gewohnte Bilder (»in einem gewohnten Wirtshause«) sind, die Eduards Wunsch auslösen, Ottilie sofort zu sehen. Die Szenerie verbleibt damit in der sorgfältig nach außen abgegrenzten Welt, die die Protagonisten sich gebaut haben. Wille und Wollen Als Reaktion kehrt Eduard zu seinen Kriegslisten zurück. Er läßt seinen Diener ausspionieren, wann Ottilie abreist, und reist ihr zum Wirtshaus, ihrer Übernachtungsstation, voraus. Die Wirtin empfängt ihn enthusiastisch, Eduard hat ihrem Sohn zu einer militärischen Auszeichnung verholfen. Er läßt sich ein Zimmer anweisen, das er der Wirtin als Ottilies Kammer für die Nacht ankündigt. Dieser erscheint die Sache zwar geheimnisvoll, doch ist sie froh, Eduard einen Dienst erweisen zu können. Er verbringt in der Kammer, in der Ottilie schlafen soll, den ganzen Tag, sieht sie schon vor sich und überlegt, ob er sie mit seinem Anblick überraschen soll oder nicht. Schließlich schreibt er ihr einen Brief, der sie auf seinen Anblick vorbereiten, Ottilie aber gleichzeitig überreden soll, sich für ihn zu entscheiden. »An meine Brust, Ottilie!« ist die Formel, mit der Eduard sie beschwört. Beim Schreiben (als einem weiteren Moment der Verbundenheit mit Ottilie, deren Abschrift seines Briefes Eduard im ersten Teil als sicherstes Zeichen ihrer Zuneigung interpretiert hatte) überkommt ihn ihr Bild: Indem er schrieb, ergriff ihn das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe sich, es werde nun gleich gegenwärtig sein. Zu dieser Türe wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen, wirklich wird sie wie sonst vor mir dastehen, deren Erscheinung ich mir so oft herbeisehnte. Wird sie noch dieselbe sein? Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen verändert? (WV 472)
Als würde sie tatsächlich vom Akt des Schreibens angezogen, kommt Ottilie an, als Eduard den Brief noch nicht beendet hat. Der Zufall will es, daß Eduard sich in dem Zimmer selbst einschließt, Ottilie und die Wirtin überraschen ihn. Auf Eduards dringendes Bitten liest Ottilie, dann führt sie wortlos die Geste aus, die in einem Brief des Gehülfen ganz zu Beginn des Romans als die Geste ihres dringenden Bittens geschildert wird (vgl. WV 280). Sie hebt die flach aneinander gedrückten Hände vor der Brust in die Höhe und blickt Eduard an. »Diese Bewegung zerriß ihm das Herz.« (WV 473) Eduard erträgt den Anblick, der die
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tatsächlich veränderten Gesinnungen Ottilies unter der nunmehrigen Bedingung ihrer Schuld verrät, nicht, er verläßt den Raum. Die Wirtin weiß nicht, wie sie reagieren soll und bleibt bis in die Nacht bei Ottilie. Dann bietet sie Eduard den Schlüssel zu Ottilies Kammer an, der lehnt ab. »Sie ließ das Licht stehen und entfernte sich.« (WV 474) Eduard verbringt die Nacht weinend auf Ottilies Türschwelle. Das Gegenbild zu Eduards Nacht mit Charlotte, die Eduard im Gedanken an Ottilie verbracht hat, wird zu jenem Moment, in dem sich die Unmöglichkeit des Zusammenseins herausstellt. Der nächste Morgen bringt die nächste Präsensszene: Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirtin schloß auf und trat in das Zimmer. Sie fand Ottilien angekleidet eingeschlafen, sie ging zurück und winkte Eduarden mit einem teilnehmenden Lächeln. Beide traten vor die Schlafende; aber auch diesen Anblick vermochte Eduard nicht auszuhalten. Die Wirtin wagte nicht, das ruhende Kind zu wecken, sie setzte sich gegenüber. Endlich schlug Ottilie die schönen Augen auf und richtete sich auf ihre Füße. Sie lehnt das Frühstück ab, und nun tritt Eduard vor sie. Er bittet sie inständig, nur ein Wort zu reden, ihren Willen zu erklären. Er wolle allen ihren Willen, schwört er ; aber sie schweigt. Nochmals fragt er sie liebevoll und dringend, ob sie ihm angehören wolle. Wie lieblich bewegt sie mit niedergeschlagenen Augen ihr Haupt zu einem sanften Nein! Er fragt, ob sie nach der Pension wolle. Gleichgültig verneint sie das. Aber als er fragt, ob er sie zu Charlotten zurückführen dürfe, bejaht sies mit einem getrosten Neigen des Hauptes. Er eilt ans Fenster, dem Kutscher Befehle zu geben; aber hinter ihm weg ist sie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab in dem [sic] Wagen. Der Kutscher nimmt den Weg nach dem Schlosse zurück; Eduard folgt zu Pferde in einiger Entfernung. (WV 474)
Eduards Bitten verknüpfen die Szene mit jener von Charlotte, die Eduard nach dem Dammbruch um Hilfe bittet. Worum Eduard Ottilie bittet, ist aber nicht nur eine positive Reaktion auf sein Werben, sondern verweist vor allem auf ihr Verstummen als Mittel des sozialen Selbstentzugs. In der Logik der Wünsche und Vorhaben soll sich Ottilie gerade dem nicht verweigern, was sie den anderen Figuren verbinden kann: die Bekanntgabe eines Vorsatzes, einer Absicht, eines Wunsches. Zweimal wird der »Willen« wiederholt, zweimal erfragt Eduard ihre Wünsche mit »ob sie […] wolle«. Das Wortspiel »Er wolle allen ihren Willen« ist so das zentrale Motiv und kennzeichnet Eduard als ganz in der Logik des Wollens gefangen. Nun ist es die Idee von Ottilies Wünschen, die Eduard umfängt. Als das Objekt seiner immer weiter gesteigerten Fixierung gewinnt am Ende Ottilie Macht über Eduard, indem er sich bereiterklärt, sich ganz ihrem Willen unterzuordnen. In »Er wolle allen ihren Willen« gipfelt so gleichsam die auf sich selbst zurückweisende Aufschaukelung und Spiralbewegung der Wünsche und Vorhaben, die die Figuren antreibt. Eduard will ja schon wieder etwas, er will, daß Ottilie über ihn bestimmt oder zumindest irgendein Wollen äußert. In dieser Logik verbleibt Eduard, indem er will, daß Ottilie einen Willen
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bekundet. Eduard will von seinen Gefühlen beherrscht werden, denn das ist die Konstante seines Weltbezugs, Lieben und Wollen sind für Eduard eins. Ottilie soll also etwas wollen – denn dann begehrt sie. Nicht zufällig ist aber Ottilie kein »Wollen« zugeordnet, sondern eben der »Willen«. Das weist in die entgegengesetzte Richtung, nämlich in die der Selbstbeherrschung im Sinn der Begrenzung des alle bestimmenden Wunsch- und Vorsatzdenkens. Die wunschlose Ottilie ist somit das Schlimmste, was Eduard, dem drängend Liebenden, passieren kann, denn sie hebt das Karussell der allgegenwärtigen Begehren unwiderruflich auf, seien sie sexueller oder materieller Art, den Garten, den See, das Kind, Grund und Boden, den Leib oder die Kunst betreffend, derer man sich in der Darstellung der Tableaux vivants habhaft machen will. Hier ist es also eine Absichtserklärung, die Eduard vor allem anderen begehrt. Wie ein Bittsteller tritt er an: »nun tritt Eduard vor sie«. Die ganze Szene ist bestimmt von Eduards Sprechhandlungen, die finiten Verben reihen sie aneinander : er »bittet sie inständig«, er »schwört«, »Nochmals fragt er sie liebevoll«, »Er fragt, ob«, »Aber als er fragt«. Auch am Schluß bleibt ihm gleichsam nur ein sprachlicher Akt: er »eilt […] dem Kutscher Befehle zu geben«. Das »Eilen« wird zu einer der wichtigsten Reaktionen der Figuren auf Ottilies Verstummen in den letzten Präsenspassagen. Es kennzeichnet immer wieder die Ratlosigkeit, die Ottilies Verweigerung auslöst. Die Präsensszene von Ottilies Absage an Eduard kehrt damit wieder zum Motiv der Sprechakte zurück, die diesmal als hochdringliche Bitten von seiten Eduards wiederholt werden, aber auf seiten Ottilies den Punkt bezeichnen, an dem sie sich mit dem Entzug der gesprochenen Äußerung dem Beziehungsgeflecht der begehrenden und imaginierenden Charaktere entzieht. Während Charlottes Schweigen in den Präsensszenen des ersten Teils die durch den Blick in ihr eigenes Herz hervorgerufene Handlungshemmung als Versäumnis kennzeichnet, versucht Ottilies Verstummen, die Logik des Sprechens und gegenseitigen Erforschens, die stets neue Bilder und neues Begehren hervorrufen, zu durchbrechen. Gleichzeitig wird damit Ottilie erneut zur Trägerin einer scheinbar wahrhaftigeren Art der Kommunikation stilisiert. Diese basiert aber intrikaterweise ganz auf der hohen Bildhaftigkeit der Gebärden, und das Bild der entsagenden Ottilie wird vom Kommentar des Erzählers lebhaft begleitet: »Wie lieblich bewegt sie mit niedergeschlagenen Augen ihr Haupt zu einem sanften Nein!« Die Interpretation von Ottilies Gebärden ist zudem wenig problematisch, denn der Brief des Gehülfen hatte ja die stumme Bitte um Abstand, die Ottilie beim Anblick Eduards ausführt, erklärt. Dennoch bleibt Ottilies plötzliche Entscheidung gegen die Fortsetzung ihres Weges in die Pension rätselhaft. Der Blick in ihr Inneres wird hier wie in den ersten Präsenspassagen im 13. Kapitel des ersten Teils wieder entzogen. So wie ihre Tagebuchaufzeichnungen letztlich nur indirekte Schlüsse zulassen, da sie keine oder nur im weitesten Sinn persönliche Bemerkungen enthalten, wird hier
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Ottilie wieder zum Objekt der Deutungen, die die anderen Figuren an ihr vornehmen. Die nächste Präsenspassage ist dementsprechend von diesen Versuchen gekennzeichnet, Ottilie zum Sprechen zu bringen. Ottilie reagiert mit dem Brief, an dessen Ende sie bittet: » […] mein Innres überlaßt mir selbst!« Dies steht dem Erzählerkommentar am Ende des ersten Teils gegenüber, der in den Tagebucheintragungen einen »Blick […] in ihr Inneres« versprochen hatte (vgl. 359). In diesem Sinn kehrt auch Ottilie gleichsam an einen unbekannten Ort in sich selbst zurück und vollführt damit die Bewegung der Rückkehr zum Ausgangspunkt, wie sie die Fahrt zu den Platanen andeutet. (Es stellt sich auch die Frage, ob Ottilie ein Inneres hat oder ob sie es kennen kann.) Ein ähnlicher Hinweis auf das Warum von Ottilies neuerlichem Richtungswechsel liegt vielleicht auch im »Faden der Neigung und Anhänglichkeit«, den der Erzähler in ihrem Tagebuch behauptet. Das Motiv der magnetischen Anziehung ist in den Skizzen zum Forschungsstand dargelegt worden, auch das bestimmt die letzten beiden Kapitel, obwohl hier in der Szene im Wirtshaus eher das Gegenteil geschildert wird. Ottilie hält Eduard auf Abstand, zurück im Schloß werden sie aber wieder magisch voneinander angezogen. Der Ort erscheint also als Schlüssel, und verbindet man die beiden Motive, ergibt sich wieder die Parallelität der Gefühlsbewegung mit dem Diktat des Dämonischen und der äußeren Mächte, die auf die Figuren einwirken747. Ottilie fährt »wie der Blitz« zur Stube hinaus und sitzt wie in derselben Sekunde im Wagen. Eduards Frage, »ob sie ihm angehören wolle«, verneint sie sanft und jene, ob sie ins Institut wolle, »gleichgültig«. Aber zu Charlotte soll Eduard sie »zurückführen« und diesen »Weg« nimmt der Kutscher, der wie eine mythologische Beigabe wirkt (ähnlich der Wirtin, die als seltsame Kupplerin Eduard die Schlüssel anbietet). Der Weg führt also zum Schloss zurück und damit zurück zu Ottilies Pflegemutter Charlotte und zurück zum Ort ihrer »Geburt« und scheinbaren Schuld, den Platanen. Ottilie, die im Wirtshaus von der Wirtin und Eduard als Schlafende betrachtet wird, gewinnt damit immer mehr Züge des Kindes, das in den See als symbolischen Ort schuldlos-schuldhafter Entstehung eingeht. So ist klar, daß Ottilie ihre Pläne aufgibt, um zu sterben. In der doppelten Verneinung an Eduard erkennt sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Buße kann ihre Verstrickung nicht aufheben, Vorhaben werden darüber gleichgültig, in die Pension ist kein Weg (im Sinne der genannten Abhängigkeit Ottilies, besonders 747 Ottilie kann auch als von einer noch konkreteren Wirkmacht angezogen gelesen werden: beim Besuch des Lords und seines Begleiters stellt letzterer mit Pendel und Wünschelrute fest, daß sich unter einer Stelle im Park, die Ottilie meidet, weil sie dort von unangenehmen Empfindungen heimgesucht wird, eine Steinkohlenader befindet. Ottilie steht mit allen Metallen in lebhafter Beziehung, ergibt dieselbe Textstelle. Auch dies beglaubigt Ottilie als erdverbundenes Naturkind, denn auf Charlotte reagiert das Pendel nicht; vgl.WV 443 und 444f.
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von Charlotte, bedeutet dies auch, daß Ottilie kein Weg in ein selbstbestimmtes Erwachsenenleben offensteht; in diesem Sinn stellt Ottilies Entschluß, das Schloss und ihre Ziehmutter zu verlassen, den ersten Versuch einer eigenständigen Entscheidung dar). Mit dem Ja für Charlotte akzeptiert so Ottilie das Urteil, das über sie verhängt ist; ab nun überläßt sie sich der Sorge und dem Willen der anderen. Der erste Satz der Präsenspassage kennzeichnet aber damit die einzige Möglichkeit der Auflehnung, die Ottilie noch geblieben ist. Sie lehnt das Frühstück ab, es ist der Moment, von dem an Ottilie auch aufhört zu essen. Charlotte, zu der Ottilie zurückkehrt, wird sie wie das Kind in der Kapelle bestatten lassen. Am Ende der Präsenspassage hier heißt es, Eduard »folgt […] in einiger Entfernung«. Auch er wird von Charlotte in der Kapelle, gleichsam als dem Ort der Aufbewahrung aller Trugbilder, beigesetzt. Sprechen, Reden, Schreiben Die Szene von Eduards Bitten bildet den Schluß des 16. Kapitels, die nächste Präsenspassage führt diese Motivkette der verweigerten oder unmöglichen Kommunikation direkt weiter und bildet den Beginn des 17. Kapitels. Die lange Szene nimmt entsprechend der Bewegung der Rückkehr im Verhalten viele Motive aus dem ersten Teil wieder auf, vor allem Charlotte kehrt ganz in frühere Reaktionsweisen zurück. So beschreibt die Stelle lauter Versuche der Wiederherstellung und liest sich damit wie die Ausführung des Bildes vom »Wahn« der Rückkehr in einen »frühern, beschränktern Zustand«, wie es im ersten Teil heißt (vgl. WV 329). Wie höchst überrascht war Charlotte, als sie Ottilien vorfahren und Eduarden zu Pferde sogleich in den Schloßhof hereinsprengen sah! Sie eilte bis zur Türschwelle. Ottilie steigt aus und nähert sich mit Eduarden. Mit Eifer und Gewalt faßt sie die Hände beider Ehegatten, drückt sie zusammen und eilt auf ihr Zimmer. Eduard wirft sich Charlotten um den Hals und zerfließt in Tränen; er kann sich nicht erklären, bittet, Geduld mit ihm zu haben, Ottilien beizustehen, ihr zu helfen. Charlotte eilt auf Ottiliens Zimmer, und ihr schaudert, da sie hereintritt; es war schon ganz ausgeräumt, nur die leeren Wände standen da. Es erschien so weitläufig als unerfreulich. Man hatte alles weggetragen, nur das Köfferchen, unschlüssig, wo man es hinstellen sollte, in der Mitte des Zimmers stehengelassen. Ottilie lag auf dem Boden, Arm und Haupt über den Koffer gestreckt. Charlotte bemüht sich um sie, fragt, was vorgegangen, und erhält keine Antwort. Sie läßt ihr Mädchen, das mit Erquickungen kommt, bei Ottilien und eilt zu Eduarden. Sie findet ihn im Saal, auch er belehrt sie nicht. Er wirft sich vor ihr nieder, er badet ihre Hände in Tränen, er flieht auf sein Zimmer, und als sie ihm nachfolgen will, begegnet ihr der Kammerdiener, der sie aufklärt, soweit er vermag. Das übrige denkt sie sich zusammen und dann sogleich mit Entschlossenheit an das, was der Augenblick fordert. Ottiliens Zimmer ist aufs baldigste wieder eingerichtet. Eduard hat die seinigen angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie er sie verlassen.
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Die dreie scheinen sich wieder gegeneinander zu finden, aber Ottilie fährt fort zu schweigen, und Eduard vermag nichts, als seine Gattin um Geduld zu bitten, die ihm selbst zu fehlen scheint. Charlotte sendet Boten an Mittlern und an den Major. Jener war nicht anzutreffen, dieser kommt. Gegen ihn schüttet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er jeden kleinsten Umstand, und so erfährt Charlotte, was begegnet, was die Lage so sonderbar verändert, was die Gemüter aufgeregt. Sie spricht aufs liebevollste mit ihrem Gemahl. Sie weiß keine andere Bitte zu tun als nur, daß man das Kind gegenwärtig nicht bestürmen möge. Eduard fühlt den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin; aber seine Neigung beherrscht ihn ausschließlich. Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu willigen. Er traut nicht; er ist so krank, daß ihn Hoffnung und Glaube abwechselnd verlassen; er dringt in Charlotten, sie soll dem Major ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen. Charlotte, ihn zu besänftigen, ihn zu erhalten, tut, was er fordert. Sie sagt dem Major ihre Hand zu auf den Fall, daß Ottilien sich mit Eduarden verbinden wolle, jedoch unter ausdrücklicher Bedingung, daß die beiden Männer für den Augenblick zusammen eine Reise machen. Der Major hat für seinen Hof ein auswärtiges Geschäft, und Eduard verspricht, ihn zu begleiten. Man macht Anstalten, und man beruhigt sich einigermaßen, indem wenigstens etwas geschieht. Unterdessen kann man bemerken, daß Ottilie kaum Speise noch Trank zu sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt. Man redet ihr zu, sie wird ängstlich; man unterläßt es. Denn haben wir nicht meistenteils die Schwäche, daß wir jemanden auch zu seinem Besten nicht gern quälen mögen? Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie auf den Gedanken, jenen Gehülfen aus der Pension kommen zu lassen, der über Ottilien viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten Außenbleibens sich sehr freundlich geäußert, aber keine Antwort erhalten hatte. Man spricht, um Ottilien nicht zu überraschen, von diesem Vorsatz in ihrer Gegenwart. Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein Entschluß in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem Zimmer und sendet noch vor Abend an die Versammelten folgendes Schreiben. (WV 475f.)
Mit dem Einsatz des Präsens tritt hier Ottilie zuerst als Handelnde auf. Sie setzt einen sprechenden Akt, der das Ehepaar wieder verbinden soll. Die Geste ähnelt der, die sie mit ihren eigenen Händen ausführt, sie drückt die beiden Hände als Zeichen der Geschlossenheit zusammen748. (Ottilies eigene Geste in der Szene mit Eduard kann somit auch als Zeichen ihrer inneren Geschlossenheit gesehen werden.) Der Präsensteil des ersten Absatzes zeigt damit Ottilie als stumm Sprechende, ihre Geste wird zum Ersatz für den »Willen«, den sie nicht bekundet hat. In der Wendung an die beiden, die in der Szene auch als »Ehegatten«, »Gattin« und »Gemahl« bezeichnet werden, bekommt die Geste den Charakter eines Vermächtnisses. Auch Eduard, »mit« dem sich Ottilie nähert, der also gleichsam in ihrem Gefolge auftritt, spricht mehr über Tränen denn über eine 748 Mit derselben Geste versucht Stella im 1806 von Goethe neu geschriebenen Schluß des Schauspiels »die Hände beider Gatten zusammenzubringen«, vgl. Stellenkommentar der FA, S. 1051.
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andere Art der Gefühlsäußerung, er »kann sich nicht erklären«. Die Trennlinie zwischen den Gatten äußert sich hier, wie im ersten Teil, in Störungen der Kommunikation, doch kehren sich die Rollen um. Nun ist es Eduard, der seine Gattin zweimal um Geduld bittet, im ersten und im dritten Absatz. Er bittet so um die Eigenschaft, die er, wie gezeigt, selbst am wenigsten besitzt. Wie im ersten Teil reagiert Eduard zuletzt aber mit Mißtrauen auf Charlotte, obwohl er ihre Güte wahrnimmt. Seine Verfassung wird nun im vierten Absatz tatsächlich als Krankheit geschildert, deren Ursache in der Wiederkehr des Erzählermotivs vom »Wahn« nachgetragen wird: »eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen«. Auch Eduard wird hier gleichsam zum Kind Charlottes, diese füllt mehr denn je ihre Rolle als Mutter und Sorgende aus. Sie »eilt auf Ottiliens Zimmer«, sie »eilt zu Eduarden« und sorgt dafür, daß der Zustand der Zimmer wiederhergestellt wird. Auch die Ursache des ersten Mißtrauens Eduards gegen seine Frau, das Briefchen, das er einst Ottilie geschrieben hat und das Charlotte gefunden hatt, scheint hier wieder angesprochen, Charlotte hat seine Zimmer »bis auf das letzte Papier« wieder so eingerichtet wie zur Zeit seiner beginnenden Zuneigung zu Ottilie. In widersprüchlicher Weise sorgt damit Charlotte für die möglichst schnelle Wiederherstellung des prekären Zustands zwischen ihr, Eduard und Ottilie. Charlotte als Helfende möchte den kranken Eduard beruhigen, ausgerechnet das Abbild der alten Konstellation soll Abhilfe schaffen749. Charlottes Hilfe, auch das ein Motiv, das schon in den Präsenspassagen ihrer Herzensschau und der Beobachtung Eduards und Ottilies im ersten Teil etabliert wurde, umfaßt auch das genaue Erforschen und Erfragen der Geschehnisse zwischen Eduard und Ottilie. Am Ende des ersten Absatzes setzt das Präsens dort wieder ein, sie »bemüht sich« um Ottilie und fragt, was passiert ist. Wie bei Ottilie, die keine Antwort gibt, wiederholt sich auch Eduards Unfähigkeit, sich zu erklären, er »belehrt sie nicht«. Charlotte greift auf seinen Spion, den Kammerdiener, zurück, von ihm erhält sie Auskunft, »soweit er vermag«. Was sie hört, reicht für Charlotte, um »sogleich« wieder mit »Entschlossenheit« ans Werk der Restauration zu gehen. Das Motiv der individuellen Interpretation der Geschehnisse durch die Figuren kehrt auch hier wieder : »das übrige«, heißt es von Charlotte, »denkt sie sich zusammen«. Auch sonst greift Charlotte zu den 749 Im Zusammenhang der im zweiten Teil des Romans wiederkehrenden und verstärkten Thematisierung von Charlottes zwiespältiger Rolle als Mutter und Helferin, deren Aktivitäten und sorgendes Planen die Situation dennoch stets prekärer werden lassen, sei an den oben zitierten Brief Bettine Brentanos (siehe Anm. 363) und den darin enthaltenenen Hinweis auf das »grausame Rätsel« des Romans erinnert, das Brentano v. a. mit Charlottes Gründlichkeit verbindet: »[…] ich begreife nicht, warum sie alle sich unglücklich machen, warum sie alle einem tückischen Dämon mit stachelichem Scepter dienen; und Charlotte, die ihm täglich, ja stündlich Weihrauch streut, die mit mathematischer Consequenz das Unglück für alle vorbereitet.«
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früheren Hilfsmitteln. Mittler und der Major werden herangezogen. Explizit werden die »Boten« genannt, als weitere Figuren, die Nachrichtenüberbringer darstellen. Gleichsam in alter Treue assistiert der Major Charlotte, die im Feldzug der Informationsbeschaffung zu stehen scheint, und im Rollentausch mit Eduard schickt sie dessen Unterhändler nun gegen ihn. Als zweiter Spion bringt der Major für Charlotte den Rest der Geschichte in Erfahrung. Die alten Handlungsmuster und Figurenkonstellationen kehren so mit Macht zurück, vom Motiv der Beratungen zwischen Charlotte und dem Major über die gegenseitigen Bitten und Eduards psychotische Wahrnehmungsverengung bis zu den Hoffnungen und Versprechungen und der Logik des übereilten und sich selbst übereilenden Handelns, um nur irgendetwas zu tun. Dies wird auch deutlich gesagt: »Man macht Anstalten, und man beruhigt sich einigermaßen, indem wenigstens etwas geschieht.« Auch hier bleiben Charlotte und der Major, wie in den ersten Präsensszenen im ersten Teil, als letztlich hilflose Beobachter, aber fleißige Ausführer übrig. Das Eindringlichste an der Passage ist so das Arsenal von Sprechakten, das sie entwickelt. Neben den hochsymbolischen Gesten Ottilies und den sprechenden Bildern, in denen sie über dem Köfferchen liegt oder Eduard an Charlottes Hals und über ihren Händen weint, ist die Liste der verneinten oder versuchten Gesprächsaufnahmen beeindruckend; auch sie ergibt ein Drama im Drama: »er kann sich nicht erklären, bittet«, »Charlotte bemüht sich um sie, fragt«, »erhält keine Antwort«, »auch er belehrt sie nicht«, (»wirft sich vor ihr nieder«), »der Kammerdiener, der sie aufklärt«, »fährt fort zu schweigen«, »um Geduld zu bitten«, »Charlotte sendet Boten«, »Gegen ihn schüttet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er«, (»so erfährt Charlotte«), »Sie spricht aufs liebevollste«, »keine andere Bitte zu tun«, »nicht bestürmen«, »macht ihm Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu willigen«, er dringt in Charlotten«, »sie soll […] ihre Hand zusagen«, »ihn zu besänftigen«, »was er fordert«, »sagt […] ihre Hand zu«, »unter ausdrücklicher Bedingung«, »Eduard verspricht«, »bei ihrem Schweigen verharrt«, »Man redet ihr zu«, »sich sehr freundlich geäußert«, »keine Antwort erhalten«, »Man spricht […] von diesem Vorsatz«, »nicht einzustimmen«, »Entschluß«, »folgendes Schreiben«. Im »man« des Ausklangs der Szene kehren Charlotte und der Major zu ihrer Handlungs- und Beschleunigungskoalition zurück, wie nach Eduards Gefühlsausbruch im 13. Kapitel des ersten Teils kümmern sie sich auch hier gemeinsam um die Gefühlskranken. »Man redet« Ottilie zu, heißt es im fünften Absatz. Da sie ängstlich wird, unterläßt »man« es wieder. Vor allem kehrt auch der Schein wieder. Eduard, den »Hoffnung und Glaube abwechselnd verlassen« (er besitzt also nur die Liebe) treibt durch sein krankhaftes Mißtrauen wie im ersten Teil die Logik der Entschlußfassungen an. Charlotte gibt dazu das Scheinversprechen, dem Major ihre Hand zu geben. Im Tauschgeschäft der Scheinaktivitäten ver-
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spricht Eduard die Abreise, reist aber nach Ottilies Brief nicht ab. So stehen in dieser langen Szene wie im 13. Kapitel des ersten Teils hauptsächlich die Reaktionen von Charlotte, Eduard und dem Major im Mittelpunkt, Ottilies Inneres bleibt wieder verborgen. Sie schweigt, der Blick auf sie erfolgt weiter mehr von außen: »Unterdessen kann man bemerken«. Der nächste »Vorsatz« leitet den Schluß ein. Ottilies Reaktion ist zuerst ungewiß, sie »scheint« nicht einverstanden, dann »scheint« sie einen Entschluß zu fassen. Ottilie erklärt sich schriftlich. Am Beginn der Präsenspassage wie an deren Ende stehen damit die Versuche Ottilies, in Alternative zur sprachlichen Äußerung andere Kommunikationswege zu suchen. Ihr Entschluß ist mithin der, sich den anderen verständlich zu machen, ohne daß sie ihre Sprechaskese aufgibt. Im Brief bezeichnet sie diese dann als »Ordensgelübde« (vgl. WV 477). Ottilies Schweigen beherrscht damit alle Figuren, nicht zufällig werden auch Mittler und der Gehülfe mit ihrem Fasten und Schweigen befaßt. Die hektischen Reaktionen von Charlotte und Eduard, die sich im »Eilen« Charlottes, der Scheinehe mit dem Major und den Reiseplänen zu Eduards Ablenkung ausdrücken, kreisen alle um das Wunsch- und Kommunikationsloch, das Ottilie in die Gesellschaft reißt. Abwechselnd fallen daher im Ablauf der Szene Anspielungen auf ihre Sprechenthaltung und auf ihre Nahrungsverweigerung. Im ersten gibt Ottilie Charlotte »keine Antwort«, im zweiten kommt das Mädchen mit »Erquickungen«, aber Charlotte ist zu schnell wieder weg, um sehen zu können, ob Ottilie etwas ißt. »Ottilie fährt fort zu schweigen« heißt es im dritten Absatz, der vierte ist Eduard gewidmet, der fünfte beginnt damit, daß man bemerkt, daß Ottilie »kaum Speise und Trank« zu sich nimmt und »bei ihrem Schweigen verharrt«. Die anderen versuchen es mit Zureden als gleichsam intensivierter Form des Sprechens. Dieses intensivierte Sprechen ist aber genau das, was Ottilie am wenigsten beruhigt, also reagiert sie noch stärker : »sie wird ängstlich«. Im Erzählerkommentar fällt schließlich noch das Wort »quälen«, die Kontaktaufnahme der anderen Figuren wird vorsichtiger. Wie um Ottilie das Sprechen vorzumachen, spricht man im letzten Absatz »in ihrer Gegenwart« von dem Vorsatz, den Gehülfen zu holen. Er soll als Kommunikationsbrücke zu Ottilie fungieren. Wie Eduard wird Ottilie von Charlotte als Kranke beobachtet; der Briefe schreibende Gehülfe, der im ersten Teil ja als Experte für Ottilies innere Regungen aufgetreten ist, soll also wie ein Arzt herangezogen werden. »Charlotte sann alle Mittel durch« heißt es in der Präteritumspassage im fünften Absatz. Der rationale Gehülfe ist aber, wie wir oben bei der Szene seiner von der Baronesse initiierten Balzreise gesehen haben, gar kein so großer Experte für Gefühle. Ähnlich wie Mittler ist er eine Figur, die in bezug auf Gefühle zwiespältiger angelegt ist, als seine verliebten Briefberichte zeigen. Vor allem scheiterte wie gezeigt auch sein Heiratsantrag an der Schwelle des tatsächlichen
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Aussprechens: jedesmal, wenn er zum Sprechakt der Sprechakte ansetzen wollte, hielt ihn »eine gewisse innere Scheu« zurück (vgl. WV 414). Der Gehülfe ist so nicht der Mann, Ottilie helfen zu können. Als Leiter des Instituts repräsentiert er aber vor allem den Weg in die Außenwelt, den Ottilie in der Szene im Wirtshaus endgültig verneint hat, und damit zur Möglichkeit der Abbuße ihrer Schuld als einer Schuld, die wie beim Kind letztlich einzig in ihrer bloßen Existenz zu bestehen scheint. Sie verbleibt somit in der geschlossenen Welt des Schlosses und kapselt sich zudem implosionsartig in sich selbst ein. Charlottes Plan, den Gehülfen als Schlüssel zu ihrem Inneren herbeizuholen, zwingt aber Ottilie zum Handeln, nun »eilt« sie, um den Brief an die Freunde zu schreiben. Darin sagt sie auch, wie lange sie ihr Ordensgelübde, das sie »vom Gefühl gedrungen« auf sich genommen hat, beibehalten möchte: »solange mir das Herz gebietet« (vgl. WV 477). Gerade ihre, wie gezeigt, verwundbarste Stelle macht Ottilie nun zum Ort der Auflehnung. Der Brief enthält die Wendung vom »feindseligen Dämon, der Macht über mich gewonnen« (vgl. WV 476). Dieser »scheint mich von außen zu hindern« (vgl. WV 476f.), schreibt Ottilie, die indirekt Eduards leibliche Anwesenheit im Wirtshaus, seinen Anblick also, als ausschlaggebend für ihre Sinnesänderung angibt: »er stand selbst gegen seinen eigenen Willen vor mir« (vgl. WV 477). Vor allem thematisiert der Brief aber Ottilies Akt des Verstummens, dem sein größerer Teil gewidmet ist. Über nichts wird daher so viel gesprochen wie über das Schweigen. Ottilie deutet selbst an, welcher Art ihre Transgression ist: Mein Versprechen, mich mit ihm [Eduard] in keine Unterredung einzulassen, habe ich vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet. Nach Gefühl und Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen. (WV 477)
In der Welt der Bekanntgabe von Absichten hat Ottilie, so kann man der Stelle unterlegen, jenen Akt begangen, der sie dem sozialen Gefüge und seiner Art der Kommunikation am endgültigsten entzieht. Der Weg dazu führt über das zu wörtlich genommene, mithin die sprachlichen Konventionen ihrer Umwelt sprengende »Versprechen«, von der »Unterredung« mit Eduard abzusehen. Neben dem Paar »genommen und gedeutet« werden Gefühl und »Gewissen des Augenblicks« genannt750. Eduards exzessivem und aporetischem Zeichendeuten wird Ottilies überkonsequenter Deutungsakt entgegengesetzt, und man kann die Briefstelle auch als Gegenbezug zu Charlottes versäumtem Kairos des Handelns im ersten Teil sehen. Ottilies Sprachentzug wird so als authentisch und wahr750 Vgl. (Anm. 708) Manfred Ostens Interpretation des Gewissens Ottilies als jener Kategorie, anhand derer sie sich von den anderen Protagonisten und ihren Verstandesurteilen abhebt als die einzige Figur der Wahlverwandtschaften, die mit der Qualität echter Sittlichkeit ausgestattet ist.
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haftig angedeutet und als heroischer Akt der Verweigerung einer Gefühlspraxis, deren Problematik kurz zuvor in den falschen Versprechen gezeigt wurde, die die Figuren geben, um einander zu schonen. Eduard, der aus Ottilies Brief neue Hoffnung schöpft, erklärt seine Reisepläne wieder für nichtig, da er Ottilie ohnehin auch in ihrer Nähe nicht besitzen könne. »[S]ie hat sich über mich weg gehoben« argumentiert Eduard und nimmt damit Ottilies Verklärung zur Heiligenfigur abermals voraus (vgl. WV 478). Diese Verklärung, so wird hier angedeutet, hat ihren Ursprung in einer Logik der Moral, die jedes Sprechen als schuldhaftes Vorhaben ablehnt. Ohne Vorsatz: Natur Das »Ordensgelübde«, als das Ottilie ihr Schweigen bezeichnet, und die gleichzeitige Unmöglichkeit der Buße, die sich in ihrem Nein zum Pensionat und ihrer Rückkehr in den Mutterschoß des Schlosses abzeichnet, deuten aber darauf hin, daß auch das Verstummen seine eigene Dynamik und Ausweglosigkeit hat. Das doppelte »schwieg ich, verstummt ich vor dem Freunde« scheint auf diese neuerliche Verselbständigung des Prozesses zu verweisen, dem sich Ottilie in der Verweigerung von Nahrung und Sprechen ausliefert. Schweigen und Fasten weisen nämlich genau in die Richtung des büßenden Einsiedlerlebens, das Ottilie selbst als unzureichenden Schutz vor dem Schicksal bezeichnet hat. (Zudem steht immer noch die Frage im Raum, welche Schuld denn Ottilie auf sich geladen hat. So büßt sie stellvertretend für die anderen.) Verweigerung von Nahrung und Kommunikation sind damit kein Ausweg. Ottilie verweist in ihrem Brief darauf, daß sie jung ist: »[…] die Jugend stellt sich unversehens wieder her« (vgl. WV 477). Doch daß sie nun »nichts mehr zu sagen« hat, enthält als Endpunkt ihrer Verweigerung der Speise des Sprechens den Tod als logische Konsequenz ihres »Karterierens«, wie Goethe Ottilies Entsagen am Ende des Romans bezeichnet hat751. Nur in sich selbst kann auch Ottilie nicht leben. Wie zitiert, ist das aber der Schluß ihres Briefes: ihr »Innres« möge man ihr selbst überlassen. Daher ist ihr zentraler Appell als Reaktion auf das Ansinnen, den Gehülfen beizuziehen: »Beruft keine Mittelsperson!« (WV 477) Damit ist auch der Auslöser von Ottilies Sterben bezeichnet. Wieder ist es ein gutgemeinter Sprechakt, diesmal Mittlers, der im 18. Kapitel ihr Ende herbeiführt. Der Rest des 17. Kapitels schildert die nach Ottilies Verweigerung eintretende Situation explizit als Versuch der Rückkehr zur Eingangskon751 So Goethe zu Riemer in einem Gespräch im Dezember 1809, vgl. Kommentar HA, Bd. 6, S. 640; der Kommentar fügt in der Fußnote Riemers Anmerkung bei: »Nach dem griechischen kartere&n, s i c h e n t h a l t e n (der Speise, des Schlafs u.s.w.), von Goethe der Kürze wegen gebraucht, wie öfter solche fremdsprachige Worte in dem Cotterie-Jargon, den wir unter uns führten.«
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stellation. Ottilie und Eduard bewegen sich magnetisch voneinander angezogen durchs Schloss, sodaß sie sich immer nach kurzer Zeit im selben Raum wiederfinden. Sie werden gleichsam als die zwei Hälften einer Einheit geschildert, deren Kommunikation aber nicht mehr nach menschlichen Maßstäben stattfindet; gleichzeitig ist es ein Zustand, der Ottilies Weltabgewandtheit repräsentiert und Eduard in diese integriert. Im Lichte des hier Dargestellten fällt dabei zu Beginn der berühmten Romanstelle zur magnetischen Schließung besonders ins Auge, daß hier von Blicken, Worten und Gesten die Rede ist, mithin von jenen Motiven, die die Präsensszenen des zweiten Teils der Wahlverwandtschaften besonders bestimmen; außerdem fällt am Ende der Stelle jenes Wort, das die Antithese zur Hauptproblematik der Figuren im Roman zusammenfaßt: »ohne Vorsatz«: Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden. (WV 478)
Das vorsatzlose Paar Eduard und Ottilie stellt somit jene Einheit dar, die die Gleichnisrede der chemischen Attraktion der Elemente in toto erfüllt. Hier ist an Peter von Matts Hinweis auf die bemerkenswerte Parallele zwischen Bewußtlosigkeit und dem »vollkommnen Behagen«, wie der Text sagt, anzuknüpfen. Wie gezeigt, ist seine Interpretation, daß das Motiv der magnetischen Anziehung im Roman nicht metaphorisch aufzufassen sei, sondern das eigentliche Skandalon der Wahlverwandtschaften darin bestehe, daß die Kraft der Anziehung als gleichsam unhintergehbare und konkrete Größe dargestellt werde (siehe Kap. III. 4.2.3.). Diesem Befund möchte ich hier die Komponente der absoluten Wunschlosigkeit hinzufügen. Im Absehen von jeder Art von Ziel, Vorhaben oder Absicht gehen Ottilie und Eduard in einen als naturhaft suggerierten Zustand über, der das »Rätsel« der Existenz in der bloßen Präsenz des anderen löst. Diese »Auflösung« aber, das zeigen etappenhaft alle Schlußbilder der Wahlverwandtschaften, geschieht um den Preis des Verzichts auf die menschliche Existenz überhaupt. Bewußtlosigkeit mag zwar in »vollkommenes« Behagen münden, doch trägt dieses im Roman keinesfalls die Züge positiver Weltzugewandtheit. »[M]it sich selbst zufrieden und mit der Welt« ist so zwar die Imagination eines selbstgenügsam-paradiesischen Zustands für das Liebespaar Eduard und Ottilie, deren Bewegungen nur mehr aufeinander zuführen, doch trägt dieser in seiner Abgeschlossenheit und gleichsam aufs Vegetative redu-
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zierten Form die Anzeichen des endgültigen Übergangs schon in sich. Wie die Pflanzen, deren Zyklen im Roman immer wieder den einzigen Anhaltspunkt für zeitliche Einordnungen geben, geht Ottilie, am Tag der Pflanzung der Platanen geboren, ein in einen Kreislauf von Werden und Entstehen, der prototypisch auch am Bogen der Zeugung bis zum Sterben des Kindes in den beiden Romanteilen abgehandelt wird. Eduard jedoch, der, wie gezeigt, als Ottilies »Schöpfer« gelesen werden kann, stirbt ihr als dilettierender Nachahmer, wie er selbst sagt, hinterher, die Parabel von Eduard als vorauseilendem Verwirklicher diesseitsbezogenen Begehrens kehrt sich so am Schluß um. (Bzw. gehören Eduard und Ottilie als Gegenbilder zusammen: er als ausschließlich Begehrender, sie als die Verweigerung, das Gegenteil jedes Begehrens. Man könnte auch deuten, dass beide darüber kein Inneres entwickeln können.) In Analogie zu dieser Rückkehr wiederholt der Schluß des 17. Kapitels jenes Bild im ersten Teil, das den Beginn der inneren Anziehung anhand des über Kreuz gelingenden Musizierens geschildert hatte. Der Major begleitet Charlotte auf der Violine, Eduard Ottilie auf der Flöte. Die heiter-gespenstische Atmosphäre basiert auf der völligen Verdrängung der Ereignisse der Zwischenzeit: »Jedes unerfreuliche, unbequeme Gefühl der mittleren Zeit war ausgelöscht.« (WV 479) Alle Figuren kehren gleichsam in eine Art unbewußten Zustand zurück, in dem sie nun aber nur mehr gemäß ihrer ursprünglichen Veranlagung weiter agieren. Ein Erzählerkommentar kennzeichnet genau dies als inneren Grund der Rückwärtsbewegung, die das Verhalten der Figuren am Schluß des Romans prägt und die in der Wiederbespielung derselben Örtlichkeiten und Motivketten ihren Ausdruck findet: Was einem jeden Menschen gewöhnlich begegnet, wiederholt sich mehr, als man glaubt, weil seine Natur hiezu die nächste Bestimmung gibt. Charakter, Individualität, Neigung, Richtung, Örtlichkeit, Umgebungen und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in welchem jeder Mensch wie in einem Elemente, in einer Atmosphäre schwimmt, worin es ihm allein bequem und behaglich ist. Und so finden wir die Menschen, über deren Veränderlichkeit so viele Klage geführt wird, nach vielen Jahren zu unserm Erstaunen unverändert und nach äußern und innern unendlichen Anregungen unveränderlich. So bewegte sich auch in dem täglichen Zusammenleben unserer Freunde fast alles wieder in dem alten Gleise. Noch immer äußerte Ottilie stillschweigend durch manche Gefälligkeit ihr zuvorkommendes Wesen, und so jedes nach seiner Art. Auf diese Weise zeigte sich der häusliche Zirkel als ein Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim alten sei, war verzeihlich. (WV 478f.)
Der Einschub liest sich wie eine Zusammenfassung der Motive, die die Präsenspassagen in den Wahlverwandtschaften bestimmen. Im Hinweis auf die äußeren Umstände und Einflüsse, auf die die Figuren gemäß ihrer individuellen Erfahrung, Prägung und charakterlichen Grundtendenz reagieren, klingen
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deutlich Blanckenburgs Forderungen nach der Herleitung von Verhaltensweisen aus Ursachen an. Das Thema der Impulsreaktion, der die Wahrnehmung der Figuren unterliegt, und jenes der Grundveranlagung der Charaktere, die vor allem die Textstellen im szenischen Präsens im ersten Teil etablieren, zeigt so auch der Erzählerkommentar als zentrales Thema des Romans und verweist damit einmal mehr auf das Prinzip des zweiten Teils, die Darstellungsweise in den kommentierenden Einschüben offenzulegen. Ein zweites wichtiges Element der Erzählerkommentare zeigt sich auch in dieser Textstelle aus dem 17. Kapitel, die den »Wahn« als dem Gefühl eng verbundenes Motiv wieder aufnimmt. Aufgrund des natürlichen Bestrebens des Menschen, in jener »Atmosphäre«, in jenem »Elemente« zu leben, »worin es ihm allein bequem und behaglich ist«, relativiert sich zwangsweise die Dimension seines möglichen Vergehens, oder, wie das von Ottilie verwendete Wort lautet, ihres »Verbrechens«. Begründet in der Anlage ihres Charakters und dargestellt anhand eines Gesamtbildes der Einflüsse, denen die Figuren unterliegen, wird auch der »Wahn« Teil menschlichen Verhaltens. Die minutiöse Darstellung von dessen Entstehungsbedingungen, die der Roman entwickelt, zielt damit auf Identifikation bzw. auf verstehendes Teilnehmen von seiten des Beobachters, der den Wahn als »verzeihlich« begreifen soll, wie der Erzählerkommentar sagt. Auch hier gilt die Eingangsformel des Werther, dem Schicksal der Figuren die Tränen nicht zu versagen, ebenso für die Wahlverwandtschaften. Der Wahn als Schicksal betrifft in den Wahlverwandtschaften besonders die Figur des Eduard, der außerdem eine besonders tränenreiche Figur ist, wie die letzten Präsenspassagen zeigen. Dies verbindet das Ende des ersten Teils, an dem Eduard in einer leidenschaftlichen und von Schmerz geprägten Ansprache an Mittler (unter Berufung auf die Antike) die Äußerung von Gefühlen als menschliche und damit auch männliche Tugend flammend verteidigt (vgl. WV 355ff.), mit dem Schluß. Auch hier ist es Mittlers paradoxe Unbeholfenheit in Gefühlsdingen, die der Verfassung der anderen Figuren entgegengesetzt wird. Mittler wird so zur Figur, deren strikte Verweigerung, die tiefe Verstrickung der Menschen um ihn wahrnehmen zu wollen, die Haltung des Erzählers, der den Wahn der Figuren als verzeihlichen kennzeichnet, konterkariert. Verwandlung II Ottilies Rückkehr zu ihrer Freundlichkeit und Gefälligkeit wird von den anderen Figuren als Bestätigung ihrer Genesung interpretiert. »Mancherlei Hoffnungen«, heißt es am Beginn des 18. Kapitels, »waren indes in dem Herzen der Freunde rege geworden.« (WV 480) Besonders Charlotte verspricht sich die Wiederherstellung ihres Ersatzkindes Ottilie aufgrund eines näher rückenden Ereignisses: Eduards Geburtstag. Charlottes Erwartungen, die sie auf dieses Datum
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projiziert, spiegeln Eduards Fixierung auf Ottilies Geburtstag im ersten Teil. Doch findet der Morgen dieses Tages Ottilie schon tot. Der Vorabend zeigt Charlotte, Ottilie und den Major in Erwartung Eduards, der ausgeritten ist. Mittler ist zu Gast und hält, wie bei der Taufe des Kindes, einen endlosen Monolog, diesmal über die richtige Vermittlung der zehn Gebote. Am längsten hält er sich beim sechsten auf, dessen Verbotscharakter er als besonders »unanständig«, da suggestiv wirkend, brandmarkt (vgl. WV 482f.). Ottilie betritt bei »Du sollst nicht ehebrechen« den Raum und hört Mittlers Vortrag über die moralische Unauflöslichkeit der Ehe. Charlotte saß wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr umso ängstlicher, als sie überzeugt war, daß Mittler nicht wußte, was und wo ers sagte, und ehe sie ihn noch unterbrechen konnte, sah sie schon Ottilien, deren Gestalt sich verwandelt hatte, aus dem Zimmer gehen. »Sie erlassen uns wohl das siebente Gebot,« sagte Charlotte mit erzwungenem Lächeln. »Alle die übrigen,« versetzte Mittler, »wenn ich nur das rette, worauf die andern beruhen.« Mit entsetzlichem Schrei hereinstürzend rief Nanny : »Sie stirbt!« Das Fräulein stirbt! Kommen Sie! Kommen Sie!« Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwankend zurückgekommen war, lag der morgende Schmuck auf mehreren Stühlen völlig ausgebreitet, und das Mädchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und her ging, rief jubelnd aus: »Sehen Sie nur, liebstes Fräulein, das ist ein Brautschmuck, ganz Ihrer wert!« Ottilie vernahm diese Worte und sank auf den Sofa. Nanny sieht ihre Herrin erblassen, erstarren; sie läuft zu Charlotten; man kommt. Der ärztliche Hausfreund eilt herbei; es scheint ihm nur eine Erschöpfung. Er läßt etwas Kraftbrühe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg, ja sie fällt fast in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde nähert. Er fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab, was Ottilie heute genossen habe. Das Mädchen stockt; er wiederholt seine Frage; das Mädchen bekennt, Ottilie habe nichts genossen. Nanny scheint ihm ängstlicher als billig. Er reißt sie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Mädchen wirft sich auf die Kniee, sie gesteht, daß Ottilie schon lange so gut wie nichts genieße. Auf Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen; verschwiegen habe sie es wegen bittender und drohender Gebärden ihrer Gebieterin, und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so gut geschmeckt. Der Major und Mittler kamen heran; sie fanden Charlotten tätig in Gesellschaft des Arztes. Das bleiche himmlische Kind saß, sich selbst bewußt, wie es schien, in der Ecke des Sofas. Man bittet sie, sich niederzulegen; sie verweigerts, winkt aber, daß man das Köfferchen herbeibringe. Sie setzt ihre Füße darauf und findet sich in einer halb liegenden, bequemen Stellung. Sie scheint Abschied nehmen zu wollen, ihre Gebärden drücken den Umstehenden die zarteste Anhänglichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit, Abbitte und das herzlichste Lebewohl. Eduard, der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stürzt in das Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder, faßt ihre Hand und überschwemmt sie mit stummen Tränen. So bleibt er lange. Endlich ruft er aus: »Soll ich deine Stimme nicht wieder hören? Wirst
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du nicht mit einem Wort für mich ins Leben zurückkehren? Gut, gut! ich folge dir hinüber; da werden wir mit andern Sprachen reden!« Sie drückt ihm kräftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll an, und nach einem tiefen Atemzug, nach einer himmlischen, stummen Bewegung der Lippen: »Versprich mir zu leben!« ruft sie aus, mit holder, zärtlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurück. »Ich versprech es!« rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach; sie war schon abgeschieden. Nach einer tränenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu bestatten, Charlotten anheim. Der Major und Mittler standen ihr bei. Eduards Zustand war zu bejammern. (WV 483f.)
Ottilie kehrt im Sterben auf ihre ursprünglichsten Eigenschaften zurück. Die Auslöser ihres Todes sind nicht nur die Worte Mittlers, sondern auch das Bild, das Nanny mit der Auslegung von Eduards Geschenken als Brautschmuck heraufbeschwört. Das Präsens setzt ein mit der Außenbeobachtung Ottilies durch Nanny. Ottilies Sterben wird damit als bildhafte Szene präsentiert, »erblassen« und vor allem »erstarren« lassen Ottilie in den Zustand übergehen, mit dem das tote Kind mehrfach bezeichnet wurde. Die Rolle des Chirurgus wird hier besonders wichtig; seine Auftritte sind durch einen Spannungsbogen gekennzeichnet, der ganz den Präsenspassagen zugehört. In der Szene von Charlottes Bitten an Eduard tritt er zum ersten Mal als Helfer auf, beim Tod des Kindes werden seine Hilfsmaßnahmen detaillierter gezeigt und hier hat er schließlich seinen dritten und längsten Auftritt. In der Schilderung seiner Bemühungen wird auch Ottilies Sterben zu einer dramatischen Szene, die von der Darstellung der Details lebt. Wie Charlottes Sorge um den Major in der genannten Szene des ersten Auftritts des Chirurgus an den Details von »Wein und Tee« festgemacht wird, wird hier die Suppe genannt. Ottilies Zurückweisung der »Kraftbrühe« weist auf den krankhaften Zustand ihrer Schwächung, die »Zuckungen« sind ein weiteres eindrückliches Detail, das an Werthers »konvulsivische« Wälzungen erinnert und den nahen Tod ankündigt. Auch hier kann der Chirurgus, wie beim Tod des Kindes, nicht mehr helfen. Ottilies Sterben wird als jener Moment inszeniert, in dem die anderen Figuren die Wahrheit über ihren Zustand herausfinden. Die Aktivitäten des Chirurgus haben daher nicht nur die wichtige Funktion, die Szene in Abschnitte zu teilen, sondern führen auch ganz auf diesen Prozeß der Kenntnisnahme hin. So stehen auch hier die Präsensteile der zitierten Absätze ganz im Zeichen des Fragens und Befragtwerdens, des Bittens und der Zurückweisung. Nanny benachrichtigt die anderen, der Chirurgus befragt sie zweimal hintereinander, Nanny »bekennt«, Ottilie weist zurück. »Man bittet sie« eröffnet die zweite Präsenspassage im sechsten Absatz. Sie »verweigerts«, nimmt aber wieder Zuflucht zu ihrer Gebärdensprache. Aus der Sicht der anderen wird geschlossen: »Sie scheint Abschied nehmen zu wollen«. Der »Faden der Neigung und Anhänglichkeit«, der
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Ottilies Tagebucheintragungen vom Erzähler zugesprochen wurde, findet überdies hier seine Entsprechung. Im Kommentar, der das Bild vom »roten Faden« enthält, heißt es, daß er »alles verbindet und das Ganze bezeichnet« (vgl. WV 368). Ähnlich geschieht es hier. Ottilie bedeutet ihren Freunden »Anhänglichkeit«, »Liebe« und »Dankbarkeit«, was ihre Eigenschaften und die ihr möglichen Rollen als sozial umgängliches Wesen, als Adoptivkind wie als Liebende bezeichnet. So wie sie die Ernährerin des Kindes war, hat sie Nanny mit den Speisen versorgt, die sie selbst verweigert hat. Nanny fungiert in der Szene daher nicht nur als Botin ihres Sterbens und Element der Spannungssteigerung als Befragte, sondern vor allem auch als Zeugin für Ottilies Güte. Eduards Reaktion ist ebenso die des abschiednehmenden Geliebten. Auch er beginnt die Sprache zu verlieren. Übrig bleibt die Sprache seiner Zuneigung, die Tränen, aber es sind »stumme Tränen«, was auf die Szene seines eigenen Sterbens vorausdeutet. Der letzte Akt zwischen den Liebenden ist schließlich der Austausch von Worten. Zum Schluß begehrt Eduard nur mehr ein einziges Wort von Ottilie als Beweis des Fortlebens ihrer Liebe. Fragen, die er sich selbst beantwortet, stehen am Ende seiner Wünsche, und das Versprechen, ihr in ein Jenseits zu folgen, in dem mit »andern Sprachen« geredet wird. Nicht nur das Motiv der Engelszungen ist es, das hier anklingt und Ottilie einmal mehr zur Jenseitsfigur macht, sondern vor allem das Bild einer Welt, in der Eduard und Ottilie Worte und damit Gefühle austauschen dürfen. Als allerletzten Lebensakt setzt Ottilie daher Eduards stummen Tränen eine »himmlische, stumme Bewegung der Lippen« gegenüber und erfüllt seinen Wunsch nach einem letzten Wort. Mit ihm kehrt Ottilie ein letztes Mal in die Welt der Vorhaben zurück, und setzt selbst einen Sprechakt ans Ende ihres irdischen Daseins. Sie möchte Eduard das Versprechen abnehmen, im Leben zu bleiben, erlebt aber dessen Antwort nicht mehr. »Versprich mir zu leben!« stellt damit die Elemente zusammen, die Ottilies eigene Existenz seit ihrer zu wörtlichen Auslegung des Versprechens, der »Unterredung« mit Eduard zu entsagen, unmöglich gemacht haben. Sie ist jenseits des Punktes, der versprechenden Welt anzugehören, übt aber in ihrem Schlußwort ihre Eigenschaft der Uneigennützigkeit. Ähnlich faßt die Formulierung von »lebevoll und liebevoll« für ihren Blick auf Eduard Ottilies Charakterisierung im Roman noch einmal zusammen. Daß es gerade ein Sprechakt ist, der Ottilies Ende bezeichnet, verweist zurück auf ihr Entr8e als angenehmes Wesen, das ohne Sprache auskommt. Es spiegelt Eduards Eindruck von ihr als »angenehmes, unterhaltendes Mädchen«, obwohl sie noch kein Wort gesagt hat (vgl. WV 281). Als Mädchen stirbt mithin auch Ottilie, die aus dem behüteten Pensionat in die geschlossene Welt des Schlosses und zu ihrer Pflegemutter Charlotte zurückgekehrt ist und dieses in Ermangelung lebbarer Alternativen auch nicht mehr verläßt. Ihre Imagination als Braut, mit der Nanny nach Mittler ihr Sterben einleitet, ist damit jenes Bild der Erfüllung des Ehe-
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bruchs, das Ottilie als letztes verweigert. Sie ist der Welt der Bilder nicht gewachsen und entgeht im Sterben der Notwendigkeit, in dieser Welt als Erwachsene agieren zu müssen. Charlotte schickt sie dem Kind nach zur Bestattung in die Kapelle, Eduard bedingt sich ihre Aufbahrung im gläsernen Sarg aus (vgl. WV 485). Hoffnung Eduards Weigerung, Ottilie als Leichnam zu bestatten, entspricht sein Verhalten bis zu seinem eigenen Tod. Im Gefolge Ottilies kehrt er ganz in sich selbst, und das heißt zu einer alten Gewohnheit zurück: der des Zeichendeutens. Eduards Tod wird so ausgelöst vom Zerbrechen seiner Illusionen, das im Zerbrechen des Glases mit den Initialen seiner Vornamen Eduard und Otto dargestellt ist. Daß Eduard »E & O« immer als »Eduard und Ottilie« gedeutet hat, ist die Leitillusion, die Eduards Wunsch- und Schöpferphantasien kennzeichnet. Zuvor zeigt das 18. Kapitel noch Ottilies Überhöhung durch die Interpretationen, die die Umwelt der Nanny-Episode gibt752. Der Schluß des 18. Kapitels gibt schließlich Eduards Verzweiflung über Ottilies Tod im Präsens wieder und beleuchtet den Moment, in dem Eduard ihren Tod als den Tod seiner Illusionen zur Kenntnis nehmen muß: Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen. Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Träne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter fähig zu sein. Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von Speis und Trank vermindert sich mit jedem Tage. Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen. Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszüge, und sein ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe. Und wie den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes Ungefähr mit emporzuheben scheint, so mögen sich auch gern die kleinsten Vorfälle zur Kränkung, zum Verderben des Unglücklichen vereinigen. Denn eines Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Entsetzen wieder ; es war dasselbe und nicht dasselbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen. Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muß gestehen, das echte Glas sei unlängst zerbrochen, und ein gleiches, auch aus Eduards Jugendzeit, untergeschoben worden. Eduard kann nicht zürnen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die Tat; wie soll ihn das Gleichnis rühren? Doch drückt es ihn tief. Der Trank scheint ihm von nun an zu widerstehen; er scheint sich mit Vorsatz der Speise, des Gesprächs zu enthalten. Aber von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine Unruhe. Er verlangt wieder etwas zu genießen, er fängt wieder an zu sprechen. »Ach!« sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig 752 Zur mehrdeutigen Erzählstrategie in der Nanny-Episode, die verschiedene Perspektiven wiedergibt und auf diese Weise eine eindeutige Lesart der wunderbaren Heilung Nannys vermeidet, siehe Mart&nez vgl. Anm. 566.
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von der Seite kam, »was bin ich unglücklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibt! Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser Seligkeit willen bin ich genötigt, diese Pein zu übernehmen. Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur hält mich zurück und mein Versprechen. Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen. Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum Märtyrertum.« Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen, freundschaftlichen, ärztlichen Bemühungen gedenken, in welchen sich Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten? Endlich fand man ihn tot. (WV 489f.)
Wie Ottilie betreibt Eduard sein Sterben durch Verweigerung von Nahrung und Kommunikation und wie bei der Szene der wiederholten Fragen Eduards an Ottilie im Wirtshaus setzt hier das Präsens mit dieser Verweigerung ein. Allerdings findet eine leichte Umkehrung statt. Ottilie lehnt in der genannten Szene zuerst das Frühstück ab, und konfrontiert dann Eduard mit ihrem Schweigen. Hier wird vor »Speis und Trank« die »Unterhaltung« genannt, der sich Eduard entzieht. Im Sinne der Charakterlogik der beiden Figuren gedacht, ist dieses Detail nicht unbedeutend, denn es wiederholt im Roman genannte Grundzüge. Ottilies Tendenz zum allzu mäßigen Essen wird schon ganz zu Beginn ihres Auftretens erwähnt (vgl. WV 283). Eduard dagegen wird von Anfang an als der Gesellschaftsmensch geschildert, der Ottilie nicht ist. Es entspricht daher dieser Motivik, daß seine mangelnde Teilnahme am Gespräch der anderen zuerst genannt wird. Nicht zufällig wird so am Ende auch noch sein Gespräch mit dem Major wiedergegeben. Wichtiger ist aber die Rückkehr zum Motiv der Deutung und Konzentration auf Bilder, das Eduards Veranlagung am meisten bestimmt. Seine Fixierung auf Ottilie klingt hier wieder an. Wie die »Gegenwart« Ottilies ihm in der ersten langen Präsensszene alles »verschlingt«, so richtet sich nun sein Blick ganz auf das ihm verbliebene Glas. Er »betrachtet« es, sein »Blick« wird genannt und: »daß er auch jetzt auf eine Vereinigung hoffe«. Das Zeichendeuten bestimmt so auch zum Schluß Eduards Wahrnehmung. Er hängt am Glas als an dem letzten Bild, das ihn mit seiner Idee von Ottilie verbindet. Als dieses Bild einen Bruch erleidet, setzt sein endgültiges Leiden ein. Auch der Erzählereinschub faßt diese persönliche Tragik Eduards noch einmal zusammen und bezeichnet dabei dreimal die Geringfügigkeit der Zeichen, die einen wie Eduard veranlagten Charakter beeinflussen können: »jeder Nebenumstand«, »jedes Ungefähr«, »die kleinsten Vorfälle«. Symptomatisch für Eduards Bildbezogenheit ist auch, daß das Wort »vermißt« in dieser Szene nicht etwa Ottilie gilt, sondern für das »Kennzeichen« gebraucht wird, das Eduard vermißt: daß er das Symbol entbehren muß, bezeichnet Eduards finales »Entsetzen«. Der Erzähler kommentiert nur, daß ihm das Glas »kein wahrhafter Prophet gewesen«. Wie bei Ottilies Tod kommt es auch noch einmal zu einer Szene der Befra-
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gung. So wie Nanny als Ottilies treue Dienerin, die ihr nicht von der Seite weicht, dargestellt wird, erfüllt Eduards Kammerdiener im Roman immer wieder die Funktion eines Vertrauten. Auch er steht für Kommunikation. Er ist im ersten Teil der Postillon d’Amour, über den er mit Ottilie kommuniziert, als er Charlotte zu mißtrauen beginnt; mit ihm berät sich Eduard, um seine heimlichen Pläne beim Feuerwerk vorzubereiten; in der Szene von Ottilies Rückkehr aus dem Wirtshaus ist er außerdem jene Figur, von der sich Charlotte das Geschehen berichten läßt. Auch er muß nun, wie Nanny zuvor bei Ottilies Tod, Rede und Antwort stehen. Im Betrug des untergeschobenen Glases kehrt das Motiv der Schonung des Kranken wieder, das das Ziel aller Bemühungen Charlottes in der Szene von Ottilies Tod ist. Das Glas als Symbol der Selbsttäuschung Eduards verknüpft sich mit seinem Bestehen auf einem Glasdeckel für Ottilies Sarg, der ihren Tod negiert und die Illusion festhält. Es beschreibt den Kreislauf der Zeichen, dem Eduard von Anfang ausgesetzt war und dem er nun erliegt, indem er das Zerbrechen des Glases und das Unterschieben eines bloß ähnlichen reflexartig als sein eigenes Ende deutet: »sein Schicksal ist ausgesprochen durch die Tat«. Gegen dieses sprechende Glas und die darin repräsentierte Übermacht der Bilder wehrt sich Eduard nicht mehr. Eduard unterliegt damit der oben dargestellten Implosion der Gleichnisrede (vgl. David Wellbery in Anm. 707) und dem Problem, das die Figuren mit deren Umlegung haben, indem die Metaphorik der Darstellung umgangen und die natürlichen Wirkmechanismen der Elemente auf menschliche Situationen direkt übertragen werden. Nach dem betäubenden Schmerz am Beginn des ersten Absatzes und dem Bild der versiegenden Tränen hat er am Ende des Absatzes nach dem Geständnis des Dieners nicht mehr die Kraft »zu zürnen«, da ihn dessen »Tat« endgültig schwächt. Die Frage »wie soll ihn das Gleichnis rühren?« deutet zwar an, daß der symbolische Gehalt des untergeschobenen Glases nicht mehr zur Gänze zu ihm durchdringt. Doch hat es die Kraft, ihn »tief« zu drücken, als Folge kehrt sich sein Verhältnis zum »Trank«, der ihm zu Beginn noch »Erquickung« ist, um, er »scheint ihm zu widerstehen«. Als Kette von Eindrücken von Eduard wird die ganze Szene suggeriert, das »scheint er […] zu schlürfen« kehrt zum Schluß als »er scheint sich […] zu enthalten« wieder, dazwischen »scheint« sein Blick anzudeuten, daß er noch auf Vereinigung hoffe. Der Schluß zeigt so wie beim Tod Ottilies den Blick auf Eduard als eine Reihe von Außenbeobachtungen. Ein letzter »Vorsatz« taucht am Ende des Absatzes auf, er betrifft in Nachfolge Ottilies die Verweigerung von Nahrung und Kommunikation. Auch seine andere Grundregung »überfällt« Eduard noch einmal und macht das kurz wiederkehrende Verlangen nach Speise als Versuch der Kontrolle der Bilder und Rückkehr ins Leben deutbar : die »Unruhe«. Sie verweist auf die Ungeduld als auf sein ureigenstes Element, den Antrieb seiner ganzen Persön-
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lichkeit und die Triebkraft, mit der Eduard alle Entwicklungen, von der Einladung des Hauptmanns bis zum Tod des Kindes in Bewegung gesetzt hat. Sie führt ihn am Schluß zur Erkenntnis seiner Befangenheit in der Nachahmung, am Ende steht so Eduards Einsicht in die Vergeblichkeit seiner Bestrebungen als »falsches Bemühen« um Originalität. Diese Originalität schreibt er Ottilies »Märtyrertum« zu, das damit noch einmal als Akt der Wahrhaftigkeit und sittlichen Integrität hingestellt wird. Was Eduard daran hindert, ihr auf diesem »Wege« nachzufolgen, bezeichnet noch einmal seine persönliche Anlage: »meine Natur hält mich zurück und mein Versprechen«. Eduard belegt damit den wichtigsten Unterschied zwischen ihm und Ottilie und begründet letztlich in ihm die Unmöglichkeit ihres Zusammenseins. Mit »Natur« im Sinne von Veranlagung und dem »Versprechen« sind zudem einmal mehr die Hauptmotive und -ursachen der gesamten Verstrickung angesprochen. Das Bild vom Weg, auf dem er »ihr nach, auf diesem Wege nach« muß, verknüpft sich so mit dem Bild, das Ottilie von sich nach dem Tod des Kindes gezeichnet hat: sie sei »aus ihrer Bahn« geschritten. In ihrem Brief an die Freunde wiederholt Ottilie dieses Bild, indem sie sagt, sie soll »nicht wieder hinein«. Denkt man dies zuende, ergibt sich, daß Eduard und Ottilie einander nie zugewandt sein können, da sie gleichsam als Kometen hintereinander ihre Bahn ziehen und Eduard Ottilie auch in der Aberration folgen muß. Derselbe Eindruck der vorgegebenen Bahn ergibt sich aus dem Bild der magnetischen Anziehung, das betont, daß zwischen Eduard und Ottilie kein Sprechen, keine Kontaktaufnahme notwendig ist, damit sie einander im selben Raum wiederfinden. Das Motiv von Eduards Fixierung auf Ottilie, das die Szene seines Gefühlsausbruchs im ersten Teil begleitet und sich für ihn im Bild der Platanen und anderen Zeichen verstärkt hat, mündet so hier in das Bild der Nachahmung. Nicht zufällig hat es also am Ende der Präsenspassage im Wirtshaus geheißen, der Kutscher »nimmt den Weg nach dem Schlosse zurück; Eduard folgt zu Pferde in einiger Entfernung«. Der Moment hat den Zeitpunkt von Ottilies Abkehr von ihren Plänen der tätigen Buße in Arbeit bezeichnet und damit eine Korrektur ihres Lebenswegs. Auf diesem Weg folgt Eduard Ottilie in den Hungertod, ohne daß seine Wahl eine des »Genies« ist, das er Ottilie zuschreibt. Das Bild von Eduards fixierter Wahrnehmung wird also hier in das Bild der Nachahmung von Ottilies »Genie« überführt und gleichzeitig als Frage einer grundlegenden Wesensverschiedenheit bezeichnet. Eduards Einsicht am Ende des Romans greift daher noch einmal das in den Präsensszenen prominenteste Motiv des Charakters und der persönlichen Anlage auf und beschließt in Eduards Begründung der grundsätzlichen Verschiedenheit zwischen ihm und Ottilie den Diskurs der »Natur«. Dieser wird in den Wahlverwandtschaften auf vielfältige Weise geführt, so steht Eduards Reflexion hier auch als Schlußbild dem Anfangsbild seiner Lieblingsbeschäftigung, dem
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Bäumeveredeln, gegenüber. Jener »Natur«-Diskurs aber, der die Verstrickung der Figuren am meisten begründet, ist der ihrer im Positiven wie Negativen menschlichen Natur, er bestimmt grundlegend die Szenen im historischen Präsens. Diese kreisen immer wieder um die Frage der Wahrnehmung als entscheidendes Motiv menschlichen Handelns und beleuchten die Krisenmomente der Handlung als Krisenmomente der Interpretation der Ereignisse durch die Figuren. Im Präsens werden diese Momente selbst bildhaft dargestellt, sie korrespondieren damit formal dem Diskurs der Bilder und Bildhaftigkeit, der in den Wahlverwandtschaften als wichtiger Motivstrang den Diskurs der »Natur« ergänzt. Das Präsens nimmt die Wendung der Tableaux vivants wörtlich und beleuchtet momenthaft und detailreich das innere Drama der Figuren. Dieses erweist sich vor allem als Drama der Erwartungen der Figuren an ihre Zukunft. In das Bild einer Erwartung überhöht sich freilich das szenische Präsens selbst am Schluß, es wird zum Futur : So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen. (WV 490)
Zusammenfassung – Formensprache einer klassischen Moderne Die Passagen im szenischen Präsens verbinden in den Wahlverwandtschaften den ersten und zweiten Teil zuerst in formaler Hinsicht, indem sie jeweils im und um das 13. Kapitel der beiden Teile einen Handlungshöhepunkt bezeichnen. Im zweiten Teil besteht dieser Handlungshöhepunkt im Zusammentreffen von Eduard und Ottilie am See und im von Ottilie verursachten Ertrinkungstod des Kindes. Die Präsensszenen, die dieses Zusammentreffen, das Ertrinken des Kindes, aber vor allem Ottilies vergebliche Bemühungen, es wiederzubeleben, schildern, sind die längsten im Roman. Sie weisen den Tod des Kindes als jenen Moment aus, in dem Ottilie unschuldig schuldig wird und auf diese Beladung mit Schuld reagieren muß. Das Ertrinken des Kindes schließt zurück an den Moment des Einsatzes des szenischen Präsens, der ganz am Ende des 12. Kapitels des ersten Teils mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, an dem Charlotte realisiert, daß sie schwanger sein könnte. Es ist nicht der Moment der Zeugung selbst, doch ist von Anfang an das Kind oder der stets präsente Gedanke an es der Handlung der Szenen im historischen Präsens eng verbunden und schlägt so im Präsens den Bogen zum Tod des Kindes als Romanhöhepunkt. Die Formel »fromme Wünsche und Hoffnungen«, die den Moment begleiten, als Charlotte begreift, daß die Nacht mit Eduard Folgen hat, verweist dabei auf ein zentrales Motiv der im szenischen Präsens hervorgehobenen Textstellen. Die
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Wahlverwandtschaften präsentieren sich in diesen Szenen als ein Drama des Wünschens und Hoffens, des Begehrens und der Illusionen und von Handlungsimpulsen aufgrund der persönlichen Veranlagung und Wahrnehmung der Figuren. In unterschiedlichen Graden und mit unterschiedlichen Folgen werden die Figuren als von ihren individuellen, charakterabhängigen Vorstellungen, Ideen und Überzeugungen geleitet dargestellt. Ihre Reaktionen auf das Entstehen tabuisierter, gesellschaftliche und individuelle Grenzen überschreitender Zuneigungen beruhen daher ganz auf der Summe der Einflüsse, denen sie von innen wie außen unterliegen. Realität erweist sich für die Figuren als Frage der Interpretation des Wahrgenommenen und unterliegt auch ihrem Rollendenken. So kann man Charlottes allem zugrunde liegende Überzeugung, daß ein Kind Eduards Zuneigung zu Ottilie heilen wird, ihrer Rolle als Mutter und Sorgende zuordnen, die ihre Entscheidungen immer wieder lenkt und die neben ihrer Vernunftbetontheit der am häufigsten dargestellte Zug ihres Charakters ist. Dieses Motiv der individuellen Veranlagung und der Problematik der daraus resultierenden, mitunter verzerrten Wahrnehmung wird vor allem in den Präsensszenen im ersten Teil entwickelt. Auch Gefühle werden damit in den Wahlverwandtschaften stark als der individuellen Interpretation unterliegend dargestellt. Die Motivketten des Fühlens, Denkens, Sehens und Wahrnehmens gehen daher ineinander über und durchziehen besonders die Momentaufnahmen, die die Präsensstellen ausschneiden. Emotionen werden auf diese Weise gleichsam in Prozesse zergliedert, aber vor allem als Ursachen für bestimmte Handlungen genau beleuchtet. Besonders Charlotte und ihr Konflikt zwischen Pflicht und Neigung steht in den Präsensszenen im ersten Teil immer wieder im Mittelpunkt, zentral ist das Motiv ihrer Herzensschau im 13. Kapitel des ersten Teils, das sie daran hindert, mit Ottilie ein offenes Gespräch zu führen. Auch ihr Versäumnis steht dabei im Zeichen des Unschuldig-Schuldigwerdens, wird es doch als die verständlichste Verdrängungshandlung der werdenden Mutter und um alle Beteiligten besorgten Hausherrin dargestellt. Dies verweist auf ein immer wiederkehrendes Paradox der Gefühls- und Handlungsmuster der Figuren der Wahlverwandtschaften: ihre besten Eigenschaften sind immer wieder zugleich jene, die die schlimmsten Folgen zeitigen oder zu deren Beschleunigung beitragen. Charlotte und der Hauptmann zeichnen sich durch Tatkraft und lösungsorientierte Vernunft aus, doch die Umsetzung dieser positiven Eigenschaften treibt gerade jene Bemühungen voran, die in der Erfüllung von Eduards triebgesteuerter Handlungswut der Katastrophe Vorschub leisten. So etabliert die Handlung der Präsensszenen im ersten Teil ein Folge-gibtFolge-Schema, das die dramatischen Ereignisse in den Präsenssequenzen des zweiten Teils vorbereitet und sie in den prekären inneren Bedingtheiten der Figuren verortet. Dieses für den Leser zunehmend durchschaubare Ursache-
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Wirkung-Prinzip hat eine starke Aufladung der im historischen Präsens festgehaltenen Momente der Handlung zur Folge. Scheinbar nebensächliche und auf den ersten Blick nicht als zentral dechiffrierbare Szenen im Präsens lenken daher die Aufmerksamkeit auf die sich im Untergrund abspielende Dramenhandlung der inneren Prozesse. Als ein solcher Schwellenmoment kann die Szene im 15. Kapitel des ersten Teils bezeichnet werden, in der Charlotte nach dem vordergründig dramatischen Ereignis des Einbruchs der Uferteile beim Geburtstagsfest für Ottilie an Eduard mit der Bitte herantritt, das geplante Feuerwerk abzusagen und stattdessen für Hilfe der zu Schaden gekommenen Personen zu sorgen. Eduards ablehnende Haltung ist nicht nur hartherzig, der Moment bezeichnet auch den tiefen Bruch zwischen dem Ehepaar, indem sich Eduard ganz seinen auf die Feier für Ottilie fixierten Plänen zuwendet. Er kann daher als der Moment der endgültigen Entfremdung und eines gefühlsmäßig vollzogenen Ehebruchs gelesen werden. Die Szene der wiederholten Bitten Charlottes gewinnt so die Stringenz des entscheidenden Moments einer (antiken) Tragödie. Biblische Anspielungen überhöhen die im Präsens wiedergegebene Passage und werden im zweiten Teil als konkrete Opferhandlung gespiegelt. Martin Huber beschreibt in seiner Studie zum theatralen Erzählen um 1800 Beobachtungsprozesse, denen die Figuren ausgesetzt sind oder denen sie sich gegenseitig aussetzen, als eines der wichtigsten Elemente der Innovation im Drama der Aufklärung. Die über die Form des Briefromans sich neu etablierende Romangattung und die empfindsame Literatur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts übernehmen das Motiv des theatralen Beobachtens im Sinne eines Erzählens, das in Analogie zum Theaterzuschauer die »Begrenztheit der Wahrnehmung der Figuren für den Leser beobachtbar macht«, so Huber753. Dies gilt auch für die Wahlverwandtschaften und hier wiederum im Besonderen für die Passagen im szenischen Präsens. Das Motiv des Beobachtens ist zuerst inhaltlicher Bestandteil der Präsensszenen, der ersten Teil und zweiten Teil verknüpft. So wird die Beobachtung von Eduard und Ottilie vor allem nach der Szene von Eduards »Gefühlsausbruch« gleichsam zur Hauptbeschäftigung für Charlotte und den Hauptmann in den Präsensszenen des ersten Teils. Die Erforschung der Vorfälle zwischen Ottilie und Eduard ist dann eine der wichtigsten Reaktionen Charlottes in den Präsenspassagen des zweiten Teils, vor allem nach dem Tod des Kindes. Über die Darbietung der einander beobachtenden Figuren in der dramatisierenden Form des szenischen Präsens wird darüberhinaus aber auch stark die Rolle des Beobachters dieses Geschehens thematisiert und der immer genauere Blick des Lesers gleichsam mitinszeniert. Das szenische Präsens steht so auch für die erhöhte Aufmerksamkeit, die den Prozessen der Wahrnehmung seit der Diskussion der Sinneshierarchie der Aufklärung auf verschiedenen Ebenen 753 Vgl. Huber, Text als Bühne, S. 85.
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zukommt. Es repräsentiert die Figuren als auf ihre Beobachtungen zurückgeworfene Reagierende, und es verweist auf die Frage, in welcher Weise wir als Leser am Geschehen teilhaben. Die Heraushebung einzelner Szenen über eine andere Tempusform thematisiert die Lenkung des Blicks durch den Schöpfer der Erzählung und die Rolle der Aufmerksamkeit ihrer Rezipienten. So kann man die Verwendung des szenischen Präsens als Metapher der gesteigerten sozialen wie Selbst-Beobachtung lesen, die in der Gattung des Zeit-Romans ihre Form findet. Dem allseits thematisierten Zwang zur Beobachtung kann sich auch der Leser nicht mehr entziehen, er wird über die Bewegung der Beobachtung, Teilnahme und des Erkennens der Ursachen gleichsam zum Mitschöpfer der Erzählung. Auch sein Urteil ist auf diese Weise aber bedingt von den ihm dargebotenen Informationen, das historische Präsens verweist somit auf die Begrenzung der Möglichkeiten sowohl der Darstellung wie der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Es zeigt einen Ausschnitt und verweist damit auf den notwendigerweise eingeschränkten und einschränkenden Charakter der im Roman beschriebenen Welt. Die Wahlverwandtschaften können aber nicht nur aufgrund der stark szenenund bühnenhaften Darstellungsmodi als Drama der Beobachtung bezeichnet werden, sondern auch deshalb, weil das Motiv der Beobachtung stark mit dem Motiv der Vergeblichkeit der Bemühungen der Figuren verbunden ist. Beobachtung erweist sich immer wieder als fatal oder hilflos. So wirft Charlottes genaue Beobachtung von Ottilie in den Präsensszenen des 13. Kapitels des ersten Teils sie vor allem auf das Schwanken ihrer eigenen Vernunftstärke aufgrund ihrer tiefen Gefühle für den Hauptmann zurück (das »Schwanken« Ottilies im Boot wird gleichzeitig zu einem Hauptmotiv in der Szene des Kindstods), am Schluß bleibt ihr nur mehr die Beobachtung von Eduards und Ottilies Krankheitszuständen als Möglichkeit der Teilnahme. Von Charlotte umsorgt und nach deren Gewohnheit der Ursachenerforschung immer wieder unter die Lupe genommen, stirbt Ottilie in einer der Präsensszenen nach dem Tod des Kindes. Dabei folgt der Roman einer paradoxen Logik. Je mehr die Figuren auf die bloße Möglichkeit des Beobachtens eingeschränkt sind, desto mehr entzieht sich der beobachtete Teil diesem Zugriff. So geht Ottilies Verweigerung der Nahrung mit der Verweigerung von Kommunikation einher, die Umwelt ist nunmehr auf ihre Gebärdensprache angewiesen. Die Präsensszene nach der Nacht im Wirtshaus zeigt Eduard bei der dringenden Bitte an Ottilie, einen Wunsch zu äußern, jene von Ottilies Hungertod unter den Augen ihrer »Mutter« die Vergeblichkeit der Beobachtungen Charlottes. Auch die Nebenfiguren kommen stark in die Rolle von Beobachtern des Geschehens. So doppelt die Baronesse in der kurzen Präsenspassage im siebten Kapitel des zweiten Teils Charlottes Rolle als kontrollierende Mutter, indem sie die Anstalt des Gehülfen und dessen Absichten auf Ottilie »beobachtet«, wie es im Text heißt. Andere Figuren, wie Eduards Kam-
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merdiener, haben in den Präsensszenen am Schluß den Part von Informanten für Charlotte. Jene Figur, deren Beobachtungen aber am direktesten das Gesetz der Vergeblichkeit spiegeln, ist der Chirurgus. Sein erstes Auftreten zu Beginn der Präsensszene von Charlottes dringenden Bitten an Eduard zeigt ihn kurz als ärztlichen Helfer, der seiner Rolle gemäß den bewußtlosen Knaben zur Untersuchung übernimmt. Seine beiden anderen Auftritte beim Tod des Kindes und dem Ottilies vollführen aber die gleiche paradoxe Bewegung wie die gesteigerte Beobachtung. Je genauer seine Bemühungen der Untersuchung geschildert werden, desto klarer ist der negative Ausgang. Er kann nur mehr den Tod des Kindes bestätigen, seine dringende Befragung Nannys zu Ottilies Eßgewohnheiten kurz vor deren Verhungern steht in diametralem Gegensatz zu seiner Rolle als Hausarzt und Diagnostiker. Der Arzt als Inbegriff der rationalisierten und ritualisierten Hilfe wird so zur Figur, deren Beobachtungen am deutlichsten im Kontrast zu seiner Rolle stehen und damit am meisten auf den kritischen Status der Möglichkeiten des rationalen Zugriffs auf das Innere des anderen hinweisen. Der Chirurgus, der bis auf die Erwähnung seiner Anstellung im vierten Kapitel des ersten Teils nur in den Präsensszenen auftritt, begleitet also als hilfloser Helfer vor allem den Kern der Handlung, der um das Kind angeordnet und mit dem Motiv des Todes verbunden ist. Durch seine Rolle als wissenschaftlich-professioneller Helfer ist er ein Gegenbild Mittlers, dessen Scheinrationalität auf Schritt und Tritt offenbar wird. Gerade dadurch wird aber die Vergeblichkeit der Bemühungen des Arztes zum Abbild der prekären Rolle von Vernunft und Rationalität und verweist vor allem auf die einsamen Möglichkeiten der Einwirkung aufgrund von Beobachtung. Das allem zugrundeliegende Motiv der Wahlverwandtschaften, das Beobachten der Reaktionen der chemischen Elemente, wird so in der die Präsensszenen durchziehenden Motivkette des letztlich immer vergeblichen Schauens und Beobachtens als soziale Praxis moderner Vernunftbetontheit abgehandelt, deren Auswirkungen vor allem den Beobachtenden selbst treffen. Er ist der Melancholie des Schauens ausgeliefert. Ebenso wie die Motivkette des Erblickens, Schauens, der (Selbst-)Wahrnehmung und des Interpretierens von eigenen wie fremden Gefühlen verbinden die wiederholten Motive des Bittens und Befragens die Präsensszenen des ersten und des zweiten Teils. Auch dieser Motivkette ist zunehmend das Moment der Vergeblichkeit eingeschrieben. Charlottes vergebliche Bitte an Eduard um Beistand in der Szene des Dammbruchs findet so ihre Fortsetzung in den Präsensszenen am Schluß des Romans, vor allem in der Szene im Wirtshaus zwischen Eduard und Ottilie und bei Ottilies Tod. In beiden Szenen sind die wiederholte Befragung und Bitten um Äußerung eines Wunsches an Ottilie zentral. Ottilies Sprechenthaltung, die mit der Verweigerung der Nahrung einhergeht, markiert damit einen wichti-
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gen Punkt in der im Roman detailliert entwickelten Wunsch-Logik der Figuren. Ottilie entzieht sich durch ihr Schweigen vor allem der fatalen Kette von WunschÄußerungen und setzt damit der Spirale der Vorsätze, Vorhaben und Absichten ein Ende. Auf diese Weise führen die Sprechakte, die Charlottes Bitten wiederaufnehmen und gegen Ende die Präsenspassagen immer signifikanter bestimmen, auch das Moment der Überhöhung mit, das im ersten Teil entwickelt wird. Die hoch aufgeladene Bitte um Hilfe an Eduard endet ebenso wie die Bemühungen des Arztes am Schluß in einer Reihe finaler Bitten und Fragen, denen immer vehementer das Fehlen von Zukunftsbildern, von Absichten und Wünschen entgegengesetzt wird. Mit keinem Wort wird daher auch eine Zukunftsperspektive für die Hinterbliebenen entworfen und der Roman endet einzig mit dem Hinweis auf eine jenseitige Zukunft für das tote Paar Eduard und Ottilie. Das Futur der Schlußformel zeichnet diese Entrückung nach. Ottilies Unterbrechung dieser Sprech- und Wunsch-Logik am Ende kann man damit auch als Lösung des Grundkonflikts der Wahlverwandtschaften sehen, wie ihn Goethe brieflich skizziert hat. Der Stelle aus Matthäus 5,28: »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.« liegt das Wünschen als direkte Folge des Sehens, Erblickens zugrunde und suggeriert diesen Prozess als unausweichlich und immediat. Indem Ottilie Sprechen, Wünschen und Zukunftspläne verweigert, versucht sie, diese fatale Logik zu durchbrechen, scheitert aber an der Bilderwelt der anderen. Paradox ist die Bewegung, die der Roman vollzieht, auch hier. Ottilies Verweigerung der Wunsch-Bilder endet in ihrer Überhöhung als zur Heiligenlegende erstarrter Körper im Glassarg. In der Logik der religiös überhöhten, mythischen wie biblischen Anspielungen und Motive, die die Präsenspassagen durchziehen, ist dieses Ende aber konsequent. So wird das neugeborene Kind von Charlotte am Beginn des zehnten Kapitels des zweiten Teils »als auf einen häuslichen Altar« niedergelegt und sein Opfertod damit vorausgedeutet. Daß dieser Tod gerade von Ottilie ausgelöst wird, erhöht nicht nur den dramatischen Konflikt, da Ottilie als unschuldiges »Kind«, wie sie zumeist genannt wird, aus der Konstellation der drei älteren Hauptfiguren herausragt, ihre Schuld damit umso mehr ihrer Unschuld kontrastiert. Im Sinne der Bilderlogik kann man darüberhinaus Ottilies Schuld auch als jene interpretieren, die sie auf sich nimmt, indem sie das mit Wunschbildern und Zukunftsprojektionen überfrachtete Kind, in dem sich die ganze Maschinerie des Begehrens ausdrückt und um das sich das ganze Karussell des Habenwollens dreht, ertränkt. Daß kurz vor dem Tod des Kindes vom »Spiegel« des Sees die Rede ist, bezeichnet aus dieser Sicht auch eine Parallele zwischen dem Kind, dem See und Ottilie selbst. Alle drei geraten zu Projektionsflächen und werden damit ihrer Lebendigkeit beraubt. Leben kommt ihnen nur zu, wenn es ihnen in oder durch die Wunschgedanken der anderen gestattet wird. So stirbt Ottilie, da sie sich und das Kind der Wunschwelt entzieht,
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das Kind geht als Kreuzpunkt der Liebes-Projektionen der Figuren in den See als Kreuzpunkt der Natur-Projektionen ein. Aporetisch ist aber Ottilies eigene Lebensposition von vornherein, als mittellose Vollwaise mit betont prekären Lebensaussichten ist sie von divergierenden Wünschen ihrer Umgebung am meisten abhängig und betroffen. Die Wunsch- und Bildermächtigkeit des Begehrens, die für alle Figuren im Konflikt mündet, steht so im Zentrum der Wahlverwandtschaften und durchzieht als Stationendrama die im Präsens erzählten Passagen des Romans. Berücksichtigt man Einsatz und Ausklang des szenischen Präsens, stehen Hoffnungen und Bilder am Beginn und am Ende dieses Bogens. Das Wünschen als Hauptmotiv drückt sich sowohl im ersten als im zweiten Teil in einem in den Präsensszenen immer wieder eingesetzten Verb aus, in »wollen«. Oft beschrieben wird die Kraft der Imagination, die dazu führt, daß bei der Zeugung des Kindes letztlich alle vier Hauptfiguren anwesend sind. Eduard und Charlotte sehnen sich beide den jeweils anderen Partner so sehr herbei, daß das Kind den realen wie den in der Nacht der Zeugung imaginierten Eltern ähnelt. Die Macht des Wünschens wird also schon in der Grundkonstellation abgehandelt, ebenso häufig thematisiert die Sekundärliteratur die Bemühungen Eduards und Charlottes, den Schloßpark in einen locus amoenus zu verwandeln, der ganz ihren Bedürfnissen und ihrem Geschmack entspricht. Weniger offensichtlich, aber unterschwellig stark präsent, ist dagegen das Motiv der Beschleunigung, die die Logik des Begehrens auslöst. Besonders Eduard als der impulsivste und ungeduldigste Charakter, von Giovanni Sampaolo als Pluto interpretiert, wirkt hier als Motor des Geschehens, sein Wollen bestimmt das Geschehen von der Einladung des Hauptmanns bis zu den Präsensszenen im Wirtshaus und bei Ottilies Tod, wo er Ottilie zuerst um die Äußerung eines Wunsches und zum Schluß nur noch um die Äußerung eines Wortes bittet. Gemäß der im Roman entwickelten Charakterlogik entspricht Eduards Wollen seiner ungeduldigen Veranlagung, die auf kindliche Verwöhntheit, aber auch auf frühe Einübung in seine Rolle als Gutsbesitzer und Landadliger zurückgeführt wird. Diese Bestimmung zum Besitzenden bedingt letztlich Eduards ganzes Verhalten und bildet wiederholt den Untergrund seines Handelns in den ihn betreffenden Präsenspassagen. Fast alle seine Bestrebungen zielen letztlich auf Vermehrung oder Vervollkommnung seines Besitzes, zentral ist daher das in der ersten langen Präsensszene im ersten Teil in den Blickpunkt rückende Motiv der Verengung seiner Sicht auf Ottilie als Objekt seines Begehrens. Der Zufall, daß Ottilie am Tag geboren ist, als er die Platanen pflanzte, wird für Eduard zum Zeichen der Vorherbestimmung ihrer Verbundenheit. Auch diese Szene der Entdeckung des Eduard willkommenen Zufalls wird im Präsens geschildert. Sie reiht sich damit in die Darstellung der Rollen- und Typenlogik ein, die das Handeln der Figuren so stark bestimmt. An Eduards freudiger Reaktion auf die
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Entdeckung des Zusammenfalls von Ottilies Geburt und der Pflanzung der Plantanen kann man daher, neben der Zeugungsmetapher, als zeichenhaft werten, daß Ottilie mit diesem Zufall gleichsam zu einem Teil von Eduards Besitz wird. Im Sinne seines prinzipiell begehrenden Charakters ist daher in Eduards Wollen, ähnlich wie in Charlottes unbedingter Überzeugung, das Kind könne die Situation entwirren, ein Grundkonflikt ausgedrückt, der so prominent die Handlung bestimmt, daß man ihn in einen größeren Zusammenhang einordnen kann. Die Präsensszenen im ersten Teil kreisen stark um Eduards Verblendung durch die Liebe zu Ottilie und die von seiner fixierten Sicht auf Ottilie ausgelöste Umtriebigkeit, mit der Eduard auch die anderen Figuren zu übereiltem Handeln drängt. Im ersten Teil geschieht dies sozusagen noch im kleinen, indem es nur um die Vorbereitung von Ottilies Geburtstag geht, im zweiten Teil aber kehrt Eduard voller Entschlossenheit, Ottilie nun zu der seinen zu machen, aus dem Krieg zurück, und setzt damit die finale Katastrophe in Gang. Der Knabe aus der Geburtstagsgesellschaft, der bei Ottilies Fest nur beinahe ertrinkt, ist im zweiten Teil sein eigener, die im ersten Teil Charlotte verweigerte Hilfe bei Versorgung des Verunglückten kehrt später als vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod seines Erstgeborenen zurück. Eduards Wollen und Nichtwollen repräsentiert daher in Überzeichnung eine allen Figuren fatale Logik des Wünschens. – Dies läßt sich mit jener Dichotomie in Zusammenhang bringen, die Goethe in Shakespeare und kein Ende als grundlegenden Unterschied zwischen antiker und moderner Darstellung beschreibt. Peter von Matt verweist in seinem Beitrag zu den Wahlverwandtschaften auf die Gegenüberstellung von antikem Sollen und modernem Wollen, an denen Goethe wenige Jahre nach Abfassung des Romans eine Einordnung Shakespeares vornimmt754. Von Matt interpretiert daher die Unbedingtheit der Naturgesetzlichkeiten in den Wahlverwandtschaften als Hinweis auf Goethes Versuch, ähnlich wie Shakespeare diese beiden zentralen Kategorien zu verbinden755. Demgemäß ist für Goethe das Drama der Antike davon geprägt, daß die Figuren einem unbedingten Sollen unterliegen, das Wollen ist hingegen eine zentrale Kategorie der neueren Dichtung, weswegen Shakespeare für Goethe dem »innersten, tiefsten Sinne nach« ein »entschieden moderner Dichter« ist: Die alte Tragödie beruht auf einem unausweichlichen Sollen, das durch ein entgegenwirkendes Wollen nur geschärft und beschleunigt wird. Hier ist der Sitz alles Furchtbaren der Orakel, die Religion, in welcher »Ödipus« über alle thront. Zarter erscheint uns das Sollen als Pflicht in der »Antigone«, und in wie viele Formen ver754 Vgl. von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 301f. Shakespeare und kein Ende ist 1813 entstanden. 755 Vgl. ebda.
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wandelt tritt es nicht auf! Aber alles Sollen ist despotisch. Es gehöre der Vernunft an, wie das Sitten- und Stadtgesetz, oder der Natur, wie die Gesetze des Werdens, Wachsens und Vergehens, des Lebens und des Todes. Vor allem diesem schaudern wir, ohne zu bedenken, daß das Wohl des Ganzen dadurch bezielt sei. Das Wollen hingegen ist frei, scheint frei und begünstigt den einzelnen. Daher ist das Wollen schmeichlerisch und mußte sich der Menschen bemächtigen, sobald sie es kennen lernten. Es ist der Gott der neuern Zeit; ihm hingegeben, fürchten wir uns vor dem Entgegengesetzten, und hier liegt der Grund, warum unsre Kunst sowie unsre Sinnesart von der antiken ewig getrennt bleibt. Durch das Sollen wird die Tragödie groß und stark, durch das Wollen schwach und klein. Auf dem letzten Wege ist das sogenannte Drama entstanden, indem man das ungeheure Sollen durch ein Wollen auflöste; aber eben weil dieses unsrer Schwachheit zu Hilfe kommt; so fühlen wir uns gerührt, wenn wir nach peinlicher Erwartung zuletzt noch kümmerlich getröstet werden.756
Für Goethe besteht der grundlegende Unterschied darin, daß dem modernen Menschen das unbedingte Sollen, dem die antiken Helden unterliegen und dem sie sich unterordnen, indem sie dessen Gesetze akzeptieren und nur wollen, »was Menschen möglich ist«, nicht mehr zugänglich ist: »Eine Notwendigkeit, die mehr oder weniger oder völlig alle Freiheit ausschließt, verträgt sich nicht mehr mit unsern Gesinnungen […]«757. Bei Shakespeare findet er jedoch die beiden Kategorien verbunden, indem nicht nur ein innerer Konflikt zwischen Sollen und Wollen die Figuren bestimmt, sondern indem dieser darüberhinaus gleichsam in den von außen auf die Helden zudringenden Mächte gedoppelt wird. So verweist Goethe auf Hamlets Geist, die Hexen und Lady Macbeth als auf äußere »Veranlassungen«, die das Wollen im jeweiligen Charakter des Helden so sehr verstärken, daß es die Kräfte des Individuums übersteigt, und dies bezeichnet Goethe als ein modernes Wollen: »Daß es aber Shakespeare nicht von innen entspringen, sondern durch äußere Veranlassung aufregen läßt, dadurch wird es zu einer Art von Sollen und nähert sich dem Antiken.«758 Eduards unbedingtes Wollen in den Wahlverwandtschaften läßt sich damit in die für Goethe grundlegende Dichotomie zwischen Antike und Moderne einordnen. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich der Unterschied zwischen ihm und Ottilie auch als der einer grundlegend anderen Interpretation des Wollens, worauf Peter von Matt eingeht, der der Frage von äußeren Einflüssen im Diskurs der Wahlverwandtschaft detailliert nachgeht. Er sieht in der Darstellung der »magnetischen Schließung« zwischen Eduard und Ottilie als einem Ereignis von »naturgesetzlicher Gewalt und Unausweichlichkeit« den Schlüssel zu Goethes Verbindung von antikem Sollen und modernem Wollen in der Nachfolge
756 Goethe, Shakespeare und kein Ende, HA, Bd. 12, S. 293. 757 Vgl. ebda., S. 294. 758 Ebda.
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Shakespeares. Dadurch, so von Matt, gewinnt Goethe »mitten in der Moderne das antike »Sollen« wieder«: Die Liebe selbst wird dadurch so »despotisch« wie »die Gesetze des Werdens, Wachsens und Vergehens, des Lebens und des Todes«. Aber Goethe macht auch, genau wie Shakespeare, »das Notwendige sittlich«. In Ottilies Entsagen, in welchem sie ihren freien Willen dem unerhörten Sollen entgegensetzt und darüber stirbt, verbindet er das antike mit dem modernen Tragischen, »verknüpft« er, wie sein Shakespeare, »die alte und neue Welt zu unserem freudigen Erstaunen«. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlicher, warum Ottilie gegen Ende so deutlich dem Umriß einer christlichen, also »modernen« Heiligen angenähert wird, während Eduard in seinem kindlichen Ungestüm, seiner naiven Draufgängerei, seiner hemmungslosen Bereitschaft zu Tränen und zu Jubel, die Zeichen des antiken Menschen trägt, wie Herder und Schiller und nicht zuletzt Goethe selbst ihn gesehen haben.759
Daß die Wahlverwandtschaften von einer starken Spannung zwischen antiken und modernen Elementen leben, ist ein wiederkehrendes Thema der Sekundärliteratur. Für Madame de Sta[l bedeutete die detaillierte Darstellung der Alltagsbeschäftigungen der Figuren im Roman eine übertriebene, ihrer Forderung nach Überhöhung in der Kunst widersprechende Tendenz der realistischen Schilderung. Spätere Stellungnahmen, vor allem Walter Benjamins prägender Essay zu den Wahlverwandtschaften, betonten dagegen stark die Einarbeitung mythologischer Motive im Roman, was eine Serie von Studien zu diesem Thema nach sich gezogen hat. Stefan Blessin skizziert in seiner Arbeit zu Goethes Romanen diese Diskussion ihrer Stellung zwischen der Zuwendung zur Antike und der Aufarbeitung der Vorboten des »unglücklichen Bewußtseins« der Moderne760. Er verteidigt die These, daß es vor allem die psychologische Tiefenschärfe und Darstellung einer neuen Weltsicht ist, die Goethes Vorreiterrolle als Wegbereiter der Moderne bestätigt und ihn gleichsam zum Entdecker verschiedener Zweige der späteren Gesellschaftswissenschaften wie der Soziologie, der Ökonomie und der Psychologie im Roman werden lassen. Der Bezug der Romangattung zur Moderne ist für Blessin »konstitutiv«, unser heutiges Selbstverständnis für ihn grundlegend geprägt von der Abbildung der Wirklichkeitsdarstellung und -wahrnehmung, wie sie der Roman entwickelt. Dem »mythischen Schattenspiel in Kostümen des Goetheschen Zeitalters«, wie Walter Benjamins berühmte Formulierung lautet, in den Wahlverwandtschaften nachzugehen, betrachtet Blessin daher als vollkommen legitim. Doch warnt er davor, Goethe aufgrund des Reichtums an alttestamentarischen, christlichen und antiken Traditionslinien und Bildern in seinen Romanen hinter einer fiktiven Grenze der Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen Phänomenen 759 Peter von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, S. 302f. 760 Vgl. Stefan Blessin, Goethes Romane – Aufbruch in die Moderne, besonders S. 7–13.
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zugunsten der Schaffung einer rein mythisch geprägten Kunstwelt anzusiedeln, die die Beschäftigung mit Phänomenen der neuen Zeit negiert: Aber was immer unser Interesse am Mythos ist, es wird gesteuert von der Opposition gegen das, was den Roman als literarische Gattung überhaupt erst ins Leben gerufen hat und mit der Ablösung mythischer Weltbilder verbunden ist. Die Moderne kann mit dem Roman ergründet und hinterfragt werden – aus dem Roman austreiben läßt sie sich nicht. Und das um so weniger, als der Roman selbst lebendigen Anteil an der Physiognomie der neuen Zeit hat. Wie wir uns sehen und erfahren – in historischen und lebensgeschichtlichen Zusammenhängen, in psychologischer Innensicht, in sozialen und ökonomischen Verflechtungen, dieses unser ganzes Sensorium hat der Roman mitentwickelt. Deshalb können uns auch Romane wie die Goethes immer noch elementar ansprechen. Sie reden mit uns, wir mit ihnen.761
Betrachtet man die Motivketten, die die Präsenspassagen in den Wahlverwandtschaften durchziehen, kann man auch an ihnen die Aufladung mit Anspielungen an antike und biblische Motive ablesen. Als hervorstechendstes Beispiel in diesem Sinn habe ich die Sprechakte hervorgehoben, die immer wieder Inhalt der Passagen im szenischen Präsens sind und zunehmend die Schwellenmomente der inneren Konflikthandlung der Figuren bezeichnen. Das Erzählen im Präsens selbst wird, wie wir in der zeitgenössischen Kritik durch Karl Wilhelm Ferdinand Solger gesehen haben, seinerseits als antikisierende Technik gesehen, da es als skizzenhaftes und sparsames Mittel der Darstellung interpretiert wird. Das Präsens »umreißt«, so Solger, »mit kurzen, auf den ersten Anblick hart erscheinenden Zügen Zustände der Personen«. Dieser Diagnose der skizzenhaften und schnellen Zeichnung ist schon angesichts der Dynamisierung, die der Tempuswechsel mit sich bringt, zuzustimmen, und zeigt sich besonders in der Darstellung der dramatischen Geschehnisse im zweiten Teil. Ebenso bleibt Henning Brinkmanns Interpretation des szenischen Präsens als eigene Erzählschicht, die die Inbesitznahme der Figuren durch die Wirkmächte des »Dämonischen« kennzeichnet, als Erklärung gültig, weil sie das Augenmerk auf das bei näherem Hinsehen immer merkwürdigere Phänomen lenkt und auf die wichtige Dimension der Willenslenkung der Figuren hinweist. Auf den ersten Blick scheint dieses Phänomen in einer Dichotomisierung zwischen Antike und Moderne klar der Antike zugeordnet werden zu können. Peter von Matt zeigt jedoch detailliert, wie diese Lenkung abläuft und die Figuren bestimmt, indem der Wirkweise des Dämonischen die zwingende Logik des Magnetismus unterlegt wird. Er legt außerdem in seiner Studie den Schwerpunkt darauf, zu zeigen, wie aktuell die von Goethe in den Wahlverwandtschaften eingearbeiteten Ergebnisse der Forschung zur Elektrizität sind. Ähnlich muß man der Interpretation der Präsensszenen als Momenten der 761 Ebda., S. 10.
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Machtübernahme des Dämonischen die in der vorliegenden Textanalyse gewonnenen Aspekte hinzufügen. Das immer wieder thematisierte Beobachten verweist auf die Wahrnehmung der Figuren als Schlüsselreiz, das von Solger gebrauchte Wort der »Zustände« kann als Schlüsselwort genommen werden, um Brinkmanns Lesart um jene Elemente zu ergänzen, die ebenso prominent in den Passagen im szenischen Präsens abgehandelt werden. Das Motiv der SelbstIntrospektion und gegenseitigen Beobachtung der Figuren geht einher mit dem Einsatz des Präsens als Mittel perspektivischer Darstellung. Ausgenützt wird daher die Möglichkeit, über den Tempuswechsel den inneren Konflikt der Figuren in den Präsenssequenzen, der über die Fortsetzung der Motivketten abgehandelt wird, im Zoom-Effekt näher heranzuholen. Ergänzt wird dies durch den gleichzeitigen Einsatz anderer moderner Erzählmittel wie dem der erlebten Rede. Dieses genaue Beleuchten der inneren Prozesse der Figuren vor allem im ersten Teil kann zudem mit Friedrich von Blanckenburgs Romantheorie in Zusammenklang gelesen werden, die die Herleitung der Handlungsweise einer Figur aus dem Zusammenspiel von Veranlagung, Verfassung und dem Einfluss von äußeren Reizen, dem die Figur unterliegt, fordert. Die in den Präsensszenen thematisierte Frage der Reaktionsweise einer Figur gemäß ihres Charakters und ihrer persönlichen Neigungen entspricht also einer Forderung der Goethezeit an den sich neu etablierenden Roman. Somit wird die Frage der äußeren Einflüsse und der gleichzeitigen inneren Bedingungen, unter denen Wahrnehmung passiert, in den Präsensszenen prominent diskutiert. Charlottes Schwangerschaft als Grund bestimmter Entscheidungen wurde schon genannt, ebenso Eduards Fixierung auf Ottilie, die ihn nicht zuletzt zum abergläubischen Zeichendeuter werden läßt und so weit geht, daß sogar ein Farbreiz, der der Farbe Rot, bei Eduard Emotionen auslösen kann. Auch dies kann in einen für Goethe grundlegenden naturwissenschaftlichen Zusammenhang gestellt werden. Grete Schaeder extrapoliert in ihrer im Forschungsbericht dargestellten Studie als zentrales Argument der Wahlverwandtschaften die Rolle der Sinneswahrnehmung. Aus Goethes Beschäftigung mit der Farbenlehre zieht Schaeder für den Roman den Schluß, daß er die Frage des freien Willens als Frage des »geistigen Sehens« und der Bedingungen, unter denen Wahrnehmung stattfindet, diskutiert. Ein Tagebucheintrag Goethes von 1807 bezeichnet »Lieben und Hassen, Hoffen und Fürchten« als »differente Zustände unsres trüben Innern, durch welches der Geist entweder nach der Licht- oder Schattenseite hinsieht«. Der Blick durch dieses trübe Innere je nach äußeren Gegebenheiten bestimmt für Goethe die ihm folgende Gemütsbewegung: »Blicken wir durch diese trübe Umgebung nach dem Lichte hin, so lieben und hoffen wir ; blicken wir nach dem Finstern, so hassen und fürchten wir.« Die Vermittlung des Lichts gilt für Goethe als Urphänomen und als Schlüssel zu Emotionen und Reaktionen des Menschen.
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Schaeder interpretiert daher das »Gesetz des geistigen Sehens« als das alles dominierende Grundthema des Romans und die stets vorhandene Wahlmöglichkeit des Menschen, die in jedem Lebensaugenblick vollzogen wird. Unter diesem Gesichtspunkt können die auffälligen »narrativen Inszenierungen«, wie sie Martin Huber für den Werther beschreibt, also die genauen Schilderungen der äußeren Bedingungen, unter denen die wichtigsten Szenen in den Wahlverwandtschaften stattfinden, als Beschreibung der Wahrnehmungsgrundlage der Figuren gelesen werden. Auch hier entspricht die Darstellung im Roman der genannten Grundtendenz der Vergeblichkeit. Alle entscheidenden Szenen, von der Zeugung des Kindes über die Szene des Dammbruchs mit der Folge des beinah ertrinkenden Knaben bis zu Ottilies und Eduards Wiedersehen am See und dem tatsächlich ertrinkenden Kind spielen sich zur Dämmerstunde, bei beginnender Dunkelheit oder Nacht ab und verweisen damit wieder auf die Bedingtheit und Begrenztheit der Wahrnehmung, der die Figuren unterliegen. Das Motiv des Erblickens oder Anschauens, das in den Präsenspassagen immer wieder auftaucht, verknüpft sich daher der Thematik der Entscheidungs- und Interpretationsprozesse der Figuren, die den inneren Handlungszusammenhang der Sequenzen im szenischen Präsens bildet. Auch das in den Präsensszenen immer wieder auftauchende Motiv des »Scheins«, »Scheinens« oder »Erscheinens«, mit dem der Erzähler die prekäre Wahrnehmung der Figuren beschreibt, kann in diesen Zusammenhang gestellt werden. Es verweist auf die stets notwendige Wahl in der Interpretation der äußeren Gegebenheiten und Bedingungen. Gleichzeitig verweist es abermals auf den Leser als Interpreten der Bilder, die ihm der Roman vorgibt. Selbstbeherrschung oder Beherrschtheit von außen erweist sich damit in den Wahlverwandtschaften mit ihrer durchgängigen Thematisierung der Macht der Bilder als Frage der Beherrschung dieser Bilder und Wünsche, die das Innere bestimmen. Das in den Präsenspassagen herausgehobene Drama der Veranlagungen, Wahrnehmungen, Wünsche, Verblendungen und Entscheidungen rückt die Strategie der psychologischen Herleitung im Roman viel stärker in den Blickpunkt, als dies zumeist konzediert wird. Entgegen dem augenfällig introspektiven Briefroman Werther gelten die Wahlverwandtschaften als distanziert erzählter Romanbericht aus der nachklassischen Schaffensperiode Goethes, der unter dem Rückgriff auf die Metapher der chemischen Anziehung menschliche Verhaltensweisen gleichsam im wissenschaftlichen Blick des Forschers von außen und unter Beifügung zahlreicher verallgemeinernder Kommentare und Sentenzen des Erzählers seziert. Wohl wird die eindringliche Schilderung des Ehekonflikts hervorgehoben, doch beschäftigt sich die Mehrzahl der Studien mit der Entzifferung der Symbolsprache und überbordenden Metaphorik, der einer Überlieferung Riemers zufolge Goethes Hauptaugenmerk in der Form der Darstellung galt: »[…] seine Idee bei dem neuen Roman »Die Wahlverwandt-
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schaften« sei: sociale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen.«762 Über die Mittel der narrativen Inszenierung, der Einbeziehung des Lesers durch die Thematisierung des Zustandekommens von Emotionen in den Sequenzen im szenischen Präsens und die hineinversetzende Wirkung des Tempuswechsels selbst verfolgen die Wahlverwandtschaften jedoch ebenso sehr das Programm einer Psychologisierung des Erzählens wie der Werther. Auch hier ist der Impetus der Darstellung, von den Figuren ein Gesamtbild zu zeichnen, das ihre Handlungen aus ihrem Charakter und anderen Bedingungen heraus nachvollziehbar macht. Es geht also um eine ganzheitliche Erfassung der Menschen, die geschildert werden. Über die in den Präsensszenen festgehaltenen Ausschnitte nehmen wir am Leben der inneren Bilder der Figuren teil und erleben daher auch ihren inneren Reichtum. Der Blick in ihr Inneres verleiht den Figuren Mehrdimensionalität und schafft in den Wahlverwandtschaften bei aller Betonung der Symbolträchtigkeit eine breite Basis zur emotionalen Identifizierung mit den Figuren. Doch weist die Macht der Bilder, die die Figuren mit sich herumtragen, tatsächlich in eine weite Dimension. Sie bewegt sie im wahrsten Sinn des Wortes. Für Martin Huber ist eines der zentralen Motive im Werther die Bewegung der Figuren im Tanz. Die entsprechenden Schilderungen Werthers machen Gefühle literarisch erfahrbar, diese Diskursivierung von Emotion ist für Huber die entscheidende Neuerung und wichtigste Innovation am Werther. Das Motiv der Bewegung als Abbild und Auslöser von Emotionen kehrt im späteren Roman wieder und bezeichnet auch hier zuerst das Glück, das die Liebenden im Denken an den jeweils anderen erfahren, indem Eduard und Ottilie einander auch auf fernste Distanz als Sichbewegende imaginieren und so die gegenseitige Zuneigung lebendig erhalten. Auch durch diese Fortsetzung des Werther-Motivs wird das Leben im Inneren zum letztlich alles bewegenden Motiv der Geschehnisse der Wahlverwandtschaften. Wie im Werther jedoch gewinnen die inneren Bilder der Figuren in den Wahlverwandtschaften die Dimension einer zerstörerischen Kraft. Die in Eduard so lebendigen Bilder von Ottilie verstärken nur seine Fixierung und beschleunigen damit ihrer beider Untergang. Charlottes Blick in ihr eigenes Herz, in dem der Hauptmann wohnt, setzt schon viel früher die Logik der Versäumnisse und falschen Interpretationen in Gang. Von der Ein-Bildung ihrer Schwangerschaft weg tragen letztlich alle Bilder des Romans den Kern der Katastrophe in sich. So laufen die (Figuren wie Leser) bewegenden Bilder alle auf den Endpunkt des Todes zu und bezeichnen damit einmal mehr den Bogen der Vergeblichkeit, der den Motivketten der Beobachtungen und der abgelehnten Bitten innewohnt. 762 Tagebucheintragung Friedrich Wilhelm Riemers vom 28. August 1808, Kommentar HA, Bd. 6, S. 638.
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Helmut Pfotenhauer bezeichnet in seinem Aufsatz »Bild versus Geschichte – Zur Funktion des novellistischen Augenblicks in Goethes Romanen«763 diese Bewegung der letztlich bewegungslosen Bilder als Absage an eine Entwicklungsmöglichkeit der Figuren. Für ihn handeln die Wahlverwandtschaften »von Bildern und ihrer Geschichte«: Die Helden bringen diese hervor und gehen in sie ein – sie haben kein eigenes Dasein ihnen gegenüber. Der Roman handelt davon, wie Bilder entstehen, welche Einbildungen in sie eingehen und was daraus wird und werden muß. Bilder selbst werden historisch – als Auswicklung ihres geheimen fatalen Kernes. Das Leben erstarrt zur Konfiguration; Bewegung erscheint im Modus ihrer Vorgeschichte und ihres Fortwirkens. Aber sie verbleibt in einem vorgegebenen ikonischen Rahmen. Ein Reifungsprozeß, der darüber hinausführte, findet nicht statt.764
Für Pfotenhauer stellt das Bild von Ottilie, die den toten Knaben in der Geste der Bitte zum Himmel emporhebt, den Höhepunkt der abstrahierenden Bildersprache der Wahlverwandtschaften dar : »Das bewegte Geschehen hält für einen Augenblick inne; Ottilie und das Kind werden gleichsam als Statuengruppe sichtbar.«765 Mit dem Knaben, so Pfotenhauer, hat Ottilie gemein, daß auch sie im Tod noch ein schönes Bild abgeben soll. Ihre Aufbahrung im gläsernen Sarg bezeichnet damit für ihn die Erfüllung ihrer als Ikone angelegten Figur, nach ihrem und dem mit ihm verbundenen Tod Eduards komme aber alles zum Abschluß. Vom Schicksal Charlottes und des Majors ist nichts mehr zu erfahren. Die »Todesverfallenheit« des Lebens, so Pfotenhauer, wird dadurch zwar ästhetisch aufgehoben, doch zugleich »durch die Ästhetisierung befördert«766. Auf diese Weise bleibt jedes noch so bewegte und bewegende Bild im Roman für Pfotenhauer der Logik der Tableaux vivants mit ihrer zum schönen Augenblick geronnenen Künstlichkeit zwischen Stillstand und Bewegung verhaftet. Ein dahinterstehendes komplexes Seelenleben, so Pfotenhauer, mag dem vergehenden Moment zwar noch zugeschrieben werden, so, wenn sich Ottilie bei der Darstellung der Mutter Gottes plötzlich der »Maskenhaftigeit« ihrer Rolle bewußt wird und sie weinen muß: »Aber dies macht sich eben nur momentan geltend, in der Welt des Ikonischen, das die Figuren bestimmt.«767 So haben für Pfotenhauer auch Ottilies und Eduards gegenseitige Imaginationen nur den Anschein des Lebendigen, der entsprechend der dilettantischen Praxis der lebenden Bilder in der Phantasie nacherzeugt werde. Dadurch seien auch sie dazu 763 In: Helmut Pfotenhauer, Sprachbilder – Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, S. 45–66. 764 Ebda., S. 54. 765 Ebda., S. 58. 766 Vgl. ebda., S. 55. 767 Ebda.
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verdammt, zu Schattenbildern zu werden, denn das Leben in ihnen rette sich nur scheinhaft in Kunst und genau dieser Prozeß lasse es auch dem Tod verfallen: Denn Derealisierung ist der Preis für die schöne Imagination. Hier zeigt sich, wie das Bildliche und sein Gesetz letztlich auch die Seele regieren, nicht nur die äußere, sichtbare Welt und ihre schönen Arrangements.768
Betrachtet man die Schlußkette der Präsenspassagen in den Wahlverwandtschaften, die vom Tod des Kindes über jenen Ottilies zu dem Eduards fortschreiten und dabei die längsten Präsensszenen im Roman bezeichnen, liegt es nahe, das historische Präsens als einzig auf die Logik des derealisierenden Stillstands zulaufend zu lesen. Die eingangs dargestellte Formel des Präsens der »ewigen Bewegung« (Judith Reusch) weist in eine solche Richtung, indem sie das Moment des Festhaltens, das dem Präsens auch eignet, als Konservierung beschreibt und damit die Konnotation einer erstarrten Künstlichkeit betont. Daß die Szenen im Präsens zunehmend die Kraft der Vorausdeutung der finalen Katastrophe gewinnen, hat die Analyse gezeigt. Dennoch bedeutet das nicht automatisch, daß die Form des Präsens selbst nur für den Stillstand steht, der die Figuren am Schluß erfaßt. Das Präsens steht in der Hervorhebung der Momente des Untergangs im Zusammenhang der Benjaminschen Todessymbolik, ist aber nicht das Tempus der Erstarrung. Es birgt vielmehr die Möglichkeit, sowohl auf Verbildlichung eines Moments als auch auf prozesshafte Vorgänge hinzudeuten. Die langen Präsensszenen am Schluß zeigen so vor allem die Umstände des Sterbens der Figuren und dessen Auswirkung auf die anderen und schließen darin an die Schilderung der Umstände des Zustandekommens der tragischen Verwicklung im ersten Teil an. In diesem Sinn entnehme ich Pfotenhauers Diagnose der Derealisierung der Bilder als Preis der schönen Imagination vor allem jenes Fazit, das sich auf den Inhalt der Präsenspassagen der Wahlverwandtschaften insgesamt beziehen läßt: »Hier zeigt sich, wie das Bildliche und sein Gesetz letztlich auch die Seele regieren«. Das szenische Präsens ist zwar bildhaft, beleuchtet aber vor allem den Prozeß der Entstehung und Auswirkung der Bilder, die die Figuren beherrschen. Auf diese Weise gerinnen die Schilderungen im Präsens selbst nie zu statischen Bildern, auch wenn Pfotenhauer zuzustimmen ist, daß das Bild Ottilies mit dem Knaben deutlich Züge einer skulpturalen Form der Darstellung trägt.769 Eine 768 Ebda., S. 56. Im selben Sinn interpretiert besonders Claudia Öhlschläger, »Kunstgriffe« oder Poesis der Mortifikation, S. 193 u. 201ff. 769 Dennoch muss deutlich auf die dynamische Ausgestaltung gerade dieser Szene noch einmal hingewiesen werden. Die dargestellte Zweierreihung vieler Wörter der Szene des Kindstods und Ottilies Reaktionen geben nicht zuletzt ein sehr lebendiges Bild ihrer Emotionen, veranschaulicht auch in der sorgfältigen Blickregie, die die Emotionen des Lesers als Zuschauer an ihre bindet; Ottilie ist zwischen den Ufern und zwischen dem Oben und Unten ähnlich gefangen wie Charlotte beim Blick in ihr »eignes Herz« in ihren Zweifeln. Diese
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ganz ähnliche Diagnose findet sich schon bei dem von Walter Benjamin mehrmals zitierten Goethe-Forscher Albert Bielschowsky zum Stil der Wahlverwandtschaften. In seiner Beschreibung findet sich ebenso das Bild der antiken Skulptur als Folie der Darstellungsweise im Roman, deutlich steht bei Bielschowsky die Diskussion der Laokoon-Darstellung im Hintergrund: Bei aller Leidenschaftlichkeit, die das Werk durchzieht, steht es in bewunderungswürdiger Ruhe da. Es ist nicht zum wenigsten der Stil, der den brausenden Strom in dies gelassene Ebenmaß der Bewegung zwingt. Er bleibt sich immer gleich, gleich in der Höhe und gleich in der Ruhe. Wenn uns die gleichmäßige Höhe hie und da nicht zusagt, so tut uns die gleichmäßige Ruhe dafür um so wohler. Es ist dem Dichter durch sein Stilprinzip gelungen, daß auch das Prosawerk in gleicher Weise wie Iphigenie, Tasso, Hermann und Dorothea uns den Eindruck einer griechischen Kunstschöpfung macht. Man könnte es mit der Niobidengruppe vergleichen. Der Schmerz in die Ruhe des Marmors gezwungen.770
Diese Seite der Darstellungsweise in den Wahlverwandtschaften entspricht der zitierten Äußerung Goethes zur Zuspitzung der Handlung auf den Moment des Kindstods als jenem zentralem Punkt des Romans, der Ottilies Scheitern in den vergeblichen Bemühungen der Wiederbelebung des Kindes dokumentiert: »Das todte, wirklich todte Kind gen Himmel zu heben, das war der Augenblick der gefaßt werden mußte, wenn man überhaupt solches Zeug zeichnen will.« Goethe nennt dementsprechend seine Art der Darstellung dieses Moments auch »malerisch« im Sinn von bildhaft. Das verweist auf die Bild wie Skulptur eignende Qualität der Erfassung eines prägnanten Moments, der Teil oder Höhepunkt einer Kette von Ereignissen ist, damit aber auch die ganze Kette repräsentiert. In diesem Sinn trägt das Präsens, das Goethe zur Heraushebung von Ottilies größtem Schmerz wählt, die anderen Momente der Handlung mit sich. Es ist damit nicht zeitlos, sondern lebt aus der Verzeitlichung, die dieser Moment in sich trägt. Auf diese Weise ist das Präsens sowohl dynamisch als statisch und hält im Bild das Ergebnis einer Entwicklung fest, die die Erzählung nur im Nacheinander wiedergeben kann. Es ist im Roman aber kein singulär stehender Moment, der auf diese Weise herausgehoben wird, sondern der Tod des Kindes ist Teil der Entwicklung und beruft sich auf die anderen Präsensmomente als szenisch bildhafte Repräsentanten derselben. Auch deswegen überwiegt meines Erachtens letztlich die dynamisierende Komponente des Präsens. Die in die Präteritumerzählung eingeflochtene Kette von Präsenspassagen spiegelt die vielfältige Debatte um Bildhaftigkeit im Roman und thematisiert ein Neben- und Ineinander von (nur scheinbar zeitlosem) Bild und verzeitlichender Erzählung. Möglichkeiten des Erzählens als dynamische Kunst im Sinne der Gefühlswirkung sollten keinesfalls übersehen werden. 770 Albert Bielschowsky, Goethe – Sein Leben und seine Werke, In zwei Bänden, 2. Bd., C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oscar Beck, München 1904, S. 291.
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Die einzelnen Momente werden dadurch immer wieder in Erzählung aufgelöst; diese Dynamik zwischen Festhalten und Auflösen ruft aber ein Szenario von Werden und Entstehen auf, in dem das eine wie das andere Moment einander bedingen. Obwohl man also Helmut Pfotenhauers Deutung der erstarrenden Verbildlichung und damit Entwicklungslosigkeit der Figuren in den Wahlverwandtschaften mit der Verwendung des historischen Präsens besonders dort in Zusammenhang bringen kann, wo es um die fixen Ideen und Starrheit der Vorstellungen der Figuren geht, möchte ich am Schluß noch einmal den Akzent auf die Möglichkeiten der Verlebendigung und Erweiterung und Vertiefung der psychologischen Erzählstrategien legen, die der Gebrauch des Präsens als alternatives Erzähltempus im Roman schafft. Auch wenn sich die Dimension der psychologischen Innendarstellung der Figuren an den rätselhaften und symbollastigen Wahlverwandtschaften nicht auf den ersten Blick erschließt, vermehrt das Präsens das Wissen um innere Vorgänge und zieht uns in die Bilder, die von den Figuren gezeichnet werden, hinein. Die über die neuen Möglichkeiten der multiperspektivischen Schilderung geschaffene Mehrdimensionalität der Figuren der Literatur um 1800 ist mit Martin Huber auch als Reaktion auf die Krise des Selbstbildes des Menschen in der Folge der Aufklärung zu sehen. Im Sinne Hubers kann man daher die Darstellung von komplex reagierenden Figuren als Versuch interpretieren, den bewußtseinsgespaltenen Menschen wieder zusammenzusetzen. Das Erzählen in verschiedenen Tempusschichten unterstützt diese Erfassung der Komplexität der seelischen Schichten der Figuren, deren äußere wie innere Konflikte in den Wahlverwandtschaften dargestellt werden. Die über eine bloße rhetorische Hervorhebung weit hinausgehende Verwendung des szenischen Präsens kann damit als formaler Vorbote einer veränderten und verändernden Weltsicht gelesen werden, wie sie Roland Barthes für den französischen Roman beschreibt. Durch die im Präsens gesteigerte Möglichkeit der Teilnahme am inneren Konflikt der Figuren mit ihren Zweifeln, Befürchtungen, Hoffnungen und Wünschen, mit der Dynamik ihrer begrenzten Wahrnehmung und ihrer falschen Schlüsse als Gegenbild zur aufklärerischen Abrundung des Menschen durch Vernunft und Lenkung des Gefühls weisen die Wahlverwandtschaften voraus auf das »unglückliche Bewußtsein der Moderne« (Stefan Blessin unter Rückgriff auf Hegel) und zeigen dessen Auswirkungen im Jetzt. Der Technik des Tempuswechsels an sich, die Goethe in den Wahlverwandtschaften so systematisch anwendet, kommt dabei eine kaum zu überschätzende Dimension zu. Die Komplexität, die die Tempusformen in der Erzählung entfalten, wenn sie in Opposition zueinander gesetzt werden, scheint besonders geeignet, auf die Komplexität der Erfassung dieses Jetzt hinzuweisen, indem die kanonischen Bedeutungen der Tempora in Bewegung geraten. Liest
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man die Präsenshandlung als eine Art überzeitliche Synopsis einer antiken Tragödie, wie es Solger andeutet, hat man dagegen in der Präteritumhandlung die Umgebung des »Alltäglichen«, die notwendige Schilderung der Umstände etc., die das Außergewöhnliche in einer historischen Gegenwart verankern. Damit wird das Präteritum, entgegen seiner sonstigen Lesart der Versetzung in eine undefinierte Romanvergangenheit, zur Versicherung von Gegenwärtigkeit und Aktualität in den Wahlverwandtschaften, denn es ist der Darlegung dieser aktuellen Umstände gewidmet. Innerhalb dieser Umkehrung gewinnt das Präsens dann tatsächlich die Konnotation der »ewigen«, von Zeitlichem absehenden Form. Gleichzeitig behält das Präsens aber neben der laut Solger gleichsam »synoptisch« festhaltenden und in diesem Sinn fast statischen Qualität seine Andeutung von Gegenwärtigkeit, weil es im Romanganzen trotzdem in die Opposition aus Vergangenheits-/ Nichtvergangenheitsbedeutung eingebettet ist und der Roman nicht durchgängig im Präsens erzählt ist. Auch das Präteritum schillert zwischen den Funktionen, gibt aber seinen Status als klassisches Erzähltempus nicht ganz, sondern nur vorübergehend auf. Insgesamt, so könnte man sagen, ist es ein kanonisch erzählender Roman, das Präteritum ist nicht umsonst das Haupterzähltempus, das immer genug Zeit gibt, das Entstehen eines klassischen Erzählflusses zu gewährleisten. Doch jene Romanteile, in denen die Tempora häufig wechseln, thematisieren auf revolutionäre Weise unseren Zugang zum Erzählten und die Komplexität von dessen vergangenpräsenter Natur. So wirkt das Präsens zum einen zeitlich heraushebend oder deaktualisierend, indem es gleichsam einen Keil in den Erzählfluß oder die Schilderung der Umstände treibt und die Zeitlogik der Erzählung (jene der Figuren) anhält oder stark verlangsamend unterbricht. Gleichzeitig schafft es aber genau damit wieder eine Art übergeordnete Aktualität oder eine Aktualität höherer Ebene. Diese ist nicht weniger aktuell, sondern richtet sich an den räumlich und zeitlich ja immer entfernten, den stets späteren Leser, der umso mehr der Gültigkeit des Erzählten versichert werden muß und für den sich das Geschehen aktuell wieder ereignen soll. Ich möchte das die Leuchtkraft des Präsens nennen, das durch seine vielfältigen Gebrauchsweisen Zeitlichkeit besonders thematisiert. Gerade durch den historischen Abstand verstärkt sich nämlich die Wirkung des Präsens, und zwar sowohl die überzeitliche, »synoptisch« herausgreifende und Dauer betonende, als auch die sozusagen besonders verzeitlichte, die Aktualität und Augenblicksgeschehen vermittelt.
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Textauszug aus Thomas Mann: Goethes Laufbahn als Schriftsteller (1932), in: Derselbe: Leiden und Größe der Meister, Berlin: Suhrkamp 1974, S. 43–72, hier S. 43–45. Der 22. März 1832 war gekommen. In seinem Lehnstuhl, ein Oberbett über den Knien, den grünen Arbeitsschirm über den Augen, starb Goethe. Die Qualen und Ängste, die dem Tode oft in einigem Abstand vorangehen, waren vorüber, er litt nicht mehr, er hatte schon ausgelitten, und da man ihm auf seine Frage nach dem Datum den 22. genannt hatte, erwiderte er, so habe denn der Frühling begonnen und um so eher könne man sich erholen. Danach hob er die Hand und schrieb Zeichen in die Luft. Die Hand rückte seitwärts dabei und sank tiefer, er schrieb wirklich, zeilenweise untereinander, und sein Arm ging nieder, gewiss nicht nur, weil oben kein Platz mehr für diese Geisterschrift gewesen wäre, sondern aus Schwäche. Er lag auf dem Deckbett schließlich, und dort schrieb er weiter. Wie es schien, war es zu wiederholten Malen dasselbe, was der Sterbende unsichtbar aufzeichnete, man sah, dass er genaue Interpunktionszeichen setzte, und glaubte einen und den anderen Buchstaben zu erkennen. Dann fingen die Finger an, blau zu werden, sie kamen zum Stillstand, und als man ihm den Schirm von den Augen nahm, waren sie schon gebrochen. Goethe starb schreibend. Er tat in den letzten, verschwimmenden Träumen seines Bewusstseins, was er mit eigener Hand, in seiner schönen, klaren, reinlichen Schrift, oder diktierend sein Leben lang getan hatte: er schrieb auf, er übte diese Tätigkeit, die das Feste zu Geist zerrinnen lässt und das Geisterzeugte fest bewahrt; er bannte letztes Gedanken- und Erfahrungsleben, das ihm vielleicht als endgültige und höchst mitteilenswerte Erkenntnis erschien, obgleich es wohl nur das Produkt hinüberträumender Schwäche war, in die Runen der Schrift; er suchte bis zum Ende den Gehalt seines Busens in die formende Sphäre seines Geistes zu erheben. Er war ein Schriftsteller, noch jetzt, wie er es in dem frühen Augenblick gewesen war, als er brieflich, im Gefühl behaglicher Ergriffenheit von seinem stärksten Trieb, seiner innersten Anlage, ausgerufen hatte: »Ei-
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gentlich bin ich zum Schriftsteller geboren. Es gewährt mir eine reinere Freude als jemals, wenn ich etwas nach meinen Gedanken gut geschrieben habe.« So wie er es gewesen war, in den abendlichen Morgenstunden, da er der heiligen Anämie seines Hauptes nach kurzem Greisenschlaf die letzten Sphärenklänge des »Faust« abgewonnen – eine Handbreit Schriftsatz täglich und manchmal weniger – und mit dem »Neige, neige, du Ohnegleiche« das Ende seines Lebens an den Anfang geknüpft hatte. Ein Schriftsteller. Es ist, meine Damen und Herren, eine recht unfruchtbare kritische Manie, zwischen Dichtertum und Schriftstellertum lehrhaft zu unterscheiden – unfruchtbar und selbst undurchführbar, weil die Grenze zwischen beidem nicht aussen, zwischen den Erscheinungen, sondern im Innern der Persönlichkeit selbst verläuft und auch hier noch bis zur Unbestimmbarkeit fließend ist. Dichterische Einschläge ins Schriftstellerische, schriftstellerische ins Dichterische gibt es so viele, dass die Sondierung zum wirklichkeitswidrigen Eigensinn wird, nur aus dem Wunsche geboren, dem Unbewussten, Vorgeistigen, dem, was man als das eigentlich Geniale empfindet, auf Kosten des Verstandesmäßigen zu huldigen und diesem unter der Hand Geringschätzung zu erweisen. Der ungeheure Verstand Goethes, den Emerson in seiner Besprechung der Helena-Episode aus dem zweiten Teil des »Faust« bestaunt, ist recht darnach angetan, solche Bestrebungen zu beschämen. »Das Wunderbare«, sagt er, »ist die gewaltige Intelligenz darin. Der Verstand dieses Mannes ist ein so mächtiges Lösungsmittel, dass die vergangenen und das jetzige Zeitalter, ihre Religionen, Politiken und Denkungsarten, sich darin zu Urtypen und Ideen auflösen.« Der durchaus unintelligente Dichter ist der Traum einer gewissen romantischen Naturvergötzung, er existiert nicht, der Begriff des Dichters selbst, der Natur und Geist in sich vereinigt, widerspricht seinem Dasein; und nie könnte verstandloses Schöpfertum sich in ein Lebensalter hinüberretten, wo die Natur nicht mehr oder nicht in dem Grade mehr wie in vermögender Jugendzeit der Hervorbringung zu Hilfe kommt und, um mit Goethe zu reden, Vorsatz und Charakter für sie eintreten müssen. Etwas ganz anderes ist es mit der Naivität, der Unmittelbarkeit, dieser unentbehrlichen Bedingung allen Schöpfertums. Aber man braucht nicht zu sagen, und Goethe ist ein wundervolles Beispiel dafür, dass reinste Naivität und mächtiger Verstand Hand in Hand gehen können. Emerson hat Shakespeare den größten Dichter und Goethe, in dem doch aller dichterische Ruhm unseres Volkes gipfelt, dagegen den größten Schriftsteller genannt. »Wer die Geschichte recht erkannt hat«, schrieb Goethe mit sechsundsechzig Jahren, »dem wird aus tausend Beispielen klar sein, das das Vergeistigen des Körperlichen, wie das Verkörpern des Geistigen nicht einen Augenblick geruht, sondern immer unter Propheten, Religiosen, Dichtern, Rednern, Künstlern und Kunstgenossen hin und her pulsiert hat; vor- und
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nachzeitig immer, gleichzeitig oft.« Gleichzeitig oft. Das ist die Bekräftigung des schriftstellerischen und dichterischen Seins auf einmal, dieses Ineinanders von Geist und Form, von Kritik und Plastik.