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German Pages 225 [228] Year 1997
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 90
Gabrielle Bersier
Goethes Rätselparodie der Romantik Eine neue Lesart der »Wahlverwandtschaften«
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bersier, Gabrielle : Goethes Rätselparodie der Romantik : eine neue Lesart der "Wahlverwandtschaften" / Gabrielle Bersier. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 90) NE: GT ISBN 3-484-32090-7
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt Einband: Hugo Nadele, Nehren
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 1. Einleitung
VII 1
1.1. Goethe und die romantische Parodie-Theorie 1.2. Spielarten und Funktionen der Parodie: Ein Forschungsbericht
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1.3. Apotheose, Zeichenhaftigheit oder Parodie: Ottilies Tod in der Wahlverwandtschaften-Forschung
45
2. Das parodistische Versteckspiel der Namen und Buchstaben .... 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Eduard Otto Mittler Eduards Gleichnisrede Das Kelchglasrätsel
1
57 57 77 90 110 117
3. Die Bildung des Majors
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4. Die Prosopopöie der Poesie Goethes
139
4.1. Die Herrin des Haushaltes
139
4.2. Der Retter und Wegweiser deutscher Poesie 4.3. Ein Freund der Kunst und des Altertums 4.4. Die malerische Erstarrung der Poesie
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5. Die rousseauistische Doppelparodie
191
Literaturverzeichnis
203
Verzeichnis der Abkürzungen Quellen Darstellungen Namenregister
203 203 205 215
V
Vorwort
Rätsel der Wahlverwandtschaft, Namen- und Buchstabenrätsel, Rätselfiguren, rätselhafter Erzählstil, Lebensrätsel: das Rätsel ist beinahe zum locus communis der Wahlverwandtschaften-Forschung geworden. Nicht so die Parodie. Des Rätsels Dichte weiht ein. Die Profanität der Parodie entweiht. Der gewöhnliche Sprachgebrauch weist sie in den Bereich des komisch Herabsetzenden, des Trivialen. Dort ist sie auch am verbreitetsten. Die Assoziation der frechen Schreibart mit Goethes »undurchdringlichstem« Buch wirkt entwürdigend. 1 Nun ist auch die Parodie, ähnlich wie das Rätsel, eine Kraftprobe manipulierenden und kombinatorischen Sprach Vermögens. Im Glücksfall wird sie zum wortspielerischen Kunststück. Als bewußtes Spiel mit dem fremden Wort und als Paradigma literarischer Mehrstimmigkeit ist die längst in die Peripherie der Literatur relegierte Schreibart in den Mittelpunkt der Intertextualitätsdiskussion getreten. Die Sprachbewußtheit der Parodie macht sie auch zum Medium literaturkritischer Reflexion und Selbstreflexivität par excellence. Darum steht sie auch in der postmodernen Ästhetik und Kritik hoch im Kurs. Was der ironische Umgang mit der literarischen Tradition bloßstellt, sind nicht nur die abgelebten Klischees, weshalb der russische Formalismus sie zur Triebkraft literarischer Evolution stilisiert hatte. Auch gegen das Neue setzt sie sich manchmal defensiv zur Wehr. Den Wettbewerb mit dem fremden Wort besteht sie wirklich nur dann, wenn sie aufhört, Parodie zu sein, wenn sich der Beigesang in Eigengesang verwandelt. Die beste
Nachwort von Benno v. Wiese. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz, München 101981, Bd. 6, S. 672 (zit.: HA).
vn
Parodie setzt ihre Vorlage nicht herab. Sie ersetzt sie. Um eine solche Virtuosennummer handelt es sich offensichtlich bei den Wahlverwandtschaften, weshalb Goethes so reminiszenzenreicher Roman nicht als Parodie, sondern ausschließlich als Originaldichtung in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Die vorliegende Studie verlegt das Gewicht von der thematisch orientierten Rezeption auf die intertextuelle Schreibweise des Romans, um so wichtige Momente in Goethes höchst raffiniertem Versteckspiel mit dem fremden Wort zu erschließen. Durch die Erfassung der konkreten literarischen Vorlagen, die der Erzähler mittels der Kunst parodistischen Spiegeins verfremdend vorführt, können Ort und Funktion des Romans im Kontext seiner ästhetischen Tradition und romantischen Umwelt weitaus präziser als bisher bestimmt werden. Das erste Kapitel der Arbeit untersucht das Verhältnis zwischen Goethes Äußerungen zur parodistischen Schreibweise und der bahnbrechenden Parodie-Theorie der Jenaer Romantiker, während dann in einem umfangreichen Überblick über die Parodie-Theorie der Gegenwart und ihre bisherige Anwendung auf die Wahlverwandtschaften Weichen für die Textinterpretation gestellt werden. Die Dekodierung der am Anfang des Romans aufgestellten drei Namensrätsel Eduard, Otto und Mittler in Kapitel 2 bietet einen Einstieg in die parodistische Machart und geheime Zielrichtung des Romans. Kapitel 3 schlägt eine sprachliche Lösung für das Geheimnis der naturwidrigen Ähnlichkeit des Kindes Otto mit Ottilie und dem Hauptmann vor. In Kapitel 4 werden die allegorische Herkunft der Rätselfigur Ottilie, ihre mysteriöse Beziehung zum Autor und ihre intermediale Verwandlung intertextuell erhellt. Schließlich untersucht das letzte Kapitel noch die Funktion der eingebetteten Parodie von Rousseaus Neuer Heloise. Für die Unterstützung dieser Arbeit durch einen Forschungsurlaub danke ich der Indiana University - Purdue University in Indianapolis. Auch dem Personal der Bibliothek-Fernleihe sei hier mein Dank ausgesprochen, sowie Helena Bonebjar-Daerr für bibliographische Hilfe, Wigand Lange für redaktionelle Mitarbeit, Gerburg Garmann und Claudia Grossmann für Korrekturlesen und Charles Spencer für typographische Gestaltung der Druckvorlage.
VIII
1.
Einleitung
1.1. Goethe und die romantische Parodie-Theorie Goethes Stellungnahmen zur Parodie sind spärlich und disparat. Die in den Alterswerken verstreuten Bemerkungen bieten eine buntscheckige Palette scheinbar widersprüchlicher Meinungen, die je nach Gegenstand und Standpunkt von der schroffsten Verurteilung über die ambivalente Anerkennung bis hin zur positiven Würdigung reichen. So hat er einerseits als selbsterklärter »Todfeind von allem Parodieren und Travestieren« laut Brief vom 26. Juni 1824 an K. F. Zelter Munition für die langlebige Relegierung der Parodie an den Rand des Formenkanons geliefert. 1 Andererseits haben sich auch die ästhetischen Rehabilitierungsversuche der Parodie, die seit den sechziger Jahren im Zuge der einflußreichen Studie zur modernen Lyrik von Erwin Rotermund und vor allem der kritischen Rezeption der Parodie-Theorie der russischen Formalisten einsetzten, 2 ausdrücklich auf ein Plädoyer Goethes für das schöpferische Potential der Parodie stützen können. 3 Gerne herangezogen wird in diesem Kontext der Hinweis im 7. Buch
2 3
So beispielsweise der >ParodieParodie/Travestie< als niedriger Trivialgattung unter die Lupe zu nehmen. Die Briefstelle an Zelter: »Wie ich ein Todfeind sey von allem Parodiren und Travestiren hab ich nie verhehlt; aber nur deswegen bin ich's, weil dieses garstige Gezücht das Schöne, Edle, Große herunterzieht um es zu vernichten«, 5 mit ihrem kanonisch gewordenen Verdikt gehört in eine Kette von Äußerungen aus den frühen zwanziger Jahren, die sich auf die damals verbreitete Auffassung der Parodie als Gattungssynonym für derbkomische >TravestierungParodie« 40 Der Ironie als dem reflexiven Prinzip romantischer Poesie gesellt sich die Parodie als ihr
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Ebd., V, Nr. 714, S. 145. Ebd., V, Nr. 724, S. 147. Einen ersten Abgrenzungsversuch zwischen den Kategorien Ironie und Parodie bei F. Schlegel bietet Bernd Anton: Romantisches Parodieren. Eine spezifische Erzählform der deutschen Romantik, Bonn 1979, S. 6 7 73; zu Antons Parodiebegriff vgl. auch 1.2., S. 22. F. Schlegel: Athenäum-Fragment Nr. 116, KSF, Bd. 2, S. 114. F. Schlegels Arbeitshefte V, Nr. 564, KA, Bd. 16, S. 131.
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spielerisch kombinatorisches Vermögen dicht beiseite. 41 Schlegels Funktionalisierung der Parodie zum metamorphischen Prinzip wird in einem weiteren Hinweis auf die »Parodie der dramatischen Form« bei Shakespeare aktualisiert.42 In seinen Dramen, bei denen »alles Romantische gemischt« sei, heißt es dort, offenbare sich das Wirken der Parodie als ein »aus der Mischung oder dem Gegensatz streitender Bildungsarten entstehendes]« synthetisches Prinzip 43 Nicht minder zielgerichtet, wenn auch viel behutsamer und sparsamer als in den Arbeitsheften operiert Friedrich Schlegel mit dem Parodie-Novum in seinen veröffentlichten Essays und Rezensionen. In der frühen Programmschrift Über das Studium der
Griechischen
Poesie, Schlegels Nebenentwurf zu Schillers Über naive und sentimentale Dichtung, in der er erstmalig die neoklassizistische Nachahmung zugunsten einer auf den »Geist« der Griechen gerichteten Nachahmung anfocht, schiebt er die Parodie wie eine Zeitbombe zwischen die Zeilen seiner Griechenapologie ein. Der Passus lautet: Exzentrische Größe hat eine unwiderstehliche Sehnsucht zu dem ihr entgegengesetzten Extrem, und nur durch eine wohltätige Vereinigung mit der Parodie bekommt tragische Fantasterei Haltung und Bestandheit. Die seltsame Mischung des Tragischen und Komischen wird die eigentümliche Schönheit einer neuen, reizenden Zwitterbildung. Diese Zusammensetzung ist auch keineswegs ursprünglich monströs und an sich unerlaubt0 Die Umsichtigkeit der Formulierung klingt etwas ungewöhnlich, als sei Schlegel der revisionistischen Stoßrichtung seiner Argumentation 41
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Bei Ingrid Strohschneider-Kohrs werden die Parodie-Fragmente der Arbeitshefte noch ohne nähere Bestimmung als Umschreibungen des Ironiebegriffs Friedrich Schlegels zitiert (dies.: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen 21977, S. 35-36). F. Schlegels Arbeitshefte V, Nr. 509, KA, Bd. 16, S. 127. Ebd., Nr. 507, S. 126-127. F. Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie (1795-1797), KSF, Bd. 1, S. 123; zum Studium-Aufsatz vgl. auch Franz Norbert Mennemeier: Friedrich Schlegels Poesiebegriff dargestellt anhand der literaturkritischen Schriften. Die romantische Konzeption einer objektiven Poesie, München 1971, S. 49-116; dazu auch Hans Robert Jauß: Schlegels und Schillers Replik auf die >Querelle des Anciens et des ModernesGeschichteparodistischen< Abwandlung statt in der Anverwandlung des Originals. 51 D e r Passus aus Schlegels Nachricht
des
Johannes
Boccaccio
stimmt
von den poetischen
auch
mit
kritischer Würdigung der Parodie in Dichtung
Goethes
Werken
berühmter
und Wahrheit
darin
überein, daß Schlegel wie Goethe ihre künstlerische Wertschätzung
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50
51
Dazu Goethes Bemerkung in den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre: »Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsem Tagen wohl kein Zweifel Übriggeblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genösse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt.« (HA, Bd. 14, S. 93-94). Goethe: West-östlicher Divan, HA, Bd. 2, S. 255. Hervorhebung von Goethe. Damit übereinstimmend in F. Schlegels Arbeitsheft V, Nr. 1122: »Die Parodie ist eine witzige Übersetzung.« (KA Bd. 16, S. 117). 15
der Parodie an den Grad ihrer Unabhängigkeit gegenüber ihrer Vorlage koppelten. Das, was Friedrich Schlegel bezüglich Boccaccios Romanze »ein artiges und sinnreiches Spiel der Fantasie« nennt, wird weitgehend durch die narrative Erfindungsgabe des Dichters ermöglicht. Schlegels abfällige Verurteilung der Travestie maß sich nicht so sehr an der Stilhierarchie des Klassizismus als vielmehr an einer neuen, romantischen Innovationsästhetik, von der aus die Travestierung antiker Modelle als parasitäre Gattung und Kehrform der klassizistischen imitatio verworfen wurde. Ebenfalls hing Goethes positive Aufwertung der Parodie in Dichtung und Wahrheit, wie der Hinweis auf Wielands Komische Erzählungen klarlegte, davon ab, ob der Parodist »unter dem Schein einer solchen Nachahmung, vielleicht gar selbst eine treffliche Erfindung geliefert« habe. 52 Ob kritische Bezugnahme oder Spiel mit der Vorlage, in beiden Fällen handelt es sich um ein parodistisches Prinzip, das zum Gestaltungsmittel einer neuen literarischen Schöpfung instrumentalisiert wird. Die theoretische Aufwertung des parodistischen Prinzips in Goethes nachklassischer Periode wird von einem häufigeren Einsatz der Parodie in seinen Alterswerken begleitet, etwa in den Wahlverwandtschaften, Dichtung und Wahrheit, den Sonetten, dem West-Östlichen Divan und Faust II.53 Neben der Parallelität der theoretischen Äußerungen gibt es auch eine zeitliche Konvergenz zwischen romantischer Literaturtheorie und praktischem Einsatz des parodistischen Prinzips in Goethes Werk.
52
Vgl. Anm. 4. " Zu Dichtung und Wahrheit vgl. Robert Gould: Literary Quotations and References in the Friederike and Lili Episodes of Dichtung und Wahrheit. In: Carleton Germanic Papers 9 (1981), S. 41-71; zum Sonettenzyklus vgl. insbesondere Paul Hankamer: Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt, Stuttgart 5 1960, S. 86-88; zum West-Östlichen Divan Luciano Zagari: »Zu entschiedenerem Auffluge die Fittiche versuchen«. Hermetik und Pastiche in Goethes West-Östlichem Divan. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration, Tübingen 1984, S. 359-377; und zu Faust II Ehrhard Bahr: Die Ironie im Spätwerk Goethes: »... diese sehr ernsten Scherze ...«, Berlin 1972, S. 134 und 166; Hannelore Schlaffer: Paradies und Parodie. Die letzten Szenen in Goethes letzten Werken. In: Jane K. Brown, Meredith Lee und Thomas Saine (Hrsg.): Interpreting Goethe's Faust Today, Columbia 1994, S. 102-111.
16
Sein Tagebuch zeigt, daß sein Interesse an der Parodie bei der Lektüre der Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur von August Wilhelm Schlegel einen unmittelbaren Ansporn gefunden haben muß. Während der Niederschrift des zweiten Teils der Wahlverwandtschaften Ende August und Anfang September 1809 beschäftigte er sich intensiv mit den Vorlesungen und im besonderen mit A. W. Schlegels 11. und 12. Kapitel über die alte griechische Komödie. 54 Dort bot der belesenste Literaturkritiker der Romantik und witzige Schiller- und Kotzebue-Parodist die bis dahin umfangreichste Demonstration der metamorphischen Potentialitäten der Parodie dar. 55 In seiner die eigenen Thesen der Berliner Vorlesungen und die Aphorismen seines Bruders direkt weiterführenden Interpretation der Komödien des Aristophanes als Zwitterform und parodistische Umkehrung der attischen Tragödie verdeutlichte A. W. Schlegel die dialektische Rolle des parodistischen Verfahrens bei Aristophanes
54
Die erste Lektüre von A. W. Schlegels Wiener Vorlesungen ist am 29., 30. und 31. August 1809 im Tagebuch aufgezeichnet (WA, Abt. m, Bd. 4, S. 57). Während der Niederschrift des 4. und 5. Kapitels des zweiten Romanteils greift Goethe am 6. September zur 10. Vorlesung über Euripides wieder. Am folgenden Tag folgt die Eintragung: »Sechstes Capitel erste Hälfte. Nach Tische. Schlegels Vorlesungen: alte Comödie. Nachher 1 Bogen des 2. Theils.« (ebd., S. 59). Am 8. September steht wieder: »Sechstes Capitel und einiges andre. Nach Tische Schlegels Vorlesungen: griechische Comödie.« (ebd., S. 60). Dieses wiederholte Nachschlagen mitten im Kompositionsprozeß am parodistischen Roman deutet auf zielbewußtes Lesen hin. Zur Vorlesungen-Lektüre vgl. auch Goethes Brief an Zacharias Werner, 1. Oktober 1809: »Sollte Sie dieser Brief bey Frau von Stael treffen, so empfehlen Sie mich ihr und auch Herrn Schlegel, an dessen Vorlesungen ich sehr viel Freude gehabt habe.« (WA, Abt. IV, Bd. 21, S. 105).
55
A. W. Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, 1. Teil, 11. Vorlesung: »Die alte Komödie als der vollkommene Gegensatz der Tragödie erklärt. Parodie. Umgekehrtes komisches Ideal. Scherzhafte Willkür. Allegorische und insbesondere politische Bedeutung. Der Chor und seine Parabasen« und 12. Vorlesung: »Künstlerischer Charakter des Aristophanes. Schilderung und Beurteilung seiner auf uns gekommenen Werke. Übersetzte Szene aus den Acharnem«. In: ders.: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 5, S. 130-156; vgl. auch A. W. Schlegels erster Berliner Entwurf seiner Parodie-These in: A. W. Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Zweiter Teil (1802-1803). Hrsg. v. Bernhard Seuffert, Heilbronn 1884, S. 378. 17
als Medium einer Zersetzung und Verwandlung der »erschöpften« tragischen Form in die neue Form der Komödie. 56 Dadurch, daß »nicht bloß einzelne Stellen, sondern die Form der tragischen Dichtung überhaupt« parodiert wurde, 57 sei die aristophanische Spielart der Parodie »eine unendlich kräftigere als die des scherzhaften Heldengedichts«. 58 Sämtliche theatralischen Verfahren der griechischen Tragödie, vom Silben-, Wort- und Versbau über den Chor bis hin zu Musik, Tanz, Mimik und Bühnenausstattung habe der griechische Komiker zu einer vollständigen »Parodie der tragischen Form« umfunktioniert. 59 Schlegels literarhistorische Thesen, von Hegel zu einer generellen FormInhalt-Dialektik der Kunst erweitert, sind später vom russischen Formalismus zu einer globalen Theorie der Parodie als Movens im literarischen Formwandel verallgemeinert worden. 60 Von unmittelbarer Relevanz für die parodistische Machart des Goetheschen Romans war der Hinweis A. W. Schlegels auf die Personifikation philosophischer Begriffe und die Vergegenständlichung der Metaphern als Hauptverfahren der aristophanischen Komödien und seine Demonstration dieser parodistischen Verwandlungstechnik in einem übersetzten Auszug aus den Acharnern. Bei dem als obszön verschmähten Autor hob er die sprachliche Meisterschaft und die Vielfalt des parodistischen Witzes hervor, der von der leisesten Ironie bis hin zum gröbsten Humor alle Schattierungen des Komischen durchexerziert habe. Der Anspielungsreichtum seiner Stücke setze von Seiten der attischen Zuschauer übergewöhnliche Rezeptionsfähigkeiten voraus, betonte der feinfühlige Literaturhistoriker: »Sie mußten besonders die tragischen Meisterwerke fast wörtlich im Gedächtnisse bewahren, um seine Parodien zu verstehen«. 61 Zum Schluß wies er noch zusammenfassend auf die polemische Zielsetzung der Komödie des Aristophanes hin, bei
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Im Gespräch über die Poesie hatte F. Schlegel darauf aufmerksam gemacht, daß sich die antike Komödie »aus der Verbindung der Parodie mit den alten Jamben und als Gegensatz der Tragödie« entwickelt habe (KSF, Bd. 2, S. 191). A. W. Schlegel Kritische Schriften, Bd. 5, S. 132. Ebd., S. 131. Ebd., S. 135. Vgl. 1.2., S. 38^10. A. W. Schlegel, Kritische Schriften, ebd., S. 141.
dem Spiel und Scherz mit den Normen der Tragödie nicht selten seinem persönlichen Spott und zeitkritischen Zielen dienten. In Hinsicht auf Goethes eigenen parodistischen Rätselroman konnte A. W. Schlegels brillante Darlegung des Wechselbezugs von Produktion und Rezeption in der aristophanischen Komödie schwer ohne Resonanz bleiben, wie das lebhafte Interesse des Erzählers an dessen Wiener Vorlesungen zeigt. Einer anderen zeitgenössischen Anregung darf deshalb eine Schlüsselrolle zugedacht werden, weil sie an den Schriftsteller Goethe persönlich gerichtet war. Kurz vor der ersten Niederschrift der Wahlverwandtschaften, im April und Mai 1808, nahm Goethe Friedrich Schlegels Rezension der ersten Bände seiner Werkausgabe zur Kenntnis, worin der romantische Kritiker mehrmals hintereinander dessen Aufmerksamkeit auf die Relevanz parodistischer Schreibweise für die Gegenwart zog. 62 Er pries zunächst Goethes 1807 gedrucktes Sonett als »eine vortreffliche Parodie der vielen holprichten und sinnlosen Sonette, womit uns die letzten Jahre, seit Α. IV. Schlegel diese Gattung wieder einführte, die Schar der Nachahmer überschwemmt hat.« 63 Weiterhin rückte er Goethes antikisierende Dichtungen in eine neue Perspektive, indem er auf den parodistischen Ton seiner Römischen Elegien hinwies. Er schrieb: Der größte Unterschied dürfte sein, daß in den Römischen Elegien, wo man am bestimmtesten an die Triumvirn der alten Elegie erinnert wird, hie und da ein Anhauch von Parodie, ein leiser komischer Anstrich beigemischt ist, der sich bei den Alten nicht findet, der sich aber ganz 62
63
F. Schlegel: Goethes Werke. Erster bis Vierter Band. Tübingen in der Cottaschen Buchhandlung 1806. Erster Band. Lieder. Vermischte Gedichte. Balladen und Romanzen. Elegien. Episteln. Epigramme. Zweiter Band. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Erstes bis Viertes Buch. Dritter Band. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Fünftes bis achtes Buch. Vierter Band. Die Laune des Verliebten. Die Mitschuldigen. Die Geschwister. Mahomet. Tancred. Elpenor, Fragment. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur. Abteilung für Philosophie, Historie, Literatur und Kunst. Heidelberg, bei Mohr und Zimmer. 1808. 1. Jg., 2. Heft, S. 145-184 (KA, Bd. 3, S. 109-144; zit. nach: KSF, Bd. 3, S. 126-147). Goethes Lektüre der Jahrbücher ist im Tagebuch am 18. und 19. April 1808 eingetragen (WA, Abt. III, Bd. 3, S. 328-329). F. Schlegel: Goethe-Rezension, KSF, Bd. 3, S. 132. Hervorhebung v. Schlegel; zum Sonett vgl. Goethe, HA, Bd. 1, S. 245. 19
natürlich einstellt, wenn man nicht in der eignen Weise und Sitte, sondern in einer halb in Ernst, halb zum Spiel angenommenen Maske redet.64
Im Hinblick auf die oft unbeabsichtigte Ambiguität antiker Nachahmungen hatte Schlegel früher schon von »unwillkürlicher Parodie« gesprochen.65 »Unwillkürliche« Parodie entstehe aus der Diskrepanz des Ungleichzeitigen und aus der Unmöglichkeit, die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen »naiver« und »sentimentalischer Dichtung« in echter Einfühlung überbrücken zu können. War die indirekte Folgerung daraus nicht wiederum, daß bewußte Parodie eher als die imitatio das zeitgemäße poetische Medium moderner Gegenwart sei? So wie Das Sonett als »ein Wort recht zu seiner Zeit« gelobt wurde,66 so mochte auch Schlegels Hinweis auf den parodistischen Ton seiner Römischen Elegien Goethe vergegenwärtigt haben, daß er bereits in seiner klassischen Periode die Nachfolge der großen Parodisten der Neuzeit, Boccaccios, Cervantes' und Shakespeares angetreten hatte. Auch er hatte sich in seinen Nachbildungen antiker Formen des ironischen Reflexionsprinzips der Parodie bedient. Daß Goethes parodistische Verarbeitung seiner antiken Quellen keineswegs unwillkürlich vonstatten ging, wie Schlegel früher vermutet hatte, sondern daß es sich bei ihm bereits in der klassischen Periode um ein durchaus bewußtes, wenn auch nur punktuell eingesetztes, ironisches Schreibverfahren handelte, ist in Bezug auf seine parodistische Einblendung einiger Szenen der Ilias und der Luise von Voß in Hermann und Dorothea nachgewiesen worden 67 Merkwürdig ist es auch, wie eng sich
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Ebd., S. 134. Vgl. dazu das Lyceum-Fragment Nr. 39: »Die Geschichte der Nachahmung der alten Dichtkunst, vornehmlich im Auslande, hat unter andern auch den Nutzen, daß sich die wichtigen Begriffe von unwillkürlicher Parodie und passivem Witz, hier am leichtesten und vollständigsten entwickeln lassen.« (KSF, Bd. 1, S. 242). F. Schlegel: Goethe-Rezension, KSF, Bd. 3, S. 132. Zur Diskrepanz zwischen Form und Funktion und zur //las-Parodie in Hermann und Dorothea vgl. Frank G. Ryder und Benjamin Bennett: The Irony of Goethe's Hermann und Dorothea. Its Form and Function. In: PMLA 90 (1975), S. 437; zu Goethes Parodierung von Vossens Luise vgl. Peter Morgan: The Critical Idyll. Traditional Values and the French Revolution in Goethe's Hermann und Dorothea, Columbia 1990, S. 3 6 40 und 86-89.
das, was Friedrich Schlegel im selben Kontext von Goethes schöpferischer Nachahmungstechnik sagt, nämlich, daß bei ihm »die Nachbildung [...] eine durchgehende innere Umwandlung genannt werden kann«, mit der Parodie-Bemerkung in Dichtung und Wahrheit deckt. 68 Schließlich wurde noch der klassische Dichter vom romantischen Theoretiker der Parodie nachdrücklich aufgefordert, den Don Quixote von Cervantes »als Vorbild und altern Gefährten seiner Phantasie gegenwärtig zu erhalten«, um mit dessen Beistand einen »romantischen« Roman zu produzieren! 69 War nicht in dieser Aufmunterung Friedrich Schlegels, nachdem Don Quixote durch Tiecks Übersetzung zum Inbegriff romantisch-parodistischer Schreibkunst aufgestiegen war, eine poetologische Aufforderung mitenthalten? Wie sich Goethe der Empfehlung seines Kritikers samt all dessen unbeabsichtigter ironischer Implikationen im Einzelnen zu bemächtigen wußte, wird Gegenstand dieser Untersuchung sein.
1.2. Spielarten und Funktionen der Parodie: Ein Forschungsbericht Die Parodie ist heute so omnipräsent, daß ein amerikanischer Kritiker sie vor kurzem zum zentralen Ausdrucksmittel der Gegenwart stilisierte. 70 Sie tut sich in allen kulturellen Betätigungsfeldern - Literatur, bildenden Künsten, Musik, Film, Theater, Tanz, Mimik, audiovisuellen Medien - ja sogar in der postmodernen Architektur hervor. Die Ubiquität der Parodie in den modernen Medien läßt sich darauf zurückführen, daß die zeitgenössischen Künstler, Autoren und Kulturproduzenten in immer stärkerem Maße eine Meta-Ebene kritischer Reflexion und Selbstreflexion in ihren kreativen Schaffensprozeß miteinbeziehen und zur Schau stellen. So konnte die Parodie als Hauptform solcher moderner Selbstreflexivität ins Zentrum moderner
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F. Schlegel: Goethe-Rezension, KSF, Bd. 3, S 142. Ebd., S. 143. Vgl. Dwight Macdonald: Vorwort. In: ders. (Hrsg.): Parodies. An Anthology from Chaucer to Beerbohm - and After, New York 1960, S.XV. 21
und postmoderner Kultur vorrücken. 71 In diesem Prozeß steigender parodistischer Durchdringung der Medienwelt sind freilich wichtige Unterschiede und Übergänge zu markieren. Während in der Literatur der Moderne die literarische Tradition parodiert und in den Kern des Kompositionsprozesses integriert wurde, wird in der postmodernen Prosa, die sich (im Unterschied etwa zu den filmischen Medien) nicht mehr auf das Erkennen eines verbindlichen Literaturkanons stützen kann, ein zunehmend selbstparodistischer Ton erkennbar. Die Autoren der Postmoderne machen sich nicht mehr über andere Autoren lustig, sondern über sich selbst. Schreiben hat sich in einen Akt permanenter Infragestellung, Dekonstruktion und Neuentwürfe verwandelt. Die Parodie ist der Selbstparodie gewichen, die Satire dem Spiel. 72 Friedrich Schlegels Prinzip der romantischen Ironie als »stete Selbstparodie« wird in der postmodernen Ästhetik zum Kompositionsgesetz erhoben. Selbstreflexivität, Selbstreferentialität, Metafiktion, Parodie, Selbstparodie: so unmerklich die Übergänge in der Schreibpraxis scheinen, so fließend sind sie oft in dem literaturkritischen und philosophischen Diskurs der Postmoderne. Um dem selbstreflexiven und selbstparodistischen Charakter postmoderner Literatur gerecht zu werden, macht sich besonders in der gegenwärtigen Kritik die Tendenz bemerkbar, den Begriff der Parodie derartig auszudehnen, daß er über die Attribute der Selbstreflexivität und Metadiskursivität in seiner extremen Extension zum Paradigma des Literarischen schlechthin gemacht wurde. 73 »Tout est devenu simulacre«, schreibt in zugespitzter Form Gilles Deleuze, bei dem die »parodische« Wiederkehr auch zum generellen Prinzip einer Philosophie der >Differenz< verallgemeinert wird. 74 Eine Variante der Gleichung von Parodie und reflexivselbstreflexivem Darstellungsverfahren bietet auch Bernd Antons
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Vgl. die Einführung von Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, New York/London 1985, S. 1-29; dies.: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. New York/London 1988, S. 34-35. Linda Badley: The Aesthetics of Postmodern Parody. An Extended Definition. In: The Comparatist 7 (1983), S. 36-47. Vgl. beispielsweise Ihab Hassan: Paracriticisms, Urbana., 111. 1975. Gilles Deleuze: Difference et repetition, Paris 1968, S. 95.
Arbeit zur Parodie der deutschen Romantik, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Themenstellung dieser Untersuchung befindet.75 Unter Berufung auf Friedrich Schlegels Ausspruch: »Die Parodie ist eigentlich die Potenzierung selbst«76 werden bei ihm die selbstreflexiven narrativen Strukturen in Schlegels Lucinde, Brentanos Godwi und Eichendorffs Viel Lärmen um Nichts zum Formmodell »romantischen Parodierens« erhoben: »Parodieren ist als real-poetisch reflexives Darstellungsverfahren ein Formgesetz dichterischer Einbildungskraft mit doppelter Perspektive. Die Spannung zwischen darstellendem und dargestelltem Ich, d. h. Erzähler und Figur, baut ein Erzählgefüge auf, in dem der Erzähler selbst zur Figur wird, als Autor seinen von ihm erfundenen Figuren begegnet, sich selbst als literarische Figur im gedruckten Buch rezipiert.«77 Losgelöst von der rhetorischpoetologischen Begriffsgeschichte wird Antons Definition dem Nebeneinander von Parodie-Theorie und Literaturparodien der Romantik nicht gerecht. Eher scheint sie jenes reflexive Vermögen moderner Dichtung zu beschreiben, das Friedrich Schlegels Λί/ienäMm-Fragment Nr. 238 mit dem breiteren Begriff der »Transzendentalpoesie« umschrieben hatte, die »das Produzierende mit dem Produkt darstellt«.78 Wenn auch die auktoriale Reflexivität und Selbstreflexivität eine wichtige Dimension der Parodie bildet, bleibt die sichtbar gemachte intertextuelle Relation das primäre Merkmal der Schreibweise, ohne welche die Parodie aufhört, Parodie zu sein. »Die Parodie ist eigentlich die Potenzierung der Nachahmung selbst«, hätte Friedrich Schlegel präzisieren sollen, um nicht mißverstanden zu werden. Die terminologische Verwirrung an einem Ende der Skala und am anderen Ende das klassifikatorische Kopfzerbrechen über die Sonderfälle der Parodie wie Burleske, Cento, Kontrafaktur, Pastiche und Travestie machen eine taxonomische Klarlegung zum unentbehrlichen ersten Schritt jeglicher Parodie-Studie. Offensichtlich geht es hier nicht einfach darum, einen zum universellen erkenntnistheoretischen Prinzip ausgedehnten Parodiebegriff auf Goethes Roman zurückzu-
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Vgl.Anm.38. F. Schlegel: KA 17, Nr. 995, S. 112. Anton: Romantisches Parodieren, S. 84. F. Schlegel: Athenäum-Fragment Nr. 238, KSF, Bd. 2, S. 127. 23
projizieren, nach dem Motto, alle reflexiv-selbstreflexive Kunst und Literatur sei Parodie, Mimikry und Simulanz. Andererseits kann eine auf die Wahlverwandtschaften bezogene Parodiedefinition nicht operieren, ohne jene Dimension kritisch-ironischer Reflexivität und Selbstreflexivität moderner Parodie miteinzubeziehen. Daß diese metatextuelle Qualität der Parodie, die die deutschen Romantiker in den Vordergrund ihrer Parodie-Theorie gestellt hatten, im englischsprachigen und anglistischen Bereich viel intensiver als in der germanistischen Parodieforschung reflektiert worden ist, gab dieser Forschungsübersicht ihren komparatistischen Zuschnitt. Die Parodie gelangte erst in den sechziger Jahren ins Blickfeld der Germanistik. Die erste wissenschaftliche Untersuchung der Parodie leistete Erwin Rotermund noch vor der deutschen Formalismus- und Strukturalismusrezeption mit seiner Monographie zur Parodie in der modernen deutschen Lyrik von Hanns von Grumppenberg bis Bertolt Brecht. 79 Eine Pionierarbeit war Rotermunds Buch in zweierlei Hinsicht. Erstens rehabilitierte seine werkimmanente Analyse parodistischer Gedichtsstrukturen die verdächtige Parodie-Gattung als Kunstform, zweitens wurde durch den lyrischen Schwerpunkt der Studie das Gedicht für die Germanistik zur Hauptform der Parodie kanonisiert. Rotermund geht von der seit dem 18. Jahrhundert geläufigen Gattungsdefinition der Parodie aus und beschreibt die parodistischen Verfahren mit einer modifizierten Fassung der vier Änderungskategorien der antiken Rhetorik: »totale oder partiale Karikatur«, »Substitution« (Unterschiebung), »Adjektion« (Hinzufügung) oder »Detraktion« (Auslassung). 80 Daß Quintilians transmutatio (Umstellung) bei Rotermund durch das Eigenkriterium der Karikatur ersetzt wird, hängt mit dem gattungsspezifischen Schwerpunkt seiner Arbeit zusammen, die sich ausschließlich mit gedichtinternen Transformationen befaßt. Die pragmatische Zielsetzung der Parodie bleibt bei ihm ziemlich offen: sie kann entweder spielerisch-unterhaltsam oder kritisch-satirisch sein. Nimmt man einmal einige methodische Schwachstellen in Kauf, Vagheit seines Karikaturbegriffs und Auslassen einer metasprachlichen Kommunikationsebene, so nimmt Rotermunds Lyrikstudie als
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Vgl. Anm. 1. Rotermund: Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, S. 9.
einzige detaillierte Darlegung struktureller Parodietechniken immer noch eine Ausnahmeposition in der deutschen Parodieforschung ein.81 Ein Vorwurf, der gegen Rotermunds Deutungsmodell gerichtet worden ist, bezieht sich auf die Inadäquatheit seiner rhetorischen Terminologie. Man sollte das Textverhältnis Parodie-Original mit Hilfe etwa der mathematischen Mengentheorie oder der strukturalen Linguistik viel exakter bestimmen, schlug beispielsweise Wolfgang Karrer im Fazit seiner eingehenden Retrospektive der Parodieforschung vor. 82 Dieser Vorschlag ist lange folgenlos geblieben, da sich im Zuge der Rezeption des russischen Formalismus und des rezeptions- und sozialgeschichtlichen Paradigmenwechsels der siebziger Jahre die deutsche Parodieforschung vor allem pragmatischen und historischen Funktionsfragen zugewendet hat. Gegenüber einer semiotischen Ausweitung des Begriffs Parodie auf andere Zeichensysteme, wie in Linda Hutcheons breitgefächertem Parodiebegriff, wird in der deutschen Literaturwissenschaft die medienspezifische Bezeichnung der >parodistischen Schreibweise< vorgezogen. Der struktural-linguistische Begriff der >SchreibweiseSchreibweise< zu sprechen, engt auch das breit gefaßte relationale Konzept der Dialogizität und Intertextualität auf die intendierten, signalisierten Bezugnahmen eines Textes auf andere ein. 84 Die Dominanz parodistischer Partien in einem literarischen Werk zum Definitionskriterium der Schreibweise zu machen, wie Verweyen und Witting in Anlehnung an
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Zur kritischen Auseinandersetzung mit Rotermunds Parodiedefinition vgl. auch Karrer: Parodie, Travestie, Pastiche, S. 67-69 und Verweyen/ Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur, S. 83-93. Karrer: Parodie, Travestie, Pastiche, S. 195. Hempfer: Gattungstheorie, S. 27. So Michail Bachtins Kennzeichnung der Parodie als »beabsichtigter Hybride«. In: Die Ästhetik des Wortes. Üb. v. Rainer Gräbel und Sabine Reese, Frankfurt a.M. 1979, S. 331. 25
Rotermunds Gattungsbegriff der Parodie vorschlagen, macht ihre Differenzierung zwischen Gattung und Schreibweise wieder rückgängig. Unumgänglich aber ist die Beachtung des Doppelstatus der Parodie für die Betrachtung langer, komplexer literarischer Werke wie Die Wahlverwandtschaften, in denen die parodistische Schreibweise mit anderen Schreibarten koexistiert und vermischt wird. Läßt sich das spezifisch >Parodistische< der Schreibart auf eine bestimmte pragmatische Zielsetzung fixieren, wie es Verweyen und Witting mit dem aus dem juristischen Bereich übernommenen Begriff der »antithematischen Textverarbeitung« empfohlen haben? Ihre funktionale Begriffsbestimmung stützt sich auf das Urteil 1972 im Plagiatprozeß der Disney-Erben gegen die Zeitschrift Pardon, in dem die »antithematische Behandlung« der Vorlage als Unterscheidungskriterium gegenüber der bloßen Kopie herausgestellt wurde. 85 Eine derartige Einengung der Schreibweise auf ihre kritisch-komische Intention dient vor allem der Abgrenzung und Aufwertung anspruchsvollerer parodistischer Texte gegenüber einer Flut von Trivialparodien aus dem Unterhaltungsbereich, bei denen bekannte literarische Vorlagen aus purem Jux ohne kritisch-normverletzende Hintergedanken ausgenutzt und oft verballhornt werden. Trägt die Funktionsdifferenzierung zwischen harmloser Komik und komischer Kritik bzw. kritischer Komik, durch die sich die »antithematische Textverarbeitung« vom herkömmlichen Wortgebrauch abgrenzen soll, Wesentliches zur Bestimmung der Schreibweise bei? Antithematische Behandlung, Herabsetzung sind sicherlich ein häufiges Ziel des parodistischen Spiels mit einer Vorlage. Die Parodieforschung sieht sich im Einklang mit der Wörterbuchdefinition und dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, nach denen diejenigen als die typischsten Parodien zu betrachten sind, die ihre Vorlage satirisch aufs Korn nehmen. Läßt sich nun diese komisch-kritische Intentionalität zum »entscheidenden Merkmal« der Schreibweise normieren? 86 Die Crux bei einer funktionalen Festlegung der Parodie auf das adversative Moment liegt darin, daß das Spezifische der Schreibweise nicht näher bestimmt und die Parodie letzten Endes zu einer Subkategorie der Satire reduziert wird.
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Verweyen/Witting: Die Parodie, S. 121-122. Ebd., S. 187.
Die Problematik eines auf rein funktionalen Kriterien basierenden Parodiebegriffs kristallisiert sich in Winfried Freunds gattungsgeschichtlicher Übersicht, in der die satirischen und ideologiekritischen Inhalte der untersuchten lyrischen, dramatischen und narrativen Parodien zu einer allgemeinen Bestimmung der Parodie als einer »antitraditionalistischen, gegen die Bornierung des Bewußtseins gerichteten literarischen Form« globalisiert werden. 87 Abgesehen davon, daß Freund die Schreibweise nicht näher bestimmt, ist es fraglich, ob seine funktionale Dichotomie zwischen einer »durch und durch progressiven«, »seriösen« Parodie und ihrer konservativen »trivialen« Abart einer empirischen Gegenprobe standhalten würde. Freunds Untersuchung ist am anregendsten in ihrer Erschließung eines breiten Textkorpus, bestehend hauptsächlich aus Literatur- und Medienparodien von Ludwig Tieck über Heinrich Heine und Bertolt Brecht bis zu Friedrich Dürrenmatt und Hans Carl Artmann, bei denen parodistische Schreibtechniken in verschiedene Gattungen integriert sind. Unbefriedigend wird sie, wenn aus der konkreten Funktionsanalyse parodistischer Texte ein generisches Postulat an die Parodie aufgestellt wird, »Bornierungen aller Art« zu negieren und emanzipatorisch aufzuheben. Die Geschichte der Parodie weist nicht ausschließlich in satirische und ideologiekritische Richtung. Das breite funktionale Verwendungsspektrum des Parodiebegriffs seit der Antike beruht auf der semantischen Ambivalenz des Präfixes para, das von vorne herein verschiedene Varianten von >Bei-< und/oder >Gegengesängen< zuließ. Ein solcher Sonderfall der Parodie ist die sogenannte parodia seria bzw. Christiana oder sacra. Zwar ist die Aussonderung der Kontrafaktur (geistliche Umdichtung einer weltlichen Vorlage oder umgekehrt weltliche Umdichtung eines geistlichen Prätextes) zur Erschließung dieses reichen Werkkorpus nützlich, nur hatte sich die Unterscheidung zwischen parodia seria und Kontrafaktur im untersuchten Zeitraum der Wahlverwandtschaften noch nicht durchgesetzt. 88 Obwohl die komisch-kritische Intention in der parodia christiana des 16. und 17.
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Freund: Die literarische Parodie, S. 69. Verweyen/Witting: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst und politischem Plakat, Konstanz 1987.
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Jahrhunderts meist abwesend ist, tritt sie dennoch mit ihrer oft inkongruent wirkenden Pfropftechnik als Sonderform der Parodie auf. So erklärt sich, daß Goethe in Über Kunst und Altertum einen Kupferstich nach Tizian, auf dem Sankt Georg ein nacktes Mädchen von einem Drachen erlöst, eine »christliche Parodie der Fabel von Perseus und Andromeda« nennen konnte. 89 Die Inkongruenz der griechischen »Herrlichkeit« der nackten Figur in dieser christlichen Ikonographie erklärt Goethe nicht aus einer kritischen Intention des Malers heraus, sondern aus dem Zusammmenspiel zweier widerstreitender künstlerischer Traditionen bei Tizian, der religiösen und der mythologischen. Der Eindruck komisch-parodistischer Inkongruenz entsteht erst beim Betrachter; vom Standpunkt des Produzenten aus gesehen, wäre die Kontrafaktur eher als »unwillkürliche Parodie« im Sinne Friedrich Schlegels zu verstehen. Die Begriffsverwandtschaft markieren der französische und englische Sprachgebrauch durch ihre Übersetzung des deutschen Fachwortes >geistliche Kontrafaktur< mit parodie spirituelle, bzw. sacred parody.90 Die Doppelparodie, bei der zwei Texte als Vorlagen dienen, ist eine andere Kompositionstechnik, die sich einem funktionalen klassifikatorischen Zugriff widersetzt, da die Primärvorlage als affirmative >Wortmaske< benutzt werden kann, um kritische Angriffe auf eine zweite maskierte Textvorlage zu verstellen.91 Diesem komplexen Schreibverfahren, bei dem das Parodierte gleichzeitig entgegengesetzte Funktionen erfüllen kann, begegnet man häufig in Goethes Roman. In diesem pragmatischen Kontext erübrigt sich auch ein Hinweis auf die parodierende Praxis der Text- und Medienwerbung, bei der die Vereinnahmung geflügelter Wörter freilich nicht der Herabsetzung, sondern der psychologischen und kommerziellen Aufwertung der angebotenen Ware dient. Da das Wirkspektrum der Parodie kontext- und leserabhängig ist, will sich die Schreibweise nicht so leicht zu einer funktionalen Konstante normieren lassen. Die Polyfunktionalität parodistischer Schreibweise läßt sich bestens nachempfinden an der von
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Goethe: Über Kunst und Altertum, WA, Abt. I, Bd. 49.1, S. 299. Hempel: Parodie, S. 153. Zur Doppelparodie vgl. Karrer: Parodie, S. 62-63; Rose: Parody/Metafiction, S. 21-22; Höfele: Parodie, S. 21-22. Zur >Wortmaske< vgl. Rose, S. 20 und 34.
Wulf Segebrecht aneinandergereihten und bis heute nicht abbrechen wollenden Kette von Verwandlungen und Verballhornungen des Goetheschen Gedichts Über allen Gipfeln ist Ruh.92 Neuerdings wurde von Witting der Versuch unternommen, durch Umbenennung von »antithematischer« in »komisierende« Textverarbeitung Raum in seiner Parodie-Definition zu schaffen für die Unterhaltungsparodie der Almanach-Literatur des 19. Jahrhunderts und für Werbe-Slogans der Gegenwart. 93 Welche Sonderstellung die Parodie zwischen Ironie und Satire einnimmt, ist in Margaret Roses Studie zur Parodie als Metafiktion klargelegt worden. 94 Obwohl ihre an der Funktionalisierung parodistischer Verfahren in großen Werken der Weltliteratur - Cervantes' Don Quixote, Sternes Tristram Shandy, Joyces Ulysses - orientierte Untersuchung die am meisten diskutierte Parodie-Theorie im englischen Sprachraum geliefert hat, ist sie von der germanistischen Parodieforschung weitgehend unbeachtet geblieben. Roses Buch verdient besondere Beachtung, weil bei ihr zum ersten Mal die Pionierrolle der Parodie-Theorie der deutschen Romantik auf dem Hintergrund der bisherigen Begriffsgeschichte gewürdigt wird. 95 Rose geht auf die antike Parodiedefinition der Scholiasten zurück, um die Verwandtschaft der Parodie als komische Zitatmanipulation mit der Ironie im
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Vgl. Wulf Segebrecht: Johann Wolfgang Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh und seine Folgen. Zum Gebrauchswert klassischer Lyrik, München 1978. Gunther Witting: Parodie als komisierende Textverarbeitung. In: Der Deutschunterricht 37 (1985), S. 5-29. Vgl. Rose: Parody/Meta-fiction, S. 51-53; dazu auch ihre zusammenfassende Bemerkung: »The structure of the parody may be seen to be closer to irony than satire in that it will usually contain at least two different texts and messages, just as the irony may be said to contain at least two different, and often apparently conflicting codes. Parody may however also be close to satire in containing a definite target, and in mocking that target in no uncertain terms. Though structurally more complex than the traditional satire, some parodies may also contain straight satire, just as some satires may contain both parody and irony.« (Parody and Post-Structuralist Criticism. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 18 (1986), S. 97, Anm. 6). Zur Parodie-Theorie der Brüder Schlegel vgl. Rose: Parody/Meta-fiction, S. 29, 33-34, 80-81. 29
rhetorischen Sinne einer verstellten Aussage nachzuweisen. So habe Quintilian, bei dem das Wortspiel als Grundform der Parodie erwähnt wird, den witzigen Effekt der Parodie ausdrücklich aus ihrer ironischen Doppeldeutigkeit abgeleitet. Mit Hilfe linguistischer Kriterien gelingt es Rose, die Wirkungsspannweite parodistischer Duplizität rezeptionstheoretisch näher zu bestimmen. Im Unterschied zur Ironie, die einem einzigen Sprachkode mehrere Bedeutungen unterschiebt, koexistieren in der Parodie mindestens zwei Sprachkodes oder »Textwelten«, die Textwelt des Parodisten und die Textwelt des parodierten Autors. Der Parodist »dekodiert« den parodierten Text und bietet ihn dem Leser in »kodierter« Form wieder dar. Das Textwelt-Modell ermöglicht eine klare Abgrenzung der satirischen von der parodistischen Schreibweise. Während die Satire, die aus einem einzigen Kode besteht, ihre polemische Zielsetzung explizit macht, verlagert die Parodie sie in die kodierte Textwelt ihrer Zielscheibe. Dadurch verwandelt sie satirische Eindeutigkeit in ironische Ambivalenz. Die Rezeption der Parodie hängt also einerseits von der individuellen Erkenntnis jener illusionsbrechenden Signale durch die Leser ab, die auf die Präsenz zweier Textwelten und auf eine parodistische Diskrepanz zwischen beiden Textwelten hindeuten. Der »komische« Effekt läßt sich nicht nur vom Standpunkt des Autors an der Art der intendierten Diskrepanz zwischen eigener und fremder Rede abmessen. Auch auf Seiten der Rezipienten variiert die individuelle Empfindlichkeit für die Ambivalenz und Subtilität »großer Parodie-Texte«, wobei auch der Möglichkeit einer falschen Dekodierung Rechnung getragen werden sollte. Obwohl sich einwenden ließe, daß das Merkmal der Subtilität weniger der parodistischen Schreibweise als dem von Rose ausgewählten Textkorpus kanonischer Literaturparodien zukommt, bleibt der nachgewiesene Tatbestand bestehen, daß das Nebeneinander zweier oder mehrerer Texte, Sprachkodes oder Stimmen in der Parodie (ob nun komisch oder ernsthaft, satirisch oder rein spielerisch, wollen wir dahingestellt sein lassen) Ambiguität erzeugt. 96
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Ebd., S. 26-27 und 51-53; vgl. auch die Zusammenfassung in: dies.: Defining parody. In: Southern Review 13 (1981), S. 5-20.
In eine ähnliche Richtung gehen die Ausführungen Michail Bachtins zur Zweistimmigkeit und Dialogizität des modernen Romans. Bei ihm wird jede beabsichtigte Form der Abbildung, Nachäffung oder Stilisierung »fremder Rede« innerhalb eines Textganzen Parodie genannt, wobei sein Redebegriff neben der literarisch vorgeformten Sprache mündliche Sprechweisen einschließt. Kennzeichen der Ironie und Parodie sind also die Ambivalentisierung oder »Hybridisierung« der Sprache. »Jede Parodie ist somit eine beabsichtigte dialogisierte Hybride.« 97 Daß diese Vermischung zweier oder mehrerer Sprachen auch ohne ironische Autorenintention Ambivalenz erzeugen kann, hat Martin Heinrich Müller am parodistischen Spiel zwischen Antike und Christentum in der parodia Christiana überzeugend demonstriert. 98 Durch die strukturelle Zwei- oder Mehrstimmigkeit der Parodie wird die Relation zwischen Sprache und Gegenstand, Zeichen und Bezeichnetem offengelegt. Dieses Auseinanderklaffens wegen illustriert die Parodie in paradigmatischer Weise das, was Jacques Derrida mit dem Stichwort der »Materialität der Signifikanten« gekennzeichnet hat. Nicht nur die postmoderne literarische Praxis, auch das von Julia Kristeva geprägte Intertextualitätskonzept, das Bachtins Dialogizität und Mehrstimmigkeit zum neuen Paradigma des Literarischen erhob, hat unbeabsichtigt zu einer textimmanenten Präzisierung des Parodiebegriffs Anlaß gegeben. Kristevas Begriff der Intertextualität verstand sich als universeller, parthenogenetisch-unbewußter Vorgang textlicher Einverleibung und Transformation: »Tout texte se construit comme mosai'que de citations, tout texte est absorption et transforma-
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Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 331; an anderer Stelle schreibt Bachtin: »Das Wort [...] ist zweifach gerichtet: auf den Gegenstand der Rede als ein gewöhnliches Wort und auf das andere Wort: die fremde Rede. Wenn wir, ohne etwas von diesem zweiten Kontext der fremden Rede zu wissen, eine Stilisierung oder Parodie so auf uns wirken lassen, wie das bei gewöhnlicher bloß auf ihren Gegenstand gerichteter Rede der Fall ist, werden wir das Wesen dieser Phänomene verfehlen, die Stilisation als Stil, die Parodie als mißlungenes Werk mißverstehen.« (Literatur und Karneval, S. 107). Zur Horaz-Parodie beim Barockdichter Jakob Balde vgl. Martin Heinrich Müller: >Parodia christianaFormparodie< erhoben. Abgesehen von terminologisch-methodischen Einwänden gegen Genettes Minimalismus ist der heuristische Wert seiner Rückkehr zur rhetorischen Figur der Parodie für die Identifizierung und textinterne Beschreibung der Schreibweise indiskutabel. Genettes verengtes Parodiekonzept läßt sich in makroparodistische Richtung öffnen, ohne seiner strukturellen Typologie zuviel Gewalt anzutun. Was die formal-strukturelle Beschaffenheit der Parodie anbelangt, ist zunächst festzuhalten, daß sie auch ohne syntaktische Modifikation vorkommt, wenn die Vorlage wörtlich zitiert, das Zitat aber auf einen anderen als den ursprünglichen Kontext bezogen wird. 103 Solche Einschübe oder Inserts sind eine sehr geläufige parodistische Strukturierung längerer narrativer oder dramatischer Literaturparodien. Das Verfahren der transmutatio, wie es bei Quintilian heißt, überträgt die Pfropftechnik der Parodie auf makrotextuelle Ebene. In solchen Fällen sind es oft kontextgebundene Parodie-Signale, wie semantische Inkongruenz, metadiskursive Autorenkommentare oder Illusionsbrechungen, welche die Kopräsenz zweier Texte erkennen lassen. In ihrem pragmatischen Gegenentwurf zu Genettes strukturalistischem Modell nennt Linda Hutcheon dieses nicht-transformative Verfahren der Parodie, das auch in den modernen Bild- und Musikmedien besonders häufig vorkommt, »Transkontextualisierung« (trans-contextualization).m Wie die ironisch-groteske Umfunktionierung von Manets Le balcon in Magrittes Perspectives auf ihrem Titelbild veranschaulicht, wird durch eine solche parodistische Operation eine Aussage »transkontextualisiert«, ohne ihre interne Struktur zu berühren.
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Vgl. dazu Karrer: Parodie, S. 76; Höfele: Parodie, S. 87; zur Diskussion von Genettes Palimpsestes vgl. Clive Thomson und Alain Pages (Hrsg.): Dire la Parodie. Colloque de Cerisy, Bern/Frankfurt a.MVNew York 1989. Hutcheon: A Theory of Parody, S. 8.
Was nun Goethes Roman anbelangt, so läßt sich eine differenzierte Analyse seiner vielfältigen Parodieverfahren, einschließlich der Buchstaben-, Wort-, Namen-, Motiv-, Szenen- und Stilparodie, nur unter Einbeziehung der beiden Verfahren der Textverwandlung und -umsetzung durchführen. Einen Ausweg aus dem Dilemma einer Ausschließung relevanter Phänomene durch eine zu enge Normierung des Parodiebegriffs oder durch ein im Dunst der Begriffserweiterung verschwimmendes Phänomen zeigen die zwei anglistischen Parodieuntersuchungen von Andreas Höfele und Beate Müller. Höfeies Parodiedefinition, die er aus der Untersuchung des umfangreichen Textkorpus der viktorianischen »Blütezeit der Parodie« gewonnen hat, 105 zeichnet sich dadurch aus, daß durch Berücksichtigung sowohl der Populärparodien der Massenzeitschrift Punch als auch der wachsenden parodistischen Infiltrierung der >hohen< Literatur des fin de siecle (Swinburne, Wilde, Beerbohm) ästhetisch anspruchslose und anspruchsvolle Spielarten der Parodie aufeinander bezogen werden können. Höfele operiert mit einem flexiblen Parodiebegriff, der einerseits als Gattungsbezeichnung für abgeschlossene Texte fungiert, die den parodistischen Bezug auf eine Vorlage als ihr primäres Charakteristikum deutlich zu erkennen geben, und andererseits als Bezeichnung für ein parodistisches Schreibverfahren, das in Texte integriert wird, die nicht »reine« Parodie sind, sondern parodistisches Drama, parodistischer Roman, parodistisches Gedicht. 106 Diese differenzierte Perspektive ermöglicht ihm die Vermittlung zwischen den zwei extremen Positionen der ParodieForschung, der neoklassizistischen, welche die Dominanz entlehnter Bestandteile in der Parodie zum Anlaß nahm, sie als parasitäre Abart in die Randzonen der Literatur zu relegieren, und der avantgardistischen, die aus der Betrachtung einzelner, mit parodistischen Elementen vermengter, literarischer Höhenflüge Verallgemeinerungen über die progressive oder gar revolutionäre Rolle der Parodie in der Literaturgeschichte ziehen konnte. »Imitation«, »Abweichung« und »Spiel« sind die drei Komponenten, aus denen sich Höfeies Parodiebegriff zusammensetzt. Diese
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Höfele: Parodie, S. 12. Ebd., S. 22. 35
Kategorien werden eher zu formal-historischen Varianten avanciert, als daß sie als ahistorische Konstanten im Sinne der Unterscheidung Hempfers zwischen Gattung und Schreibweise betrachtet würden. 107 Als primärer und »unverzichtbarer« Bestandteil jeder Parodie wird die »Nachahmung«, d. h. die intertextuelle Bezugnahme ausgesondert. Parodien sind Texte, die ihre Abhängigkeit von sprachlich Vorgeformtem bewußt sichtbar machen. Damit unterscheidet sich seine Begriffsanwendung von einer metaphorischen Ausdehnung der Parodie zum Synonym aller postmodernen zeitgenössischen Literatur und Kritik schlechthin. Dem Kriterium der Komik wird bei Höfele auf Grund des variablen historischen Wortgebrauchs und der subjektiven Rezeptionseinstellungen keine Allgemeingültigkeit zugestanden. In diese offene Parodiedefinition werden auch die Subkategorien Kontrafaktur und Pastiche neben verwandten Parodie-Typen wie Burleske, Travestie und Cento einbezogen. Das Hauptanliegen der typologischen Untersuchung von Beate Müller liegt im Versuch einer systematischen Erfassung parodiekonstituierender Verfahrensweisen. 108 Ihre flexible Definition der Parodie als »komische Intertextualität« räumt auch längeren Texten Platz ein, in denen parodistische Strukturen nicht dominant sind. Ihre Aufmerksamkeit gilt jedoch vor allem gattungsähnlichen parodistischen Texten wie der Versparodie, in denen Parodiemerkmale überwiegen. Wegen des strukturalistischen Schwerpunkts ihrer Arbeit fällt die Abwesenheit der Elementarformen der Parodie, wie Slogans, Sprüche, Zitatund Wortparodien auf, die, wie am Beispiel von Genettes engerem Parodiebegriff gezeigt wurde, für eine strukturelle Erfassung der Schreibweise unumgänglich sind. Der wertvollste Teil ihrer Ausführungen befaßt sich mit einer typologischen Untersuchung häufig parodierter Texte. Als wichtige Voraussetzungen für die Parodierbarkeit literarischer Texte stellt sie solche pragmatischen, semantischen und syntaktischen Kriterien wie Bekanntheitsgrad und Wiedererkennbarkeit, Ernsthaftigkeit bzw. Sich-ernst-Nehmen, und vor allem syntaktische Merkmale wie Deutlichkeit und Regelmäßigkeit der sprachlichen
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Ebd., S. 20. Beate Müller: Komische Intertextualität. Die literarische Parodie, Trier 1994.
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Strukturmuster heraus. Der untersuchte Textkorpus beschränkt sich auf eine kleine Auswahl parodistischer Bearbeitungen, in denen die beschriebenen Strukturmerkmale gebündelt sind, etwa Parodien auf Hamlets Monolog To be or not to be, Edgar Allan Poes Gedicht The Raven und Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig. Trotz großer Gewinne im Bereich der Begriffsdifferenzierung rührt vielleicht das Unbefriedigende an Müllers Arbeit daher, daß gerade solche Texte, die ihre parodistische Machart massiv und ostentativ zur Schau stellen, für eine eingehende Textanalyse wenig tauglich sind. Die wachsende Relevanz der Parodie für die moderne Literatur hatte Friedrich Schlegel intuitiv gespürt. In einem seiner Aphorismen aus Jenseits von Gut und Böse sollte Nietzsche nach ihm die parodistische Umfunktionierung des Epigonentums als einzige Rettung aus dem Dilemma seines imitativen Zeitalters empfehlen. In seiner Analyse des literarhistorischen Wandels der Parodie zitiert Höfele jene Schlüsselstelle, um eine Abgrenzungslinie zwischen epigonenhafter Nachahmung und Parodie zu ziehen. Die Unterscheidung, die von kardinaler Relevanz für den Zeitraum des späten 19. Jahrhunderts ist, markiert auch die Trennungslinie zwischen klassizistischer imitatio und romantischer Parodietheorie. Bei Nietzsche heißt es: - wir sind das erste studierte Zeitalter in puncto der »Kostüme«, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet, wie noch keine Zeit es war, zum Karneval großen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermut, zur transzendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, daß wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch entdekken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes - vielleicht daß, wenn auch nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!109 Das parodistische Verfahren ist zwar auch ein imitatives, doch eins, das auf die epigonale Nachahmung polar bezogen ist. Anstatt der anstudierten Einfühlung in den Gegenstand involviert es seine bewußte Verfremdung. Als einen »Akt des Sezierens« wird es von 109
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: Werke, München 2 1960, Bd. 2, S. 686. Hervorhebungen v. Nietzsche; dazu auch Sander L. Gilman: Nietzschean Parody. An Introduction to Reading Nietzsche, Bonn 1976. 37
Höfele gekennzeichnet." 0 Schon Friedrich Schlegel hatte die Parodie als eine transzendentale Tätigkeit definiert, in die das »Sich-über-sichWegsetzen« der Ironie miteinbezogen ist. Beim Pastiche, dieser in der Renaissance-Malerei erarbeiteten Technik täuschender Stilimitation, die Marcel Proust zum literarischen Kunstwerk erhoben hat, läßt sich die feine Trennungslinie zwischen Huldigung und Ironie nicht immer ohne Einbeziehung pragmatischer Kriterien ziehen. Ähnliches soll an der Textanalyse des zweiten Teils der Wahlverwandtschaften konkretisiert werden. Höfeies poetologische Funktionsanalyse ist in der Lage, die Professionalisierung des Pastiches im späten 19. Jahrhundert als ersten Schritt weg von der epigonalen Nachahmung hin zu einer umfassenden Literaturparodierung situativ zu bestimmen." 1 Vom russischen Formalismus, dessen theoretische Konstrukte erst Ende der sechziger Jahre aufgenommen worden sind, rührt das einflußreichste literarische Funktionsmodell der Parodie für die Moderne her. In einer Reihe sich ergänzender Entwürfe rückten Viktor Sklovskij und Jurij Tynjanov die Parodie in den Mittelpunkt des Formenkanons, um sie zum Paradigma einer vom Diskontinuitätsprinzip getriebenen literarischen Entwicklung zu machen. Die evolutionsgeschichtliche Kernthese des formalistischen Modells wurde von Sklovskij formuliert: Ein Kunstwerk wird wahrgenommen auf dem Hintergrund und auf dem Wege der Assoziierung mit anderen Kunstwerken. Die Form des Kunstwerks bestimmt sich nach ihrem Verhältnis zu anderen, bereits vorhandenen Formen. Das Material des Kunstwerks wird ständig mit Pedal gespielt, d. h. es wird herausgehoben, »zum Tönen gebracht«. Nicht nur die Parodie, sondern überhaupt jedes Kunstwerk wird geschaffen als Parallele und Gegensatz zu einem vorhandenen Muster.11
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Höfele: Parodie, S. 63. Zum Pastiche-Begriff vgl. Hempel: Parodie, Travestie und Pastiche, S. 165-176. Viktor Sklovskij: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stil-Verfahren (1916). In: Jurij Striedter (Hrsg.): Russischer Formalismus: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1969, Bd. 1, S. 51.
1972 als »letzten Stand der Wissenschaft bezüglich der Parodie« enthusiatisch begrüßt," 3 ist inzwischen das Evolutionsmodell der Formalisten von mehreren Seiten einer gründlichen kritischen Überprüfung unterzogen worden. Sklovskijs und vor allem Tynjanovs Stilisierung der Parodie zum Movens der literarischen Evolution ist als globalisierend, finalistisch und sogar darwinistisch und ihr vom Kampf- und Diskontinuitätsprinzip beherrschter literaturhistorischer Prozeß als zu einseitig kritisiert worden, weil dabei, wie von Hempfer klargestellt wurde, »zwischen der >normalen< Evolution einer Gattung und deren bewußter Parodierung« nicht unterschieden wird." 4 Auch Genettes Minimalisierung der Parodie versteht sich als implizite Korrektur des formalistischen Maximalismus. Sieht man von diachronen Verallgemeinerungen ab, so stellt sich das synchrone analytische Muster des Formalismus, vor allem Sklovskijs »Bloßlegung des Verfahrens«, immer noch als brauchbare heuristische Anleitung zu einer poetologischen Funktionsbestimmung der Parodie dar. Mit »Verfahren«, wie etwa im folgenreichen Verfahren der Verfremdung, meint Sklovskij die Relationierung von Zeichen und Bezeichnetem. Literarische Sujets können auch in Verfahren verwandelt werden. An dieser Stelle wird ein Funktionswandel identifiziert, der zum Brennpunkt formalistischer Parodie-Theorie wurde, nämlich »daß ein abgenutztes Verfahren noch einmal als seine Parodie verwendet werden kann.«" 5 Dieses entscheidende Wandlungsmoment des Verfahrens wurde bei Tynjanov zum dialektischen Kernpunkt einer konstruktiven Theorie der Parodie ausgestaltet: Das Wesen der Parodie liegt in der Mechanisierung eines bestimmten Verfahrens, wobei diese Mechanisierung natürlich nur dann spürbar wird, wenn das Verfahren, das sich mechanisiert, bekannt ist. Auf diese Weise erfüllt die Parodie eine doppelte Aufgabe: 1) die Mechanisierung eines bestimmten Verfahrens und 2) die Organisation neuen Materials, zu dem auch das mechanisierte alte Verfahren gehört." 6
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Stackelberg: Literarische Rezeptionsformen, S. 166. Hempfer: Gattungstheorie, S. 214. Sklovskij: Der Zusammenhang. In: Striedter: Russischer Formalismus, Bd. 1 . S . 9 1 . Jurij Tynjanov: Dostoevskij und Gogol: Zur Theorie der Parodie (1921). In: ebd., S.331.
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Tynjanovs Aufsatz über die literarische Evolution baute dann das dialektische Verwandlungsmoment der Mechanisierung zum Gesetz der literarischen Evolution als Folge von Auflösung und Ablösung von Formen um.117 Wiewohl der Begriff der Mechanisierung als literarhistorisches Formgesetz an Geltung verloren hat, ist seine heuristische Gültigkeit nicht ausgeschöpft, nämlich da, wo er zur synchronen Funktionsbeschreibung im engeren Sinne eingesetzt wird. Dort berührt sich Tynjanovs Mechanisierung mit Sklovskijs »Bloßlegung des Verfahrens,«" 8 die sein Paralleltext zu Sternes Tristram Shandy als charakteristische Technik der Parodie ausgesondert hat." 9 Sterne, bemerkt Sklovskij, »spielt«, »verschiebt« und »verletzt« die üblichen Formen, wodurch sie zum Mittel der Verfremdung umfunktioniert werden.120 Der Effekt eines solchen Spiels ist die »Bloßlegung des Verfahrens«. Durch Aufdeckung der Relationen zwischen Sprachzeichen und Bezeichnetem, verba und res, lenkt das »Pedalspiel« der Parodie das Augenmerk auf die sprachliche Eigenart, auf die literarische Technik. Darin, daß sie anzeigt, was andere Formen verdecken, liegt die poetologische Funktion der Parodie. Sie ist das, was Friedrich Schlegel seinerzeit »poetischen Witz« genannt hatte, ein Medium metadiskursiver Reflexion über die literarische Tradition. Der Bloßlegung des Verfahrens in der Parodie weist der Sterne-Aufsatz Sklovskijs eine vornehmlich destruktive Funktion im Evolutionszusammenhang zu. Das Verfremden des Geläufiggewordenen und Obsoleten in der Parodie unterhöhlt und untergräbt dessen Gültigkeit. So kann in einem weiteren Schritt die Parodie zum Medium der Auflösung veralteter Formen schlechthin deklariert werden. Obwohl eingewendet werden kann, daß die Parodie nur das bereits Überholte auflöst und nur noch das schon hinfällig Gewordene untergräbt, bleibt es Sklovskijs Verdienst, sie als literarisches Barometer des Formen-, Moden- und Zeitwandels identifiziert zu haben.
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Tynjanov: Über die literarische Evolution (1927). In: ebd., S. 433-461. Sklovskij: Der parodistische Roman. Sternes Tristram Shandy (1921). In: ebd., S. 245. 119 Ebd., S. 245-299. 120 Ebd., S. 295. 118
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Es ist das Bewußtmachen der Relationen, jene demonstrative Qualität der Parodie, die Sklovskij mit seiner »Bloßlegung des Verfahrens« identifiziert hatte und die Rose in ihrem Titelbegriff der >Metafiktion< artikuliert.121 Ihre einflußreiche Formel stützt sich auf Roman Jakobsons linguistischen Begriff der Metasprache, die eine auf den Sprachkode fokussierte und ihn kommentierende Sprachhandlung beschreibt. 122 Daß die Parodie in ihrer Hervorkehrung des Verfahrens eine metasprachliche Funktion ausübt, erklärt Rose folgendermaßen: »With the juxtaposition of two codes, the parodist steps in to comment on the preformed language of the quoted text (code B), and in doing so creates what might be called (in Roman Jakobson's terminology) a >metalanguage< - a commentary to another linguistic entity.« 123 Ihr Begriff der Metafiktion bezeichnet die Eigenschaft parodistischer Schreibweise, sich reflektierend von der literarischen Tradition abzuheben und die Auseinandersetzung mit ihr sprachlich zu thematisieren. In Roses metafiktionalem Prinzip sind sowohl die reflexive Dimension der Parodie-Theorie der Romantik als auch das Zeigeprinzip der formalistischen Parodie-Theorie zu einer neuen Funktionsbestimmung der Parodie als literaturkritisches Medium vereinigt. Das Attribut des >Metafiktionalen< trifft freilich vornehmlich auf die Texte zu, in die diese reflexive, metasprachliche Funktion der Parodie in ein neues Werkganzes integriert ist. Nicht alle metafiktionalen Werke sind parodistisch, aber alle »großen« Parodien sind ihrer bewußten Referentialität wegen metafiktional. Eben auf diese komplexeren Texte bezieht sich Roses metaliterarische Funktionsbestimmung der Parodie, in deren Reihe auch Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften gehört. Unter Einbeziehung der metafiktionalen Dimension des Romans läßt sich nun nachvollziehen, wie Goethe in ähnlicher und doch viel versteckterer Weise als Cervantes mit seinem Don Quixote durch das metatextuelle Schreibverfahren der Parodie seiner chemischen Erzählung einen literatur- und zeitkritischen Kommentar eingeschrieben hat. Durch Aufdecken der parodierten Prätexte, die Goethe durch das
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Vgl. Anm. 23. Vgl. Roman Jakobson: Closing Statement. Linguistics and Poetics. In: Thomas Sebeok (Hrsg.): Style and Language, Massachussetts 2 1964, S. 356. Rose: Parody/Meta-fiction, S. 51. 41
»Pedalspiel« der Parodie zum »Tönen« bringt, kann der Ort des Romans vor dem Horizont der literarischen Tradition und seiner romantischen literarischen Umwelt präziser als bisher situiert werden. Auch im Rahmen der Intertextualitätsdiskussion ist auf die metatextuelle Dimension der Parodie hingewiesen worden. Bei Manfred Pfister, der zwischen den konkurrierenden Intertextualitätskonzepten des Poststrukturalismus und Strukturalismus zu vermitteln versucht, indem er den Grad der Intertextualität nach rezeptionsästhetischen Kriterien einstuft, steht die Intensität des intertextuellen Bezugs in direktem Verhältnis zu seiner »Referentialität« bzw. »Metatextualität«. 124 Eine Beziehung zwischen Texten werde »umso intensiver intertextuell«, behauptet er, »je mehr der eine Text den anderen thematisiert, indem er seine Eigenart - um eine Formulierung der russischen Formalisten zu übernehmen - >bloßlegtBloßlegung des Verfahrens< und der Metatextualität nähert sich auch die Parodieforschung der sprachkritischen Perspektive postmoderner Kritik und Literatur. Nicht von ungefähr hatte Michel Foucaults Diagnose eines Bruchs zwischen der Welt der Dinge und der Welt des Wortes und der Selbstreferentialität literarischer Sprache ihren Ausgangspunkt in einem selbstreflexiven, parodistischen Text wie Don Quixote genommen, in dem den Lesern die Welt der Fiktion als Fiktion vorgeführt wird. 126 Jene Diskrepanz von Sprache und Welt, die Foucault als Symptom der modernistischen Episteme diagnostizierte, kehrt die Parodie durch Abtrennung der Zeichen vom Bezeichneten paradigmatisch hervor. Im Anschluß an Foucault skizziert auch Roses Studie ein Funktionsmodell der Parodie als Katalysator erkenntniskritisch-sprachlicher Diskontinuität im Wandel der historischen Episteme. Wenn auch ein solches diachrones
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Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglist. Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1-30. Ebd., S. 26. Michel Foucault: Les Mots et les Choses, Paris 1966.
Konstrukt in ähnliche Aporien mündet wie das Evolutionsmodell der Formalisten, 127 bleibt doch der Tatbestand bestehen, daß alle Spielarten der Parodie durch ihr schonungsloses Spiel mit dem Verfahren eine erkenntnis- und sprachkritische Funktion im Sinne Foucaults erfüllen. Durch die bewußte Loslösung von Signifikantem und Signifikat aktiviert die Parodie das Bewußtsein für die Artifizialität der Sprache als eine von der Welt der Dinge getrennte Welt. Dieser sprachkritische Vorgang spielt sich selbst bei den anspruchslosesten Spielarten der Parodie ab, was Höfele an den Unterhaltungsparodien der Massenzeitschrift Punch in exemplarischer Weise vorgeführt hat: Mit dem Parodierten geschieht etwas - auch wenn es >wohlwollend< parodiert wird - , das den Horizont individueller Wirkungsabsicht übersteigt. Es entsteht ein Bewußtsein literarischer Technik, vor dem die Vorstellung einer >natürlichen< Einheit von Sprache und Gegenstand im Kunstwerk unhaltbar wird. Selbst die nicht-kritische Parodie zerlegt diese Einheit, indem sie dem vorgegebenen Muster ein anderes Thema unterschiebt, einen anderen Sinn gibt. Aus der Gewohnheit des Parodierens entsteht eine Gewohnheit des Durchschauens - >See how it's done« - , die die Gewohnheit einer »willing suspension of disbelief« auf die Dauer untergraben dürfte.128 Verfremdungseffekte, Antimimesis, Selbstreferentialität der Sprache, Metafiktion: an diesen Stellen berührt sich die parodistische Schreibweise mit Hauptkomponenten postmoderner Ästhetik, weshalb Parodie und postmoderne Literatur in der zeitgenössischen Kritik oft metaphorisch aufeinander bezogen worden sind. Wie Roses Buch baut auch Höfeies Parodie-Studie auf dem poetologischen Funktionsmuster der russischen Formalisten auf. Den Ausgangspunkt seiner historisch-hermeneutischen Analyse des Funktionswandels der Parodie am Ausgang des 19. Jahrhunderts bildet Hempfers Bemerkung, daß dem Evolutionsverständnis der russischen Formalisten »ein modernistisches Originalitätsdenken zugrunde liegt, das bis zum Ende des 18. Jhs. nicht oder nur sehr bedingt anzusetzen ist«.129 Demnach schränkt Höfele den universalen Anspruch der formalistischen Evolutionstheorie auf die Situation avantgardistischer
127 Vgl. dazu Rose: Parody and Post-Structuralist Criticism, S. 98. 128 Höfele: Parodie, S. 106. 17Q Hempfer: Gattungstheorie, S. 213. 43
Literatur zu Beginn dieses Jahrhunderts ein, an der die russischen Formalisten selber teilhatten. Aufschlußreich für den von ihm untersuchten Zeitraum ist der Tatbestand, daß die Parodie ihre Randposition verläßt, um in den Kernbereich der Literatur der Moderne vorzudringen. Die wachsende parodistische Infiltrierung modernistischer Literatur bis hin zu Joyces umfassender Parodierung der Literatur in Ulysses stellt er in den Zusammenhang einer postromantischen Originalitätsästhetik, für die Innovation schnell zur Konvention verblich und Erneuerung nur noch als antikonventionelle Präsentation der verbrauchten Sprachmuster faßbar geworden war. Ihrer metatextuellen Sonderstellung wegen als das Verfahren, in dem sich Verbrauchtes als verbraucht und Veraltetes als veraltet modellhaft zeigt, konnte nun die Parodie um die Jahrhundertwende zum Paradigma literarischer Innovation avancieren. In der parodistischen Verfremdung des Veralteten und Konventionellen tat die Moderne ihre Modernität kund. Der von Höfele musterhaft nachvollzogene poetologische Funktionswandel der Parodie ist bestimmt nicht auf die englische Avantgarde beschränkt, wie Parallelphänomene in der deutschen Ästhetik und Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts einleuchtend genug suggerieren. Dazu gehören etwa Nietzsches ästhetische Aufwertung der Parodie als Ausweg aus dem Epigonentum seines Zeitalters, die parodistische Durchsetzung der Werke Thomas Manns und das Aufblühen des Pastiches und der Gedichtsparodie in der deutschen Literatur des fin de siecle.m Auch die Parodie-Theorie der russischen Formalisten ging ihrerseits aus ihrer Beschäftigung mit der parodistischen Prosa Gogols und Dostojewskis hervor. Außergewöhnlich an der deutschen literarischen Situation ist die Tatsache, daß das innovative Potential der Parodie bereits in der avantgardistischen literarischen Theorie und Praxis der Frühromantik kurzfristig vorweggenommen wurde. Dort zeigt sich der einzigartige Umstand, daß, während die Weimarer Klassik gegen die Auflösung der Regelpoetik des ancien regime die Geltungskraft der antiken Gattungsgrenzen weiter-
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Vgl. Gilman: Nietzschean Parody; Viktor Zmegac: Konvention, Modernismus und Parodie. Bemerkungen zum Erzählstil Thomas Manns. In: Peter Pütz (Hrsg.): Thomas Mann und die Tradition, Frankfurt a.M. 1971, S. 1-13; das Vorwort Parodie und Literatur zur ParodienAnthologie von Elisabeth Pables: Ad Absurdum, Wien 1965.
verteidigte, die Frühromantik im Namen einer modernen Originalitätsästhetik die parodistische Zersetzung jener klassizistischen Normen förderte. Nun geschah das Unerhörte: es war der altgewordene Klassiker Goethe, der das ästhetische Tauziehen zwischen Jenaer Romantik und Weimarer Klassik mit einem parodistischen Roman listig entschied. Hinter den Wahlverwandtschaften versinkt das Gespenst des »Alten«, des alten deutschen Reichs und dessen obsoleter Hofkultur. Angetrieben von der napoleonischen Flutwelle hatte der Dichter den Einbruch als »neue Epoche« begrüßt. 131 Ihm entgegen rollten die Konterwellen einer neuartigen, mittelalterlich-restaurativen Nachahmungsästhetik. Den mannigfaltigen Herausforderungen der Krise- und Wendezeit antwortete Goethe getarnt im metafiktionalen Medium einer Rätselparodie. Die Wahlverwandtschaften bekunden ihre Zugehörigkeit zum Zeitalter romantischer Originalitätsästhetik dadurch, daß der parodistische Roman seinen derivativen Charakter kaum zu erkennen gibt. Das fremde Wort wird nicht travestiert, es wird durch das Mittel poetischer Evokation zu einer völlig neuartigen Eigenschöpfung umgewandelt. Die Unvereinbarkeit des äußerst subtilen Verwandlungskunststücks des Autors mit dem aus dem 18. Jahrhundert tradierten Gattungsbegriff der Parodie-Travestie als oft plumper Herabsetzung hoher Stilnormen unter Beibehaltung der äußeren Form mögen Grund für die lange Parodie-Abstinenz der Wahlverwandtschaften-Forschung sein. Daß nicht selten von Ironie bzw. ironischen Anspielungen gesprochen wird, dort wo die Ausdrücke von Parodie bzw. parodistischer Intertextualität treffender wären, soll am Beispiel des Romanschlusses illustriert werden.
1.3. Apotheose, Zeichenhaftigkeit oder Parodie: Ottilies Tod in der Wahlverwandtschaften-Forschung Nach wie vor stellt der Schluß des Romans die größte interpretatorische Herausforderung für seine Leser und Interpreten dar. Befremdιτ ι
Vgl. Gabrielle Bersier: Der Fall der deutschen Bastille. Goethe und die Epochenschwelle von 1806. In: Recherches germaniques 20 (1990), S. 72. 45
licher denn je wirkt die legendäre Übertünchung von Tod und Aufbahrung Ottilies, der abrupte salto mortale in eine christliche Allegorie spätromantisch->nazarenischer< Prägung. Zur Debatte steht nicht nur die Bewertung der zahlreichen katholisierenden Motive, die in der Kanonisierung der Hauptfigur ihren Gipfel erreichen. Das ganze Verhältnis Goethes zur Romantik nach Schillers Tod wird mit in die Waagschale geworfen. Im Anschluß an Abekens interpretatio authentica haben sich Generationen von Germanisten über die Inkongruenz jenes Umschlags des Gesellschaftsromans in die Legende und über die Unverträglichkeit des >nazarenischen< Schlusses mit den wohlbekannten spöttischen Äußerungen des Autors über eben solche Tendenzen hinweggesetzt, um Ottilies Märtyrertum und Todesverklärung zum gehaltvollsten Symbol des Werkes zu erheben. In diesem großen Jubelchor lassen sich je nach Akzentuierung dieser oder jener Aspekte mehrere Stimmlagen vernehmen. Diejenigen, denen es in erster Linie darum ging, die Kontinuität der klassischen Weimarer Ethik zu unterstreichen, stützten sich auf die von Riemer überlieferte Bemerkung des Autors, daß »das Sinnliche« durch das Schicksal »bestraft« werde, »d. h. durch die sittliche Natur, die sich durch den Tod ihre Freiheit salvirt«,132 um die Sittlichkeit von Ottilies Entsagungstod als radikale Verschärfung des kategorischen Imperativs und tragische Aussöhnung des Romans zu betonen. 133 Die Sittlichkeitsthese wurde bereits in den zwanziger Jahren von Walter Benjamin in Frage gestellt, nämlich mit dem Hinweis auf die Abwe-
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" Friedrich Wilhelm Riemer: Mittheilungen über Goethe. In: Heinz Härtl (Hrsg.): Die Wahlverwandtschaften. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808-1832, Weinheim 1983, Nr. 428. S. 211. Briefe und Gesprächsauszüge über den Roman sind nach Härtls Dokumentensammlung zitiert. 133 Ausführlicher dazu Oskar Walzel: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Goethe-Jahrbuch 27 (1906), S. 181-206, wiederabgedruckt in: Ewald Rösch (Hrsg.): Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, Darmstadt 1975, S. 36-64; Andre Frangois-Poncet: Les Affinites electives de Goethe, Paris 1910, Kap. 6, S. 237-263; dt. Fas. in: Rösch: S. 65-89; Theodor Lockemann: Der Tod in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Jb. der Goethegesellschaft 19 (1933), S. 48-61 (Rösch, S. 162-173); Hankamer: Spiel der Mächte, S. 288; Friedrich Nemec: Die Ökonomie der Wahlverwandtschaften, München 1973, S. 310. 46
senheit eines sprachlich mitgeteilten sittlichen Entschlusses von Seiten der verschlossenen Ottilie, der das kantianisch-schillersche Deutungsschema beglaubigt hätte. Für diejenigen, welche die Romanheldin aus dem engeren Blickfeld des pantheistischen Naturbildes des Dichters betrachten, versinnbildlicht ihre Schlußapotheose die Verwirklichung der Goetheschen Idee der Steigerung und Selbsttranszendierung der Natur, wie sie im schönen Nachtigall-Aphorismus aus Ottilies Tagebuch vorweggenommen wird. 134 Was die Stichhaltigkeit dieser symbolischen Deutung vermindert, ist ihre Unfähigkeit, dem Umschlag der Natursymbolik in eine christliche Allegorik im zweiten Teil Rechnung zu tragen. Andere hingegen haben Ottilies Selbstdarstellung an Charlotte als einer »geweihten Person« in den Vordergrund gerückt, »die nur dadurch ein ungeheures Übel für sich und andre vielleicht aufzuwiegen vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das, uns unsichtbar umgebend, allein gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen kann« (467-468), um ihrer Nachahmung des Heiligen als Rettung aus dem Dämonischen den Stempel einer auktorialen Botschaft aufzudrücken. 135 So betrachtet sähe es aus, als bahne sich in Goethes Wiederaufnahme der legenda aurea Sanctae Odiliae eine weltanschauliche Annäherung des Klassikers an die Tendenzen der Spätromantik an. Dadurch erhielte Goethes nachklassische Wende, ähnlich der spätromantischen Mittelalterverklärung, eine betont religiöse Färbung.
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Vgl. Grete Schaeder: »Gott und Welt«. Drei Kapitel Goethescher Weltanschauung, Hameln 1947, Kap. Die Wahlverwandtschaften, S. 276-323; Ilse Graham: Winternlärchen. Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften. In: Goethe-Jahrbuch 99 (1982), S. 59; Monika Hielscher: Natur und Freiheit in Goethes Die Wahlverwandtschaften, Bern/Frankfurt a.MVNew York 1985, S. 162-178.
115 ' Ausführlich dazu in: Hans Joachim Schrimpf: Das Weltbild des späten Goethe, Stuttgart 1956, S. 63; H. G. Barnes: Goethe's Die Wahlverwandtschaften. A literary interpretation, Oxford 1967, S. 158-160 und 206; Paul Stöcklein: Wege zum späten Goethe, Darmstadt 21970, S. 80; Nachwort von v. Wiese. In: HA, Bd. 6, S. 687-688; Esther Schelling-Schär: Die Gestalt der Ottilie. Zu Goethes Wahlverwandtschaften, Zürich 1969, S. 78 und 131.
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Dabei war die merkwürdige Atmosphäre, in der die legendären Schlußszenen schweben - Nannys autosuggestive Wunderheilung, die kultische Volksfrömmigkeit in der Kapelle, die »konzilianten Schnörkel« über die Wiederauferstehung der Liebenden - kurz die Ironie der Darstellung den meisten Interpreten nicht entgangen, nur wurde die ständige perspektivische Brechung der Erzählung erst infolge der stilanalytischen und strukturalistischen Interpretationen der letzten Jahrzehnte bewußt in den Vordergrund gerückt und in steigendem Maße mitreflektiert. Es gibt heute kaum noch eine Deutung, die nicht die Ambivalenz und Vieldeutigkeit der Schreibweise, die antinomische Spiegelstruktur des Werkes und die zahlreichen ironischen Signale zur Relativierung der Apotheose miteinbezogen hätte. 136 In dem Maße, wie sich dank eingehender Stilinterpretationen das Gespür für die ironische Perspektivierung der Kanonisierung Ottilies als Produkt der Anschauungsarten der Romanfiguren verfeinert hat und in dem Maße, wie die Skepsis vor allzu linearen symbolischen Deutungen gestiegen ist, wächst paradoxer - oder vielleicht konsequenterweise - auch das Staunen über das Rätsel des legendären Schlusses, wobei die Bewun-
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Vgl. etwa Robert T. Clark: The metamorphosis of character in Die Wahlverwandtschaften. In: Germanic Review 29 (1954), S. 250; Gerwin Marahrens: Narrator and Narrative in Goethe's Die Wahlverwandtschaften. In: ders. (Hrsg.): Essays on German Literature in Honor of G. J. Hallimore, Toronto 1968, S. 100-101; Hans Reiss: Mehrdeutigkeit in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 381; Stefan Blessin: Erzählstruktur und Leserhandlung. Zur Theorie der literarischen Kommunikation am Beispiel von Goethes Wahlverwandtschaften, Heidelberg 1974, S. 83; Ludwig W. Kahn: Erlebte Rede in Goethe's Wahlverwandtschaften. In: PLMA 89 (1974), S. 275; Werner Schwan: Goethes Wahlverwandtschaften. Das nicht erreichte Soziale, München 1983, S. 193; Jeremy Adler: »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes Wahlverwandtschaften und die Chemie seiner Zeit, München 1987, S. 216; A. G. Steer: Goethe's Elective Affinities. The Robe of Nessus, Heidelberg 1990, S. 209; Michael Niedermeier: Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, >Gartenrevolution< in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, Bern/Frankfurt a.M./New York 1992, S. 105.
derung vor Ottilies Entsagungstod mehr und mehr der Verwunderung, j a sogar Unmutsbezeugungen gewichen ist. 137 Noch lange bevor die Reflexion über die alles durchdringende Ironie des Erzählers die einspurigen symbolischen Interpretationen aufgefächert hatte, war die Sittlichkeit von Ottilies Verklärungstod durch Walter Benjamins Einsicht in ihre Scheinhaftigkeit in Zweifel gezogen worden. Das, was im »Symbolischen« zur Anschauung gebracht werden sollte, bemerkte Benjamin, nämlich »die unauflösliche und notwendige Bindung eines Wahrheitsgehaltes an einen Sachgehalt«, sei in ihrem Schweigen abwesend. 138 Ottilies Schönheit und ihr Tun bis zur »scheinhaften Versöhnung« ihres Opfertodes siedelte er im Bereich des Scheins an, in einer von »Wesenslosigkeit« bedrohten »Scheinhaftigkeit«. 139 Richtungsweisend an dieser Korrektur des herkömmlichen Ottilienbildes, die erst seit den sechziger Jahren intensiv rezipiert wurde, war nicht so sehr die psychologische Problematisierung des Charakters als vielmehr die Verschiebung vom Sinnbildgehalt auf die Bildhaftigkeit der Hauptfigur. Es ist dieser semiologische Ansatz der Deutung Benjamins, den viele poststrukturalistische Lesarten des Romans fruchtbar gemacht haben. Mit zahlreichen Nuancierungen und unterschiedlichem Glück kehren sie immer wieder das Bildhaft-Zeichenhafte an Ottilies Todesverklärung hervor. Ob nun von einer Erstarrung der Wirklichkeit zum »ästhetischen Bild«, 140 zum
137 ' Vgl. Ingeborg Drehwitz: Goethes Wahlverwandtschaften - ein emanzipatorischer Roman? In: Wilfried Barner, Martin Gregor-Dellin, Peter Härtling und Egidius Schmalriedt (Hrsg.): Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag, München 1983, S. 303; Harriet Murphy: The Rhetoric of the Spoken Word in Die Wahlverwandtschaften. Communication and personality in the novel, Bern/Frankfurt a.M./New York 1990, S. 174; dazu auch den Roman von Sigrid Damm: Ich bin nicht Ottilie, Frankfurt a.M./Leipzig 1992. 138 Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Hugo v. Hofmannstahl (Hrsg.): Neue deutsche Beiträge. Zweite Folge 1 (1924), S. 83-138 und 2 (1925), S. 134-168. Zahlreiche Neudrucke. Zit. nach: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhausen Frankfurt a.M. 1974, Bd. 1, S. 152. 139 Ebd., S. 226. 140 Norbert W. Bolz: Ästhetisches Opfer. Die Formen der Wünsche in Goethes Wahlverwandtschaften. In: ders. (Hrsg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos 49
»fleischlosen Signifikanten«, 141 zum »tableau mort«,142 zum leeren Symbol 143 oder zum Zeichen 144 die Rede ist, stets wird die Sinnentleerung ihrer Apotheose als Selbstinszenierung thematisiert. Die Reflexion über die Selbstreferentialität der Zeichensprache des Romans hat nun einige Derrida-Schüler zu wagemutigen Gedankensprüngen verlockt, wobei der von Jochen Hörisch als Zeugnis »aus der geheimen Vorgeschichte der Grammatologie« bezeichnete Roman Goethes 145 bei Waltraud Wiethölter zum sprachmetaphysischen Mustertext stilisiert wird, der deshalb eine beliebige Anzahl von Lektüren zulasse, weil er »grundsätzlich von einer Leere her spricht.«146 Auch wer sich vor dem Vakuum scheut, wird der poststrukturalistischen Dekonstruktion das Verdienst einräumen müssen, den Sinnverflachungen ein Ende gesetzt zu haben und in ihren freien, von hermeneutischer Sinnkoherenz unbekümmerten Streifzügen durch den antikchristlichen Bilderreichtum des Romans bisher ungeahnte Assoziationen aufgedeckt zu haben. Zu Recht sieht Wiethölter in der »Frage nach dem Verhältnis von Wort und Gegenstand, Zeichen und Bezeichnetem, Sprache und
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Literatur, Hildesheim 1981, S. 76; Horst Turk: Goethes Wahlverwandtschaften: »der doppelte Ehebruch durch Phantasie«. In: H. Turk und Friedrich Kittler: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a.M. 1977, S. 214 und 220; David E. Wellbery: Die Wahlverwandtschaften. In: Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Goethes Erzählwerk. Interpretationen, Stuttgart 1985, S. 306-316. Jochen Hörisch: »Die Himmelfahrt der bösen Lust« in Goethes Wahlverwandtschaften. Versuch über Ottiliens Anorexie. In: Bolz: Kritische Modelle, S. 318. Tony Tanner: Adultery in the novel. Contract and transgression, Baltimore/London 1979, S. 218. Alexander Gelley: Ottilie and Symbolic Representation in Die Wahlverwandtschaften. In: Orbis Litterarum 42 (1987), S. 258. Waltraud Wiethölter: Legenden. Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften. In: DVjs 56 (1982), S. 29. Jochen Hörisch: Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins. Marginalien zu Derridas Ontosemiologie. In: ders. (Üb. u. Hrsg.): Jacques Derrida. Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt a.M. 1979, S. 14. Wiethölter: Legenden, S. 60.
Natur« ein »fundamentales Problem« des Romans. 147 Die postmodernen Analysen haben sich mit gutem Grund auf die Hauptfigur konzentriert, da sich bei ihr die Diskrepanz von Signifikantem und Signifikat am auffälligsten zeigt. Wer nun von dieser sprachontologischen Problematik und ihren philosophischen Implikationen auf eine rhetorische und wirkungsästhetische Betrachtung der systematischen Absichtlichkeit übergeht, mit der dieses Verhältnis im ganzen Zeichensystem des Romans ständig manipuliert, verschoben und bloßgelegt wird, wird zwangsläufig auf das Phänomen der Parodie stoßen. Das, was die klassizistischen Ästhetiker »Inkongruenz«, was Friedrich Schlegel »Ironisierung« und die russischen Formalisten »Bloßlegung des Verfahrens« genannt haben, umschreibt nämlich nichts anderes als den vom Poststrukturalismus thematisierten Vorgang der Öffnung der Relation von verba und res, einer Öffnung, die sich in der Parodie dank ihrer strukturellen Mehrstimmigkeit paradigmatisch vollzieht. 148 Daß die vielen Ausführungen zum ironischen Darstellungsprinzip der Wahlverwandtschaften so erstaunlich wenig über die parodistische Schreibart des Romans zu sagen haben, geht wohl auf das Konto jener oben erwähnten Orientierung der Germanistik an der Parodie als einem Gattungsbegriff aristotelischen Ursprungs, einem niedrigkomischen Genre also, wobei die Schreibweise nicht mit Ironie in Verbindung gebracht, sondern als Spielart oder Abart der Satire abgewertet wird. Ein Beispiel für die gängige Assoziierung von parodistischer und satirischer Schreibweise finden wir bei Hans-Jürgen Geerdts, dessen Arbeit - trotz ihrer überspannten Stilisierung Ottilies hin zu einer »echten volkstümlichen Legendengestalt« - die Wahlverwandtschaften-Forschung um wertvolle Einsichten in den Romanstil bereichert hat. Als erster hat Geerdts die Präsenz der Parodie in den Wahlverwandtschaften gewittert. Allerdings wendet er wohl wegen der negativen Konnotation den Begriff lediglich auf die lächerlichkomischen Nebenfiguren Luciane und Mittler an, während ihm die in den vier Hauptcharakteren wirksame tragische Ironie über solche
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Ebd., S. 51. Ausführlicher dazu in: Rose: Parody/Meta-fiction, S. 130, 154-155, 186; Höfele: Parodie, S. 51, 62, 70, 105 und 215: »Parodie ist die Kunstform, die aus der Disparatheit von Literatur und Realität Methode und Gegenstand ableitet.« 51
spöttische Herabsetzung erhaben zu sein scheint. »Niemals werden die Hauptgestalten parodistisch-satirisch gesehen.« 149 Ironie und Parodie werden als zwei unverträgliche Schreibweisen einander gegenübergestellt, und die Parodie als Stilfigur der spöttischen Karikatur an die Peripherie des Erzählspektrums des Romans gerückt. Daß Ottilies Apotheose nicht in der Goethe eigentümlichen, sondern in der entlehnten Fremdstimme der Parodie berichtet wird, wurde erstmalig von der Seitenbühne der italienischen Germanistik aus in Erwägung gezogen. Luciano Zagaris scharfsinniger Hinweis auf »die Evidenz des >parodistischen< Tons der Schlußheiligung« ist jedoch lange ohne Nachhall geblieben, 150 da man sich damals gegen eine Einbeziehung der Hauptfigur in den ironischen Erzählzusammenhang des Romans Forschung
wehrte. H. J. Barnes, dem die
Wahlverwandtschaften-
die erste umfangreiche Untersuchung des ironischen Ro-
manstils verdankt, illustriert die übliche defensive Haltung: »in view of her final sanctity this irony dissolves«," 1 wobei der ParodieVerdacht von ihm ausdrücklich abgewiesen wird: The interpretation that she is deliberately making a dress which she will wear on Eduard's birthday as a burial shroud, since she has determined to die on her lover's anniversary, may satisfy those who hold that Die Wahlverwandtschaften is a parody of German romantic literary practice, but it raises more problems than it solves. Ohne Zweifel sind durch Zagaris Hypothese mehr Fragen als Antworten aufgeworfen worden, doch war es nicht seit eh und je das
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Hans-Jürgen Geerdts: Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften. Eine Analyse seiner künstlerischen Struktur, seiner historischen Bezogenheiten und seines Ideengehaltes, Weimar 1958, S. 96; auch in dem in Aufsatzform abgedruckten Kapitel: Eigenarten der sprachlichen Gestaltung in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Weimarer Beiträge 3 (1957), S. 504. Zum Hinweis auf »l'evidenza del tono >parodistico< della finale santificazione« vgl. Luciano Zagari: Gusto psicologico e Stile simbolico nelle Affinita elettive. In: Annali Sez. Germ. 5 (1962), S. 200. Hervorhebung von Zagari. Barnes: Goethe's Die Wahlverwandtschaften. A literary interpretation, S. 204. Ebd., S. 99.
größte Verdienst der Forschung, hinfällig gewordene Lösungen in neue, relevante Probleme umzumünzen? Die Relevanz der Parodie-Frage erweist sich schon darin, daß der als Einwand gegen die religiöse Deutung vorgebrachte Hinweis Zagaris auf die parodistische Tonlage der Heiligung parallel zu der langen, bis jetzt ununterbrochenen Linie von strukturalistischen und poststrukturalistischen Korrekturen der Heiligungsthese verlief, nur blieb der Zugang zu dieser neu eröffneten Forschungsrichtung vermutlich aus Sprachgründen eingeschränkt. So sieht es aus, als sei die Lesart des Romanschlusses als Parodie bis jetzt das Monopol der italienischen Wahlverwandtschaften-Forschung
geblieben. Dafür zeugen zwei ein-
leuchtende Hinweise von zwei italienischen Germanisten in ihren auf deutsch publizierten Forschungsbeiträgen. Vom »Spiel der Formen« und von »einer gewissen Umfunktionierung« romantischer Elemente schreibt Mauro Ponzi, um anderswo etwas spezifischer auf die »deutlich parodistische und polemische Absicht« hinzuweisen, »mit der Goethe in seinen Romanen Stilwendungen der Romantik benutzt«. 153 In Paolo Chiarinis Aufsatz wird das Parodistische der Schreibart nicht so sehr auf eine polemisch-kritische Zielsetzung des Textes bezogen als vielmehr, wie bei Zagari, auf die Erkennbarmachung einer Differenz zwischen eigener und spätromantischer Stimme von Seiten des Erzählers . Er schreibt: Andererseits projiziert er das »große Finale« mit Tod und Verklärung Ottiliens in eine >katholisierende< Nazarener-Szenerie hinein, die - nicht ohne Verdacht einer enigmatischen, dennoch bewußten Parodie - ein deutlich romantisches Zitat jener Rückkehr zum Mittelalter darstellt, auf das (wie er einmal sagte) die meisten wie ein »verlorenes Paradies« zurückblicken, in dem sich Goethe gewiß nicht wiedererkennt. 154
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Mauro Ponzi: Natur und Daimon in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Studi Germanici 59-64 (1983-1984), S. 121 und 112. Paolo Chiarini: L'acqua e l'inchiostro. In: Nuovi argomenti 4 (1982), S. 148; ders. (dt. Fas.): Das Wasser und die Tinte. Symbolische Schreibweise und romantische Allegorie in Goethes Wahlverwandtschaften. In: ders. (Hrsg.): Bausteine zu einem neuen Goethe, Frankfurt a.M. 1987, S. 114. 53
Inzwischen liegt auch von Zagari eine längere Ausarbeitung seiner Deutung des Romanschlusses als Parodie in Aufsatzform vor. 155 Mit sehr viel Feingefühl zerlegt er die Erzählmittel - von der Inkongruenz der Thematik, der akribischen Aufzählung aller legendären Topoi, bis hin zur betonten Unterstreichung der äußeren ikonographischen Atmosphäre, der »Materialität« der Legende - , wodurch sich das Finale als eine »Fälschung«, eine »im Falsett« vorgetragene, ironische Nacherzählung der von den Romantikern neubelebten mittelalterlichen Heiligenlegenden zu erkennen gebe. Seine behutsam argumentierende, an Bachtins Mehrstimmigkeitskonzept orientierte Parodiethese lautet nun folgendermaßen: Der einzig mögliche Weg erweist sich als jener einer Darstellungsweise, die man berechtigterweise >parodistisch< benennen darf (und nicht nur einfach entheiligend oder satirisch): da nun, je größer die wörtliche Übereinstimmung, desto erkenntlicher die Einsicht wird, daß sie das Ergebnis der bewußten Wahl einer bestimmten Stimmauferlegung ist, mit den damit verbundenen Verzerrungseffekten sowohl in Hinsicht auf die spontane, dem Leser vertraute Stimme des Erzählers, als auch auf die der alten liturgischen Form innewohnenden Effekte [m. Üb.]. 156 Mit dieser Diagnose endet die von Zagari vorgezeichnete Bahn zu dem »offenbaren Geheimnis« einer dem Roman eingeschriebenen Literaturparodie. Daß man sich in diesem Sinne bisher ausschließlich um die große Provokation der Kanonisierung bemüht hat, kommt nicht von ungefähr. Durch ihre mehrmalige perspektivische Brechung und ihren metafiktionalen Zuschnitt gibt sich die Legende deutlich genug als ironischer Kommentar zu der spätromantischen Heiligenmode zu erkennen. Nicht so evident erkenntlich gemacht ist die intertextuelle Bezüglichkeit vieler anderer, zwischen die Zeilen gepfropfter Zitate
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Luciano Zagari: Mirabilia Sanctae Odiliae. L'accesso >parodistico< di Goethe al mondo romantico del sacro. In: Rivista di estetica 31 (1989), S. 46-52. Die italienische Fassung lautet: »L'unica via possibile si rivela quella di una riproduzione che e legittimo chiamare >parodistica< (e non semplicemente dissacrante ο satirica): quanto maggiore e infatti la fedeltä letterale, tanto piü chiaramente risulta che essa e frutto della scelta consapevole di una determinata impostazione della voce, con i connessi effetti deformanti rispetto sia alia voce spontanea del narratore, giä familiare al lettore, sia agli effetti connaturati all'antica forma liturgica.« (Ebd., S. 48).
und Einschübsel, weshalb sich Goethes vielschichtiger Text seiner professionellen Exegeten immer mehr als ein »Palimpsest« darbietet, in dem sich verschiedene »Hände«, verschiedene »Schriftinkorporationen« überlagern,157 oder, wie Chiarini sehr richtig bemerkt hat, als eine »sozusagen mit Geheimtinte beschriebene Kladde«. 158 Wollte man
sich
auf
den
buchstäblichen
Wortlaut
jener
vielzitierten
Briefäußerung verlassen: »Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt«, 159 so hätte Goethe selbst das Augenmerk auf die hybride Machart seines Romantextes gelenkt. In den folgenden Ausführungen wird
die Parodie-These
der italienischen
Germanistik
nicht nur
bestätigt und an Hand der von Goethe parodierten Vorlagen textuell konkretisiert, sie wird auch im Hinblick auf das Vorkommen der Parodie, und deren Spielarten und Funktionen im ganzen
Werk,
angefangen vom Titel und Anfangssatz, weitergeführt und zu einer neuen Romanlesart ausgearbeitet.
157 158 159
Wiethölter: Legende, S. 36; Chiarini: Das Wasser und die Tinte, S. 110. Chiarini: ebd. Brief Goethes an Zelter, 1. Juni 1809. In: W A , Abt. IV, Bd. 20, S. 346 (Härtl, Nr. 79, S. 41).
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2. Das parodistische Versteckspiel der Namen und Buchstaben
2.1. Eduard Nirgendwo wird das ironische Wirkungsprinzip des Erzählers sichtbarer als in der Onomastik der Wahlverwandtschaften. Die Antinomie der Eigen- und Funktionsnamen liegt im Kern der Rätselsprache des Romans. Ein früher Wink des Erzählers lenkt die Aufmerksamkeit der Leser auf die Ironie der Namengebung: »Diejenigen, die auf die Namensbedeutungen abergläubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen« (255). Da Mittlers Hauptfunktion darin zu bestehen scheint, seinen versöhnlichen Namen zu diskreditieren, sieht es wahrhaftig so aus, wie Norbert Oellers im Einklang mit vielen Interpreten zugespitzt formuliert hat, »als sei er allein wegen des [ironischen] Darstellungsprinzips vorhanden«.1 Verhält es sich mit der Namengebung oder Namenlosigkeit der anderen Figuren nicht genau so? Waltet nicht dasselbe Gesetz der Paradoxie über die blindliebende Namensschwester der Patronin der Augenleidenden, Sankt Odilia aus dem Elsaß? Und wie steht es mit der ominösen Namenkonvergenz der vier Hauptfiguren - Eduard (Otto), Hauptmann (Otto), Ott-ilie, Charl-otte - im rätselhaften Palindrom »Otto«? Hier hat das Wittern einer höheren auktorialen Ironie bereits Anlaß zu überraschenden Verknüpfungen
Norbert Oellers: Warum eigentlich Eduard? Zur Namen-Wahl in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Dorothea Kuhn und Bernhard Zeller (Hrsg.): Genio huius loci. Dank an Leiva Petersen, Wien/Köln/Graz 1982, S. 217. 57
gegeben. 2 W o hat der Verfasser j e das, was die semantische Wurzel des germanischen Namens Otto ot/od verspricht: »Glanz, Besitz, Glück« verheißungsvoller vorgezaubert als in den Wahlverwandtschaften?3 W o sonst haben sich diese Verheißungen als betrügerischer erwiesen als in diesem Roman? Den Taufnamen hat der Hauptmann/Major selber abgelegt und Jugend, Spontaneität und Lebensfreude mit Karriereerfolg vertauscht. Bei der von Besitzangst dominierten Charlotte ist Glückseligkeit in Habseligkeit umgereimt worden. 4 Beide haben auch »nicht verdient, zusammen glücklich zu sein« (461). Auch daß die ewige Seligkeit die beiden verblichenen Wahlverwandten für das versäumte Lebensglück zu entlohnen vermöge, auch daran will der Erzähler nicht ganz glauben lassen. Und wie steht es mit dem einzig unverhüllten Namensträger, der wohl nur Otto getauft worden zu sein scheint, um mit seinem Dasein Unheil und Tod in die Welt einzuladen? Das vielmals verheißene und beschworene Glück glänzt im Roman durch Abwesenheit. Jedes Denotative ruft seine Gegenbedeutung hervor, jeder Satz seinen Gegensatz. An das Plus kommt man nur durch das Minus, durch antinomische Setzung heran. Nicht nur Mittler allein scheint zur Bloßstellung abergläubiger Namensdeutung vorhanden zu sein. Sämtliche Bilder und Motive, sämtliche psychologische und narrative Stränge des Romans sind derartig kunstvoll mit ironischen Querfäden verwoben, daß man den Eindruck gewinnt, die Antinomie der Zeichen, der Figuren und der Handlungsführung sei aus einem einzigen Machtspruch des Erzählers, aus dem Ironieprinzip seiner Onomastik hervorgegangen. Doch daß mit der durch Voranstellen und durch Wiederholung hervorgehobenen Benennung: »Eduard - so nennen wir einen Baron im besten Mannesalter - Eduard« (242) der Onomatologe mit ähnlicher ironischer Duplizität verfahren ist, dieser einfache Tatbestand blieb lange unbeachtet. Erst die Aufdeckung der etymologischen Identität des englischen Wahlnamens Eduard/Edward mit dem Wurzelnamen Otto hat die männliche Hauptfigur der Wahlverwandtschaften 2
3 4
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Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Jb. der Jean-Paul-Gesellschaft 7 (1972), S. 84-102; zit. nach der erw. Fas. in: Bolz: Kritische Modelle, S. 212. Vgl. Oellers: Warum eigentlich Eduard, S. 220 und 223. Dazu Schlaffer: Namen und Buchstaben, S. 213.
als Musterbeispiel der onomastischen Zauberkunst des Erzählers ins Rampenlicht zurückgeholt. 5 Angesichts Eduards verheißungsvoller etymologischer Ableitung aus der gemeinsamen germanischen Stammsilbe ot- (Eduard ist die angelsächsische Form des älteren germanischen Namens Odward) könnte es sich lohnen, der Fragestellung »Warum eigentlich Eduard?« Norbert Oellers noch einmal nachzugehen. Eduards literarische Vorfahren im empfindsamen und romantischen Roman sind Legion. Es lohnt sich daher, seine genealogische Ahnentafel kurz zu sichten. Ihr Stammbaumvater ist der englische Tugendprediger in Rousseaus Neuer Heloise, Milord Edouard Bomston, auch Titelheld des romantischen Romananhangs Les Amours de Milord Edouard Bomston.6 Als dessen burleske Karikatur in den Wahlverwandtschaften fungiert freilich nicht Goethes Eduard, sondern der flaue, mit seinen erbaulichen Reden stets danebenhauende Apostel der Ehemoral Mittler. Als weitere literarische Namensträger sind auch der Titelheld von Jacobis Wertheriade Eduard Alwills Papiere und der Vatermörder in der von Herder übersetzten schottischen EdwardBallade erwähnt worden, die im Erscheinungsjahr der Wahlverwandtschaften von Zacharias Werner in seinem Vierundzwanzigsten 7 Februar neugestaltet wurde. Nun stellt sich heraus, daß die Eduardfiguren noch häufiger im literarischen Umkreis der Jenaer Romantik vertreten sind. Der moralische Gegenspieler des skrupellosen Lovells in Ludwig Tiecks Geschichte des Herrn William Lovells heißt Eduard; Eduard heißt auch der Titelheld von Sophie Mereaus Briefroman Amanda und Eduard; so auch Julius' heroischer Freund in Friedrich Schlegels Lucinde\ ferner der sittliche Empfänger der Vertrauten
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Vgl. dazu Nemec: Die Ökonomie, S. 56; Joachim Müller: Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften. Ehekonflikt und Liebestragik - Naturgesetz und Gesellschaftsmoral. In: Jb. d. Wiener Goethe-Vereins 80 (1976), S. 25; eine detaillierte etymologische Darlegung bietet Oellers' Aufsatz, S. 223. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Julie, ou La Nouvelle Heloise. In: ders.: Oeuvres Completes, Paris 1964, Bd. 2, S. 1-745; Les Amours de Milord Edouard Bomston. In: Ebd., Appendix I, S. 749-760. Vgl. Zacharias Werner: Der vierundzwanzigste Februar. Eine Tragödie in einem Akt. Hrsg. v. Johannes Krogoll, Stuttgart 1967, S. 56-58; ausführlicher dazu in: Oellers: Warum eigentlich Eduard?, S. 230-231. 59
Briefe über die Lucinde von Schleiermacher und schließlich auch noch der »edle« Freund des romantischen Titelhelden von Dorothea Schlegels Florentin. Es fällt auf, daß sich in dieser frühromantischen Umwelt ein Bündel von semantischen Assoziationen um den Eigennamen Eduard kristallisiert hatte, so daß bei Tieck und Schleiermacher, Dorothea und Friedrich Schlegel die Namenbezeichnung zum denotativen Zeichen, ja zur stereotypischen Kennzeichnung lebensfremder und veralteter Moralanschauungen erstarrt war. Ferner fällt auf, daß in diesem literarischen Kontext sämtliche Eduards als Freunde, Gesprächspartner, polare Gegenspieler, oder Briefadressaten eines romantischen Helden fungieren, die stets Wortführer sind. In romantischer Umgebung ist der Namensträger rousseauistischer Tugendlehre von der Sprecherrolle in die Nebenrolle eines Hörers und Empfängers romantischer Gegenmeinungen gerückt. Am offensichtlichsten ist die Klischeehaftigkeit des denotativen Namens in Schleiermachers Verteidigungsbriefen über die Lucinde, deren einziger männlicher Adressat Eduard kraft seines Namens eine ganze »Denkart«, die des »sittlichen« und »wohlmeinenden Moderantismus« evoziert. 8 Es sieht wahrhaftig so aus, als sei im frühromantischen Sprachgebrauch der rousseauistische Name quasi zu einer metasprachlichen Formel erstarrt, womit die Frühromantik gegen die Moralphilosophie der Aufklärung zu Felde zog, an Hand derer die rousseauistisch-kartesisch-rationalistische Selbstüberwindungslehre im Namen der Rechte der Subjektivität, der Neigungsliebe, des Körpers, zur Obsoletheit verurteilt wurde. Warum mußte nun der Libertin des Romans, über dessen Repräsentativität als »Lebensdilettant aus der Welt romantischer Romane und romantischer Zirkel«, 9 und Idealtyp des romantischen Helden 10 in der
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Schleiermacher: Vertraute Briefe über die Lucinde (1800). Hrsg. v. Karl Gutzkow, Hamburg 1835, S. 90. Vgl. Schaeder: Gott und Welt, S. 204; Geerdts: Goethes Roman, S. 41; Emil Staiger: Goethe 1786-1814, Zürich 1956, S. 513-514; Gert Oeding: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1815. Bd. 4 in Rolf Grimminger (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1987, S. 510. Walzel: Goethes Wahlverwandtschaften, S. 60.
Wahlverwandtschaften-Forschung seit jeher Einstimmigkeit geherrscht hat, mit dem Gewand des Tugendbolds ausstaffiert werden? Warum wird das Appellativ des Verstandesmenschen vom Gefühlsmenschen des Romans zur Schau getragen? Sein dissonanter Name mußte den für antirousseauistische Polemik geschärften Ohren der Frühromantiker auf Anhieb suspekt sein. Deutete die Namenparadoxie nicht von vorne herein auf eine hintergründige Erzählerabsicht hin? War hier nicht Verstellung am Werke? Der Täuschungsverdacht verdichtet sich, wenn nach Ankunft des Hauptmanns am gemeinsamen Namenstag offengelegt wird, daß Eduard kein Geburtsname, sondern ein Wahlname sei, und wenn Eduards Behauptung, er habe seinen »hübschen, lakonischen« Geburtsnamen Otto aus Großmut seinem gleichnamigen Freund gegenüber aufgegeben, von der Bemerkung des Hauptmanns korrigiert wird, ihm habe der Name Eduard deshalb besser gefallen, weil er »von angenehmen Lippen ausgesprochen einen besonders guten Klang« habe (259). Das, was den »guten Klang« des Namens bewirken soll, dürfte seinen Ursprung eher in seinem semantischen Anklang als in seinem akustischen Klang haben. Eduard hat sich einen Namen zugelegt, der den Anschein moralischer Zuverlässigkeit erwecken soll. Der Namenwechsel, die Tarnung seines selbstsüchtigen Seins mit dem Schein selbstloser Tugend, wurde, laut Hauptmann, im Hinblick auf die Wirkung beim weiblichen Geschlecht vorgenommen. Der Namenwechsel erinnert an einen ähnlichen Identitätswechsel, an ein sensationelles Ereignis aus der Zeitgeschichte, das Gegenstand vielseitiger Pressemeldungen und allgemeinen Aufsehens gewesen war: die katholische Konversion des führenden Kopfes der Jenaer Frühromantik Friedrich Schlegel. Wäre es möglich - das darf hier zunächst als Vermutung geäußert werden - , daß der Erzähler mit der auffälligen Inkongruenz seiner Benennung auf den neugeborenen romantischen Moralisten Friedrich Schlegel anspielen wollte, dessen Bekehrung zum Katholizismus am 16. April 1808 am Mutter-Gottes-Altar im Kölner Dom verbreitetes Erstaunen und Befremdung hervorgerufen hatte? Zum öffentlichen Aufsehen hatte auch der viel publizierte Umstand beigetragen, daß die katholische Neugeburt des romantischen Freidenkers und die katholische Einweihung seiner Eheschließung mit 61
Dorothea Veit-Schlegel kurz vor ihrer Abreise nach Wien stattgefunden hatten, wo Friedrich Schlegel nach vielen Jahren beruflichfinanzieller Not eine Anstellung als Sekretär bei der Wiener Hof- und Staatskanzlei antreten sollte." Sollte diese Mutmaßung begründet sein, dann würde sich die einspurige Rückverbindung zwischen dem Goetheschen Roman und der ästhetisch-ethischen Botschaft der Frühromantik auch in die andere Richtung eröffnen. Der entschiedenste Verfechter der modern-romantischen Liebes- und Eheauffassung der Wahlverwandtschaften12 und geistiger Urheber ihrer ironischreflexiven Schreibart Friedrich Schlegel 13 würde gleichzeitig als geheimer Zieladressat des Romans hervortreten. Nicht nur die zeitliche Koinzidenz der Konversion mit dem Diktat der ersten Wahlverwandtschaften-Kapitel lenkt den Verdacht in Schlegels Richtung. Zum privatbiographischen Ereignis gesellt sich im selben Frühjahr die Veröffentlichung einer Reihe von programmatischen Bekenntnisschriften aus Friedrich Schlegels Kölner Jahren beim romantischen Heidelberger Verlagshaus Mohr und Zimmer, womit die Bekehrung des romantischen Literaturkritikers zum Katholizismus zum weltanschaulich-literarischen Wendesignal potenziert worden war. Ihr Kernstück bildete die Abhandlung Über die Sprache und Weisheit der Indier: Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde, worin der geniale romantische Philologe als einer der ersten die Familienverwandtschaft der indoeuropäischen Sprachen an Hand einer Untersuchung der Wurzelähnlichkeit des Sanskrits mit dem Lateinischen, Griechischen, Germanischen und Persischen nachweisen
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Zur Konversion Friedrich Schlegels vgl. die Einleitung von Ernst Behler in: KA, Bd. 8, S. CXVü-CXXX; dazu auch das Nachwort von Wolfdietrich Rasch. In: ders. (Hrsg.): Friedrich Schlegel: Dichtungen und Aufsätze, München 1984, S. 757-775 (zit: DA). Zur thematischen Affinität von Goethes Lucinde vgl. Eberhard Lämmert: Die Chemie der Wahlverwandtschaften. In: Leviathan 14 (1986), S. 3 0 31; Gert Ueding: Klassik und Romantik, S. 508-510. Zum Verhältnis der selbstreflexiv-ironischen Schreibweise des Romans zur Dichtungstheorie F. Schlegels vgl. Beda Allemann: Goethes Wahlverwandtschaften als Transzendentalroman. In: Hans-Joachim Mahl und Eberhard Mannack (Hrsg.): Studien zur Goethezeit. Erich Trunz zum 75. Geburtstag, Heidelberg 1981, S. 9-32.
konnte. Seine Pionierleistung auf dem Gebiet der historischen und vergleichenden Sprachwissenschaft stellte Schlegel in den Dienst einer Sprachphilosophie, deren spiritualistische Stoßrichtung sowohl gegen die empfindsam-aufklärerische Sprachlehre als auch gegen die musikalische Sprachtheorie der Frühromantik gerichtet war. 14 Mit der Verwandtschaft der »organischen« Sprachfamilie erbrachte er neuen Beweis für einen metaphysischen Ursprung der Sprache, während er die indische Seelenwanderung- und Emanationslehre als Präfiguration der christlichen Offenbarung kündete. Seine Eigentlichkeitslehre aus dem »Lande der Urwelt« bot er dem zeitgenössischen Publikum als Neubegründung der Altertumskunde und als Alternative zum humanistischen Bildungsideal der klassisch-frühromantischen Epoche an. 15 Mit seinen fünf Rezensionen für die Heidelbergischen Jahrbücher, die angesehenste kritische Zeitschrift der Romantik, legte Schlegel militante Bekenntnisse seiner neukatholisch-nationalpatriotischen Gesinnung ab. Die von Oskar Walzel wiederentdeckte Schriftenreihe besteht aus drei literaturkritischen Besprechungen - Sammlung
deutscher
Volkslieder von Büsching und von der Hagen, Goethes Werken und Adam Müllers Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur16 - , einer philosophischen Auseinandersetzung mit Fichtes spä-
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Vgl. Heinrich Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962, S. 50-67. F. Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde. Nebst metrischen Übersetzungen indischer Gedichte. Heidelberg, bei Mohr und Zimmer. 1808. In: KA, Bd. 8, S. 105-439; zur Themenstellung und Rezeption des Werkes vgl. auch Ursula Struc-Oppenbergs Werkeinleitung. In: Ebd., S. CLXXXVÜCCXXVIII. F. Schlegel: Rezension von Büsching und von der Hagen (Hrsg.): Sammlung deutscher Volkslieder mit einem Anhange flamländischer und französischer, nebst Melodien. Berlin, bei Friedrich Braunes. 1807. In: Heidelbergische Jahrbücher, 1. Jg., 1. Heft (1808), S. 134-142 (KA, Bd. 3, Anm. 62, S. 103-108); ders.: Rezension von Goethes Werken, vgl. 1.1. Anm. 62 (KSF, Bd. 3, S. 126-147); ders.: Rezension von Adam H. Müller: Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Dresden 1807 in der Arnoldischen Buchhandlung. In: Heidelbergische Jahrbücher, 1. Jg., 2. Heft, S. 226-244 (KA, Bd. 3, S. 145-158; zit. nach: KSF, Bd. 3, S. 148-157).
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ten Werken und schließlich aus einer konfessionellen Würdigung von Stolbergs Geschichte der Religion Jesu Christi.17 Diese scheinbar heterogenen Großfragmente, die fünf Rezensionen und die Sanskritstudie, verband die schrittweise enthüllte Absicht des Konvertiten, Ästhetik und Philosophie in die Obhut der Theologie zurückzuführen. Hiermit gab Friedrich Schlegel nicht nur seine Kehrtwendung gegen die eigene Vergangenheit kund, sondern er machte auch auf getarnte Art und Weise Front gegen den führenden noch lebendigen Weimarer Vertreter der klassisch-frühromantischen Schule. Den Federkrieg gegen Goethe hatte Schlegel schon im Bereich der Kunstkritik in den Gemäldebeschreibungen seiner Zeitschrift Europa während der Pariser Jahre eröffnet, wo er sich als Wortführer einer Erneuerung der christlichen Malerei gegen den Neoklassizismus von Goethes und Heinrich Meyers Propyläen gewandt hatte. 18 Schlegel 17
F. Schlegel: Rezension von J. G. Fichte: Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit. In öffentlichen Vorlesungen, gehalten zu Erlangen im Sommer-Halbjahre 1805. Berlin 1806, in der Himburgschen Buchhandlung; Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Dargestellt von J. G. Fichte in Vorlesungen, gehalten zu Berlin im Jahre 1804-5. Berlin 1806, im Verlage der Realschulbuchhandlung; Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre. Durch J. G. Fichte, in Vorlesungen gehalten zu Berlin, im Jahre 1896. In: Heidelbergische Jahrbücher, 1. Jg. 1. Abt. Theologie, Philosophie und Pädagogik (1808), S. 129-159 (KA, Bd. 8, S. 63-85; KSF, Bd. 3, S. 109-125); ders.: Rezension von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Geschichte der Religion Jesu Christi. Erster Teil. Hamburg bei Perthes. 1806. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, 1. Jg., 1. Abt. Theologie, Philosophie und Pädagogik (1808), S. 266-290 (KA, Bd. 8, S. 86-104).
18
F. Schlegel: Nachricht von den Gemälden in Paris. In: ders. (Hrsg.): Europa. Eine Zeitschrift. Bd. 1.1. St., Frankfurt a. M., bei Friedrich Wilmans, 1803. Nr. VI, S. 108-157; Vom Raffael. In: Europa, Bd. 1., 2. St. (1803), Nr. I, S. 3-19; Nachtrag italiänischer Gemälde. In: Europa, Bd. 2, 1. St. (1803), Nr. Π, S. 96-116; Zweiter Nachtrag alter Gemälde. In: Europa, Bd. 2, 2. St. (1805), Nr. I, S. 1-41; Dritter Nachtrag alter Gemälde. In: Europa, Bd. 2, 2. St. (1805), Nr. VI, S. 190-245. (Abgedruckt unter dem Titel: Gemäldebeschreibungen aus Paris und den Niederlanden in den Jahren 1802-1804, KA, Bd. 4, S. 5-152). Zur Frontstellung der Europa-Aufsätze gegen die Propyläen vgl. die Einleitung v. Hans Eichner, S. XXVI-XXX. Die begleitenden »Grundzüge der gotischen Baukunst« in F. Schlegels Briefen auf einer Reise durch die Nieder64
war nicht der erste, der sich als Vertreter der neuen romantischen Kunstrichtung profilierte. Die Rückwendung weg von der Antike zur christlichen Kunst des Mittelalters war von Wackenroder und Tieck vorbereitet worden. Obwohl die neue religiöse Richtung schon stark auf die j u n g e Malergeneration einwirkte, als die Zeitschrift Europa erschien, gab Schlegel als erster der romantischen Kunst eine Theoriegrundlage, die er gezielt und öffentlich den Prinzipien der
Propyläen
entgegenstellte. Schlegels antiklassizistischer Offensive war Goethe in seinem Winckelmann-Essay
mit dem Mittel der Historisierung
begegnet. 1 9 Wann und wie Goethe zu dem geistreichen Einfall kam, seinen romantischen Helden mit dem rousseauistischen Tarnnamen
Eduard
auszustaffieren, läßt sich angesichts seiner sorgfältigen Beseitigung aller Vorarbeiten zum Roman nicht mit Sicherheit rekonstruieren. Sehr undeutliche Spuren finden sich in den Tagebucheintragungen vom 8. November 1808: »Abends d'Alton und Hofrath Meyer. Alte Jenaische Geschichten, besonders Charakteristik von Friedrich Schlegel« und vom 9. November: »Mittags allein. Über d'Alton und seine Spezialkenntnis von Friedrich Schlegel«. 2 0 Die zwei Indizien belegen auf eindrucksvolle Weise Goethes Wißbegier für alles, was sich auf die Person Friedrich Schlegels bezog. Daß Goethes Interesse an d ' A l t o n vom Herbst 1808 bis zum Sommer 1809 anhielt (während der Schaffenszeit des Wahlverwandtschaften-Manuskripts
sind mehrere
Einladungen und Begegnungen aufgezeichnet), u m nach Abschluß des R o m a n s plötzlich und f ü r lange Zeit völlig auszubleiben, ist schon
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lande, Rheingegenden, die Schweiz, und einen Teil von Frankreich wurden in: ders. (Hrsg.): Poetisches Taschenbuch für das Jahr 1806, Berlin, bei Friedrich Unger. 1806, S. 257-390 veröffentlicht (KA, Bd. 4, S. 153-204; zit. nach: KSF, Bd. 3, S. 82-108). Goethe: Winckelmann. In: ders. (Hrsg.): Winckelmann und sein Jahrhundert. Tübingen 1805. In: HA, Bd. 12, S. 96-129; zu Goethes antiromantischen Bekenntnissen in seinem Winckelmann-Essay, vgl. AnnTheres Faets: »Überall nur Eine Natur«? Studien über Natur und Kunst in Goethes Wahlverwandtschaften, Bern/Frankfurt a.M./New York 1993, S. 101-123. Goethe: Tagebuch, WA, Abt. III, Bd. 3, S. 397-398. 65
merkwürdig genug. 21 Damit ist noch nichts über den Informationswert dieser Eintragungen gesagt. Die »Spezialkenntnis«, die der Kupferstecher, Naturwissenschaftler und seit 1808 für Herzog Karl August Pferdezucht betreibende Pferdekenner d'Alton von Friedrich Schlegel besaß, rührte aus der Berliner Zeit her, als beide jungen Männer im literarischen Salon von Henriette Herz Verehrer Dorothea Veits gewesen waren. 22 Eduard hieß ihr erster Geliebter, Eduard Joseph d'Alton und er verhielt sich auch seinem rousseauistischen Namen entsprechend zurückhaltend. Während Dorotheas Verhältnis zu Eduard d'Alton platonisch blieb - sie war damals Mitglied des empfindsamen »Tugendbunds« ihrer Freundin Henriette Herz - ließ sie sich kurz danach für Friedrich Schlegel von ihrem Ehemann Simon Veit scheiden. 23 Friedrichs und Dorotheas Leidenschaft, ihre Ehescheidung und die gemeinsame Übersiedlung 1799 nach Jena markieren biographisch den Bruch der Frühromantik mit den empfindsam-moralischen Idealen der Aufklärungszeit und ihrer ständischen Eheauffassung, einen Bruch, den Schlegel bereits 1796 mit seiner scharfen Kritik der doppelten Moral von Jacobis Woldemar-Roman eingeleitet hatte und den er mit seinem freimütigen Liebesroman Lucinde 1799 literarisch vollzog. 24 Nun könnte die Begegnung Goethes mit d'Alton diese geselligliterarische Vergangenheit wieder wachgerufen haben. D'Altons Vorname, die Analogie seiner Seelenverwandtschaft zu Rousseaus Romanwelt, der Kontrast zu Friedrich Schlegel, die Ironie des Wandels des Apostels ganzheitlicher Leidenschaftsliebe zum Proselyten der »Seelenliebe«, es wäre gut möglich, daß sich all diese paradoxen Vorgänge in dem humoristischen Einfall kristallisierten, den Namen des rousseauistischen Tugendhelden auf die romantische Hauptfigur der Wahlverwandtschaften zu übertragen. Ob nun bei Rückbesinnung auf Rousseaus Neue Heloise im Wahlverwandtschaften-Erzähler gleichzeitig die Idee einer Umarbeitung seiner Novelle zu einem Familien-
21
Vgl. etwa unter 24. Feb., 15. Juli, 12. und 22. Aug., 6. Sept. 1809. In: WA, Abt. III, Bd. 4, S. 12,43,52,55 und 59.
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Vgl. das Nachwort v. Liliane Weissberg in: Dorothea Schlegel: Florentin, Berlin 1987, S. 213; vgl. auch Carola Stern: »Ich möchte mir Flügel wünschen.« Das Leben der Dorothea Schlegel, Hamburg 1990, S. 75-77. Weissberg: Nachwort, S. 213-214 F. Schlegel: Rezension von Jacobis Woldemar, KSF, Bd. 1, S. 177-191.
und Gesellschaftsroman gereift sei, ob er auch eine derartige Ausbreitung der Erzählung als Mittel erwog, durch die rousseauistische Beschriftung des Palimpsestes seine versteckte Mitteilung noch dichter zu verschlüsseln, darüber können lediglich Spekulationen angestellt werden. Fest steht nur, daß Goethe im zeitlichen Umkreis seiner Bekanntschaft mit d'Alton sein fertiges Novellenmanuskript einer gründlichen Überarbeitung auf einen Roman hin unterzog. Das onomastische Labyrinth verbirgt noch eine weitere Spur, die vom Rätselnamen Eduard zu demselben Geheimadressaten der Wahlverwandtschaften, Friedrich Schlegel, führt. Noch aufschlußreicher als die kurvenreichen Pfade der Gattungsgeschichte und Biographie zeigt sich diese dritte Spur, insofern als sie auch die poetologische Rätselspielstruktur des Romans berührt. 25 In seiner 1806 erschienenen Würdigung von Des Knaben Wunderhorn26 hatte Goethe im »dunklen und trüben Element« der archaischen Poesie, das »oft herrlicher [wirkt], als es später im klaren vermag«, eine Ursache für ihren »unglaublichen Reiz« identifiziert. 27 Demnach zollte er den enigmatischsten und schauerlichsten naturmagischen Balladen der Sammlung Arnims und Brentanos wie Großmutter Schlangenköchin, Die schwarzbraune Hexe oder Herr Olof sein wärmstes Lob, während naiv-blumenhafte Lieder wie Frühlingsblumen oder ein christlichallegorisches Schäfergedicht wie Der Herr am Ölberg und der Himmelsschäfer schroff abgewiesen wurden: »Diesem Gedicht geschieht unrecht, daß es hier steht«, so sein Kommentar zum GethsemaneGedicht. »In dieser meist natürlichen Gesellschaft wird einem die Allegorie der Anlage, so wie das poetisch Blumenhafte der Ausführung unbillig zuwider.« 28 Ob Goethe zur Zeit der Niederschrift der
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Zu den Rätselmotiven und Rätselstrukturen von Goethes Texten vgl. Jochen Hörisch: »Das Leben war ihnen ein Rätsel.« Das Rätselmotiv in Goethes Romanen. In: Euphorion 78 (1984), S. 111-126; vgl. auch Mathilde Hain: Rätsel, Stuttgart 1966. Vgl. Goethe: Rezension von Achim von Arnim und Clemens Brentano Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. In: Jenaische Allge-
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meine Literaturzeitung, Nr. 18-19, 21.-22. Januar 1806, S. 137-148 (HA, Bd. 12, S. 270-284). Ebd., S. 282. Ebd., S. 278; zu dem Hirtengedicht Der Herr am Oelberg und der Him-
melschäfer vgl. Arnim/Brentano [Bear.]: Des Knaben Wunderhorn: alte 67
Wunderhorn-Rezension schon wußte, daß Friedrich Schlegel ein anderes Passionsgedicht desselben Barockverfassers Friedrich Spee in seinem Poetischen Taschenbuch für das Jahr 1806 unter dem Titel Christus im Garten als »Volkslied« vorgelegt hatte, kann nicht er mittelt werden. 29 Es ist möglich, daß er erst nach der Lektüre der Konversionsschriften Schlegels dessen Bearbeitung der Trutznachtigall von Spee zur Kenntnis genommen hat. Wie dem auch sei: vom Spee-Herausgeber Friedrich Schlegel konnte Goethes Angriff auf den Herrn am Ölberg in der Wunderhorn-Rezension nicht übersehen werden. In dem Fazit derselben Wunderhorn-Rezension als dem wirkungsvollsten Beispiel für die Macht des Numinos-Geheimnisvollen verweist Goethe auf die in Thomas Percys Reliques of ancient English poetry wiedererschlossene und in Deutschland durch Herders Übertragung verbreitete schottische Edward-Ballade. Er schrieb: Wir können jedoch unsere Vorliebe für diejenigen [Lieder] nicht bergen, wo lyrische, dramatische und epische Behandlung dergestalt ineinander geflochten ist, daß sich erst ein Rätsel aufbaut und sodann mehr oder weniger und wenn man will epigrammatisch auflöst. Das bekannte »Dein Schwert, wie ist's vom Blut so rot, Eduard, Eduard!« ist besonders im 30 Originale das Höchste, was wir in dieser Art kennen." Die Edward-Ballade, die sich als Urform der Familientragödie jahrzehntelang in Deutschland großer Beliebtheit erfreute, ist schon als mögliche Quelle für Goethes Namengebung identifiziert worden. Der vollständige Text lautet: Edward Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot? Edward, Edward! Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot, Und gehst so traurig her? - O! Ο ich hab geschlagen meinen Geier tot, Mutter, Mutter! Ο ich hab geschlagen meinen Geier tot, Und keinen hab ich wie er - O!
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Dein's Geiers Blut ist nicht so rot. Edward. Edward! Dein's Geiers Blut ist nicht so rot, Mein Sohn, bekenn mir frei - O! Ο ich hab geschlagen mein Rotroß tot, Mutter, Mutter! Ο ich hab geschlagen mein Rotroß tot, Und keinen hab ich wie er - O!
deutsche Lieder. Hrsg. v. Heinz Rölleke, Stuttgart 1979, Bd. 1, S. 258-263.
Vgl. F. Schlegel (Hrsg.): Trutznachtigall. Eine Auswahl geistlicher Volkslieder nach Friedrich Spee und einigen andern. In: ders.: Poetiin sches Taschenbuch für das Jahr 1806, KA, Bd. 5, S. 447-448. Goethe: Des Knaben-Wunderhorn-Rezension, HA, Bd. 12, S. 282-283. 68
Dein Roß war alt und hast's nicht not, Edward, Edward! Dein Roß war alt und hast's nicht not, Dich drückt ein ander Schmerz - O! Ο ich hab geschlagen meinen Vater tot, Mutter, Mutter! Ο ich hab geschlagen meinen Vater tot, Und weh, weh ist mein Herz - 0 ! Und was für Buße willt du nun tun? Edward, Edward! Und was für Buße willt du nun tun? Mein Sohn, bekenn mir mehr - O! Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn, Mutter, Mutter! Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn, Will gehn fern übers Meer - O! Und was soll werden dein Hof und Hall? Edward, Edward! Und was soll werden dein Hof und Hall? So herrlich sonst und schön - O! Ich laß es stehn, bis es sink und fall, Mutter, Mutter! Ich laß es stehn, bis es sink und fall, Mag nie es wiedersehn - O!
Und was soll werden dein Weib und Kind? Edward, Edward! Und was soll werden dein Weib und Kind, Wann du gehst über Meer? - O! Dein's Geiers Blut ist nicht so rot, Edward, Edward! Die Welt ist groß, laß sie betteln drin, Mutter, Mutter! Die Welt ist groß, laß sie betteln drin, Ich seh sie nimmermehr - O! Und was willt du lassen deiner Mutter teu'r? Edward, Edward! Und was willt du lassen deiner Mutter teu'r? Mein Sohn, das sage mir - O! Fluch will ich Euch lassen und höllisch Feu'r, Mutter, Mutter! Fluch will ich Euch lassen und höllisch Feu'r Denn Ihr, Ihr rietet's mir! - O! 31
Norbert Oellers weist darauf hin, daß die Ballade, vielleicht auf Anregung Goethes, in das parallel zu den Wahlverwandtschaften standene Schicksalsdrama von Zacharias Werner Der
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vierundzwan-
zigste Februar eingearbeitet wurde. 32 Solch ein Bezug zum Vatermörder des schottischen Volksliedes würde den auf die Doppelbenennung im Kehrreim der Ballade anspielenden Eingangssatz des Romans im nachhinein zum Anklageruf verwandeln. Als orakelhafte Täternennung liefe laut Oellers der Doppelanruf darauf aus, die tragische Schicksalhaftigkeit des Geschehens zu präfigurieren. Sehr einleuchtend ist Oellers Hinweis auf die Strophenstruktur der Ballade, w o neben dem Anruf »Edward, Edward!« die Interjektion »O!« optisch und akustisch hervortritt. Deren Nachbildung in den Buchstaben auf Eduards Glas ließe sie, bemerkt Oellers, »als eine Art Warnung, vielleicht gar als Menetekel im Hinblick auf das Unausweichliche erscheinen«. 33
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Zit. nach: Karl Otto Conrady (Hrsg.): Das große Gedichtbuch, Königstein/Ts. 1978, S. 231. Vgl. Oellers: Warum eigentlich Eduard?, S. 231. Ebd., Anm. 64, S. 232. 69
Anregend ist der Bezug nicht nur im Hinblick auf die klagende Funktion der verdoppelten Benennung, sondern auch auf die das Zeichensystem des Romans infiltrierende verrätselnd-parodistische Schreibweise des Erzählers. Noch auffälliger wird die intertextuelle Bezugnahme, wenn man auf die in der Wunderhorn-Rezension gerühmte schottische Originalfassung der Ballade zurückgeht, wo die Namenverdoppelung nicht nur im Kehrreim, sondern bereits im Titel Edward, Edward auftritt. 34 Das raffinierte onomastische Verfahren der Romanouvertüre »Eduard - so nennen wir einen Baron im besten Mannesalter - Eduard [...]« ist ein doppelt parodistisches, das zwei konträre literarische Evokationsbereiche - wie in zwei polaren Teilen eines Rätsels - gegeneinander ausspielt. Die erste rousseauistische Benennung erweckt den Eindruck moralischer Zuverläßigkeit, den die den Schall der Ballade nachahmende Wiederholung nach dem Einschub wieder aufhebt und mit der Erinnerung an den schottischen Vatermörder vertreibt. Denotative Bedeutung und schallakustischer Sinn des Namens Eduard stehen sich antinomisch gegenüber. Wie der Hinweis des Hauptmanns auf den »besonders guten Klang« des Namens andeutet, schwingt im metasprachlichen Medium der Namenparodie ein Kommentar über die sprachtheoretischen Prämissen der Opposition zwischen bezeichnender und lautakustischer Namengebung mit. In dieser Gegenüberstellung wird etwas Grundlegendes und Epochales angerührt, nämlich der in Schlegels Sprachphilosophie wiederbelebte Konflikt zwischen metaphysischem und tierisch-menschlichem Ursprung der Sprache. 35 Der paradoxe Doppelanruf kündigt nicht nur die schuldhafte Verstrickung der Hauptfigur an, er führt mit schadenfreudigem Augenzwinkern den parodierten Geheimadressaten des Romans, den abtrünnigen Sprachund Literaturtheoretiker Friedrich Schlegel vor.
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Vgl. Thomas Percy (Hrsg.): Reliques of Ancient English Poetry. Hrsg. v. Henry Β. Wheatley, London 51927, Bd. 1, S. 82-84. Vgl. F. Schlegel: Sprache und Weisheit der Indier, KA, Bd. 8, S. 125, 151, 169-175; Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: ders.: Sprachphilosophische Schriften. Hrsg. v. Erich Heintel, Hamburg 1960, S. 1-87; dazu Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, S. 17-23.
Daß das onomastische Rätselspiel des WahlverwandtschaftenErzählers an eine laufende Debatte anknüpfte, zeigt dessen Bezug auf einen bisher kaum beachteten, weil verdeckt geführten Volksliedstreit, in dem Schlegel nach seiner kunstphilosophischen Kampferöffnung Goethe erneut als literarischen Gegner konfrontiert hatte. Goethes Lob der Rätselhaftigkeit archaischer Poesie in der Wunderhorn-Rezension war nicht ohne Antwort geblieben. Die Widerrede kam via Friedrich Schlegels Rezension der Sammlung deutscher Volkslieder von Büsching und von der Hagen. Die Besprechung gab ihm Gelegenheit zu einer kritischen Abrechnung mit der Poetik des NaturmagischRätselhaften. »Zwei Abwege«, führte der Kritiker aus, sind bei dem Volksliede vorzüglich zu vermeiden: der erste ist der einer gesuchten Seltsamkeit; denn da man leicht bemerken kann, daß besonders die ältern unter den Volksliedern sich nicht selten durch etwas wunderlich Abgerissenes, halb Rätselhaftes, auszeichnen, wodurch ihre rührende Kraft und der ihnen eigene Reiz noch erhöht wird, so setzen einige das Wesen des Volksliedes vorzüglich in diese Unverständlichkeit, die sie nun nicht bloß lassen, wo sie sich etwa schon findet, sondern geflissentlich aufsuchen, und nie genug davon haben können, welches leicht zum Abgeschmackten fuhren kann. Dieser Abweg findet natürlich nur bei den willkürlich ändernden Sammlern statt, oder bei denen, welche die Art und Weise des Volksliedes in eignen Gedichten absichtlich nachbilden zu können vermeinen. Auf diesem Abwege glauben wir die Sammlung von Arnim und Brentano einigemal betroffen zu haben.36 Dieser parodierenden Polemik gegen Goethes Lobpreis naturmagischer Balladen, fügt Schlegel in seiner Rezension der vier ersten Bände der Cottaschen Ausgabe der Werke Goethes eine fast wortwörtlich wiederholte, aber auf lobendem Register durchgespielte Variante hinzu. Dort heißt es: Goethe aber behauptet wohl vor allen den Vorzug der Mannigfaltigkeit und der Tiefe. Einen magischen Reiz gibt seinen Liedern das Abgerißne, Geheimnisvolle, Rätselhafte des Gedankens oder der Geschichte, bei der vollkommensten äußern Klarheit. Freilich kann dies, sobald es mit Bewußtsein geschieht, gar bald in absichtliche Seltsamkeit ausarten, die denn auch bei den Nachahmern und Nachäffern Goethes im Volksliede, in so reichem Maße und in der vollen Begleitung aller nachfolgenden Verkehrtheit angetroffen wird. Bei Goethe selbst aber sind die schönsten
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F. Schlegel: Büsching/von-der-Hagen-Rezension, KA, Bd. 3, S. 104. Hervorhebung von Schlegel. 71
Lieder durchgängig bis zur vollkommensten Klarheit durchgeführt, und nur einige der minder vollkommnen sind auf dem Wege dahin stehen geblieben."'7
Aus der Feder des früheren Ai^enäM/w-Apologeten des Rätsels und der Unverständlichkeit nun das Gebot der »vollkommensten äußern Klarheit« zu erhalten,38 muß den sachverständigen Dichter schon stutzig gemacht haben. Was im literarkritischen Kontext mit der Periphrase der »vollkommensten Klarheit« nur angedeutet wurde, artikulierte Friedrich Schlegel in seinen zwei philosophischen Rezensionen und im Mittelteil seiner Sanskritstudie umso eindeutiger. Dort wurde die Auflösung aller Rätsel in der Offenbarung des Neuen Testaments und die Rückkehr der Ästhetik unter die Schirmherrschaft der Theologie verordnet. Wurde in Schlegels poetologischen Rezensionen das Religiöse nur kurz gestreift, so wurde die kulturpolitische Zielsetzung umso lauter ausgesprochen. So schließt die Würdigung der altdeutschen Volkslieder Goethes in der Besprechung der Cottaschen Ausgabe mit einem nationalkulturellen Imperativ: »Wie weit es auch in andern Gattungen der Poesie vergönnt sein mag um sich zu greifen, und auch die entlegenere und ganz fremde Sage in ihren Kreis zu ziehen, von dem Liede fordern wir, daß es deutsch sei.«39 Bei näherem Textvergleich der Büsching/von-der-Hagen-Besprechung Schlegels mit der Wunder/lora-Rezension entpuppt sich jener scheinbar belanglose Text als eine raffinierte parodistische Umkehrung der Volksliedapologie Goethes. Nicht nur wird die knappe, stichwortartige Charakteristik der Wunderhornlieder vom Büsching/von-der-Hagen-Rezensenten nachgeahmt.40 In den nationalpatriotischen Sammlungskriterien Friedrich Schlegels an die zeitgenössischen Volksliedsammler werden die Emp17 38
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F. Schlegel: Goethe-Rezension, KSF, Bd. 3, S. 130. Hervorhebungen von Schlegel. F. Schlegel: Über die Unverständlichkeit (1800), KSF, Bd. 2, S. 235242. F. Schlegel: Goethe-Rezension, KSF, Bd. 3, S. 132. Hervorhebung v. Schlegel. Vgl. dazu Josef Körner: Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe, Berlin 1924 (Darmstadt 1971), S. 176; Eichners Einleitung zu Bd. 3, S. XXXVI-VÜ und HA, Bd. 12, Anm. 281.
fehlungen Goethes an Arnim und Brentano ohne Nennung des Gegners auf den Kopf gestellt. Hatte Goethe den romantischen Volksliedliebhabern gegenüber den Wunsch geäußert, »daß sie sich vor dem Singsang der Minnesinger, vor der bänkelsängerischen Gemeinheit und vor der Plattheit der Meistersänger, so wie vor allem Pfäffischen und Pedantischen höchlich hüten mögen«, 41 so richtete Schlegel die Aufmerksamkeit jüngerer Volksliedsammler auf den gesamten Liederreichtum aus »größern und kleinern Städten des ehemaligen heil, römischen Reichs«, unter Einbeschließung, versteht sich, der von Goethe verworfenen Volkslieder der Minne-, Bänkel- und Meistersänger! 42 Den abschließenden Ratschlag des Weimarer Dichters an die Wunderhorn-HcraasgebeT, in einem zweiten Teil Volkslieder fremder Nationen, »Engländer am meisten, [...] Spanier in einem andern Sinne [...] auszusuchen und sie im Original und nach vorhandenen oder von ihnen selbst zu leistenden Übersetzungen darzulegen« 4 3 durchkreuzte der vaterländische Kulturpropagandist mit dem Gegenvorschlag, »eine Auswahl der ältesten, besten und eigensten, wahrhaft poetischen, oder historisch merkwürdigen englischen Lieder, in einigen Bänden, da der Sammlungen von Percy bis auf Pinkerton, und die neuesten, so gar viele sind«, 44 im Originalabdruck darzubieten. Daß in einer solchen altertümlichen Liederauswahl die Ballade Edward, Edward unerwünscht sei, verdeutlichte Friedrich Schlegels Hinweis auf die »gar« zu große Verbreitung von »Sammlungen« wie die des Herausgebers der Reliques of ancient English poetry Thomas Percy. Auf die Verbannung seiner Lieblingsballade, durch die sich der Büsching/von-der-Hagen-Rezensent für Goethes Verdikt auf das SpeeGedicht im Knaben Wunderhorn entschädigt hatte, antwortete der Dichter mit den von seinem Gegner empfohlenen literarischen Mitteln der Minne- und Meistersänger. Er lud seinen Rivalen zu einer modernen Variante der mittelalterlichen Rätselkämpfe ein 45 Hatte ihn der erste Deckname als moralischen Falschspieler hingestellt, so folgte mit
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Goethe: Des Knaben Wunderhorn-Rezension, HA, Bd. 12, S. 283. F. Schlegel: Büsching/von-der-Hagen-Rezension, KA, Bd. 3, S. 107. Goethe: Des Knaben Wunderhorn-Rezension, S. 283. F. Schlegel: Büsching/von-der-Hagen-Rezension, S. 108. Hervorhebung von Schlegel. Dazu Hain: Rätsel, S. 15-17. 73
der Benennung des schottischen Vatermörders der Vorwurf der Vergangenheitsvernichtung. Friedrich Schlegel selbst war es gewesen, der ihn in der Begleitrezension der eigenen Cottaschen Werkausgabe dreimal auf die Potentialitäten parodistischen Schreibens für die Gegenwart aufmerksam gemacht hatte. 46 Das onomastische Anfangsrätsel lud den Zieladressaten ein, in seiner Gegenparodie die poetische Replik auf die getarnte Polemik seiner Volksliederrezension zu finden. Die klagende Namensnennung wird im Prädikativsatz um die Tätigkeitsbeschreibung des Subjekts ergänzt: »[...] Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen.« (242) Ähnlich wie das Sinnbild der Mooshütte faßt Eduards Pfropfen die Exposition des Charakters in ein Bild zusammen, ein ironisch gefärbtes psychologisches Symbol, das in späteren Kapiteln nach der Abreise des Barons vom Schloßgärtner, von ihm selbst und vom Erzähler um kritische Nuancen bereichert wird. Die psychologischen Verweisungsaspekte des gärtnerischen Symbols sind eingehend untersucht worden. Auf Eduards künstliche Zucht paßt das, was Goethe in seinen kritischen Aufzeichnungen über den Dilettantismus sagt. Seine vorübergehende Gartenliebhaberei verweist auf die psychologische Schwäche des Charakters, auf seine Haltlosigkeit und Inkonsistenz als »Dilettant des Lebens«. 47 Diese symbolische Charakteristik gewinnt noch zusätzliche ironische Schattierungen, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, daß Eduards Pfropfreiser eine poetologische Schlegel-Entlehnung waren, die der Wahlverwandtschaften-Erzähler seinem Geheimadressaten in umgewandelter Gestalt zurückgab. Ein konstanter Grundzug des literarkritischen Stils Friedrich Schlegels, der das zeitbedingte Schwanken seiner Urteile transzendiert, ist seine Neigung zu botanischer Bildlichkeit. Kritische Aufsätze der neunziger Jahre, kunsthistorische Essays, sprach- und literaturtheoretische Schriften und Gedichte der Pariser und Kölner Zeit sind allesamt reichlich mit organischer und vegetabilischer Metaphorik geschmückt.
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Dazu 1.1., S. 19-21. Walzel: Goethes Wahlverwandtschaften, S. 60; Karl Vietor: Goethe. Dichtung, Wissenschaft, Weltbild, Bern 1949, S. 210; Geerdts: Goethes Roman, S. 39-43; Stöcklein: Wege zum späten Goethe, S. 10; Hielscher: Natur und Freiheit, S. 89-91.
Die zunehmende religiöse Tendenz des Werkes wird in den Konversionsjahren von ins-Kraut-schießenden geistlich-symbolischen Baum-, Gewächs-, Blätter- und vor allem Blumenbildern begleitet. Wie eng poetische und gärtnerische Tätigkeiten im allegorisierenden Sprachgebrauch der Romantik miteinander verwoben werden, zeigt sich etwa auch an der Betitelung der 1807 erschienenen Gedichtsammlung des Bruders von Novalis Dichter-Garten, die vor allem Gedichte Friedrich Schlegels enthält. Man wird auch imselben Zusammenhang an die allegorische Szene Der Garten der Poesie in Tiecks Märchenkomödie Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack erinnert. 48 Die Pfropfreiser der Wahlverwandtschaften rühren aus Schlegels Frühperiode, aus seinem klassischen Essay Über das Studium der griechischen Poesie her. Dort wird der Anfang der modernen Poesie durch folgendes Obstbaugleichnis veranschaulicht: Das große barbarische Intermezzo, welches den Zwischenraum zwischen der antiken und der modernen Bildung anfüllt, mußte erst beendigt sein, ehe der Charakter der letztern recht laut werden konnte. Es blieben zwar Fragmente der alten Eigentümlichkeit genug übrig; aber durch die nationale Individualität der Nordischen Sieger wurde dennoch gleichsam ein frischer Zweig auf den schadhaften Stamm gepfropft. 49
Im Gesamtkontext der poetologischen Abhandlung besaß das Bild des Pfropfens keinen geringen Platz, da sie dazu diente, die künstliche Überpflanzung der modern-europäischen Poesie mit der urwüchsigen Entstehung griechischer Dichtung drastisch zu kontrastieren. Diese Trope aus der Griechenabhandlung aktualisiert Goethe, um Schlegels Restaurationspoetik, seine in den Konversionsschriften mehrmals heraufbeschworene »Wiederbelebung des Alten« mit den organischen Mitteln des Parodierten zu verspotten. 50 Schlegels Pfropfen-Metapher
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Vgl. dazu Gerhard Schulz: Einführung zu [Hardenberg, Karl Gottlob Albrecht von]: Dichter-Garten. Erster Gang. Violen. Hrsg. v. Rostorf [Pseud.], Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 1979, S. 13*. F. Schlegel: Studium der Griechischen Poesie, KSF, Bd. 1, S. 76. Eine »mögliche Wiederbelebung des Alten, [...] nicht bloß in Betreff der Religion, sondern auch in Beziehung auf Kunst und Erkenntnis, Sitten, Gesetze und Verfassung« wird in F. Schlegels Stolberg-Rezension herbeigeschworen (KA, Bd. 8, S. 91). Ähnliches steht in: Über die Sprache und Weisheit der Indier: »Denn niemals entstand noch ein wahrhaft Neues, das nicht durch das Alte zum Teil angeregt und hervorgerufen, 75
wird nicht nur durch Hypostase verdinglicht, >reifiziertWahlverwandtschaftDiesem Ziel nach nun wandeln sie, aus Gott kommend, bis zur Pflanz' herab/In des Seins schreckliche Welt hier, die stets hin zum Verderben sinkt.< In diesen Worten ist gleichsam die Seele des ganzen Systems ausgesprochen, das herrschende Grundgefiihl desselben. Was die Dichter der Alten in einzelnen Sprüchen von dem Unglück des Daseins singen, [...] sammle man sich in ein Bild und allumfassendes Ganzes, [...] so wird man am besten das Eigentümliche der alten indischen Ansicht aufgefaßt haben« (ebd., S. 203). »Osiris, ein Hauptbegriff der Ägyptischen Lehre als einer leidenden und sterbenden Gottheit, erklärt sich am besten aus der indischen Lehre von der Unseligkeit des Daseins, wozu die reine Vollkommenheit herabgesunken, und darin eingehüllt und gefesselt sei.« (ebd., S. 215).
Zu Recht sieht Heinz Schlaffer im Palindrom Otto die Chiffre des Romans. Daß Palindrome vorwärts und rückwärts lesbar sind, verbürgte ihnen in kabbalistischen Kreisen magische Gültigkeitskraft. 68 Nun weist die intertextuelle Bezugnahme des Wurzelnamens Otto auf Friedrich Schlegels metaphysische Wurzellehre in eine andere Richtung als in die von Schlaffer aufgedeckten Zusammenhänge kabbalistisch-alchemischer Palindrominie. Mit seiner germanischen Stammsilbe ot- war dem Parodisten ein wahrhaftig genialer Fund gelungen. Vom Klang her bot sich der Name >Otto< aus der Zusammensetzung der Endreime im Refrain der Edward-Ballade an: Dein Schwert, wie ist's von Blut so r-OT Und geh'st so traurig her? - O! Nicht nur war jene Stammwurzel so leicht biegbar, daß sich wie im Sanskrit durch Flexion eine Reihe abgeleiteter Eigennamen bilden ließ. Nicht nur evoziert sie den thematischen Kern der Sanskritstudie, Himmelsglück und Lebensunglück. Goethe wählte auch ein Etymon aus, durch dessen gezielte Handhabung die Zielrichtung seiner parodierten Vorlage sich leicht ironisch umkehren ließ. Um diese Sinnumkehrung zu bewerkstelligen, setzte er eine Technik ein, die sein Geheimadressat, der Parodiekenner F. Schlegel, im AthenäumFragment Nr. 253 zu Shakespeares Dramen lobend gewürdigt hatte: eine »Parodie des Buchstabens« in der minimalen Form des Palindroms. 69 Er verdoppelte die zwei Buchstaben der Stammsilbe und verwandelte durch Umstellung die einfache Wurzel zu einem Doppelkeim, OT-TO, in dem sich zwei fragmentarische Teile polar gegenüberstehen. Durch diese antinomische Verdoppelung war ein Buchstabenrätsel entstanden, das der listige Rätselsteller seinem geheimen Kontrahenten zur Auflösung darbot. 70
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Vgl. Schlaffer: Namen und Buchstaben, S. 214. Vgl. Athenäum-Fragment Nr. 253, KSF, Bd. 2, S. 129. Im Nachtrag Moritz als Etymolog der Italienischen Reise hat Goethe gezielte Hinweise auf seine Freude an etymologischen Kombinationsspielen hinterlassen. Er schreibt dort: »Das etymologische Spiel beschäftigt schon so viele Menschen, und so gibt es auch uns auf diese heitere Weise viel zu tun. Sobald wir zusammenkommen, wird es wie ein Schachspiel vorgenommen, und hunderterlei Kombinationen werden versucht, so daß, wer uns zufällig behorchte, uns für wahnsinnig halten 83
Das Spiel mit den Buchstaben war in idealer Weise dazu geeignet, den ehemaligen Ai^enäww-Herausgeber an seine frühere Apologie des »Buchstabens« gegen den Despotismus des »Geistes«, an jene in den Zeiten der Freundschaft mit Novalis oft heraufbeschworene »Magie des Buchstabens« zu erinnern. 71 Mit seiner Lehre vom Buchstaben und Geist hatte Friedrich Schlegel einen religiösen Topos in den Bereich der Ästhetik übertragen, dem eine lange Kette konfessioneller Auseinandersetzungen anhaftete, seit Martin Luther den »Buchstaben« der Bibel gegen den »Geist« der patristischen Offenbarungslehre gewendet hatte. Das Begriffspaar wurde in Fichtes Über Geist und Buchstaben in der Philosophie wieder in Umlauf gesetzt. 72 Der philologische Buchstaben-Begriff der Jenaer Schriften Schlegels ist viel umfassender als Saussures linguistischer signifiant-Begriff. Er subsumiert alle sinnlich faßbaren, bezeichnenden Kategorien der Schriftsprache, vom Phonem, Metrum, Rhythmus und Reim, bis zu Charakteren, Hand-
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müßte. Auch möchte ich es nur den allernächsten Freunden vertrauen. Genug, es ist das witzigste Spiel der von Welt und übt den Sprachsinn ungemein.« (HA, Bd. 11, S. 461). Zu den Kategorien >Geist und Buchstabe< in Schlegels Jenaer Aphorismen vgl. Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976, S. 544-549; das Kapitel »Geist und Buchstabe< in Nüsses Abhandlung: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, S. 88-97, nimmt ausschließlich auf die frühe Periode Bezug, ohne der Begriffsumkehrung in den kunst- und sprachphilosophischen Schriften der Pariser und Kölner Jahre Rechnung zu tragen; mögliche Beziehungen zwischen Goethes Roman und Schlegels Sprachtheorie werden in: J. Hillis Miller: A »buchstäbliches« reading of The Elective Affinities erörtert (Glyph 6 [1979], S. 6). Fichte: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie in einer Reihe von Briefen (1798). In: Immanuel Hermann Fichte (Hrsg.): Sämmtliche Werke, Bd. 8, Berlin 1846, S. 270-300. Die Einsichten des frühen F. Schlegel in eine Wechselbeziehung des Begriffspaares scheinen sich allerdings unabhängig von Fichtes Aufsatz durchgesetzt zu haben, bei welchem dem Buchstaben eine rein mechanische Funktion gegenüber dem Geist als »belebender« ästhetischer Triebkraft zugewiesen wird. So betont etwa Fichte im Gegensatz zu F. Schlegels frühen Ausführungen zu Goethes Poesie, bei ihm sei es »nicht die so einfache Erzählung, nicht die ohne allen Schwulst so sanft hingleitende Sprache, durch welche der gebildete Leser so mächtig angezogen wird. Es ist nicht der Buchstabe, sondern der Geist.« (ebd., S. 295).
lungsstruktur, Gattungsform und Stil. 73 Mit seinem Plädoyer für die wechselseitige hermeneutische Durchdringung von Buchstaben und Geist erhob der Frühromantiker die Philologie in den Rang der Philosophie. Schon in den frühen kritischen Schriften Friedrich Schlegels macht sich zeitweilig die Tendenz bemerkbar, im Einklang mit der zeitgenössischen Philosophie dem Geist den Vorrang über den Buchstaben zu geben. Ein paar Jahre später proklamierten die Pariser beschreibungen
emphatisch
das
Primat
des
Geistes
Gemäldeüber
den
»Buchstaben« der Kunst. 74 Der zur bloßen Technik heruntergespielte Buchstabe sollte sich nun in den Dienst des Geistes stellen. 75 Mit der transzendenten Bestimmung der Sprache in den Schriften der Kölner Jahre wurde das Begriffspaar >Buchstabe und Geist< vom Bezeichnenden zugunsten des philosophisch-religiösen
Bedeutungsinhalts
völlig umgepolt. Der Begriffsumschwung befähigte Schlegel, seine Umkehr von der Ästhetik zur Religion auf eine Formel zu bringen. Nun erklärte der Rezensent der Stolbergschen Geschichte der Religion Jesu
73
74
75
Christi
im Rückgriff auf die biblischen Paulusbriefe den
Vgl. dazu F. Schlegel: Gespräch über die Poesie, KSF, Bd. 2, S. 220; die detaillierteste Bestimmung des frühen Buchstaben-Begriffs bei Schlegel ist in den posthum veröffentlichten Fragmenten zur Poesie in den Arbeitsheften der Jahre 1797-1798 enthalten, so etwa im Fragment Nr. I, 473: »Stoff und Form und Styl zusammen bilden d[en] Buchstaben. < Der Styl ist d[er] Geist in den Alten. - > « (KA, Bd. 16, S. 124; Nr. V, 695: »Das Wesen eines Werks ist gleichsam das Transcendentale, das absolut Innre, der condensirte und dann potenzirte Geist in Eins zusammen. - < Buchstaben = attributa. Geist = modi. Wesen = essentia. > « (ebd., S. 143); Nr. V, 944: »(in d[en] modis äußert sich der Geist, die attributa machen d[en] Buchstaben.)« (ebd., S. 164); Nr. V, 984: »Der Buchstabe jedes Werks ist Poesie, der Geist cpofPhilosophie] - « (ebd., S. 167). Hervorhebung von Schlegel. Vgl. 4.4., S. 173-175. So in den Gemäldebeschreibungen: »Hätte nun ein solcher erst den richtigen Begriff von der Kunst wiedergefunden, daß die symbolische Bedeutung und Andeutung göttlicher Geheimnisse ihr eigentlicher Zweck, alles übrige aber nur Mittel, dienendes Glied und Buchstabe sei, so würde er vielleicht merkwürdige Werke ganz neuer Art hervorbringen« (KA, Bd. 4, S. 151). 85
»Buchstaben« für »tot«.76 Im Einklang dazu setzte die Rezension der Vorlesungen Adam Müllers die Ästhetik auf das Niveau einer leeren »Formenspielerei« herab, 77 während der philosophische Etymologe des Sanskritbuchs forderte, »nicht bloß auf die Form wie die Buchstabengelehrten und gewöhnlichen Kunstkenner, sondern auf den Geist, auf das innere Leben« zu achten. 78 Diese in der Peroration des Sanskrittraktats intensivierte Polemik gegen das Herabsinken der Philologie zu einer »sehr schalen und unfruchtbaren Buchstabengelehrsamkeit«, und weiter noch gegen »die Buchstabengelehrten und gewöhnlichen Ästhetiker und Kunstkenner«, die in ihrer griechischen Nachahmung »bloß bei der äußern Form stehen bleiben«,79 auf wen sollte sie sonst gezielt sein, als auf den früher so verehrten, den »Stil des Homerus, des Euripides und des Aristophanes« vereinigenden Meister ästhetischer Buchstabenkunst Goethe? 80 Angesichts solch angriffslustiger Paradoxie war dem Wahlverwandtschaften-Erzähler ein listiges Gegenmanöver eingefallen. Statt dem Gegner mit der gröberen Waffe der Polemik oder mit satirischer Verspottung direkt zu begegnen, ließ er das Gespenst der frühzeitig beerdigten Buchstaben sich in der Geheimschrift des Romans an ihrem Bestatter selber rächen.
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So F. Schlegel: Stolberg-Rezension: »Denn bekannt ist es, wie sehr nicht etwa einer oder der andere der Kirchenväter, sondern die große Mehrzahl auch der ältesten und sonst gewichtvollsten (nach dem Vorgange der Apostel, ja des Heilandes selbst) zu dieser symbolischen Ansicht sich neigen, die bald auf die eine, bald auf die andre Art immer doch auf den innern, oft verborgenen Sinn, auf die Idee zunächst geht, und diese vor allem zu enthüllen sucht.« (KA, Bd. 8, S. 100. Hervorhebung von Schlegel). Und ferner: »Wenn aber unter den neuem katholischen Gelehrten einige die allegorische oder symbolische Auslegung so gar sehr beiseite setzen, so können wir dies für nichts anders halten, als für eine übel berechnete Nachgiebigkeit gegen den Strom der herrschenden Aufklärung, die um so mehr auf den toten Buchstaben allein sieht, je weniger sie den tiefern Sinn zu ergreifen vermag; für ein halbes Kapitulieren mit den Anhängern einer ganz andern Ansicht; auf jeden Fall aber ist es unvereinbar mit dem aufgestellten und anerkannten Grundsatz von der Autorität der Kirchenväter in der biblischen Auslegung.« (Ebd.). F. Schlegel: A. Müller-Rezension: KSF, Bd. 3, S. 156. F. Schlegel: Sprache und Weisheit der Indier, KA, Bd. 8, S. 263. Ebd., S. 309 und 317. F. Schlegel: Studium der griechischen Poesie, KSF, Bd. 1, S. 112.
Auf einen Verweisungszusammenhang zwischen den formelhaft gegenübergestellten Buchstaben des Palindroms OT-TO und dem verschränkten Verhältnis der Hauptfiguren und der chemischen Formel der doppelten Wahlverwandtschaften hat auch Schlaffer hingewiesen. 81 Stellt man nun Parodie und Vorlage einander gegenüber, so bekommt man tatsächlich den Eindruck, als sei durch die antinomische Gegenüberstellung der Wurzelbuchstaben Ot-to Schlegels Wurzelsinngebung aufgehoben, das organisch-geistige Prinzip der Wurzelverwandtschaft in das polar-chemische Prinzip der Wahlverwandtschaft umgewandelt worden. Der von Schlegel durch Familienmetaphorik verbürgte Zusammenhalt der Keimwurzel: »Alles aber, was auf diese Weise aus der einfachen Wurzel hervorgeht, behält noch das Gepräge seiner Verwandtschaft, hängt zusammen und so trägt und erhält sichs gegenseitig«, 82 diese organische Kohärenz des Namens scheint durch die polare Verdoppelung der Stammsilbe in einen Dualismus zweier entgegengesetzter Prinzipien umgepolt worden zu sein. Und es ist zu fragen, ob auch nicht durch die Umpolung der zwei organischen Keime von vorne herein die Lebensfähigkeit des ominösen Kompositums geleugnet wird. Wenn es stimmt, daß die antinomische Struktur des Romans im Ironieprinzip seiner Onomastik ihren Anfang hat, dann wollte der Namengeber der Wahlverwandtschaften durch die »Parodie des Buchstabens« auch den »Geist« seiner parodierten Vorlage treffen. Wenn mit der Chiffre Otto die philologisch-philosophische Botschaft Schlegels anvisiert war, dann müßte der Parodist Goethe dem parodierten Autor die Dekodierung des Rätsels ermöglichen. Er müßte einen Kode benutzt haben, den dieser ihm selber zur Verfügung gestellt hatte. Da der philologische Teil von Über die Sprache und Weisheit der Indier das Modell für die Wurzelübereinstimmung der Eigennamen enthält, müßte logischerweise der Schlüssel des palindromischen Spiels im philosophischen Teil der Abhandlung verborgen liegen. Tatsächlich befindet sich das Gesuchte in zweifacher Ausführung in den polemischen Kapiteln Die Lehre der zwei Prinzipien und Vom Pantheismus. Über den Parsismus, eine persische Variante der dualistisch-
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Schlaffer: Namen und Buchstaben, S. 215. F. Schlegel: Sprache und Weisheit der Indier, S. 159. 87
pantheistischen Systeme, die Schlegel als Talsohle der Philosophie denunziert, notiert er folgendes: »Selbst in den Sinnbildern der Perser nehmen wir ein bestimmtes Zahlenverhältnis der sinnbildlichen Figuren wahr, einen konstruierenden Gliederbau, wovon der Keim schon in der ersten Dualität der ringenden oder wechselwirkenden Grundkräfte lag.«83 Die knappe Stelle gab dem listigen Namengeber die Idee einer Aufgliederung seines etymologischen Keims in ein dualistisches Konstrukt. Auch an anderer Stelle konnte Goethe in Schlegels Besprechung des altchinesischen Weisheitsbuchs Y-king [Tao-te-king] den Hinweis auf eine polare Aufteilung von »Grundkräften« finden, diesmal etwas ausführlicher beschrieben. Das große »Eins«, erläuterte der Verfasser, »wird in zwei entgegengesetzte Grundwesen zerteilt, das Yang und Yn - «aus deren mannigfachen Verbindungen und Zusammensetzungen alles besteht«, wobei diese mehrfache »Zusammensetzung aus Verdopplung« - hier der entscheidende Hinweis - nicht begrifflich, sondern durch Linien- und Zahlensymbolik, also graphisch anschaulich gemacht wurde. Deshalb nannte er auch den Tao-te-king ein »hieroglyphisches« Buch. 84 Das Fazit stellte nochmals Frage und Lösung des Rätsels gebrauchsfertig nebeneinander. Wenn der Pantheismus nicht bloß Denkart und Gesinnung ist, [...] sondern mehr oder minder als wissenschaftliches System auftritt, so ist es nie etwas anders als ein solches [...] Kombinationsspiel aus einem Positiven und Negativen, welches eine solche Zahlensymbolik wie diese im Grunde besser darstellt, als Worte es können.85 Eben »ein solches« antithetisches »Kombinationsspiel« von Graphen und Zahlen warf der Zerrspiegel der Wahlverwandtschaften-Parodie dem Kenner orientalischer Weisheitsbücher zurück. Die buchstäbliche Urform eines solchen antinomischen Symbols ist das Palindrom OTTO, dessen spiegelbildliche Gegenüberstellung von Linien und Zahlen das Gesetz der Wahlverwandtschaften als chemische Formel offenbart. Was dergestalt in der sinnbildhaft-semiotischen Gestalt des Namens in Erscheinung tritt, wäre nun - dem Wortlaut des Verfassers der Sprache und Weisheit der Indier zufolge - nichts anderes als »der 83 84 85
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Ebd., S. 235. Ebd., S. 245-247. Ebd., S. 247.
Pantheismus als wissenschaftliches System«! In der geschickt verschlüsselten Form des Palindroms führte die Geheimschrift des Romans das chemische Gesetz der Wahlverwandtschaften auf den von Schlegel widerrufenen naturphilosophischen Pantheismus zurück. Ein einziger Buchstabentrick des Parodisten war nötig gewesen, um die geistige Sinngebung der Stammsilbe in ihr Gegenteil zu verwandeln und damit Schlegels sprachmetaphysische Eigentlichkeitslehre zu demontieren. Wer Parodie sagt, meint bewußte Mehrstimmigkeit. Die innere etymologische Struktur des Namens simuliert die organisch-geistige Wurzelverwandtschaft der Sanskritnamen, während seine äußere, sichtbare Buchstabengestalt und seine akustische Lautstruktur dem parodierten Verfasser die naturphilosophische Formel der Wahlverwandtschaften vor Augen führt. Der tiefe Buchstabensinn des Namens wird durch seinen »buchstäblichen« Sinn destabilisiert. Und die Lösung des Buchstabenrätsels, der durch die Magie der Buchstaben wiedererstandene Pantheismus, war er nicht als Spuk aus der Vergangenheit zurückgekehrt, um den wankelmütigen Spinozaverehrer der Αi/ißnÖMW-Aphorismen und des Gesprächs über die Poesie zu quälen? Und wie steht es um die formal-ästhetische Struktur des Palindroms? Sieht die antinomische Gegenüberstellung der beiden Stammbuchstaben OT-TO nicht eigentlich wie zwei fragmentarische Teile einer Antinomie aus? Zielte diese minimale Fragmentform nicht auch darauf ab, den dogmatischen Wahrheitsverkünder mit der Erinnerung an seine früher so geschätzte Erkenntnis- und Schreibform der Paradoxie noch zusätzlich zu reizen? Sind einmal die Namenrätsel gelöst, dann entpuppt sich die wohlwollende Ironie, mit der der Hauptmann Eduards Namenstausch im 2. Kapitel erwähnt, als hinterhältige Demaskierungsfreude. Mit der Ankunft des Hauptmanns an Ottos Namenstag gibt der Parodist seinem Geheimkontrahenten zu erkennen, daß er das chemische Romanexperiment unter das Rachezeichen einer über ihre öffentliche Verleugnung ärgerlichen Vergangenheit gesetzt hat. Schlegels Freund und ehemaliger Αthenäum-Milarbtiter, der wortspielkundige Don ßMixoie-Übersetzer und Märchenparodist Ludwig Tieck traf
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wohl den Nagel auf den Kopf, als er in einer mündlichen Unterhaltung den Roman Goethes als »Qualverwandtschaften« apostrophierte. 86
2.3. Mittler Ein »Kästchen von Weimar« traf am 12. Juni 1808 in Karlsbad ein. 87 Es enthielt unter »Briefen und Broschüren« einen vom 4. Mai datierten Kölner Brief Reinhards, in welchem dieser seiner Bestürzung über die katholische Bekehrung Friedrich Schlegels Luft machte. Reinhards Schlegel-Charakteristik erweist sich als besonders aufschlußreich in den Wendungen, die seinem Korrespondenten als Keime einer Karikierung des lebendigen Charakters dienen konnten. Er schreibt: Da ich den weiten Umfang kannte, den Herr Schlegel sonst dem Wort Religion gab, so war mir, trotz aller Anzeichen, nicht in den Sinn gekommen, daß er es für sich auf den Katholizismus einengen würde, und ich begriff nicht, wie dieses feiste Dr. Luthers-Gesicht irgendeine innre rechtliche Veranlassung zu einem solchen Schritt haben könnte. [...] Die zweideutige Rolle, die er unter solchen Umständen zu spielen hatte, besonders gegen meine im Deismus erzogne Frau, hat er übrigens mit wahrer Feinheit durchgeführt, und ich kann nicht sagen, daß er sich verstellt, kaum, daß er verheimlicht habe; denn es lag nur an uns, aus allen seinen Äußerungen die Konsequenz zu ziehn. Daß der paradoxale, zum Ungemeinen mit erbitterter Eigenliebe strebende Mensch die katholische Religion vorziehn könnte, schien uns sehr begreiflich; aber daß er zu ihr übertreten würde, daran dachten wir nicht. Davon glaub ich wenigstens ihn freisprechen zu können, daß die Impulsion, die ihn trieb, vom großen Mittelpunkt aller heutigen Impulsionen ausgegangen sei; seine wahre Absicht wird die Zeit enthüllen.88 Den Hauptteil seines umfangreichen, vom 22. Juni datierten Antwortbriefes widmet Goethe der Konversion Schlegels und der Auseinandersetzung mit seinen Kölner Schriften. Dieser bedeutende Karlsbader Brief erhält auch dadurch eine Schlüsselstellung in der Entstehungsge-
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Brief v. Leopold v. Gerlach an Wilhelm v. Gerlach, 14. August 1810. Zit. nach Härtl: Die Wahlverwandtschaften. Eine Dokumentation, Nr. 396, S. 167. WA, Abt. ΙΠ, Bd. 3, S. 345-346. Brief Reinhards an Goethe, 4. Mai 1808. In: Heuscheie: Goethe und Reinhard, S. 61.
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schichte der Wahlverwandtschaften, daß er nach 3 Wochen intensiver täglicher Kompositionsarbeit am ersten Teil der Novelle diktiert wurde. Goethe spinnt aus Reinhards Glaubenskämpfer- und FalschspielerMetaphern ein regelrechtes polemisches Leitmotiv, um Schlegel vor allem als literarischen »Proselyten« anzugreifen, dessen »sämtliche Gegenstände, [...] eigentlich nur als Vehikel gebraucht werden, um gewisse Gesinnungen nach und nach ins Publicum zu einer veralteten Lehre darzustellen.« 89 Nicht so sehr an dem Privatereignis der katholischen Bekehrung nahm Goethe Anstoß, als vielmehr an dem publizistischen Exhibitionismus, der die Konversion begleitete. Schlegels Zurschaustellung des eigenen Gesinnungswechsels übertrug Goethe in genau dasselbe Bild, mit dem er das sogenannte Experimentum crucis Newtons im polemischen Teil seiner Farbenlehre veranschaulicht hat. 90 Durchaus ist aber diese Schlegelsche Conversion sehr der Mühe werth, daß man ihr Schritt vor Schritt folge, sowohl weil sie ein Zeichen der Zeit ist, als auch weil vielleicht in keiner Zeit ein so merkwürdiger Fall eintrat, daß im höchsten Lichte der Vernunft, des Verstandes, der Weltübersicht ein vorzügliches und höchstausgebildetes Talent verleitet wird sich zu verhüllen, den Popanz zu spielen, oder wenn Sie ein ander Gleichnis wollen, so viel wie möglich durch Läden und Vorhänge das Licht aus dem Gemeindehause auszuschließen, einen recht dunklen Raum hervorzubringen, um nachher durch das foramen minimum so viel Licht, als zum hocus pocus nöthig ist, hereinzulassen 91 So beachtenswert die Schlegel-Newton-Analogie sein mag, noch aufschlußreicher ist in diesem Zusammenhang Goethes Stellungnahme dem deutsch-französischen Politiker Reinhard gegenüber für das »Licht« der Aufklärung gegen Schlegels Rückzug in die »Dunkelheit«. 92 Der Schluß des Briefes empfiehlt einige Auszüge aus dem Sanskrittraktat als »Confession dieses neuen Augustinus«. 93 In dem
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Heuscheie: Goethe und Reinhard, S. 64. Zit. nach: WA, Abt. IV, Bd. 20, S. 92. Vgl. Zur Farbenlehre. Polemischer Teil, WA Abt. Π, Bd. 2, 1. Theil, 6. Versuch, S. 68-83. WA, Abt. IV, Bd. 20, S. 93-94 (Heuscheie: S. 65). Zum Brief Goethes an Reinhard vgl. auch das Nachwort von Rasch, DA, S. 768-769. WA, Abt. IV, Bd. 20, S. 96 (Heuscheie: S. 67). 91
knapperen Brief desselben Tages an Zelter wird die Abhandlung als »eine Declaration seines Übertritts zur alleinseligmachenden Kirche« und als »hocus-pocus« vorgestellt.94 Daß Goethe durch Schlegels publizistische Äußerungen sich beleidigt gefühlt haben mag, wofür er sich auch auf literarischem Wege zu entschädigen trachtete, derartige Gedanken schimmern in einem anderen, äußerst vorsichtig und lapidar gefaßten Abschnitt des Briefes an Reinhard durch. Goethe schreibt dort: Da man über seine Absichten und seine Schleichwege nun schon deutlicher ist, so bin ich wirklich neugierig, wie er sich gebärdert, wenn er meine folgenden acht Bände recensiren sollte, und inwiefern er abermals Gelegenheit nehmen wird, die ästhetische Cultur, den Polytheismus und Pantheismus verdächtig zu machen.95 Daß die erwogene literarische Revanche mit dem »derben« und »ungescheuten« Auftritt Schlegels und mit der leicht durchschaubaren »Absichtlichkeit« seiner Schriften nichts Gemeinsames haben würde, das wird auch in einem wichtigen poetologischen Zwischenparagraphen angedeutet, der mit der vieldeutigen Pointe schließt: »Ja ich läugne nicht, daß [...] es mir von jeher Spaß gemacht hat, Versteckens zu spielen.« 96 Wiewohl er »von jeher« seinen »Spaß« an der Kunst poetischer Verhüllung gehabt habe, pflege er sich jetzt »auf eine lustigere Weise« als früher »mit den Tribulationen der Zeit abzufinden«, bemerkt er im Hinblick auf die zehn Jahre zurückliegende Komposition der FiiHjf-Zueignung. Auf ein literarisches »Versteckspiel« deutet das lakonische Bekenntnis an, ein »lustigeres« als zum Höhepunkt der Weimarer Klassik, im Jahrzehnt der poetischen Zusammenarbeit mit Schiller. Kontinuität und Bruch mit der Weimarer Ästhetik werden in diesem knappen Bekenntnissatz skizziert. Die Formulierung ähnelt jener öfter zitierten Briefäußerung vom 1. Juni 1809 an Zelter: »Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dieß offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.« 97 Die Gegenüberstellung mit dem »lustigen Versteckspiel« nimmt dem offenbaren Geheimnis des Romans seine weihevolle Aura weltanschaulicher Unergründlich-
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Brief Goethes an Zelter, 22. Juni 1808, WA, Abt. IV, Bd. 20, S. 86. An Reinhard, ebd., S. 94 (Heuscheie: S. 65). Ebd., S. 96 (Heuscheie: S. 66). Vgl. WA, Abt. IV, Bd. 20, S. 346.
keit, und ersetzt sie durch eine Hülle frivoler Spielfreude. Daß die Wendung offenbares Geheimnis ein Oxymoron ist, hat schon Jochen Hörisch bemerkt. Ein »offenbares Geheimnis«, das sich zur sprachlichen Auflösung der Öffentlichkeit anbiete, sei eben kein Geheimnis mehr, sondern ein Rätsel. 98 Folgt man Goethes lakonischen Leseanweisungen an die beiden Altersfreunde aufs Wort, so gelangt man auch auf dem Weg der Korrespondenz zu dem offenen Geheimnis eines in parodistischer Rätselform angelegten literarischen Revanchespiels genannt Die Wahlverwandtschaften. Keiner der wenigen Namen dieses Romans kehrt seine ironische Intentionalität so auffällig hervor wie der Name Mittlers. Da sich der >Mittler< des Romans bei jedem seiner acht Auftritte als selbstsüchtiger Helfer, zanksüchtiger Friedensrichter, zynischer Prinzipienreiter und vernichtender Beschwichtiger zeigt und da sich dieser Gebieter auf stets krassere Weise als aller Vermittlung völlig unfähig erweist, könnte man sich damit begnügen, den widersinnigen Namen als ein Musterbeispiel einfacher rhetorischer Ironie zu lesen. Doch erhebt sich hier der Zeigefinger des Erzählers mit solcher Insistenz, daß es nicht wundert, daß die Parodiefrage zum ersten Mal im Zusammenhang mit Mittler aufgeworfen wurde." Vergegenwärtigt man sich nun die Parallelität zwischen dem onomastischen Kommentar - »Diejenigen, die auf die Namensbedeutungen abergläubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen« (255) - und dem Anfangseinschub, »Eduard - so nennen wir einen Baron [ . . . ] - Eduard«, so fällt es einem noch schwer, der metafiktionalen Aufforderung des Erzählers nicht zu folgen und nicht nach der versteckten Intention der Mißnennung zu suchen. An dem »ganzen Daseyn Mittlers«, dieser »im Zusammenhang des Romans allein nicht ganz erklärlichen Person«, hatte ein zeitgenössischer Rezensent berechtigterweise böse Absichten verspürt. 100 »Für Mitlern wie für den Architect ließ sich sogar eine portraitähnliche Verwandtschaft nach-
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Vgl. Hörisch: Das Leben war ihnen ein Rätsel, S. 115. Vgl. Geerdts: Goethes Roman, S. 96.
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[Karl Philipp Conz]: Briefe über den neuen Goethe'schen Roman: Die Wahlverwandtschaften. In: Morgenblatt für gebildete Stände Nr. 307310, Tübingen, 25.-28. Dezember 1809 (Härtl: Nr. 285, Anm. •****, S. 99). 93
weisen«, behauptet lakonisch Goethes Sekretär Riemer in seinen Mittheilungen über Goethe.101 Während die Zeitgenossen in der Figur des Architekten der Wahlverwandtschaften jenen Architekten Daniel Engelhardt aus Kassel zu erkennen glaubten, der anfangs 1809 Weimar besucht hatte, 102 hinterließ das Vorbild des närrischen Sittenpredigers trotz eifrigem Modellsuchen der Zeitgenossen keine erkennbaren Spuren. 103 Dabei hat der Erzählerkommentar einen expliziten Hinweis hinterlassen, bei wem die Lösung seines dritten onomastischen Rätsels zu finden sei. Hatte er sich in dem »so nennen wir« des Anfangssatzes als Urheber der denunziatorischen Doppelbenennung »Eduard, Eduard« emphatisch erklärt, so spricht er sich von der Verantwortung für Mittlers inkongruente Benennung los und unterstellt stattdessen denjenigen, »die auf die Namensbedeutungen abergläubisch sind«, die Identität von nomen agentis und nomen proprium, Beruf und Eigennamen. Wer den Zusammenhang zwischen Nomen und Omen überprüfen möchte, lautet die implizite Anweisung, solle sich bei jenen Namensgläubigen erkundigen, denen die Bezeichnung indirekt zugeschrieben wird. Dieser Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung auf den Sprachphilosophen Friedrich Schlegel konnte von jenen Eingeweihten befolgt werden, die mit der philosophischen Etymologie von Über die Sprache und Weisheit der Indier einschließlich des Lehrsatzes: »fast alle [indischen] Nomina propria [sind] bedeutende Epitheta« 104 vertraut genug waren, um die Richtung des ironischen Signals zu erraten. Neben der Sanskritstudie erwähnt auch der Karlsbader Brief vom 22. Juni Schlegels Rezension der Dresdner Vorträge Adam Müllers. Letzteren Essay fand er im selben Heft der Heidelbergischen Jahrbücher gedruckt wie Schlegels Besprechung seiner Werke. Goethe bekennt, daß jene beiden Publikationen eine heftigere Abwehrreaktion ausgelöst hätten als die Besprechung der eigenen Werke:
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Riemer: Mittheilungen über Goethe. In: Härtl: Nr. 38, S. 34. Hervorhebung von Riemer. Vgl. dazu Reinhold Steig: Daniel Engelhard, der Architekt der Wahlverwandtschaften. In: Jb. des Fr. Dt. Hochstifts (1812), S. 285-331. Vgl. Gertrud Reitz: Die Gestalt des Mittlers in Goethes Dichtung, Frankfurt a.M. 1932, S. 31 (Hildesheim 1973). Vgl. Anm. 65.
Die Recension meiner vier ersten Bände hatte ich kurz vorher gelesen, das erste was mir seit langer Zeit von ihm zu Gesicht gekommen war. Sie hatte mir viel Vergnügen gemacht [...]. Allein, da ich nachher eine Recension von Müllers Vorlesungen durchgelesen, Schlegeln selbst gesprochen und sein Büchlein über Sprache und Geist der Indier näher angesehen; so ist meine Zufriedenheit einigermaßen gemindert worden [...] Ich begriff nun erst die Recension meiner Arbeiten und sah wohl ein, warum manches so übermäßi^ins Licht gehoben, anderes in den Schatten zurückgedrängt war [...]. Nicht ohne Grund hatte sich Goethe mehr über Schlegels Rezension von Müllers literarhistorischen Vorträgen geärgert als über die Besprechung seiner eigenen Werke. Während der Tadel auf dieser kritischen Vorbühne in Lob gehüllt wurde, hatte Schlegel jene geschützte Rückbühne als Plattform gewählt, um von dort aus seinen Hauptangriff gegen die Ästhetik der klassisch-frühromantischen Schule zu starten, eine Polemik, die nicht nur selbstkritisch gegen die eigene Vergangenheit, sondern auch aggressiv nach außen gegen den noch lebenden Weimarer Hauptvertreter der »neuen Schule« gerichtet war. Schlegels Camouflage war so geschickt, daß sie von Goethe selbst erst nach Kenntnisnahme der Rezension der Müllerschen Vorlesungen bei der zweiten Lektüre der Besprechung seiner Werke erkannt wurde. Der Tarnungsstil der Sanskritabhandlung und der zum größten Teil anonym veröffentlichten Heidelberger Rezensionen kennzeichnet auch die Schreibweise der Pariser Gemäldebeschreibungen. »Wo die Propyläen in der Europa namentlich erwähnt wurden, geschah das mit Anerkennung«, kommentiert Hans Eichner. »Vor allem aber: Wo die Propyläen nicht namentlich erwähnt sind, dort werden sie nur zu oft zwischen den Zeilen angegriffen.« 106 Im Vergleich zu Schlegels kritischer Methode, die schroff und einseitig« bezeichnete, hatte Adam Müller in lesungen Novalis und Goethe als »Vermittler« und als eine »vermittelnde Kritik« gelobt.107 Dieser Auffassung
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er als »zu seinen VorVorbild für einer »ver-
Goethe an Reinhard, 22. Juni 1808, WA, Abt. IV, Bd. 20, S. 91-92 (Heuscheie: S. 63-64). Eichner, Einleitung. In: KA, Bd. 4, S. XXVII und XXVM. Hervorhebung v. Eichner. F. Schlegel: A. Müller-Rezension, KSF, Bd. 3, S. 149. Hervorhebung von Schlegel. 95
mittelnden Kritik« hielt nun Schlegel mittels seiner Rezension eine »philosophische Kritik« entgegen, als eine nicht nur »vermittelnde« und »versöhnende«, sondern vielmehr als eine »gemeinschaftliche oder mittlere«. 108 Eine derartige, zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht streng unterscheidende moralische Kritik (wobei als »böses Prinzip« der Pantheismus identifiziert wurde) sei »an und für sich weder polemisch noch irenisch«, sondern »beides zugleich, das eine oder das andre«.109 Eine nur »versöhnende« Kritik, wie dies das Geschäft der weitabgewandten, »in ihrer einsamen Idealität verschwebende[n] literärischefn] Welt« gewesen sei, 110 verwarf Schlegel als der durch napoleonische Okkupation bedrängten Gegenwart »unwürdig und nicht mehr angemessen«. 1 " Statt der »vermittelnden Kritik« bedürfe die besetzte Nation »eines neuen Mittelgliedes« zwischen tätiger und geistiger Lebenssphäre." 2 Für andre Nationen ist dieses Mittelglied vielleicht das Theater; mag das aber auch für andre Nationen und Zeiten wirklich das beste Mittel zu diesem Endzwecke sein, und gewesen sein; für uns Mitglieder der zerstreuten deutschen Nation, kann unser, erst im Werden begriffnes Theater, welches selbst noch der Leitung der Kritik bedarf, das nicht, kann es wenigstens nur auf eine sehr untergeordnete Weise sein. Zu jener Führungsrolle als »verbindendes Mittelglied« zwischen Literatur und Gesellschaft sei die »philosophische Kritik« berufen, als dessen Hauptvertreter Schlegel sich selbst auserkoren hatte." 4 Was sich weniger als die geistige Führerschaft einer neuen, patriotischmoralphilosophischen Bewegung anstelle der als obsolet verworfenen ästhetisch-pantheistischen Kultur der klassisch-frühromantischen Epoche. Die Peroration dieser mit forensischem Pathos verfaßten Buchbesprechung kulminierte in einer lauten Anklage gegen die »müßige Vielschreiberei und Spielerei« und die politische Abstinenz
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Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd. Ebd., S.
149 und 151. Hervorhebung von Schlegel. 152. 150. 156. 150. 151 und 152.
der »neuen Schule« und in einem Aufruf zu einer »neuen Epoche der deutschen Literatur«." 5 So rief der selbsterwählte Rhetor der Nation: Es ist ein Anblick, der zum Teil mit Staunen, zum Teil mit Wehmut erfüllt, wenn man [...] die ersten Geister der Deutschen, fast ohne Ausnahme, seit mehr als fünfzig Jahren einzig und allein in eine bloß ästhetische Ansicht der Dinge so ganz verloren, fast alle nur damit beschäftigt sieht, bis endlich jeder ernste Gedanke an Gott und Vaterland, jede Erinnerung des alten Ruhms und mit ihnen der Geist der Stärke und Treue meist, bis auf die letzte Spur erloschen war. [...] Diese ästhetische Träumerei, dieser unmännliche pantheistische Schwindel, diese Formenspielerei müssen aufhören. 116
Der Ton der Proklamation war agitatorisch und provokativ. Der »vielschreibende« Formenspieler wurde aufgefordert, sich und sein Theater unversehens der ideologischen Leitung des philosophischen Kritikers unterzuordnen." 7 Man wird bemerkt haben, daß Schlegel es vermeidet, den zurückgewiesenen Vermittler-Begriff durch geläufige Synonyme wie >Mittelsmann< oder >Mittler< zu ersetzen und stattdessen seine Selbststilisierung jedesmal mit der metaphorischen Periphrase »verbindendes Mittelglied« umschreibt. Überhaupt weisen die Schlegelschen Konversionsschriften eine große Vorliebe für die >MittelgliedUnd doch!wie diese [Stände]
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Ebd., S. 156. '16 E U . Ebd. 117 Angesichts des ausgesprochen tendenziösen Charakters und der weitschweifigen und oft sachfremden Schreibweise dieser und der vier anderen für die Heidelbergischen Jahrbücher geschriebenen Rezensionen muß die Bewertung dieser Schriften im Nachwort der Studienausgabe als »wichtigste kritische Leistungen« F. Schlegels als eine Überschätzung in Zweifel gezogen werden (Vgl. Behler. Chronik zu Friedrich Schlegels Leben vom 10. März 1772 bis zum 12. Januar 1829, KSF, Bd. 6, S. 171).
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durch Sitten und Gesetze vereinbar sind, so gibt es auch in unserer chemischen Welt Mittelglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist.A und 0< der neutestamentlichen Offenbarung aus dem durch Gedankenstriche hervorgehobenen rhetorischen Mittelpunkt der Besprechung emphatisch herausragt. Der neugeborene Evangelist proklamierte dort mit feierlichem Ernst: - Den eigentlich innern Grund und die allgemeine Idee der ganzen biblischen Ansicht des Verf. enthalten vorzüglich solche Stellen, in denen die Rede ist von der Art, wie die ganze heilige Schrift auch des alten Testaments als auf den alles erklärenden Einheitspunkt sich auf Den bezieht, Einleit. Π., »der zugleich der Verheißne, und der Verheißende war - den alle Offenbarungen Gottes unmittelbar allein zum Gegenstand haben«. Τ. I, S. 508: »Der das Α und das O, die Seele der ganzen heiligen Schrift ist - Er, ohne den das alte Testament ein unaufgelöstes Rätsel bleibt Er, durch den lichthelle Ordnung in die Offenbarungen Gottes eintritt.164 Diesen in die Christusformel gedrängten konfessionellen Kerngrundsatz des Stolbergschen Buches zitierte Schlegel als Beispiel einer Umorientierung der christlichen Exegese weg vom »toten Buchstaben« der historischen Bibelforschung und des lutherischen Biblizismus zurück zum religiösen »Geist« der kirchenväterlichen Heilsgeschichte. Seine konfessionelle Parteinahme war so umstritten, daß sie einen Redaktionsstreit bei den Heidelbergischen Jahrbüchern auslöste, der in der Publikation einer protestantischen Antikritik kulminierte. Daraufhin brach der beleidigte Friedrich Schlegel seine Beziehungen mit der Zeitschrift ab. 165 Seine moralische Verurteilung des 164
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F. Schlegel: Stolberg-Rezension, KA, Bd. 8, S. 95-96. Hervorhebung von Schlegel. Erich Jenisch: Friedrich Schlegel und die Heidelbergischen Jahrbücher. In: Euphorion 23 (1920-1921), S. 601-602; dazu auch der Brief F. Schlegels an den Herausgeber Johann Georg Zimmer, 28. März 1809. In: 115
Goetheschen Romans sollte in den ihm zugewiesenen literarischen Beilagen des Österreichischen Beobachters erscheinen. 166 Im Gegensatz zu den theologischen Turbulenzen um die StolbergRezension ist die sprachkritische Widerlegung, der seine Wahrheitsverkündungen im Medium der Goetheschen Parodie unterzogen wurden, im tiefsten Dunkel geblieben. Eduards Sinnentleerung des >A und 0< war gut dazu geeignet, den Gegner fühlen zu lassen, daß es riskant sein kann, den Geist über den Buchstaben zu setzen. Eine ähnliche metaphorische Verwendung der Christusbuchstaben befindet sich etwa im Jenaer Frühwerk des Parodierten. In dem Verriß, den Schlegel über ein im evangelischen Geist verfaßtes Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studieren wollte von Johann Georg Schlosser, Ehegatten der verstorbenen Cornelia Goethe, veröffentlicht hatte, taucht unter zahlreichen Beschimpfungen eine metaphorische Umfunktionierung des christlichen Symbols auf, die dem ehemaligen Freund und Schwager des angegriffenen Autors wohl nicht entgehen konnte. Schlegel schrieb: »Menschensinn ist das Α und Ο des Verfassers. Wenn das Menschensinn ist: so muß man gestehen, daß der Menschensinn mitunter sehr unsinnig und sehr unmenschlich sein kann!« 167 Es bedarf nur des Kunstgriffs der Buchstabentransmutation, um auch beim Konvertiten Schlegel den höchsten Sinn mit Unsinn zu kontaminieren. Im Hinblick auf die Rezeption der Wahlverwandtschaften sollte noch hinzugefügt werden, daß die Herausgeber der Heidelbergischen Jahrbücher als ersten Friedrich Schlegels Bruder August Wilhelm um eine Rezension von Goethes Roman gebeten hatten. Doch dieser hielt sich von einer öffentlichen Äußerung zurück und leitete stattdessen
166 167
Jenisch (Hrsg.): Briefe von Friedrich Schlegel an Johann Georg Zimmer. In: Euphorion, 13. Ergänzungsheft (1921), S. 49-50; dazu auch die Einleitung von Behler zu KA, Bd. 8, S. CLXIII-CLXV. Vgl. dazu 4.3., Anm. 88. F. Schlegel: Rezension von J. G. Schlossers Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studieren wollte in: J. G. Fichte und
F. I. Niethammer (Hrsg.): Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Bd. 5, Jena/Leipzig 1797. Hervorhebung von Schlegel (DA, S. 437). 116
das Angebot der Redaktion an seinen Bruder weiter. 168 Es ist schon bemerkenswert, daß der romantische Parodieexperte, der die Wortspiele der Don ßaixote-Übersetzung Tiecks einmal mit dem Grundsatz verteidigt hatte, daß »die ganze Poesie ihrer äußern Form nach eigentlich ein Spiel mit Worten« sei, auch im privaten Briefverkehr zu einem Werk geschwiegen hat, dessen Schreibweise und Absicht er so gut wie kein anderer durchschaut haben muß. 169 Eine Folge dieser brüderlichen Diskretion war, daß das kritische Hauptorgan der deutschen Romantik erst 1814 eine Besprechung der
Wahlverwandtschaf-
ten publizieren konnte, als das Buch schon lange aus dem Tagesgespräch verschwunden war. 170
2.5. Das Kelchglasrätsel Mit umgekehrter Sinnrichtung wird an Eduards Kelchglas dieselbe Diskrepanz zwischen Ding und Symbol, Zeichen und Bezeichnetem, Buchstaben und Geist, die sein Spiel mit der chemischen Formel
168
Vgl. dazu die exzerpierten Briefe in: Härtl: Nr. 186, S. 60, Nr. 255, S. 81, Nr. 269, S. 85, Nr. 282, S. 88-89, Nr. 307, S. 113 und Nr. 358, S. 152-153. Sehr aufschlußreich ist A. W. Schlegels verlegener Antwortbrief vom 11. Dezember 1809 an den Heidelberger Verleger Johann Georg Zimmer: »Den Roman von Goethe würde ich lieber meinem Bruder zuweisen, der ja wohl noch mit 8 Bänden von dessen sämtlichen Werken im Rückstände ist. Falls er ihn nicht übernehmen wollte oder könnte, thäte ich es wohl, jedoch müßte ich mir dabey die strengste Anonymität vorbehalten, was überhaupt für die Bücher gilt, bey deren Beurtheilung ich mich nicht ohne Unbequemlichkeit nennen zu können glaube.« (Ebd. Nr. 269, S. 85). Genauso verlegen im Ton, wenn auch wie gewöhnlich viel dreister im Ausdruck liest sich Friedrichs Brief vom 16. Januar 1810 an seinen Bruder: »Die Wahlverwandtschaften finde ich freilich geistreich und dadurch anziehend, aber doch so kalt, das Ende gezwungen, das Ganze zugleich seltsam und gemein. Es gewährt eben wenig Trost noch Freude. [...] Freilich wird es mir der Oesterreichische Beobachter nun wohl nicht erlauben, an den Heidelberger Jahrbüchern noch etwas zu leisten.« (Ebd., Nr. 307, S. 113).
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A. W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 11, S. 422. Vgl. [Adolph Wagner?]: Wahlverwandtschaften-Rezension. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Jg. 7, 12-13 (1814). In: Härtl, Nr. 473, S. 230-245.
170
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exemplifiziert, noch eindringlicher gezeigt. So soll das Monogramm auf dem Kelchglas für die Schicksalhaftigkeit seiner Verbindung mit Ottilie bürgen, nachdem ihre Heranziehung in den Schloßbereich durch seine Interpretation der chemischen Wahlverwandtschaftsformel heruntergespielt worden ist. Statt Sinnentleerung wird hier Sinnüberfüllung demonstrativ hervorgekehrt. Es ist eine der vielen Paradoxien des Romans, daß sein eindeutigstes und an vier verschiedenen Stellen mit großer Insistenz vorgebrachtes Sinnbild nichts anderes als seine Sinnwidrigkeit aufzuweisen hat. Noch bevor Eduard anfängt, die Buchstaben Ε und Ο auf dem Glas mit der Schicksalhaftigkeit seines Liebesglücks mit Ottilie gleichzusetzen, sind die Leser auf die Verkehrtheit seiner Interpretation mit dem Hinweis aufmerksam gemacht worden, daß das Kelchglas in seiner Jugendzeit für ihn geschliffen wurde. Da allem Anschein nach nichts anderes als das Monogramm seines Doppelnamens Eduard-Otto darauf eingraviert war, ist die Identität mit Ottilies Initiale eine bloße Koinzidenz. Ein Symbol, das nur aus der Perspektive einer Romanfigur zum Sinnträger wird, erfüllt keine leitmotivische Funktion und kann auch nur mit großem Vorbehalt als Symbol bezeichnet werden. Stefan Blessin hat diese an Eduards fehlgedeuteten Buchstaben paradigmatisch demonstrierte Einsicht auf die gesamte, mit symbolischen Bedeutungen besetzte Natur- und Dingwelt des Schlosses übertragen, auf Astern, Platanen, Wasser, Lusthaus, und hat damit die antinomisch-ironische Struktur und die »dynamische« Funktion der Romansymbole gegen ihre schicksalhaften Deutungen hervorgehoben. 171 Was allerdings Eduards Kelchglas zu einem Sonderfall unter den vielen bedeutenden Realien des Romans macht, ist die Explizitheit, mit der ein Gegenstand mit Lebenssinn angereichert wird und die Deutlichkeit, mit der die Kluft zwischen Illusion und Realität, zwischen vorgespielter und tatsächlicher Lebenslösung sichtbar gemacht wird. Es besteht ein großer Unterschied zwischen den halb bewußten Ahnungen, Vorstellungen und Hoffnungen, die Charlotte und Ottilie an bestimmte Objekte in ihrer Umgebung knüpfen, so täuschend diese auch sein können, und der Feierlichkeit der Glasbotschaft Eduards. Zu seiner Mittler gegenüber emphatisch ausgesprochenen falschen Weis-
171
Vgl. Blessin: Erzählstruktur und Leserhandlung, S. 50-54 und 123-132.
118
sagung kommt das täglich inszenierte Glasritual und die eigene Selbstverwandlung in ein magisches Zeichen seiner Vereinigung mit Ottilie hinzu. D a ß hier ein repräsentatives zum bestimmenden Zeichen, zum Lebensleitbild erhoben wird, das hat Loisa Nygaard in ihren Ausführungen pointiert dargelegt. 1 7 2 Eduards symbolische Inszenierung der ersehnten Lösung ersetzt die konkreten Schritte zu ihrer e m pirischen Verwirklichung. Sein Zeichenfetischismus nimmt die Erstarrung von Ottilies eigener Lebenssubstanz zum heiligen Bild vorweg. Mit dieser neurotischen Zeichenüberfüllung und dem
Narzißmus
seiner romantischen Hauptfigur hält der Empiriker Goethe seinen Zeitgenossen einen sozialpsychologischen Spiegel vor. W a s die Trennung von empirischem und affektivem Gegenstand bloßlegt, ist nicht so sehr die Leere des Zeichens als vielmehr seine Unechtheit,
seine
vorgetäuschte
Authentizität.
Daß mit
Liebespfand Assoziationen mit Volksliedern ä la König
Eduards
von
Thüle
erweckt werden, hat Geerdts richtig erkannt. Doch fand sein Hinweis wenig Gehör, weil die Betonung des »plebejischen« Charakters des Symbols und seine Stilisierung zum »poetischen Element des Volkstümlichen« im Sinne der Herderschen Theorie des Natursymbols offensichtlich forciert war. 1 7 3 Es trifft zu, daß die Erscheinung des Glases in den Händen eines Maurergesellen mitten in der volksnahen Atmosphäre der Gründungsfeier dem Motiv volkstümlichen Charakter verleiht, aber die Ironie der Darstellung gibt auch die Unechtheit dieser Volkstümlichkeit sofort zu erkennen. Die Geschichte von Eduards Glas thematisiert die Erschaffung eines künstlichen volkstümlichen Symbols. Seine Einführung in die Romanhandlung kündet sich durch eine Inkongruenz an. Es ist schwer zu glauben, daß ein f ü r Eduard und seinen herrschaftlichen Haushalt gefertigter Kunstgegenstand
vom
Maurer als Trinkgefäß benutzt werden kann, u m dann vom Baron aus den Händen eines anderen Arbeiters wieder zurückgekauft zu werden. Mit dem merkwürdigen Vorfall kann es der Erzähler nur darauf abgesehen haben, die Artifizialität des volkshaften Elements evident zu machen. So sichtbar künstlich wie das Glas in Volksmund und -hände
172
Loisa Nygaard: »Bild« und »Sinnbild«. The Problem of the Symbol in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Germanic Review 63 (1988), S. 58-76. 17-1 Geerdts: Goethes Roman, S. 86. 119
gebracht wird, hängt der hohe Wert, den Eduard dem Symbol beimißt, eben von dessen Glauben an seine Volkstümlichkeit ab. Die volkshafte Bescheinigung des Zeichens gilt ihm als Unterpfand seiner schicksalhaften Botschaft. Denn hat etwa die magische Lippenberührung des Maurers nicht sein Namenmonogram in ein magisches Liebeszeichen verwandelt? Brauchtum wird von Eduard genauso beliebig ausgelegt. Der alten Volkstradition entgegen, wonach das zerschellte Trinkgefäß als ein Symbol von Glück und Freude betrachtet wird, sieht er in der Unverbrüchlichkeit des Glases ein gutes Zeichen. Die Todeserinnerungen des Königs in Thüle werden durch sein tägliches Glückbeschwörungsritual ebenfalls zurückgewiesen. Zum Schluß wird noch einmal der Volksbrauch von Eduard so umgedeutet, daß ihm das zerbrochene Glas anstatt Glück und Freude den Tod prophezeit. Je näher man dem Wortlaut des Erzählers kommt, desto klarer wird, daß die Volkstümlichkeit des Glasmotivs nur als Folie dient, von der ihr Mißbrauch perspektivisch abgehoben wird. Daß das Glas nicht als repräsentatives Zeichen sondern als Medium fungiert, wodurch ein falsches folkloristisches Konstrukt verfremdend dargestellt wird, gibt dem Zeichen eine metasymbolische Funktion. Die metasprachliche Zurschaustellung der Inauthentizität signalisiert wiederum die Präsenz der Parodie. Der versteckte literaturkritische Kommentar ist auf die Volksliedthese bezogen, die Friedrich Schlegel in der Vorrede zu seiner Teilausgabe der Trutznachtigall von Spee entworfen und in seinen Heidelberger Rezensionen als spiegelbildliche Antwort auf Goethes Besprechung von Des Knaben Wunderhorn thesenhaft erhärtet hatte. Die Rezension Goethes schnitt das strittige und bis heute umstrittene Thema der Volkslieddefinition an. Angesichts der semiotischsoziologischen Vagheit des Begriffs: »Diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen, ob sie gleich eigentlich weder vom Volk noch fürs Volk gedichtet sind«,174 gab seine Besprechung einem mediumspezifischen Wortgebrauch den Vorzug. Der Begriff »Lied« steht für gesungene Poesie, »Gedicht« für geschriebene. Dadurch wurde die Trennungslinie zwischen der persönlichen Autorenschaft (bekannt, anonym oder verschollen) der >Volkslieder< und ihrer
174
Goethe: Des Knaben Wunderhoni-Rezension. In: HA, Bd. 12, S. 282.
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volkstümlichen musikalischen Überlieferung, zwischen Entstehungund Wirkungsgeschichte aufrechterhalten. Dem entgegnete Schlegel in seiner Besprechung der Werke Goethes, deren Anfangsteil einem umfangreichen Lob seiner Sturm-und-Drang Lieder als Gipfel seiner Poesie gewidmet ist, mit einer Unterscheidung zwischen Gedichten als »subjektiven Ergießungen des Dichters« und »dem gar nicht mehr an dem Dichter klebenden, ganz in sich klaren und beseelten Liede, das aller Eigentum ist«.175 In der neuen Werteskala des früheren Verfechters Goetheschen Prosastils rangierten die einfachsten Volkslieder als »objektive Stimmen der Poesie« über den Gedichten als »bloß persönliche Ergießungen«. Schlegels Hervorhebung des »objektiven« und »unabhängigen« Wirkungsaspekts der Lieder ermöglichte ihm, die Poesie Goethes lobzupreisen, ohne den Poeten in sein Lob einzubeziehen. Die Camouflage der Polemik war so gelungen, daß sie laut erwähntem brieflichem Eingeständnis an Reinhard vom Adressaten erst nach wiederholter Lektüre der Rezension durchschaut wurde. 176 Im Anschluß an die Behauptung der Trutznachtigall-Vonede, die Gedichte des Jesuiten Friedrich Spee von Langenfeld seien »wahrhaft geistliche Volkslieder«, die auch als solche »im Munde und Gesänge des Volkes leben«, 177 erstarrte in Schlegels Goethe-Rezension die Formel des »im Munde des Gesanges« lebenden Liedes zu einer schablonenhaften Definition des Volksliedes. 178 Schlegels folgenreiches Theoriekonstrukt lief auf die Verabsolutierung der mündlichen Überlieferung schlechthin hinaus. Darauf entgegnete die Wahlverwandtschaften-Parodie mit dem bereits vertrauten Kunstgriff der Reifikation metaphorischer Rede, um mit dem Sprachspiel das Dogma des Gegners ironisch zu demontieren. Die Rolle des parodierten Poetologen spielt wiederum die romantische Figur des Eduard. Während der Gründungsfeier wird ein »persönlicher« Gegenstand durch den »Mund« des Volkes von seinem Urheber »abgelöst« und damit von »allen Eigentum«. Die »objektive Stimme« des Volkes »beseelt« ihn und verwischt die Spuren seiner aristokratischen Herkunft. Aus Eduards Perspektive wird er zum 175 176 177 178
F. Schlegel: Goethe-Rezension, KSF, Bd. 3, S. 129. Vgl. WA, Abt. IV, Bd. 20, S. 91-92. F. Schlegel: Vorrede zur Trutznachtigall, KA, Bd. 5, S. 435. F. Schlegel: Goethe-Rezension, KSF, Bd. 3, S. 129, 130 und 134. 121
Volkstalisman, aus dem die Stimme des Schicksals spricht. In der falschen Objektivität dieser volkshaften »Stimme« stellt die ironische Stimme des Erzählers die Subjektivität des Glasbesitzers, seine »persönlichen Ergießungen« demonstrativ zur Schau. So ironisiert die Geschichte der Verwandlung von Eduards Glas zum falschen Symbol Schlegels Verabsolutierung der volkstümlichen Überlieferung. Im versteckten fiktionalen Kommentar wird sein Konzept einer objektiven Volkspoesie als Selbsttäuschung und Fälschung bloßgestellt. Die Technik der Metapher-Belebung dient nicht nur der Bloßstellung der Volksliedtheorie des Konvertiten Schlegel, sondern zugleich auch der Verspottung seiner dichterischen Praxis. Daß im Kelchglasrätsel ebenfalls eine Volksliedreferenz enthalten ist, womöglich wieder die wörtliche Umsetzung eines Bildmotivs, das sollte aus den bisherigen Ausführungen einleuchten. Da von Verdinglichung die Rede ist, empfiehlt es sich, anstatt des Bezeichneten das Zeichen unter die Lupe zu nehmen. Der rätselhafte Gegenstand besteht aus zwei Signifikanten: einem »Kelchglas« und den darauf eingeschnittenen zwei Buchstaben »E und O«. Es sind dies - zu einem erfrorenen Widerstreit hypostasiert - die beiden Leitmotive aus dem Volksliedstreit zwischen Goethe und Schlegel: der Kelch aus den Passionseklogen Spees, und die Kehrreimvokale der Edward-Ballade. Die Hand des Parodisten hat den Christus-Kelch aus den geistlichen Liedern Spees in einen lebendigen Gebrauchsgegenstand verwandelt, während die zwei Lautmotive »E« und »O« der Ballade zu stummen Buchstaben erstarrt sind. Wegen der Bedeutung des »Ton- und Klangelements« 179 in der alten schottischen Ballade kann diese als typisches Beispiel der akustischen Sprachtheorie Herders gelten. Deshalb hatte dieser sie ins Deutsche übertragen und Goethe sie in seiner Knaben WunderhornRezension zum Vorbild archaischer Poesie erhoben. Ihre elementare Ausdruckskraft, deren poetischen Reiz Goethe schwärmerisch pries, gewann sie nicht zuletzt aus der dunklen Musikalität und der rhythmischen Alternanz der E-O Töne des Kehrreims. Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot? Edward, Edward! Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot
179
Goethe: Des Knaben Wunderhorn-Rezension, HA, Bd. 12, S. 270.
122
Und gehst so traurig her? - O! Ο ich hab geschlagen meinen Geier tot, Mutter, Mutter! Ο ich hab geschlagen meinen Geier tot, 180 Und keinen hab ich wie er - O! Aus den E - 0 Buchstaben auf Eduards Kelchglas tönt kein Klang mehr. Sie sind zu stummen und daher beliebig auslegbaren Schriftzeichen geworden. Wären die Buchstaben noch lebendige, bedeutungstragende Laute, dann würde aus dem in den Anfangsbuchstaben seines Doppelnamens wiederholten Motiv der Edward-Ballade ein Warnsignal tönen. Eduard würde sich vor dem Glas wie vor einem Verhängnis scheuen. Aber die Warnung wird überhört, weil die klassisch-frühromantische Klangsprache durch die geistige Eigentlichkeitslehre des Sprachmetaphysikers Schlegel überwunden und zum Verstummen gebracht worden ist. Die »Buchstaben« auf Eduards Glas sind »tot«. Der »tiefe Sinn«, der »Geist« des Symbols allein leben, auf die der parodierte Darsteller des Sprachphilosophen fixiert ist. Daß Eduards Gefäß, aus dem er »täglich« trinkt, um sich »täglich zu überzeugen, daß alle Verhältnisse unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat« (356), nicht als Becher, Römer oder Schale sondern eben als »Kelch« bezeichnet wird, ruft religiöse Assoziationen hervor, die sich angesichts seines rituellen Umgangs mit dem Kelchsymbol verfestigen und deutlich sakramentale Züge annehmen. Stellt sich nicht sein täglich wiederholtes Kommunionsritual mit dem Kelchglas als Mimikry des Abendmahlsakraments dar? Die blasphemische Anspielung beruht auf einer Motiventlehnung aus dem Passionsgedicht Spees, Trauergesang von der Not Christi am Ölberg in dem Garten, das Schlegel in seiner Trutznachtigall neuveröffentlicht hatte. 181 Die im folgenden zitierten Strophen 4. und 6. des Christus im Garien-Gedichts, wo das Kelchmotiv eine prominente Rolle spielt, bringen eine kindliche Paraphrase des Gebets Jesu aus dem Matthäus-Evangelium. 182 In Schlegels Fassung sind die mundartlichen Wendungen des Originals standardisiert.
180
Vgl. 2.1., S. 68-69.
181
182
Vgl. Friedrich Spee: Trvtz-Nachtigall. Hrsg. von Theo G. M. van Oorschot, Stuttgart 1985, S. 200-203. Matthäus: Jesus in Gethsemane, 26, 39-42. 123
Ach Vater, liebster Vater mein, Muß ich den Kelch dann trinken? Und mag es dann nicht anders sein, Laß meine Seel' nicht sinken!
Ach Vater mein, muß es so sein, So will ich's mutvoll wagen, Will trinken rein, den Kelch allein, Dir kann ich's nicht versagen. 183 Wie oben erwähnt, hatte Goethe auf die Vermischung bukolischer und christlicher Symbolik in der Spee-Ekloge des Wunderhorns, wo ebenfalls der Passionskelch angeführt wird, mit schroffer Ablehnung reagiert und die Einbeziehung des barocken Passionsgedichts in die Volksliedanthologie Arnims und Brentanos als unpassend abgelehnt.184 Durch den Doppelbezug auf das Speesche Gedicht und auf den Kehrreim der Edward-Ballade wird die ausgesprochene Sinngebung von Eduards Kelchglassymbol ironisch umgekehrt. Im blasphemischen Ritus des Kelchtrinkens wird eine subversive Handlung inszeniert. Mit dem parodierten Opfersakrament lädt Eduards übermütige Transgression des Volksbrauchs statt Liebesglück ein Verhängnis ein. Das Kelchtrinken des Namensträgers der schottischen Ballade beschwört nicht die Vereinigung mit der Geliebten, sondern deren Opfertod.
183 " F. Schlegel (Hrsg.): Christus im Garten. In: Trutznachtigall, KA, Bd. 5, S. 447. 184 Vgl. 2.1., S. 67.
124
3. Die Bildung des Majors
Nach der Namengebung des Romans stellt sich sein novellistischer Kern, die »unerhörte Begebenheit« der physiognomischen Prägung des »Wunderkindes« durch den Ehebruch der Fantasie, als nächstgrößtes Rätsel des Romans dar. Drei Wiedererkennungsszenen im 8., 13. und 14. Kapitel des zweiten Teils weisen die Leseraufmerksamkeit auf diese naturwidrige Ähnlichkeit des Knaben Otto mit dem Hauptmann und Ottilie hin. Die drei kurzen Szenen sind nicht nur parallel in ihrem Aufbau - im Nacheinander nehmen Ottilie und Mittler, Eduard und schließlich auch der Major selbst den wunderlichen Tatbestand wahr ihr Wortlaut ist auch so fein aufeinander abgestimmt, daß es den Anschein hat, als bitte diese Absichtlichkeit darum, hinterfragt zu werden. Im folgenden sind die relevanten Stellen hervorgehoben: [...] als sie [Ottilie] mit Neigung auf dasselbe heruntersah, erschrak sie nicht wenig an seinen offenen Augen; denn sie glaubte in ihre eigenen zu sehen; eine solche Übereinstimmung hätte jeden überraschen müssen. Mittler, der zunächst das Kind empfing, stutzte gleichfalls, indem er in der Bildung desselben eine so auffallende Ähnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann, erblickte, dergleichen ihm sonst noch nie vorgekommen war. (421) [...] Eduard erblickt es und staunt. »Großer Gott!« ruft er aus, »wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen. Ist dies nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen.« »Nicht doch!« versetzte Ottilie; »alle Welt sagt, es gleiche mir.« - »Wär es möglich?« versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich. Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm standen. Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien. »Du bists!« rief er aus, »deine Augen sinds«. [...](455) 125
Der Major trat herein; [...] Charlotte [...] hub die grünseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bei dem dunklen Schein einer Kerze erblickte er nicht ohne geheimes Grausen sein erstarrtes Ebenbild. (459) Durch die Wiederholung stechen die kursiv gesetzten Ausdrücke [m.H.] »Bildung« bzw. »Bildung des Majors« und »Ebenbild« mit der gemeinsamen Stammwurzel >bild-< hervor. Befremdend wirkt in den auf Eduard und Mittler bezogenen Textauszügen der vom gewöhnlichen abstrakten Wortsinne abweichende, organisch-physiognomische Gebrauch des Substantivs >BildungBildung< des Majors die anderswo zielgerecht eingesetzten Wendungen >GestaltForm< und >Gesichtszüge< des Majors, oder wie bei der Konfrontation des Hauptmanns mit dem ihm ähnlichen Knaben solche Synonyme wie >EbenbildSpiegelbild< oder >Abbild