Goethes Dramatik: Theater der Erinnerung 9783111384894, 9783484660045


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German Pages 298 [300] Year 1989

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung. Theater und Erinnerung
Kapitel 1. O wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe
Kapitel 2. Antiker Form sich nähernd
Kapitel 3. Aus der besten Zeit
Kapitel 4. Theatrum Memoriae
Anhang A. Rekonstruktion des Faust - Schemas
Anhang Β. Literaturverzeichnis
Namensregister
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Goethes Dramatik: Theater der Erinnerung
 9783111384894, 9783484660045

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J matron

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele Band 4

Helmut Schanze

Goethes Dramatik Theater der Erinnerung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schanze, Helmut : Goethes Dramatik : Theater der Erinnerung / Helmut Schanze. Tübingen : Niemeyer, 1989 (Theatron ; Bd. 4) NE: GT ISBN 3-484-66004-x

-

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt.

Vorwort

Die folgenden Untersuchungen sind in den letzten gut zehn Jahren entstanden. Einige Thesen wurden bereits zur Diskussion gestellt, so in Vorträgen in Frankfurt, Aachen, Düsseldorf, Tübingen und Siegen. Den dortigen Kollegen, namentlich Hans Peter Bayerdörfer, Dieter Breuer und Hans Schwerte, sei für ihre Anregungen herzlich gedankt. Der Aufsatz »Szenen, Schema, Schwammfamilie. Goethes Arbeitsweise und die Frage der Struktureinheit von Faust I und II«, erschienen 1984 in der Zeitschrift »Euphorion«, Heft 4, ist in die Untersuchungen in umgearbeiter Form eingegangen. In diesem Zusammenhang danke ich besonders Arthur Henkel für seine Hinweise. Daß diese Studie im Jahr von Goethes 240. Geburtstag erscheinen kann, ist weniger Absicht als Zufall. Daß dies möglich wurde, danke ich den Mitlesern und Mitarbeitern in Aachen und Siegen. Nennen möchte ich hier zuerst Frau Dorothée Achenbach, der die Revision der Druckvorlage und der Aufbau der bibliographischen Datenbank zu danken ist. Hieraus wurde das Literaturverzeichnis ausgewählt; die elektronische Fassung steht für weitere Fragen und zur Ergänzung im Blick auf eine Literaturdatenbank zu Goethe offen. Hans Braam und Heribert Stevens haben die Druckvorlage noch einmal kritisch gelesen; ihre Vorschläge sind dankbar aufgenommen worden. Zu danken habe ich nicht zuletzt auch dem Verleger und den Herausgebern der Reihe »Theatron« für die freundliche Aufnahme des Theaters der Erinnerung'.

Aachen/Siegen im Juni 1989

H. S.

V

Inhalt

Einleitung Kapitel 1.1 1.2 1.3

Theater und Erinnerung

1 O wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe Die jugendlichen Konzeptionen Götz: Lesedrama oder Bühnenstück? Clavigo und Stella: Productionen besonders für's Theater

1.4 Urfaust? Kapitel 2.1 2.2 2.3

2 Antiker Form sich nähernd Iphigenie: Mit der Seele suchend Egmont: Die Geschichte und das kleine Leben Tasso: Was sich ziemt

2.4 Hexenküche Kapitel 3.1 3.2 3.3

3 Aus der besten Zeit Deutliche Baukunst: das Faust-Schema Die natürliche Tochter: Verbotene Erinnerungen Repräsentationen

3.4 Für mich letzte Scene Kapitel 4.1 4.2 43 4.4

4 Theatrum Memoriae Phantasmagorisches Antecedenzien Bergschluchten Der fehlende vierte Akt

1 13 13 34 56 65 71 71 79 93 112 123 123 142 149 158 173 173 189 203 210

Anhang A

Rekonstruktion des Faust - Schemas

221

Anhang B

Literaturverzeichnis

225

Namensregister

289

VII

Einleitung Theater und Erinnerung

Die folgenden Überlegungen zu Goethes Dramatik stellen den Versuch dar, eine poetologische Kontinuität über eine Schaffensperiode von mehr als 60 Jahren hinweg nachzuzeichnen. Zeitlich reicht der Bogen der Darstellung »vom zwanzigsten Jahr« 1769 bis zur Einsiegelung des Manuskriptes zu »Faust II« - 1832. Angesichts des Umfangs des Gegenstands und der zu ihm vorliegenden Literatur sind Einschränkungen geboten. Wenn schon ein Sammelband - wie der von Walter Hinderer herausgegebene,1 - kaum alle Aspekte der Goetheschen Dramatik fassen kann, wieviel geringer sind dann die Möglichkeiten für den einzelnen. Konsequenz hieraus ist, einen bestimmten Aspekt der Dramatik Goethes herauszuarbeiten, der doch ein durchhaltendes Moment für über 60 Jahre seiner poetischen »Production« für das Theater darstellen könnte. Vorzugeben war eine Leitlinie, die sowohl lebens geschichtliche wie poetologische, zeitgeschichtliche wie systematische Überlegungen zum Verhältnis von poetischer »Production«, »Literatur« und »Theater« bei Goethe berührt. Nicht nur bei wiederholter Lektüre, sondern auch aus der Sicht des Zuschauers im Theater scheint es plausibel, den Versuch zu u n t e r nehmen, Goethes Konzept vom Drama als das eines Theaters der Erinnerung zu beschreiben. Erinnernde Vergegenwärtigung leistet das Theater selbst in einem besonderen Sinn, als Kunstanstalt. Nicht, daß hiervon technische Medien, so auch der Buchdruck, ausgeschlossen seien. Die Kunstwelt des Theaters ist es jedoch, die nach rhetorischer Lehre allein den maximalen Direktheitsgrad ermöglicht. Theater ist zu bestimmen als eine Erinnerungsform von besonderer Qualität; und die 1

Walter Hinderer (Hrsg.): Goethes Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart 1980.

1

produktive Wechselwirkung zwischen gebuchtem Dramentext und dem so ausgezeichneten Medium verspricht - nicht nur, aber in besonderer Weise - beim Theatermann Goethe vielfältige Aufschlüsse. Zwar kann auch durch das Buch der Imaginationsapparat angeregt werden, so, daß mancher sich in einem Theater, »was da kommen soll«,2 zu befinden vermeint; das dramatische Ereignis ist jedoch erst dann vollständig, wenn das geschriebene und gedruckte Stück über die reale Bühne geht. Der gewählte Ansatz bei der Erinnerung ist aber nicht nur ein mediengeschichtlicher. Er ist zugleich auch ein produktionstheoretischer. Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, ist, der antiken Mythologie entsprechend, die Mutter der Musen. Gedächtnis, Erinnerung und Vergegenwärtigung sind die Grundfunktionen aller Künste. Noch ungeschrieben ist die Geschichte des Erinnerungsvermögens aus poetologischer Perspektive. Die in Rede stehenden Jahre von 1769 bis 1832 dürften in dieser Geschichte der sinnlichen Wahrnehmung und Erinnerung eine entscheidende Epoche darstellen. Ihre wahrhaft klassische Bedeutung in der Diskussion um das, was Literatur vermag, oder nicht vermag, ist trotz der modernen Medienrevolutionen kaum je ernsthaft bestritten worden. Sie ist, im Gegenteil, im Streit erhärtet worden. Die Goethezeit umfaßt die Jahre der aufsteigenden philosophischen Theorie der Ästhetik, der Lehre von der »sinnlichen Erkenntnis«. Es sind die Jahre der Herausbildung der modernen Literaturkritik und der Litera turgeschichte. Zugleich verfällt die alte Kunstlehre der Rhetorik zu theoretischer Bedeutungslosigkeit. Sie wird aufgehoben im Doppelsinn, überwunden und zugleich geborgen in neuen Theorien der Text Produktion und - rezeption. Produktion und Rezeption von Kunst treten auseinander. Der einsame Künstler steht dem großen, unbekannten Publikum gegenüber. Das poetische Ich arbeitet aus seiner Erinnerung heraus für eine unbekannte Menge. Schwankende Gestalten erscheinen vor seinem inneren Auge. Erinnerung ist der Ort der Wiedervergegenwärtigung. Die dramatische Theorie der Goethezeit ist, wie die Poetologie, von diesem Prozeß betroffen. Goethes dramatische Rhetorik, kaum 2

2

Goethe an Kleist, vgl. WA IV, 20, S. 15.

untersucht bisher, ist gekennzeichnet durch den Vorgang einer historischen Neudefinition der Dramaturgie unter den Bedingungen des modernen, unbekannten Publikums. Folglich wird in theorieorientierten Überlegungen die Frage nach der Transformation der Rhetorik eine entscheidende Rolle spielen müssen. »Bilder«, »Repräsentationen«, wie sie Goethe in Worte zu fassen suchte, sind aber im Wortsinn kaum je rationalisierbar; dies macht ihre besondere Qualität aus. Die Behauptung der von Baumgarten im 18. Jahrhundert begründeten Ästhetik war, daß es auch eine »sinnliche Erkenntnis« gebe. Für diese moderne Kunsttheorie sind Goethes »Bilder« und »Scenen« bis heute der eindrücklichste Beweis. Sie gelten zugleich als Nachweise für die Richtigkeit des Gedankens an eine frei schaffende Einbildungskraft, die keine Grenzen kennen soll. Im Sinne der rhetorischen Lehren von der Entstehung des Sprachwerks muß zur »Konzeption« die »Disposition«, zu beiden die »Ausführung« im Sinne der »Elokution« kommen. Die drei Produktionsstadien sind zu verbinden im »Gedächtnis«, das zugleich die »Aktion« auf der Bühne ermöglicht. Der memorierte Text ist mit allen Künsten des gestischen und mimischen Spiels zu unterstützen. Eine Rechtfertigung der Schöpferkraft und die Verachtung der alten Rhetorik sollten nicht umschlagen in die Behauptung, daß poetische Produktion völlig irrational, dem rekonstruierenden Bewußtsein unzugänglich sei. Poesie hält sich an der Grenze der Rationalität auf, nicht in ihrem Jenseits. Die tragischen Grenzen der Poesie werden von Goethe selbst, so in der Konzeption seiner klassisch - romantischen »Helena«, nachdrücklich und leidenschaftlich thematisiert. Strukturen der Kreativität sind aus den Selbstaussagen und den Berichten über Goethes Schaffensprozeß zu erkennen. Die innere Spannung von sinnlichem Bild und der Rationalität der Sprache sowie deren Rückübersetzung aus dem Text in das Theater lassen sich aufgrund der von Goethe gegebenen Hinweise genauer beschreiben. Der menschlichen Fähigkeit der Erinnerung wird dabei eine Mittlerrolle zwischen »Sinn« und »Verstand« zugestanden. Nicht mehr sinnlich sind die Erinnerungen, aber auch nicht Begriffe. In der Imagination nähert sich das Gefühl dem Begriff, ohne in ihm aufzugehen. Im dramatischen Text, der Vorlage, werden Erinnerungen zur Sprache gebracht, gebucht, rationalisiert, im Theater werden sie

3

erneut versinnlicht, wieder aufgerufen zum Nutzen und Vergnügen des Zuschauers, sie entfalten ihre heilend - kathartische Wirkung. Das Theater gibt den gebuchten Imaginationen Wort und Geste, und damit Leben zurück. Es regt erneut die Leidenschaften auf, die entschwunden schienen. Als »Mann des Theaters«3 nutzt er dessen klassische Möglichkeiten bis an die Grenzen des Schaubaren, immer auf »Aufführbarkeit« bedacht. Die folgenden Überlegungen sind gegliedert nach Stadien in der Produktionsgeschichte der Goetheschen Dramen. Dabei wird in den Einzelanalysen die topische Gültigkeit der antiken Lehre von den fünf »Partes«, den Phasen oder Stufen bei der Bearbeitung einer Rede, systematisch unterstellt: Invention, Disposition, Elokution, Memoria und Aktion. Im Sinne einer Interdependenz und Simultaneität der Stufen - der »allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden« (Kleist) - wird zugleich versucht, diese Begriffe und ihre bei Goethe gebrauchten Äquivalenzen an den problematischen Stand der rhetorischen Kunstlehre um 1800 heranzuführen. So werden jeweils systematisch Fragen nach der »Konzeption«, nach dem gattungsmäßigen »Plan«, nach der sprachlichen »Ausführung« und nach dem »Theater« als dramatischer Aktion gestellt. Gemäß der Leitlinie tritt die poetologisch neudefinierte »Memoria« in das Zentrum der Überlegungen. Zunächst gilt bei Goethe als Memorialform noch der traditionelle Vers oder dessen Durchbrechung, das ebenso artifizielle Extempore der natürlich - bewegenden Rede. Zu den Formen des populären Theaters mit ihren Reihungsstrukturen treten die klassisch - antiken Aufbaumuster und Sie geben den szenischen Imaginationen Form und Festigkeit. Mit der Jahrhundertwende jedoch stellt sich die Frage nach der Memorialform neu. Goethe hält nun seine Erinnerungsbilder, die ausufernden Imaginationen, in poetologischen »Schemata« als Dispositions - und Erinnerungsformen fest, die unabhängig sind von traditionellen Aufbauformen. Im Alter nutzt er die festgehaltenen Gestalten zur vollbewußten Produktion. Über die einzelnen Epochen der Produktionsgeschichte von Goethes Dramen ließe sich streiten; und selbst die Festlegung des Punktes, an 3

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Walter Hinck: Goethe - Mann des Theaters. Göttingen 1982.

dem eine Konzeption nicht mehr nur im Kopfe fertig ist, sondern real auf dem Papier festgehalten wird, birgt philologisch - historische Probleme, die nicht immer eindeutig gelöst werden können. So ist die Folge der Kapitel als Vorschlag zu lesen, als eine Art Idealgeschichte poetischer Produktion, die faktisch immer wieder in Brüchen und Abbrüchen verläuft. Produktionshemmung, Fragmentierung, Revision, Neuanfang sind neben der Behauptung von festen, durchgehaltenen Konzeptionen kennzeichnend für Goethes dramatisches Gesamtwerk. Dies gilt vor allem für das Werk, dessen Entstehung und problematische Einheit als »Theatrum Memoriae« die Grenzdaten für die folgenden Überlegungen setzt: für die Tragödie von »Faust«. Die »Zueignung« zu »Faust« bereits thematisiert das Theater der Erinnerung. Der Dichter, wie er im Vorspiel auftritt, ist ein Einsamer gegenüber der Menge; die Rhetorikverachtung in Szenen des ersten Teils steht auf den Zeilen. Das Stück als Ganzes birgt eine immanente Poetologie, die Brüche des historischen Schreibprozesses sind in es eingeschrieben, und seine Ausführbarkeit wird zur Probe der neuen poetischen Theorie erinnernder Vergegenwärtigung. Wenn also die folgenden Kapitel jeweils Abschnitte über »Faust« enthalten, das letzte Kapitel zur Gänze diesem Werk gewidmet ist, so ist dies nicht nur der Disposition dieser Teilgeschichte der Erinnerung zuzuschreiben, sondern auch der Sache selber, die ein Mindestmaß von Komplexion in der Darstellung fordert. In einem Kapitel war der eminente Fall eines Theaters der Erinnerung, so »Faust« gemäß dem leitenden Aspekt, nicht zu verhandeln. Goethe lädt, um in der Gerichtsmetapher seines dramatischen Hauptwerks zu bleiben, sich selbst mit »Faust« immer wieder erneut vor das Tribunal der Erinnerung, revidiert Urteile und kommt zu neuen Schlüssen. Der sehr ernste Scherzprozeß um Luzifer und die Klage der ungetauften Kinder aus dem Zwischenreich zwischen Himmel und Hölle, die zur Grundkonzeption des Werks gehören dürften, begleiten und quälen ihn bis ins höchste Alter. Und es wird den Punkt gegeben haben, wo er erkennt, daß er in dieser »kleinen Welt« nicht Beklagter und Richter zugleich sein kann, daß er sein poetisches Verfahren öffnen, die poetische Appellation aufgeben muß, um zu einem Schluß zu kommen.

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Ist »Faust« die paradigmatische Konzeption für Goethes Theater der Erinnerung, so läßt sich doch die Entwicklung dieser Konzeption nur aufgrund der Gesamtheit der Goetheschen Produktionen für das Theater darstellen. Die im Erinnerungstheater aufsteigende Welt der Gestalten wird dadurch reichhaltiger, komplexer. Figurvarianten treten auf. Durchgehende Handlungsmotive erscheinen. Ähnlichkeiten werden erkennbar. In ihrer Breite und Fülle ist die Figurenwelt Goethes zwar mit der Shakespeares nicht vergleichbar. Sie ist aber doch von jener allegorischen Vielfalt, die nicht zuletzt den Reiz der Theaterwelt ausmacht. Das erste Kapitel ist den jugendlichen Produktionen gewidmet. Aus Leben und Lektüre, festgehalten in einem Sammelsurium täglicher Notizen, die Zufall und Absicht unter dem Titel »Ephemerides« aufbewahrt haben, lösen sich um 1769 einige fortwuchernde »Conceptionen«, von denen eine bereits kurz darauf die schreibende Welt erschreckt: die des Ritters mit der künstlichen Hand. Weniger aber ist es das »Bild« selber, als die anarchisch - rückwärtsgewandte Form erinnerung, die literarischen Skandal und Erfolg beim Theaterpublikum auslöst. Davor und daneben schreibt Goethe Stücke für ein Theater, das für ihn ganz real die erstrebte »Schaubühne« seiner »Conceptionen« darstellt. Goethe nutzt traditionelle Genrevorgaben. Im Schäferspiel »Die Laune des Verliebten« erfüllt er die vorgegebene Rokokoform eines gesellschaftlichen Spiels. In den »Mitschuldigen« erweist er seine Gestaltungsfähigkeit in der so seltenen Spezies des »deutschen Lustspiels«. In »Clavigo« baut er nach einem »Memorial« ein Trauerspiel, wie es die Zeit nach Lessing erwartete. Der Problemfall der »Stella« mit seiner Unentschiedenheit zwischen der Tragödie der Gegenwart und dem Glück der Erinnerungen demonstriert die Problematik der Gattungstrennung nach dem Ausgangskriterium. Im Gang der Überlegungen müssen die kürzeren Produktionen Goethes für das Weimarer Liebhabertheater, so auch die Singspiele, im Hintergrund bleiben. Die vier Leittexte des zweiten Kapitels sind »Iphigenie«, »Egmont«, »Tasso« und »Faust. Ein Fragment«. Sie thematisieren die Erinnerung; ihre mythenschaffende Funktion steht in Rede. Die Aufregung des Ichs durch Erinnerungen bezeichnet den Stand der aufgeklärten Einsicht Goethes in die Natur des poetischen

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Vermögens in den 80er Jahren. Es sind prekäre Situationen, in die der Erinnernde gerät, ob in bezug auf die »verteufelt humane« Iphigenie, die ihren Rückkehrtraum verwirklichen will, ob als Handelnder im politischen Leben wie Egmont, der sich eine private, tragische Utopie aufgebaut hat, ob als Poet am Hofe wie Tasso, der sich in dem, was sich ziemt, rhetorisch im »Aptum«, versieht, ob als gelehrter und liebender Faust, der sich den magischen Prozeduren einer Verjüngung unterzieht, um eine ungelebte Vergangenheit zurückzugewinnen. Das Stück von »Egmont« ist, nach Goethes eigener Aussage, bereits 1774 »im Kopfe fertig«. Es spezifiziert die »Geschichte«, eine besondere kollektive Erinnerungsform, deren Raum Goethe mit dem »Götz« betreten hatte, nachdrücklich als »politische Geschichte«. Der Text des Stücks erscheint erst 1788, am Vorabend der großen politischen Umwälzung, als eminenter Fall »erneuerter Production«, der Macht poetischer Erinnerungsarbeit. Der persönliche Hintergrund des »Tasso«, der »Tragödie des Dichters«,4 scheint so evident, daß es sich lohnen mag, unter dem Aspekt der Erinnerungsthematik dieses Stück gegen den Strich, auf seine traditionellen Momente hin zu lesen. Hier zeigt es sich, daß »Tasso« in viel deutlicherer Weise ein Stück mit frühmodernem Hintergrund ist, also dem »Faust« näher steht, als dies von der modernen Sprache her erscheinen mag. So ist das Hermetische und das Emblematische dieses Stücks als besondere poetische Form der artifiziellen Memoria herauszuarbeiten. Das eigentümliche Zurückschrecken Goethes vor einer Vollendung des »Faust« unter den Prämissen einer persönlichen Poetologie, aufgrund derer er immer sich selber einsetzen muß, um zum Abschluß zu kommen, ist gesondert zu thematisieren. Hier gerät die magische Geniepoetik, die Goethe in Italien in einer Art Wiedergeburt zurückzugewinnen glaubt, an ihre reale Grenze. Im Spiegel der Erinnerung vermischen sich die Zeiten: Gegenwart wird Vergangenheit, Vergangenheit Zukunft. Ein altes poetisches Bild, das mit dem Namen »Helena« versehen ist, wird erstmals aus einer mythischen Vorvergangenheit in die römische »Hexenküche« heraufgeholt. Die paradoxe Folge der erneuerten italienischen Produktion ist im Falle 4

Vgl. Wolfdietrich Rasch: Goethes »Torquato Tasso«. Die Tragödie des Dichters. Stuttgart 1954.

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des »Faust« das Fragment. Unter den Bedingungen des Hexen einmaleins gibt es für den aufgeklärten Poeten als Konsequenz offensichtlich nur den Abbruch. Solche Erinnerungen sind nicht mehr auszuführen ohne die psychisch - reale Drohung des Selbstverlustes. Das dritte Kapitel beschreibt die poetologischen Bedingungen der Zeit um 1800, der »besten Zeit«. Sie ist zugleich die Zeit des Wissenschaftlers Goethe. Das hier erstmals explizit auftretende Verfahren mit »Schemata« oder »Figuren« als den Werkzeugen der Hervorbringung und Erinnerung markiert einen Umbruch in der Produktionsgeschichte vom »genialen« über den formsuchenden zum »klassischen Goethe«. Es bezeichnet zugleich einen Wendepunkt von den »vorwissenschaftlichen« Methoden der sogenannten »weißen Magie« zu neuzeitlicher, auf Empirie begründeter Wissenschaft und Poetik. Goethes poetisches Verfahren der »zarten Empirie«5 hält einen Mittelweg zwischen synthetisch-produktiver und analytisch-wissenschaftlicher Methode ein. Daß diese von Goethe später als die »beste« Zeit bezeichneten Jahre für die Produktion des »Faust« wieder mit einem scheinbar definitiven Abbruch der Publikation enden, macht, zusammen mit den zeitgeschichtlichen Progressen und Regressen um 1800, die Grenzen der poetischen Erinnerungslandschaften umso nachdrücklicher bewußt. So muß auch die dramatische Rede der »besten Zeit«, die den Theaterleiter in Konflikt mit den jugendlichen Konzeptionen brachte, gegen den Strich gelesen werden. Goethe rettet im Falle des »Faust« die jugendliche »Conception« in die Erinnerungswelt des hohen Alters. Zwischen Konzeption und Ausführung tritt das »Schema« als Memorialform. Als Disposition dient nicht mehr allein die traditionelle Gattungsvorgabe der Akte, der Einheit der Handlung, die Goethe ohnehin mehr als einmal durch Nutzung populärer Verfahren der Szenenreihung durchbrochen hatte, sondern die bewußte Wiedergewinnung individueller, themenbezogener Ordnung. Das »Schema« aber bleibt verborgener Produktionsschritt und wird mit der Ausführung überholt. Goethes Klassizismus um 1800 erweist sich produktionstheoretisch als der paradoxe Versuch, über das traditionelle Konzept der Gattung hinaus ein Mittelglied in den 5

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Herman Meyer: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte. Stuttgart 1963, S. VII.

poetischen Schaffensprozeß einzuführen, das »Production mit völligem Bewusstsein« ermöglichen soll. Die historischen Voraussetzungen dieses Produktionsschritts in den Gedächtnis- und Erinnerungstheorien verschiedenster Provenienz, von der Magie bis zur aufgeklärten Enzyklopädie, sind zu erörtern. Die Texte nach 1800 können als problematische Beispielsreihe für produktive Versuche mit »Schemata« gelesen werden. In der »Natürlichen Tochter« wird das Experiment veranstaltet, die Umwälzung als Thema mit der individuellen Form als »generisches« Schema zu verbinden, ein Versuch, der in der Ausführung letztlich scheitert. »Paläophron und Neoterpe«, nach schematischer Methode scheinbar aus dem Stegreif produziert, zeigt den Streit der Alten mit den Jungen, der Gedächtnislosen mit den allzu Bedächtigen, der als ein Stück der »alten bildenden Kunst« poetisch repräsentiert wird. Die »Pandora« - Konzeption, in einem Schema niedergelegt, geht das Thema der verborgenen Hoffnungen gegen die mythologische Tradition positiv an. Pandorens Gefäß muß erneut geöffnet werden. Und in der Friedensfeier »Des Epimenides Erwachen«, zu der ein schematischer Entwurf offiziell vorgelegt werden mußte, sind es die Dämonen der Erinnerung, die, poetisch gebändigt, durch Kunst »gefaßt« werden können. Zu beobachten ist, wie der formale Produktionsansatz sich mit der Thematik verbindet, die Erinnerungsform mit dem Thema der Erinnerung. In die Epoche des »Schemas« gehört auch der Abschluß des »Ersten Theils« der Tragödie von »Faust«. Der klare Bauplan, das »ausführliche Schema« des gesamten Stücks, ist festgehalten für zukünftige Ausführung. Mit der Teilung des »Ganzen« und der Veröffentlichung des »Ersten Theils« der Tragödie ist mehr als nur eine Fragmentierung verbunden. Goethe gibt einen »Theil« des »Ganzen« an die Öffentlichkeit. Was der andere »Theil« sein sollte, läßt sich aus Notizen der Jahre nach 1800 erschließen: Dem »romantischen« Faust sollte ein »klassischer« folgen, an den die Ansprüche des »Verstandes« zu stellen waren. War der erste Teil »individuell«, sollte der zweite »gebildet« sein. Die Voraussetzungen für dieses eminente Vorhaben sind erst in den zwanziger Jahren, nach einer neuen Wiedergeburtsreise, einer Erinnerungsreise an Rhein und Main, gegeben. In den Jahren um 1818

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findet Goethe, im Paradigma der Lyrik, eine neue Produktionsform der universellen Aneignung. Das Konzept der »Weltliteratur« kann er mit der großen Werkkonzeption der später so genannten »Ausgabe letzter Hand« auch für das dramatischen »Hauptgeschäft«, den »Faust«, fruchtbar machen.6 Ist die »Helena« erstes Zeichen der erneuerten Produktion, so treibt sie den poetischen Klassizismus in »wiederholter Spiegelung« auf die Spitze und läßt ihn in sein romantisches Gegenstück umschlagen. Diese Öffnung ist Voraussetzung für die endliche Vollendung der Tragödie von »Faust«. War das Produktionsprinzip des ersten Teils des »Faust« die Schöpfung aus dem Ich, so ist das Prinzip des zweiten das der Schöpfung aus der Welt der Überlieferung. Gerade deren unbefragte Selbstverständlichkeit für die Goethezeit macht den zweiten Teil so unverständlich für das 19. Jahrhundert wie für unsere Gegenwart. Goethes Innovation, die moderne Mythologie des Ichs, versinnlicht im »Ersten Theil«, wird heute als Tradition angesehen. Was Goethe dagegen als »Bildung« voraussetzt, kommt dem heutigen (und vielleicht doch auch schon dem damaligen Leser) als verlorene humanistische Bildungsfracht vor. Hier käme es also darauf an, die Selbstverständlichkeiten des 18. Jahrhunderts vor denen des 19. zu retten, konkrete Erinnerungsarbeit am Text zu leisten. In der stufenweisen Vollendung des »Zweiten Theils« erscheint die Memoria in vielfacher Reflexion, in wiederholter Spiegelung mit ihren Versagungen und Grenzen, ihrer weisen Übersicht und als Mittel serener Produktivität. Sind die Bedingungen für den Abschluß des »Zweiten Theils« schon sechs Jahrzehnte zuvor gelegt und liegt das Verfahren des Schaffens bei »völligem Bewusstsein« mit dem Schema schon erprobt vor, so bleibt doch die Aufgabe, den »schwankenden Gestalten« mit Hilfe von »festumrissenen« »Figuren« endlich jene sinnliche »Ausführung« zu geben, welche die Bühne fordert. So wird nicht nur die »Helena«, unter Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart (Tod Byrons in Missolunghi) ausgeführt; es werden auch die Szenen am Kaiserhof und, im Zusammenspiel 6

Vgl. hierzu auch: Cyrus Hamlin: Literary History and Tradition: The importance of Goethe's 'Weltliteratur' for Comparative Literature. In: Actes du Vile Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée. S. 8 7 - 9 1 .

10

aktueller Polemik und antiker Vision, die Bilder der »Classischen Walpurgisnacht« beendet. Der »alte« Schluß wird in die Szene der »Bergschluchten« gesetzt, und eine Allegorie des modernen Krieges wird als komplexes Ineinander von biblischen Reminiszenzen und modernen Tendenzen im noch fehlenden vierten Akt sinnlich gestaltet. Zwar resigniert die poetische Imagination vor den Bedingungen der Bühne der Zeit und hofft auf eine bessere - um 1800 noch hätte Goethe solche Hoffnungen als abstrus bezeichnet und »Gegenwart« eingefordert - , die Lebensgeschichte erzwingt, die schaffende Imagination ermöglicht den literarischen Abschluß. »Faust« wird eingesiegelt, erscheint unspielbar. Trotzdem: Goethes Hinweise auf die Spielbarkeit des »Faust« sind ernstzunehmen. Eingelöst jedoch sind die Hinweise des Textes für die Bühnengestalt bis heute kaum. Der Text fordert zu immer neuen theatralischen Vergegenwärtigungen heraus. Diesem Ziel sollten die Vorarbeiten des Philologen letztlich dienen. Damit folgt das Buch ausdrücklich der Forderung Albrecht Schönes, die alten Texte in der Gegenwart neu zu lesen, mehr noch, schaubar zu machen. Dennoch soll nicht in Konkurrenz zu diesem Versuch getreten werden. Jede neue Lektüre hat ihre besonderen Bedingungen und Voraussetzungen. Die hier gestellte Frage nach Goethes romantischer Rhetorik zielt auf den Versuch, ein Stück Rhetorikgeschichte zu schreiben. Sie fordert zugleich, Modelle dramatischer Rede konkret aus der Produktionsgeschichte seines Werks heraus zu entwickeln. Die Konzentration auf den Aspekt eines Theaters der Erinnerung ermöglicht die Vielfalt der methodischen Angänge im Bereich der Analyse von Text und Kontext. Einige editionskritische Anmerkungen (Versuch der Rekonstruktion des viersätzigen Aufbaus der »Classischen Walpurgisnacht«, Aufhebung der Dreiteilung des »Helena« - Aktes) ergeben sich aus den poetologischen Überlegungen. Sie dienen aber auch der Textsicherung, die als notwendige Vorstufe der Textanalyse zu gelten hat. Begriffs- und Bildentwicklungen in den Dramen sind zu verfolgen. Gerade die Fremdheit der Goethetexte in sprachlicher Hinsicht erfordert die genaue Untersuchung der Wörter im Kontext.

11

Wird Ausführung als Elokution verstanden, so muß den philologischen Verfahren eine besondere Bedeutung zugemessen werden.7 Rezeptionshistorische

Beobachtungen werden dort einbezogen, wo

sie in die Umarbeitungsprozesse der Dramen eingegangen sind, vor allem aber dann, wenn Goethe, als Rezipient und Dramaturg seiner Stücke, sich selbst historisch geworden ist. Die knapp gehaltenen Interpretationen stützen sich auf eine gewiß unzulängliche Verarbeitung einer fast uferlos erscheinenden Sekundärliteratur. Soweit möglich, sind Hinweise auf die Forschung am Ort aufgenommen. Wo keine direkten Zitate angebracht sind, werden zu jedem Stück im Anhang einschlägige Titel genannt. Damit ist zugleich die Ausschnitthaftigkeit betont, die jede neue Beschäftigung mit der Dramatik

Goethes

sich

eingestehen

muß.

Wenn

gegenüber

der

Forschung analytisches und textkritisches Vorgehen eingefordert wird, so

bedeutet

Interpretation

dies

nicht

heißt jedoch,

Abstinenz im

Kontext

von der

Deutung Gattung

überhaupt. des

Dramas,

dessen sinnliche Wiederherstellung im eigenen Medium, des Theaters nämlich.

Und

hier

kann das

Philologenbuch

ohnehin

nicht

mehr

konkurrieren.

7

Der Versuch genauerer Lektüre, auch gegen den Strich, konnte sich u. a. stützen auf Vorarbeiten, die sich mit der elektronischen Edition dieser alten Texte ergaben. Vgl. Randall Jones, Stephen Sondrup: Goethe. Werke. Hamburger Ausgabe. In: Elektronische Bibliothek zur deutschen Literatur. Hrsg. v. Randall Jones, Helmut Schanze und Winfried Lenders. Tübingen 1989ff.

12

Kapitel 1 O wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe

1.1 Die jugendlichen Konzeptionen Sauere Arbeit der dramatischen Form Lessings Frage nach der »saueren Arbeit der dramatischen Form« im 80. Stück der »Hamburgischen Dramaturgie« vom 5. Februar 1768 gehört zu jenen poetischen Unmöglichkeitserklärungen, deren Antwort die Überschreitung einer traditionellen Grenze sein mußte. »Die dramatische Form«, so Lessing, sei »die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen läßt; wenigstens können in keiner anderen Form die Leidenschaften auf einen so hohen Grad erreget werden Interpretiert man diese Stelle vom traditionellen Stilhöhenkonzept der Rhetorik her, so impliziert sie eine Rücknahme des Dramatischen als Mittel zum Zweck des »Docere« und damit auch jener stilistischen Dämpfung, die zum literarischen Programm der Aufklärung gehörte. Dem »Drama« wird die Stilhöhe des »Pathos« zugewiesen, ja eine Exklusivität der Gattung für diese Stilhöhe postuliert. Die poetische »Arbeit« jedoch bleibt für Lessing eine »sauere«; poetische Produktion braucht den Poeta doctus; Gelehrsamkeit und den Geruch der Lampe, Hervorbringung mit Bewußtsein. Lessing wird mit seinem Konzept des bürgerlichen Pathos Vorbild einer Generation. Seine »Emilia Galotti« liegt aufgeschlagen auf dem Pulte Werthers. Nicht zu folgen vermögen die Jüngeren dagegen seiner 8

Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann. Stuttgart 2. Aufl. 1963, S. 313.

13

Vorstellung von der poetischen Arbeit. Schreiben gehört ihnen zur selbstverständlichen Lebensäußerung wie Einatmen und Ausatmen. 1775 wagt der Verfasser der »Leiden des jungen Werthers«, der travestierende Jurist aus Frankfurt, eines der »Genies«, denen das Schreiben so leicht zu fallen scheint, daß sie mit einer fabelhaften Produktivität glaubten renommieren zu müssen, den provozierenden Satz, daß ihm das Dramenschreiben so wichtig sei wie das tägliche Brot. Mehr noch, Schreiben selbst komme einem Herauswerfen von Krankheit, Katharsis im Wortsinn genommen, gleich: »O wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe, ich ging' zu Grund.«9 Goethe hat bereits dramatische Praxis genug, als er diesen Satz von seiner genialisch - notwendigen Produktivität niederschreibt. 1767 hatte er mit dem Spiel von der »Laune des Verliebten« die gängige Norm des Schäferspiels erprobt. Um Pathos war es hier nicht gegangen, eher um das Vergnügen des »mittleren Stils«. Gleichwohl: Stücke zum V e r gnügen zu verfertigen, bedeutet ein hartes Stück Arbeit. Der Schwester gegenüber spricht er noch von der »Arbeit« der dramatischen Form: Ich arbeite nun schon acht Monate daran, aber es will noch nicht pariren, ich lasse mich nicht dauern ganze Situationen zwei, dreimal zu bearbeiten, weil ich hoffen kann, daß es ein gutes Stückchen mit der Zeit werden kann, da es sorgfältig nach der Natur copirt ist, [...].10

Metapher der Produktion ist die der Zähmung, des Gehorsams, den der Stoff der Form gegenüber zu erzeigen habe. Das zu bearbeitende Element ist die »Situation«, die sorgfältig »nach der Natur« zu »copiren« ist. Der Widerspruch schäferlicher Künstlichkeit, aus der die Situationen genommen sind, gegen einen modernen Naturbegriff muß bearbeitet werden. Der Begriff der 'Kopie' »nach der Natur« läßt nach dem zugrundeliegenden Produktionskonzept fragen. Offensichtlich sieht es Goethe hier noch als selbstverständlich an, den Blick des Zeichners und Malers gegenüber einer besonderen natürlichen Staffage einzunehmen. Die Rhetorik des Schäferspiels, von Gottsched als A n t i - O p e r beschrieben, muß Leichtigkeit kunstvoll erzeugen, darf aber nicht

9 10

Graf II, 4, Nr. 3879. Graf II, 3, Nr. 2742.

14

»künstlich

im

Ausdrucke

sein«. 11

Denn

die

Oper

sei

schlechthin

unnatürlich, tauge nichts, da sie der Natur nicht »ähnlich« sei.12 Nach der Natur »copiren«: dieser Satz beschreibt das Verfahren, das der Erzeugung dieser Leichtigkeit dient. Nichts zu tun hat es mit moderner, technischer Reproduktion. Durch »Kopie«, »copia«, durch das Prinzip der rhetorischen Fülle, wird das Drama der Natur und ihrer Fülle ähnlich gemacht, »nach der Natur copirt«. Auch wenn dies scheinbar naheliegen mag: es geht nicht um ein Abbildungsprinzip, sondern um ein Erzeugungsprinzip. Die Fabel, deren Situationen in Hinblick auf Erzeugung von Fülle zu bearbeiten sind, ist sicher nicht originell zu nennen. Es ist die der Kur der Eifersucht. Wenn in »Dichtung und Wahrheit« später von Goethe der Eindruck vermittelt wird, hier habe sich der Dichter selbst von der Krankheit der Eifersucht geheilt, das Stück sei eine Selbstkur gewesen, so entspricht dies späterer Optik. Unter dieser Prämisse kann der Theaterleiter sein Stück 1805 auf die Weimarer Bühne bringen. Er erinnert zugleich daran, daß er 1779 die Rolle des Eridon, »Laune«

zu heilen war, bei

einer

Liebhaberaufführung

in

dessen Weimar

selbst übernommen hatte. Die Betonung der rhetorischen Arbeit im alten Sinn zielt dagegen auf Anerkennung, ist vielleicht sogar gegenüber der Schwester

ein

wenig

den

Renommisterei

des

überlegenen

Bruders,

der

mit

Vorschriften und der Attitüde des Regelpoeten wohl vertraut ist. Ohne Fleiß kein Preis; und Fleiß müsse auch der Dichter zeigen. Von

»genialischer«

Produktion

kann

also

1769

noch

nicht

gesprochen werden, auch wenn Goethe später Züge der dramatischen Selbstreinigung

in

diesem

vorzüglichen

Stück

der

dramatischen

Konvention entdeckt. Überhaupt bleibt das »pièce bien fait« für ihn das

hohe

Ziel,

dem

sich

auch

die

»genialische«

Produktion

unterordnen muß. Daß aber gerade an diesem Stück in »Dichtung und Wahrheit« die neue »Richtung« dichterischer Produktion festgemacht wird, ist eher dem poetologischen Umfeld als dem Vorwurf und der Ausführung gerade dieses Stücks zuzuschreiben.

11

12

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 4. Aufl. Leipzig 1751. Neudruck Dannstadt 1962, S. 772ff. Gottsched, a.a.O., S. 739.

15

Daß es mit dem Dichten in der Tat nicht so schnell gehen konnte, wie es die Stürmer und Dränger, gegen die fleißigen Regelpoeten des 18. Jahrhunderts gerichtet, wahrhaben wollten, zeigen die mehrfachen Umarbeitungen des Jugenddramas, das den Forderungen der Lessingschen Dramaturgie nach ungekünstelter Naturwahrheit am nächsten kommen mag: der »Mitschuldigen«. In der Tat ist auch hier die »sauere Arbeit« dokumentiert. 1769 war eine erste Fassung hergestellt, einaktig, noch mit deutlichen Motivationsmängeln. Die zweite Fassung, ebenfalls 1769, löst diese Problematik, indem sie ein Stück Naturwahrheit durch Theaterwahrheit, durch das Konzept der stehenden Figur, ersetzt. Sie macht aus der zwielichtigen Hauptfigur, der Figur des Söller, einen traditionellen, spielbaren Buffo. Seine Schlechtigkeiten sind in einer Notlage begründet. Diese buffoneske Fassung konnte 1776 in Weimar auf das Liebhabertheater kommen. Die dritte Fassung von 1780 -1783 tilgt wiederum, im Sinne einer klassizistischen Wendung, die populär - buffonesken Elemente. Was als Verbesserung des Textes intendiert ist, läßt sich als Spur der Produktionsgeschichte zurücklesen: Gewinne und Verluste sind zu verzeichnen. Gegenüber dem Schäferspiel, das nicht »pariren« will, ist die Ausarbeitung der »Mitschuldigen« von der Erfüllung eines Fabelkerns abhängig, der im moralischen Sinn prekär genannt werden muß. Söller, die Hauptperson, der diebische Wirt, kommt ungestraft davon, der Verführer Alcest spielt zum Schluß noch den Großmütigen und die treu - treulose Sophie ist letztlich auch keine Tugendheldin. Was die stehenden Figuren in der zweiten Fassung an Distanzbildung dem Stoff gegenüber leisten, wird in der dritten Fassung, nach dem Verzicht auf die buffoneske Struktur, zum offenen Problem. Tolerierbare Lässigkeiten der Figuren sind nun den Charakteren, den Hauptpersonen, die das Stück tragen sollen, individuell zuzurechnen. Sie machen einen moralischen Makel aus. Die buffonesken Situationen des alten Spiels sind auf dem öffentlichen Theater unter den neuen Bedingungen der Naturwahrheit kaum mehr hinnehmbar. Goethe tilgt und bessert dort, wo die Angreifbarkeit seiner Figuren zu offensichtlich wird: Diebe, Verführer, Ehebrecherinnen können nicht ungestraft davonkommen. Am 17. Januar 1805 schreibt er an Schiller:

16

Mich dünkt, die Hauptsache kommt darauf an, daß man das, was allenfalls noch zu direct gegen die Dezenz geht, mildere und vertusche, und daß man noch etwas Heiteres, Angenehmes, Herzliches hereinretouchire.13

Das Bild von der Retusche nimmt das alte Produktionsprinzip auf: Das alte Bild ist noch einmal zu überarbeiten, einige Elemente des Bildaufbaus sind zu tilgen, andere hinzuzufügen. Die Grundstruktur des Buffonesken, die Wiedererkennbarkeit der Figur, die dem Ganzen 1769 den festen Hintergrund gegeben hatte, ist dabei kaum noch brauchbar. Sie widerspricht der Dezenz, dem Schicklichen, da sie vom Publikum nicht mehr im Sinne des 'So machens alle' verstanden und gebilligt werden kann. So gewinnt das Stück an Fülle, verliert aber an der Festigkeit erkennbarer Struktur, entfernt sich dem Theater, auf dessen neue Forderungen es einzugehen trachtet. Poetische Tagebücher Anfang 1770 aber kommt ein Moment in Goethes poetische Produktion, das als Antwort und zugleich als Widerlegung der Anfrage des Hamburgischen Dramaturgen gedeutet werden kann. Ex post muß es epochal genannt werden, so bescheiden es sich zunächst ausnimmt. Goethe legt Grund für eine neue Art und Weise der persönlich - genialen Produktion, die keineswegs mit der poetologischen Tradition bricht, von ihr aber in neuer Weise Gebrauch macht. Im 7. Buch von »Dichtung und Wahrheit«, in dem Goethe die literaturhistorische Situation seiner Anfänge beschreibt, wird diese Epoche markiert: Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußern Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen.14

Alle Arbeiten, die er seitdem geschrieben habe, seien demnach nur »Bruchstücke einer großen Confession«.15 Sie seien Teile eines 13 14 15

Gräf Bd. II, 3, Nr. 3230. WA I, 27, S. 109f. WA I, 27, S. 110.

17

kritischen Bekenntnisses, erweitertes Tagebuch. Kann man die frühen Stücke von diesem Programm weitgehend ausnehmen, so ist doch nach seinen Anfängen im Tagebuch zu suchen. Tagebuchnotizen sind streng ichbezogene Literarisierungen.

Inventionen

im Doppelsinn,

Erfindung

und Fund, erscheinen gemischt. Sie sind vorläufig im Blick auf das kathartische

Ziel,

das

in

der

traditionellen

Poetik

erst

dem

ausgeführten und aufgeführten dramatischen Werk zugewiesen wird. Die

Epoche

faßbar.

des

Goethe

überschrieben

poetischen Tagebuchs wird

legt

sogenannte

»Ephemerides«,

erstmals um

Kollektaneen

an.

ist erhalten. Der Inhalt

Ein

1770 Heft,

ist vielfältig,

tagesbezogen. Die Summe, die aus einem trockenen Kommentar, wie dem

von

Hanna

Fischer - Lamberg

in

der

Ausgabe

»Der

Junge

Goethe«, gezogen werden kann, aber ist schlagend. Nahezu alle großen Dramen

Goethes

Tagebuch,

in

»Cäsar«,

der

Folgezeit

Hinweis

und

»Iphigenie«.

sind

Verweis

Überdies

ist

im

Kommentar

angeführt: mit

zu

diesem

»Faust«,

Exzerpten

»Götz«,

aus

dem

Grundlehrbuch für vernünftiges und wirksames Reden, zugleich dem Grundbuch

der

europäischen

Literaturtheorie,

Quintilians

»Institutio

oratoria«, ein Theoriestück verarbeitet, das für Goethes Theorie der poetischen Produktion einen durchhaltenden Stellenwert bis ins hohe Alter

aufweist. Goethes

poetische

Rhetorik und ihr Verhältnis zur

Tradition stehen in Frage. So gehören eine Reihe von Notizen zu Beginn des Heftes zu den ersten

überhaupt

faßbaren

schriftlichen

Fixierungen

der

»Faust«-Thematik. Und am Schluß des Heftes, datierbar 1771, finden sich

Notizen

zu

Fehdewesen

»Götz«-Thematik.

Das

und

geplante,

Faustrecht, aber

also

nicht

zur

ausgeführte

»Cäsar« - Drama findet sich hier zuerst fixiert. Eine Reihe von Notizen lassen sich auf den Plan eines »Sokrates« - Dramas beziehen. In den »Ephemerides«

taucht

auch

zuerst

die

Thematik

der

»farbigen

Schatten«, also der Kern der »Farbenlehre« auf. Andere Notizen lassen sich

auf

»Clavigo«

beziehen.

Über

eine

Anmerkung

in

Lessings

»Laokoon« läßt sich bereits ein Hinweis auf den Stoff zur »Iphigenie« ableiten. 16

16

18

Vgl. hierzu die Anmerkungen von Hanna Fischer - Lamberg. In: Der junge Goethe I, S. 442ff.

Eine produktionstheoretisch wichtige Lektürespannung ergibt sich in diesem frühesten Tagebuch. Sie kann auch noch für »Dichtung und Wahrheit« Gültigkeit beanspruchen: hier das Studium des Grundbuchs des geregelten Redens, Quintilians »Institutio oratoria«, dort eine ungeregelte Fundgrube von Einfällen, Notizen, Zitaten - Keime zu Werken, was sich allerdings erst in der Rekonstruktion von Entstehungsgeschichten ergibt, auch dann, wenn hier die rekonstruierende Phantasie des Interpreten diese oder jene Linie ziehen mag, die so und genau so mit Sicherheit nicht gezogen werden kann. Auch ist die Quellenlage durch Goethes eigene Überlieferungs Steuerung, seine gelegentlichen »Autodafés«, nicht gerade die beste. Was Goethe verbrannte, kann nur noch spekulativ rekonstruiert werden. Die Erhaltung der »Ephemerides« ist Ausnahme, nicht Regel. Goethe bewahrte sie sicher nicht nur auf, weil sie, aus heutiger Sicht, Anfangspunkte einer Vielzahl von Entstehungsgeschichten doku mentieren, eher, weil sie noch viel Unausgeführtes enthielten. Die Blickumkehr, die Goethe nach 1800, als er sich selbst »historisch« wurde, mitvollzog, ist zu beachten. Was für den rekonstruierenden Interpreten wichtig erscheinen mag, kann für den Autor längst abgetan, zur Vernichtung bestimmt sein. Bei dem für den Autor wichtigen, die Überlieferung sichernden Rest ist eine Relevanzprüfung ex post ausgeschlossen. Textphilologisch gesehen, sind verständlicherweise aber nur solche Notizen von Interesse, für die die weitere Ausführung, bis hin zum fertigen Werk dokumentierbar ist. Das postulierte Interesse des Dichters an den noch unausgeführten Teilen einerseits, die feststellbare entstehungsgeschichtliche Bedeutung der Tagebücher andererseits, lassen die generelle Frage nach der poetologischen Funktion dieser Tagebücher für Goethe zu. Hier konvergieren die produktionstheoretischen und die entstehungs geschichtlichen Fragen. Das Faktum der Nicht - Vernichtung der »Ephemerides« läßt auf Aufbewahrung des Nichtausgeführten im Sinne einer späteren Nutzung schließen. Gestützt wird die Annahme durch den Plan der Vervollständigung der dichterischen »Konfession« in der Autobiographie. Die philologischen Nachweise früher Entstehungs schichten auf der anderen Seite machen das Alter der Konzeption

19

wahrscheinlich. Die Blickumkehr vom Autor zum Interpreten kommt zu einem Indifferenzpunkt, der auch methodisch von größtem Interesse ist. Qualifiziert man die »Ephemerides« - im Unterschied zu traditionellen Tagebüchern, für deren Führung Goethe die Anregung, ja Nötigung im pietistischen Kreis der Susanna von Klettenberg gefunden haben dürfte - als eine Aktivität in poetologischer Absicht, so weist diese auf einen Bereich, der in der rhetorischen Kunstlehre der »Topik« oder »Inventio« zugewiesen wird. Der andere Quintilian Damit erhält auch die spezifische Rhetorik - Rezeption in den »Ephemerides« einen Stellenwert, der eine genauere Analyse der Quintilian - Exzerpte erfordert. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, daß sich die Exzerpte nicht auf die ganze »Institutio« beziehen, sondern nur auf die Bücher I, II und X.17 Buch I handelt von den Grundlagen der Rhetorik, dem ersten Unterricht, der Grammatik als Vorschule, der Notwendigkeit enzyklopädischer Kenntnisse und der ersten Begegnung mit Vortrag und Gebärde. Buch II erörtert den Zeitpunkt des Beginns von Rhetorikunterricht, die Aufgaben und die Qualifikation des Lehrers, die vorausgesetzte Lektüre, die Übungsthemen, das Auswendiglernen, die Rolle der Naturanlagen, den Nutzen der Deklamation, den Nutzen des Rhetorikstudiums und das Verhältnis von Studium und Begabung. Buch X handelt von der »copia rerum et verborum« - der »Wortfülle«, dem zentralen poetologischen Konzept des »Copirens« also. Hier interessieren den jungen Goethe Quintilians Nachahmungstheorie und das Kapitel über die Übung des Stils. Die gezielte Lektüre kann begründet werden: Handelt es sich doch bei den ausgelassenen Büchern ohnehin um den »klassischen« Lehrstoff jeden Rhetorikunterrichts, also um die technischen Regeln des guten Redens. Subjektive und objektive Voraussetzungen müssen dagegen mit dem Schüler nicht erörtert werden, sie gehören zur Theorie des

17

20

Goethes Vorauswahl findet einen modernen Nachfolger in der Ausgabe von Teilen der »Institutio« durch James J. Murphy, der ebenfalls Buch I, II und X für Unterrichtszwecke ausgewählt hat. Vgl. Quintilian on the Teaching of Speaking and Writing. Translations from Book One, Two, and Ten of the Institutio oratoria. Ed. by James J. Murphy. Carbondale: Southern Illinois University Press, 1988.

Lehrens. Bei den Auszügen handelt sich um die Rhetorik für den Rhetoriker. Aufschlußreich ist zudem die Art und Weise, in der Goethe mit dem rhetorischen Grundbuch umgeht. Die Lektüre geht gegen den Zusammenhang, zerstört ihn und stellt einen anderen Quintilian her. Was Goethe in den »Ephemerides« notiert, ergibt zugleich einen neuen Zusammenhang, der das Lehrgebäude in spezifischer Weise deutet, in Ansätzen sogar umdeutet. Ausgezogen sind Stellen, die man offensichtlich so bei Quintilian nicht erwartet. Ausgezogen sind Stellen, die den Lehrbuchcharakter sprengen und in poetologischer Absicht brauchbar erscheinen. Die Notizenkette setzt ein mit einer Stelle über mißgestaltete und mißgebildete Kinder, deren geringe Zahl von Quintilian als Beweis für die in den Kindern schlummernden Zukunftserwartungen gewertet wird.18 Daß Fehler, »vitiae« in rhetorischer Terminologie, zugleich »virtutes« der Rede, d. h. Wirkmittel, sein können - werden sie kunstgemäß eingesetzt - , gehört zum Grundbestand rhetorischer Lehre. Im Zusammenhang der Lektürenotizen gewinnt der Satz jedoch eine Bedeutung, die über die rhetorische Problematik der Lizenz hinaus geht. Er zielt in Richtung auf eine erst im 19. Jahrhundert so ausgeführte »Ästhetik des Häßlichen«.19 Es folgt eine bei Quintilian eher beiläufige Bemerkung über die Notwendigkeit philosophischer Bildung bei den Ammen und bei den Kinderwärtern (»nutrices«, »paedagogi«), wobei letztere entweder ganz oder gar nicht gebildet sein sollen. Von Schaden ist nach Quintilian vor allem die Halbbildung.20 Goethes Lektüre aktualisiert das Fundstück. Einbaubar wäre der paradoxe Satz eher in eine Erziehungstheorie Rousseaus als in den klassischen Schulzusammenhang humanistisch - rhetorischer Bildung. Die in den »Ephemerides« folgende Lesefrucht ist bereits den Überlegungen zur Rolle des grammatischen Lehrstoffs entnommen, 18

19

20

Quintilian: Inst. Orat. (ed. H. Rahn) I, 1, 3: »Vielmehr liegt in dieser ziemlich geringen Anzahl gerade der Beweis dafür, daß in den Kindern die höchsten Zukunftserwartungen schlummern.« Übers, v. H. Rahn, I, S. 15. Vgl. Günter Oesterle: Entwurf einer Theorie des ästhetischen Häßlichen. Ein Reflexions- und Veränderungsversuch moderner Kunst. In: Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit. Hrsg. v. Helmut Schanze. Darmstadt 1985. S. 397-451. Quintilian: Inst. Orat. I, 1, 8.

21

welche die umfassende Theorie der »Mutationes«, der vier Änderungskategorien der Adjektion, Detraktion, Immutation und Transmutation und das für die Sprachauffassung der Goethezeit zentrale Prinzip der »Analogie« enthalten.21 Das von Quintilian selbst bereits zitierte Aperçu über den Unterschied zwischen »lateinisch reden« und »grammatisch reden« zielt auf Normdurchbrechung und gilt Quintilian nur als »hübsches Beispiel« für dieses schöpferische Prinzip.22 Goethe exzerpiert den immanenten Widerspruch zur Schul tradition. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle der historischen Sacherklärung steht der im Tagebuch folgende Auszug, der inhaltlich später im szenischen Zusammenhang des »Faust« (in der Szene »Nacht«, Vers 534ff.) kritisch gegenüber einer falschverstandenen Rhetoriktradition aufgenommen wird: Ein Zeichen der Armseligkeit und der Wichtigtuerei sei es, allem nachzugehen, was irgendwann und irgendwo von Historikern angemerkt worden sei. Es beenge und überlaste nur den Geist, der besser für andere Dinge frei bleiben solle. Manches nicht zu wissen, so Quintilian, zähle zu den Vorzügen des Lehrers - ein paradoxer Satz im Kontext eines Lehrgebäudes, das, wie kaum ein anderes, auf Bildungswissen als Voraussetzung des Redens abhebt.23 Im folgenden exzerpiert Goethe aus den Überlegungen zum Verhältnis der Rhetorik zu den anderen Künsten, insbesondere dem zur Musik. Der Hinweis, daß gerade Sophrons Werke unter dem Kopfkissen Piatons bei dessen Tode gelegen haben sollen, ist wieder ein Paradox: Aristophanes hatte den Sophron als ungebildeten Demagogen verhöhnt. Gemeinsam mit den Vorgängernotizen ist wieder der Spott auf den Bildungsstolz impliziert.24 Daß, nach Pythagoras, die bloße Änderung des musikalischen Rhythmus eine besondere, dämpfende oder erregende Wirkung haben könne, unterstreicht die ästhetischen Verstehensmöglichkeiten der »Ungebildeten«. Sie ist aber

21 22 23 24

22

Quintilian: Quintilian: Quintilian: Quintilian:

Inst. Inst. Inst. Inst.

Orat. Orat. Orat. Orat.

I, I, I, I,

5, Iff. und I, 6, 16. 6, 27. 8, 18. 10, 17.

auch ein indirekter Hinweis auf das besondere Interesse des 18. Jahrhunderts an der musikalischen Affektenlehre.25 Quintilians Plädoyer für die Fülle des Lehrstoffs, die weniger ermüde als das Einerlei, weist bereits in den Zusammenhang der aus Buch X der »Institutio« notierten Stellen.26 Daß das eigene Denken das Grübeln - die Sinne oft mehr beeinträchtige als körperliche Anstrengung, ist ebenfalls ein polemisches Argument.27 In den Bereich der paradoxen Zufallsbemerkungen ist auch der Hinweis Quintilians auf den fülligen Körper, den das Alter strecke, zu verweisen. Systematisch gesehen zielt das Argument auf »Fülle« (copia) im rhetorischen Sinn. Die Körperfülle wird an dieser Stelle von Quintilian als Aussicht auf kräftigen Wuchs gedeutet, Frühreife dagegen als zukünftige Magerkeit und Schwächlichkeit. Im übertragenen Sinn kann dies auch für Dichtung gelten.28 Das folgende Exzerpt findet sich nicht an dem im Tagebuch angegebenen Ort, an dem übrigens gegen ein (antikes) Geniewesen polemisiert wird, sondern erst in Buch II, 13, 9. Dort geht es um das Ausmaß der wissenschaftlichen Rhetorik. Die »Starrheit« der angeblich natürlichen Haltung bei Werken der bildenden Kunst wird aus der Notwendigkeit des Abweichens von einer überkommenen festen Ordnung begründet, ein antirhetorisches Argument, das in ausgearbeiteter Form bei Kleist im Aufsatz »Über das Marionettentheater« wiederkehrt.29 Die Schlußbemerkung dieser Reihe zielt auf die Frage nach dem Verhältnis Piatons zur Rhetorik. Subtil wird der ironische Charakter der platonischen Geringschätzung der Rhetorik herausgearbeitet, ebenso 23

26 27

28

29

Quintilian: Inst. Orat. I, 10, 32., zur Frage nach Musik und Rhetorik vgl. auch Helmut Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16. -18. Jahrhundert. Würzburg 1940. Vgl. Quintilian: Inst. Orat. I, 12, 7: »soviel leichter ist es, vielerlei zu verrichten als auf die Dauer einerlei.« Quintilian: Inst. Orat. I, 12, 11: »Zudem n i m m t gewiß, wie wir immer wieder feststellen konnten, körperliche Ermüdung die Frische unserer sinnlichen Wahrnehmung weniger mit als das eigene Denken.« Quintilian: Inst. Orat. II, 4, 5 - 6 : »So kommt bisweilen ein etwas fülliger Körper zustande, den dann das Wachstum straffen mag. Hier liegt die Aussicht auf kräftigen Wuchs; denn Magerkeit und Schwächlichkeit für die Zukunft pflegen zu drohen, wenn schon an einem kleinen Kind gleich alle Glieder voll ausgeprägt sind.« Heinrich von Kleist: Werke. Hrsg. v. H. Sembdner. 3. Aufl. München 1964, Bd. II, S. 338ff.

23

aber auch sein Plädoyer für eine »echte« Rhetorik; der Erzfeind der Rhetorik wird als ihr Beförderer stilisiert.30 Goethe notiert auch diese systematisch gesehen widersprüchliche Stelle. Die Auszüge aus dem »Copia«-Buch (Buch X) sind vordergründig im Zusammenhang des Quintilianischen Klassizismus zu lesen. Eine für den ausgebildeten Redner entscheidende Fähigkeit sei die »firma facilitas«, die Mühelosigkeit, die sich erst in vollendeter Ausbildung ergebe. Die feste Leichtigkeit ist ein Zug der idealen Frauengestalten Goethes. Sie ist das eigentliche Ziel der rhetorischen Ausbildung. Ist dieses Ziel erreicht, so wirken nicht mehr die rhetorischen Abbilder und der »ambitus« der Dinge, das Äußerliche - so der Text, wie ihn Goethe exzerpiert - sondern die Sache selbst.31 Ist sie absolviert, wird der Redner zum Künstler. Das Ziel ist letztlich doch paradox: Rhetorik macht sich selbst letztlich überflüssig, hebt sich auf. Der Satz, daß es leichter sei, mehr zu leisten als das genau Gleiche, polemisiert gegen eine sklavische, mißverstandene Imitatio - Lehre.32 Das Problematische dieses Satzes wird von Goethe im Tagebuch eigens angemerkt. Gegen das bloße Imitieren richtet sich auch der folgende Auszug: Ein Abbild, die bloße Oberfläche, die »Haut« einer Sache genüge nicht.33 Das verdächtig Leichtfallende müsse immer wieder der Bearbeitung mit Hilfe des »Iudiciums« unterworfen werden. Sich besinnen auf die eigenen Fähigkeiten mache den guten Redner: Niemand solle besser reden wollen als er könne.34 Auch hier wird Quintilian gegen die Quintiiiens des 18. Jahrhunderts aufgerufen.35 Goethe stellt in seinen Auszügen aus Quintilian das Undogmatische, das Lebensweltliche dieses Schulautors heraus, die Rhetorik gegen ihre Rezeption verteidigend. Es ist dies die gleiche Tendenz der Lektüre, wie sie noch in »Dichtung und Wahrheit« mehr als vierzig Jahre später für die Periode des Studiums vor Straßburg, im Kampf mit dem pedantischen Vater, gegen das Kompendienwissen und 30 31 32

33 34 35

24

Quintilian: Inst. Orat. II, 15, 26ff. Quintilian: Inst. Orat. X, 1, 1. Quintilian: Inst. Orat. X, 2, 10: »Hierzu kommt, das es meistens leichter ist, mehr zu leisten als das Gleiche; [...].« Quintilian: Inst. Orat. X, 2, 15. Der junge Goethe I, S. 432f., Quintilian: Inst. Orat. X, 3, 7. Vgl. zur Quintilian - Rezeption Marianne Wychgram: Quintilian in der deutschen und französischen Literatur des Barocks und der Aufklärung. Langensalza 1921.

für die Lebensfülle behauptet wird. Hier, in »Dichtung und Wahrheit«, zitiert er aus der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« von 1770 Sätze, die auch vom anderen Quintilian sein könnten: [...] wir haben eine Menge Begriffe und allgemeine Kenntnisse nöthig, so wohl für die Wissenschaften als für das tägliche Leben, die sich in keinem Compendio erlernen lassen; [...J.36

Und umgekehrt führt er neben Aristoteles, Cicero und Quintilian dafür an, daß Erfahrung vor dem Wissen stehe.

Longin

Sie führten mich in eine an Kunstwerken unendlich reiche Welt [...] und überzeugten mich nur allzu lebhaft, daß erst eine große Fülle von Gegenständen vor uns liegen müsse, ehe man darüber denken könne, daß man erst selbst etwas leisten, ja daß man fehlen müsse, um seine eignen Fähigkeiten und die der andern kennen zu lernen.37

»Im Leben« müsse der Redner sich bilden. Goethes »Lesefrucht« aus Quintilian gilt auch für den Dichter: [...] überall aber trat Natur und Kunst nur durch Leben in Berührung, und so blieb das Resultat von allem meinem Sinnen und Trachten jener alte Vorsatz, die innere und äußere Natur zu erforschen, und in liebevoller Nachahmung sie eben selbst walten zu lassen.38

Topik und Memoria Das »Waltenlassen« »ungeheurer Stoffe« mit unabschätzbarem »Reichtum« wird für die Frankfurter Zeit seit 1770 behauptet. Die »Ephemerides« halten einiges von diesem absichtlich - unabsichtlichen »Waltenlassen« fest und lassen eine nähere Bestimmung des ersten poetischen Produktionsschrittes zu. Dabei sind, wie bei der umdeutenden Lektüre Quintilians, auch Unterschiede zur rhetorischen Lehre festzuhalten. Quintilians Äußerungen über die »Inventio«, die Kunst des Findens von Gedanken, gehen von einem gegebenen Thema aus. Goethes »Ephemerides« dagegen machen Ernst mit den Begriffen des Fundes 36 37 38

WA I, 27, S. 226. WA I, 28, S. 148. WA I, 28, S. 149.

25

und der Erfindung. Sie gleichen schon dem, was später Friedrich von Hardenberg als sein »Allgemeines Brouillon«39 und Heinrich von Kleist als sein »Ideenmagazin«40 bezeichnet haben; Hardenberg folgend: sie stellen einen Ideengenerator dar, bei dem es nicht auf die Einheit des Themas, sondern auf die Vielheit der zu notierenden Einfälle für mögliche Dichtungswelten ankommt. Lothar Bornscheuer hat dieses Verfahren in seinem Versuch der Rekonstruktion des Begriffs einer modernen Topik als spezifisch für die Neuzeit bezeichnet.41 Wilhelm Schmidt - Biggemann hat überdies die neuzeitliche Tradition der »Topica universalis« aufgearbeitet, sodaß es hier nur darum gehen kann, die Fortführung dieser Tradition beim jungen Goethe plausibel zu machen und die spezifisch poetologische Bedeutung dieser »Topica« für Goethes Poetologie herauszuarbeiten.42 Dabei kann die nachweisbare Lektüre der Jahre 1769 bis 1771 in Beziehung gesetzt werden zu den von Wilhelm Schmidt - Biggemann für die Tradition der »Topica universalis« zitierten Werken. Der Vergleich zeigt Parallelen, die nicht nur von einem allgemein bildungsgeschichtlichen Horizont her, sondern auch aufgrund der besonderen Interessen Goethes im »zwanzigsten Jahre«43 an den hier verhandelten Fragestellungen einer Schöpfungs- und Erfindungskunst erklärt werden können. Was sich von einer rein stofflichen Betrachtungsweise als ein Sammelsurium von Privatliebhabereien, Absurditäten, Okkultismen, Nebenwegen, frommen Schwärmereien ausweist, oder wie immer die abwertenden Bezeichnungen lauten mögen, (denen dann auch positive Bezeichnungen entgegenstehen können, je nach Perspektive der Darstellung), ordnet sich im Blick auf ein schöpferisches Verfahren, das den Zufall bewußt mit einbezieht. Die Methode des poetischen Tagebuchs macht das Biographische,

39

40

41 42

43

26

Novalis: Schriften. Hrsg. v. P. Kluckhohn und R. Samuel. Bd. 3., 2., nach den Handschriften erg., erw. u. verb. Aufl. in 4 Bänden, Stuttgart 1968, S. 208ff. Vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. H. Sembdner. Bd. 2, S. 597. H. Sembdner hat in seiner Briefausgabe (Bremen 1959) den Versuch unternommen, das »Ideenmagazin« durch typographische Hervorhebungen in den Briefen zu rekonstruieren. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt/M. 1976. Wilhelm Schmidt - Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983. Vgl. Graf II, 2, Nr. 1910.

Erlebnishafte, Kontingente des Lebens für den poetischen fruchtbar.

Prozeß

Schon die erste flüchtige Notiz aus den »Ephemerides« »Paracelsus von Schülern, in einer weichen Schale«44 - erweist sich, genauer besehen, als Produkt von äußerer Anregung und mentaler Operation, als Kristallisationspunkt in einer Wahrnehmungsflut, dem sich dann in der Zeit - im Falle des »Faust« »über sechzig Jahre«45 die Stadien der Bearbeitung und Ausführung anschließen. Verhandelt wird in der Bezugsschrift die Frage der Bildungsfähigkeit: Was ist höhers und löblichere an einem Auditore vnnd Discípulo dann das er in einer weichen Schale lige / die da nicht erherte / biss er seiner Disciplin gewachsene Flügel erlangt hab, / und alsdann der Rutten entrinne.46

Die Notiz im Tagebuch ist nur ein erster Merk oder Erinnerungsposten, von der Formulierung weniger klar, klarer schon von der inneren Vorstellung her, was allerdings nur ex post, vom Prozeß der gelungenen Verbalisierung aus behauptet werden kann. Daß es sich hierbei im wesentlichen um mentale Operationen handelt, zeigt schon die von den Zeitgenossen bemerkte Fähigkeit Goethes, daß er z. B. das »Caesar« - Drama noch in Weimar rezitieren konnte, ohne daß doch eine Zeile über die in der »Ephemerides« notierte Konzeption zu Papier gebracht worden sein dürfte. Böttiger notiert am 28. Mai 1797 - zu einem Zeitpunkt, der in den folgenden Untersuchungen im Zusammenhang mit der Anlage des »Schemas« zu »Faust« noch näher betrachtet werden muß - über seine produktive Gedächtnisleistung: Goethe arbeitet seine Gedichte alle erst im Kopfe aus, wo er sie fest eingeprägt mit sich herumträgt. Sind sie s o ' weit vollendet, läßt er sie niederschreiben, und da kann er die niedergeschriebenen noch acht Tage lang feilen und verbessern.47

Von außen betrachtet ist diese Bemerkung richtig, wenn sie auch, von der hier in Rede stehenden Tradition und Praxis der Schöpfungskunst 44 45 46 47

Der junge Goethe I, S. 426. Graf II, 2, Nr. 1981. Paracelsus: Opera I. Straßburg 1603. 1. Tractat, S. 205; Zitat nach: Der junge Goethe I, S. 509. Goethes Gespräche. In vier Bänden hrg. von Wolfgang Herwig. Zürich 1965ff., I, S. 670.

27

her nachdrücklich in Zweifel gezogen werden muß. Ohne ein Minimum an gedächtnisstützender Verbalisierung dürfte auch Goethe nicht ausgekommen sein. Im Gegenteil, sein Notizen- und Tagebuchwesen deutet bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf ein bewußtes Verfahren im Umgang mit »Gedanken« im Sinne der »Topica universalis«. Diesem Verfahren genügt ein Minimum an Fixierung an einem »Ort«, dem ein Maximum an mentaler Ausarbeitung »im Kopfe« entsprechen kann. Mit Hilfe eines anscheinend belanglosen Wortes, eines Buchtitels, eines Zitatfetzens, der scheinbar absichtslos festgehalten ist, wird das von Böttiger angesprochene feste Einprägen, das Memorieren, überhaupt erst möglich; sie sind der physische Ort, an den sich die Wiedererinnerung (die »recollectio«) anschließen kann. Entscheidend für Goethes Umgang mit den Notizen ist das absichtlich - unabsichtliche Verfahren. Dem klassisch - rhetorischen Verfahren ist die Redeabsicht vorgegeben, im universaltopischen Verfahren wird dieses Primum erst erzeugt. Zeit und bewußte Wahl sorgen dafür, daß nur die wichtigsten und bedeutsamsten Notizen auch zu Werken werden. Das pietistische Verfahren der »Losung« (Zufallswahl einer Schriftstelle für den jeweiligen Tag) ist Parallele und Anregung für diese Art der Invention, wäre sie nicht in den »Ephemerides« vom Buch der Bücher auf alle möglichen Bücher zugleich literarisiert und universalisiert. Konzeption und Ausführung In der traditionellen Lehre, so auch noch beim späten Goethe, wird der erste Arbeitsschritt bei der poetischen Produktion, der sich im wesentlichen »im Kopfe« abspielt und nur der Stichworte auf dem Papier im Sinne der Topik bedarf, »Conception« genannt. In »Dichtung und Wahrheit« vergleicht Goethe die eigene »genialische« Produktionsweise mit der traditionellen des Vaters. Nicht ohne Grund sind diese Reflexionen in die Frankfurter Zeit der Advokatur gelegt. Trotz des verbesserten Verhältnisses zwischen Vater und Sohn nach dem Aufenthalt in Straßburg bleiben sie - wenn auch gedämpft - polemisch genug. Hier heißt es vom Vater, er sei zwar »gründlich und tüchtig« gewesen, aber von »langsamer Conception und

28

Ausführung«. Er dagegen habe die »Ausfertigung« mit »Leichtigkeit«48 vollbracht. Die Folge der Produktionsschritte ist vom rhetorisch-juristischen Vorgang her bestimmt: Studium der Akten, Aufsuchen der richtigen Gesichtspunkte, Abfassung des Schriftstücks. Konzeption ist in diesem Kontext ein bereits weitgehend schriftlich dokumentierter Arbeitsschritt (unter Benutzung etwa des dafür vorgesehenen Konzeptpapiers). Es geht hier um die juristische Kanzlei. Das Kanzleiwesen wird zugleich ironisiert. Goethe berichtet vom damaligen Schreiber: Diese Angelegenheiten noch mehr zu erleichtern hatte sich ein Schreiber zu uns gesellt, dessen Charakter und Wesen, wohl durchgeführt, leicht einen Roman fördern und schmücken könnte.49

Im Bereich der künstlerischen Produktion liegen weder Thema noch Regelformulierungen vor. Die »Conception« ist weitgehend frei, ist also vornehmlich mental zu denken. Lausberg zitiert hierzu in seinem Handbuch eine nicht näher nachgewiesene französische Stelle: »création d'esprit« und weist auf das Kapitel über die »Inventio« hin.50 Das entspricht auch der in der Antike gebräuchlichen Terminologie. »Concipere« bezeichnet im Gegensatz zu »exprimere« das »verborgene Stadium des Kunstwerks im Künstler«, das sich im wesentlichen als Konzeption von »visiones« bzw. »imagines rerum« darstelle und sich dann in der imaginativen Reproduktion des Lesers wiederherstelle. Diese Begriffstradition ist es, die, auf die Architektur übertragen, in einer zweiten Stelle aus »Dichtung und Wahrheit« auf ein Erlebnis der Jahre vor 1775 zurückgeschrieben wird. Dort wird von den »ungeheuren Conceptionen« der mittelalterlichen Dome, deren »Musterbild« von Sulpiz Boisserée im Kölner Dom gesehen werde, gesprochen. Ihr Sinn strebe »babylonisch in den Himmel«, Sie waren »zu den irdischen Mitteln dergestalt außer Verhältniß [...], daß sie nothwendig in der Ausführung stocken mußten«.51 Die Aufsätze zum Straßburger Münster bezwecken eine Rekonstruktion des Grundplans, 48 49 50

51

WA I, 29, S. 47. WA I, 29, S. 47. Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik: eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2., durch einen Nachtrag verm. Aufl. München 1973, § 1246, S. 896, § 260, S. 146. WA, I, 27, S. 279.

29

der inneren Beziehungen der Bauteile und versuchen so, den bis dahin nicht (oder nicht mehr) gesehenen Sinn der Baumassen zu erklären. Die

Architekturanalogie

»Conception«

hier

rationalisierbaren

trägt

insofern

durchaus

Plans

im

zur

Sinne

verstehbar

ist.

Begriffsklärung eines

Welche

bei,

als

rationalen,

bzw.

Materialität

den

»Conceptionen« im Bereich der Dichtung zuzuordnen ist, ob sie nur als Begriffe, als seelische Wirklichkeiten, oder bereits als Pläne und Notizen vorzustellen sind, kann hier nicht entschieden werden. Die Handschriftenlage und die Aussagen Goethes lassen beide Deutungen zu. »Conception«

ist

also

ein

außerordentlich

komplexer

Vorgang.

Versucht man, einzelne Teiloperationen herauszudifferenzieren, so wird man sinnvollerweise nach einem hypothetischen Ablaufmodell vorgehen, und

dies,

obwohl

in

traditionellen

Berichten

über

den

kreativen

Vorgang selbst das Ineins aller Momente, das Plötzliche, Blitzhafte, also Zeitenthobene betont wird, das sich nicht in ein Ablaufmodell zwingen lasse. Am Beginn des Vorgangs steht die Aufnahme einer bestimmten Information.

Daß

für

den

Poeten

die

Umwelt

bereits

wesentlich

literarisch bestellt ist, ergibt sich nicht nur aus den »Ephemerides«, sondern

auch

aus der

»Gedankentagebücher«.

Vielzahl So

ist

an späteren bereits

der

und früheren

erste

Schritt

solcher

mit

dem

Wirklichkeitsproblem belastet, wäre nicht, zumindest bei Goethe, der zweite Schritt der einer mentalen Eigenleistung, der Umbildung des Empfundenen und Gelesenen in eine eigene »Vorstellung«, ein »Bild«, das dem Gedächtnis übergeben und so immer wieder erinnert werden kann. Die Notiz ist dann nur noch das Stichwort im Imaginationstheater, das die Erinnerungsleistung aufruft, eine minimale materiale Entsprechung des Gedächtnisbildes. Die »Conception« ist demnach eine kognitive Leistung des Auffassens, Erkennens und Begreifens, an der wesentlich die Einbildungskraft beteiligt ist. Verknüpft

wird

»Ephemerides«

diese

mit

rhetorische

dem

Technik

im

philosophischen

Kontext

Gedanken

der der

Transpersonalität der Erinnerung, wie ihn Goethe bei Piaton im Dialog »Phädon«

30

findet.

Die

entsprechende

Notizenreihe

hebt

auf

die

Unsterblichkeit der Seele als Sitz der Erinnerung ab: »[...] es sey alles Erinnerung was wir im unserm Leben dencken.«52 Konzepte und Notizen Dies betrifft auch die frühesten Notizen, die einen Bezug zu »Faust« aufweisen. Sie sind persönlich und transpersonal zugleich, Erinnerungen, die ein ganzes Leben Bestand haben. Wenn es richtig ist, daß z. B. die Notiz »Jacobi Ayreri historischer Processus iuris, in welchem sich Lucifer über Christum [...] beschweret,« der Kern des »Prologs im Himmel« und der später nicht mehr ausgeführten Appellationsszene ist und daß vor allem die Folgenotiz »Ant. Cornelii Quaerela infantium in limbo clausorum«53 das Motiv der »Limbi« oder »Seligen Knaben« in den »Bergschluchten« des Schlusses vorwegnimmt, also wichtigste Teile der »ältesten Conception« des »Faust« aufbewahren, so wird zugleich, im Blick auf die reiche Ausführung dieser Lektürefunde, der Anteil der mentalen Eigenleistung des Autors gegenüber der aufgenommenen literarischen Information deutlich. Das Bild der »Limbi« ist auch nicht allein literarisch belegt: Das Familienporträt von Johann Conrad Seekatz (1762) zeigt außer den beiden lebenden die frühverstorbenen Kinder im Hintergrund rechts als spielende Genien.54 Goethe hat die Seligen Knaben innerlich gesehen und ihre Querela imaginativ herausgehört. Das so unterstützte innere »Bild«, das Goethe seit Anfang 1770 in sich bewahrt und mit Hilfe dieser Notiz immer wieder erinnern kann, dürfte ungleich reicher, bedrängender und »sinnlicher« gewesen sein als der ohnehin nur anzitierte Hinweis auf die Klage der ungetauften Kinder. Ein quellengeschichtliches Interesse kommt relativ schnell an sein Ende, dem produktionsgeschichtlichen eröffnen sich neue Perspektiven. Gleiches gilt für die Notizen, die sich, entstehungsgeschichtlich, auf »Götz«, »Clavigo« und »Iphigenie« beziehen lassen. Immer wieder stößt man auf eine Grenze, an der sich die deutende Spekulation, die 52 53 54

Der junge Goethe I, S. 438. Der junge Goethe I, S. 427f. Das Gemälde ging nach dem Tod der Mutter in den Besitz der Bettina Brentano über. Heute ist es wieder am Großen Hirschgraben im Goethehaus.

31

sich auf ein Wissen im nachherein beziehen kann, gegen die Handschriftenlage stellt. Zudem überschneiden sich stoffliche Anregungen mit Anregungen zu poetischen Verfahren. Die komplexe Lektüre, biographisch wichtig genug, wird von Goethe später bewußt vereindeutigt. »Dichtung und Wahrheit« schließt diesen Prozeß der produktiven Vereindeutigung in vielen Fällen ab. Im Falle des »Faust« - Stoffes, der quellenmäßig am besten untersucht ist, wird dieser Prozeß bis ins hohe Alter fortgeführt. Hier gelangt die »jugendliche Conception« erst im letzten Lebensjahr zur »Ausführung«. Dabei ist das Ganze des Lektüre- und Lebenszusammenhangs zu beachten. Wie Goethe alles, was ihm widerfuhr, »wichtig« nahm und »walten« ließ, kann keine noch so nebensächlich erscheinende Notiz wirklich vernachlässigt werden; ein letztlich kaum leistbares und auch im Ganzen problematisches philologisches Unterfangen. Dem rein stofflichen Interesse gegenüber sollte hier der syste matische Aspekt, das Verfahren im Umgang mit der »res«, der Sache, dem Gegenstand (im rhetorischen Sinn) betont werden. Daß die Epoche der »Ephemerides« gegenüber der »Ausführung« die »Conception« in den Vordergrund bringt, und damit, rhetorik geschichtlich gesehen, das »Ingenium« gegenüber dem »Iudicium«, die »Inventio« gegenüber der »Elocutio«, ist poetikgeschichtlich von entscheidender Bedeutung. Die Akzentverschiebung im rhetorischen System gibt eine Beschreibungsmöglichkeit für die neue poetologische Tendenz des »Sturm und Drang«, der »Genies«, ab. Die Bewegung ist, rhetorikgeschichtlich betrachtet, nach dem bevorzugten Terminus der rhetorischen Lehre benannt. Damit ist die produktionstheoretische Innovation, die keineswegs irrational genannt werden darf, jedoch keineswegs hinreichend bestimmt. Für Goethe ist es die Möglichkeit der Vermittlung von Welt und Ich, ein prinzipiell unabgeschlossener Prozeß, den er aus dem modern umgedeuteten, von ihm individualisierten universaltopischen Verfahren einer »Schöpfungs und Erinnerungskunst« ableitet. Für den heutigen Leser und Interpreten bleibt vieles, im Abstand zweier Jahrhunderte, im Bereich des vorwissenschaftlichen Denkens, der »Magie«, des »Geheimnisvollen«, was systematisch gesehen dem ohnehin unausforschbaren »Individuum« zugeordnet werden muß. Die abgeschlossenen Werke stehen für die Fruchtbarkeit und Wahrheit des von ihnen im Entstehen

32

abgeschüttelten produktiven »Ausführung« überholt.

Schritts

der

»Conception«,

den

die

Der unabsichtlich suchenden Haltung des »Ingeniums« entspricht das oft Abstruse, Undogmatische der Lesefrüchte. Zu beachten ist auch, daß das Goethesche Experimentalwesen in der Zeit der Anlage der »Ephemerides« und ausweislich ihrer Notizen ein »chymisches« war. Zu den Merksätzen des Notizbuchs treten die Merkbilder der alten Chemie, die Goethe, sich selbst belächelnd, in »Dichtung und Wahrheit« als halbe Marotte abtut, die aber seine Metaphern für den poetischen Prozeß bis ins hohe Alter geprägt haben. Goethes Modernisierung der »Universaltopik« in den »Ephemerides« macht auf einen rhetorikgeschichtlichen Prozeß aufmerksam, in dessen Verlauf Rhetorik als Kunstlehre fast in Vergessenheit geraten mußte. Von einer »vergessenen Kunst« spricht Basil Munteano bereits 1957.55 Jeder Versuch, eine »Renaissance der Rhetorik« zu initiieren, hat sich dem historischen Faktum zu stellen, daß das Lehrgebäude um 1800 weithin zum Kuriosum verkommen war. Dennoch: für Goethes (und nicht nur Goethes) Dramatik bleiben Grundeinsichten rhetorischer Lehre gültig. Wo sprachliche Produktionen beschrieben werden sollen, ist das ungeliebte und vergessene Lehrbuch immer präsent. Die Amalgamierung von philosophischen und rhetorischen Erinnerungslehren, die persönliche Produktivität und der Glaube an den transpersonalen Hintergrund der poetischen Erinnerung bilden die Basis dieser Poetologie, deren sich Goethe zunehmend bewußt wird. Um 1800 entwickelt er aus diesen Grundeinsichten den Begriff und die Praxis der »Schemata«, die im 3. Kapitel dieser Studie beschrieben werden. Im hohen Alter benutzt er das Verfahren bewußt zur Vollendung der »jugendlichen Conceptionen«. Am 5. 7. 1831, während der Arbeit am noch fehlenden 4. Akt des zweiten Teils von »Faust«, spricht er mit Riemer über »Memoranda, Collectaneen und sonstige Hülfsmittel des Gedächtnisses und Denkens«.56 Über sechzig Jahre hinweg übt er sich in der Methode ihrer Anlage und perfektioniert die

55

56

Vgl. Basil Munteano: Principes et structures rhétoriques. In: Revue de la Littérature Comparée 31 (1957) S. 388 - 420 und ders.: Constantes dialectiques en littérature et en histoire. Problèmes, Recherches, Perspectives. Paris 1967. WA III, 13, S. 104f.

33

Memorialmethoden. Diese »Künste« kommen nicht zuletzt der »Poesie« zu Hilfe, Mnemosyne erweist sich als die wahre Mutter der Musen. Mit der zunehmenden Rationalisierung der genialen Produktionsweise im Alter kehrt Goethe auch theoretisch zu den klassisch - rhetorischen Methoden zurück, die er in der Jugend und in der »besten Zeit«, den Jahren um 1800, in eine persönliche Schöpfungs- und Erinnerungstechnik transformiert hatte.

1.2 Götz: Lesedrama oder Bühnenstück? Auf das Papier festbringen Aus der »chymischen« Werkstatt des jungen Goethe drängt eine der vielen dramatischen »Conceptionen« von der Esoterik des Tagebuchs früh in die breiteste Öffentlichkeit: die »Geschichte Gottfriedens von Berlichingen«. Sie macht den dramatischen Egoisten, der nur »Dramas« für sich selbst zu schreiben vorgibt, mit einem Schlage zu einer literarischen Berühmtheit. 1773 erscheint sie nach gründlicher literarischer Überarbeitung unter Anleitung Herders als »Schauspiel«, ohne Angabe von Verfasser und Druckort. Die Entstehungsdokumente sind nicht eben zahlreich. Nach der Aufzeichnung von Henry Crabb Robinson sei Goethe eines Abends, »in high spirits« mit den Worten heimgekehrt: »Oh, mother, I have found such a book in the public library, and I will make a play of it!«57 Das Buch ist ein Fund, eine Inventio im Sinne des Vorfindens. Auch der Brief an Salzmann vom 28. November 1771 betont das Leidenschaftliche im Zusammenhang mit diesem literarischen Fund.58 Bereits Ende des Jahres liegt ein »Skizzo« vor, das, nach Ansicht der Freunde, bereits »ganz vollendet« war.59 Die Tatsache, »daß die Intentionen meiner Seele dauernder werden,« könne man aus seinem neuen Drama ersehen.60

57 58 59 60

34

Graf Graf Graf Graf

II, H, D, II,

3, 3, 3, 3,

Nr. Nr. Nr. Nr.

2110. 2111. 2112 und Anm. 1 zu Nr. 2111. 2113.

Während der Fund als leidenschaftlich - plötzlicher beschrieben wird, das erste Skizzo bemerkenswert schnell erfolgt, hebt Goethe doch ab auf die Arbeit, die mit der Fixierung des Stoffes in der Erinnerung verbunden sei. Er lernt den Stoff in allen seinen Facetten in dieser Arbeit kennen, er verinnerlicht ihn. Von Februar bis Juli 1773, in der Zeit der Umarbeitung, finden sich immer wieder Hinweise auf die »Arbeit«, die das Stück mache: Ein Teufelsding, wenn man alles in sich selbst setzen muß, und das selbst am Ende 'manquirt'. Doch bin ich munter und arbeite fort.61

Cornelia, so Goethe in »Dichtung und Wahrheit« habe ihn 1771 gebeten, sich »nicht immer mit Worten in die Luft zu ergehen, sondern endlich einmal das, was mir so gegenwärtig wäre, auf das Papier festzubringen.«62 Die Formulierung gehört sicher der Zeit der Niederschrift von »Dichtung und Wahrheit« an, wenn Goethe - im Sinne der Poetologie des »Schemas« (ab etwa 1797) - versichert, damals habe er mit der Niederschrift begonnen, ohne daß er »einen Entwurf oder Plan vorher aufgesetzt hätte«.63 Das Stück war mental »gegenwärtig«, bedurfte aber der Fixierung außerhalb des Kopfes des Autors. Die Negativformulierung weist auf ein zu erörterndes späteres Verfahren, das den Plan als ersten Arbeitschritt vorsieht. Zur Produktionsweise der Frühperiode gehört vielmehr konstitutiv ein anderes Moment: Vorlesung der »Szenen« als erste Probe auf die Wirksamkeit. »Ich schrieb die ersten Szenen, und sie wurden Cornelien vorgelesen«.64 Die von der ersten »Conception« ausgehenden Imaginationen gehen - ohne weiteres Bewußtwerden - unmittelbar über in ein »sehr reinliches« Manuskript, Schreiben in einer Art Trance, wie sie immer wieder von jugendlichen Produktionsprozessen berichtet wird. Zum Eindruck des Genialischen der ersten Niederschrift gehört auch die Geschwindigkeit der Niederschrift. In sechs Wochen sei das Manuskript beendet worden.

61 62

63 64

Graf n , 3, Nr. 2118, vgl. auch Nr. 2116, 2119, 2120, 2121, 2126. Dichtung und Wahrheit, 13. Buch. WA I, 28, S. 197f., vgl. auch Graf II, 3, Nr. 2259. Dichtung und Wahrheit, 13. Buch. WA I, 28, S. 198, vgl. auch Graf, ebd. Dichtung und Wahrheit, 13. Buch, Graf, ebd.

35

Das Manuskript ist, so zeigt das poetische Experiment mit der Schwester, von vornherein auf »Wirkung« angelegt. Sie wird nicht aufgrund einer vorausgesetzten Lehre von den wirkungsvollen Elementen hergestellt, sondern in einer Art Ausscheidungsverfahren erprobt. Sicherheit über Wirkung resultiert nicht mehr aus der Beachtung von bestimmten Schreibnormen, sondern muß jeweils experimentell neu gewonnen werden. Die »Ausführung« selber, so scheint es, braucht nur wenig mehr als einige schöpferische Wochen. Umso interessanter ist die literarische Auseinandersetzung um die Bühnengestalt des Stücks. Die Fragen nach Konzeption, Ausführung und Theatergestalt sind in bezug auf den »Götz« schwerpunktmäßig im Blick auf seine Bühneneignung zu stellen. Die zentrale Frage ist dabei, ob es sich hier in der Tat um ein Stück für das Theater oder nur um einen Text für die Lektüre, einen dramatisierten Roman handele. Innere Bühne Das eigentliche Problem des experimentell - imaginativen Schreib Verfahrens ist somit die Durchsetzbarkeit der neuen, ungeregelten Form einerseits vor dem Hintergrund bestehender Schreibnormen, andererseits im Kontext herrschender Wertvorstellungen in der theatralischen Repräsentation. Im Falle des Normenwandels, wie er in bezug auf die Schreib - und Theaternormen am Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist, schaffen Ungleichzeitigkeiten in der Gleichzeitigkeit Akzeptanzkonflikte. Das Experiment kann seiner Zeit voraus sein, aber auch bereits überholt geglaubte Traditionen wieder aufnehmen; der Fortschritt kann im Rückschritt bestehen; verschiedene Teile des Publikums - die »Gebildeten« etwa und die »Ungebildeten« - können verschieden auf das Experiment mit der Tradition reagieren. In der Wirkungsgeschichte des »Götz« sind diese poetologischen Fragen unter dem Thema »Lesedrama oder Bühnenstück« verhandelt worden, was sich bis zur philologischen Lesart, »Götz« habe »seinen Siegeszug durch Deutschland [nur] als Lesedrama angetreten«,65 65

36

Volker Neuhaus in: Johann Wolfgang Goethe. Götz von Berlichingen. Hrsg. von Volker Neuhaus Stuttgart 1975 ( = UB Nr. 8122: Erläuterungen und Dokumente.), S. 163.

verfestigt hat; dies impliziert die Behauptung, daß vornherein nicht als Bühnenstück konzipiert worden sei.

»Götz«

von

Vom Gesichtspunkt der Psychologie der Erinnerung läßt sich der Widerspruch in der poetologischen Programmatik zwischen »Lesedrama« und »Bühnenstück« wahrnehmungsgeschichtlich deuten. Sicher scheint, daß die Vertreter des »Lesedramas« keineswegs einem »Volldrama« seine Berechtigung absprechen wollten. Sie zielen vielmehr auf einen ästhetischen Paradigmawechsel von der »direkten«, »szenischen« Wirkung im alten rhetorischen Sinne, wohl wissend, daß solche Wirkung die stärkste überhaupt denkbare sei, zugunsten einer distanziert - aufgeklärten »indirekten« Wirkung, die das Kennzeichen der »literarischen« Erinnerungsform darstellt. Lessing hat in der »Hamburgischen Dramaturgie« den maximalen Direktheitsgrad der dramatischen Form und die daraus resultierende Wirkung in den Mittelpunkt seiner Verteidigung der dazu notwendigen Zurüstungen gestellt. Im gleichen Stück der »Dramaturgie« findet sich aber auch der Ansatz zum Rückzug der literarischen Programmatik vom Theater. Die Fabel müsse so eingerichtet sein, daß sie, »auch ungesehen«, »Mitleid und Furcht« erregen könne. Als Belege gelten ihm der »Oedip« des Sophokles und - natürlich - die Dramatik Shakespeares: »Wie entbehrlich überhaupt die theatralischen Ver zierungen sind, davon will man mit den Stücken Shakespeares eine Erfahrung gemacht haben«.66 Die Enttheatralisierung des Dramas, die zugleich eine Rücknahme des für das Drama angesetzten maximalen Direktheitsgrades bedeutet, führt konsequent zur Forderung nach einem poetischen Drama, das ohne Bühne, als »Lesedrama« seine Wirkung entfalten könnne. Goethe nimmt später - in seinem Aufsatz »Shakespeare und kein Ende«67 - dem Argument für das Lesedrama nur scheinbar die Spitze, wenn er den Werken Shakespeares - und damit ist immer zugleich auch das eigene »Ungeheuer« gemeint die Bühnentauglichkeit mit den Worten abspricht; sie seien »nicht für die Augen des Leibes«. Shakespeare spreche vielmehr unsern »innem 66

67

Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchgesehene Geamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann. 2. Aufl. Stuttgart 1963. 80. Stück, S. 315f. ( = Kröners Taschenausgabe Bd. 267.) WA I, 41. 1, S. 52ff.

37

Sinn« an. E r lasse geschehen, »was sich leicht imaginieren läßt, ja was besser imaginiert als gesehen wird.« Durch's lebendige Wort wirkt Shakespeare, und dieß läßt sich beim Vorlesen am besten überliefern; der Hörer wird nicht zerstreut, weder durch schickliche noch unschickliche Darstellung. E s gibt keinen höhern Genuß und keinen reinem, als sich mit geschloss'nen Augen durch eine natürlich richtige Stimme ein Shakespearesches Stück nicht deklamiren, sondern recitiren zu lassen. 68

Der Satz erinnert an das frühe Experiment mit der Schwester, das konstitutiv in die Entstehungsgeschichte

des »Götz« gehört. Nur so

könnten wir erfahren, was im »Innern« der »Gestalten« vorgeht, nur so lasse sich die »Wahrheit des Lebens« erfahren. Der biographische und der

stilgeschichtliche

Bezug

dieser

Stelle

haben

eine

psychologisch

deutbare Entsprechung: Waren doch seit 1777 Corneliens Gestalt und Stimme

ein

geworden,

Erinnerungsbild was

noch

im

und

eine

ferne

Zusammenhang

Stimme

mit

der

des

»Innern«

klassizistischen

Konzeption der »Iphigenie« angesprochen werden muß. Der

stilgeschichtlichen

Tendenz

einer

Dämpfung

der

Affekte

entspricht zudem eine wahrnehmungspsychologischen Überlegung. Die Reduktion der Bühnengestalt auf eine Gestalt der Imagination schafft einen

klassizistisch

anmutenden,

schattengleichen

Umriß,

eine

reine

»Figur« im Innern, die gegenüber der kruden Wahrnehmung durch den äußeren Sinn bereits alle Merkmale einer künstlerischen Einheit und Gestaltetheit

aufweist.

Die

Psychologie

des

ausgehenden

19.

Jahrhunderts betont die Figürlichkeit der erinnerten Wahrnehmungs bilder.

Wilhelm

Wundt

kennzeichnet

die

Erinnerungsbilder

des

Gesichtssinns bei vielen erwachsenen Personen als völlig farblose, auch in den Konturen undeutliche Zeichnungen: [...] bei andern sind zwar die Konturen deutlich, aber die Farben werden nicht reproduziert; bei noch andern sind die Erinnerungsbilder

farbig, aber viel

blasser, als die unmittelbaren Sinnesvorstellungen.69

Die

durch

tendenziell

68 69

38

Lektüre -

ausgelöste

reduziert, positiv

Vorstellung

ist

gesprochen:

damit stilisiert,

die

zumindest affektive

WA I, 41. 1, s . 54. Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. II. Leipzig 1893, S. 495.

Wirkung gedämpft. Anders dürfte dies allerdings sich darstellen in bezug auf solche Phantasievorstellungen, die ohnehin keine direkte Entsprechung in der Wirklichkeit haben, gleichwohl aber durch Lektüre evoziert werden können. Damit ist zugleich das Pandämonium angesprochen, das in der psychoanalytischen Forschung mit Freud, vor allem aber durch C. G. Jung in den Mittelpunkt der Diagnose und Therapie seelischer Prozesse gestellt worden ist. Kann schon das Erinnern selber als Teil eines Heilungsprozesses gewertet werden und ist die Möglichkeit der Erzählung von Träumen ein spezifisches Therapeutikum, so ergibt sich von hier aus nicht nur eine gänzlich andere Wertung der Imaginationen selber, sondern auch der Wirkung, die von ihrer Verbalisierung ausgeht. Dabei müssen einerseits die Tendenz der Dämpfung der Affekte in der Erinnerung, andererseits das innere Andrängen der Erinnerungsgestalten (mit Freud: ein Heraufholen oder Herausdrängen aus dem Bereich des Unbewußten, das Jung, unter Berufung auf Ergebnisse der Märchenanalyse, zu einem Kollektiv - Unbewußten erweitert) einander nicht ausschließen. In der Rhetorik, die hier durchaus den Status einer »Erfahrungsseelenkunde« beanspruchen kann, wird, auch in bezug auf die »Memoria«, immer von zwei Grundaffekten gesprochen - dem »ethischen« und dem »pathetischen« - auf denen die rhetorische Stillehre gründet. »Erinnerungen« können erregen und dämpfen, bewegen und erfreuen, und dies je nach Wahl des Bezugspunktes: sie dämpfen, sofern sie sich auf äußere Wirklichkeit beziehen, sie erregen, insoweit sie Grundschichten des Seelischen ansprechen. Der Vorgang des Erinnerns ist sowohl stilgeschichtlich wie wahrnehmungstheoretisch ambivalent, mehr noch, eine stilistische Tendenz läßt sich unter genauerer Bestimmung des psychologischen Bezugspunktes als vornehmlich wirklichkeitsbezogen (nicht zu verwechseln mit »Realismus«, da hier gerade die Stilisierungstendenz vorherrschend ist) oder subjektbezogen beschreiben. Ambivalent ist auch die »Seelengeschichte« selber, deren stilistisch - rhetorische Tendenzumkehr am Ende des 18. Jahrhunderts von Heinz Otto Burger beschrieben worden ist.70 Ambivalent sind endlich auch die in diesem Kontext zu

70

Heinz Otto Burger: Die Geschichte der unvergnügten Seele. In: H. O. B: 'Dasein heißt eine Rolle spielen.' Studien zur deutschen Literaturgeschichte. München 1963, S. 120 - 143.

39

formulierenden Schreib - und Veröffentlichungsnormen, wobei das Beispiel des »Götz« einerseits das Gefüge des Normenwandels selber spiegelt, andererseits die Ambivalenz der Normen deutlich werden läßt. Die innere Bühne der Vorstellung ist also gedämpft, indirekt, zurückgenommen. »Götz« als Bühnenstück erzeugt unmittelbar sinnliche Wirkung, im Sinne des maximalen Direktheitsgrades. »Götz« als Lesedrama dämpft dagegen diese Wirkung. »Götz« als »Märchen« vom Ritter mit der Eisernen Hand, vom tapferen Krüppel, regt eine Tiefenschicht der Seele an, deren Geschehnisse nur vor dem »inneren Auge« vorstellbar wären. Vor deren »Äußerung« hat Goethe zeitlebens eine wohl als berechtigt anzusehende Scheu. Dem entspricht von außen besehen die philologische Lesart vom »Siegeszug« des »Götz« als »Lesedrama«. »Die Lektüre« sei »der einzige Weg« gewesen, »auf dem man in Deutschland die Dramen des bewunderten Shakespeare kennengelernt« habe; sie sei »auch für Goethes shakespearisierendes Stück die einzig angemessene Rezeption gewesen«, wie auch »die Kritiker« betont hätten; »sicher nicht bühnengerecht« sei dieses Stück mit seinen »56 Szenenwechseln«. Goethe selbst habe »betont«, »daß das Stück 'überhaupt ohne bedeutende Umarbeitung nicht auf das Theater zu bringen'« sei; »seine Grundrichtung« sei »antitheatralisch«, es zeige »eine angeborene Unart«, die nur »schwer zu meistern« wäre.71 Theatergeschichtliche Fakten sprechen gegen dieses Urteil. Am 14. April 1774 wurde das Stück erstmals in Berlin vom Prinzipal Koch auf die Bühne gebracht. Fünf Wiederholungen wurden nötig. Bis 1777 kann man in Berlin insgesamt 24 Aufführungen zählen - ein ganz erstaunlicher Theatererfolg. Gespielt wurde das Stück nicht nur in Berlin, sondern auch in Hamburg (fünfmal), in Breslau (viermal), in Leipzig, Frankfurt am Main, Dresden, Mainz, Mannheim und sicher an einer ganzen Reihe weiterer, nicht einzeln benannter Orte. Das Theaterpublikum des »Götz« dürfte das Lesepublikum um mehr als das Doppelte in der Anzahl übertroffen haben, und dies trotz der für die Zeit sehr hohen Anzahl von gedruckten, auch nachgedruckten, Exemplaren (etwa 3000 Stück), trotz der Annahme, daß jedes Exemplar vermutlich von mehreren Lesern genutzt worden ist. 71

40

Neuhaus a.a.O., S. 163.

Wie kommt es, so die Frage, zu dem eingefahrenen

Vorurteil,

Goethes »Götz« sei nur ein Lesedrama, nicht »bühnengerecht«? Wie kommt es zu diesem Vorurteil bereits bei den Kritikern der Zeit; wie kommt

es

aber

signalisieren

auch

mag,

zu jenem

daß

dieses

erstaunlichen

Stück

doch

Bühnenerfolg, ganz

der

offenbar

den

Bedürfnissen des Theaters, bestimmbaren Erwartungen des Publikums entgegenkam? Die zugrundeliegenden Normenkonflikte sind genauer zu bestimmen. Rezeptionshistorische Fragestellungen wie diese, mit Folgen für die Aufführungspraxis

bestimmter

Stücke

bis

heute,

bringen

erhebliche

methodische Probleme mit sich. Wir müssen davon ausgehen, daß die uns vorliegenden, überlieferten Rezeptionsdokumente in der Regel von einer publizierenden Kritik verfaßt sind, wohingegen das Urteil und die Erwartungen des Publikums und der Theaterpraktiker kaum mehr zu rekonstruieren sind. Literarische Urteilsbildung Im vorliegenden Fall, dank einer relativ guten Quellenlage, bietet sich jedoch eine Lösung des Problems an. Geht man nämlich davon aus, daß

eine

enge

Beziehung

zwischen

Gattung,

Textsorte,

der

Form

einerseits und den Möglichkeiten der Publikation andererseits besteht, so läßt sich aus der besonders um den Götz 1773/74 Gattungsdiskussion

etwas

über

die

entbrannten

Publikationsbedingungen

Stückes, ob »Lesedrama« oder »Bühnenstück«,

dieses

ausmachen. Die

uns

vorliegenden, fraglos parteilichen Rezeptionsdokumente sollen also in der Folge auf diese Diskussion hin befragt werden.72 Bei der sich im 18. Jahrhundert etablierenden literarischen Kritik ist zunächst eine Verstörung des kritischen Repertoires gegenüber dem Erfolg des »Götz« festzustellen. Herder,

dem

Goethe

die

Erstfassung

zusandte,

stellt

sich

in

deutliche Reserve zur neuesten Produktion des jüngeren Freundes. 73 Lessing

72

73

reagiert

zwar

nicht

öffentlich,

brieflich

aber

dezidiert

Vgl. auch Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. I. München 1980. S.35ff. Vgl. Peter Müller: Der junge Goethe im zeitgenössischen Urteil. Berlin 1969, S. 109f.

41

ablehnend.74 Lichtenberg vergräbt böse Bemerkungen in seinem Tagebuch.75 Wieland antwortet zunächst nur mittelbar, durch seinen Merkur - Rezensenten Schmid.76 Dies läßt ihm die Möglichkeit, später zu einer diplomatischen Wertung zu kommen. Wieland zeigt aber auch den Ausweg aus dem Dilemma der Wertung, der in der Folge, bis heute, immer wieder beschritten wurde. Er unterstellt, daß Goethe »bloß ein Drama zum Lesen schreiben wollte«. Die beste Antwort auf alles, was man ihm wegen Nichtbeachtung der Einheiten vorgeworfen hat, ist, daß er bloß ein Drama zum Lesen schreiben wollte. Ihn zu beschuldigen, daß er sich würklich eingebildet habe, sein Drama könnte und sollte auf unsern Schaubühnen aufgeführt werden, würde eben so viel seyn, als ihm, der so viel Genie zeigt, den allgemeinen Menschenverstand abzusprechen.77

Das klingt nach Machtanspruch, was eher eine schwache als eine gefestigte Norm vermuten läßt. Wieland argumentiert nach dem Prinzip, daß nicht sein könne, was nicht sein dürfe, und spricht einer möglicherweise entgegenstehenden Wirklichkeit einfach den Verstand ab. Stücke dieser Art dürften nicht auf »unsere Schaubühne« kommen, sie seien von vornherein von der Aufführung auszuschließen. Über die Gründe dieser rigiden Entscheidung ist nichts gesagt. Unter den Rezeptionsdokumenten finden sich jedoch zwei, die weiter zur Klärung der Problematik beitragen können. Am 22. Dezember 1773 schreibt der alte Johann Jacob Bodmer an Johann Georg Sulzer, den Herausgeber der gerade erscheinenden »Allgemeinen Theorie der Schönen Künste«: Seitdem Göthe uns Gözen mit dem eisernen Arm gegeben hat, so werden sie auch etwas von dem Drama par tiroirs sagen müssen, von den Stücken, wo aus dem Leben des Helden ein Dutzend der auffallendsten Situationen aufgezogen und ohne Kitt zusammengemauert werden.78

74 75 76 77 78

42

Müller, Müller, Müller, Müller, Müller,

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

S. S. S. S. S.

70. 71 74ff. 95. 69.

Hier ist genauer gesagt, was nicht auf »unsere Schaubühne« kommen soll: »Drames par tiroirs«, Schubladenstücke, wie der Terminus lautet, eine Gattung, die von Bodmer etwas abschätzig beschrieben wird, obschon er in der Folge einräumt, vor 20 Jahren dergleichen gemacht zu haben. Derlei Stücke, so der alte Bodmer einig mit Wieland, seien aber »nur für das Cabinet«, also nur zur Lektüre, geschrieben gewesen, obschón darin »immer mehr Verbindung« beobachtet sei als im »Götz«.79 Sulzer reagiert auf diesen Hinweis zweimal: erstens in einer Anmerkung zu Bodmers Artikel »Politisches Trauerspiel«, wo er auf die enge Verwandtschaft der Bodmerschen Theorie und der Goetheschen Praxis verweist, zweitens in einer längeren Anmerkung zum Artikel »Scene«.80 Hier nimmt er auch das Stichwort vom »Schubladenstück«, »pièce à tiroir« auf und stellt das »Schubladenstück« »Götz von Berlichingen« in dramentheoretische Überlegungen zum Problem der »Einheiten«. Der Artikel stellt zunächst die grundsätzliche Einhaltung der Einheit des Ortes bei den »Alten«, also in der griechischen Antike, fest. Ihre Hauptbemühung sei darauf ausgegangen, »die einzige unveränderliche Scene, die gleichsam der Pol war, nach welchem sie ihre Fahrt einrichteten«, »würdig« auszufüllen. Diese Maxime nun, so heißt es weiter, aber werde bei den »Neuern« verlassen: Nicht die besondere Scene ist der Pol, der ihren Lauf leitet; sondern die Handlung, die Charaktere, und überhaupt das, was sie vorzustellen sich schon vorgenommen haben. Nach diesem Bedürfnis muß die Scene, so oft als nöthig ist, sich verändern.81

Dies ist eine Gegensatztypologie, wie sie aus der »Quérelle des anciens et des modernes« bekannt ist. Hier wird sie ohne Wertung ausgesprochen; insofern ergibt sich eine ansatzweise historische Betrachtung. Seine Ansicht von der Tendenz der »Neuern« belegt der

79 80 81

Müller, a.a.O., S. 69. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Zweyter Theil. Leipzig 1775, S. 575f. Sulzer, a.a.O., II, S. 575.

43

Artikel mit am Berlichingen«.

extremen

Beispiel:

an

Goethes

»Götz

von

Wir haben sogar Stüke, die keine Haupthandlung haben, wo der Dichter sich zur Grundmaxime gemacht hat, um den Charakter seiner Hauptperson recht zu schildern, aus seinen Thaten von mehrern Jahren, das herauszusuchen, was zu der Schilderung dienet.82

Und in der Anmerkung fährt er fort: Hiervon ist das kürzlich herausgekommene Stük Göz von Berlichingen die neueste Probe. Ich habe nichts gegen den Werth solcher Stüke, die man pieces ä tiroir nennen könnte, zu erinnern. Nur muß man sie nicht für Muster der Tragödie überhaupt ausgeben, sonst geht die Kunst des Sophokles ganz verloren; dann wäre der Verlust doch größer, als der gänzliche Mangel solcher Trauerspiele der neuesten Art. 83

Wielands Argument wird so komplettiert: Es wird deutlich, welcher Art Stücke nicht auf unsere »Schaubühne« kommen sollten, um dort, wie man ergänzen kann, die »Kunst des Sophokles« zu erhalten - oder gar erst durchzusetzen. Denn »Götz«, so wird hier poetologisch bestimmt, fällt in eine Kategorie, die den »Neuern« eigentümlich sei, die geradezu zum Muster neuerer Dramatik aufzusteigen droht. Solche Formlosigkeit kann jedoch, wie sich aus der klassizistischen Argumentation ergibt, allenfalls als »Lesedrama« taugen, als »Roman«, der gerade in diesen Jahren durch Friedrich von Blanckenburg zum Paradigma »neuerer« Poesie aufsteigt.84 Für das Drama jedoch wird vom Literaten Wieland am klassizistischen Modell, an der »Kunst des Sophokles«, festgehalten. Über den Grund dieser Abwehr läßt sich einiges ausmachen, wenn man sich die Herkunft des Begriffs »Schubladenstück« näher ansieht. Zwar ist die Anzahl der zugänglichen Belege nicht sehr zahlreich, aber aus der Folge und Kohärenz der Belege läßt sich eine intensive Diskussion über eine Art von populärer oder trivialer Poetik rekonstruieren. Sichtbar wird eine frühe Poetik des »Volksstückes«, wie

82 83 84

44

Sulzer a.a.O., S. 576. Sulzer a.a.O., S. 575 Anm. Vgl. Kurt Wölfel: Friedrich Blankenburgs Versuch über den Roman. In: Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland. Hrsg. u. eingel. von Reinhold Grimm. Frankfurt/M., Bonn 1968, S. 29 - 60.

der »Götz« von Justus Moser genannt wird. Belege finden sich nicht nur bei Bodmer und Sulzer, sondern auch bei Lessing , einmal in einer Anmerkung zu seiner Übersetzung der Abhandlung »Von der dramatischen Dichtkunst« Diderots, ein zweites Mal im Anhang zur »Hamburgischen Dramaturgie«. Belege finden sich weiter bei K. Engel 85

und

Diderots

zuletzt

Dialog

bei

Goethe

»Rameaus

»Wahlverwandtschaften«

selber,

in

Neffe«

einer

und

J. zu

in

den

(1809). Auf die Goethe - Belege und

ihren

Kontext wird im Rahmen dieser

(1805)

Anmerkung

Untersuchung genauer

einzugehen

sein. Gemeinsam ist allen Belegen die letztlich abwertende Tendenz, die das

»Schubladenstück«

trifft.

Die

klassizistische

Wertung

behält

durchgehend den Sieg, auch dann, wenn ansatzweise die spezifische Modernität des »Schubladenstücks«, seine Eignung zur Bewältigung der modernen Form - Inhalt - Problematik sichtbar wird. In Stücken nach Art der »Pièces à tiroir« kann der Stand des Menschen thematisiert werden. Die Praxis des Schubladenstücks jedoch, so wird weiterhin aus einem

der

Lessing - Belege

deutlich,

die

den

Terminus

einem

Erfolgsstück des Wiener Theaterautors Franz Heufeld zuordnen, bewegt sich in einer recht trivialen Sphäre, einer Sphäre des »Possenspiels«. Gaudium am ganzen Spektakel Ist aber, so nun die Frage, Goethes »Götz« nicht gerade unter diesen, recht trivial anmutenden Bedingungen produziert und zu seinem ersten großen Erfolg gekommen? Aus den Zeugnissen der zeitgenössischen Rezeption

ist

eines

herauszuheben,

das

erlaubt,

die

bisher

vorgenommenen, abstrakten theoretischen Überlegungen am Text des »Götz« zu konkretisieren. Am

25.

Mai

1786

schreibt

Katharina

Elisabeth

Goethe,

bekanntermaßen keine Literatin, aber eine sehr eifrige Besucherin der Schauspiele, an Fritz von Stein nach Weimar: Der 8te Mai war wohl für mich als für Goethe's Freunde ein fröhlicher Tag, -

85

Götz von Berlichingen wurde aufgeführt, hier schicke ich ihnen den Zettel,

K. J . Engel: Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsaiten (1783) In: Schriften. Bd. XI. Berlin 1844. S. 228.

45

- Sie werden sich vielleicht der Leute noch erinnern, die Sie bei ihrem Hierseyn auf dem Theater gesehen haben. Der Auftritt des Bruder Martin, Götz vor dem Ratsherrn von Heilbronn, - die Kugelgießerei, - die Bataille mit der Reichsarmee, - die Sterbescene von Weislingen und Götz thaten große Wirkung. Die Frage: 'wo seyd Ihr her, hochgelahrter Herr?' und die Antwort: 'von Frankfurth am Main' erregten einen solchen Jubel, ein Applaudiren, das gar lustig anzuhören war, und wie der Fürst /:denn Bischöfe dürfen hier und in Maynz nicht aufs Theater:/ in der dummen Behaglichkeit dasaß, und sagte: 'Potz, da müssen ja die zehn Gebote auch darin stehen', da hätte der größte Murrkopf lachen müssen. Summa Summarum! ich hatte ein herzliches Gaudium an dem ganzen Spektakel.86

Die Art und Weise der Rezeption, die hier herauszupräparieren ist, kann durchaus als charakteristisch für das Publikum nicht nur der Goethezeit angesprochen werden. Sie bloß als trivial abtun zu wollen, ginge wohl an der Wirkung des Phänomens »Theater« vorbei und würde es seiner spezifischen Farbigkeit, seiner Unmittelbarkeit berauben. Katharina Elisabeth Goethe registriert die bombensicheren Effekte des Stücks, die Situationen, in denen der Schauspieler brillieren kann, die burlesken, unterhaltsamen, aber auch die tragischen und tragikomischen Momente. Daß solche, völlig zu unrecht als trivial abgewerteten Effekte im Bühnenstück »Götz von Berlichingen«, von der ersten Fassung an, aufgebaut sind, dürfte unbestreitbar sein. Frau Rat Goethes Auswahl ist hier noch klein, aber doch recht treffend. Der Auftritt des Bruder Martin exponiert Götz höchst wirksam als jenen Mann, »den die Fürsten hassen und zu dem die Bedrängten sich wenden«. Regieanweisungen wie »feuriger« unterstreichen das Pathos dieser Szene. Götz vor den Ratsherren von Heilbronn ist eine Theaterszene ersten Ranges. Götz wird hereingeführt ins Ratsherrenzimmer und »riecht« das Armesünderstübchen. Er verteidigt sich glänzend mit Worten, sieht sich aber in die Falle gelockt. Von außen, einem deus ex machina gleich, befreit ihn Franz von Sickingen, der inzwischen in die Stadt eingebrochen ist. Wirksam in Richtung auf das Publikum ist nicht nur Götzens Rede, sondern auch der Umschlag von der eingebildeten Macht der Räte in bettelnde Ohnmacht, als die Situation sich ändert. 86

46

Vgl. Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. 2. Aufl. Zürich 1973, Briefe aus dem Elternhaus, S. 552f.

Als Genreszene mit burlesken, bisweilen sogar tragikomischen Zügen ist die Kugelgießerei zu begreifen. Dachrinnen werden an der Götzburg abmontiert; aus dem Blei werden die dringend benötigten Kugeln zur Verteidigung gegossen. Georg bringt eine Taube herein, die ein Reichsknappe statt seiner getroffen hatte, als er die Dachrinne abmontierte; er dankt für die doppelte Beute, die Kugel (im Tier) und den Braten. Eindrücklich - grotesker könnte die Situation der Belagerten, ihr »Galgenhumor«, kaum dargetan werden. Die Bataille mit der Reichsarmee schließt bekanntlich mit dem bombensicheren Effekt »schmeißt das Fenster zu«, den selbst neuere Ausgaben nur mit den berühmten drei Strichen wiederzugeben wagen. Hier versagt das »Lesedrama« vollends. Das berüchtigte Götz - Zitat ist der Theatereffekt schlechthin, wenn auch nicht gerade im hohen Stil der klassischen Tragödie. Gelingt es dem Schauspieler, im rechten Moment das Fenster zuzuschmeißen, ist der Skandal vermieden: Die inkriminierten Worte sind ausgesprochen, aber werden nicht zu hören sein. Effektvolle Theaterszenen sind auch, jede in ihrer Weise sowie in ihrer Gegensatzspannung, die beiden Sterbeszenen des gedoppelten »Helden« des Stücks, Weislingens und Götzens. Der unerwartete Auftritt der Marie in der Sterbeszene Weislingens, der Todessturz des ungetreuen Knappen vom Schloß herab in den Main, der in Form einer Mauerschau allerdings dem Blick des Zuschauers entrückt ist, die Qual des Gifttodes geben dem Schauspieler alle Möglichkeiten des Ausspielens. Götzens Sterbeszene gilt als Glanzstück großer Schauspieler. Elisabeths »Die Welt ist ein Gefängnis«, der doppelte Weheruf am Schluß stellt eine sichere, pathetische Schlußformel dar, deren spezifische Wirkung Goethe selber (in späteren Fassungen) als zu aufreizend zu vermeiden trachtet. Theaterstücke, insbesondere die Komödien, ziehen weitgehend ihre Wirkung aus lokalen Anspielungen, aus der lokalen Farbe. Die gehörige Portion Selbstironie, die zum Applaus bei der Palastszene in Bamberg führt, ist nur lokal zu interpretieren. Ähnliches gilt von den Spaßen des Narren Liebetraut. Daß erst in der Theateraktion, die auch Gestik und Mimik mit einbezieht, das Potential des Textes sich entfaltet, zeigt die letzte Bemerkung Katharina Elisabeth Goethes, mit

47

der sie die »dumme Behaglichkeit« des Abtes beziehungsweise Fürsten beschreibt. Lokalisierung und Temporalisierung, das Spiel ex loco und ex tempore machen ein Gutteil theatralischer Wirkung aus. Der Spieltext kann nur die entsprechende Vorgabe sein. Das Abgehen vom memorierten Text, der Verstoß gegen das literarisch gesetzte Wort, macht nicht zuletzt die Lebendigkeit der Aktion auf dem Theater aus. Als Gesamtwirkung wird ein »herzliches Gaudium an dem ganzen Spektakel« registriert. Diese Bemerkung trifft sicher nur halb, und ist, bewußt oder unbewußt, untertrieben, berücksichtigt man das Pathos besonders der Schlußszenen. Aber das »Gaudium« gehört zur Gesamtwirkung untrennbar hinzu, auch wenn die klassizistische Theorie derlei Stilmischung bekämpft. In der Tat, so Goethe, und mit Frankfurt, rezipiert dabei. Es ist ein effektsicher angelegt

kann man hier resümieren, Katharina Elisabeth ihr das Publikum der »Götz« - Aufführung in ein »schlechtes« Schubladenstück und hat Spaß Stück ohne Einheit, ohne »Harmonie«, aber - ein Spieltext, der auf Aktion drängt.

Ein schlechtes Schubladenstück Die Frage ist, wie Goethe selbst, als Verfasser eines solchen Schubladenstücks, zu dessen Tradition und später zu seinem eigenen Stück stand. 1773 hatte er sein Stück mit den Worten in die Welt geschickt, daß es sein »Glück« »unter Soldaten machen« müsse. »Unter Franzosen, das weiß ich nicht.«87 »Unter Soldaten«, das meint bei den unteren, ja untersten Volksschichten. Welcher Hintergrund neben dem populären angesprochen ist, läßt sich an dieser Stelle nicht entscheiden, zumal mit »Franzosen« auch die Klassizisten gemeint sein können. Die weiteren Goethe - Belege zum »Schubladenstück« und ihr Kontext sind deshalb näher zu untersuchen. Vordergründig zeigt sich hierbei Goethe ganz als Literat und Klassizist, was bei der Datierung der Belege nach der Jahrhundertwende auch kaum verwundern mag. Der Terminus »Schubladenstück« ist bei Goethe vordergründig nur abwertend zu verstehen. Dies gilt sowohl für einen Beleg aus den Anmerkungen zu »Rameaus Neffe«, der sich auf den französischen Theaterautor Pallisot

87

48

Graf II, 3, Nr. 2126.

bezieht, dem »literarische Kleinheit« nachgesagt wird, als auch für einen Beleg aus den »Wahlverwandtschaften«: Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten, ist nur eine Comédie à tiroir, ein schlechtes Schubladenstück. Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und eilt zur folgenden. Alles was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich zusammen. Man muß überall von vorn anfangen und möchte überall enden.88

Das Genre der »comédie à tiroir« hatte sich für Goethe wie für die literarische Kritik überlebt. Stücke dieses Genres sind »schlechte« Stücke. Sie kranken, um ein Urteil Goethes über seinen »Götz« aufzunehmen, an »angeborenen« Unarten. Ihr Vorhandensein steht gegen die Bestrebungen des Reformtheaters, gegen Goethes eigene Weimarer Bühnentheorie. Nehmen wir nun aber an, daß Goethes »Götz« zu recht diesem Genre zugeordnet werden kann, so müßte sich für Goethe daraus in der Tat ein widersprüchliches Verhältnis zu seinem Jugendwerk ergeben. Dieses Verhältnis ist zu konkretisieren an der Umarbeitungsund Aufführungspraxis des »Götz« in Weimar. Im September 1804 hatte Goethe den »Götz« erstmals in einer neuen Bühnenfassung auf das Weimarer Theater gebracht. Die Anzahl der Schauplätze wurde reduziert, inhaltlich wurde das Stück, wie Otto Brahm bemerkt, »nach politischen, sittlichen ästhetischen Gesichtspunkten« geglättet und umgearbeitet.89 Ende September und im Oktober versucht Goethe eine auf zwei Abende verteilte Aufführung. Im Dezember kommt eine kürzende Bearbeitung heraus, die dann auch in den folgenden Jahren in Weimar gespielt wird. Diese eigentümliche Unsystematik in der Goetheschen Theaterpraxis hat ihr theoretisches Gegenstück. Im gleichen Jahr, 1804, erhält Goethe das Manuskript zum Dialog »Rameaus Neffe« von Denis Diderot. Im folgenden Jahr übersetzt er ihn und versieht ihn mit Anmerkungen. In diesen Anmerkungen führt Goethe die anstehende Diskussion mit sich selbst auf eine eigenartig vermittelnde Weise fort. Da die französische Tradition populärer Dramatik, die nicht zuletzt 88 89

WA I, 20, S. 311. Otto Brahm: Die Bühnenbearbeitungen Goethe-Jahrb. Bd. 2 (1881), S. 216.

des

'Götz

von

Berlichingen'.

In:

49

Gegenstand des Dialogs ist, ebenso verdeckt ist wie die deutsche, muß der Bezug auf das »Schubladenstück« - den »Götz« - erst historisch rekonstruiert werden. Die französische Tradition, auf die sich der in Deutschland gebrauchte Terminus offensichtlich bezieht, ist allenfalls in solchen Theatergeschichten aufzufinden, die nicht nur eine seinsollende Entwicklung, sondern den faktischen Spielplanbestand registrieren. Hier bietet sich vorerst immer noch die »Theatergeschichte Europas« von Kindermann90 als Auskunftsquelle an. Bei ihm ist »die berühmte Kategorie der Schubladenstücke« der französischen Tradition erwähnt und besprochen.91 Kindermann nennt den »Erfinder« und auch den Ort seiner Erfindung: Alexandre Piron und die Librettisten des »Théâtre de la Foire« in Paris. Spielort des »Schubladenstücks« zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Paris ist das Jahrmarktstheater, von Piron zu erheblichem Zulauf gebracht und auf eine gewisse auch literarische Reputation gehoben, von Voltaire und den Klassizisten aber auf das heftigste bekämpft.92 In seinen Anmerkungen zu »Rameaus Neffe« kommt Goethe auf den Piron zu sprechen.93 Er berichtet von einer negativ eingestellten literarischen Kritik gegenüber Piron, deren »Anmaßung« Goethe lächerlich erscheint. Goethes positiv:

Urteil

ist

einerseits

entschuldigend,

andererseits

doch

Und gerade diese leichteren Arbeiten sind es, wodurch man Piron am ersten lieb gewinnt. Er war ein trefflicher kraftvoller Kopf und hatte, in einer Provinzstadt geboren und erzogen, nachher in Paris bei kümmerlichem Unterhalt, sich mehr aus sich selbst entwickelt, als daß er die Vortheile, die ihm das Jahrhundert anbot, zu seiner Bildung hätte benutzen können. Daher findet sich bei seinen ersten Arbeiten immer etwas wegzuwünschen.94

90 91 92 93 94

50

Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. 2., verb. u. erg. Ausg. Salzburg 1972, Bd. 4. ebd., S. 313. ebd., S. 299ff. »Anmerkungen über Personen und Gegenstände deren [...] in dem Dialog Rameaus' Neffe erwähnt wird.« WA I, 45, S. 197ff. ebd., S. 198.

Aus dem Text wird deutlich, daß hier Goethe auch von sich selbst spricht, von einem, der »alles aus sich selbst« suchen mußte, der später aus seinen ersten Arbeiten vieles »wegwünschte«. Ein zweiter Hinweis zielt auf die Produktionsbedingungen »Schubladenstücks«: Piron nimmt sich

des

bedrängter und beschränkter Theater an, arbeitet für sie, macht ihnen Ruf und ist vergnügt etwas Unerwartetes geleistet zu haben. 95

Daß mit den bedrängten oder beschränkten Theatern das »Théâtre de la Foire« gemeint ist, kann vom Kontext der Theatergeschichte her ergänzt werden. Für diese Art von Theater also ist das »Schubladenstück« konzipiert. Es läßt sich dem Piron - Artikel entnehmen, daß Goethe, gegen sein offizielles Weimarer Programm, dem Erfinder und der Tradition dieser »leichteren Arbeiten« durchaus im Wortsinn sympathisch gegenübersteht. Daß Goethes Weimarer »Götz« Bearbeitung gerade auch den »leichten« Ton heraustellt - ohne recht mehr verstanden zu werden, ist in der Geschichte der »Götz« Rezeption bemerkt worden. Es wurde mit der Neigung des alten Goethe zum Maskenspiel, zum Jahrmarktstreiben, zu Narreteien erklärt. Daß aber bereits der Spieltext des jungen Goethe derlei zur Genüge enthält, daß diese Tendenz in anderen Dramenentwürfen der Zeit um 1773/74 ihre Bestätigung findet, ist dabei meist nicht notiert worden. Um 1770 konnten diese Tendenzen, zwar angegriffen durch die literarische Kritik, immer noch aktuell sein; um 1805 sind sie schon Grille des Alters, literarisierte Reminiszenz. Goethe aber kann und will sich nicht der Faszination des Piron, des »Théâtre de la Foire« entziehen, gerade weil er an den eigenen »Unarten« herumlaboriert. »Götz«, und dies wäre ein erstes Ergebnis, steht nach unseren Belegen in einer Tradition, die von der literarischen Kritik und von der Bühnenreform des 18. Jahrhunderts zurückgedrängt wird. Diese Theatertradition ist, ähnlich wie die verwandte der »Commedia deH'Arte«, eine volkstümlich - farbige, voller Drastik und Spielwitz, die alle theatralischen Mittel, Kostüm, Dekoration und Szenenwechsel nutzt. 95

ebd., S. 198.

51

Populäre Formen Es stellt sich an diesem Punkt der Untersuchung die Frage, warum die Tradition des populären »Schubladenstücks« so nachhaltig verdeckt werden konnte, warum diese Art der Volkstümlichkeit auch in einer breiten Literatur, welche die Elemente populärer Dramatik der »offenen Form« aufarbeitet, nicht diskutiert wird. Die klassizistische Tendenz der literarischen Kritik am Ausgang des 18. Jahrhunderts kann hierfür nur eine Teilerklärung bieten. Zunächst ist ein grundsätzlich nationales Vorurteil der deutschen literarischen Tradition gegenüber einer pauschal als klassizistisch bezeichneten französischen Dramatik anzunehmen. Für diese Annahme bieten die kritischen Schriften des »Sturm und Drang« hinreichend Belege. Es zeigt sich jedoch, daß die literarische Auseinandersetzung mit den klassizistischen Franzosen hier bereits und in der Folge regelmäßig mit Hilfe eines diffuseren, aber wirkmächtigen Modells geführt wird: Gesprochen wird von »Shakespeare«, von »shake spearscher« Form. Zur Einsteuerung dieses Rezeptionsmodells hat Goethe mehr als genug beigetragen. Im Text des »Götz« selber, an vielen - fast zu vielen Stellen - erinnert er an dieses Vorbild - Anspielungen, die allerdings auch nur der »literarische« Rezipient einlösen kann. Die theoretische Schriftstellerei Goethes zielt in die nämliche Richtung. Sucht man aber nun, über das griffige und erfolgreiche Schlagwort hinaus, nach dem poetologischen Kern des Modells »Shakespeare« bei Goethe, so ist man vom »Schubladenstück« und seiner Tradition durchaus nicht weit entfernt: Shakespeares Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unseren Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche

unsres Ichs,

die

prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.96

Hamburger Ausgabe. 4. Aufl. Bd. 12, I, S. 226., vgl. auch Der junge Goethe I, S. 77, ebd. II, S. 15, S. 85, S. 135, ebd. III, S. 61, ebd. IV, S. 149 (»Werther«), ebd. V, S. 240, S. 292 (»Faust«),

52

Die Deutung der poetologischen Aussage »Raritätenkasten«, bei Wieland »Guckkasten«, ist zu Recht auf den »Götz« bezogen worden. Gegenüber der poetologischen Kategorie des »Schubladenstücks« ist sie jedoch weniger weit entwickelt. »Raritätenkasten« meint eine Vorführung auf dem Jahrmarkt, eine Art von frühem Kino. Einzelne Geschichtsbilder werden vorgeführt und erklärt. Zu einer im eigentlichen Sinne theaterartigen Realisation kommt es nicht. Der Kern des Terminus bei Goethe ist, wie bei Diderot und Bodmer, in der Verknüpfung einer Formbeschreibung mit einer bestimmten inhaltlichen Problematik zu sehen. Bei Diderot und Bodmer werden veraltete Zustände, Jahrmarkt, Ungebildetheit unterstellt und abgewiesen. Goethe dagegen bestimmt mit der Problematik »Zusammenstoß des Ichs« mit dem »notwendigen Gang des Ganzen«, also der gesellschaftshistorischen Fragestellung, die alte Form neu. In poetologischer Absicht geht es um Einführung einer neuen, der Konzeption angemessenen Disposition, die deutlich von der traditionellen Disposition des Dramas nach Akten abweicht. Ist die traditionelle Disposition handlungsorientiert, so orientiert sich die neue am »Charakter«. Die Reihungsstruktur des »Schubladenstücks«, die sich von einem Mittelpunkt her entfaltet, widerspricht den traditionellen Gesetzen des Handlungsverlaufs, umsomehr aber der Dynamik historischer Prozesse. Damit ist der durch Goethes poetisches Experiment provozierte Normenkonflikt genauer bestimmt. Sämtliche Rezeptionsdokumente, die von literarischen Fachleuten verfaßt sind, stehen dem »Schubladenstück« mehr oder minder negativ gegenüber. Festzuhalten ist allerdings die unverhohlene Faszination Goethes gegenüber dem »Erfinder« des »Schubladenstücks«. Trotz des negativen Akzents der Wertung wird aber ganz selbstverständlich eine Spieltradition des »Schubladenstücks« im 18. Jahrhundert vorausgesetzt. Bei der Übertragung des Terminus in den deutschen Bereich spielt Lessing eine eigentümlich zwiespältige Rolle. Einerseits hält er gerade an »aristotelischen« Forderungen fest, andererseits nimmt er offene Momente des »Schubladenstücks« positiv auf. Wenn Bodmer, und in der Folge Sulzer, den neu erschienenen »Götz« mit der Bezeichnung »Schubladenstück« versehen, so greifen sie auf Erfahrungen mit

53

Stücken zurück, die als Lesedramen konzipiert sind. Sulzer ordnet das »Schubladenstück« - und damit den »Götz« - in eine spezifische Tendenz der »Neueren« ein, die auf »Charakteristik«, auf »Geschichte eines Menschen«, hingehe, und die 1774 von Blanckenburg und von Friedrich Schlegel als »romantisch« bestimmt wird. Mit der »populären« Form des »Schubladenstücks« ist traditionell eine »volkstümliche« Inhaltlichkeit verbunden. Sie umschließt den gesamten Bereich dessen, was Diderot und Lessing als den »Stand des Menschen« bezeichnen. Bodmer orientiert diese Inhaltlichkeit »vaterländisch«-politisch, »national«, wenn er von seinen eigenen Stücken spricht. Für die Thematik des »Götz« ist diese Tendenz entscheidend. Nach alledem wird ein bestimmter Erwartungshorizont eines breiten Publikums rekonstruierbar, dem Goethes »Götz« entspricht, den er aber auch um neue Erfahrungen erweitert haben dürfte. Dem realen Erfolg des Stücks auf seiten eines breiten Publikums korrespondiert eine Verstörung des kritischen Repertoires auf seiten der Literatur, die entweder die Unform des »Götz« von klassizistischen Nonnen her ablehnt oder bereits eine produktive Nutzung der alten Form als »Lesedrama« oder »Roman« versucht. Den hier sichtbar werdenden Konflikt zwischen Literatur und Publikum kann die literarische Gruppe um Goethe zeitweilig durch Einführung der literarischen Autorität »Shakespeare« überdecken. Unter dem Stichwort »Shakespeare« ist die moderne, populäre Form in der Folge diskutierbar. Der Begriff des »Schubladenstücks«, obschon poetologisch präziser, ist längst literarisch diffamiert. Er kann eine Funktion in der Apologie des Stückes nicht mehr übernehmen und gerät so in Vergessenheit. Davon unberührt aber bleibt eine breite, später als »trivial« bezeichnete Dramatik bereits am Ende des 18. Jahrhunderts (so der sogenannten Ritterstücke), in der das »Schubladenstück« seine Fortsetzung findet. Mit diesen Überlegungen wären eine Reihe von spezifischen Publikationsbedingungen des »Götz von Berlichingen« näher bestimmt. Das Ergebnis der poetologischen Diskussion ist, daß der »Götz« weniger ein »Lesedrama« von Anbeginn war als daß er eines geworden ist. Diese These läßt sich an der Aufführungspraxis bestätigen.

54

Die Kochsche Aufführung von 1774 kam, wie die Kritik tadelnd vermerkt, dem Publikumsgeschmack entgegen. Sogar ein Zigeunerballett erlaubte

sich

der

Prinzipal,

um

das

Publikum

im

Sinn

der

Jahrmarktstradition zu unterhalten. Leuchtendes Gegenbeispiel für die Kritik bildete die Hamburger Aufführung

durch

Schröder;

genommene »Götz« geboten -

hier

wurde

der

literarisch - zurück-

zur Enttäuschung der Truppe und des

Publikums. Zur Theaterpraxis, vor allem in Berlin, gibt es einen Zeugen, der, wie Goethes Mutter die Situation positiv, nur ex negativo, beleuchtet. Friedrich II., der 'roi philosophe', hat sich bekanntlich in seiner Schrift »De

la

littérature

Deutschland

allemande«

bitter

beklagt.

über Hier

den Zustand findet

signifikanteste, weil klarste sogenannte

sich

Fehlurteil

der

Literatur

denn

auch

über den

in das

»Götz«.

Friedrich II. spricht von den abscheulichen Stücken Shakespeare, von den lächerlichen

Farcen,

die

auf den

öffentlichen

Schauspielen

in

Deutschland herrschten. Sie seien eine einzige Sünde gegen die Regeln des Schauspiels, gegen die Einheiten. Wie ist es möglich,

daß ein so wunderliches

Gemisch von Großem

und

Niedrigem, von Tragischem und Harlekinpossen gefallen und rühren könne. 97

Der

unaufgeklärten

Shakespearezeit

könne

man

solche

Stücke

verzeihen, nicht aber dem gegenwärtigen Publikum: Aber erst vor einigen Jahren ist ein Götz von Berlichingen auf unserem Theater erschienen, eine abscheuliche Nachahmung jener schlechten englischen Stücke: und doch bewilligt unser Publikum diesem ekelhaften Gewäsche seinen lauten Beifall und verlangt mit Eifer ihre öftere Wiederholung. 98

Der

Geschmack

des

Publikums

verlange

eher

Seiltänzer

und

Marionetten, als die Tragödien des Racine. Der Publikumserfolg des »Götz« war demnach wesentlich ein Erfolg unter den Publikationsbedingungen des alten, »regellosen« Theaters, er war nicht, wie man angenommen hat, ein bloßer Leseerfolg. Das erste 97

98

Friedrich II.: De la littérature allemande. Übersetzung in: Deutsche Litteratur-Denkmale des 18. und 19. Jh. Hrsg. v. August Sauer, Nr. 16, S. 23. Vgl. auch Goethe im Urteil seiner Kritiker. Hrsg. v. K. R . Mandelkow. Teil I. München 1975, S. 88f. Friedrich II. , a.a.O., S. 23.

55

öffentliche Werk Goethes erschien allerdings unter den Bedingungen eines Theaters, dem sich die »Reformer« bereits zugewandt hatten. Dies bedeutet in der Folge faktisch einen Abbruch der Rezeption unter den Bedingungen der Bühne, die Rücknahme des Pathos. Das gedämpfte

Imaginationstheater

der

Theaterreform

setzt

sich

durch

gegen die Theatralik der populären Konzeption. Goethes eigene Umarbeitungen

spiegeln den Normenkonflikt. Im

19. Jahrhundert wird der »Götz« weithin gegen den Strich, als Stück eines »Klassikers«, im »Bildungstheater« inszeniert, zuerst von Goethe selbst. Nur widerwillig wird hier das Bedürfnis des Publikums nach »Unterhaltung«,

in

strikter

Zweiteilung

des

Spielplans,

befriedigt.

Mischstücke, wie der »Götz«, bleiben schöne Ungeheuer.

13

Clavigo und Stella: Productionen besonders für's Theater

Poetische Büßung Dem Bühnenerfolg gegen das Literaturgesetz der dramatischen Gattung, des Produktionsverfahrens des planlosen Plans, läßt Goethe 1774 ein »Theaterstück«

folgen,

von

dem

er

1826,

Eckermann

gegenüber,

behauptet, daß es ihm damals ein leichtes gewesen sei, ein Dutzend zu schreiben: [...] die Produktion ward mir leicht; ich hätte immer in acht Tagen ein Stück machen können und es ärgert mich noch, daß ich es nicht getan habe."

Schon

in der das Stück betreffenden

Passage

aus

»Dichtung

und

Wahrheit« von 1812 bemerkt er: Hätte ich damals ein Dutzend Stücke der Art geschrieben, welches mir bei einiger Aufmunterung ein leichtes gewesen wäre, so hätten sich vielleicht drei oder vier auf dem Theater erhalten. Jede Direction, die ihr Repertorium zu schätzen weiß, kann sagen, was das für ein Vortheil wäre. 100

Gespräch mit Eckermann, 26. Juli 1826, vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Hrsg. v. H. H. Houben, 25. Aufl. mit Abb., Wiesbaden 1959. S. 138. 1 0 0 WA I, 28, S. 348f.

99

56

Daß »Clavigo«, von dem hier die Rede ist, nicht als Dutzendware angesprochen werden kann, ebensowenig wie »Götz«, mag auf die für Goethe verpflichtende Einzigartigkeit der Erfahrung angetaner Untreue zurückzuführen sein. Die Selbstinterpretationen zu »Clavigo« sind widersprüchlich. Auf der einen Seite steht die Erklärung über die »leichte Production« im Dutzend, auf der anderen Seite der Hinweis auf einzigartige persönliche Erfahrung, die diesem Stück zugrundeliege. So erklärt er die Stoffwahl gemäß dem Konfessionsprogramm von »Dichtung und Wahrheit«: Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig beiden Marien in Götz von Berlichingen und Clavigo, schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, möchten wohl reuigen Betrachtungen gewesen sein.101

um durch diese zu werden. Die und die beiden Resultate solcher

Die Legende von der ersten Ausführung des Stücks im Kopf, wie sie »Dichtung und Wahrheit« 1813 aufschreibt, im Rahmen eines sogenannten Mariage - Spiel, betont noch ganz die augenblickliche Erfindungsleistung: Denn was man in solchen Fällen Erfindung nennt, war bei mir augenblicklich; und gleich, als ich meine Titular - Gattin nach Hause führte, war ich still; sie fragte, was mir sei? - Ich sinne, versetzte ich, schon das Stück aus und bin mitten drin; [...]. Ehe ich, freilich durch einen großen Umweg, nach Hause kam, war das Stück schon ziemlich herangedacht.102

Die Selbstinterpretationen schließen einander aus. Ist die eine stimmig, wird die andere grotesk. Oder sollte sich Goethe 1826 noch über eine nicht gelebte Registerarie geärgert haben? Nimmt man dagegen die Möglichkeit der »leichten Produktion« in acht Tagen oder gar an einem Abend im Kopfe an, so wäre die »selbstquälerische Büßung« erfreulich kurz geraten. Eine erste Stofferinnerung findet sich bereits in den »Ephemerides« von 1771. Es handelt sich um eine Stelle aus »De imitatione Christi« von Thomas a Kempis:

101 102

WA I, 28, S. 120. WA I 28, S. 347.

57

Occasiones hominem fragilem non faciunt, sed qualis sit ostendunt. Kempis. I. 16. 103

Im vierten Akt des Stücks ist die Übersetzung gegeben: Wir sind nicht klein, wenn Umstände uns zu schaffen machen, nur wenn sie uns überwältigen. 104

Hier wird eine Lesefrucht in einen Entscheidungsdialog eingeführt, der zu jener Intrige führt, die Marie endlich vernichtet und Clavigo mit ihr. Zwei Briefzeugnisse aus der Zeit der Entstehung, ein Brief an Schönborn vom 1. Juni 1774 und ein Brief an F. H. Jacobi vom 21. August des gleichen Jahres bieten differenziertere Formulierungen. Schönborn gegenüber weist er auf einen Aspekt hin, der bereits im ersten Untertitel zum »Götz« benannt wird. Hier sei eine erzählende Vorlage »dramatisirt« worden. Im Falle des »Clavigo« handele es sich nicht um eine »Geschichte«, sondern um eine »moderne Anekdote«. (An Schönborn.)105 Anekdote meint wörtlich »Geheimgeschichte«, etwas Wissenswertes, das doch verheimlicht werden soll. Im vorliegenden Falle handelt es sich um eine »ganz frische Neuigkeit«, das »Mémoire« des Beaumarchais gegen Clavigo. Bei diesem »Mémoire« geht es um erinnernde Rechtfertigung eines noch Lebenden, der unter Anklage der Tötung einer bekannten »öffentlichen Person« steht. Goethe nimmt also Stellung in einer aktuellen Diskussion, indem er den »Fall« auf die Schaubühne bringt. Ziel der »Dramatisirung« ist »möglichste Simplizität und Herzenswahrheit«. Der »Fall« soll aus dem Rechtsraum in den Raum des allgemeinen Interesses transformiert werden. Zentrum der Konzeption wird, wie Sören Kierkegaard herausgearbeitet hat, ein Inneres: die »reflektierte Trauer« der betrogenen Marie. »Auswendig ist somit nichts zu merken, inwendig aber ist ein emsiges Wirken. Hier

wird

ein

Verhör

aufgenommen,

das

man

mit

vollem

Recht

und

besonderem Nachdruck ein peinliches Verhör nennen darf«. 1 0 6 103 104 105

106

58

Der junge Goethe I, S. 435 u. Anm. S. 514. Der junge Goethe IV, S. 78. Vgl. WA IV, 2, S. 170ff. D Sören Kierkegaard: E n t w e d e r - O d e r . Erster Teil. In: Gesammelte Werke. Ubersetzt von Emanuel Hirsch. Düsseldorf 1956, 1. Abt., S. 190 ff. bes. S. 198.

Das Verfahren dieser Transformation beschreibt Goethe im zweiten Brief an den hierfür aufgeschlossenen Jacobi: Clavigos »romantisches« Abenteuer sei »amalgamirt« mit »Charakteren und Taten in mir«. (An Jacobi.) 107

In der »chymischen«

»Fremden«

sieht

Goethe

ein

Mischung Verfahren,

des »Eigenen« das

die

Teile

mit dem zu

einem

»Ganzen«, einer »Struktur« oder »Lebensorganisation« verschmilzt. Der

Ort

des chymischen

Prozesses,

quasi

die

Retorte,

ist das

»Innere« der poetischen Imagination, in der persönliche und öffentliche Erinnerungen

zusammenkommen.

»selbstquälerische Terminus

Büßung«,

»Büßung«

kontrollierter

Art

Hier

ein

setzt voraus.

findet

»peinliches

eine

in

der

Verhör«

Erinnerungsleistung

Traditionell

an

Tat

eine

statt.

Der

besonderer,

gedächtnisstützenden

Beichtspiegeln orientiert, in pietistischen Kreisen durch die Anlage des geistlichen Tagebuchs -

die Rigidität des Verfahrens hatte Goethe im

Kreis der Susanna von Klettenberg kennengelernt - , ist Lossprechung erst

nach

»Memoire«

gewissenhafter

Selbsterforschung

des Beaumarchais

denkbar.

und die persönliche

Das

öffentliche

Einnerungsarbeit

kommen in der Konzeption zusammen. Sie verschmelzen zu einem neuen Text, dem Goethe

später den Status einer

fragmentarischen

»Konfession« geben wird.108 Gerechtfertigt wird dieses transformierende Verfahren

-

das zum

Teil wörtlich aus dem französischen Text »übersetzt«, zum Teil einen englischen Balladenschluß integriert der,

entsprechend

der

Poetologie

unter Hinweis auf Shakespeare,

der

Shakespeare - Rede,

als

der

eigentliche »Menschenmacher« begriffen wird. Das

Problem

der

»Menschenmacherey«,

Prosaischen und des Poetischen, betrifft

die

Integration

des

zuerst die Charaktere, die

nicht mehr »Helden« im antiken Sinn, sondern »Menschen« sind und bleiben sollen. Indem Goethe entgegen seiner »Quelle« dem »halb großen, halb kleinen Menschen« Clavigo ebenfalls sein »Recht« gibt (sicher nicht zum Gefallen

107 108

des Betroffenen,

der übrigens vom Stück nicht sehr

WA IV, 2, S. 186ff. Vgl. WA I, 27, S. 110: »Bruchstücke einer großen Konfession«; Zur Konfessionspoetologie vgl. auch Helmut Schanze: Goethe. »Dichtung und Wahrheit, 7. Buch.« Prinzipien und Probleme einer Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: G R M (Germanisch - Romanische Monatsschrift) N.F. 24 (1974) S. 44 - 56.

59

beeindruckt gewesen sein soll), rekonstruiert er eine »Herzenswahrheit«, von der er annehmen kann, daß sie auf dem Wege der Erregung von »Sympathie« auch beim Zuschauer ihre Wirkung im rhetorischen Sinn nicht verfehlen wird. Damit sind Stücke vom Typ des »Clavigo« theatralisch im Wortsinn. Gibt das »Leben« Stoff, so ist auch die Bühnenwirkung nicht zu verfehlen. Aufgabe des Theaterdichters ist es, »Leben« zu organisieren, ein »Ganzes« herzustellen. Diese »Ganzheit« wird von Goethe aus dem »Innern« des Poeten genommen, aus der Einheit der Imagination von Beichte und »Büßung«. Der offene Widerspruch zwischen der Einmaligkeit der »selbstquälerischen Büßung« im 12. Buch von »Dichtung und Wahrheit« und dem Ärger darüber, nicht noch ein Dutzend Stücke dieser Art geschrieben zu haben, im 15. Buch, läßt sich produktionsgeschichtlich auflösen. War doch hier ein »Verfahren« gefunden, ohne Rücksicht auf den Lebensverbrauch wirksames Spielmaterial für das Theater zu generieren. Daß der Theaterdirektor Goethe so rücksichtslos den Poeten Goethe vernutzen will, ja es noch anderen als Versäumnis anrechnet, nicht zu solchem Raubbau »aufgemuntert« zu haben, diese Thematik wird im »Vorspiel auf dem Theater« zu »Faust« verhandelt. Goethe zerlegt die poetische Produktion in ihre zwei Komponenten; zum einen in die der lebensverbrauchenden Aufgabe des »Dichters«, für den jeder Schaffensvorgang eine »Büßung« ist, die sich nicht beliebig wiederholen läßt, zum anderen in die auf Novitäten ausgehende »Production besonders fürs Theater«. Das Ärgernis der Theaterdirektoren über fehlende Stücke und das selbstquälerische Verfahren ihrer Herstellung wird zu einem der Leitthemen des Verhältnisses der Medien zu ihren Autoren bis in die Gegenwart.109 Stella: Criminal - Verhöre Mit »Stella« von 1775 (erschienen 1776), dem zweiten Stück, welches - nach Goethes eigenen Memoiren - »besonders fürs Theater« produziert worden sei, wird der Konflikt um die Einmaligkeit des 109

60

Vgl. für die zweite Hälfte des 19. Jh. Helmut Schanze: Drama im Bürgerlichen Realismus. Theorie und Praxis. Frankfurt/M. 1973.

Erlebens und seine beliebige theatralische Reproduzierbarkeit zum inneren Thema. Nicht nur, daß sich der Autor nicht entscheiden kann oder will, welchen »Ausgang« er dem Zuschauer präsentieren will, er will Einmaligkeit als Zweimaligkeit plausibel machen: zwei einzigartige Gefühle zu einer Person. Ehe zu dritt gerät, bei aller Herzenswahrheit, an die Grenzen des gesellschaftlichen Skandals. Daiß Goethe sich später zu diesem schönsten und problematischsten seiner Jugenddramen nur halbherzig bekennt, ist systematisch begründbar: weder ließ sich eine »Confession« daraus aufbauen, noch ein Repertoirestück der handfesten Art. »Für Liebende« sei das Schauspiel geschrieben; es fordere schonenden Umgang. Daß »Stella« dennoch eine »fassliche Production« für das Theater sein soll, für eine Institution, die in besonderer Weise gesellschaftlicher Kontrolle unterworfen ist, die im 19. Jahrhundert keine der Literaturfreiheit entsprechende Ausnahmestellung erreichen konnte, macht das besondere Problem dieses Stückes aus. Im Roman und im Leben ist das prekäre Thema tolerierbar, man denke an die Biographie Swift, aus dessen Verhältnissen der Name Stella entlehnt sein könnte, oder an Friedrich Heinrich Jacobi, dessen persönliche Verhältnisse und an dessen Roman »Woldemar«. Das öffentliche Theater zeigt seine Grenze darin, daß es in besonderem Maße die Leidenschaften erregt, damit aber auch als einziges Medium wirklich plausibel machen kann, was Goethes Thema ist: die »gewaltigen Erscheinungen« der poetischen Erinnerung. Goethe macht hier, im Gegensatz zu anderen Jugenddramen, die »Confession« nicht vollständig. Der Gedanke, daß damit ein Kapitel aus der Geschichte des Jugendfreundes Jacobi hätte ausgestellt werden müssen, kann das Schweigen Goethes kaum völlig erklären. Eine verwischte Spur dessen, was Goethe in bezug auf »Stella« bedenklich machte, läßt sich nachweisen. Im Nachlaß findet sich eine Zeile, die von »Criminal - Verhören« zu Stella spricht.110 Sie stammt aus einem Nachlaßgedicht, einer Invektive im Zusammenhang mit dem Voss -Stolberg-Streit von 1821. Die Stelle ist biographisch nicht völlig erklärt, vielleicht auch nicht erklärbar. Es sei dahingestellt, ob wirklich derartige Angriffe aus Quedlinburg, wie es in der Invektive heißt,

110

WA I, 5, I, S. 187.

61

gekommen waren. Möglich ist dies durchaus. Für die Analyse des Stücks können solche Anmerkungen aber kaum herangezogen werden. Aufschlußreicher ist der Grundgedanke der »Clavigo« - Interpretation Kierkegaards, der die Natur der peinlichen Verhöre im Innern beschreibt.111 Das Kriminalverhör, nicht nur zu Goethes Zeit bis zum »peinlichen« Verhör getrieben - im wirklichen oder vorgeblichen Interesse der Gerechtigkeit - bedient sich besonderer Methoden, die Erinnerung des Angeschuldigten zu erzwingen, eine Tat zu rekonstruieren oder zu konstruieren. Die Vermischung von Wahrheit und Imagination ist, nicht nur für den Verhörenden, sondern auch für den Verhörten das entscheidende Problem. Am 14. Januar 1772 war in Frankfurt die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt nach Kriminal - Verhör und Geständnis hingerichtet worden. Goethe arbeitet seit 1773 an der Gretchen - Tragödie. Die Problematik des »Criminal - Verhörs« ist für den Lizenziaten der Rechte und den jungen Advokaten eine aktuelle und rechtsgeschichtlich bedeutsame. Vom Stofflichen her könnte sich die Notiz auf den Vorwurf der Bigamie beziehen. In der Tat bleibt die Handlungsweise des Helden, der zum Schluß zwei Herzen gewinnt, ein verfolgbares Vergehen. Das ethische Problem des Stoffes wird, in der ersten Fassung, im Legendenschluß der Grafen von Gleichen gelöst; die Vorwürfe bleiben. Der Schluß der zweiten Fassung von 1806, mit »tragischer Katastrophe«,112 entzieht durch einen traditionellen Theaterschluß solchen Vorwürfen die Basis. Das Thema selbst aber, daß eine Vergangenheit in eine Gegenwart eindringt und zum Konflikt führt, die »Herzenswahrheit«, entzieht sich letztlich der äußeren kriminalistischen Nachforschung. Die Nähe von Tribunal und Theater muß zur Bestimmung ihrer Differenz genutzt werden. Es geht um das peinliche Verhör im Innern. Während in »Clavigo« das Mémoire des Betroffenen dazu dient, die Motive des Beschuldigten verstehen zu lernen, ist in »Stella« die Ergründung der »Herzenswahrheit« Gegenstand der poetologischen Reflexion. Hier tritt das Medium in sein Recht ein. Es kann den inneren Vorgang vergegenwärtigen, schaubar machen, in dem es die 111 112

62

Vgl. a. a. O. S. 198. Graf II, 4, Nr. 3935.

»Leidenschaften« erregt, die den Konflikt der »Liebenden« verständlich machen. Theatralische Erinnerung wird zur Umkehrung der im Verhör erhobenen Beweise für eine Tat. Die Handlung des Stücks kommt in Gang dadurch, daß die verlassene Cäcilie unter dem Namen einer Madame Sommer sich in einem Posthause nahe dem Ort ihrer frühen, glücklichen Erinnerungen findet, der zugleich die Erinnerung an die »Tat« ihres treulosen Gemahls wird. Durch eine mit den Zeichen der Entrüstung erzählte Skandalgeschichte wird die Handlung vorangetrieben. Cäcilie hört ihre eigene »Geschichte« mit den Namen einer anderen. Rührung und Mitgefühl wird in Gedenken an die Parallelität der Schicksale erregt. Auch der treulose Fernando steigt am Ort dieser Erinnerungen ab, eine jener Theaterzufälligkeiten, die erst aus der Einheit transpersonaler Erinnerung plausibel wird. Auch sein erster Monolog ist Erinnerung an vergangene Glückseligkeit. Wenn die beiden Frauen mit ihren gleichsinnigen Schicksalen zusammentreffen, so geschieht auch dies im Medium der »Erinnerung abgeschiedener Freuden«. Erst als sich die Erinnerungsbilder im realen Bild Fernandos vereinigen, kommt es zur Erkenntnis des die beiden Frauen verbindenden Sachverhalts. Umgekehrt steht nun auch Fernando vor seiner eigenen Vergangenheit, seinen verdrängten Erinnerungen. Fernando sieht sich durch die Realität gestellt. Durch Flucht in die Vergangenheit kann er sich der Gegenwart nicht mehr entziehen. Die konfligierenden Herzenswahrheiten, der Plural der gleichwohl einmaligen Liebe sind für ihn unterschiedene Erinnerungsräume, die in der Einheit seiner Person zusammenkommen, für die er aber keinen durchgehenden, seine Identität erhaltenden Faden finden kann. Die Lösung, wie sie Goethe 1776 versucht, ist eine, die beide Erinnerungsräume auch in der Realität koexistieren läßt: die Aufhebung der Erinnerungen im poetischen Raum des Märchens. Erinnerungen werden durch Erinnerungen aufgehoben. »Stella« ist bestimmt als ein vielschichtiges Spiel mit der vergegenwärtigten Vergangenheit.

63

Die zweite Fassung von 1806, aus der Zeit, in der Goethe die »heitere« Lösung des »Faust« durch Teilung des Ganzen zurückstellt, kennt diese poetisch - archaische Lösung nicht. Mit Stellas und Fernandos Tod enden ihre Erinnerungswelten und damit der Konflikt der Vergangenheiten. Die ursprüngliche Ökonomie der poetischen Elemente ist damit aufgegeben. Bühnentragik der verspäteten Lösung, Gift und Pistole stellen scheinbar die Wohlanständigkeit wieder her. Beide Lösungen sind defizient; was der einen an weltlicher Gerechtigkeit fehlt, fehlt der anderen an der Poesie der aufgehobenen Widersprüche. Stella lebt als Figur wie Fernando in der Welt der Imaginationen, wo sie beide von Imaginationen bedrängt werden. Ihre Identität als Charaktere ist gefährdet. Im Schauspiel kann diese doppelte Identitätskrise, verborgen in den Personen, schaubar gemacht werden. Der Austrag des Kampfes zwischen Poesie und Realität bedarf zur Ergänzung des repräsentierenden Mediums. So rechnet das Stück mit seinen Erinnerungsmonologen, seinen »Geschichten« und seinen »Märchen«, mit seinen epischen Momenten gleichwohl auf theatralische Vergegenwärtigung, um vollständig zu werden. Theater ist der Ort, an dem das Innere, die Erinnerung, lebendig werden kann, sonst bliebe sie totes Leben im Buch.113 Für diese These läßt sich ein Beleg bei Goethe finden. Im Brief an den Schauspieler Pius Alexander Wolff vom 23. September 1821 rechnet er »Stella« zu den »Todten«, für deren Erweckung er dem Schauspieler dankbar sei: [...] denn dieses Wunder gelingt der Schauspielkunst mehr als irgend einer andern; deshalb denn auch auf jene griesgrämigen Pädagogen keineswegs zu achten ist; der wahre Schauspieler hat einen so großen Vorsprung, als daß ihn solche Grillenfänger sobald einholen sollen. 114

Die wenigen Bemerkungen passen zusammen. Der prekäre Stoff kann allein lebendig werden, wenn sich das mitreißende Spiel seiner annimmt. Trotz oder gerade wegen des »Inhalts« ist die »Stella« eine »Production« für das Theater. Was in bezug auf »Götz« zu einer exoterischen, rezeptionshistorischen Fragestellung wird, die Alternative 113 114

64

Vgl. Helmut Schanze: »Leben, als Buch«. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hrsg. v. Emst Behler und Jochen Hörisch. Paderborn 1987, S. 236-250. WA IV, 35, S. 95.

»Lesen«

oder

»Schauen«,

wird

in

den

beiden

regelmäßigen

Jugenddramen zum Problem der inneren Struktur. Das Theater der Imagination,

das Seelentheater

der Herzenswahrheit,

läßt sich

nicht

bruchlos auf das wirkliche Theater übersetzen; gleichwohl braucht und verbraucht

das

Theater

die

Imaginationen,

denen

es

seinerseits

überhaupt erst zum »Leben« verhilft. Nimmt man die Interpretation Kierkegaards zum »Clavigo« und die Selbstaussage

Goethes

zur

»Stella«

zusammen,

so

ergibt

sich

ein

kohärentes Thema für beide Stücke, mehr noch, unter Einbezug der Konstellation Marie - Weislingen aus dem »Götz« und des Kerns der Gretchen - Tragödie Conceptionen«.

in

»Faust«

Theater

wird

eine

als

Kohärenz

inneres

der

Tribunal

»jugendlichen konzipiert,

das

seelische Tiefenschichten aufregt, zu einem neuen Pathos drängt. In diesem

Sinne

sind

die

Jugenddramen

durch

das

Konzept

eines

Theaters der Erinnerung zusammengehalten.

1.4

Urfaust?

Rührende Szenen »Über sechzig Jahre« sei er, so eine Äußerung am 17. März 1832 Wilhelm von Humboldt gegenüber,

von einer

»Conception«

seines

»Faust« ausgegangen, die »von vorne herein klar« vorgelegen habe.115 Die Angabe zielt auf den Winter 1769/70. Heinrich Meyer und Sulpiz Boisseree

gegenüber

spricht

Goethe

rätselhaft

von einem

»inneren

Mährchen«, das er seit vielen Jahren mit sich herumgetragen habe.116 Im Brief an Zelter vom Mai [1. Juni] 1831 schreibt er, es sei »keine Kleinigkeit, das, was man im zwanzigsten Jahre konzipiert« habe, »im zweiundachtzigsten außer sich darzustellen«. Auch diese Angabe führt in das Jahr 1769. In der Tat läßt sich nachweisen, blickt man auf die erhaltenen Dokumente, »Ephemerides«, »ältesten 115 116

insbesondere daß

Conception«

auf

Goethes des

die

Erinnerung

»Faust«

nicht

Aufzeichnungen über

den

trügt.

Phasen

in

den

Zeitpunkt der

der

ersten

Gräf II, 2, Nr. 1981. Gräf II, 2, Nr. 1951.

65

Niederschrift einzelner »Scenen« führen in die Jahre 1773 und 1775. Schon erschien das Stück »fast fertig«.117 Daß »das Ganze« allerdings erst nach mehr als zwei Menschenaltern, über Phasen mündlicher Mitteilung, abschriftlicher Aufzeichnung, erster fragmentarischer Veröffentlichung, Werkteilung und Veröffentlichung des »Helena« - Zwischenspiels im höchsten Alter »zusammengearbeitet« werden konnte, nachdem zuvor »nur einzelne Stellen« ausgeführt worden waren, ist eines der staunenswertesten Ereignisse der Literaturgeschichte überhaupt. Alle Faust - Philologie kann nur vom Ende ausgehen, vom »Ganzen«, das Goethe von Anbeginn an konzipierte. Ohne Blick auf das Werk in seiner Ausführung bliebe jeder Versuch, Stadien der Produktionsgeschichte zu rekonstruieren, ohne die erkenntnisleitende Vorstellung. Mustert man die Entstehungsdokumente unter den genannten Aspekten, so tritt das Werk aber zunächst keineswegs als »Ganzes« hervor. Vielmehr sind es die Elemente einer ahnbaren Struktur, die einem kleinen Publikum bekannt werden. Gotter kennt 1773 nur einen Titel: »Doctor Faust«. Heinrich Christian Boie spricht von einem »fast fertigen« »Doctor Faust«. Goethe liest aus seinen Manuskripten vor, »ganz und Fragment«, und »Faust« erscheint dem Besucher »das Größte und Eigentümlichste von allem«. Karl Ludwig von Knebel schreibt im gleichen Jahr: Ich habe einen Haufen Fragmente von ihm, unter andern zu einem 'Doctor Faust', wo ganz ausnehmend herrliche Scenen sind.118

Knebel nutzt den traditionellen Begriff der Dramentheorie, ohne sich vielleicht der Besonderheit seiner Rezeptionsweise bewußt zu werden. Goethe überläßt seine »Fragmente«, seine »Scenen«, die er in genialischer Produktivität zu Papier gebracht hat, dem Freund zu einer vervollständigenden Lektüre. Der Leser muß eine eigene, innere Bühne aufrichten, seine Imaginationskraft ist gefordert, aber auch sein ergänzendes Mitdenken. Aber nicht nur durch Lektüre werden die »Scenen« bekannt. Am 6. Dezember 1775 schreibt Friedrich Leopold Graf zu Stolberg an seine Frau Henriette:

117 118

66

Tagebuch Boie 15. Okt. 1774, vgl. Der junge Goethe V, S. 268 Anm. Graf II, 2 Nr. 852 Anm.

Einen Nachmittag las Göthe seinen halbfertigen 'Faust' vor. Es ist ein herrliches Stück. Die Herzoginnen [Anna - Amalia und Luise von Weimar] waren gewaltig gerührt bei einigen Scenen.119

Auch bei der Vorlesung wird die Imagination und das Mitdenken des Hörers gefordert. Das innere Imaginationstheater des neuen Pathos wird ergänzt im Mitdenken und Mitfühlen der Hörer. Ein Theater im Innern wird aufgerichtet. Geht man davon aus, daß Vorlesungen dieser Art die Ausgangspunkte sind für die Abschrift aus Goethes Papieren durch das Hoffräulein von Göchhausen, für den sogenannten »Urfaust«, so fixiert dieser Text nicht nur eine frühe Produktionsschicht, sondern auch eine spezifische Rezeptionsweise. Ob aus den hier festgehaltenen rührenden Szenen ein modernes Drama gemacht werden kann, muß dahingestellt bleiben. Zu reflektieren wäre das Verhältnis von moderner Ästhetik des Dramas und alter Wirkungsästhetik, der ein Terminus wie »Rührung« zuzuordnen ist.120 Die Philologie steht hier vor dem Problem einer Wahrnehmungsgeschichte, in der die einzelnen Elemente keineswegs feststehen. Ob die Zuhörer in Weimar schon »moderne« Hörer waren oder noch in den Kategorien alter Hofunterhaltung rezipierten, einer Haltung, der Beethoven sein Spiel in Wien skandalöserweise verweigert, kann hier nicht entschieden werden. Eher sind gemischte Rezeptionsweisen zu postulieren. Die Abschrift könnte als Versuch einer gebildeten Wieland - Anhängerin gewertet werden, die Kunst des Sophokles gegenüber allen vermischenden Rezeptionsweisen dadurch zu retten, daß sie ein »Lesedrama« für sich herstellte, eine Erinnerungsform, die ihrem ästhetischen Anspruch genügt, während sie andere dem klatschenden Vergnügen an tragischen Gegenständen, an der Faszination des großen Vorlesers oder empfindsamen Tränen nur für den spektakulären Augenblick überläßt. Die einzelnen Publikationsstufen, die eine eigene Wirkungs geschichte und eine eigene Teilganzheit erreicht haben, können ein bestimmbares Eigenrecht als spezifische Erinnerungsformen 119 120

Graf n, 2, Nr. 859 Anm. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf: Bernd Mahl: Brechts und Monks Urfaust - Inszenierung mit dem Berliner Ensemble 1952/53. Stuttgart und Zürich 1986, bes. S. 15ff.

67

beanspruchen. Der entstehungsgeschichtliche Ansatz gewinnt damit eine mehr als nur editionssichernde oder bloß unangemessene philologische Altgier verratende Funktion. Er gibt Auskunft über eine Enzyklopädie von Erinnerungsformen. Das philologisch als »Urfaust« firmierende Stück ist in der Tat spektakulär (im Wortsinn), schaubar, wie eine Vielzahl von Aufführungen bewiesen haben. Bei den Lesungen des Stücks durch Goethe, wie sie im Winter 1775/76 in Weimar stattfanden, also sechs Jahre nach der »ersten Conception«, handelt es sich um Quasi - Aufführungen, um Repräsentationen in einem Medium zwischen epischer Verbergung des Vorlesers und dem maximalen Direktheitsgrad der Bühnenrealisation. Eine Publikation eigener Art ist zu registrieren, halböffentlich, zwischen »Lesedrama« und »Bühnenstück« angesiedelt, eine »Ganzheit«, die in besonderer Weise auf die Mithilfe der Phantasie des Hörers zielt, der Bühne und dramaturgischen Zusammenhang »suppliert«. Dennoch: philologische Vorsicht und Respekt vor Goethes Ausführungswillen, der bewußt verborgen hält, was nach Vollendung aussieht, fordern erneute Prüfung der »Urfaust« - Problematik. Lesebühne War schon die Frage nach dem Konflikt »alter« Dramaturgie und avancierten Inhalts das Problem der »Götz« - Rezeption und hatte man den Autor, der mehr als ein Lesedrama intendiere, gleichsam für von Sinnen erklärt, als einen, der die »Kunst des Sophokles« zugrunde richte, so muß das »Festbringen« solcher Konzeptionen für Goethe, bei den Erfahrungen mit seinem dramaturgischen Erstling, für besonders problembeladen gelten. Noch ist die Dispositionsstruktur der Szenenreihung nur unter den Bedingungen der dramaturgischen Trivialität oder des romanartigen Lesedramas durchsetzbar, ein neues Experiment mit dem Theater ist um 1780 kaum angezeigt. Goethe weiß, was er der Literatur, was er dem Publikum schuldet. Und so gibt er in Weimar jedem das seine. Dieser, der Literatur und dem Prinzenerzieher Wieland, der sein Freund geworden ist, nicht nur in Sachen Literatur, läßt er die richtige Einsicht, daß solche Stücke nichts fürs gegenwärtige Theater seien: sie sind in der Tat

68

dramaturgischer Rückschritt ins ungeregelte vorbürgerliche Theater. Der Hofgesellschaft, dem eingeschränkten Publikum gegenüber versteht er sich zur Lesebühne. Zum Druck waren die vorhandenen Szenen ohnehin noch nicht »fest« genug. Dem Mißverständnis des »bloßen Lesedramas« wollte er sich nicht aussetzen. Damit gibt er dem exklusiven Kreis in Weimar die einmalige Gelegenheit, eben jene Wirkung an sich zu erfahren, die für die »Faust« - Konzeption seit je bezeichnend ist: das große Thema im kleinen Kreis. Die Verantwortung für das Stück liegt nun nicht mehr allein beim Autor. Sicher nicht ohne Absprache, doch ohne Autorisation übernimmt das Fräulein von Göchhausen jene Arbeit des »Festbringens«, die Goethe aus gutem Grund beharrlich verweigerte. Sie protokolliert die unabsehbare Eindruckskraft der Konzeption für sich und vermeidet so literaturpolitischen Skandal und dramaturgische Irritation. Daß die »Kunst des Sophokles« neu erweckt werden sollte, bleibt Ziel der Weimarer Sozietät. Es wäre ein Mißverständnis dieser spezifischen Erinnerungsform, die Goethe offen duldet, aber nicht als »Ausführung« akzeptiert, wenn man in der Göchhausenschen Abschrift den »Sturmund 121 Drang - Faust« sähe. Die Abschrift mag zwar in weiten Teilen dem vor-Weimarer Textstand entsprechen, und keineswegs ist die Epoche des »Sturm und Drang« mit dem Übergang nach Weimar, mit dem Schlagen der Kutschentür quasi, geschlossen. Die vorsichtige Weise der Präsentation gibt aber Kenntnis von neuer Einsicht in literarische Notwendigkeiten. Wielands Einfluß erscheint mächtiger; nicht mehr ist der große Literat nur noch Zielscheibe von direkten und indirekten Sottisen, er ist auch für die Bühne und ihre gedeihliche Entwicklung ernst zu nehmen. Und diese Entwicklung geht seit Lessing hin zum »stehenden« Nationaltheater, zur »klassischen« Form und zum »festen« Text. Große Kontraste, wirksame Kurzszenen, spektakuläre Wechsel der Schauplätze, »shakespearisierende« Dramaturgie sind hier nicht mehr gefragt. Als Goethe 1776 beginnt, sich um das Weimarer Theater zu kümmern, ist Regel angesagt, nicht Regellosigkeit. Corona Schröter, die 121

so Erich Tranz im Kommentar der Hamburger Ausgabe. Bd. 3, S. 634.

69

spätere Darstellerin der »Iphigenie«, ist alles andere als eine Volksschauspielerin. Mit der Aufführung von »Erwin und Elmire« am 24. Mai 1776 und am 1. März 1777 greift Goethe auf ein durchaus traditionelles Stück seines eigenen Rokoko zurück. Die bühnensicheren »Mitschuldigen« kommen am 9. Januar 1777 aufs Liebhabertheater. Wilhelm Meisters theatralische Sendung, 1777 begonnen, geht auf das Reformtheater des 18. Jahrhunderts zu. »Triumph der Empfindsamkeit« und selbst das »Jahrmarktsfest zu Plundersweilern« sind höfische Ergötzungen, aristophaneische Späße, keine Volksbelustigung, auch wenn sie sprachlich den »Sturm und Drang« aufzunehmen scheinen. Ausgeführt, im Vollsinn, werden diese kleineren Stücke nicht. »Iphigenie« vom 6. April 1779 ist schon Dokument einer neuen Epoche, die sich der »Kunst des Sophokles« programmatisch nähert. Die philologische Entdeckung des »Urfaust«, gut einhundert Jahre nach den unzeitgemäß - zeitgemäßen Vorlesungen von 1776 und der persönlichen Literarisierung durch das Hoffräulein, fällt in eine Zeit, die schon wieder den Ausweg aus dem aristotelischen Regelkanon sucht und findet. Der Naturalismus auf dem Theater postuliert nicht nur das soziale Thema, sondern auch die moderne Form. Daß solche Modernität zugleich als Rückgriff auf vorbürgerliche Regellosigkeit, als neuer »Sturm und Drang« und als »Jüngstes Deutschland« figuriert, ist ein geistesgeschichtliches Paradox. Goethes klassizistischer Fortschritt wird zum Rückschritt, sein Rückgriff auf das alte Theater zum dramaturgischen Fortschritt. Wie so oft aber erweist sich die populäre Form als Vehikel der Innovation. »Urfaust«, »Wozzeck«, »Vor Sonnenaufgang« werden zur Traditionslinie ex post. Der sogenannte »Urfaust« gewinnt als Erinnerungsform ein doppeltes Gewicht: zum einen als Erinnerung daran, was um 1770 bereits dramaturgisch an vorwegweisender Modernität möglich schien, zum anderen aber auch als Erinnerung an einen exemplarischen Prozeß der »Regulierung« des Theaters, der zur Voraussetzung seiner Hochwertung im Bildungsgefüge bis heute geworden ist. Die solcherart konfligierenden Momente der Literaturund Theatergeschichte, ihre Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten werden am eminenten Fall demonstrierbar.

70

Kapitel 2 Antiker Form sich nähernd

2.1 Iphigenie: Mit der Seele suchend Glanzleinwand - Lumpen Daß mit modern-popularistischen Stücken wie »Götz« die »Kunst Sophokles« zugrunde gehe, dies war der entscheidende Einwand literarischen Kritiker des »Sturm und Drang«. In der frühweimarer stellte sich das Eingehen auf das kritische Argument zunächst Rückzug von der populären Bühne dar.

des der Zeit als

Der Aufbau des Liebhabertheaters in Weimar, das Mitspielen in der subtil - gebildeten Unterhaltung des »Musenhofs« ermöglicht es Goethe, zunächst den traditionellen Bestand seiner Bühnenproduktion der Frankfurter Zeit in Szene zu setzen. »Schöne Ungeheuer«, wie »Götz«, waren nicht gefragt. Schon ihr vom Volksstück her gerechtfertigter Personalaufwand widerspricht den Möglichkeiten des intimen höfischen Spiels im Park. »Egmont«, die zweite der geschichtlichen Konzeptionen, bleibt noch unter den Papieren verborgen. »Faust« wird, der theoretischen Forderung Wielands gemäß, in seiner Nähe in ein »Lesedrama« transformiert. Seine Bühnengestalt ist nicht mehr zeitgemäß. Daß sich nun, im Weimarer Milieu, eine andere, vage Notiz aus den »Ephemerides« - angedeutet auch in den Briefen der Frankfurter Zeit - vordrängt, wird meist mit biographischen Umständen erklärt. Der Name der Frau von Stein muß hier fallen, auch dann, wenn die Gestalt der Iphigenie hier in einen älteren psychologischen Kontext gestellt werden soll. In der Tat gehört die »Iphigenie« noch zum Kreis der »jugendlichen Conceptionen«.

71

In den »Ephemerides« hatte sich Goethe mit Lessings »Laokoon« und seiner Behauptung, daß die Alten »nie eine Furie gebildet« hätten, auseinandergesetzt. Gegen den Hamburger Dramaturgen behauptet er, daß sie »nicht so sehr das häßliche als das falsche«122 scheuten. In frühen Briefen verbindet sich der alte Stoff der Orestie unmittelbar mit der persönlichen Lebensproblematik. Dabei ist der Anspruch des jungen Frankfurter Rechtsanwalts an sich, die Welt und die Götter hyperbolisch. Unter dem 25. September 1772123 rechnet sich Goethe zu den Tantaliden, und in einem ebenfalls frühen Brief (17.-28. August 1775) sieht er eine Entsprechung seiner eigenen Situation zu der des Orest.124 Noch in Dichtung und Wahrheit hält er das frühe Lebensgefühl fest: »Tantalus, Ixion, Sisyphus waren meine Heiligen.« Und er deutet die Halbgötter als »Glieder einer ungeheuren Opposition«, der seine Iphigenie »einen Theil der Wirkung schuldig« sei, »welches dieses Stück hervorzubringen das Glück hatte.«125 Die zentrale mythologische Gestalt, Iphigenie, tritt zuerst in einem Brief an Frau von Stein vom 14. Februar 1779 auf. Die Briefstelle selber markiert zugleich die »sauere Arbeit der dramatischen Fonn«. Und als wolle er Lessing parodieren, fügt er hinzu: So ganz ohne Sammlung, nur den einen Fus im Steigriemen des Dichter Hippogryphs, wills sehr schweer seyn, etwas zu bringen das nicht ganz mit Glanzleinwand Lumpen gekleidet sey.126

Die Polemik Goethes richtet sich gegen eine Theaterantike, gegen die bloße antikische Pose der Zeit, gegen die Nachahmung der »Alten« als Spiel des Hofs. Theatralische Verkleidung bei ungeändertem Innern, barockes Rollenspiel als Spiel mit dem Mythos sind Goethes Sache nicht. Das Imaginationstheater fordert ein neues Pathos. Auch wenn Goethe den spielerischen Ritt auf dem Pegasus traditionell vorschützt,

122 123 124 125 126

72

Der WA WA WA WA

junge Goethe I, S. 431. IV, 2, S. 27. IV, 2, S. 282. I, 28, S. 314. IV, 4, S. 11.

seine Reitkünste sind von der gefährlichen Sorte -

Zirkuskunststücke

oder Kapriolen des unerfahrenen Reiters. Die

Antike

ungezähmtes

kennt

Pferd.

den

Sie

Hippogryphen

bringt

ihn

als

ein

zusammen

sich

nicht

bäumendes,

nur

mit

der

Zähmung durch Minervas Hilfe, sondern auch mit dem vergeblichen Versuch des Bellerophon, die Himmel zu erstürmen. Sein Hufschlag, gefährlich

für

den

Reiter,

läßt

eben

den

Quell

der

Poesie,

die

Hippokrene, entspringen. Seine Herkunft aus dem Blut der Medusa führt in den

Kontext

der

Perseus - Sage,

der in der

»Classischen

Walpurgisnacht« auferstehen soll. Iphigenie: allein Der Mythenscherz kann vorderhand noch kolloquial verstanden werden. Der Dichter kennt andere »Quellen schöner Lieder«. Seine Muse ist »Erinnerung«. Wenige Tage später schreibt Goethe: Meine Seele löst sich nach und nach durch die lieblichen Töne aus den Banden der Protokolle und Ackten. Ein Quatro neben in der grünen Stube, sizz ich und rufe die fernen Gestalten leise herüber [...]. (An Frau von Stein, 22. Februar 1779.) 1 2 7

Ferne Gestalten werden herübergerufen. Die zeitliche Differenz von Erinnerung und Erinnertem

ist Kern des poetischen Prozesses. Die

Gestalten der Poesie sind, j a müssen fern sein. Diese zeitliche D i f ferenz wird überlagert von der Differenz poetischer und prosaischer Tätigkeit. Dem pathetischen Gemeinschaftsgefühl des Sturm und Drang, dem ein ebenso pathetisches Einsamkeitsgefühl entgegentritt, ist die nüchtern sachliche Differenz von »Tagesarbeit« und »Erinnerungsarbeit« gefolgt. In der Erinnerungsarbeit ist der Poet programmatisch auf sich selbst zurückgeworfen, »allein«. Die ständige Betonung der Notwendigkeit, »allein« zu sein, die Differenz der Welt der Dichtung von der »Wirklichkeit« -

man denke

an den Kontrast Rekrutenaushebung und »einsames« Schreiben am 4. März 1779, an den Hunger der Strumpfwürker von Apolda, dessen Gegenwart das Drama nicht fortkommen lasse (An Frau von Stein, 6.

127

Vgl. WA IV, 4,

s.

12.

73

März 1779),128 und an das Tagebuch in Ilmenau, der Bergbaustadt, in das Goethe die Niederschrift des 4. Aktes »allein auf dem Schwalbenstein« notiert. »Allein« werden »Gestalten« herübergerufen, Erinnerungen beschworen. Diese »Gestalten« sind, wie wir aus der »Zueignung« zu »Faust« wissen, selbsttätig, sie drängen herzu, wenn sie beschworen werden. Sie rufen aus einer anderen Gegend, aus dem Reich der Toten herüber. Die bedrängende Macht der poetischen Gestalten ist nicht ihre lebendige Gegenwart, sondern ihr Abgestorbensein. Weil sie fern sind, unnahbar, sind sie nah und bedrängend. Zu fragen ist nach der Realität der Gestalten aus dem Erinnerungsraum, nach ihrer lebensgeschichtlichen Situierung. Zu den Entstehungsbedingungen der »Iphigenie«, die »mit der Seele sucht«, gehören zwei Todesfälle, ein »ferner« und ein »naher«: Der Tod der Schwester Cornelia am 8. Juni 1777 in Emmendingen und der Freitod des Hoffräuleins Christel von Laßberg am 16. Januar 1778 in der Ilm, in unmittelbarer Nähe zum Gartenhaus. Goethes Denkmalplan in Weimar holt das ferne Grabmal der Schwester in die Nähe, ruft deren »Gestalt« herüber. »Iphigenie« richtet dieses Denkmal im »Innern« auf. Die Frage nach der Konzeption der »Iphigenie« verweist auf einen strukturierten Erfahrungsraum, auf ein bestimmtes, notiertes Grund konzept in den Jahren um 1770, auf die Frage nach der »Bildung« des Todes, der Wahlverwandtschaft des Poeten mit den Tantaliden und den konkreten Todesfällen im Jahre 1777. »Iphigenie« wird so ein Stück von der Erinnerung, wie es ein Stück Erinnerung wachhält. Die sorgfältig verborgene Tragik ist den Interpreten nicht entgangen; auch der gute Schluß läßt die Folgegeschichte des Fluchs, der auf Orest lastet, nicht vergessen. Tantals Haus kann dem Verderben nicht entgehen. Iphigenie, »die Schwester«, ist »allein« wie der Poet, der sie »herübergerufen« hat aus dem Schattenreich. Ihre Monologe struk turieren das Drama. »Allein« tritt sie »mit schaudernden Gefühl« in den »schattigen Hain«. »Allein« steht sie am Ufer des Meers, das sie von »den G e 128

74

W A IV, 4, S. 18.

liebten« trennt, »allein« sucht sie »mit der Seele« das »Land der Griechen«. »Allein« bleibt sie auch nach der mahnenden Rede des Arkas im zweiten Auftritt. Gegenüber Thoas spricht sie zum erstenmal ihr Geheimnis aus, das sie zum Alleinsein bestimmt. Sie gehört zu Tantals Haus. »Allein«, auf sich gestellt, bittet sie die Göttin, sie vor der Ausübung des blutigen Opferamts an den noch unbekannten Fremden zu verschonen, da sie deren Erinnerungsgestalten fürchten müßte: O enthalte vom Blut meine Hände! Nimmer bringt es Segen und Ruhe; Und die Gestalt des zufällig Ermordeten Wird auf des traurig - unwilligen Mörders Böse Stunden lauern und schrecken. (V. 549ff.)

Als Orest sich ihr zu erkennen gibt, um sich sogleich wieder zu entfernen, ist sie wieder allein. Sie gibt sich ganz dem Erinnerungsbild hin: So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter Des größten Vaters, endlich zu mir nieder! Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir! Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt Die Schätze des Olympus niederbringen. (V. 1094ff.)

In Erinnerungsbildern wacht auch Orest in Akt II, Szene 2 wieder aus seiner Betäubung auf: Noch Einen! reiche mir aus Lethe's Fluten Den letzten kühlen Becher der Erquickung! Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen Hinweggespült, bald fließet still mein Geist, Der Quelle des Vergessens hingegeben, Zu euch, ihr Schatten, in die ew'gen Nebel. (V. 1258ff.)

Die Erinnerungsmetaphorik der Flut des Vergessens, der Schat tenhaftigkeit des Erinnerns, des Nebels im Erinnerungsraum weist voraus auf die »schwankenden Gestalten« der »Zueignung« zu »Faust«.

75

Entschlossen zur gemeinsamen Flucht, steigen in ihr im zweiten Monolog des vierten Aufzugs erneut Erinnerungen auf und wenden ihren Sinn: [...] Nun hat die Stimme Des treuen Manns mich wieder aufgeweckt, Daß ich auch Menschen hier verlasse, mich Erinnert. [...](V. 1522ff.)

Wieder ist sie im letzten Monolog des vierten Aktes »allein«, auf sich selbst gestellt. Ihr »Bild« in ihrer Seele zu retten, fordert sie von den Göttern. Das »vergessene« Lied der Parzen kommt ihr ins Gedächtnis. Vorbereitet ist die »günstige« Wendung im fünften Akt dadurch, daß nun auch Thoas »allein« gelassen wird, auf sich selbst zurückgeworfen. Im entscheidenden Dialog ruft Iphigenie die Einsicht des Alleinseins als »Erinnerung des gleichen Schicksals« (V. 1843) zu ihrer Rettung auf. Die Macht der Erinnerung ist es, die sie hier in der Rede erprobt. Sie gibt ihr Geheimnis um die Griechen vor Thoas auf und rechnet mit der Macht des Wortes, die eine Macht der erinnernden Repräsentation ist. Das »Bild der Schwester« bleibt auf Tauris, auch wenn Iphigenie selbst mit den Griechen gehen wird. Der Schluß macht das Unmögliche möglich. Das »Denkmal« der »Schwester« soll bleiben, als äußere Realität des Steins, als innere Realität der erinnerten Gestalt. Iphigenie versucht auch dieses, das innere Bild, zu »retten«: Thoas »Eindruck« bleibt in ihrer Seele, auch wenn sie ihn nun allein läßt. So ist selbst der lösende Trost des Schlusses mit einem rettenden Erinnerungsbild verknüpft. Die Aufführung des Stücks am 6. April 1779, mit Corona Schröter als Iphigenie, Goethe als Orest, Prinz Konstantin als Pylades und dem ersten Freund aus der Weimarer Sozietät, Karl Ludwig von Knebel, als Thoas, bringt das Stück in den privaten Raum des Liebhabertheaters, in den Kontext des Schäferspiels, jener höfisch gebändigten Antike. Für die Öffentlichkeit war das Thema noch nicht bestimmt. Die Wissenden hielten die Spannung aus, mit der Goethe sie, als persönliche Lebensproblematik, im antiken »Bild« konfrontierte. Sie verstanden nicht nur den Mythos, das Allgemeine des Stücks, sondern auch das

76

spezifisch Persönliche daran. Die Aufführung blieb einmalig, gegen die Gesetze des Theaters unwiederholbar. Für den Poeten bleibt die Frage offen, in welcher Form er die theatralische Forderung nach Wiederholbarkeit der persönlichen Erinnerung »festbringen« kann. Die sogenannte Prosa - »Iphigenie«, von der wir annehmen, daß sie der Spieltext war, erfüllt diese Forderung nicht. Ob sie, in dieser Form, ohne die Beteiligten selber in ihren Lebensrollen überhaupt spielbar wäre, muß dahingestellt bleiben. Wie der sogenannte »Urfaust« ist sie eine besondere Form in der Erinnerungsenzyklopädie. Sophokles versus Cr£billon Für die Bühnenform der »Iphigenie« werden Gespräche, Lektüre und Erfahrungen wichtig, die an die literarischen Spannungen der Jahre um 1772 erinnern. Zum ersten ist es das »Gericht« Wielands, vor dem die Prosaform nicht besteht, zum anderen die erneute, aufmerksame Lektüre der »Elektra« des Sophokles im Spätsommer 1786, die Goethe zur Umarbeitung zwingen. Der »Kunst des Sophokles« ist genüge zu tun. Goethe vernimmt innerlich »die langen Jamben ohne Abschnitt und das sonderbare Wälzen und Rollen des Periods« im Original. Die kurzen Zeilen des eigenen Stücks werden ihm unlesbar. Auf der Reise nach Italien, an Gasthoftischen, allein in der lauten Menge, auf dem Zimmer, nimmt er die Umarbeitung vor. »Iphigenie« »quillt auf«, das »stockende Sylbenmaas wird in fortgehende Harmonie verwandelt«. (An den Herzog. Verona, den 18. Sept. 1786.)129 Die Bühnenform gewinnt das Stück, als Goethe in Venedig am 6. Oktober 1786 die »Elektra« des Crebillon auf dem Theater sieht. Daß ihm diese Repräsentation im Vergleich mit der eigenen, inneren Repräsentation abgeschmackt und langweilig erscheinen muß, ist nur die eine Seite der Wirkungen dieses venezianischen Theaterabends. Die andere besteht darin, daß Goethe zumindest im Gedankenexperiment sein Stück nun dem öffentlichen Theater und damit dem Publikum näherbringen will:

129

Vgl. WA IV, 8, S. 25.

77

Auch hab ich mir Überlegt, daß ich mit dieser Truppe und vor diesem Volclte wohl meine Iphigenie spielen wollte, nur würd ich eins und das andre verändern, wie ich überhaupt hätte thun müssen, wenn ich sie auch unsem Theatern, und unserm Publico hätte näher bringen wollen.130

Ein drittes »Bild« entfernt das Stück erneut von der profanen Welt des Theaters und rückt es in die Zone der religiösen Andacht. Um seine innere Gestaltenfülle »festzubringen«, nutzt Goethe erstmals prägnant ein »Bild« aus der christlich - kirchlichen Tradition. In Bologna findet er ein Andachtsbild der Heiligen Agatha von Raffael. Der Maler habe der Heiligen eine »gesunde sichre Jungfräulichkeit gegeben ohne Reiz, doch ohne Kälte und Rohheit«. Dieses Bild habe er sich »gemerkt«: Er werde »diesem Ideal« seine »Iphigenie« vorlesen und seine »Heldinn nichts sagen laßen was diese Heilige nicht sagen könnte.«131 Am 13. Januar 1787 schickt Goethe das fertiggestellte Stück nach Weimar. Herder, die Frauen (die Herzoginnen, Frau von Stein) und Wieland sollen die ersten Leser sein. Goethe gibt es zurück an den kleinen Kreis der Wissenden. Im gleichen Jahr erscheint das Stück in den »Schriften« bei Göschen. Auf das öffentliche Theater wird es 1802 von Schiller gebracht, nicht ohne erneute Umarbeitungen, auch wenn der Dramaturg bemerkt, daß die Zahl seiner Eingriffe in das Manuskript, die berüchtigten Striche, nicht allzu zahlreich sind. Das »Bild« ist in seiner Eigenart unveränderlich festgebracht, als Erinnerungsform abgelöst vom Autor, der es gelegentlich als »verteufelt human« interpretiert oder als Medizin für alle menschlichen Gebrechen ausgibt; ein Satz, den er dem Schauspieler Krüger in ein Exemplar der »Iphigenie« schreibt.132 Goethes Urteil ist ambivalent, distanziert, beteiligt. Das Stück bleibt ein Prüfstück für das neuklassische Theater auf der Suche nach der antiken Form.

130 131 132

78

Tagebuch für Frau von Stein, 7. Okt. 1786, WA III, 1, S. 275. Tagebuch für Frau von Stein, 19. Okt. 1786, WA III, 1, S. 306. 31. März 1827, WA I, Bd. 4, S. 277.

2.2 Egmont: Die Geschichte und das kleine Leben Geheimgeschichte Im Mittelpunkt des »Götz« steht eine Person, die - bei aller historisch - öffentlichen, reichsgeschichtlichen Konkretion - doch in einer eigentümlichen Privatheit verharrt. Der »geheime Punct«,133 um den sich das Drama drehe, ist eher ein mystisch - mythischer als ein geschichtlicher. Das Zusammentreffen von »prätendierter Freiheit« des »Ich« mit dem »notwendigen Gang des Ganzen« kann zwar als Grundthema von Geschichte überhaupt gedeutet werden, die gewählte Figur des »Götz« bringt es jedoch mit sich, daß die verhandelte Geschichte eher den Charakter einer Anekdote erhält, den einer Geheimgeschichte, die zwar die Folie der öffentlichen Geschichte voraussetzt, im letzten aber ihr Gesetz mißdeutet und gerade darin zum Scheitern verurteilt ist. »Götz« ist und bleibt »unzeitgemäß«, überzeitlich und deshalb auch ungeschichtlich. Den Raum des Geschichtlichen in einem für den Autor selber nicht unbedenklichen Sinn betritt Goethe mit »Egmont«, einem Werk, dessen Werdezeit von den 70er Jahren bis in die Jahre der Französischen Revolution nach 1789 reicht. Deren Vorgeschichte wird für Goethe zur Bestätigung des Imaginierten und prägt sein eigenes Bild vom Wesen der Geschichte mit aus. Die späteren Äußerungen über den »Punct«, um den sich »Egmont« drehe, müssen unter diesem Aspekt der Ausbildung des Geschichtsbildes bei Goethe interpretiert werden. Volkmar Braunbehrens hat in seiner Studie zu »Egmont« dargelegt, wie dieser Stoff mit den Jahren in Weimar für den Autor immer politischer wird. Er mißt deshalb, gestützt auch auf die Entstehungszeugnisse, der italienischen, letzten Ausführungsphase besondere Bedeutung bei.134 Seinem Herzog gegenüber rechtfertigt Goethe die »Gaukeleien der Poesie«: er könne sich keinen gefährlicheren Leser denken als einen, 133 134

so in der Shakespearerede von 1771 in bezug auf die Dramen des Engländers formuliert. Volkmar Braunbehrens: Goethes Egmont. Text - Geschichte - Interpretation. Freiburg 1982.

79

der »auf dem Puñete der Existenz steht, um welchen der Dichter sich spielend dreht, [.,.]«.135 In »Dichtung und Wahrheit« bestimmt er diesen »Punct« genauer und faßt ihn als das Wesen des »Dämonischen«.136 Dies ist eine Konzeption, welche in ihrer geschichtlichen Ausformung allerdings kaum ohne die Begegnung mit der personifizierten Weltgeschichte, das heißt ohne die eigentümliche Faszination, die dämonische »attrativa« Napoleons denkbar ist. In bezug auf die Entstehungsgeschichte des »Egmont« verfährt Goethe in einem strikten Sinn unhistorisch. In »Dichtung und Wahrheit« ist diese Faszination jedoch bereits typologisch verallgemeinert. Die Plausibilität gewinnt die Selbstinterpretation dadurch, daß Goethe in der Tat in Napoleon die sinnliche Erscheinung des Geistes der Revolution, wenn nicht sogar, mit Hegel, des »Weltgeistes« sehen kann. Das Stück der Geschichte erscheint in dreifach wiederholter Spiegelung des Gleichen, es bestätigt sich selbst. So ist der schematische Parallelismus von 1810: »Conception des Dämonischen. Conception Egmonts.«137 Hinweis auf den sich bestätigenden Arkan-Kern des Stückes. Nicht ohne Grund betont Goethe zweierlei, die »Flucht« vor dem »Dämon« in ein Bild der Imagination einerseits und das sorgfältige Studium der geschichtlichen Ereignisse andererseits: Ich hatte die Quellen fleißig erforscht und mich möglichst unmittelbar zu unterrichten und mir alles lebendig zu vergegenwärtigen gesucht. 138

Und in einem Detail aus einem der Gespräche mit Eckermann werden Gegenwärtigkeiten zu einem Bild von der Geschichte verschmolzen: Ich schrieb den 'Egmont' im Jahre 1775, also vor fünfzig Jahren. Ich hielt mich sehr treu an die Geschichte und strebte nach möglichster Wahrheit. Als ich darauf zehn Jahre später in Rom war, las ich in den Zeitungen, dass die geschilderten

revolutionären

Szenen in den

Niederlanden

sich buchstäblich

wiederholten. Ich sah daraus, dass die Welt immer dieselbige bleibt, und dass meine Darstellung einiges Leben haben musste.

135 136 137 138 139

80

139

Gräf II, 1, Nr. 423. WA I, 29, S. 174. WA I, 29, S. 247. WA I, 29, S. 174. Gespräch mit Eckermann, 10. Jan. 1825, Gräf II, 1, Nr. 512.

Die frühen Entstehungsdokumente sind allerdings weniger konkret, was die Bedeutung der Geschichte anbetrifft. Daß sich Goethe für die Ausführung des im »Kopfe« fertigen140 Stücks ein Horoskop stellt (die Sonne müsse erst in das Sternbild des Widders eintreten),141 in eine günstige Konjunktion also, verrätselt die Konzeption. Sie ist aus der frühen Arkanpraxis gewonnen. Primär für die Konzeption des »Egmont« ist nicht Geschichte und Politik selber, sondern deren Zyklik, die Wiederkehr des Immergleichen als Erfahrung. Die Mitteilung an Frau von Stein über das »Ziel des dramatischen Wesens« ist bereits politisch perspektiviert: »wie die Grosen mit den Menschen, und die Götter mit den Grosen spielen.«142 So ist die Egmont - Konzeption im letzten privat und öffentlich zugleich. Das Paradox von der Geschichte, die »immer dieselbige« bleibt, die Rede von der »attrativa« Egmonts, seines »Dämons«, verweist auf einen Kern der Imagination, die als Dauer im Wechsel gedeutet werden kann. Die Analyse des Geschichtlichen in »Dichtung und Wahrheit«, die sich an die Produktionsgeschichte des »Egmont« anschließt, verharrt nicht in jener eigentümlichen Neutralität, die geschichtliches Studium auszeichnen soll. Das Dämonisch - Attraktive der geschichtlichen »Persönlichkeit« gewinnt vielmehr eine schillernde Ambivalenz dort, wo sie »Leben« wagt, also das ihr innewohnende Gesetz dem Leben aufzuprägen sucht. Der geschichtliche Dämon gewinnt gegenüber dem dauernden »Leben« den Charakter des Zerstörerischen. Die Götter spielen mit den Großen, die Großen spielen mit den Menschen. Egmonts geschichtliche Selbstzerstörung reißt Unschuldige mit in ihren Kreis: die Figur des Klärchen, die sich Egmont in seelischer Identität aufopfert. Nicht zu übersehen ist dabei, daß sich damit das politische Ärgernis der Handlungsweise Egmonts in der privaten Sphäre verdoppelt. Biographistische Schwätzereien, Anekdotisches im Trivialsinn, sollten zwar nicht überbewertet werden, aber hier können sie den Kern der »Egmont« - Problematik in geschichtlicher wie privater Hinsicht doch in einer Nuance erhellen: Als Goethe Christiane 'zu sich nahm', wie es bei den Biographen heißt, meldet Caroline 140 141 142

WA I, 29, s. 169. An Boie, 23. Dezember 1774, WA IV, 2, S. 220. An Frau von Stein, 14. Mai 1778, WA IV, 3, S. 223.

81

Herder - eine der Empfindsamen aus der »Gemeinschaft der Heiligen« zu Darmstadt 1772 - ihrem Mann nach Rom: »Er hat die junge Vulpius zu seinem Clärchen«. Der Kommentar der Herder ist ein politischer, ganz vorrevolutionärer: Da er ein so vorzüglicher Mensch ist, auch schon vierzig Jahre alt ist, so sollte er nichts tun, wodurch er sich zu den andern so herabwürdigt.143

Der »Topos« der Egmont - Konzeption, der zentrale »Punct« also, im den sich das Stück dreht, scheint zu einem Gemeinplatz im üblen Sinn zu verkommen, wäre er nicht an ausgezeichneter Stelle, am Schluß von »Dichtung und Wahrheit«, in ein psychologisch - stimmiges Bild gerettet. Dort werden Worte des »regierenden« Egmonts zu seinem Sekretär aus dem zweiten Aufzug des Stücks zitiert. Der Sekretär legt einen Brief des Grafen Oliva vor, der Bedenken gegenüber Egmonts Handeln äußert. Der Sekretär soll die Antwort formulieren und bittet um Argumente, Punkte im Sinne der rhetorischen Theorie von der Textherstellung. Egmonts Antwort ist scheinbar ein nichtssagender Allgemeinplatz: »Schreib' ihm, er möge unbesorgt sein; ich handle wie ich soll [...].«144 Das genügt dem Schreiber nicht. Egmont aber besteht auf eben dem »einen Punct«, um den sich für ihn alles drehe: »ich soll leben, wie ich nicht leben mag.«145 Bestätigt wird die Spannung von Privatheit und Politik auch in einer Äußerung des römischen Gesprächspartners Karl Philipp Moritz. Goethe sei durch das Studium der Perspektive - also durch die Zeichenschule - darauf gekommen, dem Stück einen Mittelpunkt zu geben. Man müsse dabei nicht am Ende des Stücks, sondern in der Mitte suchen, »so wie alle Radien vom Mittelpunkt ausgehen und sich in den Anfang und Ende verlieren«. Wieder ist das Arkan-Bild des Kreises angesprochen. Nach der Überlieferung von Caroline Herder, deren eigener, zweifelhafter, aber doch kaum völlig zu verwerfender Interpretationsansatz bereits zitiert wurde, ist der »Mittelpunct« des Stückes »die Szene, da Klärchen vor Egmont kniet und fragt: Bist du

143 144 145

82

Caroline Herder an ihren Mann, 8. März 1789, Goethes Gespräche. In vier Bänden. Erg. u. Hrsg. von Wolfgang Herwig. Bd. 1. Zürich/Stuttgart 1965, S. 471. WA I, 8, S. 218. WA I, 8, S. 218.

Egmont pp., und er antwortet: Nein, der Egmont bin ich nicht pp., dein Egmont bin ich.«146 Wagenlenker Nachtwandlerisch möchte Egmont seinem inneren Gesetz folgen. Betrachtungen seien für »Schüler und Höflinge«. Für den Handelnden gelte dies nicht. Dem besorgten Schreiber wird eine mythisierende Antwort zuteil, das Bild vom Leben als einer rasenden Fahrt. In ihm verbinden sich die Mythen von Phaeton, Ikarus und jenem Wagenlenker der Seele, die Piaton im Rossegleichnis des Dialogs »Phaidros« beschreibt. [...] Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts als, muthig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts bald links vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.

Phaethon wird für die Revolutionsgeneration zum handlungsleitenden Sinnbild, in einer Deutung, die sich bei Ovid in den »Metamorphosen« findet. Novalis zitiert diese Stelle in einem Brief an Friedrich Schlegel: »Magnis tarnen excidit ausis« - es war doch groß, was er wagte.147 Entsetzen ruft das Wagnis des Phaeton, der den Sonnenwagen des Vaters nicht zu lenken verstand, hervor, aber auch Bewunderung. Hölderlin übersetzt 1795 die Phaethon - Passagen aus Ovids »Metamorphosen« für Schillers Musenalmanach. Die Übersetzung wurde nicht veröffentlicht und ist nur in einem Bruchstück der Handschrift erhalten. Das Bruchstück enthält die Bitte des Phaeton und die Rede des Phoebus über die Gefahren der Fahrt mit dem Sonnenwagen, Sinnbild für »das heiße, wilde Leben.«148 Goethes Versuch, den »Phaethon« des Euripides nach der Ausgabe von Gottfried Hermann von 1821 zu rekonstruieren, ist im

146 147 148

Caroline Herder an ihren Mann, 25. Dez. 1788, Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 568. Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in Briefen. Hrsg. v. Max Preitz, Darmstadt 1957, S. 53. Vgl. Hölderlin. Sämtliche Werke. Hrsg. v. Friedrich Beissner. Stuttgart 1965. Bd. 5, S. 338ff., bes. S. 341 ( = Kleine Stuttgarter Ausgabe.)

83

vorliegenden Zusammenhang zu erwähnen. Im Vorsatz betont er, daß der von Ovid und Nonnus ins Universum erweiterte Schauplatz wieder auf die

enge

Lokalität

der

griechischen

Bühne

zusammengezogen

werden müsse. Die

Rede

von den

Generationen

ist

auch

im

Ikarus - Mythos.

Goethe selbst hat ihn in seiner »Helena« - Konzeption dem Gegensatz von »Klassik« und »Romantik« zugeordnet. Die alte und die neue Mythologie werden verschränkt. Die Warnung vor dem

Ikarus-Flug

wird dem Euphorion, in der alten Mythologie der Sohn des Achill, in der modernen Mythologie der Fausts und Helenas, zugerufen. Dem modernen Ikarus wird der Himmelssturz als Todesart Die

überlieferte

Todesart

(erschlagen

von

zugeschrieben.

Jupiter

mit

dem

Wetterstrahl, weil der von ihm geliebte sich nicht fügen wollte) wird hier ausdrücklich im Sinne des todbringenden Wagnisses der Jugend ersetzt, dem Fall, der dem allzu hohen Aufstieg folge. »Jugendlich«

ist

auch

die

Verwendung

des

dritten

mythischen

Elements in Egmonts Antwort auf die Bedenken des Schreibers. Der moderne Wagenlenker (bei Piaton im »Phaidros« ist es die Vernunft) reduziert sein Handeln auf den Versuch, »muthig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts bald links vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken.«149 Das entspricht, bis in die Bildeinzelheit des »Steines«, dem Bild des Durchhaltend - Charakteristischen, und des »Sturzes«, dem Bild des Erschütternd - Schrecklichen,

der

traditionellen

Affektpsychologie.

Rückgebunden sind »Ethos« und »Pathos«, die beiden Affektstufen, in den »Pragmata«; diese Trias ist zugleich die Grundfigur der aristotelischen Theorie vom Drama. Egmonts dramatisches Versehen, das den Glückswechsel provoziert, ist seine Hybris im Sinne des Phaeton Ikarus - Mythos. Sie ist in diesem »einen Puncte« und seiner dämonischen Ambivalenz beschlossen. Seine Dämonie ist eine der Art, die nicht Rücksicht auf andere nehmen will. Sie stellt sich dar als Erinnerungslosigkeit, reine Gegenwart: »Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.«150

149 150

84

WA I, 8, S. 220. WA I, 8, S. 220.

Stürzt er - die erwartete dramatische Katastrophe liegt er »mit vielen Tausenden«.151 Die Reaktion des Schreibers ist Erschrecken, »Phobos« und Warnung zugleich: »O Herr! Ihr wißt nicht was für Worte Ihr sprecht! Gott erhalt' Euch!«152 Die persönliche Spiegelung der Kernszene in »Dichtung und Wahrheit« kennt mehr vom Ziel, aber auch mehr von den Opfern. Sie macht die Erinnerungslosigkeit zum Thema. Bringt man den Kontext des Zitates mit ein, so ist hier mehr angezielt als ein effektvoller Schluß einer wichtigen Epoche der Lebensgeschichte, sie beinhaltet kritische Selbstreflexion des Erzählers. Egmonts Lebenssicherheit ist schon im Stück selber - so muß man mit Hegel paradox formulieren - nur die Sicherheit des Todes: »Es nahm das Leben, aber vielmehr ergriff es damit den Tod«.153 In Egmonts Sehnsucht nach dem unverstellten, reichen Leben ist, wie im Mythos vorgezeichnet, der Untergang mitbeschlossen. Die »Form« der Katastrophe, die eine Doppelkatastrophe darstellt, ist, auch von der Forschung her, als das Problem des Stückes gesehen worden. Deutet man den »einen Punct«, aus dem Egmont handelt, als Kern der Konzeption, so ist der Schluß des Stücks, die »Ausführung« der Katastrophe, der eigentliche Prüfstein für deren Tragfähigkeit. Entstehungsgeschichtlich ist festzuhalten, daß Goethe das Stück nicht, wie im Falle des »Götz«, in einem Zug schreiben konnte. Wieder aber ist es »in meinem Kopf«154 bereits fertig. Goethe beginnt mit der Niederschrift nicht vom Anfang des Stückes, sondern von einzelnen Szenen, die auch hier einen ersten Hörer finden, bezeichnenderweise und psychologisch gesehen außerordentlich plausibel - den pedantischen Vater. Daß später der Herzog die Rolle des prüfenden Lesers einnimmt, erscheint ebenso konsequent. »Fatal« wird ihm »der vierte Akt« (im zweiten Teil des »Faust« ist es ebenfalls der politische vierte Akt, der zuletzt entsteht), die Intrige des Herzogs Alba, die ihn in die Gewalt des politischen Gegners bringt. Alba lockt aus Egmont die Formulierungen für die Anklageschrift im entscheidenden Punkt förmlich heraus, im subtil peinlichen Verhör. Egmont verurteilt faktisch sich selbst: 151 152 153 154

ebd., S. 221. ebd., S. 221. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg 1952, S. 265. WA I, 29, S. 162.

85

Fordre unsre Häupter, so ist es auf Einmal gethan. Ob sich der Nacken diesem Joche biegen, ob er sich vor dem Beile ducken soll, kann einer edeln Seele gleich sein.155

Die Phantasie des Lesers kann nun, geleitet von geschichtlicher Kenntnis der Vorgänge, den schrecklichen Tod quasi supplieren. Das Drama ist an sein Ende gekommen. Mehr zu zeigen könnte nur die Funktion von Hinrichtungsszenen in der Realität wiederholen: die Statuierung eines abscheulichen Exempels. Tod und Verklärung Dramentheoretisch gesehen ist die »Darstellung« der »Katastrophe« nun in der Tat überflüssig; die »Handlung« ist bereits an ihr logisches Ende gekommen. Trotzdem behauptet Goethe gerade für dieses Stück nachdrücklich die »Ökonomie« der eingesetzten Mittel bei der Lösung poetischer Probleme.156 »Ökonomie« im rhetorisch - poetischen Sinn, wie sie in dieser Äußerung vorauszusetzen ist, meint die »Ordnung« des Stücks, seine künstliche und künstlerische Disposition. Im Drama bezieht sich diese Disposition nicht nur auf die »Pragmata«, also die Handlung, sondern vor allem auf »Ethos« und »Pathos«, auf Erregung der Affekte und auf die »Katharsis«. Der pragmatisch überflüssige Schluß, der nicht der logischen, sondern der emotionalen Ökonomie des Stücks dient, besteht aus zweimal zwei Simultanszenen. In »Straße. Dämmerung«157 und »Klärchens Haus«158 vollzieht sich die Klärchen - Katastrophe. In der Szene »Straße. Dämmerung« sucht Klärchen durch die hochpathoshaltige Erinnerung an den großen Egmont und seine Taten die zögerlichen und feigen Bürger zu einer Rettungstat anzustacheln. Brackenburgs Antwort: »Komm nach Hause«159 erinnert sie, im Scheitern ihres Rettungsversuches, an ihre wahre »Heimat«. Sie sucht im Tode den heimlichen Weg, ihm, der für sie »das Leben« war, zu begegnen. Sie

155 156 157 158 159

86

WA Ital. WA WA WA

I, 8, S. 271. Reise, Dez. 1787, WA I, 32, S. 180. I, 8, S. 274ff. I, 8, S. 283ff. I, 8, S. 279.

wählt freiwillig den Weg des Sokrates: »durch die Nacht zur Freiheit sanft und still«.160 In den beiden Gefängnisszenen161 vollzieht sich, trotz des Wechsels der Spielorte simultan, in zeitlicher Engführung zu Klärchens Tod, die Katastrophe Egmonts. Für die Einheit des Doppelschlusses bürgen dramaturgische Mittel, die schon von der Zeitgenossenschaft als »opernhaft«, oder, in der neueren Literatur, als lyrisch bezeichnet worden sind. Die Vorschrift der weiteren Ausführung im Blick auf »Musik« ist in der Tat von Goethe ausdrücklich gefordert; gemessen also an den aristotelischen Definitionen der Bestandstücke des Dramas würde der Vorwurf in sich zusammenfallen. Das eigentliche Problem des Schlusses ist jedoch weniger im Musikalischen als im Szenischen zu suchen, im Verbergen der Tragik durch den Glanz einer vorweggenommenen Utopie der Freiheit. Was in den Klärchen - Szenen noch konventionell erscheinen mag - allerdings nur dann, wenn man vom »Stand« der Heldin a b strahiert, der solche Sprache und solche Handlung traditionell nicht zukommt - , ist in den Egmont - Szenen durchbrochen durch szenische Elemente, die der besonderen Deutung bedürfen. Die Szene »Gefängnis« zeigt Egmont »allein«, vereinzelt, isoliert, auf sich selbst zurückgeworfen. Seine Dialogpartner sind Gestalten seiner Imagination, andrängende »Geister«,162 Bilder, »Erinnerungstraum des Glücks«163 und Unglücks: Somnium (Morpheus), der Schlaf, und Cura, die Sorge. Somnium ist Bruder des Todes, der in der griechischen Mythologie »in wechselnden Bildern«164 auftritt, einmal fürchterlich, ein andermal sanft. Die Dynamik des dämonischen Lebens kennt ihn nicht. Das Revolutionäre, das hier, geschichtlich gesehen, vorweg imaginiert wird, sieht seine »Gränze« nicht: Es maßt sich sein »angeborenes Recht auf alle Welt an«; wie »Hagelwetter« streicht es verderbend durch Wiese, Feld und Wald, und kennt »keine Gränzen«, »die Menschenhand gezogen«.165 160 161 162 163 164 165

WA WA WA WA WA WA

I, I, I, I, I, I,

8, 8, 8, 8, 8, 8,

S. S. S. S. S. S.

287. 280ff. und S. 291ff. 283. 282. 281. 282.

87

Die »Cura«, die zweite der imaginierten Gestalten, ist es, die den »Mord« »vor der Zeit«, den Tod in fürchterlicher Gestalt ausfuhrt. Ihr gegenüber baut Egmont hier noch auf enine Freiheitshoffnung, auf eine dritte Gestalt, einen rettenden Engel, der hier, ganz irdisch und himmlisch zugleich, Klärchen meint. Egmont vertraut ganz auf seine »attrativa«, den Glanz der Rhetorik seiner dämonischen Persönlichkeit, die eine gleichsinnige Antwort erwartet. Sein Mut sollte nun der seiner imaginierten Helfer werden, eine Erwartung, die das einzig gleichsinnige Klärchen hier noch zum Opfer und nicht zur Retterin werden läßt. Ein retardierendes Moment ist das Gespräch Egmonts mit Ferdinand, dem Sohn des Feindes. Schillers unsäglicher Einfall, hier Alba noch lauschen zu lassen, ist von Goethe zu recht als Störung der Ökonomie zurückgewiesen worden. Entscheidend ist nämlich, daß Ferdinand Egmont im wahrsten Sinn für den »Schluß« vorbereitet: er nimmt ihm jede Hoffnung auf Befreiung. In solcher Hoffnungslosigkeit wird plausibel, was sich in der Folge an und mit Egmont vollzieht, der Tod vor dem Tod, in mystischer Terminologie: seine Verklärung. Das Schwinden der Sinne gehört psychologisch - plausibel zum höchsten Pathos; nichts anderes ereignet sich. Die Natur ist es, die wohltätig diesen »letzten Zoll«166 fordert, sie nimmt dem aufs höchste Gequälten die »Besinnung«, läßt ihn in Ohnmacht fallen. Ferdinand stellt Egmont den Tod als Wirklichkeit vor Augen. Es ist vorbei, es ist beschlossen! und was die letzte Nacht mich ungewiß auf meinem Lager wachend hielt, das schläfert nun mit unbezwinglicher Gewißheit meine Sinnen ein.167

Umso tätiger ist die Imagination, die sich zur sanften Ekstasis einer Allegorie steigert. Freude und Schmerz, die Grundaffekte, vermischen sich. Eine innere Mauer bricht, das mystische Lichtphänomen tritt auf, wie dies von Ekstasen berichtet wird. Was Klärchen im 3. Aufzug, in der Szene »Klärchens Wohnung«168 in ihrem Schlaflied für »große Kinder« (»Hab ich doch schon

166 167 168

88

WA I, 8, S. 303. WA I, 8, S. 303. WA I, 8, S. 236ff.

manchmal ein großes Kind damit schlafen gewiegt.«)169 von der Verschränkung von Liebe, Freude, Leid und Tod »gesungen« hatte, wird hier für Egmont, bei Umkehrung der Folge, emotionale Realität: Himmelhoch jauchzend Zum Tode betrübt; Glücklich allein Ist die Seele, die liebt.170

Die hier noch als subtile Verführung deutbare Liebesmetaphysik des einfachen » d e i n Egmont« im »Mittelpunkt« des Stücks und Klärchens Antwort »So laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese!«171 drängt nun auf Einlösung. Für den Zuschauer wird diese Ekstasis Egmonts als Allegorie sichtbar gemacht, dem Ekstatiker selber gibt das innere Licht ein Sehen ohne Sinne. Goethe bedient sich hier der rhetorischen Figur der Allegorie in einer Weise, die er beim Zuschauer des 18. Jahrhunderts als verständlich voraussetzen mußte. Hederich formuliert das Aussehen der Figur der »Libertas« wie folgt: Sonst wird sie gemeiniglich stehend abgebildet, da sie in der rechten Hand den Hut, das Zeichen der Freyheit, und in der linken einen Spieß oder eine Ruthe hält, mit welcher die Knechte bey ihrer Freylassung geschlagen wurden. Auf einer Gemme hat sie noch ein Gefäß mit einem Lorbeerzweige vor sich stehen. [...] und wird von einer herbeyfliegenden Victorie gekrönet.172

Goethe nimmt die traditionellen Elemente der Libertas - Allegorie und fügt sie ein in seine Konzeption. Er läßt die »Libertas« »glänzend« erscheinen, in »himmlischem Gewände«, »umflossen« »von einer Klarheit« - das mystische Phänomen des fließenden Lichts - und gibt ihr die »Züge Klärchens«. Statt der »Ruthe« hält sie »das Bündel Pfeile«, das bereits eingeführte Sinnbild der Einheit und Freiheit der Provinzen. Indem sie den Siegeskranz reicht, wandelt sich die Allegorie der Freiheit zur Allegorie des Sieges.173

169 170 171 172 173

WA I, 8, S. 237. WA I, 8, S. 237. WA I, 8, S. 243. Benjamin Hederich: Gründliches Mythologisches Lexikon. 1770. Repr. Nachdr. Darmstadt 1967, Sp. 1465f. WA I, 8, S. 303f.

89

Dieses Bild, als phantasmagorische Pantomime auszuführen, läßt auch Klärchen in Verklärung erscheinen. Die mystische Erscheinung, deren Eindruck auch noch bleibt, als der Schlafende von den Trommeln der Hinrichtungszeremonien geweckt wird, verspricht ihm Sieg und Erfüllung seiner Hoffnungen, ein mystisches Einssein mit seinem »Volk« nimmt dem Tod den Schrecken. Schwerer deutbar sind die »blutbefleckten Sohlen« und die blutbefleckten Falten des Gewandsaumes. Sie gehören weder zu den Attributen der Libertas noch der Viktorie. Deutbar allerdings wären sie, nimmt man den Übergang des antiken Bildes in eine moderne Vorstellung aus dem Bereich der mystischen Christologie an, was im Bibelzitat »nicht umsonst vergossen« seine Bestätigung finden kann. Das Sinnbild des dammbrechenden Meers der Freiheit führt wieder in die politische Metaphorik zurück. Im Näherkommen des Trommelschlags schlägt höchstes Pathos um in die »Freude« des Beispiels, das er zu geben gewillt ist. Die geforderte Siegessymphonie dementiert das schreckliche Exempel, das an Egmont statuiert wird, und deutet es um als Sieg der Freiheit. Die Plausibilität dieses »opernhaften« Schlusses hängt nicht allein an der geschichtlichen Beglaubigung dieses Beispiels durch folgende Ereignisse, sie ergibt sich auch aus der emotionalen Ökonomie des Stücks. Der Schlüssel zu der von Goethe gewählten Problemlösung eines Verbergens und Umdeutens der Katastrophe in einen Sieg kann biographisch und literarisch zugleich formuliert werden. Goethes Verhältnis zum Tod ist komplex genug und kann hier nur in Bezug auf den Punkt verhandelt werden, der für die Schlußlösung des Egmont ansteht. Jörn Göres hat auf eine entscheidende Erfahrung Goethes verwiesen: die Krankheit nach Rückkehr aus Leipzig 1768.174 Am 6. November 1768 schreibt er an Friederike Oeser in einem Briefgedicht:

174

Vgl. Jörn Göres, Goethes Gedanken über den Tod. In: Hans Helmut Jansen (Hrsg.): Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst. Darmstadt 1978, S. 202 - 212.

90

Ich kam zu Dir, ein Todter aus dem Grabe, Den bald ein zweyter Todt zum zweytenmal begräbt; Und wem er nur einmal recht nah um's Haupt geschwebt, Der bebt Bey der Erinnerung, gewiss solang er lebt. Ich weiss wie ich gezittert habe; [...].175

Die Krisen der Krankheit (7. Dezember 1768 und Januar 1769) und die Heilung sind wiederum nicht ohne den chymisch - mystischen bzw. pansophischen Kontext zu deuten, der in »Dichtung und Wahrheit« beschrieben ist. Es muß hier nicht behauptet werden, daß Goethe das »von den Sinnen sein« vor dem Schrecklichsten und damit eine Art mystische Verzückung selbst erfahren habe, vieles aus dem Gesamtkontext aber spricht dafür. Das literarische Moment in diesem Zusammenhang erspart weitere Beweisführungen. Im Mai 1766 war Lessing »Laokoon« erschienen. Aus einer Anmerkung auf Seite 120 des Werkes entspann sich die gelehrte Fehde über die Todesdarstellungen in der Antike, aus der die Schrift »Wie die Alten den Tod gebildet« entstand. Diese Schrift ist mit der Jahreszahl 1769 versehen. Auch wenn die Lektüre nicht direkt dokumentiert ist, ihr gilt Goethes lebenslanges Interesse. In den »Ephemerides« des Jahres 1770 steht die Lektüre von Mendelssohn »Phädon« im Kontext der Todesproblematik; der »sokratische Tod« also. »Dichtung und Wahrheit« faßt die Lessing - Lektüre in einige aufschlußreiche Formulierungen, die das mögliche zeitliche Gerüst der Lektüre eigentümlich mißachten. Lessings Anmerkung wird (in Vorwegnahme der Argumentation von 1769) zur hauptsächlichen Lesefrucht der Leipziger Jahre stilisiert: Am meisten entzückte uns die Schönheit jenes Gedankens, daß die Alten den Tod als den Bruder des Schlafs anerkannt, und beide, wie es Menächmen geziemt, zum Verwechseln gleich gebildet. Hier konnten wir nun erst den Triumph des Schönen höchlich feiern, und das Häßliche jeder Art, da es doch einmal aus der Welt nicht zu vertreiben ist, im Reiche der Kunst nur in den niedrigen Kreis des Lächerlichen verweisen.176

175 176

Der junge Goethe I, S. 252. WA I, 27, S. 165.

91

»Entzückung« will hier im mystischen Vollsinn des Wortes gelesen werden, zumal in der Folge von der »Herrlichkeit solcher H a u p t - und Grundbegriffe« die Rede ist, die nur der Zeit erscheine, welche sie ersehne. Aus ihrer »unendlichefn] Wirksamkeit« leitet sich ihre Wahrheit ab, auch wenn andere an ihnen »mäkeln«.177 Die Lessing - Lektüre bestätigt die Erfahrung der in der Todesangst aufscheinenden »Schönheit«, den »Triumph des Schönen« oder präformiert sie. Zumindest war nunmehr, was die Form der Katastrophe anbetrifft, nicht mehr in die »Unform des klappernden Gerippes« (Lessing), oder in das abscheuliche Exempel der Exekution zurückzufallen. In den »Ephemerides« notiert Goethe, Gedanken von Piaton und Mendelssohn fortdenkend, die »entsetzliche Klufft« zwischen »seyn und nicht seyn«.178 Die Seele aber hat »erhabne, geistische Gefühle von Schönheit, Ordnung und also von Gott«.179 Im Sinne dieser Theorie ist »alles Erinnerung was wir in unserm Leben dencken«. Dieses »Unsichtbaare Geistische« ist der »Klufft« nicht unterworfen; es kann »nicht getrennt werden und bleibt also nach dem Todte«.180 Der »Egmont« - Schluß ist ein Versuch, den Triumph des Schönen auch in der Katastrophe durch Erinnerung zu bewahren. Mittel dazu sind die »opernhaften« Züge des Schlusses, die Imaginationen und Erscheinungen, die Behauptung eines bestehenden »Geisterreichs« im Innern. Als Elemente der »Ausführung« sind sie keineswegs un motiviert; sie ergeben sich vielmehr aus der »Conception« des Stücks. Eine andere Lösung, so kann man behaupten, hätte keine Plausibilität für sich, weder lebensgeschichtlich, noch, in der Situation nach 1769, literarisch. Den traditionellen Forderungen an die Tragödie wird vielmehr auf eine neue, psychologisch motivierte Weise Genüge getan: Die aristotelische Theorie von »Phobos«, »Eleos« und »Katharsis« und ihr Publikumsbezug wird schaubar - allegorisch in das Stück selber hineinverlegt, ein nicht unbedenkliches, modernes Unterfangen, das Ärgernis auslösen mußte. Den analog angelegten, reicheren »Faust«Schluß - »aus der besten Zeit« - siegelt Goethe in Erwartung solchen Ärgernisses zu Lebzeiten ein.

177 178 179 180

92

WA WA WA WA

I, I, I, I,

27, 37, 37, 37,

S. S. S. S.

165f. 103. 104. 104, vgl. auch: Der junge Goethe I, S. 438.

2.3 Tasso: Was sich ziemt Erfindender Tag Die Allegorie in »Egmont« sprengt die Statik des Bildes und eröffnet eine ungesehene Welt einer Erinnerung an die Zukunft. Zurückgenommen ist das ausgeführte »Trauerspiel« in den Rahmen einer ewig sich wiederholenden, ungeschichtlichen Geschichte. Auch das dritte italienische Stück, der »Torquato Tasso«, zitiert - von der Dichter krönung zu Beginn bis zur Schiffbruchmetapher zum Schluß traditionelle Bestände poetischen Redens. Deutlicher noch wird aber der »höfische« Bezugspunkt dieses Redens und seines »Aptum«. Mehr noch: in »Tasso« von 1790 wird die Differenz von höfischem Reden, der alten Rhetorik, in der man zu wissen hat, »was sich ziemt«, und der neuen Rhetorik des freien poetischen Genies, das neue Pathos, zum Thema.181 Goethes Tasso nämlich muß den Preis für seine rhetorische U n ziemlichkeit, seine Unangepaßtheit, entrichten. Er wird aus der guten Gesellschaft verbannt. Ausführlich, für das traditionelle Drama und für das Theater, nach Ansicht des Theaterdirektors Goethe zu ausführlich, wird gehandelt von den Bedingungen der Möglichkeit dichterischer Produktion. »Tasso« als tragisches Dichtergedicht sprengt den Rahmen, den die gesellschaftliche Institution Theater mit der Gattung Drama setzt. Die Produktionsgeschichte des »Tasso« ist jedoch vielschichtiger, und die Frage ist, ob die Konzentration auf die moderne Problematik des Poeten Sinnschichten verbirgt, die im Bildgeflecht des Stückes angelegt sind und seine historische Plausibilität überhaupt erst herstellen. Der Beginn der Sinnproduktion »Tasso« und ihr gesellschaftlicher Kontext ist datumsmäßig genau festgehalten. Im Tagebuch findet sich zum 30. März 1780 die Aufzeichnung: 181

Auf Goethes lebenslange Beschäftigung mit der Rhetorik im Zusammenhang mit dem »Tasso« hat Gerhard Neumann hingewiesen. Vgl. G. N.: Konfiguration. Studien zu Goethes 'Torquato Tasso'. München 1965, S. 21. Zur Bedeutung der rhetorischen Figuren im »Tasso« vgl. Johannes Manthey: Der Sprachstil in Goethes Torquato Tasso'. Berlin 1959, S. 137ff.

93

d 30 hatt ich den erfindenden Tag. Anfangs trüblich ich lenckte mich zu Geschäften, bald wards lebendiger. Brief an Kalb. Zu Mittag nach Tiefurt zu Fus Gute Erfindung Tasso. Herders Stein Werthern Knebel, gut, nur beyde Männer bissig, um 4 herein. Abends wenig Momente sinckender Krafft. darauf acht zu geben. Woher.182

»Gute Erfindung« meint, daß auf dem Weg von Weimar nach Tiefurt, irgendwo im heutigen Goethepark an der Ilm, der Fabelkern des »Tasso« zum ersten Mal vor Goethes geistigem Auge erscheint. Die Konzeption des Tasso, das »erste Zusammengesetzte« der Fabel, entsteht, blitzhaft vielleicht, wie in Inventionstheorien versichert wird. Wenig Aufmerksamkeit wird in »Tasso« - Interpretationen dem Kontext der »guten Erfindung« geschenkt. Das Datum des »erfin denden Tags« scheint zu genügen. Die Notiz aber ist reichhaltiger. Sie enthält nicht nur genaue Angaben über Zeit und Stunde, sondern auch über Bedingungen und Verlauf des Inventionsprozesses, ja sogar einen versteckten Hinweis auf den Inhalt der »Erfindung«. Dies wäre der Kontext: Tags zuvor hatte Goethe den »aufräumenden und ordnenden Tag«, abends Theaterprobe.183 Und an Frau von Stein schreibt er am Morgen, »das schöne Misel« - zu dechiffrieren ist Corona Schröter - habe ihn »gleich einem Cometen, aus [seiner] Bahn mit sich nach Hause gezogen. Es war viel übler Humor in der Probe«.184 Morgens sind Wetter und Stimmung »trüblich«. »Geschäffte« bieten Ablenkung. Es steht ein erklärendes Schreiben an den politischen Gegner im Conseil, den Kammerpräsidenten von Kalb an, das ausgefertigt werden muß: praktische Briefrhetorik. Mittags verläßt Goethe die Stadt. Er kommt nach einer einsamen Wanderung, als 'promdneur solitaire', in die Gesellschaft. Hier findet er Einveraehmen, Zuwendung, die Gesellschaft ist ihm »gut«; »nur beyde Männer«, Knebel, Herder, sind »bissig«. Greift man nun auf das zweiten Akts des »Tasso« Schluß auf den Inhalt der vom Streit zweier Männer, 182 183 184

94

WA III, 1, S. 113. WA III, I, S. 113. WA IV, 4, S. 197f.

Wissen von der Handlung des ausgeführten zurück, so läßt die Notiz bereits einen »guten Erfindung« zu. Das Stück handelt Tasso und Antonio genannt, dem Dichter

und dem Weltmann. In Tiefurt sind es die »bissigen Männer«; im Stück sind es

der von den

Damen

des Hofes

mit dem

Lorbeer

höchster Auszeichnung gekrönte Dichter und der »kalte« Hofmann, die sich in einen Streit auf Leben und Tod verwickeln, obschon sie doch Freunde sein sollten. Wir befinden uns, von der »Conception« her, am 30. März 1780 quasi schon im zweiten Akt des Dramas. Eine dramatisch - gesellschaftliche »Konstellation« ist es, die Goethe auf dem Wege nach Tiefurt imaginiert. In der Gesellschaft erkennt er ein

Beziehungsmuster,

dem

er

in

der

Einsamkeit

der

Natur

den

Merknamen »Tasso« gegeben hat. Die gerade »erfundene« Kernszene des

späteren

Stücks

wird,

mit

Eintritt

in

die

Gesellschaft,

zum

Wahrnehmungsmodell. Festzuhalten in bezug auf den Streit der »bissigen Männer« in Tiefurt ist die Position des analysierenden Zuschauers, wie sie der Poet einnimmt. Nicht Goethe 'ist' »Tasso«, wie es eine biographische Interpretation nahelegt, sondern er sieht »Tasso«. Er kommt in die gesellschaftlich verfahrene Situation hinein, beobachtet sie, bearbeitet sie in höchster intellektueller Anspannung. Erst am Abend notiert er »Momente sinckender Krafft«. Die produktive Fähigkeit »sinckt« mit dem Tagesgestirn -

ein weiteres Detail in der Selbstbeobachtung der

Kognitionsleistung. Die blitzhaft erfahrene Klarheit über eine gesellschaftliche

Kon-

stellation und deren anschließende Wahrnehmung in der Realität hat eine Vorgeschichte,

einen ersten Akt. Der erste Akt exponiert

die

»gute«, von Frauen bestimmte Gesellschaft, auf deren Folie der u n angemessene Streit der Männer überhaupt erst wahrnehmbar ist. Das Doppelgesicht der Frau Biographisch

gesehen

stehen

Reiseerfahrungen

vor

der

»Tasso« -

Konzeption. Ein zweites Mal hatte Goethe die Schweiz besucht. Die Reise war zu einer Reise in die Vergangenheit geworden. In Frankfurt wohnten der Herzog und er im Bürgerhaus am Großen Hirschgraben. In

der

Schweiz

treten

der

Herzog

und

sein

Geheimrat

bewußt

»bürgerlich« auf. In der Schweiz trifft Goethe erstmals persönlich mit einer Frau zusammen, Maria Antonia von Branconi, die er bereits 1775 im Geiste

95

und auf dem Papier nach lavaterscher Schematik mit Frau von Stein verglichen hatte. Gesehen hatte er damals nur Umrißzeichnungen. Hier das Bild und das verbalisierte Schema:

Abbildung 2.1: Frau von Stein und Frau von Branconi Stein

Brankoni

Festigkeit

unternehmende Stärcke

Gefälliges unverändertes

S c h a r f - nicht Tiefsinn

Wohnen des Gegenstandes Behagen in sich selbst

Reine Eitelkeit

Liebevolle Gefälligkeit

Feine verlangende Gefälligkeit

Naivetät und Güte,

Wiz, ausgebildete Sprache

selbstfliesende Rede

Wahl im Ausdruck

Nachgiebige Festigkeit,

Widerstand

Wohlwollen,

Gefühl ihrer selbst.

Treubleibend

Fassend u. haltend.

Siegt mit Nezzen

Siegt mit Pfeilen. 185

Mit dieser Typologie weiblicher Attraktivität ist in der Tat eine Grundschicht der »Tasso« - Konzeption angesprochen, die älter ist als die des »erfindenden Tags«: das Wahrnehmungsmodell der Frauen in 185

96

An Lavater, 31. Juli 1775, vgl. auch die Hinweise und die Abbildungen in: Mit Goethe in der Schweiz. Ein Bildband von Michael Ruetz, mit Texten von Martin Müller. Zürich 1979, S. 97f. »Die geistreiche Sirene am Genfer See«.

der »guten« Gesellschaft und ihrer sanften Herrschaftsmittel. Nicht nur der Pfeil gehört zu Amors Waffen, sondern auch das Netz, die plötzliche Überwältigung wie auch das dauernde Festhalten. Die Biographica der zweiten Schweizer gegnung mit der »Sirene« Branconi, nutzt eines »leidenschaftlichen Märchens« unter jungen Werthers vor seiner Begegnung mit

Reise, insbesondere der BeGoethe 1796 zur Gestaltung der Fiktion einer Reise des Lotte.186

Im ersten Akt des »Tasso« kehrt die Typologie weiblicher Attraktivität wieder, als Konstellation zwischen der Prinzessin und Leonore Sanvitale, den beiden Damen, die den Dichter krönen und ihn doch, aus Gründen gesellschaftlicher Ziemlichkeit, zugleich zurückweisen. Die gegenseitige Beschreibung der beiden Leonoren im Stück weist bis in den Wortlaut gehende Übereinstimmung mit dem physiognomischen Schema auf. So sind die zwei Frauen des Stücks, die beiden Leonoren, in ihrer Typik bereits 1775 »erfunden«. Auch hier stehen die »Figuren« vor der Natur. Äußere Anlässe konkretisieren das abstrakte Wahrnehmungs modell. Frau von Branconi, die »Sirene«, kommt im August 1780 nach Weimar. Die »Fischerin« und die »Jägerin« begegnen einander leibhaftig. Zu den »bissigen« Männern treten die beiden »Schönen« und ihr subtiler Wettstreit. Diplomatisch muß Goethe die Zeit, die er mit der »Schönen« verbringt, vor Frau von Stein rechtfertigen.187 Die Konzeption »Tasso« wird vollständiger: Vier Personen sind konkret »erfunden«. Tasso, Antonio und die Leonoren Wie aber kommt es zum Merknamen »Tasso« für diese Konzeption? Literaturhistorische Erinnerungen und Lektüre sind vorauszusetzen. Tasso - Kenntnis ist bei Goethe seit 1766 belegt.188 Auch die 186 187 188

Vgl. WA I, 19, S. 435f. WA IV, 4, S. 274. Die erste, wohl nur sekundäre Kenntnis dieses Werkes ist aus dem Briefwechsel mit der Schwester dem Jahre 1766 belegt, jenem deutsch - französisch - englischen Übungsstück, vgl. WA IV, 1, S. 54, auch 70. Dort zitiert er Boileau mit dem Satz »La clinquant du Tasse«, das Flitterhafte des Italieners, spricht selbst aber vom »génie supérieur«. Das Englische solle die Schwester bei Milton und Young, das

97

Tasso - Legende des Manso, eine frei erfundene Liebesgeschichte Tassos und der Prinzession Leonore, dürfte ihm bekannt gewesen sein. Entscheidend aber ist auch hier, daß das figurale Vorwissen vor der »Erfahrung«, nun: vor einer bestimmten Leseerfahrung, liegt. Zum Jahr 1781, vermutlich also bereits zur Messe im Herbst 1780, erscheint (bis 1783) das »Befreyte Jerusalem« des Tasso in der Ausgabe durch Wilhelm Heinse, zweisprachig, in Prosa übersetzt.189 Noch 1819 erinnert sich Goethe daran, »wie mein guter Heinse zu Venedig das Befreite Jerusalem übersetzte, im Bette liegend um das Holz zu ersparen, [...]. (An J. D. Gries, 23. Juni 1819.)«190 In Heinses Vorwort finden sich Einzelzüge und Grundstrukturen, die Goethe in seine »Tasso« - Konzeption einarbeiten kann. Heinse berichtet von drei Leonoren am Hof von Ferrara. Das Motiv wird von Goethe gemäß seiner typologischen Sicht in das der zwei Leonoren umgearbeitet. Bei Heinse, und nicht erst bei Serassi 1785, findet sich das Motiv des noch namenlosen »Gegners« des Dichters. In Goethes Konzeption erscheint die Gegnerschaft im Bild von den »bissigen« Männern. Die Sinnproduktion läßt sich als Aggregat von Konzeptionen und Empirie, von Vorwissen und Erfahrung beschreiben. Die Ausführung der »guten Erfindung« ist vom 14. Oktober 1780 an bezeugt: »Tasso angefangen zu schreiben«.191 Goethe arbeitet an dem neuen Stück bis in den Sommer 1781 hinein, bis zum 2. Akt, ohne es jedoch abschließen zu können. Der sogenannte »Urtasso« dürfte aber, gemäß unseren Überlegungen, vollständiger gewesen sein, als dies die bisherige Forschung annimmt.192 Zwei Akte werden gemäß der Konzeption »ausgeführt«, in Prosa, der Redeform, wie sie Goethe auch für die frühe »Iphigenie« verwandte. Frau von Stein erhält den ersten Akt zur Lektüre, mit der ausdrücklichen Bitte: »Lassen Sie ihn niemand sehen.«193 Offensichtlich

189

190 191 192 193

98

Italienische bei Tasso und das Deutsche bei Geßner und Klopstock WA IV, 1, S. 71. Das Befreyte Jerusalem, übers, v. Wilhelm Heinse. Mannheim Exemplar in der Bibliothek des Freien Deutschen Hochstifts. Goethemuseum. Vgl. WA IV, 31, S. 200. WA in, 1, S. 125. Vgl. die Hinweise in der Gedenkausgabe Bd. 6, S. 1168 und in der Ausgabe Bd. 5, S. 445. Graf D, 4, Nr. 4113.

lernen. Vgl. 1781-1783. Frankfurter

Hamburger

erhält auch Knebel, der eine der »bissigen« Männer, Kenntnis vom Text: »Knebel hat curiose Sachen über den ersten Act gesagt. Aber gute.«194 Lavater hat den Text über Barbara Schultheß kennengelernt, die den »vollendeten zweitenfn] Act« Mitte November 1781 zugesandt bekam.195 Am 25. August 1781 liest Goethe den »Tasso« der Herzogin Luise vor;196 beteiligt war offensichtlich auch die Gräfin Werthern: »Die Werthern hat den Tasso' mit recitirt und recht artig.«197 Bei der Konfrontation der »guten« Gesellschaft mit ihrem eigenen Bild tritt die Produktionsstockung ein. Die Identifikation mit dem Bild, wie im Falle der »Iphigenie«, bis hin zum Spiel auf dem Lieb habertheater, gelingt nicht. Fast unhöflich fordert Goethe im Mai 1782 das Fragment von Knebel zurück.198 Das Stück findet nicht den Widerhall, den Goethe zur Ausführung braucht. Er sieht, so an Lavater, nicht den »Raum« vor sich, »die übrigen Acte zu enden.«199 Die Nähe der Konzeption zum Leben ist es, das unmittelbar Eingreifende und nicht nur Ergreifende des Stoffs, die Irritationen hervorrufen muß. »Tasso« wird, in dieser Konstellation, zum biographischen Problem. Goethe wird »Tasso«. Eine zweite Schaffensphase beginnt in Rom um den 19. Februar 1787, nach der bewußten Absonderung von der Weimarer Hofgesellschaft. Sie hat das Ziel, daß das Werk »geendigt werden soll«.200 Wie im Falle der »Iphigenie« bedeutet dies zunächst die Umarbeitung des »Äußeren«, der »poetischen Prosa« der ersten beiden Akte in die Versform. Sie dient dazu, das »Weichliche, Nebelhafte« der älteren Szenen durch den Rhythmus zu formen. Es ist keineswegs nur eine biographische Merkwürdigkeit, wenn der neue Plan auf der Fahrt nach Neapel im Sturm gedeiht, »im Wallfischbauch« eines Schiffs,201 quasi in einer Retorte.

194 195 196 197 198 199 200 201

Graf n, 4, Nr. 4122. Vgl. Graf n , 4, Nr. 4144, 4149, 4150. Graf n, 4, Nr. 4147. Graf II, 4, Nr. 4148. Graf II, 4, Nr. 4153. Graf n, 4, Nr. 4149. An Knebel, vgl. WA IV, 8, S. 194. Ital. Reise,vgl. WA I, 31, S. 86.

99

Abgeschlossen von der äußern Welt, ließ ich die innere walten, und da eine langsame Fahrt vorauszusehen war, gab ich mir gleich zu bedeutender Unterhaltung ein starkes Pensum auf. Die zwei ersten Acte des 'Tasso', in poetischer Prosa geschrieben, hatte ich von allen Papieren allein über See genommen.202

Der Kontext des neuen Plans ist komplex. Goethe zieht sich auf sich selbst zurück und erinnert »jugendliche Conceptionen«. Die biblischchristologische Anspielung auf die Jonas-Fabel, Präfiguration des Karfreitagsgeschehens, gibt dem Gesellschaftsstück eine neue Dimension, die Dimension italienischer »Wiedergeburt«. Die grundlegende Umarbeitung während des zweiten römischen A u fenthaltes 1788 bedient sich zudem »äußerer« Mittel, um zusätzlichen »Stoff« zu gewinnen: Goethe liest das »Leben des Tasso« von Serassi. In Florenz, in den dortigen Gärten, arbeitet er an einigen Szenen. Das »Ganze« schließt sich in Weimar - wiederum eine Merkwürdigkeit im Blick auf den Fabelkern - »bei einem zufälligen Aufenthalt zu Belvedere, wo so viele Erinnerungen bedeutender Momente mich umschwebten«.203 Das Stück wird so Szene für Szene ausgeführt. Ende Juni 1789 geht es in den Druck. Konfrontiert man das fertige Stück mit den Elementen von 1780/81, so ist der Fabelkern reicher, komplexer geworden. Aus dem Streit der bissigen Männer und der erotischen Typologie der siegenden Frauen ist die »Tragödie des Dichters« 204 geworden. Elizabeth M. Wilkinson hat in ihrer Interpretation des Werkes von 1946 auf den im Drama enthaltenen, durchgehenden Bericht von der verborgenen Tätigkeit des Poeten hingewiesen. Er wird in der italienischen Ausführung zum Hauptthema des Werkes. Goethe zeige im »Tasso«, wie sich »die Einbildungskraft des Dichters zu seinem Handwerk« verhalte, wie »er sein Kunstwerk aus dem Rohmaterial der Erfahrung« herausmeißele.205 Diese Beschreibung des dichterischen Prozesses verbindet sie mit Elementen aus der Dichtungstheorie der englischen Romantiker 202 203 204

205

WA I, 31, S. 82f. WA I, 32, S. 428f. Wolfdietrich Rasch: Goethes »Torquato Tasso«. Die Tragödie des Dichters. Stuttgart 1954. Elizabeth M. Wilkinson: Goethe. »Tasso«. In: Das deutsche Drama. Hrsg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1958 u.ö., S. 195. bes. S. 201.

100

Wordsworth und Coleridge. Die romantische Theorie aber führt wiederum auf eine Anverwandlung der rhetorischen Theorie zurück. Klaus Dockhorn hat den zentralen begriffsgeschichtlichen Prozeß in seinem Aufsatz zu Wordsworth beschrieben, der am Beginn der neueren Rhetorik - Diskussion steht.206 Mit anderen Worten: die italienische Neukonzeption entwickelt sich auf der Basis älterer rhetorischer Modellierungen des Schöpfungs Prozesses. Es entsteht in diesem Prozeß eine moderne Theorie der Poesie, die »Poesie der Poesie« im Werk selber. Gesteigerter Werther Mit der neuen Dichtungstheorie ist zugleich die moderne Subjektivismusproblematik in den Fabelkern eingeführt. Goethe bestätigt 1827 die Richtigkeit eines Aperçus des französischen Literaturhistorikers Ampère. Dieser hatte »Werther« und »Tasso« in Beziehung gebracht.207 »Werther« war in Frankreich bekannt, und der Formkontrast der beiden Werke war augenscheinlich. Bekannt war auch der Rückbezug des »Werther« auf den Rousseauismus. Anzumerken ist, daß auch die Lektüre der postum (1782) erschienenen »Promenaden« Rousseau zu einer stofflichen Anreicherung der »Tasso« - Konzeption führen konnte. So ist die Behauptung des Literaturhistorikers, beide Werke hätten den gleichen Ursprung, ganz plastisch zu nehmen (in der Übersetzung Goethes): [...] und mir scheint, er selbst [Rousseau] spricht aus dem Munde des Tasso, und durch diese harmonische Poesie hört man den 'Werther' durch.208

206

207

208

Klaus Dockhorn: Wordsworth und die rhetorische Tradition in England (1944). In: K. D.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg 1968, S. 9 - 4 5 . Vgl. Elizabeth Wilkinson: »Tasso - ein gesteigerter Werther« in the light of Goethe's principle of »Steigerung«. In: The Modern Language Review 44 (1949), S. 305 - 328, dt. v. E. Grumach in: Goethe N.F. 13 (1951), S. 28 - 58. [...] il me semble que c'est lui qui parle par la bouche du Tasse; et dans cette poésie si harmonieuse, si délicate, il y a du Werther. (Le globe 3, 342. Gräf II, 1, Nr. 45 Anm. S. 37.)

101

Goethe interpretiert diesen Satz in der Bemerkung, »Tasso« sei ein »gesteigerter Werther«, mit einer Interpretation der Interpretation, die über das, was Ampère meint, in spezifischer Weise hinausgeht. Der Begriff der »Steigerung« greift einen Leitbegriff der Poetologie Goethes auf, die Operation des »Cohobirens«, des wiederholten Destillierens der älteren Chemie, die noch im letzten Brief Goethes an Wilhelm von Humboldt aus dem Jahre 1832 erwähnt wird.209 Der Begriff läßt sich zugleich mit dem der »Ausführung« im Sinne der rhetorischen Steigerung (amplificatio, auxesis) verbinden. Wie bei den »jugendlichen Conceptionen« verbindet sich Rhetorik und Chymie auch in diesem Zentralbegriff Goethescher Kreativität. Chymische Figuren Das Prinzip der »Steigerung« im Sinne des »Cohobirens« läßt nach einem »chymischen« Hintergrund der Tasso - Konzeption von 1780 fragen, nach einem Vor-Wissen, das vor der genialischen »Erfindung« steht. Erneut ist, und nun gezielt, die Ausgangskonstellation des »Tasso« zu untersuchen. Ein Satz im Stück macht die besondere Komplikation und Bedeutung der dramatischen Konstellation deutlich: Tasso und Antonio sollten eigentlich nur eine Person sein. Daß die Namensgleichheit der Leonoren nicht Zufall sein dürfte, also auch sie eine Person sein sollten, entspricht dem chymischen Prinzip der Steigerung durch Gegensatz. Der Herzog definiert durch seine herausgehobene Stellung den gesellschaftlichen Ort der beiden Frauen und ihren Handlungs Spielraum. Die Prinzessin gehört zum Fürsten als sein anderes, schwesterliches Ich, und so ist aber auch die Prinzessin wiederum der namensgleichen Leonore Sanvitale zugeordnet, diese wiederum Antonio, von dem wir wissen, wie er zu Tasso steht. Die Personen stehen also in einer ablesbaren Struktur zueinander. Zeichnet man probehalber diese Struktur auf, so ergibt sich eine bedeutende chymische Figur: oben steht der Fürst, ihm gegenüber, an Rang nur wenig unter ihm, die Schwester, auf der anderen Seite. Ihr gegenüber, rangmäßig wiederum um ein weniges abgestuft, die andere 209

W A IV, 49, S. 283.

102

Leonore. Dieser wiederum zugeordnet, rangmäßig unter dem Fürsten, der Schwester und Leonore, steht der Hofmann Antonio. An Jahren der jüngste rangiert Tasso auf der untersten Stufe. Hier das Rangschema: Alfons der Zweite, Herzog von Ferrara Leonore von Este, Schwester des Herzogs Leonore Sanvitale, Gräfin von Scandiano Antonio Montecatino, Staatssekretär Torquato Tasso

Verbindet man Rangstufungen und Zuordnungen zu einer Linie, so geht diese Linie vom Fürsten zur Prinzessin, von der Prinzessin zur Leonore Sanvitale, von dieser zu Antonio, von dort zu Tasso. Zu verfolgen ist eine Schlangenlinie. Eine korrespondierende Linie ergibt sich, ordnet man die Personen nach ihren Temperamenten. Hier steht der Herzog gegen die Prinzessin, diese gegen Leonore Sanvitale, diese gegen Tasso, jener gegen Antonio, entsprechend dem typologischen Grundmuster der siegenden Frauen und der bissigen Männer. Diese Gegenlinie entspricht dem Personenverzeichnis des Stücks, das in Bezug auf die Hauptperson auffällig vom gesellschaftlichen Rangschema abweicht. Alfons der Zweite, Herzog von FerTara Leonore von Este, Schwester des Herzogs Leonore Sanvitale, Gräfin von Scandiano Torquato Tasso Antonio Montecatino, Staatsekretär

Eine Figur ist ablesbar, die, um eine Mittellinie sich windend, die Personen wechselseitig voneinander »abhängig« werden läßt. Das so entstehende chymische Symbol ist bekannt: es ist das des Stabes des Merkur, um den sich Schlangen winden. Auf dem Theater kann die Figur als Wechselspiel der Gefühle f ü r - und gegeneinander schaubar und hörbar gemacht werden. Das Suchbild führt, sieht man auf seine Tradition und seinen Kontext in der Alchimie, an einen verborgenen »Sinn« des Stückes heran.

103

Der Biologe und Morphologe Hans A. Froebe hat in seinem Aufsatz »Ulmbaum und Rebe« von 1969210 nicht nur den naturwissenschaftlichen, sondern auch den emblematischen Hintergrund entsprechender »Figuren« untersucht. Die einfache »Figur«, Stab und Schlange, steht bei Alciat für »Dauerade Freundschaft«. Ähnlich ist die Figur, die für »Eile mit Weile« steht. Ein Fisch windet sich um einen Pfeil. Daß dauernde Freundschaft Weile haben muß, ist Antonios Position im Streit mit dem heftig in ihn drängenden Tasso. In gleichem Zusammenhang hat Froebe auf eine »Figur« aus alchimistisch - rosenkreuzerischer Überlieferung hingewiesen, ohne 211 jedoch die »Tasso« - Konzeption anzusprechen. Sie zeigt zwei Männer, die sich kampfbereit gegenüberstehen. Ein Adler sitzt auf der Schwertspitze des einen, eine Schlange windet sich um die des anderen. In der Mitte steht ein geflügelter Jüngling, der einen Merkurstab in der Hand hält.

H.Jyur.

Abbildung 2.2: Zweiter Schlüssel des Basilius

Froebe faßt den »Sinn« dieser »Figur« folgendermaßen zusammmen: 210 211

Hans A. Froebe: Ulmbaum und Rebe. In: JbdFDH 1969, S. 164-193. Vgl. Froebe a.a.O., S. 181ff. Die Figur ist enthalten in: Stoltzius von Stoltzenberg: Chymisches Lustgärtlein. Frankfurt 1624. Nachdr. Dannstadt 1964, Neuausg. Darmstadt 1987.

104

Sowohl das in die Lebenstiefen strebende Weisheitssuchen, wie auch die auf äußere Zwecke gerichtete Verstandestätigkeit sind beides berechtigte Komponenten des menschlichen Strebens und Lebens. Die Gegensätze sowohl zwischen verschiedenen Individualitäten als auch innerhalb der einzelnen Persönlichkeit müssen sein, weil sonst das Leben seiner Fülle verlustig ginge. Ideal aber ist der Ausgleich, indem die eine Tendenz die andere davor bewahrt in sein unfruchtbares beziehungsweise schädliches Extrem zu verfallen.212

Die Übereinstimmung der »Figur« mit der Konstellation des Streits zwischen den Männern ist auffallend; und es ist zudem sehr wahrscheinlich, daß Goethe genau diese Figur gekannt hat. Bei der Figur handelt es sich nämlich um eine alchimistische Grundfigur, den »Ander Schlüssel«, den zweiten der »Zwölf Schlüssel« des Basilius Valentinus, nach dessen Vorschriften Goethe 1769 in Frankfurt chymisch experimentiert.213 Es dürfte kein Zufall sein, daß sich Goethe bei seiner Konzeption von 1780 eines hermetischen Vor-Wissens bedient. So wie in der »chymischen« Figur stehen sich Antonio und Tasso im Kampf gegenüber, wo sie doch »einer« in Freundschaft sein sollten. Merkur - Alfons trennt sie. Daß in Tasso und Antonio die Prinzipien der »Luna« und des »Sol«, der »Nacht« und des »Tags«, miteinander streiten, ergibt sich nicht nur aus der »Figur«, sondern auch aus dem Text selber, der den Streitenden diese Attribute gibt. Damit könnte der »Zweite Schlüssel« des Basilius zugleich ein »Schlüssel« zum Stück sein. Die Notiz »Gute Erfindung Tasso'« vom 30. März 178Ö214 wäre als komplexes »chymisches« Experiment konkretisiert. Daß Goethe die »bissigen« Männer erst nach der »Erfindung« in der Realität sieht, also die Konstellation in Tiefurt auf seine Weise zu deuten und produktiv zu machen sucht, spricht keineswegs gegen die These, daß auf dem Fußweg nach Tiefurt, also in Vorwegnahme der erwarteten gesellschaftlichen Konstellation, das »Bild« von ihr entstanden ist. Er sieht, was er er - funden hat: Personen in einer universalisierbaren Konstellation. 212 213 214

Froebe a.a.O., S. 183. WA I, 39, S. 204f. Vgl. Graf II, 4, Nr. 4106.

105

Ähnliches gilt für die Konstellation von Frau von Branconi und Frau von Stein; auch hier steht die »Figur« oder das »Schema« als Mittel der Erkenntnis vor der Realität. Zwei siegende Frauen, zwei »bissige« Männer. Der Poet ist der hermetische Experimentator.

Er

vollbringt das »Werk«; das zufällig Biographische tritt zurück gegenüber der Grundkonstellation. Die

»bissigen

Erfindung«

Männer«

wären

des

Tagebuchs

»hermetisch«

zu

im

verstehen,

Kontext wie

der

»guten

überhaupt

die

Tagebücher der Jahre von 1776 bis 1782 durchgehend die höfische Welt als astrologische Konstellation begreifen. Statt der Namen der Personen in der Hofgesellschaft stehen Sternzeichen: Sonne für Frau von Stein, Jupiter für den Herzog,

Mond für die Herzogin

Anna

Amalia (die Hausherrin in Tiefurt), Venus für die Gräfin Werthern usf.215 Disproportion Diese »Entschlüsselung« der Konzeption rückt das Stück der Weimarer Klassik auffallend nahe an die jugendliche Faust - Konzeption heran und legt eine poetologische Grundschicht für dieses Schauspiel frei, die für

die Diskussion

der Faust - Problematik

schon

fast

zur

Selbst -

Verständlichkeit geworden ist. Dennoch: die hermetische »Entschlüsselung« stößt, nicht nur was »Faust« anbetrifft, auf spezifische Grenzen und Inkohärenzen. Der Prozeß der »Ausführung« in der Zeit verändert die als dauernd gedachte

»Conception«.

Das

chymische

und

das

gesellschaftliche

Experiment, so unsere These, wird im Gang der Ausführung in die Problematik

des modernen Subjekts überführt. Indem sich aber die

Gesellschaftsproblematik zugleich

die

auf

Ausgewogenheit

die der

Dichterproblematik hermetischen

verschiebt,

ist

Grundkonstellation

tangiert. So verschiebt sich auch der Sinn, und die Frage nach dem Ausgang des poetischen Experiments wird offen. Betrachtet man die gesellschaftliche Konstellation des ausgeführten Stücks, so ist sie keineswegs »harmonisch« konstruiert. Gehören Alfons und

215

die

Prinzessin

Vgl. WA III, 1, S. 346.

106

zueinander

wie

Bruder

und

Schwester,

so

verkörpern sie doch auch den Widerspruch von »Sol« und »Luna«. »Sol« tritt auf die Seite des Antonio, »Luna« auf die Seite des Tasso, wird von ihm aber als »Sonne« erfahren. 216 Zu Antonio gesellt sich jedoch auch - der fünfte der Charaktere des Stücks - die ambivalente Leonore, sprechend »Sanvitale« genannt, Tasso scheinbar unterstützend, ihn aber dann als »Schlange« verratend. Sie tritt für ihn ebenfalls auf die Seite des »Sol«. Damit ergibt sich für das Stück eine eigentümliche Asymmetrie, eine »Disproportion«. So symmetrisch das Stück aufgebaut scheint, die Proportionen sind verschoben. Die Disproportion richtet sich gegen Tasso. Auch hier ist auf eine vielzitierte Selbstinterpretation des Stückes zu verweisen. Es sei, so Goethe 1789, die »Disproportion des Talents mit dem Leben«, die den »eigentlichen Sinn« des Stücks ausmache. 217 Der Beleg für diese Äußerung ist sekundär, von Caroline Herder vermittelt, die auch hier die Klatschgeschichte von der Rolle der »Steinin« für das Stück durch mehr oder minder dilettantische Entkräftigung tradiert. Für die Sinnproduktion »Tasso« ist der Hinweis jedoch erhellend: Tasso sieht sich einer Übermacht der »Sonnenseite« gegenüber. Dies verstärkt seine Zugehörigkeit zur »Nachtseite«, aus der er sich, trotz der Unterstützung durch die Prinzessin, nicht lösen kann, da diese wiederum dem »Tag« verbunden ist. Die »Disproportion« wiederum widerspricht den »chymischen« Symmetriekonzepten und den in ihnen niedergelegten H a r m o n i e - und Gesellschaftsvorstellungen. Die hermetische Figur dient, so ist der Grundansatz der paracelsischen Alchimie, nicht zuletzt der Erkenntnis des gesellschaftlichen Zusammenhangs. 218 Sind, in diesem Z u s a m menhang, die Frauen des Stücks, wie Wilhelm Emrich betont hat, die »eigentlichen Medien« im Übergang von Konventionell 219 Gesellschaftlichem zum Künstlerischen, so ist die Frage nach dem Gelingen des gesellschaftlich - chymischen Experiments, die Aussicht auf glückliche Harmonisierung der beiden »bissigen Männer«, die

216 217 218

219

Zur Konstellation Sonne - Mond im Stück vgl. G. Neumann, Zit. nach Hamburger Ausgabe. Bd. 5, S. 442. Hierauf weist Stoltzius von Stoltzenberg in der »Vorrede« ausdrücklich hin. Vgl. auch Ferdinand Weinhandl: Einführung »Chymischen Lustgärtleins« und ihre Symbolik, ebd., S. 12. Vgl. Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Frankfurt 1964, S. 152.

a.a.O. S. lOlff. des »Lustgältleins« in die Alchimie des Vorformen. 3. Aufl.

107

Kernproblematik des Stücks. Sie halten Lösung des Streits der Männer bereit. zum »chymischen« »König« erhoben, weiteren Weg. Sie definieren, »was sich

den chymischen »Schlüssel« zur Wie sie den Dichter krönten, entscheiden sie über seinen ziemt«.

Lippenspiel Tassos »Disproportion«, seine gesellschaftliche Unangepaßtheit wird im Stück als Sprachspiel inszeniert, als ernstes Spiel mit der Bedeutung des altertümlichen Wortes »ziemen«. Dessen im Grimmschen Wörterbuch an einer Fülle von Belegen vorgeführter Bedeutungswandel vom rechtlichen zum sittlichen Bereich des Zulässigen oder »Passenden« wird zum Thema des dramatischen Dialogs. Insgesamt 12 Belege für das Wort liegen im Stück vor, eine auffallende Häufung. Das alchimistische Verfahren der Steigerung trifft sich im Bereich des Experiments mit den Wörtern mit den rhetorischen Konzept der »auxesis«. 220 Das »Kleine« wird durch Kunst wie durch Liebe »groß« gemacht, wie es in der Elegie »Euphrosyne« heißt.221 Die Steigerung besteht hier in dem Verfahren der Worthäufung, eines insistierenden Ausbuchstabierens des Sinns des »sich Ziemens« und des »Ziemens«. So beklagt sich die Prinzessin in der ersten Szene (I, 1) bereits darüber, daß Tasso zu oft um ihre Gunst besorgt sei: »Weit mehr als es ihm ziemte«. (V. 315) Umgekehrt knüpft der Herzog die Dichterkröne an eine verdienstvolle Arbeit: »So ziemt es nicht nur müßig zu empfangen«. (V. 458) Wir befinden uns im rechtlich - gesellschaftlichen Rahmen, der »Pragmata« der »alten« Rhetorik und ihres »Decorum« oder »Aptum«. Als Tasso im Dialog mit der Prinzessin im ersten Akt darauf besteht, daß erlaubt sein müsse, »was gefällt«, also einen modernen ästhetischen Rahmen des Handelns postuliert, antwortet sie mit dem Satz, erlaubt sei nur, »was sich ziemt« (V. 1006). Offen stellt Tasso die gesellschaftliche Autorität der Prinzessin vor die unzulässige Rückfrage: »Was sich denn ziemt! Anstatt daß jeder glaubt.« (V. 1009) 220

221

Vgl. Alfons Weische: Rhetorik und Philosophie in der Antike, amplificatio dilatatio und die stoische Forderung der Brevitas. In: Rhetorik und Philosophie. Hrsg. v. Helmut Schanze und Josef Kopperschmidt. München 1989, S. 23ff., bes. S. 24. WA I, 1, S. 282.

108

Auf die Frage nach der Instanz, die entscheide, was sich zieme, gibt sie die Antwort, er möge bei »edlen Frauen« anfragen. Sofern sie »regieren«, könnten sie dafür sorgen, »Daß alles wohl sich zieme was geschieht«.(V. 1016) Die Wortbedeutung verschiebt sich in den Bereich des Sittlichen, des »Ethos« der Rhetorik. Die Schicklichkeit umgebe sie mit einer »Mauer«: Wo Sittlichkeit regiert, regieren sie, Und wo die Frechheit herrscht, da sind sie nichts. (V. 1019f.)

Die Aufteilung der Welt in eine Welt der »Freiheit« und in eine Welt der

»Sitte«,

läßt

die

Gesellschaft

zerfallen

in zwei

Bereiche,

die

unverbunden nebeneinanderstehen. Noch in anderer Hinsicht ist die Auskunft der Prinzessin doppelsinnig. Es sind zwei Frauen, bei denen Tasso anfragen könnte, welche für das lunare und das solare Prinzip stehen. So ist die von der Prinzessin gewünschte Verbindung der Männer im Bereich der »Freiheit«, wie sie Tasso fordert, unmöglich. Tassos Ansinnen

auf Freundschaft

wird im Bereich

der

Rechtlichkeit

als

»Frechheit« verstanden: Es ziemt der hohe Ton, die rasche Glut Nicht dir zu mir, noch dir an diesem Ort. (V. 1344f.)

Tassos Redepathos ist der Situation unangemessen wie sein Handeln. Sein Anspruch auf Gleichberechtigung wird im Namen des von den Frauen verbotenen Wortes der »Freiheit« gebunden: Was du dir hier erlaubst, das ziemt auch mir. Und ist die Wahrheit wohl von hier verbannt? Ist im Palast der freie Geist gekerkert? (V. 1346ff.)

Resigniert,

und

damit

ist

der

Schluß

der

kleinen

Wortgeschichte

erreicht, muß Tasso erkennen: »Es ziemt mir wohl zu warten und zu hören.« (V. 2550) Seine Rechtsstellung erlaubt keinen Ausweg. Die doppelsinnige Auskunft der Prinzessin im Bereich des Sittlichen führt in das gleiche Dilemma, wie es Tasso im Kampf mit Antonio, auf der »männlichen« Seite im rechtlichen Bereiche erfährt. Die M e r kurwelt, die den Streit ausgleichen sollte, listet ihm zudem, im fünften

109

Aufzug, das Eigenste, das Lebens-Werk, ab und läßt ihn mit seiner Ohnmacht letztlich allein. Seine innere Verbindung mit der Prinzessin bringt ihn, da er sie nie erlangen kann, in den Streit mit sich selbst. Für die Gesellschaft »kommt er von Sinnen«. Die von Tasso angefragte neue Norm wird im Stück förmlich zerredet, zerredet wie das Wort, dessen Altertümlichkeit sich auf diese Weise herstellt. In den »Kerker« führt der rechtliche Bedeutungsgehalt; der sittliche wird problematisch, da sich die Instanz der Entscheidung verdoppelt. Die »auxesis« der Wörter führt zur gesellschaftlichen Katastrophe. Der gesellschaftliche »Stein der Weisen« läßt sich nicht herstellen. Im Schlußbild wird die Unlösbarkeit des Dilemmas vorgestellt. Zunächst behauptet Tasso die Gleichberechtigung mit Antonio im Bild. Die Natur habe sowohl den »Felsen« als auch die »Welle« - das Feste wie das Bewegliche - geschaffen. Sie gehören, im Bild, zusammen, wie - und dies ist scheinbar - Statik und Dynamik. Für Tasso, der die Welt als Dynamik begreift, wird der Halt an Antonio jedoch nicht zur Rettung. Das Bild vom Schiffbruch dementiert die Möglichkeit des Ausgleichs. Goethe durchdenkt die hermetische Symbolik »bildlich«, indem er sie fortführt. Die fortgeführte Metapher wird zur Allegorie, die fortgeführte Allegorie widerlegt sich selbst: Statik und Dynamik sind keine versöhnbaren Gegensätze, das eine Prinzip fordert das Opfer, die Aufgabe des anderen. Was die hermetische Welt an Versöhnung anbietet, erweist sich in der »Ausführung« als brüchig. Goethes poetisches Experiment, gesellschaftliche »Dynamik« festzubringen, das Experiment des hermetisch Wissenden, wird in der »Ausführung« zur »Tragödie des Dichters«, der sein »Leben« um des »Werkes« willen opfern muß. Die »gute Erfindung« von 1780 mag bereits an diese problematische Sicht des hermetischen Opus herangekommen sein, zumindest an die unversöhnbare Doppelung von Personen. Sie verlangt vom »Dichter« ein Doppelleben bei »Tag« und bei »Nacht«, nicht in einem trivialen Sinn, vielmehr im Sinne eines für ihn nur in der poetischen Aussage - »zu sagen, was ich leide« - auszuhaltenden Widerspruchs. Über den Ausgang seines »chymischen« Experiments mit der »Gesellschaft« kann er sich nicht mehr sicher sein.

110

In diesem Sinn sind auch die weiteren Äußerungen zum Aperçu des französischen Literaturhistorikers Ampère zu verstehen: [...] daß die Verzweiflung mich nach Italien getrieben, und daß ich dort, mit neuer Lust zum Schaffen, die Geschichte des Tasso ergriffen, um mich in Behandlung dieses angemessenen Stoffes von demjenigen frei zu machen, was mir noch aus meinen Weimarschen Eindrücken und Erinnerungen Schmerzliches und Lästiges anklebte. (Gespräch mit Eckermann, 3. Mai 1827.)222

Goethe nimmt mit dieser Bemerkung die gesellschaftliche Brisanz des Stücks von 1790 in die biographische Einzelheit zurück. Die Kon zeption von 1780 hatte noch den Anspruch, gesellschaftliche W i r k lichkeit aus einem hermetischen Vorwissen her zu deuten und im Sinne einer alchimistischen Katharsis zu »heilen«. In der Ausführung steht die höfische Konstellation nun nicht mehr für die ganze Gesellschaft, sondern gegen den Einzelnen. Der sprachlichen Destruktion dessen, was sich ziemt, folgt die Destruktion der konventionell dramatischen Form. Das Romanmodell »Ich« gegen »Welt« wird der komplexen dramatischen Konstellation übergestülpt. Aus dem hermetischen Mittel der gesellschaftlichen Erkenntnis wird in der »Ausführung« tragische Ich - Erkenntnis. Die gesellschaftliche Kon stellation des Stückes wird rückwärtsgewandte Utopie. 223 Nachdem das Stück 1790 mit dem harmonisierenden Untertitel eines »Schauspiels« bei Göschen erschienen war, wird es faktisch zu einem Lesedrama. Im ursprünglichen Schluß der »Italiänischen Reise« spricht Goethe davon, daß die »Erscheinung« des Tasso auf der Bühne »nahezu unmöglich ward« und führt dies auf die biographisch motivierte »Ausführlichkeit« des Stückes zurück.224 Das »Ausführliche« seiner Form sei jedoch, so Goethe gegenüber Hutton und Eckermann 1825, dem leichteren Verständnis in der Lektüre günstig: Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Zartsinn und genügsamer äusseren Bildung, wie sie aus dem Umgange mit vollendeten Menschen

222 223

224

Graf II, 4, Nr. 4313. Vgl. zum Zeitkontext Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Kronberg 1977, bes. S. 55ff. WA I, 32, S. 428f.

111

der höheren und höchsten Stände hervorgeht, wird den Tasso' nicht schwer finden. 225

Die Uraufführung findet am 16. Februar 1807 auf dem Weimarer H o f theater statt. Goethe hatte gestrichen und geglättet.226 »Abends Tasso. War der Geburtstag der Erbprinzeß« notiert lakonisch das Tagebuch.227 Am 21. März findet sich der Eintrag: »Abends Torquato Tasso. Ich blieb zu Hause und ordnete manches.« 228

2.4

Hexenküche

Konstellationen Italienische Rundung erfahren »Iphigenie«, »Egmont« und »Tasso«. Das Singspiel »Erwin und Elmire« wird in Zusammenarbeit mit dem K o m ponisten Kayser in Rom überarbeitet. Von den »jugendlichen Conceptionen« bleibt »Faust« zur Ausführung. Schon kannte der kleine Kreis der

Weimaraner

»rührende

Scenen«

aus

den

Vorlesungen.

Das

Hoffräulein von Göchhausen hatte ihren Faust bereits schriftlich fixiert. Am 3. November 1787 notiert Goethe: Nun liegen

noch

so zwei Steine

vor

mir:

'Faust'

und 'Tasso'.

Da

die

barmherzigen Götter mir die Strafe des Sisyphus auf die Zukunft erlassen zu haben scheinen, hoffe ich auch, diese Klumpen den Berg hinaufzubringen.229

Der notwendige »Grad der Vollkommenheit« sei, so bei »Egmont«, so bei der kleinen Oper, von außen unversehens als geschichtlicher Zufall, scheinbar ohne weiteres Zutun des Autors beigesteuert worden. Zur »guten Erfindung« muß historischer Stoff hinzutreten. Die Frage ist, inwiefern

das

italienische

Produktionsprinzip

geeignet

war,

»Faust«

voranzubringen.

225 226

227 228 229

Graf II, 2, Nr. 1275. Lieselotte Blumenthal: Die »Tasso« - Handschriften. In: Goethe. N.F. 12 (1950) S. 89-125. Vgl. WA III, 3, S. 193. WA III, 3, S. 200. Gräf II, 2, Nr. 870.

112

Vom Ende dieser Produktionsperiode wird die Frage durch den Autor beantwortet. Das große Projekt der Ausführung aller »jugendlichen Conceptionen« gelingt und scheitert zugleich. Am 5. Juli 1789 bestimmt Goethe definitiv: 'Faust' will ich als Fragment geben aus mehr als einer Ursache. Davon mündlich.230

Und am 2. November meldet er an J. F. Reichardt: [...] hinter 'Fausten' ist ein Strich gemacht. Für diessmal mag er so hingehn.231

Das »Fragment« von 1790 aber ist die erste Druckveröffentlichung des Textes; damit verdient auch die zu ihm führende Produktionsgeschichte besondere Aufmerksamkeit. An das »Fragment« schließen die Spekulationen bis über die Jahrhundertwende hinaus an, bis zum Gespräch mit Luden vom August 1806.232 Vertrauend darauf, daß der Torso das Ganze ahnen lasse, schafft sich Goethe im »Fragment« eine Publikationsform von besonderem Reiz. Die Mitarbeit des Lesers ist gefordert, nicht mehr nur die der engsten Vertrauten, des kleinen Kreises. Das »Fragment« konstituiert eine spekulativ - phantasierende Öffentlichkeit, die den alten »Stoff« kennt und die fehlenden Teile supplieren kann. Der Reiz des Fragments ist jedoch zugleich auch der verrätselte Bruch mit der Tradition, die Modernisierung, die mit dem scheinbar überproportionalen Stück im Stück, der sogenannten Gretchen-Tragödie, erreicht ist. Die moderne »Disproportion« des »Fragments« ist generiert durch die Modernisierung des Stoffs. Sie hält nicht nur die Phantasie der Leser, sondern auch die des Autors ausweglos gefangen. In Italien sucht Goethe einen »Faden«, mit dem er sich aus dem »Labyrinthe« herausfinden könne. Dieser Faden ist im Sinne der goetheschen Morphologie als sichtbar - inneres Aufbauprinzip zu verstehen, das nicht ablösbar ist von der Wirklichkeit des Lebens. So findet Goethe für »Tasso« reale Personen, reale Orte in Italien, um seinen Imaginationen jene Körperlichkeit geben zu können, die sie als »Figuren« auf der Bühne brauchen. Der hermetische Sinn ist verborgen 230 231 232

Gräf II, 2 Nr. 884. Gräf II, 2, Nr. 885. Vgl. Gräf II, 2, Nr. 1065.

113

unter Geschichte und Person.

In bezug

gerät

Grenze.

dieses Prinzip an seine

auf den »nordischen« D a s poetische

vollends zu e i n e m real - magischen Handeln,

Faust

Geschäft

wird

die Ferne in N ä h e

zu

verwandeln. A m 8. D e z . 1787 schreibt G o e t h e an den Herzog: An 'Faust' gehe ich ganz zuletzt, wenn ich alles Andre hinter mir habe. Um das Stück zu vollenden, werd' ich mich sonderbar zusammennehmen müssen. Ich muss einen magischen Kreis um mich ziehen, wozu mir das günstige Glück eine eigne Stätte bereiten möge.233 Ironisch

wirft

sich

Goethe

selbst

die

biographische

Fixiertheit

auf

»Konstellationen« vor. Wenn es mit Fertigung meiner Schriften unter gleichen Constellationen fortgeht, so muß ich mich im Laufe dieses Jahres in eine Prinzessin verlieben, um den Tasso, ich muß mich dem Teufel ergeben, um den Faust schreiben zu können, ob ich gleich zu beiden wenig Lust fühle. Denn bisher ist's so gegangen.234 »Stimmung«, »Glück« und äußeren Anlaß braucht der römische G o e t h e zur Vollendung seiner jugendlichen

Konzeptionen, mit denen er nun

abschließen will. D i e real - magische Praxis bezieht sich sogar auf die Nutzung

der

alten

Handschriften.

Der

»Ton

des

Ganzen«

ist

zu

treffen, in einer Beschwörung der Vergangenheit: [...] ich habe schon eine neue Scene ausgeführt, und wenn ich das Papier räuchere, so dächt' ich, sollte sie mir niemand aus den alten herausfinden.235 Das

»alte Manuscript« gibt zur R e f l e x i o n der neuen Art der

real-

magischen Einheitsbildung in R o m Anlaß: Es ist noch das erste, ja in den Hauptscenen gleich so ohne Concept hingeschrieben; nun ist es so gelb von der Zeit, so vergriffen (die Lagen waren nie geheftet), so mürbe und an den Rändern zerstossen, dass es wirklich wie das Fragment eines alten Codex aussieht, so dass ich, wie ich damals in eine frühere Welt mich mit Sinnen und Ahnen versetzte, mich jetzt in eine selbstgelebte Vorzeit wieder versetzen muss. 236

233 234 235 236

Gräf II, 2, Nr. 871. Rom, den 10. Januar 1788, WA I, 32, S. 210. Gräf II, 2, Nr. 875. Rom, den 1. März 1788, ebd.

114

Die Voraussetzungen für die »Vollendung« des »Faust« in der italienischen Periode sind paradox. Nordische Erinnerungen und antikische Gegenwart widerstreben einander. Dennoch gehört gerade diese Spannung von Anbeginn an zur »Conception«, wie Goethe im Zusammenhang mit der Vollendung des »Helena« - Aktes betonen wird. Gerade der »fremde« Boden provoziert das eigenste, das »Innere«: Da ich durch die lange Ruhe und Abgeschiedenheit ganz auf das Niveau meiner eigenen Existenz zurückgebracht bin, so ist es merkwürdig, wie sehr ich mir gleiche und wie wenig mein Inneres durch Jahre und Begebenheiten gelitten hat. 237

Die Jahre in Rom sind Erfüllung eines »Jugendtraumefs]«.238 Sie bringen geistig - seelische Erneuerung, einen poetischen Prozeß der Regeneration, den Goethe auch körperlich erfährt. Die Wiedergeburt, die mich von innen heraus umarbeitet, wirkt immer fort.239

Der inneren Umarbeitung, die im Bild des am eigenen Lebenstext arbeitenden Autors formuliert wird, entspricht die poetische Arbeit am »alten Codex«. Untrennbar ist die innere Arbeit mit der äußeren, der literarischen, verbunden. Hier ist der Kern zu suchen für Goethes Begriff des Biographischen seiner Produktion. Er meint nicht die Folge von Erlebnis und Dichtung, sondern das Ineinander von Produktion und Leben. Dieses, das Leben, wird unter der Metapher der dichterischen Produktion gedeutet als ein zu Vollendendes in stetiger Wiedergeburt, jenes, die Dichtung, wird unter der Metapher des organischen Lebens begriffen. Im Falle des römischen »Faust« scheinen Lebenskontext und Dichtungskontext auseinanderzufallen. Die Szenen, von denen die Forschung mit guten Gründen annimmt, daß sie in Rom entstanden seien, sind paradoxerweise so unantik wie kaum etwas, das Goethe je geschrieben hat. Es sind die Paktverse der Szene »Studierzimmer II«, die Szene der »Hexenküche« und die Szene »Wald und Höhle«. Ob die Erfindung der »Wette«, die anstelle des Teufelspaktes der Faust - Überlieferung tritt, in der Tat eine römische war, muß dahin237 238 239

Rom, 1. März 1788, ebd. Ital. Reise. Rom, den 5. Juli 1787, WA I, 32, S. 27. Ital. Reise. Rom, den 20. Dez. 1786, WA I, 30, S. 236.

115

gestellt bleiben. Ohnehin spricht nur die Tatsache, daß die zweite Studierzimmerszene im »Urfaust« fehlt (also entweder noch nicht vorhanden war oder einfach nicht abgeschrieben wurde), für die römische Entstehung. Die »Wette« ist eine der Voraussetzungen für die Erlösbarkeit Faustens. Diese aber gehört mit höchster Wahrscheinlichkeit schon zur »ältesten Conception«. Vorhanden ist die sogenannte »Schülerszene«, die im Text von 1790 in »Studierzimmer II« ihren Rahmen erhält. Aber selbst hier fehlen noch 240 Verse, sodaß ein Abschluß dieser Szene erst um 1800 erreicht worden sein dürfte. Komplizierter noch ist das Ineinanderschieben von »Altem« und »Neuem« in der Szene »Wald und Höhle«. 28 Verse dieser Szene sind mit Sicherheit vorhanden. In der Urfaust - Abschrift stehen sie nach der Szene »Am Brunnen«. Hier wird auch 1790 noch die erweiterte Szene plaziert. Erst 1808 rückt die Szene auf ihren endgültigen Platz zwischen »Ein Gartenhäuschen« und »Gretchens Stube«. So bleibt paradoxerweise allein die »Hexenküche« ausweisbar römische Szene. Und in der Tat ist diese Szene eine römische Summe zu nennen. Sie ist körperlich gedacht, zieht wie keine andere den »magischen Kreis« und hat einen benennbaren Entstehungsort: den »Garten Borghese« in Rom.240 Ihr Text handelt von Verjüngung und Wiedergeburt, von innerer Umarbeitung. Sie zieht von den Szenen des erst später so benannten »Ersten Theils« den längsten »Faden« aus. Mit dem Zitat »Helena« ist ein weit über den Umkreis der Gretchentragödie hinausweisendes inhaltliches Moment angesprochen. Unüberhörbar wird auf die Schuld Faustens, der sich an der Individualität zugunsten eines Typus »Helenen in jedem Weibe« versündigen muß, verwiesen. Die stofflichen Voraussetzungen für die Vollendung dieser Szene in Rom sind komplex. Geht man davon aus, daß die »Erotica Romana« ohnehin vom Biographischen her Erotica Weimarana sein dürften, so bleibt für den zweiten römischen Aufenthalt allenfalls die bittersüße Entsagungsgeschichte von der »anmuthigen Mayländerin«, die Goethe erneut in die »Werther« - Konstellation hineinführt.241

240 241

Vgl. Gräf II, 2, Nr. 1704. Ital. Reise, vgl. WA I, 32, S. 128 u. 333ff.

116

Andere römische Biographica sind körperlicher, wenn auch das Warten auf den Teufelsbund wohl ebenso unerfüllt bleibt wie das zur Vollendung des »Tasso« notwendige Warten auf die geliebte Prinzessin. So bleiben drei Hinweise: zum einen der auf die eigene »kleine Haushaltung« in Rom, auf das rätselhafte Lied eines blinden neapolitanischen Knaben, das in »Über Italien. Fragmente eines Reise journals« mitgeteilt und kommentiert wird, und schließlich auf einige Bizarrerien des hochverehrten Karl Philipp Moritz. In einem Brief an Fritz von Stein liest man: Unsre Alte kocht, unser Alter [...] schleicht herum, die hinkende Magd schwätzt mehr als sie thut, ein Bedienter, der ein Ex-Jesuit ist, bessert die Röcke aus und wartet auf, und das Kätzchen bringt viele Lerchenköpfe, die oft gegessen werden.242

Der ironische Einbau römischer Körperlichkeiten des verfremdeten Alltags in die Szene mit dem hochernsten Inhalt der Regeneration und des schaffenden Spiegels der Liebe, der Amalgamierung von Sinn und Unsinn, zieht sich als Faden durch das Werk von Anfang bis Ende: Faust und Teufel sind Narren im Spiel des Herrn. Die Romanze des Neapolitanischen Knaben dagegen greift unmittelbar ein in die Frage nach der Ubiquität des »nordischen« Stoffs: »Allein die eigentlichen Gespenster-, Hexenund Teufels - Ideen scheinen mehr den nordischen Gegenden eigen zu sein.«243 Der Knabe repräsentiert »Nordisches« unter südlichem Himmel: »Die Scene ist Nachts, bei dem Hochgerichte. Eine Hexe bewacht den Leichnam eines hingerichteten, wahrscheinlich aufs Rad geflochtenen Missethäters; ein frecher Mensch schleicht sich hinzu, in der Absicht, einige Glieder des Körpers zu stehlen.«244

Trotz der Versicherung, daß in Italien »der Abscheu vor solchen Gegenständen« »allgemein« sei: indem Goethe das Außerordentliche, das »Fremde« notiert, wird es zum Erinnerungswert, zur 242 243 244

Graf II, 2, Nr. 874 Anm. WA I, 32, S. 351. WA I, 32, S. 352; vgl. auch das Motiv des Diebesfingers bei Heine in den »Memoiren« (Düsseldorfer Ausgabe) Bd. 15, S. 90f., in Scheibles »Kloster« Bd. 12 sowie die Erläuterungen in der Düsseldorfer Heine - Ausgabe, Bd. 15, S. 1235ff.

117

vergegenwärtigten Vergangenheit. Der blinde neapolitanische Knabe ist reale

Gestalt

aus

einem

poetischen

aufruft

Zusammenhang,

und die

Fremdheit

des

der

erscheint,

Verwandtes

Besuchers

im antikischen Süden, aber auch die Untiefen

plötzlich

»nordischen« forcierter

Harmonisierungen im Gefolge der Antikensehnsucht deutlich werden läßt. Dennoch lesen sich die einleitenden Anmerkungen zur südlichen Gemütsart wie ein Vorklang auf die Schlußszene des gesamten Werks: Alle Gemüther sind andächtig auf die Erleichterung und Befreiung der guten leidenden Seelen gerichtet. Manchmal

erscheint wohl das ganze

Fegefeuer

einem beängstigten Gläubigen im Traum oder Fieber; und alsdann ist die Mutter Gottes in freundlicher Erscheinung gleich dabei, wie man auf so vielen Gelübde - Tafeln sehen kann. 245

Empfindungsalphabet Der produktionstheoretisch wichtige Hinweis auf Karl Philipp Moritz ist versteckter. Moritz kam im August 1787 im Zusammenhang mit seinen

Arbeiten

über

römische

Altertümer

in

den

Gesprächskreis

Goethes. Die besondere Bedeutung der Gespräche mit Moritz liegt jedoch in der Fixierung der morphologisch - botanischen Erkenntnisse Goethes, dem gewonnenen »Faden« in der Pflanzenwelt. Ein anderes, scheinbares Detail dieser Gespräche hält Goethe in der »Italiänischen Reise« fest. Hier ist von einer Marotte Moritzens die

Rede,

nämlich

die zu »etymologisieren«.

Ausgangspunkt

dieser

Marotte ist Herders Preisschrift über den Ursprung der Sprachen und die These von der Verwandtschaft aller Sprachen, die in der Idee liege, wonach die schaffende Kraft das menschliche Geschlecht und seinen Organismus gebildet habe. Moritzens Erfindung in diesem Zusammenhang besteht in einem »Verstands- und Empfindungsalphabet«. Dieses Spiel mit Worten wird von Moritz und Goethe in Rom »wie ein Schachspiel« betrieben. Es werden

»hunderterlei

Combinationen«

versucht,

»so

daß

wer

uns

zufällig behorchte uns für wahnsinnig halten müßte.« Das Spiel ist esoterisch:

245

»Auch

WA I, 32, 351.

118

möchte

ich

es

nur

den

allernächsten

Freunden

anvertrauen. Genug, es ist das witzigste Spiel von der Welt und übt den Sprachsinn unglaublich.«246 Derlei Kombinatorik ist aus der mystisch - magischen Tradition aller Provenienzen bekannt. In der Tradition der hermetischen Schöpfungsund Erfindungskunst spielt das Spiel mit den Buchstaben die ent scheidende Rolle. Darauf, daß Goethe später seine Faust - Dichtung auf das Schema von den zwei Alphabeten (insgesamt 48 Szenen) brachte, wird später noch einzugehen sein. Hier ist es die halbwahnsinnige Spekulation, die Mischung von Sinn und Unsinn, die einen neuen, notwendigen Knoten im Faden des »Faust«—Textes knüpft. »Zur Sprache« sei »Faust« in Rom gekommen (März 1788).247 Die Notiz ist doppelsinnig: Es ist über »Faust« gesprochen worden, oder: das Werk hat in Rom seine »Sprache« gefunden. Die zweite Variante bedarf der Aufmerksamkeit. Im Kontext mit dem Hinweis auf die Sprachspielereien mit Moritz in Rom gewinnt die Aussage einen bestimmbaren Sinn. Moritzens Verfahren erinnert und vergegenwärtigt die jugendlichen Spekulationen und hebt sie auf ein neues, sprachwissenschaftliches Niveau. Die Suche nach dem »Ersten und Einen« im Sinne des Giordano Bruno, bereits in den »Ephemerides« notiert, wird als durchgehendes Lebensprinzip erkannt, vergleichbar dem naturwissenschaftlich - morphologischen Prinzip der »Urpflanze«, die Goethe in Sizilien als Verkörperung des Prinzips der Identität »sieht«.248 »Hexenküche« bringt »Halbunsinn« zur »Sprache«, vereinigt Bildung und Alltag, Narretei und höchstes Wissen. Südliche und »nordische« Wiedergeburt sind aufeinander bezogen. Im »Fremden« ist das Eigene verborgen. Es durchbricht für Augenblicke die schöne Harmonie. Körperlich wird für Goethe die bedeutende Narretei im »Römischen Carneval«. Dessen Motive und Figuren wird er für die »Ausführung« späterer »Scenen« im Gedächtnis bewahren. Die alte »Scene« des »Hochgerichts« dagegen, an die das Lied vom neapolitanischen Knaben erinnert, wird nicht ausgeführt.

246

248

Ital. Reise, Moritz als Etymolog, WA I, 32, S. 185. Vgl. WA I, 32, S. 467 u. S. 480. Vgl. oben die zu »Tasso« genannte Literatur, insbesondere Froebe a.a.O.

119

Goethe kommt in Rom über das »Fragment eines alten Codex« aus ungenannten, nur »mündlich« mitteilbaren Gründen vorerst nicht hinaus. Das römische Prinzip der Stofflichkeit, das, in den Worten Goethes, den Teufelspakt des Dichters zur Konsequenz gehabt hätte, bringt ihn an die Grenze seiner Möglichkeiten. Bei der Rückreise, über Nürnberg, notiert er sich aus Murrs »Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in des H. R. Reichs freyen Stadt Nürnberg und auf der hohen Schule zu Altdorf«, Nürnberg 1778, einen der Faust - Splitter: »Schola Druidica Faustus Scholasticus vagans.«249 Nach der Rückkehr arbeitet Goethe am »Tasso« weiter; Faust nimmt er sich als »Winterarbeit« vor.250 Im Oktober 1788 kündigt er Göschen an, daß er selbst für den Kupferstich zum siebten Band der Ausgabe, der den »Faust« enthalten sollte, sorgen wolle. Es handelt sich um den Auftrag an den Stecher Lips, ein Kupfer nach einer Radierung von Rembrandt, heute betitelt »Magier, eine Lichterscheinung betrachtend«, damals unter dem Namen »Faust« gehandelt, herzustellen. Das so mit dem »Faust« - Stoff verbundene Bild des niederländischen Meisters zeigt die Vision des Buchstabenspiels. Zwei Buchstabenreihen sind in der Lichterscheinung kreisförmig aufge schrieben. Was das statische Bild nicht zeigen kann, ist die Dynamik der durch Drehung der Räder gegeneinander möglichen Kombi nationen. Die Vision zeigt ein sogenanntes »Lull'sches Rad«, den Gelehrten vor einem Memorialsystem des Mittelalters, das ihm visionäre Einsichten vermittelt. Das Bild zeigt also eine Variante des römischen Buchstabenspiels mit Moritz. 1797 wird Goethe aus dieser »Magie« eine neue Produktionsweise, sein klassisches Verfahren mit »vollem Bewußtsein« entwickeln, das die genaue Grenze zum Teufelspakt des Poeten einhält. Obwohl das »Bild« und das Spiel mit Moritz ein neues Produktionsprinzip bereits vorscheinend enthalten, ist »Faust« im Juli 1789 nicht ausführbar. Jede weitere Steigerung hätte an unüber schreitbare Grenzen geführt. Daß Goethe gerade den Herzog auf die

249 250

WA I, 32, S. 461 und WA I, 14, S. 292 (Faust - Paralipomenon 13). Graf II, 2, Nr. 880.

120

Notwendigkeit der Fragmentierung des »Faust« anspricht, könnte einen verdeckten Hinweis auf die Forderungen des Tages beinhalten. 1789 beginnt in Frankreich eine neue Epoche. Am 14. Juni erklärt sich der dritte Stand zur Nationalversammlung. Am 14. Juli wird die Bastille erstürmt. In diesem geschichtlichen Augenblick überantwortet Goethe seinen Text fragmentiert der Phantasie des mitdenkenden und mitfühlenden Lesers. Er gibt ihm die Aufgabe, das magische Spiel des Textes, das »Verstands - und Empfindungsalphabet«, weiter zu spielen: »Nun wünsche ich, dass Ihnen das Stückwerk noch einmal einen guten Abend machen möge.«251 Zum Druck kommt das »Fragment« 1790. Im Januar wird es an den Verleger abgeschickt. Der »Codex« selbst wird wieder verschnürt, die Akte »Faust« geschlossen. Im Brief an Schiller vom 2. Dez. 1794, der zur Fortsetzung gemahnt hatte, wird die besondere Magie des Stoffs bestätigt: [...] ich wage nicht das Packet aufzuschnüren, das ihn gefangen hält. Ich könnte nicht abschreiben ohne auszuarbeiten, und dazu fühle ich mir keinen Muth.252

251 252

An den Herzog, 5. Nov. 1789, Graf II, 2, Nr. 886. Graf II, 2, Nr. 902.

121

Kapitel 3 Aus der besten Zeit

3.1

Deutliche Baukunst: das Faust —Schema

Schwammfamilie Ernst scherzend vergleicht Goethe am 1. Juli 1797 Schiller gegenüber seinen »Faust« mit einer »Schwammfamilie«, einem Hexenring also, der wachstümlich, ebenso notwendig wie plötzlich, zu »männiglicher Verwunderung und Entsetzen« hervorbrechen werde.253 Jedoch ist es nicht allein das Wachstümlich repräsentiert im Bild von der »Schwammfamilie«, ein magisches Prinzip also, das die Entstehungsgeschichte beherrscht. Im gleichen Brief findet sich auch der mehr scheinende Begriff des »Schemas«, in dem sich die Elemente des Stücks zu einer Struktur ordnen:

Notwendige, irrational des Werks rational e r szenischen

Meinen 'Faust* habe ich, in Absicht auf Schema und Uebersicht, in der Geschwindigkeit recht vorgeschoben, doch hat die deutliche Baukunst die Luftphantome bald wieder verscheucht.254

Und am 5. Juli 1797 heißt es, wiederum in einem Brief an Schiller: 'Faust' ist die Zeit zurückgelegt worden, die nordischen Phantome sind durch die südlichen Reminiscenzen auf einige Zeit zurückgedrängt worden, doch habe ich das Ganze als Schema und Uebersicht sehr umständlich durchgeführt.255

253 254 255

Graf II, 2, Nr. 917. Graf II, 2, Nr. 917. Gräf II, 2, Nr. 918.

123

Eine »Familie« von »Scenen«, geordnet nach einem »Schema«, so stellt sich die Einheit des »Faust« um 1800 dar. Offensichtlich aber bleibt der Widerspruch zwischen den »Luftphantomen«, den alten »Scenen«, und den neuen Prinzipien einer »deutlichen Baukunst«. Schemata Daß Goethe die Art und Weise seiner »Production« hinreichend mit Geheimnis umzogen hat, daß auch für den zudringlichen Philologen und Leser immer ein Rest von Geheimnis bleiben sollte, muß nicht gegen den Versuch sprechen, aufgrund der hier gegebenen Hinweise Goethes Arbeitsweise erneut zu thematisieren, um Elemente seiner Poetologie zu bestimmen und so der Einheit des Werks näher zu kommen. Die These ist dabei vorläufig, daß es sich weniger um eine verstandesmäßige als um eine sinnliche Einheit handeln muß, eine Einheit, welche Phantasie bzw. Imagination, die Kraft der Einbildung, als das für das Schaubare zuständige Vermögen des Menschen, anspricht, eine Einheit, die sich aber auf der anderen Seite auch keineswegs als völlig irrational darstellt. Der Begriff des »Schemas« muß dabei genauer bestimmt werden. Wer heute vom Begriff des Schemas spricht, dürfte auf eine Begriffsextension zielen, die seit der 'kognitivistischen Wende' der Psychologie und im Zusammenhang mit den Forschungen zu P r o blemen der sogenannten Künstlichen Intelligenz eingeführt worden ist.256 So stellen Lindsay und Norman in ihrer »Einführung in die Psychologie«,257 die als Theorie der Informationsverarbeitung beim Menschen konzipiert ist, eine besondere Eigenschaft des menschlichen Intellektes heraus: seine Fähigkeit, Weltmodelle zu erstellen, Ereignisse vorauszusagen und Erwartungen aus seinen Erfahrungen abzuleiten. Diese »konzeptionell gesteuerte Verarbeitungsweise« 258 sei fundamental wichtig beim Gebrauch unserer Wahrnehmungs - und Erinnerungs systeme, aber auch in zwischenmenschlichen Interaktionen. 256

257 258

Vgl. P. N. Johnson - Laird: Mental Models. Towards a Cognitive Science of Language, Inference, and Consciousness. Cambridge:University Press 1983, bes. S. 189ff. Peter H. Lindsay/ D. A. Norman: Einführung in die Psychologie: Informations aufnähme und -Verarbeitung beim Menschen; Berlin u.a. 1981. Lindsay/Norman a.a.O. S. 7.

124

Die Menschen, mit denen wir in Wechselwirkung stehen, und die sozialen Situationen, an denen wir teilnehmen, werden mit Hilfe von Gedächtnisschemata charakterisiert.

Die Schemata stellen »soziale Stereotypen zur Verfügung, das heißt, die (vermeintliche) Kenntnis von typischen Menschen und Situationen, die wir anzutreffen erwarten«.259 Die Stärke der Schemata ist zugleich ihre Schwäche: Sie erleichtern, ja ermöglichen die menschliche Informationsverarbeitung, also Wahrnehmung und Gedächtnis. Sie können jedoch zugleich auch die jeweilige Individualität des Menschen, seine Handlungen und die jeweiligen Situationen prinzipiell verfehlen. Da sie im Gedächtnis nach Auffassung der kognitivistischen Psychologie als semantische Netzwerke, also metasprachlich repräsentiert sind, ergibt sich zugleich eine Nähe der Problematik des Schema - Begriffs zu hermeneutischen und sprachtheoretischen Fragestellungen. Die Diskussion der Bedeutung von Schemata, Stereotypen, Prototypen und Scripts (Drehbüchern) für soziales und sprachliches Handeln sollte aber gleichermaßen auch die Literaturwissenschaft interessieren, zumal das Literatursystem in vielfältiger Weise zur Tradition der Schemata beizutragen hat, mehr noch: es ist dadurch charakterisiert, daß es diese Leistungen für bestimmbare soziale Gruppen erbringt. Im literaturwissenschaftlichen Bereich dürfte derzeit der Be griffsgebrauch allerdings noch eher im Zusammenhang mit negativen Wertungen stehen. Schemata und hohe Literatur schließen einander, so scheint es, aus. Daß aber gerade im Kontext der Werkbiographie des 'klassischsten' deutschen Autors, und des 'klassischsten' deutschen Werkes, Goethes »Faust« nämlich, der Begriff des »Schemas« eine kaum zu unterschätzende Rolle spielt, könnte die hier angedeutete, notwendige Diskussion um eine Dimension erweitern, die nicht nur von theoretischem Interesse wäre. Bevor aber an die gewiß reizvolle Frage gedacht werden kann, ob und inwieweit der kognitivistische Begriff des »Schemas« etwas zu tun haben könnte mit dem Begriff, wie ihn Goethe gebraucht, ist zunächst 259

Lindsay/Norman a.a.O., S. 465

125

der Versuch zu unternehmen, den Goetheschen Begriffsgebrauch historisch-kritisch zu eruieren. Diesem Versuch einer literaturhistorischen Rekonstruktion des Begriffsgebrauchs bei Goethe sind die folgenden Überlegungen gewidmet. Ob in der Tat Linien von der Goetheschen vorwissenschaftlichen Betrachtungweise über die Gestaltpsychologie der 20er Jahre bis in die modernen Forschungsrichtungen zu ziehen sind, kann hier nicht diskutiert werden. Das historische Thema allein gibt Fragen genug auf. Das Faust-Schema von 1797 Der Begriff des »Schemas« hat schon seit längerem das Interesse der Goethe - Forschung gefunden. Für die Goethe - Philologie der Jahrhundertwende war der Begriff offensichtlich aber so trivial, daß er näherer Reflexion nicht bedurfte. Mehr noch, in einem unspezifischen Begriffsgebrauch wird in der Sophienausgabe vieles an überliefertem handschriftlichem Textmaterial relativ unkritisch einer Progattung »Schema« zugeordnet. Hieraus resultieren philologische Zusatzprobleme eigener Art. Die wichtigsten Ausgangspunkte für eine genauere Diskussion des Begriffs und des Verfahrens mit »Schemata« bei Goethe bietet die jüngere Faust - Forschung, ausgehend von den eingangs zitierten Brief stellen. Ernst Grumach ist es gewesen, der die Bedeutung des Begriffs des »Schemas« für die Faust - Forschung als einer der ersten erkannt hat.260 Daß »Schematisieren« zu den Grundoperationen Goethescher Arbeitsweise überhaupt gehört, hat Karl Heinz Hahn 1963 im Zusammenhang mit der Darstellung der Entstehungsgeschichte der »Novelle« gezeigt.261 Wolfgang Binder stellte den Begriff in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur klassischen Faust - Konzeption.262 Siegfried Scheibe hat den Versuch gemacht, das von Grumach herausgestellte »Schema« von 1797 zu rekonstruieren.263 Aber nicht nur 260

261 262

263

Ernst Grumach: Prolog und Epilog im Faustplan von 1797. In: Goethe - Jahrbuch N.F. 14/15 (1952/53), S. 63-107. Karl Heinz Hahn: Aus der Werkstatt deutscher Dichter. Goethe, Schiller, Heine. Halle 1963, bes. S. l l l f f . Wolfgang Binder: Goethes klassische Faust - Konzeption. In: DVjS 42 (1968), S. 55 - 88. Siegfried Scheibe: Noch einmal zum bezifferten Faust-Schema von 1797. In: Goethe-Jahrbuch 89 (1972), S. 235 - 254.

126

diesen

Arbeiten

ist der folgende

Ansatz

verpflichtet, sondern auch

allgemeineren Überlegungen zum Gebrauch von »Schemata« im naturwissenschaftlichen Bereich, insbesondere und im Zusammenhang mit Goethes

im Bereich der

Farbenlehre

Morphologie.264

Hier zunächst zusätzliche Belege zu Goethes Begriffsgebrauch im Zusammenhang mit Konzeption und Ausführung des »Faust« - Dramas, welche die besondere Bedeutung des Themas unterstreichen. A m 22. Juni 1797 spricht Goethe in einem Brief an Schiller von Dichtungsplänen. Zum »Faust« heißt es: [...] so habe ich mich entschlossen, an meinen 'Faust' zu gehen und ihn, wo nicht zu vollenden, doch wenigstens um ein gutes Theil weiter zu bringen, indem ich das, was gedruckt ist, wieder auflose und mit dem, was schon fertig oder erfunden ist, in grosse Massen disponire, und so die Ausführung des Plans, der eigentlich nur eine Idee ist, näher vorbereite.265

Im

Tagebuch

Schema zum berichtet,

er

heißt

es

'Faust'.«266 habe

dann unter Am

seinen

dem

23. Juni

»Ausführlicheres

1. Juli hatte er noch sehr zuversichtlich Faust

Uebersicht, in der Geschwindigkeit

»in

Absicht

auf

Schema

recht vorgeschoben«,267

aber

und die

»millionenfache [...] Hydra der Empirie« vertreibe die »Phantome«, die er aus seinem »Innersten« »hervorzuarbeiten« trachte.268

A m 5. Mai

1798, zu Abschluß dieser Arbeitsphase, wird die Art und Weise der poetischen »Production« im Rückblick noch genauer beschrieben: Das alte, noch vorräthige, höchst confuse Manuscript ist abgeschrieben und die Theile sind in abgesonderten Lagen, nach den Nummern eines ausführlichen Schemas hinter einander gelegt. Nun kann ich jeden Augenblick der Stimmung nutzen, um einzelne Theile weiter auszuführen und das Ganze früher oder später zusammen zu stellen.269

264

265 266 267 268 269

Vgl. u. a. Peter Schmidt: Goethes schematische Kreise. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1965, S. 168-185, bes. S. 168f. und Dorothea Hölscher - Lohmeyer. Die Einheit von Naturwissenschaft und poetischer Aussage bei Goethe. Anmerkungen zu seinem Gedichtzyklus »Die Weissagungen des Bakis«. In: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster. Hrsg. v. Karl Hauck. Bd. 12. Berlin u.a. 1978, S. 356 389, bes. 374. Graf n, 2, Nr. 906. Graf II, 2, Nr. 908. Graf II, 2, Nr. 917. Graf n, 2, Nr. 920. Graf II, 2, Nr. 942.

127

Aus den im Brief an Schiller gegebenen Hinweisen wie auch aus den Handschriften selber läßt sich die äußere Gestalt dieses alten »Schemas« relativ gut rekonstruieren. In der Forschung ist es bekannt als das »bezifferte Faust - Schema«. Dieses »Schema« umfaßte um 1800 30 bezifferte »Lagen«, hinzu kamen mit Sicherheit weitere, mit Buchstaben zusätzlich bezeichnete Lagen. Jeder Lage ist eine »Scene« zuzuordnen, sie trägt einen Merknamen, welcher der Szenenbe Zeichnung entsprochen haben dürfte. Die bereits ausgeführten Szenen wurden eingetragen, für noch nicht ausgearbeitete, aber konzipierte Szenen waren ein oder mehrere Blatt Papier (»Lagen«) eingeheftet. Die Bestimmung dieses Arbeitsschritts findet ihre Stütze in den von Karl Heinz Hahn beschriebenen (späteren) Schemata zur »Novelle« auch hier die für Goethe typisch erscheinende Bezifferung - , zur »Eugenia« (»Die natürliche Tochter«) - hier ließ Goethe Quartblätter zur Aufnahme der noch nicht ausgeführten Szenen beiheften - , zur »Achilleis« und in dem nicht mehr weiter ausgearbeiteten »Schema zu einem Volksbuch historischen Inhalts«.270 Letzteres ist in Form von 55 fast leeren Quartblättern, mit Bezifferung und kurzen, inhaltlichen Bemerkungen, erhalten. Wie beim Schema zur »Novelle« nutzt Goethe auch hier den Typ der Bezifferung mit zusätzlichen Buchstaben und die Einschaltung von zusätzlichen Blättern mit »ad«. Weitere Schemata, deren Funktion im einzelnen genauer auszudifferenzieren wäre, sind zu anderen Werken e r halten, so zur »Farbenlehre« (hier trägt der Umschlag zu den Materialien den Titel »Schema der Farbenlehre 1801«), zu »Dichtung und Wahrheit« und zu »Wilhelm Meisters Wanderjahren«. Nahezu zu jedem Werk nach der Jahrhundertwende sind derartige »Schemata« erhalten oder wenigstens erschließbar, ein umfangreiches Material, das forschungsmäßig zusammenfassend kaum aufgearbeitet worden ist. Hier sind jedoch bereits Differenzierungen angebracht, um Besonderheiten des »ausführlichen Schemas« zu »Faust« zu verdeutlichen. Als Werkschema, das einem Formulierungszweck zugeordnet ist, ist es zu unterscheiden von Tafeln, Figuren und Schemata im Bereich 270

Die Schemata zu »Eugenia« (Die natürliche Tochter) in: WA I, 10, 444ff., zu »Achilleis«: WA I, 50, S. 435, zum »Volksbuch«: WA I, 42. 2, S. 418ff.; dazu Helmut Schanze: Literaturgeschichte und Lesebuch. Ansätze zu einer historisch orientierten Literaturdidaktik. Mit einem Anhang: Goethes Volksbuch von 1808, Düsseldorf 1981, bes. S. 62ff. u. S. 85ff.

128

der naturwissenschaftlichen Schriften, obschon ein gemeinsamer theoretischer Hintergrund anzunehmen ist. Im Bereich der Werkschemata wäre weiterhin zu differenzieren zwischen Schemata, die ein ganzes Werk organisieren, und solchen, die nur Teile eines Werks (Szenen, Akte, Kapitel) disponieren. Einer eigenen Untersuchung bedürften schematische Notizen, die von der Forschung als »Schemata« bezeichnet worden sind, nicht jedoch von Goethe selbst. Ein Beispiel hierfür ist die zu Recht viel diskutierte Notiz »Ideales Streben [...]« aus den Jahren 1797-1800, 271 die zwar inhaltlich mit dem »ausführlichen Schema« in Verbindung steht, mit ihm aber nicht identifiziert werden darf. Das »ausführliche« bzw. »bezifferte Schema« zu »Faust« dürfte zudem unter den erhaltenen und erschließbaren eines der ältesten, wenn nicht sogar das älteste seines Typs sein. Das »Schema« zu den letzten Büchern des »Wilhelm Meister«, von dem Goethe Ende 1795 spricht, ist ein Teilschema im obigen Sinn. Der »Plan« »Jagdgeschichte« aus dem Jahr 1797 (später »Novelle«), zeitlich kurz vor dem »ausführlichen Schema« konzipiert, ist auf ein kleineres episches Werk hin angelegt und wird erst später als »Schema« ausgearbeitet. Eine weitere Eigenheit des »ausführlichen Schemas« besteht darin, daß es zum Teil sehr alte »Massen« disponiert, die bereits ausformuliert sind. Es dient nicht zuletzt der Erinnerung einer alten »Conception« und einer »Production«, die jeden Augenblick der »Stimmung« nutzen kann, um das Werk voranzubringen. Dieses Schema ist Garant für die Einheit der »Faust« - Produktion. Goethe nutzt dieses Schema als Erinnerungsform und als poetologisches Werkzeug gleichermaßen. So sind wir über die Phase der Arbeit mit dem »Schema« nach 1827 umfassend informiert. Am Beginn der Arbeit steht das »Schema«: »Auch schematisirt.« (22. Mai 1827.)272 »Ich behandelte das Schema von 'Faust' anschliessend an das schon Vollendete.«273 »Es ist nur gut,« so Eckermann am 15. Januar 1827 zu Goethe, »dass Sie ein so ausführliches Schema haben.«274

271 272 273 274

WA Graf Graf Graf

I, 14, II, 2, II, 2, II, 2,

S. 287 (Paralipomenon 1). Nr. 1486. Nr. 1491. Nr. 1452.

129

»Vollständige Plane, schematisch aufgestellt, [...]« sind die Bedingung für den Fortgang der Arbeit.275

Sichtliche Darstellung des Mentalen Das poetologische Verfahren mit Schemata, das für den »klassischen« Goethe und seine Weise der poetischen »Production« nun als bezeichnend erscheint, wird von ihm selbst immer in einem innersten Raum des Geheimnisses gehalten, und auch der Interpret wird hier nicht vorschnell Vereinfachungen vornehmen dürfen. Als Herstellung von Ordnung, die das »Geistige« nicht zerstört, sondern ihm »zu Hülfe« kommt, ist die Tätigkeit des »Schematisierens« für Goethes Arbeitsweise zentral. Es handelt sich hier um ein Verfahren, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu »verengen«, um den Versuch einer »sichtlichen« Darstellung des »Mentalen«.276 Genauere Aussagen über die Art und Weise von Goethes Umgang mit Schemata im schöpferischen Prozeß lassen sich erst aus Äußerungen der Spätzeit entnehmen. Am 1. Dezember 1831 deutet er Wilhelm von Humboldt gegenüber an, daß er eine »geheime psychologische Wendung« gefunden habe, die eine Produktion ermöglichte, [...] welche noch selbst zu können, zuschreiben

bei völligem Bewusstsein dasjenige hervorbrachte, was ich jetzt billige, ohne vielleicht jemals in diesem Flusse wieder schwimmen ja was Aristoteles und andere Prosaisten einer Art von Wahnsinn würden.

Und er fordert auf, diese »Wendung« zu studieren.277 Wilhelm von Humboldt fragt am 6. Januar 1832 zurück: Versuchen Sie doch einmal, ob Sie (da diess in der Stelle mir dunkel bleibt) aus Ihrer Erinnerung entnehmen können, ob Ihnen jene Art der Production bei völligem Bewusstsein wohl immer beigewohnt hat, oder ob Sie dieselbe als erst in einer gewissen Epoche eingetreten betrachten? Ich möchte, wenn auch natürlich im Grade Verschiedenheiten gewesen sein mögen, an das erstere glauben. Der Aristotelische Ausdruck wenigstens, wenn man ihn auch noch so sehr als ein blosses Extrem ansieht, hat gewiss niemals auf Sie gepasst und

275 276 277

Graf II, 2, Nr. 1489. Vgl. hierzu Peter Schmidt a.a.O., bes. S. 168f. Vgl. Graf II, 2, Nr. 1961.

130

passt auf keines Ihrer Werke, auch nicht auf den 'Weither' und den 'Götz1. Ihre Dichtung stammte von jeher aus Ihrer ganzen Natur - und Weltansicht.278

Während Humboldt von den Prämissen seiner Sprachphilosophie her die Werkkontinuität betont, hält Goethe in seinem letzten Brief (vom 17. März 1832, an Wilhelm von Humboldt), der eine Summe der Entstehungsgeschichte des »Faust« genannt werden muß, doch an einem qualitativen Sprung im poetischen Verfahren fest, nachdem er auf das Alter der »Conception« und die bei der diskontinuierlichen Bearbeitung der »mir gerade interessantesten Stellen« notwendig auftretenden »Lücken« hingewiesen hat: Hier trat nun freilich die grosse Schwierigkeit ein, dasjenige durch Vorsatz und Charakter zu erreichen, was eigentlich der freiwilligen thätigen Natur allein zukommen sollte.279

Vorsichtig kann versucht werden, Humboldts Frage nach der poetologischen Epoche bei Goethe zu beantworten: Sie verweist auf das Jahr 1797. Sicher hat auch Humboldt mit seiner Interpretation der Werkkontinuität bei Goethe Entscheidendes getroffen. Auch die genialische Produktion bei Goethe entspringt klaren Produktions prinzipien. Dem Humboldtschen Hinweis auf Goethes »Natur- und Weltsicht« ist weiter nachzugehen; er führt auf den Umkreis der frühen Arkan - Figuren. Das »geheimnisvolle« Verfahren mit »Schemata«, diese »psycho logische Wendung«, die »Production« »bei völligem Bewusstsein« steht in einer komplexen Tradition. Die naturwissenschaftlichen »Figuren« wurden bereits genannt. Zu denken ist auch an die rhetorischen »Figuren« oder »Schemata«, die im 18. Jahrhundert zum Lehrstoff der Poetik- und Rhetoriklehrer gehörten. Eine theoretische Klärung von Begriff und Bedeutung der »Figuren« oder »Schemata« wird in der Rhetorik nur im praktischen Zusammenhang vorgenommen.280 Hinzu kommt am Ende des 18. Jahrhunderts der philosophische Zusammenhang, der zu klären wäre.

278 279 280

Graf II, 2, Nr. 1961 Anm. 2, S. 599. Graf II, 2, Nr. 1981. Vgl. Dieter Breuer: Rhetorische Figur. Eingrenzungsversuche und Erkenntniswert eines literaturwissenschaftlichen Begriffs. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1988, S. 223 - 238.

131

Grundsätzliche Überlegungen zum Begriff des »Schemas« hat 1781 Immanuel Kant im sogenannten »Schematismus« - Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft« vorgelegt. Er sucht nach einem »Dritten«, das einerseits mit den Kategorien (der Vernunft) und andererseits mit den Erscheinungen (die den Sinnen gegeben sind) in »Gleichartigkeit« stehe, also nach einer »vermittelnden Vorstellung«, die »intellektuell« und »sinnlich« sei. Diese Suche führt auf die Vorstellung eines »transzendentalen Schemas«. Das Schema an sich, so Kant, sei »jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft«. Es sei keine einzelne Anschauung, sondern die »Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit«. Das Verfahren des Verstandes mit Schemata entlockt dem sonst so karg formulierenden Kant einige ungewöhnliche Rätselworte: Der Schematismus des reinen Verstandes sei »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden.«281 Nahezu Wort für Wort scheint hier die Vorstellung Goethes vom »Schema« wiederzukehren. Von einer »psychologischen Wendung« spricht Goethe, von einer »Kunst«. Doch seien die Differenzen beachtet. Kant entwirft seine Vorstellung vom Schematismus in erkenntnistheoretischer Absicht. Er unterscheidet ausdrücklich zwischen dem »Bild«, dem Ziel der poetischen Produktion, und dem »Begriff«, dem Ziel des Nachdenkens. In einer zusätzlichen Reflexion macht er den Unterschied noch deutlicher: So viel können wir nur sagen: das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Räume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach Bilder allererst möglich werden.282

Für Kant ist das »Bild« sekundär, für Goethe dagegen primär: Es war im Ganzen, [...] nicht meine Art, als Poet nach der Verkörperung von etwas A b s t r a c t e m zu streben. Ich empfing in meinem Innern E i n d r ü c k e , und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, 281 282

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. R. Schmidt. Hamburg 1956 u.ö., S. 196f. Kant a.a.O., S. 200.

132

bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu thun, als solche Anschauungen und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, dass Andere dieselbigen Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen.283

Künstlerische und begriffliche Tätigkeit kommen in der Vorstellung eines »Schemas« zusammen. Die Unterschiede der Verwendungsweisen des Schemabegriffs bei Kant und Goethe werden in der Konfrontation der beiden loci classici deutlich; setzt man Kenntnis der entsprechenden Stelle aus der »Urteilskraft« bei Goethe voraus, so wird man sogar von einer Polemik des Poeten gegen die Transzendentalphilosophie sprechen dürfen. Kants Zielpunkt ist der »sinnliche Begriff«, der Goethes das »Bild«, die »Scene«, die der Poet »durch lebendige Darstellung« »zum Vorschein« bringt. »Schematisieren« ist demnach auch keineswegs eine sinnleere, rein buchhalterische Tätigkeit, ein Ordnen um seiner selbst willen. Bei aller Rationalität bleibt das »Geheimnis« der genialen Schöpferkraft, die Goethe bedrängend an sich erfährt, völlig bewahrt. Umgekehrt sollten jedoch auch einer Irrationalisierung der Arbeitsweise Goethes gegenüber Bedenken angemeldet werden. Beides ist gefordert: Phantasie und Ordnung. Schemata haben einen eminent praktischen Zweck im Rahmen der Arbeitsweise Goethes. Sie erlauben nicht nur Produktion mit Bewußtsein, sie fixieren auch die Konzeption über einen längeren Zeitraum, erinnern immer wieder die »Conception«, das »innere Mährchen«. Goethe und Kant sprechen beide von einer »Kunst«, »in den Tiefen der menschlichen Seele«, von einer »psychologischen Wendung«. Gedächtniskunst Um historischen Aufschluß über die Arbeitsweise Goethes zu gewinnen, kann auf weitere Begriffstraditionen verwiesen werden, die der »Gedächtniskunst« und die der magischen »Schöpfungs - und Erinnerungskunst«.

283

Graf II, 2, Nr. 1481.

133

Im systematischen Teil der Großen Französischen Enzyklopädie von D'Alembert und Diderot wird im Rahmen der »Philosophie« die »Science d'Homme«, in deren Rahmen die »Art de Retenir« mit ihren beiden Zweigen, der »Science de la Mémorie même« und der »Science des suppléments de la Mémoire« verhandelt. Unterteilt wird weiterhin die »Mémoire« in »Mémoire naturelle« und »Mémoire artificielle«: La Mémoire naturelle est une affectation des organes; l'artificielle consiste dans la Prénotion et dans l'Emblème par lequel l'Imagination est appéllée au secours de la Mémoire.284

Auch hier geht es darum, dem Gedächtnis zu Hilfe, »au secours«, zu kommen. Das künstliche Gedächtnis entwickelt sich aus Vorbegriffen und dem »Emblem«, der symbolischen Figur, die mit einem erläuternden Text versehen ist. Weitere, entscheidende Hinweise enthält der Artikel »Art« der Enzyklopädie. Er nennt unter anderen »Künsten« wiederum die heute fast vergessene »Kunst des Gedächtnisses«.285 In ihr spielt der Begriff des »Schemas« eine zentrale Rolle. Das »künstliche Gedächtnis« bedient sich bestimmter Figuren oder »Schematismen«, in denen die Imagination dem Gedächtnis zu Hilfe kommt.286 Imagination und Erinnerung, Phantasie und Memoria sind, auch in modernen Theorien des Gedächtnisses, eng aufeinander bezogen. Hier kann die alte »Ars Memoriae« oder »Gedächtniskunst«, oft abschätzig als bloße »Mnemotechnik« bezeichnet, durchaus noch Hinweise geben.287 284

285

286 287

Denis Diderot und Jean Lerond d'Alembert: Encyclopédie ou Dictionnaire des Sciences, des Arts et des Métiers. Lausanne et Berne 1781ff. Bd. I »Explication du Système«, S. xiviij. Encyclopédie, Art. »Art«, 3. Aufl., Bd. 3, S. 502. Abdruck des Artikels im Anhang von Paolo Rossi: Clavis universalis. Arti mnemoniche e logica combinatoria da Lullo a Leibniz. Mailand, Neapel 1960. Art. »Art« a.a.O. zur Frage der antiken und neuzeitlichen Mnemotechnik und ihrer Beziehung zur Psychologie des Gedächtnisses vgl. Donald A. Norman: Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Eine Einführung in die menschliche Informationsverarbeitung. Weinheim und Basel 1973, S. 131ff. und P. H. Lindsay, D. A. Norman a.a.O., S. 275 - 280. Das System der »Imageiy« spielt auch noch heute eine wichtige Rolle in der anglo - amerikanischen Psychologie. Daß in der deutschen psychologischen Tradition der Rückbezug auf die Mnemonik lange ausgeblendet war, die Begrifflichkeit importiert werden mußte, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Ob

134

Zurückgeführt

wird

die »Ars

memorativa« auf den

griechischen

Dichter Simonides. Ihm sei es gelungen, nach Einsturz eines Hauses sämtliche Toten mit Namen zu identifizieren, obwohl ihre Gesichter gräßlich verstümmelt waren. Entwickelt wurde die »Ars« jedoch vor allem im Lehrgebäude der Rhetorik, so bei Cicero, in der sogenannten Herennius - Rhetorik und bei Quintilian. Wesentlich trugen aber auch Augustin

(in

den

»Confessiones«)

und

Thomas

von

Aquin

zur

Weiterentwicklung und zum Ansehen der »Ars« bei. Das Verfahren der künstlichen Memoria entspricht dem der antiken Topik.288

Dort

werden »Argumente« an bestimmten Örtern (»sedes«, »loci«, »Stellen«, »Punkten«) gefunden. In der Memorialtopik dagegen werden sie an diesen

Ortern

de-poniert,

um

dort

verfügbar

zu

bleiben.

Man

konstruiert ein System von Plätzen, deponiert dort »Bilder« und geht beim

Vortrag

»Schema«)

ab.

die

Ordnung

Neben

den

der

Bilder

natürlichen

(die

»Figur«

Plätzen

-

oder

dem

das

Körper

(besonders der Hand mit ihren fünf Fingern), dem Raum, in dem man sich befindet, Häusern, Städten, Bergen, Tälern, Fluren, dem Wald, Gebirgen,

Felsen,

Bäumen,

dem

Landkarten, Büchern, u. a. m. -

Tierkreis,

dem

Planetensystem,

gelten die »eingebildeten« Plätze als

besonders bequem. Bewegte Bilder werden den statischen gegenüber als überlegen angesehen. Der

Memorialtopik

der

Antike,

Memorialtheoretiker der Neuzeit

eine

der

»ars

quadrata«,

fügten

»ars rotunda« hinzu. Als ihr

Begründer gilt der Philosoph Raymundus Lullus. In seiner Nachfolge stehen Namen wie Giordano Bruno,

Petrus Ramus, Francis

Bacon,

Robert Fludd, Johann Arnos Comenius, Johann Valentin Andreae und nicht zuletzt Georg Friedrich Leibniz. Die

288

»ars rotunda« bevorzugt

die neueren Lokalisationstheorien des Gedächtnisses zur Memorialtopik in B e ziehung gebracht werden können, muß dahingestellt bleiben. Für freundliche Hinweise danke ich Prof. Hartje und Dr. Sturm von der Abteilung Neuropsychologie der R W T H Aachen. Vgl. dazu Ludwig Volkmann: Ars Memorativa. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, N.F. 3 (1929), S. 1 1 1 - 2 0 0 . , Rossi a.a.O., Anm. 34., Frances A. Yates: The Art of Memory. London 1966., Heinrich F. Plett: Topik und Memoria., Strukturen mnemonischer Bildlichkeit in der englischen Literatur des 17. Jh. In: Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion. Hrsg. v. D. Breuer und H. Schanze. München 1981, S. 307 - 333 mit weiterer Literatur, bes.: Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/M. 1976.; zum Verhältnis Rhetorik - Memoria vgl. Klaus Dockhorn: »Memoria« in der Rhetorik. In: K. D.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Bad Homburg 1968, S. 9 6 - 1 0 4 .

135

Kreise, Räder, magische Figuren, Sternzeichen, Götterstatuen und Allegorien, also geistige Vorstellungen. Den höchsten Rang hat, nach Robert Fludd, dem englischen Hermetiker, die Verbindung beider »Künste« in einem Universalsystem der Erfindung und Erinnerung.289 Die Tradition der Lullistischen »Räder« ist ebenso ubiquitär wie die der alten Tafeln und Räume.290 Zur Verdeutlichung nur einige Beispiele aus der Lullistischen Tradition. In der »Ars minor« des Raymundus Lullus findet sich das Rad, auf dem Buchstaben aufgetragen sind, ein zweites Rad mit Buchstaben ist auf der gleichen Achse so drehbar angeordnet, daß sich durch Rotation des einen Rades eine bestimmte Anzahl von Buchstabenkombinationen ergibt, »Plätze« für Vorstellungen, die ebenso gefunden wie erinnert werden können.291 Giordano Bruno hat aus diesem Prinzip sein Universalsystem der »Triginta Sigilli«, der Dreißig Siegel entwickelt. Sein auf Lullistischer Tradition beruhendes, die Schöpfungs und Erinnerungskunst darstellendes Buch »De imaginum, signorum et idearum compositione, ad omnia inventionum, dispositionum et memoriae genera« ist 1591 in Frankfurt a. M. erschienen. Um die Gedächtniskunst zu lehren, begab er sich 1591 wieder nach Italien, wurde von der Inquisition aufgegriffen und für seine Lehre von der kreisenden Erde, die im engsten geistigen Zusammenhang mit seiner Schöpfungs und Erinnerungslehre steht, auf den Scheiterhaufen gebracht. Anspielend auf sein Schicksal sind die Verse 590 bis 593 im »Faust« formuliert: Die wenigen, die was davon erkannt, Die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten, Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.

Zieht man in Betracht, daß Bruno - Kenntnis seit Januar 1770 bei Goethe nachzuweisen ist, und berücksichtigt man die von Frances A.

289

290

291

Vgl. Yates a.a.O., S. 315. Yates zitiert Robert Fludd: Utriusque Cosmi Maioris Scilicet et Minoris, Metaphysica, Physica atque Technica Historia. Bd. 2, 2. Frankfurt/M. 1621, S. 48ff. Vgl. hierzu Wilhelm Schmidt - Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, bes. S. 155 - 208. Abbildungen in Yates, S. 183 (Aus »Lulls Ars Brevis«, Straßburg 1617.)

136

Yates einleuchtend nachgewiesene mnemonische Grundstruktur bei Bruno, so ist von hier aus eine Brücke zu Goethes Denken gelegt.292 Auf der Schöpfungs- und Erfindungskunst in Lullistischer Tradition fußt auch Robert Fludds Buch »Utriusque Cosmi [...] Historia«, erschienen 1619 in Oppenheim, eine der Quellen der Mikrokosmus - Makrokosmus - Lehre der »Faust« - Szenen des 1. Teils. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel eines Memorialschemas ist die sogenannte »Aurea Catena Homeri«. Der »Kreis« geht in sich selbst zurück; ein ebenso einfaches wie faßliches Schema für Zeugung, Geburt und endliche Zerstörung der Welt in ihr anfängliches Wesen. Die jugendliche Arkanpraxis verbindet sich mit den poetologischen Schema - Vorstellungen. 1790 gibt Goethe dem »Fragment« den Kupferstich nach Rembrandt bei. Bereits oben wurde darauf hingewiesen, daß es sich bei der Lichterscheinung, die der abgebildete Magier betrachtet, um ein Memorialsystem, um eine »Figur« im Sinne der Lullistischen Tradition, handelt. Daß der Goethezeit die beiden »Künste« durchaus (noch) vertraut sind, ist einer Reihe von Publikationen zu entnehmen, die in den Jahren 1804 bis 1811 erschienen sind.293 Maßgeblicher Vertreter der Mnemonik war der bayerische Hofbibliothekar Christoph Freiherr von Aretin, der mit Goethe im Briefwechsel stand. Seine »Systematische Anleitung zur Theorie und Praxis der Mnemonik« (1810) dürfte auch noch heute von Interesse sein.294 Ob und inwieweit sich Goethe dieser »Kunst« bewußt bedient hat, kann dahingestellt bleiben. Wie die Persiflage mnemonischer Verse in 292

293

294

Bruno-Lektüre ist bei Goethe von 1770 bis ins hohe Alter belegt. Vgl. u.a. WA I, 37, S. 82f. (Ephemerides), WA I, 36, 77 (1812), WA IV, 29, 283 (19. Sept. 1818), Tagebuch v. 24. 12. 1829: »Sendung von Adolf Wagner in Leipzig. Die Werke des Jordanus Brunus, in welchen ich gleich zu lesen anfing, zu meiner Verwunderung wie immer, zum erstenmal bedenkend, daß er ein Zeitgenosse Baco's von Verulam gewesen.« WA III, 12, S. 171. Christoph Freiherr von Aretin: Denkschrift über den wahren Begriff und den Nutzen einer Mnemonik oder Erinnerungswissenschaft. München 1804. C. A. L. Kästner Mnemonik oder System der Gedächtniskunst. Leipzig 1804. Lamprecht Schenkel und Martin Sommer: Compendium der Mnemonik oder Erinnerungswissenschaft. Übers, v. Johann Ludwig Klüber, Erlangen 1804. 1811 erschien noch eine von mir nicht näher identifizierte »Mnemonik oder praktische Gedächtniskunst nach Fainaigle« in Frankfurt/M. Die Lexikonartikel des 19. Jahrhunderts betonen den technischen Zweck. Eine Geschichte der Mnemonik steht noch aus.

137

»Dichtung und Wahrheit«, 1. Buch, zeigt, war ihm zumindest die Trivialmethodik des »Festhaltens« im Gedächtnis sehr wohl bekannt.295 Der Traditionshintergrund der Mnemonik kann jedoch in mehrfacher Hinsicht Aufschluß geben über Begriff und Gebrauch von Schemata bei Goethe. Ihr vorwissenschaftlicher, magischer Bezugspunkt wird deutlich; »Kunst« ist im alten Sinn zu nehmen. Damit ist ein Traditionsweg vorgezeichnet, der sowohl in die neuere Poetologie, in die Psychologie des Gedächtnisses, der Erinnerung und der produktiven Einbildungskraft führt wie auch in die moderne Naturwissenschaft. Daß Goethe sich in beiden Feldern, dem wissenschaftlichen wie dem dichterischen, der »sinnlichen Methode«296 bedient, aus der Einheit seiner Persönlichkeit heraus, daß sie sich in vielen Feldern bewährt, rührt nicht zuletzt her aus einer Übergangssituation, welche die modernen Spezialisierungen noch nicht kennt. Schwankende Gestalten Weitere Hinweise lassen sich entnehmen aus dem Dichtergedicht, das die erneuerte Produktion des »Faust« um 1797 in poetische Bilder faßt, der »Zueignung« zu »Faust«. Imaginiert wird in diesen Stanzen ein Zug »schwankender Gestalten«, der Dichter ergreift die Phantasmen und hält sie in seinem Innern fest, um auf diese Weise den poetischen Prozeß in Gang setzen zu können. Nicht zufällig ist die Rede vom »Dunst«, vom »Nebel«, von den »Schatten«: Hier werden die traditionellen Vorstellungen von den »Örtern« der Erinnerungen in der Memoria zitiert. Augustin nützt die gleichen Vorstellungen in den »Confessiones«: Transibo ergo et istam naturae meae, gradibus ascendens ad eum, qui fecit me, et venio in campos et lata praetoria memoriae, ubi sint thesauri innumerabilium imaginum de cuiuscemodi rebus sensis invectarum. 295 296

Zur Schultradition der Mnemonik vgl. Daniel Georg Morhofs »Polyhistor« (1747) Bd. I, S. 375. Johann Heinrich Zedier: Großes Vollständiges Universal - Lexikon. Nachdr. Graz 1961, Bd. 20, Sp. 1329 (»Schematische Methode«). Vgl. auch a.a.O, Sp. 1329f.: »Methode (sinnliche) Methodus sensuum, methodus imaginationis, methodus memoriae, ist eine solche Reihe von Gedanken, da die Objecte nach deijenigen Ordnung disponiret werden, wie sie die Sinne afficiret haben, und durch die Einbildungs - Krafft wieder hervorgebracht werden.«

138

Manche der Gestalten (»imagines«) stürzen scharenweise hervor (»quaedam catervatim se proruunt«), Das Gesuchte tritt aus Nebel hervor (»enubiletur«).297 Die andere Seite des Doppelprozesses der Erinnerung ist die des »Festhaltens«. Auch sie entspricht einer Funktion der Memoria, insofern sie zu einer kollektiven Memoria wird, also der Überlieferung dient Das »Festhalten« meint zugleich die rational-vernünftige Seite des Prozesses. Mnemosyne gab, so Hederich in seinem von Goethe oft konsultierten »Gründlichen mythologischen Lexikon«, »jedem Dinge seinen gehörigen Namen, und machte dadurch, daß die Menschen vernünftig und verständlich miteinander reden konnten.«298 Daß »Vernunft und Klugheit« die Quellen schöner Lieder seien, las Gottsched aus der »Ars Poetica« des Horaz heraus.299 Die Metapher vom Festhalten der »schwankenden Gestalten« entspricht somit dem Vorgang der Fixierung von bewegten Bildern an festen Orten, wie dies in den Mnemotechniken, aber auch in der modernen Psychologie des Gedächtnisses gesehen wird. Neu in der Tradition der »ars rotunda« und ihrer Verbindung von Schöpfungskunst und Erinnerungswissenschaft ist jedoch die konsequente Nutzung der dabei notwendigen »Schemata« im poetischen Prozeß. Damit ist der Ausgangspunkt der Überlegungen erreicht. Es kann der Versuch gemacht werden, die Vielzahl der Belege zum Begriff des »Schemas« bei Goethe und ihren vermutlichen Traditionshintergrund in poetologischer Absicht zusammenzufassen. Nutzt man dabei das Modell der traditionellen rhetorischen Textherstellungstheorie, so spielt der Begriff des »Schemas« nicht nur auf der Ebene der Figurenlehre, also in der Elocutio, sondern auf allen fünf Bearbeitungsebenen eine bestimmte Rolle. Im Rahmen der Inventio zielt er auf eine bestimmte Sachstruktur, die zu erfragen ist, im Rahmen der Dispositio auf eine Ordnungsstruktur, die durch Anordnung der gefundenen »Sachen« nach einer vorgegebenen Gliederung, im wesentlichen als Folge der Glieder, realisiert wird (so im 297 298 299

Augustinus: Bekenntnisse. Lat. u. dt., eingel., übers, und erläutert von Joseph Beinhart. Frankfurt/M. 1987, S. 502. Benjamin Hederich: Gründliches Mythologisches Lexikon. Art. »Mnemosyne«, (1770). Neudr. Darmstadt 1967, Spalte 1654f. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 4. Aufl. Leipzig 1751. Neudruck Darmstadt 1962, S. 47.

139

»Faust« als Folge der »Scenen«), in der Lehre von der Memoria meint er eine Erinnerungsstruktur, durch Anordnung des zu Merkenden im Raum, in der Actio eine Präsentationsstruktur, Wirkung durch einfache, bedeutende Körperbewegungen beim Sprechen. Für Goethe, so ist aus dem Gesagten zu entnehmen, spielt vor allem die Verbindung von Sachstruktur und Erinnerungsstruktur die entscheidenden Rolle. Sein Begriff des »Schemas« zielt auf die Ordnung der »Bilder« in der Zeit. Daß er durchaus auch in den anderen Bearbeitungsebenen von diesem Begriff her schöpferisch tätig ist, daß von dort sogar das klassische, ja klassizistische seines Stils näher bestimmbar ist, ergibt sich aus dem Umgang mit Schemata und deren Reflexion, wie sie in der »Natürlichen Tochter« vorgenommen wird. Hiervon wird später zu handeln sein. Festzuhalten ist dies: in der Begegnung des traditionell literarischen Ansatzes des Gebrauchs von »Schemata« in der Textherstellung mit einem erkenntnistheoretisch - naturwissenschaftlichen Ansatz des Begriffsgebrauchs - hier ist Kant zu nennen, aber auch der allgemeine Gebrauch von Figuren, Tafeln und Schemata in der Naturwissenschaft der Zeit, einschließlich ihrer vorwissenschaftlich-magischen Tradition - kommt es zu jener »psychologischen Wendung«, welche »Production bei vollem Bewusstsein« ermöglicht. In ihr kommt das »Mentale« zum »Sinnlichen«, die »Natur« zur »Kunst«. Nicht ohne Grund stellt sich Goethe um 1797 im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Studien die gleiche Frage wie in seinen poetischen Versuchen. Er sucht nach einem »Leitfaden durch das Labyrinth der Gestalten« - sei es der Gestalten, die von außen auf das Auge eindringen, sei es der Gestalten, die aus dem Innern, aus dem Realitätsraum der Memoria, herandrängen. Natur und Geist werden nach homologen Strukturen aufgefaßt. Die doppelte Begriffsgeschichte von »Schema«, von der Morphologie her, hin zum Begriff des »Typus«, von der Poetologie her, hin zum Begriff der »inneren Form«, kommt hier, völlig e n t sprechend dem von Schelling formulierten Programm der Geist-Natur, im Augenblick der Klassik zusammen. Sie trifft sich auch mit Humboldts sprachphilosophischem Ansatz. In der Begriffsgeschichte des 19. Jahrhunderts ist, so eine a b schließende Vermutung, eine erneute Spezialisierung des Be -

140

griffegebrauchs anzunehmen; G e i s t e s -

und Naturwissenschaften treten

auseinander. Dort aber, wo sie den Dialog anstreben, ist Werk und Wirkung Goethes immer präsent. Eine Begründung für diese Präsenz liegt in seinem poetischen Verfahren mit Schemata. Die eingangs gegebenen Hinweise auf die in der Gestaltpsychologie und in der Hermeneutik - Diskussion gestellten Fragen können den Bogen

zum Ausgangspunkt

der Überlegungen

schließen.

man ein produktives Vermögen wie die menschliche

Untersucht

Sprachfähigkeit

auf ein ihr inhärentes »Allgemeines« im »Besonderen«, so wird sich der Begriff des »Schemas« notwendigerweise einstellen. Stellen sich Ordnung und Methode vor das Individuelle, so gilt Goethes Hinweis, im Umgang mit Schemata deren Vorläufigkeit zu beachten. Sie stehen im Übergang vom »Mentalen« zum »Sinnlichen«, in ihnen kommt das Erdachte und Gedachte zum »Ausdruck«, sie weisen zurück auf das Geheimnis der Phantasie und vor auf die sinnliche Wirkung des Werks in der lebhaften Phantasie des Lesers und Zuschauers, in der es sich vollendet.

Sie

sind,

wie

es

im

Vorwort

der

»Farbenlehre«

von

naturwissenschaftlichen »Figuren« und »Tafeln« heißt, nur »symbolische Hülfsmittel«,

»hieroglyphische

Überlieferungsweisen«,

die

wahre

Erkenntnis fördern und nicht hindern sollen, etwa indem sie sich »an die Stelle der Natur setzen«.300 Seine

Konkretion

findet

das

schematische

Verfahren

in

den

dichterischen Produktionen nach der Jahrhundertwende. Es bildet den Hintergrund für Goethes oft pedantischen Klassizismus ebenso, wie es die Aufbewahrung und Ausführung der »jugendlichen Conception« des »Faust«

ermöglicht,

tionshintergrund

des

nicht

zuletzt

Verfahrens

mit

deshalb, dem

Stoff

weil des

der

Tradi -

Stücks,

der

Geschichte des Magiers Faust, konvergiert.

300

WA II, l, S. XIX.

141

3.2 Die natürliche Tochter: Verbotene Erinnerungen Das Generische Im Jahre 1797 gewinnt »Faust« seine bis ins hohe Alter durchhaltende, variable Memorialstruktur im »ausführlichen Schema«. Das Prinzip des Schematisierens jedoch wird bei Goethe, nach dem das Gelingen verheißenden Anfang, zum vorherrschenden Prinzip der poetischen Produktion. Von der dramatischen Produktionen der Jahrhundertwende ist eine, die mehr als in einer Hinsicht durch das »schematische Prinzip« bestimmt ist: das »Trauerspiel« »Die natürliche Tochter«. Wie die »Novelle« später zum Exempel der Gattung wird, so ist »Eugenie«, die »Natürliche Tochter«, konzipiert als Gattungsexempel der Dramatik. Daß dieses Gattungsexempel nur in seinem ersten Teil ausgeführt werden konnte, läßt fragen, ob sich nicht hier das Produktionsprinzip vor die Produktion gestellt habe. Der Titel könnte in der Tat auch nur »Trauerspiel« lauten, wobei die Gattungsbezeichnung selber vom herkömmlichen Ausgangskriterium, sieht man auf das faktische Ende des vorliegenden Stücks, Rätsel aufgeben mag. Das »Trauerspiel« ist von Form und Inhalt her als Essenz geplant, »Geschichte« ist nur Anlaß. Schiller stellte im November 1799 den »Stoff« bei. Es handelt sich um die »Memoiren« der Stephanie de Bourbon - Conti. Die erste Notiz im Tagebuch hebt bereits auf Prinzipielles ab: »Charakter der Franzosen«.301 In der gleichen Tagebuchnotiz ist die Rede vom »Schema der Farbenlehre«, dessen Ausarbeitung er in den folgenden Tagen fortsetzt. Am 6. Dezember notiert er, was in diesen Jahren sehr selten ist, ein theoretisches Aperçu im Tagebuch, zugleich steht der spätere Titel fest: Wenn im Theoretischen das Dynamische allein fruchtbar ist, so hat bey empirischen Betrachtungen blos das Genetische einigen Werth, denn beydes coincidirt. Ben Johnsons Volpone. Die natürliche Tochter. 302

301 302

Tagebuch, 18. Nov. 1799, WA III, 2, S. 270. Tagebuch, 6. Dez. 1799, WA III, 2, S. 273.

142

Und im Gespräch mit Riemer vom 4. April 1814 bemerkt Goethe, daß er mit der »'N a t ü r l i c h e n T o c h t e r ' [...] in's »Generische gegangen[...]« sei, während in der Jugend »Varietät und Specification« vorherrschend gewesen seien. »Die Natur sei streng in 'Generibus' und 'Familiis', und nur in den 'Species' erlaube sie sich Varietäten.« Dies sei das »Naturgemäße« an der »Natürlichen Tochter«. Höhere »Organisationen« hätten »weniger Freiheit [...]«. »Die Vernunft lasse die wenigste Freiheit zu und sei despotisch.«303 Ebenfalls mit Riemer bespricht er 1831 die Differenz von früherer und späterer »Behandlung« am Beispiel der »Faust« - Fabel nach Riemers Erinnerung mit nahezu den gleichen Worten: [...] Die Behandlung musste aus dem S p e c i f i s c h e n mehr in das G e n e r i s c h e gehen: denn Specification und Varietät gehören der Jugend an. 304

Das »Generische« ist das Naturgemäße und das Vernünftige zugleich; es ist der Indifferenzpunkt beider. Als Gattungsexempel muß das »Trauerspiel« schlechthin diesen beiden Forderungen entsprechen. Ob die Begriffe »Genetisch« und »Generisch« synomym gebraucht werden (möglich ist in beiden Fällen auch ein bloßer Lesefehler der Herausgeber), sei hier nicht entschieden. Die gemeinsame Wurzel der beiden Wörter ist in jedem Falle gegeben: »Genus« meint zugleich »Geburt, Abkunft, hohe Geburt, Adel«, wie auch »Gattung, Art«. Die Koinzidenz von Theorie und Empirie ist die von Dynamik und Generik, von Bewegung und Abfolge. Das »Generische« vermittelt zwischen Dauer und Wechsel. Die Anmerkung selber geht aus von den biologischen Klassifi kationsschemata. Selbst die vielzitierte Bemerkung, daß die Konzeption der »Natürlichen Tochter« ein »Gefäß« gewesen sei, in dem alles, was er über die Französische Revolution geschrieben und gedacht habe, »mit geziemenden Ernste niederzulegen«305 sei, hebt nicht auf das Besondere, sondern auf das Allgemeine des historischen Ereignisses ab.

303 304 305

Graf II, 3, Nr. 3387. Graf n, 2, 1962. Graf II, 3, Nr. 3394.

143

In der Tat ist der Unterschied der »Natürlichen Tochter« zur problematischen Gelegenheitsdramatik der sogenannten »Revolutions stücke«, dem »Groß - Cophta« und den »Aufgeregten« beträchtlich. Deren »Plan« ist ableitbar aus den traditionellen Regeln für das gut gemachte Theaterstück. Die »Production besonders für's Theater« und die Einhaltung der Gattungsgesetze geraten jedoch bei den Revolutionsstücken vor 1800 an spezifische Grenzen. Sie sind stofflich und formal. Goethe nimmt das Ereignis der Revolution als bloßes Theater und versieht sich dabei. Bei der Schematisierung seiner Produktion erkennt er, daß er sich trotz guten Umgangs mit der dramatischen Technik im »Stoff« vergriffen habe.306 Für selber Thema Form« aus.

das »Trauerspiel« dagegen muß die Form aus der Konzeption entwickelt werden. Populäre Reihungsstrukturen sind dem nicht angemessen. Weder reicht die Rückkehr zur »antiken noch das Rezept des gut gemachten Stücks für den Gegenstand

In der Tagebuchnotiz vom 6. Dezember 1799 ist in einem sehr a b strakten Sinne die »Conception« der »Natürlichen Tochter« niedergelegt. Ihr Kern liegt in der überraschenden, im alten Sinn witzig zu nennenden Übereinstimmung (»Koinzidenz«) zwischen dem Gedanken der (wissenschaftlichen, literarischen) Gattung und dem Gedanken der »Abkunft« im Konzept des »Generischen«. Das vermutlich noch im Dezember 1799 niedergeschriebene erste Schema faltet diesen Gedanken in eine Fabel aus, die dann in der Folge in Szenen disponiert wird. Hier liefern die Conti - Memoiren den Stoff, indem sie auf das »Generische« reduziert werden. Der Papierumschlag, dem Goethe die Aufschrift »Die natürliche Tochter. Schema der Fortsetzung«307 gab, enthält drei unterschiedliche Produktionsstadien, welche die Konzeption näher ausführen. Beim ersten Konvolut handelt es sich um fünf Quartblätter, gebrochen, rechts beschrieben. In der ersten Notizenkette kehrt die Abkürzung »Gen.« in römischer Numerierung fünfmal wieder. Mit Sicherheit handelt es sich nicht um eine Akteinteilung. Vielmehr ist daran zu denken, daß sich Goethe hier ein allgemeingültiges

306 307

Gräf II, 1, Nr. 29. WA I, 10, S. 444ff.

144

Generationenschema Menschengattungen

aufbaut, darstellt.

das Die

zugleich

Abkürzung

ein ist

Schema

im Blick

auf

der die

Überlegungen zum »Generischen« aufzulösen. Das Schema geht vom »Absolute[n] Despotism« über den »Untergeordnete[n] Despotism«, den »Realismus Bande«. 308

des

Besitzes«

Für die fünfte

bis

zum

Generation

Zustand ist

ein

der

»Aufgelöste[n]

Schlüsselbegriff

nicht

gegeben. Beim zweiten Konvolut

handelt es sich, nach Überzeugung

des

Bearbeiters der Weimarer Ausgabe, um den Rest des im Dezember 1799 diktierten »Schemas zur Eugenie«. Der ausgeführte erste Teil einer geplanten Trilogie ist ausgeschieden worden. Angegeben werden Lokal und Personal der konzipierten Szenen. Beim dritten Konvolut ist der Typ des Schemas realisiert, das schon unmittelbar auf den Handlungsablauf orientiert ist. Es bezieht sich auf den ersten Aufzug, »Zimmer des Herzog«, den zweiten Aufzug »Vor einer angenehmen ländlichen Wohnung« und auf den vierten (jetzt fünften) Aufzug »Gefängnis« (ohne die letzte Szene). Im dramentheoretischen Sinn handelt es sich um ein ausführliches »Argumentum«, um einen »Grund«. 309 Hier geht es um einen auf die einzelnen Szenen verteilten Plan der Handlungsführung. Jedes einzelne der wichtigen Motive ist kurz bezeichnet. Die Verteilung der Reden der einzelnen Personen ist vorgenommen. Dieser Typ des »Schemas« steht fraglos der »Ausführung« am nächsten. Die Personenbezeichnungen

sind in den Arbeitsstadien zwei und

drei in einem strikten Sinn entindividualisiert,

im botanischen

Sinn

»generisch«: »König«, »Herzog«, »Graf« usf. Einzig »Eugenie« scheint die Ausnahme zu bilden. Hier

aber ist der Name sprechend: von

Wohlgeborenheit, vom »Schönen« als Genus handelt das Stück. Das doppelsinnig »Generische« wird im Namen der Heldin eigens noch thematisiert. »Eugenie«, die Wohlgeborene,

ist »Natürliche Tochter«,

ein Widerspruch, den der Autor im gesellschaftlich normierten Gefüge zur Darstellung

308 309

bringt.

Die

»Natürliche

Tochter«

ist

zugleich

die

WA I, 10, S. 444. Vgl. Helmut Schanze: Dramatis argumentum. Überlegungen zur Geschichte eines poetologischen Begriffs unter besonderer Berücksichtigung von Hölderlins »Grund zum Empedokles«. In: J. Kopperschmidt/H. Schanze (Hrsg.): Argumente/ Argumentation. München 1985, S. 70ff.

145

Spezifikation des Genus der Schönheit. Das scheinbar Unzusammenhängende des Charakters der Heldin ist demnach nichts anderes als die Ausführung des Schemas der Schönheit in allen ihren Facetten, Möglichkeiten und Gefahren. Trauerspiel der Gegenwart Die Funktion des letzten Schemas wird aus einer Notiz erkennbar, in der sich Goethe sich für den Gefängnisakt den Auftrag gibt: Im ganzen eine Conversation zu erfinden, wo durch die Erinnerung dessen was man gewesen das gegenwärtige Übel aufgehoben wird. Familien und Namenserinnerung auch Beschreibung wohlhabender brillanter Zustände.310

Dieser Erfindungsauftrag, mit seinem Nachsatz »Die Vorzüge eines egoistischen sogenannten guten Lebens«311 führt wiederum an den Kern der Konzeption. War oben von einem genetischen Schema der Schönheit die Rede, so wird hier eine Gesellschaft vorgeführt, die in Erinnerung an vergangene Zeiten ihre eigene Gegenwartsaufgabe vergißt. Die Konversationspartner handeln in der Fiktion, als ob das »egoistische sogenannte gute Leben« noch möglich wäre. Der Ort solcher fatalen Erinnerung ist grotesk: ein Gefängnis. Die Frage nach dem Los des Schönen in der geschichtlichen Welt, dies ist die Schillersche Frage, die Goethe mit seinen Mitteln dramatisch bearbeitet. Im Gefolge der Entdeckung des Schematisierens als poetischem Grundverfahren ergibt sich, daß nach dem Schema der Schönheit zu suchen ist. Die Selbstbiographie der Stephanie von Bourbon - Conti ist nur äußerlicher Anlaß zu einer Konzeption des Generischen und der Schönheit. Sie wird ergänzt durch Lesefrüchte aus Soulavies »Mémoires historiques et politiques du règne de Louis XVI« im März 1803: Im Ganzen ist es der ungeheure Anblick von Bächen und Strömen, die sich nach

Naturnothwendigkeit,

von

vielen

Höhen

und

aus

vielen

Thälem

gegeneinander stürzen und endlich das Uebersteigen eines großen Flusses und eine

Ueberschwemmung

veranlassen,

in

der

zu Grunde

geht,

wer

sie

vorgesehen hat so gut, als der sie nicht ahndete. Man sieht in dieser 310 311

WA I, 10, S. 449. WA I, 10, S. 449.

146

Ungeheuern Empirie nichts als Natur und nichts von dem, was wir Philosophen so gern Freiheit nennen möchten.312

Mit dem Begriff des Generischen steht zugleich der Begriff des Geschichtlichen auf dem Prüfstand. War Götz noch reichsgeschichtlich orientiert und bedeutete Egmont die Einsicht in die sich wieder holende Geschichte, so thematisiert die »Natürliche Tochter« die Widersprüchlichkeit historischer Dynamik. War das Drama in »Egmont« zur Rede über das »Dämonische« an und in der Geschichte geworden, so ist dieser Erinnerungstyp nun zum Gegenbild des Dramatischen geworden. Eingeführt werden die Genera der politischen Welt als Generationen in einer seltsam anmutenden Statik. Daß es um eine geschichtliche Krise gehen könnte, wird allenfalls in den Reden der »Figuren« selber faßbar. So ist das »Schema der Fortsetzung« nicht nur Spekulationsanlaß dafür, wie das Stück, wenn überhaupt, noch fortzusetzen gewesen wäre. Eine solche Spekulation wäre denn auch müßig genug. Schemata als Erinnerungsformen gelten nur für den Autor und nur temporär, so lange, bis nicht ein neues Schema das alte überholt oder das Werk als »ausgeführt« gelten kann. Sie geben aber genauere Hinweise auf die Konzeption des Stücks. Von einem Fragment hat die ausgeführte »Natürliche Tochter« nichts, das Ende ist klar bezeichnet: Eugenie resigniert, das Stück endet in Entsagung, in einem Mischgefühl aus Tragik und Lebensmut, episch, wie eine moderne Dramentheorie dies formulieren müßte. Mit diesem Ausgang ergibt sich ein Widerspruch von Ausgangskriterium und Gattungsbezeichnung, mit anderen Worten, es bleibt die Frage nach dem Tragischen des modernen Trauerspiels offen. Erzeugen in der antiken Tragödie die »Häuser« und ihr Schicksal immer erneut tragische Verwicklungen und individuelle Katastrophen, so scheint sich dies in der modernen Tragödie, dem »Trauerspiel«, genau umzukehren. Nicht mehr steht individueller Tod als Lösung und Reinigung an, vielmehr ist die Traurigkeit der Verhältnisse allgemein geworden:

312

Graf II, 3, Nr. 3304.

147

Aufgelöste Bande, der letzten Form. Die Masse wird absolut. Vertreibt die Schwankenden. Erdrückt die Widerstrebenden. Erniedrigt das Hohe. Erhöhet das Niedrige. Um es wieder zu erniedrigen. 313

Was

die

Traurigkeit

der

»Natürlichen

Tochter«

ausmacht,

ist

ein

Nachtrauern um eine verlorene Vergangenheit. Eugenie lebt von verbotenen Erinnerungen. So kann selbst der tätig - helfende Gerichtsrat die

Trauerzeit

der

»Natürlichen

Tochter«

nicht

verkürzen.

Jede

Rückkehr ins tätige Leben bedarf der Zeit, die hier als Ineins von geschichtlicher und individueller Zeit gedacht ist. Damit ist Zeitgeschichte in Frage gestellt. Wo die Französische Revolution

jeden

Zeitbegriff

verloren

hatte

-

alles

soll

zugleich

geschehen, der Fortschritt, das reine Prinzip des Zeitlichen,

duldet

keine Weile - , setzt Goethes Geschichtsbegriff die gefüllte Zeit in ihr Recht ein, nicht als bloße Erinnerung, nicht als Fortschritt per se, sondern als Zeit der Trauer und der Hoffnung, als das Spiel des Lebens. Die Wirkung der Tragödie, die aristotelische Reinigung, ist, soweit dies aus der Planung des Stücks ablesbar ist, in das »Trauerspiel« selbst mit aufzunehmen. Die Frage ist, ob hierfür der Stoff der Conti - Memoiren ausreicht. Schon bei der Konzeption greift Goethe auf das Allgemeine aus. Im Schema werden die konkreten Angaben entsinnlicht. »Eugenie« wird zum Gattungsexempel im Doppelsinn. Ihre Natürlichkeit, von der das Stück

lebt,

verliert

sie

in

entsagender

Trauer

um

verlorene

Erinnerungen. So ist der vorliegende Schluß bereits in der Konzeption angelegt. Die Utopie einer Koinzidenz von Theorie und Empirie, als theoretisches Möglichkeiten.

Postulat, Eugenie

führt spricht

in am

einen

offenen

Schluß

ihr

Horizont

Dilemma

wiederholten Metaphorik des Tassa - Schlusses aus: Schiffbrüchig fass' ich noch die letzte Planke! Dich halt' ich fest und sage wider Willen Zum letztenmal das hoffnungslose Wort: Aus hohem Haus entsprossen, werd' ich nun Verstoßen, über's Meer verbannt und könnte Mich durch ein Ehebündniß retten, das Zu niedren Sphären mich herunter zieht. (V. 2717ff.)

313

WA I, 10, S. 444.

148

in

der der

Der nostalgischen Rede des Mönchs aus dem »Kreis der Traurigen«, der Verbannten, den das Erscheinen der Eugenie erheitern könnte, folgt sie nicht. Zurückgeworfen auf sich selbst, »allein« wie Iphigenie, entscheidet sie sich, zu »bleiben«, hier und jetzt, in einer Ehe verbunden mit dem »Niedrigen«, nachdem sie ihn in seiner liebenden Zuneigung geprüft hat. So ist der Lustspielschluß des Trauerspiels, die Komik in der Tragik, in zwei geprüften Menschen für den Augenblick aufgehoben. Fertiggestellt wird die »Natürliche Tochter« für die Aufführung 1803, unter dem Titel »Eugenie«, unter Goethes Leitung. Es ist das Jahr, in dem der schwankende Grund für eine politische Stabilität in Deutschland, die preußische Neutralität oder »Nullität«, zunehmend problematisch wird. Im »Reichsdeputationshauptschluß« von 1803 werden die rechtlichen und politischen Grundlagen des alten Reichs aufgegeben. Gegenüber der täglich wechselnden Bühne der GebietsVerteilungen bietet das klassizistische Theater in Weimar, paradox genug, einen letzten Halt für eine traditionelle Hofgesellschaft. Die Fortsetzung der »Natürlichen Tochter« kommt nicht mehr zustande, ebenfalls nicht die geplante einteilige Fassung des Stücks zu »theatralischen Zwecken« (An Zelter, 8. Aug. 1804).314 Eine späte Briefstelle an Zelter (4. Sept. 1831) bestätigt den Memorialcharakter des Stücks: »An die 'Natürliche Tochter' darf ich gar nicht denken; wie wollt' ich mir das Ungeheure, das da gerade bevorsteht, wieder in's Gedächtniß rufen?«315

33

Repräsentationen

Erinnerungen an alte bildende Kunst Die höfischen Repräsentationsaufgaben fordern von Goethe in Weimar dramatische Produktionen, die so und in dieser Form einigermaßen altertümlich, zeitgebunden erscheinen mögen. Die Spannung von Auftragsdichtung und Dichtungsauftrag, zwischen äußerer Aufgabe und 314 315

Vgl. Graf n, 3, Nr. 3364. Graf II, 3, Nr. 3410.

149

innerer, andrängender Gestaltungsfülle, scheint unauflösbar. Ist der Auftrag schon zeitgebunden, so scheint auch das Werk mit dem Anlaß seine Beziehung zur Wirklichkeit zu verlieren. Nicht ohne Grund stehen die Repräsentationswerke Goethes im Schatten der großen Konzeptionen. Dennoch läßt sich die Entwicklung der Goetheschen Motivik ohne einen Blick auf die Besonderheiten der Auftragsproduktion kaum beschreiben. In ihr entwickelt sich öffentlich fort, was erst später in der Ausführung des »Zweiten Theils« des »Faust« zum Tragen kommt. Die Grundkonzeptionen aller drei großen Auftragswerke nach 1800 stehen im Kontext der Spannung des Alten und des Neuen; sie können in der Folge in einem übergreifenden Zusammenhang betrachtet werden, obschon ihre Entstehungszeit die ganze, für Europa umwälzende Epoche Napoleons umfaßt. Die personifizierte Politik, die Goethe 1807 in Erfurt zu einem Repräsentationsauftrag nach Paris rufen wollte, wird von Goethe in einem repräsentativen Gegenkonzept, scheinbar unpolitisch, beantwortet. Daß er dann 1815 den Sieg über Napoleon in einem Festspiel für Berlin feiern sollte und daß gerade hier diese Gegenkonzeption des Politischen auf Ablehnung stieß, mag als Ironie der Geschichte gedeutet werden. Die »Natürliche Tochter«, »Paläophron und Neoterpe«, »Pandora« und »Des Epimenides Erwachen« bilden mit der »Helena«, die erst 1826 unter neuen historischen Bedingungen abgeschlossen werden konnte, einen Produktionskontext, in dem die geschichtlichen und mythologischen Motive wandern und sich anreichern können. Die einzelnen Werke verschwinden hinter dem Kontinuum der Werkgeschichte, sind aber auch im einzelnen Dokumente spezifischer Produktionsformen. Die kohärente Werkgeschichte der Repräsentationsstücke beginnt 1799. Um die Jahrhundertwende 1800 zu feiern, wird bei Goethe vom herzoglichen Hof ein Festspiel bestellt, das, nach Rücksprache mit Friedrich Schlegel, offensichtlich und zum Ärger Schillers - damals Autorität für Goethe in diesen Angelegenheiten - den Namen » P a l ä o p h r o n u n d N e o t e r p e « erhält.316

316

Vgl. Gräf II, 4, Nr. 3492.

150

Das Romantisch - Klassische dieses Stücks - von der Konzeption her ein erster Versöhnungsversuch der gegensätzlichen Literatur- und Lebensprogramme - ist in der Forschung wenig beachtet worden, literaturhistorisch gesehen verdient es die Beachtung dennoch: Als eines der ersten nach der »schematischen« Methode produzierten Werke und zugleich als Parallel- und Schwesterwerk der um 1800 entstehenden »Helena« - Szene, die dieses Werk allerdings im Hegeischen Doppelsinn des Worts aufheben wird. Die Entstehungsgeschichte von »Paläophron« ist aber auch insofern eine Bestätigung der im schematischen Produktionsprinzip angelegten Möglichkeiten, als dieses Stück quasi aus dem Stegreif am 28./29. bzw. 29./30. Oktober 1800 von Goethe diktiert wird und schon am 31. Oktober in Szene gehen kann. Dies setzt nicht nur eine streng typisierende Produktionsweise voraus, sondern auch eine intensive Schulung der »Gesellschaft« in der Memorialtechnik. Goethe greift, um »sowohl sich als die Spielenden in begeisterte Stimmung zu setzen«, zum »heroischen Mittel« der Stegreifproduktion: Er lud sich bei den Hofdamen zum Frühstück, und zwar auf Punsch, ein, versammelte die Personen, denen er Rollen zudachte, um sich, und dictirte nun der Fräulein von Göchhausen die verschiedenen Rollen in die Feder, während er selbst im Zimmer gravitätisch a u f - und abschritt.317

Goethes Selbstinzenierung gibt die perfekte Illusion der spontanen Produktion. Immerhin war vom Entschluß, das Stück auszuführen, bis zu seiner Produktionsinszenierung nur eine knappe Woche der Vorbereitung gegeben. Diese Inszenierung wird zu einer Probe auf die Tauglichkeit der »schematischen Methode«. Die Nutzung der Memorialtechnik bei der »Elocutio« des Stücks, hier im Wortsinn, erfolgt unmittelbar auch in der Phase der für die Aufführung notwendigen »Memoria«. Sobald eine Rolle bis auf einen gewissen Punct dictirt war, mußte sie sofort memorirt - und sobald die entsprechende zweite Rolle auf das Papier gebracht war, gleich mit dieser zusammen probirt werden, wobei Goethe aufs lebhafteste antrieb, vorspielte und einwirkte.318

317 318

Gräf II, 4, Nr. 3486. Gräf II, 4, Nr. 3486.

151

Die Bemerkung »bis auf einen Punct dictirt« ist zugleich der versteckte Hinweis auf das Verfahren: Goethe hatte sich die »Puncte« notiert, das Schema also, und arbeitet dieses Schema im Geiste ab. Indem er selbst vorspielt und »einwirkt«, gibt er eben die notwendigen lebendigen Örter an, an denen sich die Memorierfähigkeit der Spieler anschließen kann. Die vermittelte Unmittelbarkeit der Produktion wird durch die Produktionsinszenierung überdeckt; der »gravitätische« Gestus läßt keinen Zweifel an der Autorität des Poeten, an seiner Werkherrschaft, aufkommen. Der Kern aber der Selbstinzenierung des Poeten, der so in den Mittelpunkt seines Werkes und vor allem dessen Wirkung tritt, ist im. Grunde traditionell: Es werden die Theorien der alten Wir kungsästhetik genutzt, und zwar mit einer wissenschaftlich zu nennenden Überlegenheit eines glückenden Experiments. Das Stegreifprinzip der Commedia deH'Arte, das dem Spieler die Möglichkeit zum Extemporieren gibt, verschiebt sich dabei auf den Autor, der eine Vorlage extemporiert. Nur sind es nicht die »komischen« Typen, die hier erscheinen. Tradition und Spielwitz wird ersetzt durch antikisierende Typik, die Goethe sich selbst, als Autor, den Schauspielern und einem geneigten Publikum anmutet. Die klassische Übereinkunft von Produktions- und Rezeptionsästhetik, geltend für den Weimarer Kreis, bewährt sich. Sie öffentlich zu machen hätte das Wagnis des Scheiterns und der Lächerlichkeit bedeutet. Friedrich Schlegel, der Mitautor von »Paläophron«, erfuhr die Abfuhr seines »Alarcos« wenig später vom Publikum, trotz eines donnernden »Stille, stille«319 des allgewaltigen Weimarer Theatererziehers. Die »heitere« Versöhnung des »Alten« und des »Neuen« wird später von Goethe selbst als utopisch angesehen, da »in dieser zerspalteten Welt nicht denkbar«. (An Boisserde, 27. Sept. 1816)520 Sie ist gleichwohl ein Thema, das, vom Kern her, in der Tat zu den »ältesten Conceptionen« gehört. Als motiv - wie entstehungsgeschichtlich wichtiges Dokument ist »Paläophron« in der Reihe der dramatischen Gelegenheitsarbeiten der Zeit nach der Jahrhundertwende hervorzuheben. Prologe, Vorspiele, 319 320

Vgl. Kritische Friedrich - Schlegel - Ausgabe. Hrsg. v. E. Behler. Bd. Dichtungen. Hrsg. v. H. Eichner. München u.a. 1962, Einleitung S. LXXVII. WA IV, 27, S. 170.

152

V,

Ankündigungen gehörten zum Beiwerk des Goetheschen Versuchs, in Weimar eine Musterbühne zu errichten, ein Versuch, dessen theaterhistorische Bedeutung weit über die Gelegenheit herausreicht. Auch diese Nebenwerke werden regelmäßig nach der schematischen Methode erstellt. Der Segen der Pandora 1806 wird »Faust« durch Teilung vorerst abgeschlossen. Von

dieser

Arbeit wird noch zu sprechen sein. Die Zeitumstände wenden sich gegen eine heitere Klassizität. Thüringen wird zum Kriegsschauplatz. 1807 bricht die Utopie einer preußischen Neutralität

-

als »Nullität« bezeichnet

auch eine

historischen

-

Voraussetzungen

zusammen für

das

und

damit

von Gegnern

Versöhnungsprogramm

der der

»Klassik«. Goethe entwirft in den Jahren nach 1807 ein »Festspiel«, dessen Stoff ihn offensichtlich schon seit längerem beschäftigt. Die Biographica in diesem Zusammenhang sind einigermaßen rätselhaft, da, nach dem Tagebucheintrag,

1806

die

junge

Frau

von

Levetzow,

mit

der

antik - mythologischen Figur identifiziert wird.321 Siebzehn Jahre später, in wiederholter Spiegelung, wird ihre Tochter Ulrike der biographische Anlaß

der

»Marienbader

»Pandorens

Wiederkunft«

Ausführung äußerlich:

322

eine

Elegie« tragen.

sein.

Das

Wieder

Stück ist

der

Publikationsaufforderung

soll

den

Anlaß

Titel

für

die

durch Leo

von

Seckendorf und J. L. Stoll. Bereits am 11. November 1807 scheint das Stück im Geiste fertig, wie Riemer notiert: Goethe trug mir [Riemer] eines Morgens, den 11. November 1807 auf der Reise nach Jena, die ganze Idee und Tendenz [die Konzeption] 323

seines

Gedichts ['Pandora'] so umständlich und ausführlich vor, daß es mir leid that, sie nicht auf der Stelle niederschreiben zu können, sowohl um ihn künftig daran zu erinnern, wenn er davon abkommen sollte, als auch um die kleinen anmuthigen

321 322 323

Züge

und

Ausschmückungen

nicht

zu

verlieren,

die

einen

Graf II, 4, Nr. 3535. Graf II, 4, Nr. 3661. Einfügung des Verfassers.

153

augenblicklich improvisirten Vortrag vor dem mit Reflexion und Bedenklichkeit abgefaßten auszeichnen. 324

Riemer, mit Goethes Arbeitsweise genauestens vertraut, notiert die Stufen

der

»Conception«

und

»Ausführung«,

aber

auch

die

Erinnerungsfunktion der ersten Niederschrift. Das Zeugnis ist so Beleg für

das

esoterische

Verfahren

mit

Schemata.

Das

Schema

der

»Pandora« steht noch in anderer Hinsicht in überraschender Beziehung zum ältesten »Ausführlichen Schema« zu »Faust«. Riemer notiert zum 1.

Mai

1808,

daß

Goethe

»dreißig

Motive

specificirte,

welche

subdividirt neunzig geben würden«. Die »Ausführung in der Badezeit« habe sich aber »durch Abhaltungen aller Art, nicht wenig aber auch durch die antiken Sylbenmaße« verzögert.325 Noch eine weitere Notizenreihe bestätigt die Nähe der Konzeptionen: Über 'Pandora': über 'Systole' und 'Diastole' des Weltgeistes. 'Jene gibt die Specification, diese das Unendliche. In der Natur sei das Unmögliche, daß nichts nicht werde: das Leben sei gleich da.' 3 2 6

Wichtig ist jedoch auch der mythologische »Punct«, von dem das Stück seinen

poetischen

Ausgangspunkt

nimmt:

Es

ist

die

Konstellation

zweier antiker Figuren, des Prometheus und der Pandora. Die Pandora wurde dem Prometheus enthielt.

Klug

genug,

gesandt mit jener Büchse,

die

Absicht

zu

erkennen,

die alle weist

Laster

dieser

das

Geschenk zurück, während sein Bruder Epimetheus die Büchse öffnet. Alle Plagen strömen aus, einzig die Hoffnung bleibt darin. Hier setzt das Stück von »Pandorens Wiederkunft« ein. Auf einer Bühne

mit

zwei

Seiten

wird

(»in

Poussinischer

Weise«) 327

der

Gegensatz zwischen Prometheus und Epimetheus sinnlich gemacht. Die tragisch verschlungene Liebe zwischen dem Sohn des Prometheus und der

Tochter

des

Epimetheus,

Phileros

und

Epimeleia,

ist

der

dramatische

Ausgangspunkt des Stücks. Aus Tod und

Verzweiflung

rettet

Göttin

Wasser,

die

Eos

die

Liebenden,

Feuer

und

die

Gegensätze versöhnend. Pandora tritt bis zu diesem Punkt nicht auf; sie wird lediglich erinnernd beschworen.

324 325 326 327

Graf Graf Graf WA

154

II, 4, II, 4, II, 4, I, 50,

Nr. 3541. Nr. 3590 Anm. Nr. 3596. S. 297.

Das Stück bleibt Fragment, und dieser Tatsache verdanken wir den Einblick in die Entstehungsakten. Ein Konvolut mit dem Titel »Schema für Fortsetzung«328 ist erhalten, das Platz läßt für weitere Schritte der Ausführung. Dieses Schema entfaltet die »Conception«, den »mythologischen Punct« in eine Szenenfolge, die den antiken Mythos fortführt. Aus »völlige[m] Vergessen«329 taucht Phileros auf. Prometheus »insistiert« auf »unbedingten Beseitigen«330 des Gefäßes. In diesem Kampf um das »Gefäß« erscheint Pandora erneut und erweist den bisher als todbringend angesehenen Inhalt als heilbringend. Ein »würdiger Inhalt« wird erkannt.331 Das Gefäß »schlägt sich auf«, es erscheint ein Tempel mit sitzenden Dämonen, die, so kann man die Aufzeichnung interpretieren, »Wissenschaft« und »Kunst« darstellen.332 Die überraschend neue Mythologie von Kunst und Wissenschaft, denen das neue Paar Phileros und Epimeleiea zugeordnet ist, mit jüdisch - christlichen Ingredienzen, besteht in der Umwertung der alten Werte. Warum sie Goethe zugunsten anderer Konzeptionen aufgab, muß offenbleiben. Als Zelter 1811 an die Komposition gehen will, scheint Goethe das Stück noch einmal aufnehmen zu wollen: Fahren Sie fort, Ausführung des alles. Allein die verwundre mich komme, wie mir

wie es Ihnen gemüthlich ist, und ich will sehen, ob ich an die zweiten Theils kommen kann. Ausgedacht lud schematisirt ist Gestalten selbst sind mir etwas in die Ferne getreten, und ich wohl gar über die titanischen Gestalten, wenn ich in den Fall gestern geschah, etwas daraus vorzulesen.333

Friedensspiel Ein weiterer Auftrag erreicht Goethe am 6. Mai 1814, mit vierwöchiger Ausführungsfrist, von Berlin aus. Die Siegesfeier sollte mit einem Goetheschen Festspiel gestaltet werden. Goethe lehnte zuerst ab, dann sagte er zu und sandte den Entwurf nach Berlin. Hier ist also kein persönliches »Schema« erhalten, sondern ein Aktenstück, das um der offiziellen Billigung der Motive willen erstellt werden mußte. 328 329 330 331 332 333

WA WA WA WA WA Graf

I, 50, S. 456ff., Vgl. Graf II, 4, S. 21. I, 50, S. 457. I, 50, S. 458. I, 50, S. 459. I, 50, S. 459. II, 4, Nr. 3643.

155

Dies entspricht durchaus der Praxis der Auftragsarbeit, in der vor der Ausführung zunächst Klarheit über das zu leistende bestehen muß. Von vornherein hat hier das Medium den Vorrang. Goethe muß sich mit dem vorgesehenen Komponisten absprechen. Dieser Text ist also keineswegs eine autonome poetische Schöpfung; er steckt vielmehr voller Rücksichtnahmen. Die Aufführung kam erst - sehr zur Verärgerung Goethes - ein knappes Jahr später, am 30. März, zustande. Die Gelegenheit war vorüber. Für Konzeption und Entwurf bleiben die wenigen Tagen vom 17. Mai bis zum 20. Mai 1815. Goethe vertraut auch hier auf seine »schematische« Methode. Das »Programm« vom 22. Mai ist bereits sehr detailliert. Vorarbeiten werden konsequent genutzt. In der Tat sind ganze Partien aus der »Pandora« genommen,334, auch das Motiv des Entrückungsschlafs war dort bereits entwickelt. Die »Figuren« des Stücks sind ohnehin mythologischer Traditionsbestand, schematisch verfügbar. Noch deutlicher als bei der Konzeption der »Pandora« orientiert sich Goethe an »wohlbekannten Bildern« (V. 722.), also an »Scenen« der bildenden Kunst. Die Phantasieproduktion ist in mehrfacher Hinsicht figural unterstützt. Wiedergeburt und Steigerung als die großen Motive des Alterswerks erscheinen in der angemessenen öffentlichen Form, in Form der Oper. Die Motive werden quasi ausgestellt. Die eigentliche Provokation des Stücks liegt darin, daß Goethe den tatenfrohen Siegerfürsten die Haltung der »Theorie«, die Gestalt eines »Sehers«, wie einen Fürstenspiegel vorhält. Der Spiegel zeigt die Weimarer Tugenden des kleinen Kreises, Vorhaltungen, die das öffentliche Berlin nur schwer ertragen konnte. Vermutet wird eine Abneigung des Königs gegenüber Goethe. Goetheverehrung ist in Berlin damals keinesfalls offizielle Angelegenheit. Diese Weimarer Tugenden sind die der Innerlichkeit. ist dieser vielgebrauchte Begriff zu präzisieren. 1813 legt 15. Buch von »Dichtung und Wahrheit« Rechenschaft ab Produktionsweise. Es sei »doch immer das Final, daß der 334

so die Verse U8ff. (»Pandora« V. 800ff.)

156

Im Kontext Goethe im von seiner Mensch auf

sich selbst zurückgewiesen wird.« »Arzt, hilf dir selber!« sei ihm oft genug zugerufen worden. Die »sicherste Base« der Selbständigkeit sei sein »productives Talent« gewesen: Es verließ mich seit einigen Jahren keinen Augenblick; was ich wachend am Tage gewahr wurde, bildete sich sogar öfters Nachts in regelmäßige Träume, und wie ich die Augen aufthat, erschien mir entweder ein wunderliches neues ' Ganzes oder ein Theil des schon Vorhandenen.335

Die Theorie der frühen Produktivität wird von Goethe verbunden mit dem Prometheus - Mythos, dem Mythos von den Titanen. Von diesem Mythos jedoch heißt es in »Dichtung und Wahrheit« paradoxerweise, daß er der eigenen Dichtungsart »keinen Stoff« verliehen habe. Das Scheitern des Prometheus-Dramas wird poetologisch, aus der mangelnden Übereinstimmung von Stoff und Form heraus, begründet. Aus dem »unerschöpflichen Reichthum göttlicher und menschlicher Symbole«, der sich in der griechischen Mythologie finde, sei es dagegen »jenes friedliche, plastische, allenfalls duldende Widerstreben, das die Obergewalt anerkannt, aber sich mit ihr gleichsetzen möchte«, gewesen, das seiner Dichtungsart »ziemte«.336 Die Konzeption des »Epimenides« - Komplexes, die, wie die der »Pandora«, in einer Transformation der frühen Titanen - Konzeption besteht, wird hier sowohl in ihrem Anspruch auf Selbständigkeit des Poeten (dem prometheischen Moment) wie auch der Art des »Widerstrebens« des Poeten ausgesprochen. Epimenides verschläft die Zeit, weil er sich, wie sein Schöpfer, auf sich selbst gestellt sieht. Sein Erwachen stellt das »Ganze« neu her, das im Traum bearbeitet wurde. Der Obergewalt gegenüber ist er friedlich und plastisch, nachgiebig. Aber gerade in dieser Plastizität liegt der Grund für seine Ebenbürtigkeit mit den Großen dieser Welt. Goethe inszeniert den Aufstand der Innerlichkeit als Allegorie Gleichsetzung von Tat und Traum, mehr noch: die Tat wird durch Traum überwunden. Dem friedlich - plastischen Prinzip wird Überlegenheit über das Prinzip der Tat zugemessen. Nachdem Laster der Büchse der Pandora entflohen waren, blieb einzig 335 336

der den die alle die

WA I, 28, s. 311. WA I, 28, S. 314.

157

Hoffnung darin zurück. Da die Hoffnung als die Rettung erkannt ist, so erscheint zum Schluß des ersten Aufzugs des »Epimenides« und damit in der genauen Peripetie die Allegorie der Hoffnung als die den Dämon

der Unterdrückung überwindende

Figur. Sie, die Hoffnung,

wird ungreifbar, da sie im »Nebel« der Imagination, dem Medium des Phantastisch - Poetischen verschwindet. Wechseltrug«337

gestaltet In ewigen

»Verschleierte

Gestalten,

Un-

erscheinen. Die »Gestalten« im

Innern sind es, die den Mächtigen überwinden: Er wehrt sich gegen die von der Einbildungskraft ihm vorgespiegelte Vision, weicht ihr aus, wähnt, in die Enge getrieben zu sein, ist ganz nahe zu knien.338

Der

»selbstgeschaffene

Wahn«

schlägt

den Dämon

in

die

Flucht.

Während sich »Glaube« und »Liebe«, gefesselt vom Schmuck, vom Dämon überlisten und einschüchtern lassen, überwindet die Hoffung durch

die

Macht

eigenwillige

der

Phantasie

Interpretation

des

den Sieges

Unterdrücker. über

Diese

Napoleon,

höchst

den

die

Feiernden ihren Leistungen und ihren Waffen zuschreiben wollen, nicht aber der modernen

Selbstzerstörung

des Helden, ist der Kern

der

Konzeption. Und wenn auch alle Motive gebilligt schienen, dieser Kern muß die Auftraggeber verstören. Für Goethe war die Ausstellung dieses Kernmotivs nur konsequent. Es entspricht seinem Konzept des »Dämonischen«, das er bereits mit »Egmont« entwickelt hatte. So wendet sich das repräsentative Spiel gegen die, welche damit repräsentieren wollen, und erinnert sie an ihre eigene

Schwäche.

Statt

eines

Ornaments

für

eine

militärische

Siegesfeier liefert Goethe ein subtiles Friedensspiel.

3.4

Für mich letzte Scene

Ad partem n Mit dem »Schema« von 1797 sind die Faustkonzeption und die bereits ausgeführten 337 338

Szenen

WA I, 16, S. 360. WA I, 16, S. 361.

158

in

ein

flexibles,

jederzeit

wiederaufrufbares

Memorialsystem gebracht. Erstes Ergebnis der neuen Produktionsweise ist, neben den eröffnenden und schließenden Stanzen »Zueignung« und »Abschied«, die weit vorgreifende Ausführung eines Teils der »Helena« - Szene, die im »Ausführlichen Schema« die Nummer 23 erhält. Immer noch fehlen entscheidende Zwischenglieder der »Schwammfamilie«. Der »Kreis« ist ein imaginierter, nur die »Orte« der Szenen sind im »Schema« festgelegt. Dieses erste Schema ist zudem temporär. Der Weg vom »Schema« zur Ausführung und Veröffentlichung eines »Ersten Theils« mit seinen 24 Szenen bedeutet zugleich die partielle Aufhebung dieses Schemas. 1797 waren maximal 19 Szenen für die Szenenfolge des späteren »Ersten Theils« vorgesehen. 1798 entstehen, signiert »ad 20«, einige Verse, die inhaltlich zu den späteren Kaiserhofszenen gehören dürften. Aus dem gleichen Zeitraum werden Verse »ad 22« und »ad 24« signiert. Schon bei der Einarbeitung der vorhandenen Szenen müssen UnterSignaturen mit Buchstaben zu Hilfe genommen werden. Diese gehen, im Falle der Lage 16, bis zum Buchstaben »f«. Zur »Walpurgisnacht« (Nr. 17) muß die Zusatzsignierung »17a« eingeführt werden.339 Wann letztlich aber die Entscheidung, den »Faust« in zwei »Theilen« mit einer gleichen Anzahl von Punkten zu geben, gefallen ist, kann aus dem vorhandenen Material lediglich erschlossen werden. Das Blatt, welches die Signatur »Ad partem II.« erhält340 weist auf der Vorderseite eine Versreihe auf, die inhaltlich zur Schülerszene des 1. Teils gehört. Die Datierung um 1800 ist wahrscheinlich. Noch am 3. November 1800, in der Phase der ersten Ausarbeitung der ältesten »Helena« - Szene, spricht Goethe in einem Brief an Knebel im Blick auf »Faust« davon, daß es »immer möglicher« scheine, »dass ich ihn noch werde vollenden können, so wunderbar und schwer die Aufgabe ist.«341 Aber schon am 17. November des gleichen Jahres äußert er Cotta gegenüber Zweifel, »dass sich eine erfreuliche Vollendung so bald

339 340 341

Vgl. die Rekonstruktion im Anhang A. Vgl. WA I, 14, S. 289 u. WA I, 15. 2, S. 177 (Paralipomena 9 und 64). Graf II, 2, Nr. 994.

159

hoffen lässt.« 342 Er dämpft damit die vorher beim Verleger erweckten Hoffnungen. Im Dezember 1800 kehrt Goethe, nach dem antiken Abenteuer mit der »Helena«, wieder zur Ausarbeitung jener Szene zurück, mit der 1792 das Werk abgebrochen worden war: zur »Walpurgisnacht«. Aus dem handschriftlichen Befund ergibt sich die These, daß die Zweiteilung, die Teilausführung der »Helena« und die Ausführung der noch fehlenden Hexenszenen, die Fortführung also der römischen Ansätze, eng miteinander verküpft sind. In Rom hatte Goethe in der »Hexenküche« mit dem Verjüngungsmotiv die Gretchenhandlung mit dem Helena - Komplex verbunden. Helena sei »in jedem Weibe«. Die Ausführung von Teilen der »Helena« um 1800 bringt dem beiläufigen Motiv der Überlieferung jenes Gewicht, das die Ökonomie der Szenenreihung zunächst stört, dann zerstört. Zugleich wächst die Szenenreihe des ersten Teils. Das Ausführungsproblem im Rahmen des »Schemas« von 1797 verdoppelt sich. Einerseits schwillt der spätere »Erste Theil« auf, im Sinne der rhetorischen Amplifikation. Andererseits verändert sich die dramatische Struktur vom Idealkonzept der Tragödie her. Die Anwendung des idealen Tragödienkonzepts der »Natürlichen Tochter« auf den Gretchen - Helena - Komplex weist Gretchen die Repräsentanz des »Natürlichen«, Helena die Repräsentanz des »Gebildeten« zu. Dies führt zur Idee einer Strukturverdoppelung, zu »in sich abspiegelndefn] Gebildefn]«. 343 Die für den »Zweiten Theil« kennzeichnende Ökonomie der steigernden Verdoppelung, der erneute Anfang nach der Nacht des Kerkers im Blick auf die frühe Konzeption des erlösenden Schlusses, machen die Hexenszenen, mit dem Doppelmotiv der Wiedergeburt und der Verdammnis, zu Schlüsselszenen des gesamten Werks. Mit ihrer Ausführung ist zugleich das spezifische Verhältnis des Werks zur populären Tradition des Stoffes neu zu bestimmen.

342 343

Gräf II, 2, Nr. 1001. Gräf II, 2, Nr. 1531.

160

Walpurgissack In den » T a g - und Jahresheften« zu 1801 findet sich ein Hinweis, der für die neue Weise der Produktion aus dem »Schema« heraus kennzeichnend ist: Schon am 7. Februar regte sich in mir die productive Ungeduld, ich nahm den 'Faust' wieder vor und führte stellenweise dasjenige aus, was in Zeichnung und Umriss schon längst vor mir lag.344

In den Februarwochen des Jahres 1801 arbeitet Goethe nach Ausweis der Ausleihbücher in der Herzoglichen Bibliothek vor allem an der »Walpurgisnacht«.345 Die Studien zu dieser Szene, den Inhalt des »Walpurgissacks«, hat Albrecht Schöne ausführlich beschrieben. 346 Die Frage ist, ob es nur »innere Zensur« oder die Einwirkung Riemers war, die es Goethe geraten sein ließen, die Inhalte des »Walpurgissacks« nur zum Teil und nicht in der von Schöne aus der Stofftradition plausibel entwickelten vollständigen Hexentanz

Reihenfolge

(und

»Satansmesse

Gretchenerscheinung)«

347

(und

Bergpredigt)

zu geben,

sondern,

unter

Tilgung der Satansmesse und Anfügung des »Walpurgisnachttraums«, in der seit 1806 vorliegenden,

1808 veröffentlichten Form. Diese Frage

muß erneut gestellt werden, da sie

im Kern

ursprünglichen

Wandlungen

Konzeption

und

den

die Frage nach der des

im

Schema

erfundenen Stoffs und seiner Ausführung enthält.348 Zu Recht haben Scheibe 349 und Schöne 350 in diesem Zusammenhang auf die Problematik des Paralipomenons 50 und seiner Signierung »ad 17«

344 345 346

347 348

349

350

und

»ad

17a«

hingewiesen.

»Ad

17a«

sind

die

Verse

der

Gräf II, 2, Nr. 1322. Vgl. Gräf II, 2, Nr. 1007ff. und die Anmerkungen dazu, S. 105ff. Albrecht Schöne: Götterzeichen. Liebeszauber. Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte. München 1982, bes. S. 107ff. ebd., S. 199f. Zur Problematik der Rekonstruktion vgl. Dieter Borchmeyer: Die geheimgehaltenen Dichtungen des Geheimrats Goethe. Kritische Anmerkungen zu ihrer Wiederentdeckung. Der »Walpurgissack« und »Das Tagebuch«. In: Verlorene Klassik. Ein Symposion. Hrsg. W. Wittkowski. Tübingen 1986, S. 99 - 1 1 1 . Siegfried Scheibe: Zur Entstehungsgeschichte der Walpurgisnacht im Faust I. In: Goethe - Studien. Sitzungsberichte der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1965/4, S. 36f. Vgl. Schöne a.a.O, S. 199.

161

»Hochgerichts

erscheinung«

signiert, 351

die

in

die

Endfassung

nicht

übernommen werden. Schöne w e n d e t ein, daß die Signierung »ad 17« erst auf d e m Blatt 7r einsetze, also für die

(ebenfalls später

nicht

weiter ausgeführte) Huldigungssequenz gelte. W e n n aber Erich Schmidt diplomatisch druckt, so ist die Signatur »ad

17« bereits auf Blatt 1

gegeben; Scheibes Hinweis, daß die gesamte S z e n e der Walpurgisnacht in

Lage

17

eingeordnet

war,

ist

somit

aufrechtzuerhalten.

Schönes

Vermutung über die Folge bleibt davon unberührt. Z u 17 gehört, nach dieser Signierung, alles, was vor und nach der mit 17a signierten Partie in Paralipomenon 50 enthalten war. Blickt man auf den veröffentlichten Text, so ist das Problem »ad 17a« in anderer W e i s e gelöst. G o e t h e entschließt sich nach einer Heine,

durchaus in

untraditionellen

seinen

Walpurgisnacht,

Anmerkungen

zum

was

Tanzpoem

übrigens »Doktor

1801 zu bereits Faust«,

polemisch angemerkt hat: [...] und ich habe wenigstens einem Verdienste nachgestrebt, dessen sich Goethe keineswegs rühmen darf: in seinem Faustgedicht nemlich vermissen wir durchgängig das treue Festhalten an der wirklichen Sage, die Ehrfurcht vor ihrem wahrhaftigen Geiste, die Pietät für ihre innere Seele, eine Pietät, die der Skeptiker des achtzehnten Jahrhunderts (und ein solcher blieb Goethe bis an sein seliges Ende) weder empfinden noch begreifen konnte! Er hat sich in dieser Beziehung einer Willkür schuldig gemacht, die auch ästhetisch verdammenswerth war und die sich zuletzt an dem Dichter selbst gerächt hat. Ja, die Mängel seines Gedichts entsprangen aus dieser Versündigung, denn, indem er von der frommen Symmetrie abwich, womit die Sage im deutschen Volksbewußtseyn lebte, konnte er das Werk nach dem neu ersonnenen ungläubigen Bauriß nie ganz ausführen, es ward nie fertig, wenn man nicht etwa jenen lendenlahmen zweiten Theil, welcher vierzig Jahre später erschien, als die Vollendung des ganzen Poems betrachten will. In diesem zweiten Theile befreyt Goethe den Nekromanten aus den Krallen des Teufels, er schickt ihn nicht zur Hölle, sondern läßt ihn triumphirend einziehen ins Himmelreich, unter dem Geleite tanzender Englein, katholischer Amoretten, und das schauerliche Teufelsbündniß, das unsern Vätern so viel haarsträubendes Entsetzen einflößte, endigt wie eine frivole Farce, - ich hätte fast gesagt wie ein Ballet.352

351 352

WA I, 14, S. 310. Vgl. Heinrich Heine: Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem nebst kuriosen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst. In: Heinrich Heine. Werke. (Düsseldorfer Ausgabe) Bd. 9. Hrsg. v. Ariane Neuhaus - Koch. Hamburg 1987, S. 77ff., bes. S. 81 und S. 102.

162

Heine moniert, was Schöne als durch äußere Rücksichten bei Goethe verhinderte Intention unterstellt: das Werk sei nicht nach dem »ungläubigen Bauriß«, den die Sage vorgab, ausgeführt worden. Und er karikiert die Erlösungskonzeption des »lendenlahmen zweiten Theils« als »frivole Farce«, als »Ballet« - als die Form, die er selbst seinem »Faust« gab. Entscheidend für Goethes Lösung ist, so Heines Argument, umgekehrt gefaßt, die Befreiung des Nekromanten aus den Krallen des Teufels und die Aufhebung der Höllenfahrt. Setzt man Heines Kritik produktiv um und betrachtet man in der Tat den »Zweiten Theil« als die Vollendung des ersten, so ist der von Heine monierte neue »Bauriß«, das neue Schema, die eigentliche Innovation um 1800. Niedergelegt ist sie in Paralipomenon 1 »Ideales Streben [...]« um 1800. Dieses Paralipomenon, ein Schema zum Schema, diskutiert die beiden Grundfragen der Ausführung. Ist die Konzeption auch zunächst stofflich orientiert, so verweist sie von vorherein auch auf ein Bild in der Memoria, auf Gestalten. Der Gehalt bringe die Form mit, Form ist nie ohne Gehalt: So die Einsicht in den Stand der Poetik des »Trauerspiels« um 1800. In bezug auf die »Faust« - Thematik komme es nun darauf an, »diese Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen«.353 Diese Lösung führt 1800 zur Konzeption eines »Epilog[s] im Chaos auf dem Weg zur Hölle.« Die überraschende Identifikation des »Chaos«, dem polytheistisch - antiken Unort, mit der monotheistisch - christlichen »Hölle« zeigt vorerst nur an, in welchem der Punkte die Problematik der Form mit dem Stoff, des Stoffs mit der Form um 1800 liegt. Goethe will dem Widerspruch zwischen der traditionellen Höllenfahrt und dem Erlösungsmotiv in diesem Stadium der Produktion keineswegs ausweichen, er will ihn vielmehr produktiv aussschreiten, die Widersprüche »disparater« machen. Offen bleibt vorerst die Höllenfahrt des korrespondierenden »Zweyten Theils«, offen bleibt auch die Frage der Verdoppelung der Walpurgisnächte. Zunächst war die Frage im Kontext des Gretchen - Komplexes in der ersten »Walpurgisnacht« zu lösen.

353

WA I, 14, S. 287.

163

Ist gerettet Erst die Untersuchungen zur Stoffgeschichte machen deutlich, worin die eigentliche Innovation bezüglich der »Walpurgisnacht« nach 1800 besteht: Goethe dementiert den traditionellen Ablauf der Walpurgisnacht. Er setzt dabei dessen Kenntnis voraus. Er spielt mit Hintergrundwissen, läßt sinntragende Leerstellen, die der Hörer, Leser und Zuschauer aus eigenem Wissen auffüllen kann. Im Pro duktionsprozeß macht er jedoch die Widersprüche zunächst disparater, um den Inhalt gegen die Form zu retten. Die These des bewußten und nicht nur konziliatorischen Dementis der Tradition bedarf in diesem Zusammenhang der weiteren Begründung. Im Gespräch mit Falk vom 21. Juni 1816 wird, ungeachtet der Frage nach der Authentizität einzelner Wendungen, das entscheidende Problem der Werkökonomie angesprochen. Die Rede ist vom »Walpurgissack« für sekretierte Verse, einem Papierkuvert, wie es Goethe auch für die anderen »Scenen« benutzt hat. Zunächst dazu bestimmt, H e x e n - und Blocksbergszenen aufzunehmen, die keine V e r wendung mehr bei der Ausführung finden, bekommt er als »in fernalische[r] Schlauch« metaphorische Bedeutung. Über die Beschreibung des »Behältnisses« wird die Vorstellung einer differenzierten Höllentopik entwickelt, mit »Unterabtheilungen« für »Limbusse« und das »Fegefeuer«. Jedes Papier, das in meinen Walpurgissack herunterfällt, fällt in die Hölle; und aus der Hölle, wie Ihr wisst, gibt es keine Erlösung.354

Was also ausgeschieden wird, ist in der Hölle, repräsentiert den Ort der Nichterlösung. Um das Problem von Fausts endlicher Verdammnis, dem Konzept der Tradition, und deren Dementi aber geht es letztlich im Stück. Der »Ort« der Verdammnis, die Hölle, aus der es keine Erlösung gibt und geben kann, ist folglich von der »Ausführung« aus Gründen der Gesamtkonzeption, die auf Erlösung hin plant, ausgeschlossen. Schon seine Repräsentation auf der Bühne müßte vermieden werden. Goethe trennt, scheinbar erstaunlich unaufgeklärt, in diesem

354

Graf II, 2, Nr. 1174.

164

Punkte nicht die Fiktion der Hölle von ihrer Wirklichkeit. Die wahre Hölle auf dem Theater ist nicht darzustellen. An die Stelle des Unortes tritt Vordergründiges, Distanzschaffendes, Hindeutung, »leiser Wink«. Sinnlich vordrängen soll sich der Unort nicht. Faust wird von der »Hölle« abgelenkt; würde er ihr verfallen, wäre keine »Erlösung« mehr. Geht man mit Scheibe davon aus, daß es sich bei dem »Behältniss«, dem »Sack«, in der Tat um eine jener »Lagen« des »Schemas« handelte, sieht man auf die Aufbe wahrungsform, so wird die Memorialtopik hier in umfassender Weise semantisiert. Auch »Hölle« ist ein Ort, ein Ort allerdings der Nicht - Erinnerung. Über Goethes Lösung, die Erlösung ermöglichen soll, läßt sich in der Tat streiten. Goethes verbergende Oberflächenlösung ist wie der sie begründende Erlösungsschluß provozierend. Mit dem läppischen Theater auf dem Theater, dem »Intermezzo« »Walpurgisnachttraum oder Oberons und Titanias Hochzeit«, das als integraler Teil der neuen Walpurgisnacht gedacht ist, wird ein ästhetisches Prinzip verfolgt, das Goethe noch einmal, zum »Abschluß« der »Classischen Wal purgisnacht« anwenden wird: »Höllenfahrten« werden nur indirekt dargestellt. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang trotzdem, warum Goethe überhaupt eine Szene konzipiert und zum Teil auch ausführt, die, ex post betrachtet, im »Schema«, das auf Erlösung angelegt, keinen Platz finden kann. Diese Frage ist eher eine Frage des Philologen an den Philologen als eine an den Poeten, der mit den Gestalten der Tradition und der Erinnerung umzugehen hat, Gestalten, die für ihn reale Qualität haben und die er nur poetisch, schreibend bearbeiten kann. Das Verfahren der Überdeckung von Vorstellungsinhalten, die im Hintergrund als Traditionswissen weiterspielen, stellt eine der Möglichkeiten der produktiven Bearbeitung dar. Indem Goethe mit dem »Walpurgissack« droht, macht er sich und dem zudringlichen Leser die »sauere Arbeit« bewußt, die mit der poetischen Formung verbunden ist. Ist der Prozeß der Metaphernbildung der Kern des poetischen Verfahren und besteht dieser im Ersetzen eines Vorstellungsinhaltes durch einen anderen, ihm ähnlichen, so ist das Verfahren, das Goethe bei der Ausführung der ersten »Walpurgisnacht« anwendet, von diesem metaphorischen Verfahren abgeleitet. Es betrifft einen ganzen Vorstel-

165

lungskomplex, also nicht nur ein Wort oder eine Vorstellung. Ersetzt wird ein Gestaltenkomplex durch einen anderen. Im konkreten Falle wird die im Hintergrund gewußte Satansmesse durch die vor dergründige Literatursatire ersetzt. Die Ähnlichkeitsbeziehung, die das Verfahren voraussetzt, soll zu »denken« geben. Die rhetorische Manipulation der Ersetzung etwa gleicher Quantität von Text, der »Satansmesse« durch den Theatertraum, bei gleichzeitiger Verschiebung der Elemente bewahrt die Ökonomie des Schemas, verändert aber entscheidend den Sinngehalt, wenn man die Studienfassung mit der ausgeführten Szene vergleicht. Der quantitative Vergleich macht das Verfahren deutlich: Schönes Rekonstruktion hat 376 Verse, wobei einige unausgeführte Partien zusätzlich mit zu berücksichtigen sind. Die »Walpurgisnacht« von 1806 hat 339 Verse. Der »Walpurgisnachttraum«, der anstelle der ausgeschiedenen Verse tritt, ist zwar umfänglicher als »Satansmesse« und »Hochgericht« (rein rechnerisch ergibt sich ein Überschuß von 139 Versen), stellt aber den Versuch dar, die Verluste sinnlich auszugleichen - wären solche Berechnungen nicht ohnehin nur ein grobes Hilfsmittel. In der ausgeführten »Walpurgisnacht« des ersten Teils wird Faust als zerstreut und zerstreubar vorgeführt, als verführt und letztlich doch nicht verführbar, da seine auf »Erlösung« angelegte »Entelechie« solche dualistisch - traditionelle Lösung verbietet.355 Man mag diese Lösung als konziliatorisch bezeichnen, ärgerlich wie der Schluß im »Himmelreich«, der aus dem Anfang im Himmel folgt: Faust soll auf der offenen Bühne weder in einer Satansmesse, noch, wie zu zeigen sein wird, als Bittender vor Proserpina im Hades erscheinen. Mitgedacht ist die Höllenfahrt gleichwohl, denn sie gehört zur Tradition der Walpurgisnächte. Goethe entzieht sich der Tradition, indem er sie in einem metaphorischen Verfahren verdeckt; er rettet und zerstört, modernisiert und restauriert sie zugleich. Ohne diesen Vorgang ist die breite Wiederentdeckung dualistischen Gedankenguts im 19. Jahrhunderts, in ausdrücklicher Opposition zu Goethe, nicht denkbar. Heine dankt 355

Hierauf und auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund hat Dieter Breuer in seinem Aufsatz zum Faust-Schluß hingewiesen. Vgl. Dieter Breuer: Goethes christliche Mythologie. Zur Schlußszene des »Faust«. In: Jahrbuch des Wiener Goethe - Vereins 84/85 (1980/1981), S. 7 - 2 4 und ders.: Origines im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Seminar XXI (1985), S. 1 - 3 0 .

166

Goethe die Einsicht in diesen Dualismus, wenn er sich, unter Berufung auf die populäre Tradition, zu einer erneuten Aufnahme entschließt. Im Brief vom 9. September 1831 an Felix Mendelssohn - Bartholdy zu dessen Vorhaben, die erste »Walpurgisnacht« zu komponieren, wird die Symbolik des Gesamtvorgangs angesprochen. Sie sei im eigentlichen Sinne hoch symbolisch intentionirt. Denn es muß sich in der Weltgeschichte immerfort wiederholen, daß ein Altes, Gegründetes, Geprüftes, Beruhigendes durch auftauchende Neuerungen gedrängt, geschoben, verrückt und, wo nicht vertilgt, doch in den engsten Raum eingepfercht werde. Die Mittelzeit, wo der Haß noch gegenwirken kann und mag, ist hier prägnant genug dargestellt, und ein freudiger unzerstörbarer Enthusiasmus lodert noch einmal in Glanz und Klarheit hinauf.356

Die Rekonstruktion, wie sie Albrecht Schöne für die theatralische Repräsentation im 20. Jahrhundert mit philologischen Mitteln vorgenommen hat, setzt im Grunde Heines Position des Dualismus gegenüber Goethes Entschluß, die Erlösungsmöglichkeit offen zu halten, wieder ein. Der moderne Leser folgt mit Spannung dem historischen Dialog, den unaufgelösten Widersprüchen des 19. Jahrhunderts, und neigt seine Präferenz, wie schon im Falle des wiederentdeckten sogenannten »Urfaust«, der Studienfassung zu. Demgegenüber sollte aber auch Goethes Lösung, die von der Erlösbarkeit Faustens trotz aller Untaten ausgeht, zu ihrem historischen Recht kommen. Sie ist vom erdichteten Schluß her notwendig - trotz aller Widersprüchlichkeiten, die sich daraus ergeben. In diesem Sinne ist die Bemerkung »Für mich letzte Scene.« im Tagebuch vom 24. März 1806,357 die sich auf die Beendigung der »Walpurgisnacht« und auf den »Schluss von 'Faust' 1. Theil.« beziehen dürfte358 eigentümlich doppeldeutig: Mit der endgültigen Fassung der »Walpurgisnacht«, einschließlich des zerstreuenden »Intermezzos«, ist nicht nur der Weg zu einem offenen Schluß eines »1. Theils« gefunden, Faust war nicht verworfen und verwerfbar, nicht zur Hölle verdammt, nur zerstreubar, fehlbar und schuldig. Es ist auch der »Schluss des Schlusses«, der zwar im Schema »erfunden«, aber bis zur »Ausführung« noch fast ein Menschenalter braucht, im Voraus 356 357 358

WA IV, 49, S. 67. Vgl. Graf II, 2, Nr. 1051. Vgl. Graf II, 2, Nr. 1056, 1058, aber auch 1054.

167

berücksichtigt. Die Teilung und die Ausführung der »letzten Scene« bestätigt in Anfang und Schluß die Einheit des Ganzen im Detail. Im August 1806 führt Goethe das Prüfungsgespräch mit dem neu einzustellenden Professor Heinrich Luden. In die Rolle des Mephistopheles schlüpfend, gibt er versteckte Hinweise auf das »Ganze«. Luden trägt, analysierend und rekonstruierend, die Widersprüche der Fragmentfassung vor. Goethe läßt Widersprüche in der Poesie nicht gelten: »Diese sind nur in der wirklichen Welt, nicht in der Welt der Poesie. Was der Dichter schafft, das muss genommen werden, wie er es geschaffen hat.« 359

Die Diskussion um die »Bruchstücke« und das »Ganze« kommt auf den Punkt, an dem Luden zur Einsicht geführt wird, daß »das Ganze« schon vorhanden sei. Goethes Antwort: »Es ist vorhanden, noch nicht alles geschrieben, aber gedichtet.«360 ruft Ludens ungläubiges Erstaunen hervor, ein Erstaunen, das ex post nur umso berechtigter erscheint. Die Memorialgestalt des Stücks um 1800, seine Ganzheit im »Schema« erlaubt Goethe die weit vorgreifende Behauptung, das »Ganze« sei vorhanden. Mit dem Erscheinen des »1. Theils« ist das Schema der 30 Szenen von 1797 überholt. An seine Stelle tritt, so die These der vorliegenden Arbeit, das neue Schema von den zwei Teilen und zwei Tagen zu je 24 Szenen361 »von Nacht zu Nacht«, zwei Anfänge und zwei Schlüsse im Morgengrauen eines Erdentages. Das Schema bildet die Symmetrie des »Alten« und des »Neuen« ab. Das Konzept der Gretchen - Helena - Verdoppelung, das sich aus dem neuen

359 360 361

Graf II, 2, Nr. 1065, S. 147. Gräf II, 2, Nr. 1065, S. 148. Zur Zahl 24: Obwohl im Gang der Überlegungen Zahlenspekulationen keine Rolle spielen, so ist doch darauf hinzuweisen, daß die Anzahl der Punkte selber als bedeutungstragend angesprochen werden kann. 24 ist in der pythagoreischen Spekulation die Zahl der »werdenden Vollendung«, eine besondere Harmoniezahl. 48 Szenen ergeben sich aus zweimal zwei Duodekaden (Monaten, Tierkreiszeichen) und zweimal den Stunden des Tags. Ferner weist Wolfgang Binder (W. B.: Goethes Klassische Faust - Konzeption. In: DVjS 42 (1968) S. 90 - 147) auf Goethes »Alphabet des Weltgeistes« hin. Ein Alphabet wird in der Regel mit 24 Buchstaben gezählt. 24 ist ferner eine apokalyptische Zahl, eine kabbalistische Zahl und eine magische Zahl, wie sich aus den Goethe bekannten, einschlägigen Schriften belegen läßt.

168

Symmetrie - Plan ergibt, führt zum »Ewig - Weiblichen« (V. 12110) des erlösenden Schlusses.362 Im Umriß fertig Von der Ausführung der »letzten Scene« bis zum Druck des »Ersten Theils« vergehen fast zwei Jahre, was als ungewöhnlich lang zu beurteilen ist, sich aber durch die Kriegsereignisse von 1807 erklärt. Kurz nach Erscheinen des »Ersten Theils«, am 7. Mai 1808, notiert Riemer in seinem Tagebuch ein Gespräch mit Goethe »über den zweiten Theil von

'Faust'.« 363

Am

13.

Mai

findet

lateinischer Sprache gehaltene -

sich

die

-

überraschend

in

Eintragung: »De rebus aestheticis et

poeticis. [...] De Fausti dramatis parte secunda et quae in ea continebuntur.«364 Der »Zweite Theil« gewinnt schon in der Imagination antikische Züge. Es stehen ästhetische und poetische Fragen an, vor allem aber Fragen

der

Stoffdisposition.

Zur Ausführung

kommt

allerdings von

diesem »Theil« vorerst nichts mehr. Andere Pläne drängen sich vor. Übersetzungen

werden

diskutiert,365

Zeichnungen

zum

ersten

Teil

werden besprochen.366 Vom 3. bis 12. Mai 1811 ist Sulpiz Boisser6e in Weimar. Über Gespräche, die sich nicht zuletzt auf die von Boisserle mitgebrachten Illustrationen zu »Faust« von Peter Cornelius beziehen, entwickelt sich ein

persönliches

welches

für

Verhältnis

die

zu

Werkgeschichte

einem -

der

im

führenden

Zusammenhang

Romantiker, mit

dem

Mandat für die Verhandlungen mit Cotta über die »Ausgabe letzter Hand«

-

von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Beim Besuch

in Wiesbaden, 1815, wird von Goethe selbst das Problem der Fertigstellung des »Faust« angesprochen. Faust müsse »par ricochet« (auf Umwegen, indirekt, in Spiegelung oder bildlich als »Abpraller«) noch einmal

anfangen. Das Bild geht von der

Boisser6e 362

363 364 365 366

läßt

die

Skrupel

Goethes

nicht

Symmetrievorstellung gelten,

daß

bei

aus. einer

Die Rekonstruktion des Schemas von der endgültigen Gestalt her findet sich im Anhang. Gräf II, 2, Nr. 1077. Gräf II, 2, Nr. 1078. Vgl. Gräf II, 2, Nr. 1091. Vgl. Gräf II, 2, Nr. UOlff.

169

Fertigstellung des zweiten Teils »die andere Hand« nicht mit dem »Frühem zusammen gehen« könne. Boisserie notiert Goethes Antwort: »Ich gebe es gerne zu, Vieles ist auch schon fertig.« Boisser6e fragt nach dem Ende. Die Antwort bestätigt das Durchhaltend - Einheitliche der Konzeption, ohne das »Ende« zu verraten: »Das sage ich nicht, darf es nicht sagen, aber es ist auch schon fertig, und sehr gut und grandios gerathen, aus der besten Zeit.« Boisserde vermutet: »Ich denke mir, der Teufel behalte Unrecht.« Goethes Antwort wiederum bestätigt die mit dem Beginn gesetzte Klammer der beiden Teile: »Faust macht im Anfang dem Teufel eine Bedingung, woraus Alles folgt.« 367 Auch hier dürfte die »Conception« angesprochen sein, nicht die »Ausführung« auf dem Papier, obwohl Geschriebenes genug vorlag. Boisser6e kann aber hieraus die Sicherheit nehmen, mit der er, im Vertrauen auf Goethes »schematische« Methode, das »Hauptgeschäft« der zu vollendenden »Ausgabe letzter Hand« mit Cotta verhandelt. Er ist es auch, dem neben Wilhelm von Humboldt, dem Altersfreund Zelter und den Weimaranern Eckermann und Riemer die entscheidenden Ermutigungen zur Vollendung des »Ganzen« zu verdanken sind. Das Domwerk Boisser6es, der »Umriß« eines kolossalen Werks der mittelalterlichen Baukunst, den Boisseröe für die Augen der Gegenwart rekonstruiert hatte, gewinnt in mehr als einer Hinsicht für Goethe Aufforderungscharakter. Es macht ihm die Bedeutung »christlich-kirchlicher Figuren« für sein noch auszuführendes »Poetisches« bewußt. Das »Werk« ist, dies kann der erprobte Freund Sulpiz am besten einschätzen, in der Tat »im Umriß fertig«. Einige Paralipomena zum ersten Teil entstehen im Blick auf mögliche Aufführungen.368 Der erste Teil wird 1812 im Zusammenhang mit einem Aufführungsplan in eine Fassung mit fünf Akten gebracht, was die vollständige äußere Symmetrie zum Aufbau des späteren zweiten Teils bedeutet hätte. Das Bild vom Abpraller bestätigt sich.369 367 368 369

Gräf II, 2, Nr. 1162. Vgl. WA I, 14, S. 317ff. Vgl. WA I, 14, S. 314ff. Am linken Rand des Entwurfs sind Zahlen eingetragen. Sie dürften sich noch auf das alte Schema beziehen: Unter 1. ist die Zueignung und das Vorspiel eingeordnet. 2. ist der Prolog im Himmel. 3. ist Nacht 4. ist Vor dem Thor. 5. ist Studirzimmer, mit der gleichen Szene wie 3. Weitere Z u o r d nungen hat Goethe nicht mehr vorgenommen. Die technische Einteilung ist Vorschlag von Riemer und P. A. Wolff. Interessant ist, daß die Prologe zum ersten

170

Fürst Radziwill bereitet in Berlin eine Aufführung vor, deren Technik der Phantasmagorie für die Erscheinung des Erdgeistes im Zusammenhang mit der Ausführung der »Helena« wichtig werden sollte.

Akt gerechnet werden. Nimmt man die neue Einteilung in Akte, so entspricht (A = 1. Teil, B = 2. Teil) A I (Prologe) - B V (Fausts Untergang und Rettung) A II (Faust und die Bürger) - B IV (Krieg) A III (Wiedergeburt, Margarethe) - B III (Helena) A IV (Zerstörung der Liebe) - B II (Homunculus, Meerfest) A V (Blocksbelg und Kerker) - B I (Mummenschanz). Der am Rande auftauchende Begriff »Kombination« ist in Paralipomenon 25 näher beschrieben.

171

Kapitel 4 Theatrum Memoriae

4.1

Phantasmagorisches

Einiges an Faust Die Ausführung des »Schemas« stockt nach Ausweis der Produktionsdokumente bis zum Jahr 1825, in dem sich wieder Eintragungen über »Einiges an 'Faust'« finden.370 Der unspezifische Ausdruck ist Hinweis auf die Arbeitsweise. Aus vorliegenden Überbleibseln läßt sich Arbeit am »Helena«-Akt und an den Schlußszenen erschließen.371 Am 14. März nimmt sich Goethe konkret die »Helena« vor, das Kernstück also des Teilschemas zum »Zweiten Theil«. Bis zum Juni 1826, in einem guten Jahr also, wird die große Szene abgeschlossen. Der Wiederanfang »par ricochet« ist geglückt; das Alte spiegelt sich im Neuen, das Neue im Alten, Gegenwart in der Vergangenheit, Vergangenheit in der Gegenwart. Neues kann und soll Vergegenwärtigung des »Alten« sein, so, wie dies Goethe in seiner Konzeption einer »Helena im Mittelalter« vorgeschlagen hat. Die Bühnengestalt der antiken Heroine lebt in einem scheinbar zeitlosen Raum der gebuchten Erinnerung. Bei der Lektüre ersteht sie neu in der Imagination, auf der Bühne wird sie präsent im Rahmen der Bühnenwirklichkeit. Den Leser, den Zuschauer geht sie aufs neue an. Literaturhistorische Interpretationen können bei solcher Verge genwärtigung hilfreich und störend sein. Ein methodischer Angang von einem Forschungsstand her, der zu referieren, fortzuschreiben oder gar 370 371

Vgl. Graf II, 2, Nr. 1279ff. Vgl. Graf II, 2, Nr. 1281ff. Anm., S. 306 und 307.

173

zu überbieten wäre, käme einer Anmaßung gleich. Fast verschwindet die szenische Gestalt hinter einer Mauer der Interpretation. Das damit verbundene Wagnis, vieles zu übersehen, was schon eruiert und beschrieben worden ist, geht aber jeder Editor ein, der den Text heute neu herausgibt, jeder Kommentator, der ihn zu erhellen sucht, jeder Regisseur, der den Text auf das Theater bringt. Vergegenwärtigung ist eine Leistung, in der ohnehin ein einzelner wenig ausrichten kann, zumal bei einem Text der unbestreitbaren, ja einzigartigen Qualität, wie der des »Zweiten Theils« der Tragödie von »Faust«. Was »die Helena« anbetrifft, so stand schon der Verfasser seinem Text »historisch« gegenüber. Er selbst hatte eine Leistung der vergegenwärtigenden Erinnerung zu vollbringen, als er der »Helena« 1826 zum Leben im Buch verhalf. Sein ernster Scherz von 1827, er sei 60 Jahre der »Helena« »nachgeschlichen«, nimmt allerdings bei den Rätseln, welche die »schöne[...] Königin«372 seit ihrem Ursprung aus dem »Ei der Leda« aufgegeben hat, kaum wunder. »Die« »Helena« gehört nach eigener Aussage zu Goethes »ältesten Conceptionen«.373 Und man könnte sogar aus der entsprechenden Formulierung im Tagebuch schließen, daß es sich zunächst um ein eigenes, sogar eigenständiges Werk gehandelt habe, als »Zwischenspiel« ursprünglich nur lose mit dem Faust-Plan verbunden. Solche Mutmaßungen widerlegt der abgeschlossene Text von 1831. Der Helena-Akt ist nicht nur in der Figur Faustens mit dem Gesamt der Tragödie verbunden, er ist auch wie die Tragödie insgesamt vom durchwaltenden Prinzip der Liebeszuneigung374 bestimmt. Er kann als ein Modell des »Ganzen« gelten, das im Brief an Iken vom 23. September 1827 als System »einander gegenübergestellte[r] und sich gleichsam ineinander abspiegelnde[r] Gebilde« im Sinne des Symmetrieschemas beschrieben wird.37S »Helena« erscheint als »Muster« im Spiegel bereits im »Ersten Theil«: 372 373 374

375

Graf II, 2, Nr. 1305. Graf II, 2, Nr. 1419. Hans Schwerte: Die Tragödie »Faust«. In: 2. Duisburger Akzente, Goethe und Co, Traum und Wirklichkeit der deutschen Klassik. Vorträge. Duisburg 1978, S. 2 1 - 2 7 und ders.: »Umfass' euch mit der Liebe holden Schranken«. Zum Faustprolog, V. 347. In: Euphorion 74 (1980), S. 417 - 426. Gräf II, 2, Nr. 1531.

174

Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, Bald Helenen in jedem Weibe.(V. 2603f.)

Das Mephistophelische des Musters ist tödlich für das dem »Begriff« ausgelieferte, entindividualisierte Gretchen, es ist tragisch am Ende auch für den blinden Faust, der sich an der Individualität versieht. Liebeszuneigung des »Ewig - Weiblichen« ermöglicht die bereits im ersten Teil angelegte Rettung. Die »älteste Conception« verklammert den »Ersten« mit dem »Zweiten Theil«, Anfang und Ende. Im vollendeten Werk erscheint Helena, als Schattenwesen im Zauber der Mummenschanz, bereits im ersten Akt des zweiten Teils. Faust nimmt hier die künstliche »Erscheinung« für Wahrheit und »vergreift« sich an der Spukgestalt. Um das Idol zur Körperlichkeit zu bringen, muß er den Weg nach Thessalien zur »Classischen Walpurgisnacht« antreten. Im 3. Akt des zweiten Teils tritt sie dann »ohne weitere Vorbereitung« als »Heroine« in der Wirklichkeit (der Bühne) auf. Fülle der Zeiten Diese »Antecedenzien«, Fausts Weg zu Helena, waren dem Publikum, als die antik - mittelalterlich - moderne »Helena« im Jahre 1827 in die Bücherwelt eintritt, nur andeutungsweise bekannt. Goethe weiß, daß er dem Publikum des 19. Jahrhunderts, und nicht nur diesem, eine nicht geringe Verstehensleistung abverlangt. Dennoch ist er, als er im höchsten Alter das Manuskript einsiegelt, sicher, das »Ganze« »deutlich und klar« ausgeführt zu haben. Dem Zweck der Verdeutlichung und Klärung dienen Äußerungen zum Werk in Briefen und Gesprächen. Sie dienen aber auch der Abwehr interpretativer Zudringlichkeiten seinem »Geheimnis« gegenüber. Als Ausgangspunkt und Leitfaden für die folgenden Anmerkungen zum »Helena«-Akt können die beiden fast gleichlautenden Briefe an den »Klassiker« Wilhelm von Humboldt und an den »Romantiker« Sulpiz Boisser6e genommen werden. In diesen Privatmitteilungen versucht Goethe, das Geheimnis seiner »Helena« vorsichtig zu entschleiern. So heißt es im Brief an Wilhelm von Humboldt vom 22. Oktober 1826:

175

Ich habe den ganzen Sommer zu Hause zugebracht und ungestört an der Ausgabe meiner Werke [Cotta] fortgearbeitet. Erinnern Sie sich wohl noch, mein Theuerster, einer dramatischen 'Helena', die im zweiten Theile von 'Faust' erscheinen sollte? Aus Schillers Briefen vom Anfang des Jahrhunderts sehe ich, dass ich ihm den Anfang vorzeigte, auch dass er mich zur Fortsetzung treulich ermahnte. Es ist eine meiner ältesten Conceptionen, sie ruht auf der Puppenspiel - Ueberlieferung, dass Faust den Mephistopheles genöthigt, ihm die Helena zum Beilager heranzusschaffen. Ich habe von Zeit zu Zeit daran fortgearbeitet, aber abgeschlossen konnte das Stück nicht werden, als in der Fülle der Zeiten, da es denn jetzt seine vollen 3000 Jahre spielt, von Trojas Untergang bis zur Einnahme von Missolunghi. Diess kann man also auch für eine Zeiteinheit nehmen, im höhern Sinne; die Einheit des Orts und der Handlung sind aber auch im gewöhnlichen Sinne aufs genaueste beobachtet. Es tritt auf unter dem Titel: 'Helena classisch - romantische Phantasmagorie. Zwischenspiel zu Faust.'376

Aus diesem Dokument ist nicht nur das Alter der »Conception«, die volkstümliche Tradition der »Ueberlieferung«, die Verbindung von p o pulärem Puppenspiel und Bildungstheater, der Versuch des »Ab Schlusses« in der Schiller - Zeit um 1800 hervorzuheben, sondern auch der geschichtliche Augenblick des Jahres 1824, Byrons Tod bei Missolunghi, der den Abschluß ermöglicht. Aufschlußreich sind die Briefe jedoch auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Eignung des Stücks für die Bühne. Goethe behauptet die von der klassischen Bühnenpraxis geforderte Einhaltung der aristotelischen Einheiten - »phantasmagorisch freilich, aber mit reinster Einheit des Orts und der Handlung«-, wie es gleichsinnig im Brief an Boisserde heißt.377 Goethe, Theaterpraktiker und Poet zugleich, denkt durchaus an »Aufführbarkeit«, also nicht an ein bloßes Lesedrama. Am 25. Januar 1827 versichert er gegenüber Eckermann, daß die »Helena« im Blick auf Aufführung konzipiert sei: Aber doch [...] ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, 376 377

Gräf II, 2, Nr. 1419. Gräf II, 2, Nr. 1420.

176

dass die Menge der Zuschauer Freude an der E r s c h e i n u n g

hat;

dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der 'Zauberflöte' und andern Dingen der Fall ist.378

Er stimmt Eckermann in der Bemerkung zu, daß das Stück als Tragödie beginne und als Oper endige und entwirft sich ein Bild von einem idealen Komponisten, der deutsche Natur mit der italienischen Art und Weise verbände. Phantasmagorie Eingelöst sind diese hohen Erwartungen allerdings bis heute kaum, trotz unzähliger, zum Teil faszinierender Inszenierungsversuche des »ganzen« »Faust«. Das Ereignis von 1832, als die »Helena« mit Vollendung des »Ganzen« an die im Faust-Schema vorgesehene Stelle einrückte, als dritter Akt und als Mittelpunkt des »Zweiten Theils«, ist weithin ein Datum der Literaturgeschichte geblieben. Dabei sollte das Theater letztlich doch der Ort sein, an dem dieses Ereignis sinnliche Gestalt gewinnen könnte. Gerade in der Aufführungspraxis ergeben sich Unstimmigkeiten und Brüche, die nur zu leicht auf die »Schwierigkeiten« des Textes und auf Goethes proble matisch - philologischen Altersstil zurückgeführt werden. Man habe sie deshalb, im Sinne des Bildungstheaters, einfach hinzunehmen. Der kanonisierte Text, wie ihn moderne Ausgaben tradieren, wird dabei von den Dramaturgen meist unbefragt vorausgesetzt, auch wenn sie mit ihm in der dem Theater zukommenden Beliebigkeit umgehen. Die Frage ist, ob sich nicht bei genauerer Lektüre der bühnenpraktischen Teile des Textes, der szenischen Anweisungen und des Untertitels »Classisch - romantische Phantasmagorie«, einige dieser Probleme heben ließen. Sind die für die Aufführung wichtigen Szenare und Szenenschnitte des kanonischen Textes der »Helena« wirklich so gesichert, wie dies die Lektüre einer modernen Ausgabe ausweist? Was heißt »Phantasmagorie«? Denn: ob man nun diesen oder jenen Inszenierungsstil bevorzugt, entscheidend bleibt zunächst, ob der Text, der Text Goethes, so wie er dem Dramaturgen gebucht und kanonisiert vorliegt, eben jener 378

Gräf II, 2, Nr. 1456.

177

gesicherte Text ist, der hier vermutet wird. Wer - um es überspitzt zu sagen - nicht nach Goethes Anweisungen, sondern nach denen des späteren Editors inszeniert, müßte sich nicht darüber wundern, bestimmte, in den Tagebüchern immer wieder ausgesprochene Hoffnungen des alten Praktikers über die Bühnenwirksamkeit seiner »Helena« zu verfehlen. Damit ist die editionsphilologische Frage nachdrücklich gestellt. Bei Sichtung des szenischen Aufbaus der »Faust«-Tragödie zeigt sich nämlich, daß wir in bezug auf den »Helena«-Akt keineswegs auf sicheren philologischen Füßen stehen. Bei genauerer Überprüfung der Szenenschnitte stoßen wir auf fragwürdige Konjekturen der Herausgeber. Um das Ergebnis thesenhaft vorwegzunehmen: die Szeneneinteilung »Innerer Burghof« und »Arkadien« und damit die angeblich klare szenische Dreiteilung stammt nicht von Goethe, sondern von Erich Schmidt. Ein Blick in die Lesarten kann über das sehr eigenmächtige Vorgehen des großen Berliner Philologen Auskunft geben, der, wenig historisch - kritisch, die angeblichen »Szenen« »Innerer Burghof« und »Der Schauplatz wandelt sich durchaus« - jetzt als »Arkadien« bekannt - »hergestellt« hat. So liest es sich im Apparat: »Ich habe den Scenenwechsel durch Sperrung hervorgehoben; wirklich beginnt die neue Scene der Phantasmagorie erst 9182«.379 Damit ist die »Scene« »Innerer Burghof« konjiziert. Und zu V. 9573: »Ich gebe die Worte D e r . . . d u r c h a u s gesperrt, um die Verwandlung augenfälliger zu machen.« Auf diese Weise entsteht die angebliche Szene »Arkadien«.380 Weitere Begründungen sucht man vergebens. Nach Ausweis nicht nur der Handschrift, sondern auch der Ausgabe letzter Hand sind sämtliche Szenenanweisungen des Helena - Aktes völlig gleich gestaltet. Eine besondere Heraushebung zweier Szenen anweisungen läßt sich weder von der Handschrift noch von der Ausgabe letzter Hand her rechtfertigen. Nun könnte man einwenden: diese ist eine Schreiberhandschrift - die Goethe allerdings zu den Schätzen seines Lebens zählte - , jene ist eine Ausgabe, die nicht mehr unter seiner Aufsicht entstanden ist, sondern das Werk

379 380

WA I, 15. 2, S. 108. WA I, 15. 2, S. 119.

178

Eckermanns bzw. Riemers darstellt. Beide aber standen im täglichen Umgang mit dem Autor. Allenfalls lassen sich bühnenpraktische Gründe für Szenenschnitte an den von Erich Schmidt vorgesehenen Stellen angeben. Ein Szenenwechsel müsse an diesen Stellen stattfinden, anders lasse sich der Akt überhaupt nicht realisieren. Hier habe sich, wie Erich Schmidt nicht nur an dieser Stelle annimmt, Goethe schlicht versehen. Der Bezug auf einen Widerspruch von Text und Theater ist bei dem Theaterpraktiker Goethe, der nicht auf das Theater warten wollte, »welches da kommen soll« (An Heinrich von Kleist, 1. Febr. 1808),381 sondern sehr konkret von den Bühnenmöglichkeiten her imaginierte, sicher kein editorisch haltbares Prinzip. Goethes bestimmten Behauptungen über die intendierte Bühnenwirksamkeit ist nachzugehen. Zunächst ist dazu der gattungs bezeichnende Untertitel »Classisch - romantische Phantasmagorie« in den Briefen an Boisser6e und Humboldt heranzuziehen. Die beiden Adjektive bezeichnen ein stilistisches Paradox: Zum Antik - Bestimmten kommt hier das »Vage[...]«, »Ungewisse[...]«, welches, nach Goethe, dem »romantischen Verfahren« gemäß sei.382 Was aber meint »Phantasmagorie« an einer Stelle, an der eine Formbezeichnung erwartet wird? Gibt es ein Genre dieses Namens, ein damals geläufiges bühnenpraktisches Verfahren, bei dem Szenenwechsel überhaupt überflüssig werden? Ein Blick in den Brockhaus von 1824,383 kann über das Verfahren Auskunft geben. Hier heißt es: Phantasmagorie, die Kunst Scheinbilder z. B. menschliche Gestalten, durch täuschende Mittel, z. B. Hohlspiegel, erscheinen zu lassen.

Die Technikgeschichte der Phantasmagorie geht auf die Verfahren der »Laterna Magica« zurück. Das besondere des phantasmagorischen Verfahrens besteht in der Erzeugung der Illusion bewegter Bilder. Die Nutzung von bewegten Objekten und von sich bewegenden, 381

382 383

Vgl. WA IV, 20, S. 15. Daß gerade die »Helena« dreigeteilt wurde, nach einem Verfahren, das dem Goethe beim »Wasserkrug« angewandten fatal ähnlich ist, mag als verspätete Ironie gelten. Gräf II, 2, Nr. 1834. 6. Aufl. Bd. 7, S. 482.

179

verfließenden Nebelwänden als Projektionsfläche entspricht der alten Phantasiemetaphorik der aus dem Nebel aufsteigenden »Gestalten«.384 Goethe hat sich am 12. Dezember 1828 in Berlin bei einem befreundeten Schauspieler ausdrücklich nach den Kosten für solche Apparate erkundigt. Da Sie gefälligst kleine Aufträge auszuführen sich erboten haben, so wollt' ich Sie um Folgendes ersuchen: Fürst Radziwill, welcher verschiedene Privataufführungen einiger Scenen meines 'Faust' begünstigte, liess die Erscheinung des Geistes in der ersten Scene auf eine phantasmagorische Weise vorstellen, dass nemlich bei verdunkeltem Theater, auf eine im Hintergrund aufgespannte Leinwand, von hinten her, ein erst kleiner, dann sich immer vergrössernder, lichter Kopf geworfen wurde, welcher daher sich immer zu nähern und immer weiter hervorzutreten schien. Dieses Kunststück ward offenbar durch eine Art Laterna Magika hervorgebracht. Könnten Sie baldigst erfahren: wer jenen Apparat verfertigt, ob man einen gleichen erlangen könnte, und was man allenfalls dafür entrichten müsste? Das vorzustellende Bild würde man von hier aus dem Künstler hinsenden.385

385

Vgl. Detlev Hoffmann und Almut Junker: Laterna Magica. Lichtbilder aus Menschenwelt und Götterwelt. Berlin 1982, bes. S. 22 (Projektion auf Rauchwolken), S. 31 (Abbildung einer Vorführung aus dem Jahr 1845). Ein »Fantascope« wurde 1799 patentiert. Vgl. auch Stephan Oettermann: Johann Carl Enslen (1759-1848) ... und zuletzt auch noch Photographie - Pionier. In: Silber und Salz. Zur Frühzeit der deutschen Photographie im deutschen Sprachraum 1839-1869 [Katalog) Köln 1989, S. 116 f. und ders.: Schillers Schädel und Goethes Novelle. In: Frankfurter Allgemeine Magazin. Nr. 364. 20. Febr. 1987. Oettermann weist auf den Phantasmagoren Enslen hin, dessen Vorstellung in Berlin schon 1796 in Bettuchs Journal des Luxus und der Moden, S. 423 - 424, beschrieben wird: »[...] Zuerst erschien in der Mitte des Theaters eine weiße fußlange Figur eines mit Lanze und Schild Bewaffneten, und schien zu tanzen. Erst zertheilte sie sich in vier gleiche Figuren die eine Quadrille tanzten, dann in 16, dann entstanden auf einmal 4, dann 16 Genien mit Flügeln, eben soviele weibliche Figuren, und so viel Kinder, diese alle tanzten und schwebten regelmäßig durch einander und aufwärts und abwärts, bald schnell, bald langsam einen großen regelmäßigen Tanz. Ihr weißer Schein machte das Parkett etwas heller. Dann zogen sich immer vier in eins zusammen; nach und nach, verschwanden ganze Gruppen, bis zuletzt der erste übrig blieb, der in schnellen Bewegungen einigemale aufs Parterre loszuschießen und dann in einen Lichtdunst zu zerflattern schien. Natürlich wurden Geistererscheinungen und Geistertanz durch Spiegel, die oben über dem Vorhange des Theaters beweglich dargestellt sind, und theils durch transparente Gemähide, theils durch dort sich bewegende lebende Menschen, wovon der Schein auf eine Coulissenwand, oder Florwand geworfen wird - mit Hilfe von Hohlspiegeln und einer magischen Laterne hervorgezaubert: doch übertrifft Hr. Enslens Kunst das Gewöhnliche sehr weit, und seine Geisterfahrt würde in England ohne Bedenken ein Patentartikel.« Ich danke Herrn Dr. Oettermann sehr für den freundlichen Hinweis. Gräf II, 2, Nr. 1667.

180

Ein zeitgenössisch

bekanntes

sich ohne Umbauten

bühnenpraktisches

»Erscheinungen«

Verfahren,

mit

dem

hervorrufen lassen, ist damit

gegeben und sogar von Goethe ausdrücklich genannt, ein Verfahren, dem die heutige Bühnenpraxis mit ihren weitaus

fortgeschritteneren

Mitteln der Iichttechnik ohne Schwierigkeiten folgen kann. An ihm hatte der Zuschauer schon damals

seine besondere Freude,

zumal

durch dieses die »Einheit« der »Helena« als »Erscheinung« erhalten und schaubar gemacht wird. Goethe gibt in den Briefen an Humboldt und Boisseröe weitere, nicht zu überlesende Hinweise. Dem Leser und dem Zuschauer sollte die räum - zeitliche Einheit an einem Ort in drei Millenien sinnlich vorgeführt

werden,

»phantasmagorisch

ablaufend«,

d. h.

nach

dem

beschriebenen Verfahren. Goethe, so dürften die Briefe zu verstehen sein,

verbietet

geradezu

eine

Einteilung

nach

verschiedenen

»Schauplätzen«, weist vielmehr den Regisseur an, den »Schauplatz« im »Nebel« zu »verwandeln«, aber nicht zu wechseln. Jede Umbaupause in der »Classisch - Romantischen Phantasmagorie«, in der die

»Ein-

heiten« strikt beachtet sein wollen, müßte die sinnliche Präsenz des bewußt nur vag - bestimmten Ikons einer Helena im Mittelalter zerstören, widerspräche der Bildintention. Die

»Einheit«

des

»Helena« - Aktes

angeblich bühnenpraktisch

bedarf

somit

motivierter Konjekturen

Aufbaus von drei Kulissen

-

-

auch

keiner

im Sinne des

»Vor dem Palaste des Menelas zu

Sparta«, »Innerer Burghof« und »Arkadien«. Fraglos verbindet Goethe mit der sinnlichen Wirkung zugleich auch einen besonderen Wirksinn. Um bloße Illusionserzeugung allein kann es ihm an einer so zentralen Stelle seines Werks kaum gehen. Schon der mehrfache, sehr unterschiedliche Einsatz im Werk deutet auf eine genaue, differenzierte Bestimmung des Bühnentricks im Blick auf die Wirklichkeit und ihre problematische Anschaubarkeit hin. Das Wortfeld der »Erscheinung« ist im F a u s t - T e x t an das Thema der Realität und Irrealität von »Phantasmen« gebunden. Der Herr im Prolog bereits spricht von »schwankender Erscheinung«. (V. 348.) Faust bricht an der »riesengroßen« zusammen.

Hierzu

hatte

»Erscheinung« des Erdgeistes

Fürst

Radziwill

in

Berlin

die

förmlich genannte

Maschinerie bei der szenischen Aufführung eingesetzt. Faust verflucht

181

(V. 1593.) »das Blenden der Erscheinung«, die sich mit Macht an die Sinne dränge. Solcherart »Blend- und Zauberwerk« (so im 1. Teil, V. 1853), löst eine besondere »Bewegung« aus: Es läßt alles vergessen und reißt die tiefsten Seelenschichten auf. Eingesetzt wird das teuflische Blendwerk auch am Kaiserhof, mit jener unvergleichlichen Wirkung auf Faust. Ein beliebiger Bühnentrick also ist die »Phantasmagorie« keineswegs. Neben der »erfreulichen« Wirkung kann sie auch verführen und verleiten. Zu beachten ist, daß Goethe in seiner Tragödie die Grenzen zwischen magischer Wirklichkeit und Bühnenspuk zugleich setzt und verfließen läßt. Zumindest für Faust ist das, was ihm auf der Bühne vorgespiegelt wird, beklemmende Realität. Unversehens aber wird auch der Zuschauer, im Verlauf der unwahrscheinlichen »Antecedenzien« in die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen mit einbezogen. Noch in der Szene der Mummenschanz wird er über die Differenz zwischen Sein und Schein nicht im Unklaren gelassen. Das völlig unwirkliche Auftreten der Helena in der Gegenwart jedoch wird ihm als Theaterwirklichkeit solange vorgeführt, bis auch hier der Spuk verschwindet und Helena sich in eine Geisterrealität auflöst. Als Goethes Sohn nach der ersten Lektüre des Helena-Aktes auf das Befremdliche des zweiten, »mittelalterlichen« Teils der »Phantasmagorie« hinweist, belehrt ihn - nach Eckennann - der Vater über den besonderen Sinn des »[OJpernartigen« an dieser Stelle.386 Oben erwähnt wurde die »Zauberflöte« Mozart und Schikaneder. Goethe hätte auch auf das Wiener Zauberspiel und seine aktuellen Techniken und Themen Raimund als Beispiel verweisen können. Dem »Blendwerk« auf der Bühne steht der klassisch Gebildete fremd gegenüber. Hier aber, in der »Phantasmagorie«, ist es notwendiger Bestandteil der »alten Conception«. Zwiespalt zwischen Klassikern und Romantikern Im vorliegenden Zusammenhang kann es nicht allein darum gehen, bühnenpraktische Fragen zu klären. Sie seien den modernen Regisseuren überlassen, die jedoch in mehrfacher Hinsicht auf die

386

Graf II, 2, Nr. 1476.

182

Anweisungen des Autors, bei Unklarheit gegebenenfalls auf Vorschläge der Editoren zurückgreifen müssen. In philologisch - historischer Hinsicht bleibt aber die Frage nach dem »Hauptsinn« der »Classisch - Romantischen Phantasmagorie« und ihren klassizistisch - bestimmten »Antecedenzien« zu klären. Auch hier gibt Goethe den Hinweis: Ich zweifelte niemals, dass die Leser, für die ich eigentlich schrieb, den Hauptsinn dieser Darstellung sogleich fassen würden. Es ist Zeit, dass der leidenschaftliche Zwiespalt zwischen Classikern und Romantikern sich endlich versöhne.387

So schreibt Goethe an Iken am 23. September 1827. Er erwartet, daß der gebildete Leser und Zuschauer bei dem gewollten Spectaculum, das die Sinne der »Menge der Zuschauer« ansprechen solle, sich dieses oder jenes denken möge. Der sinnliche und zugleich intellektuelle Reiz des Spekulativen ist von Goethe bewußt in die Wirkabsicht aufgenommen. Auch der Technik des »Blendwerks« dürfte somit vom Autor der »Classisch - Romantischen Phantasmagorie« inhaltliche, d. h. in diesem Zusammenhang nicht nur bühnenpraktische Bedeutung zugemessen worden sein. Unter dem Aspekt der »Versöhnung« des »Classischen« mit dem »Romantischen« bietet es sich an, prinzipieller über den Sinn von »Phantasmen« nachzudenken, seien sie als künstliche, gar pathologische, oder als die »Tagträume« des Poeten verstanden. Darüberhinaus liegt es nahe, die »Phantasmagorik« auch in bezug auf »Poetik« zu reflektieren. Im Vordergrund steht die traditionelle Fiktionskritik; allgemein: Dichtung ist, in einem abwertenden Sinn, Blendwerk, Lüge. Plausibilität geht ihr (scheinbar) vor Wahrheit. Spezieller: die Problematik der »Vorspiegelung« von Tatsachen - falscher Tatsachen - die Fiktion und ihre Folgen ist als »Poesie der Poesie« spätestens seit der romantischen Literaturrevolution selbst Gegenstand der modernen Poesie geworden. Unübersehbar aber wird dabei die Metaphorik vom »Spiegel«, vom »Blendwerk«, vom »schaffenden Spiegel« und von den »wiederholten Spiegelungen« zu einer Chiffre für poetische Produktivität.

387

Gräf II, 2, Nr. 1531.

183

M. H. Abrams hat im Zusammenhang seiner Untersuchungen zur Poetologie

der

Romantik

Erörterungen

bei

differenziert

aufgearbeitet.

»Imagination«

im

und

Coleridge

unter

die

Bezug

Bedeutung

Dabei

wird

Zusammenhang

mit

auf

der die

der

poetologische

Spiegelmetaphorik Frage

nach

poetischen

der

Produktivität

gestellt. Poetische »Imagination« oder »Phantasie« ist (nach Coleridge) definiert durch einen Prozeß der Emanzipation der Erinnerung aus den Fesseln

der

Erfahrungskategorien

von

Raum

und

Zeit.

In

der

Erinnerung ist die räumliche und zeitliche Anordnung erhalten, die Imagination

spielt

mit

Vorstellungsabläufe,

bis

Vorstellungsinhalte.

Der

der

veränderten

hin

zur

Dichter

bloßen

wird

in

Anordnung

der

Assoziation

der

diesem

Prozeß

der

Emanzipation von Raum und Zeit zum eigentlichen Mittelpunkt seines »Werks«,

bis

zur

pathologischen

Selbsttäuschung.388

Der

Weg

der

Einbildungskraft führt von der »Erinnerung« über Kombinationen von Einzelvorstellungen,

d.

h.

der

Schaffung

von

Groteskgestalten,

beispielsweise des Zentaurs aus »Mensch« und »Tier«, bis zur »freien Assoziation«. Es ist kein Zufall, daß auch Goethe in seinen »Antecedenzien« zur »Phantasmagorie« genau diesen Weg geht. Nicht, daß er Coleridge gelesen haben müßte und seinen Anweisungen folgte. Immerhin hatte Thomas Carlyle bereits 1824 mit der Übersendung seiner Übersetzung des »Wilhelm Meister« den Gedankenaustausch

mit den englischen

Romantikern eingeleitet. Goethes Poetik der freien Imaginationen ist durchaus

»romantisch«

»Helena« - Akt werden,

als

Fertigstellung »Classischen

können

zu nennen. als moderne

Selbstreflexion der

des

»Helena«

Walpurgisnacht«

Die

»Antecedenzien«

Poesie

poetischen

zeitlich und

der

Vermögens.

folgende

ihre

Poesie

und

der

verstanden Die

der

Ausführung

der

sorgfältig

ausgewählten

Groteskgestalten, die Sphinxe, die Sirenen, die Greife, die Ameisen, der Zentaur, sind kein bloßes »Bildungswissen«, sinnliche

Demonstration

antiker

Phantastik,

deren

sondern vor allem Übergang

in die

»moderne« Phantastik gleitend ist. Es bedarf nur eines kleinen Schrittes, und der Poet sieht sich als Herr und Schöpfer seiner Welt.

388

Vgl. Meyer H. Abrams: Spiegel und Lampe. Übers, u. eingel. von Lore Iser. München 1978; Zuerst u. d. T.: The Mirror and the Lamp (1953).

184

Der von Goethe gewählte Untertitel »Classisch - Romantische Phantasmagorie«, zunächst nur Hinweis auf den Bühnentrick, verrätselt das literaturpolitische Vorhaben der »Versöhnung« des streitenden Parteien in die Form. Der Titel ist doppelt zu lesen. Zum einen: »Helena« ist eine »Phantasmagorie«, welche die »Ausgleichung« zwischen »Klassik« und »Romantik«, zwischen »Antike« und »Moderne« ad oculos demonstriert. Sie ist aber auch ausgewiesen als »Blendwerk«, als Sinnestäuschung und zeigt so zugleich die Pathologie der Moderne, ihr Ungenügen an der Realität, ihre existenzielle Gefährdung an. Dem entspricht auch der angespielte »geschichtliche« Hintergrund der »Phantasmagorie« in »drei Millenien«, die erst mit Byrons Tod bei Missolunghi einen »Abschluß« finden. Daß Goethe mit seiner Gestalt des »Euphorion« ein »Denkmal« für Lord Byron, den Romantiker und griechischen Freiheitskämpfer, setzen will, ja daß die Konzeption erst mit Byrons Tod »vollständig« wird, weist auf das besondere Interesse an Person und Programm des englischen Romantikers hin. Daß Sulpiz Boisser6e, einer der wirkungsmächtigsten und überzeugtesten Schüler Friedrich Schlegels, des romantischen Programmatikers, sogar zum Zeugen der Entstehung der »Helena« wird und das »Ganze« als erster zur Lektüre erhält, gehört zu den bemerkenswertesten Zufällen in der Geschichte des literaturpolitisch von beiden Seiten so belasteten Verhältnisses. Friedrich Schlegel hatte in seiner Jenenser Zeit immerhin Goethe auf dessen Wunsch Privatvorträge auf Spaziergängen über die Entwicklungen der idealistischen Philosophie gehalten, was den Klassiker Schiller sicher verdroß. Hans Joachim Mähl hat das Schweigen Goethes Novalis gegenüber in der eigentlichen Zeit des »Kampfes« zwischen »Romantikern« und »Klassikern« als eine paradoxe Nähe plausibel gemacht.389 Den alten Streit und die alte Nähe nimmt Goethe nicht auf, er wählt vielmehr die ferne Person, um das ihm Nächste deutlich werden zu lassen. Er weiß sich als Anreger und zugleich als Kritiker der Romantik, als einer, der ihr den Weltruhm verdanken mußte, der sie aber immer wieder wegen der von ihr ausgehenden existenziellen Gefährdungen angreifen muß. Die »Phantasmagorie« der »Helena« ist 389

H. J. Mähl: Goethes Urteil über Novalis. Ein Beitrag zur Geschichte der Kritik an der Romantik. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1967, S. 130 - 270.

185

ohne den inneren und äußeren Zwiespalt, ohne die innere und äußere »Einheit« von Klassik und Romantik nicht denkbar. Dieser Sinn der Szene

ist theoretisch

nur unzureichend,

verkürzend

zu fassen,

das

Zeitbild erst macht ihn schaubar. Goethe hat immer wieder versucht, ihn inhaltlich zu konkretisieren, zu erläutern, zu vermitteln und ihn in seiner »Zeitgestalt« zu verdeutlichen. Der Wandel in der »alten Conception« zeigt die Stadien Vergegenwärtigung Goetheschen »Conception« von

im

Wortsinn.

Terminologie, -

Dabei

ein gleitender

ist,

einer

entsprechend

Übergang

von

der

der

alten

hier verstanden als Memorial (oder erstes Schema

Inhalt

und

Form)

beobachten.

Das

Memorial wird

-

bis

zur

wörtlichen

»mit der Zeit«

»Ausführung« immer

zu

konkreter,

wörtlicher, bis es sich in der Zeit »vollenden« läßt. In

der

für

»Dichtung

und

Urgestalt aus dem Jahr 1816, wiedergibt,

soll

Faustens

390

Wahrheit«

nehmung des Mephistopheles

Skizze

der

die den Plan der Dichtung um 1775

»Unendliche

erkannten höchsten Schönheit« 391

bestimmten

der

einmal

gestillt werden durch eine

Sehnsucht

nach

Unter-

auf einem Schloß, dessen Besitzer in

Palästina Krieg führt und dessen Kastellan ein Zauberer ist. Durch einen

»magischen

wiedergegeben.

Ring«

»Sie glaubt

wird

Helena

die

»Körperlichkeit«

soeben von Troja zu kommen und in

Sparta einzutreffen«.392 Faustens Auftritt in dieser »phantastischen Szene«, der Kontrast des »Ritters«

gegen

Verbindung -

die

»antike

Heldengestalt«,

die

Schmeichelei,

später durch den Reim symbolisiert -

die

die (geglaubte)

Geburt des Sohns, dessen Übermut und Tod, das Verschwinden von Mutter und Sohn, sind in der Skizze der Urgestalt bereits angelegt. In der Skizze der Urgestalt

ist auch eine besondere

räumliche

Einheit der »Scene« formuliert: ein »Schloß«, daß von einer

»Zau-

bergränze« umzogen ist. Das alte Szenar erinnert an die Orte und die Zeiten der »einfachen

Form« des Märchens:

irgendwo,

irgendwann.

Dies weist zurück auf die »Quellen« der Poesie. Der subtile Faden, der von der Mythologie zum Märchen führt, hebt die »gewöhnlichen« Kategorien der Erfahrung zugunsten eines Geltungsraums auf, in dem 390 391 392

WA I, 15. 2, S.173ff. (Paralipomenon 63), vgl. Gräf II, 2, Nr. 1185. Gräf II, 2, Nr. 1185, S. 236. ebd.

186

das Mögliche Wirklichkeit wird. Nach Gottsched ist die »Fabel« - der »Mythos« das Hauptwerk der Poesie, das erste »Zusam mengesetzte«, ihre stoffliche Basis, aus der sich die »formalen« Einhei ten erst entwickeln. Diese Szene ist, literaturhistorisch gesehen, präromantisch. Es fehlt jeglicher Hinweis auf »Gegenwart«. Erst die »Fülle der Zeiten«, zuletzt und entscheidend, gibt der »alten Conception« die Zeitgestalt. Die märchenhafte Zauberwelt des »magischen Rings« wird zum modernen Griechenland. Mit dem Einbezug des Schicksals von Lord Byron auf griechischem Boden wird die Antike zur Gegenwart. Damit ist eine einmalige Transparenz des szenischen Geschehens auf eine für Goethe bedeutsame literaturpolitische Konstellation geschaffen, mit der er sich im Bild auseinandersetzen kann. Nicht zu übersehen an Byron ist das »romantische« seiner Unterstützung des griechischen Freiheitskampfes. Der Griechenmythos gibt in der Tat aber auch wesentliche Elemente frühromantischen Selbstverständnisses wieder. Nicht nur ist nun die »Fülle der Zeiten« erreicht, Antike, Mittelalter und Moderne verbunden, es ist auch »Classisches« und »Romantisches« in eine geschichtlich - mythische Einheit gebracht. Der »Ort der Poesie« ist für den modernen Dichter nicht mehr ein natürlich - äußerer; es gibt keinen Olymp, keine Pharsalischen Felder, keinen Hades; der »Ort« ist ein psychologisch - innerer: Poesie als phantastisch - freie Kopfgeburt. Byron war als »Romantiker« aufgebrochen, um einem »klassischen« Ort die »wirkliche Freiheit« im Kampf zu erringen. Sein tragisches Scheitern wird für Goethe paradigmatisch. Er verschränkt den antiken Gedanken des Ortes der Mythen mit dem modern - romantischen Gedanken ihrer Utopie: Faustens Teil (und darin besteht die Analogie von Vater und Sohn) ist die unendliche, schließlich auch unerfüllbare »Sehnsucht« nach antiker Körperlichkeit, die er im Ergreifen auch wieder vernichtet. Euphorion, die »romantische« Lichtgestalt, überschreitet die »Linie«, die ihm als Grenze gesetzt ist, in der frühen Konzeption, weil er sich unter »Landleute und Soldaten« mischen will. Er ist zu zart, um sich in den groben Händeln der Welt behaupten zu können. In der »Helena« von 1826 wird er als »Euphorion« und zugleich als »Ikarus« mit einem doppelten Mythenhintergrund versehen: der Rache des Jupiter ausgesetzt und der Gefährdung durch seine eigene

187

unstillbare Begierde. Das entspricht der Existenzproblematik, wie sie in Deutschland die Generation der Romantiker, Novalis und Hölderlin, ausspricht (auch Schlegel nutzt das gleiche Bild), ohne doch die praktische Konsequenz wie Byron zu ziehen. Es mag Zufall sein, daß die »Helena« mit dem Zerfallen des Jenenser Kreises nach Novalis' Tod, mit dem Bekanntwerden der angeblichen Äußerungen über den poetischen Imperator Novalis (F. v. Hardenberg), dessen Kämpfe um seine Verlobte Sophie und dessen Amtslaufbahn Goethe mit offensichtlicher Sympathie verfolgte, zugleich ins Stocken gerät. Anstelle der Sympathie tritt offene Verärgerung über den Anspruch der »Jungen«. Dies aber macht Byron für Goethe zu einer repräsentativen Gestalt, in der er nicht weniges auch von eigenen Gefährdungen, aber auch seiner »Schule« findet. Byrons Schicksal bei Missolunghi vollendet die Zeit des Mythos - drei Millenien, die Götter sind nun, in der Gegenwart, Sterbliche geworden; um mit Hegel zu sprechen: Die »Kunstperiode« ist an ihr Ende gekommen. Die »Einheit« der »Helena«, ihre sinnliche »Erscheinung« im Sinne der »Phantasmagorie« findet ihr inhaltliches Komplement in einem historischen Stoff, der, um Hans Mayer zu zitieren, nichts mehr und nichts weniger ist als eine bewußte Einheit der Widersprüche,393 mit Thomas Mann, eine »Vereinigung des Avancierten mit dem Volkstümlichen«,394 »der Romantik« also, so problematisch solche gedanklich - spekulativen Konstruktionen auch immer sein mögen. Dabei schließt, historisch gesehen, das »Classische« das »Romantische« keineswegs aus. In der Geschichtsutopie des Novalis tragen »Antike« und »Xstentum [Christentum]« als die beiden »Hauptflügel« den »Körper des Engels«, das »Universum« »in ewigen Genuß von R [a u m] und Z [e i t].«395 Mehr noch als für den deutschen Romantiker wird die Antikensehnsucht, die »classisch - romantische Phantasmagorie«, für Byron zur Lebensrolle und, bei Missolunghi, zum Lebensschicksal.

393

394 395

Vgl. Hans Mayer: Fragen der Romantikforschung. In: H. M.: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1963, S. 304. Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1960, Bd. IX, S. 843. Novalis: Schriften. Hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 3 ( = Das philosophische Werk II). 2. Aufl. Stuttgart 1968, S. 469.

188

Goethe nimmt dieses Ereignis als produktiven Impuls auf. Eine erneute Auseinandersetzung mit dem Phänomen »Romantik« ist die Folge, nicht theoretisch, nicht polemisch, sondern poetisch. Der komplexe Einbezug »romantischer« Problematik in den »Helena«-Akt nach »Form« und »Inhalt« stellt die Frage nach dem Verhältnis Goethes zur »kranken« Romantik in neuer Weise. Die »Classisch - Romantische Phantasmagorie« läßt, aus dem Identifikatorischen des Helena - Mythos heraus, Goethes Nähe zur Romantik, aber auch seine ins Bild gesetzte Romantik - Kritik »sinnlich« begreiflich werden. Wenn Goethe dem Ausland als der große Romantiker erscheint, so hat dies hier seinen besonderen Sinn. Die praktisch - klassizistische Zerschlagung der »phantasmagorischen« Einheit der »Helena« durch Erich Schmidt gehört dagegen zum Prozeß des 19. Jahrhunderts gegen die »Romantik«. Dieser praktische Klassizismus führt zu Verlesungen, deren historische Revision Goethe der Gegenwart nicht nur des Theaters näher bringen könnte.

4.2 Antecedenzien Allegorik Ursprünglich sah Goethe vor, die fehlenden Partien des »Zweiten Theils« bis zum »Zwischenspiel« in Form einer Prosa - Erzählung unter dem Titel »Antecedenzien« gesondert zu veröffentlichen. Hier sollten die Vorfälle berichtet werden, die bis zum Eintreten der Helena in die Welt Faustens spielen. Basis für die »Antecedenzien« wäre das »Schema« gewesen. Dies hätte zugleich den Verzicht auf eine Ausführung bedeutet. Die Entwürfe sind erhalten, sie lassen sich auf das vorhandene »Schema« zurückführen und bilden damit eine konkrete Nachricht vom Stand der Planung. Aber diese Prosa - Umsetzung des »Schemas« wird alsbald überholt. Nicht von ungefähr wird der Fortschritt zuerst an Sulpiz Boisser6e, dem V e r trauten im »Hauptgeschäft«, gemeldet.

189

Was meine Werke [bei Cotta] betrifft, so arbeitete ich fort an den nächsten Lieferungen, besorgte die Correcturen der ersten [Band 1 - 5 ] zum Besten der Octavausgabe, arbeitete an den 'Wandeijahren' und, was mehr ist, an 'Faust'; da ich denn zur dritten Lieferung [Band 1 1 - 1 5 ]

den Anfang des zweiten

Theils zu geben gedenke. Die gute Wirkung der 'Helena' ermuthigt mich, das Uebrige heranzuarbeiten; Helena bestünde zuletzt als dritter Act, wo sich denn freilich die ersten und letzten würdig anschliessen müssten. Das Unternehmen ist nicht gering; das Ganze erfunden und schematisirt, nun kommt es aufs Glück der einzelnen [...] Ausführung an, wobei man sich denn freilich sehr zusammen nehmen muss. 396

Goethe arbeitet, nach dem Sprang medias in res, nun systematisch vom Anfang des zweiten Teils aus. Aus den Aufzeichnungen sind die »Punkte« des Schemas insofern ableitbar, als sich immer wieder E i n tragungen der Kurzbezeichnungen der Szenen finden, die als Merkworte dienen. Dabei lassen sich die Merkworte, was den ersten und das »Laboratorium« des zweiten Aktes anbetrifft, problemlos auf die endgültige Gestalt beziehen. Noch in der Spätzeit werden diese M e r k worte für die einzelnen »kleinen Weltenkreise« genannt: [...] denn im Grunde sind doch der Auerbachsche Keller, die Hexenküche, der Blocksberg, der Reichstag, die Maskerade, das Papiergeld, das Laboratorium, die Classische Walpurgisnacht, die Helena lauter für sich bestehende kleine Weltenkreise, die, in sich abgeschlossen, wohl aufeinander wirken, aber doch einander wenig angehen.

Probleme ergeben sich eher in der Rezeptionsgeschichte als in der gut dokumentierten

Produktionsgeschichte

des

»Zweiten

Theils«.

Dabei

bestätigt sich der Ansatz, daß Goethe in ein vorhandenes »Schema« hineinarbeitete. Nun aber waren auch in diesem »Schema« bereits die besonderen Ansprüche an den »Zweiten Theil« mit definiert: Im zweiten Theile aber ist fast nichts Subjectives, und es erscheint

eine

höhere, breitere, hellere leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas umgethan und einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen.

Und auf Eckermanns Selbststolz auf seine Gelehrsamkeit, die manches entschlüsseln könne, was Goethe im Text verrätselt, kommt Goethes ironische Antwort:

396

An Boisser6e, 12. Okt. und 4. Nov. 1827, Gräf II, 2, Nr. 1541.

190

'Ich habe immer gefunden', sagte Goethe lachend, 'dass es gut sei, etwas zu ,397

wissen.

Der erste und der zweite Akt des »Zweiten Theils«, die Szenen am Kaiserhof

und

die

zweite

»Walpurgisnacht«

gehören

zu

den

Spieltexten Goethes, die unübersehbar mit sogenannter Bildungsfracht versehen sind. Von den modernen Konzeptionen her gesehen, die alles aus

dem

Ich

heraus

entwickeln,

sind

poetische

Verfahren

des

»Copirens«, wie sie Goethe hier anwendet, in der Tat problematisch genug. Und die Frage ist auch, ob eine postmoderne Tendenz die Funktion des Bildungswissens angemessener interpretieren kann als der Leser

des

19.

Jahrhunderts,

welcher

bisweilen

naiv

der

Konfessionspoetologie des Autors folgt und dann notwendigerweise die barock anmutende Copia, die bewußt erzeugte poetische Fülle,

als

veraltet abtut. In der Konzeption des Ganzen hat diese Copia eine Funktion erst dann, wenn

man

sie

als

das

begreift,

was

sie

sein

soll:

eine

Demonstratio der Fülle ad oculos. Die Menge der Bildpunkte, die Goethe kunstvoll konfiguriert, kann zwar ausgelesen werden, sie steht aber

vor

allem

für

die

Fülle

des

Lebens,

die

als

letztlich

Unbeschreibliches sinnlich erfahrbar gemacht werden soll. Daß hier ein alter Theaterpraktiker am Werk war und kein eingeschworener Büchermensch, daß hier Elemente des Schaubaren, ja des Musikalisch - Sinnlichen wirksam sein sollen,

kann man heute

aber

eher Goethes eigenen Versicherungen als der interpretierenden Literatur entnehmen. Der allegorisierende Text steht zudem noch gegen die antiallegorische Tendenz des 19. Jahrhunderts. Die komplexe Frage, ob eine

allegorische

angemessen zweiten Teil

wäre,

oder

eine

erleichtert

des Faust noch

symbolische den

Interpretation

Zugang

symbolisch,

kaum. oder

Ob

dem Goethe

schon wieder

Text im alle -

gorisch398 verfährt, könnte dann ein Streit um Worte werden, wenn nicht

mehr

die

Art

und

Weise

des

Verweissystems

und

sein

rhetorikgeschichtlicher Kontext in Rede steht.

397 398

Gräf II, 4, Nr. 1885. Vgl. Heinz Schlaffer: Faust. Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1981.

191

Daß die antiallegorische Tendenz des 19. Jahrhunderts bereits auf der Ebene der Wörter zu Überlieferungsbrüchen geführt habe, der Text selber unter Hinweis auf das Alter des Autors in zweifelhafter und mißverständlicher Weise ergänzt worden ist, diese philologische Frage steht hier im Vordergrund. Immerhin hat Wilhelm Emrich vom Symbolansatz her die modern - politische Binnenstruktur wichtiger szenischer Elemente herauspräpariert und so einer angemessenen Aufführungspraxis vorgearbeitet.399 Heinz Schlaffer dagegen stützt seine Darstellung der Allegorik des zweiten Teils,400 die er durchsichtig macht auf Goethes Gegenwart und das 19. Jahrhundert, wesentlich auf den hier nur summarisch behandelten ersten Akt. Von der fraglos an Allegorien reichsten Szenenfolge des zweiten Teils hat er argumentativ einen vergleichsweise sparsamen Gebrauch gemacht. Dies kann in der Folge auch kaum nachgeholt werden, obgleich die Lesbarkeit der Allegorie Grundvoraussetzung für deren repräsentierende Sichtbarmachung ist. Die in der Mnemonik des Faust-Plans verorteten »Szenen« bedürfen jedoch, ehe ihr Sinn kommentierend ausgelegt wird, zunächst der genaueren textphilologischen Bestimmung. Zu »Helenas Antecedenzien« so der Terminus in den Tagebüchern zur Vorgeschichte also des Helena - »Zwischen spiels«,401 gehört die gesamte Szenenfolge des ersten »Actes« des »Zweiten Theils«, also die Szenen am mittelalterlichen Kaiserhof, die Laboratoriumsszene des 2. Aktes und die Szenen der Walpurgisnacht auf »classischem« Boden. Die »Antecedenzien« sind als zeitlich rückwärtsschreitende Suche nach der »Heroine« der Schönheit angelegt, die dann in der Endfassung nicht mehr als »Zwischenspielerin«, sondern »ohne Weiteres«, d. h. in der »Gegenwart«, auftreten kann. Zentrales Problem ist die Konzeption einer zweiten »Walpurgisnacht« gemäß der um 1800 sich ausbildenden Symmetrievorstellung.

399

400 401

Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. 3. durchges. Aufl. Bonn, Frankfurt/M. 1964. a.a.O. Vgl. Graf II, 2, Nr. 1434, 1436ff.

192

Der Aufbau der »Classischen Walpurgisnacht« Auch die »Classische Walpurgisnacht« war im »Schema« erfunden, in Korrespondenz zur »Walpurgisnacht« des ersten Teils, in Äquidistanz von der angenommenen, gedoppelten Mitte des Stücks, der »Anmutigen Gegend« des Beginns des »Zweyten Theils« und der Kerkernacht des ersten. Gerade aber aus der Szenengruppe der »Classischen Walpurgisnacht«, die durch die Klammer einer gemeinsamen Überschrift zusammengehalten wird, ergeben sich für Goethe Dispositions - und Ausführungsprobleme, die bis zu einem »partielle[n] neue[n] Schema« führen werden, aber auch zu einer mißverständlichen Textwiedergabe bis heute. Auch hier ist die Frage nach der Verläßlichkeit der »Faust« - Editionen zu stellen. Bei der Bedeutsamkeit der »Classischen Walpurgisnacht« und der durch sie aufgegebenen Rezeptionsprobleme ist nachdrücklich zu fragen, ob deren Szenen, die nach Goethe in »bestimmten Umrissen«402 dastehen sollen, auch so im kanonisierten Text erscheinen, ob nicht auch hier wohlmeinende Konjekturen des Typs »Vergessen hat er lediglich die szenischen Anweisungen vor den Versen 7080 und 7249, die von allen neueren Ausgaben sinngemäß eingesetzt worden sind«,403 mehr verwirrt als geklärt haben. Bei Sichtung des szenischen Aufbaus der Faust-Tragödie zeigt sich nämlich, daß wir auch in bezug auf die »Classische Walpurgisnacht« keineswegs auf sicheren philologischen Füßen stehen. Bei nicht weniger als drei von den insgesamt fünf Szenenschnitten z. B. der allgemein als zuverlässig geltenden »Hamburger Ausgabe« stoßen wir auf auf eine Reihe von Konjekturen der Herausgeber. In der Tat gibt die geläufige Szeneneinteilung der »Classischen Walpurgisnacht« alles andere als ein »klares« Bild. Die geläufige Einteilung »Pharsalische Felder«, »Am Obern Peneios«, »Am Untern Peneios«, »Am Obern Peneios« und »Felsbuchten des Agäischen Meers«404 führt auf ein recht kompliziertes Zusammenwirken von Autor und Editoren. 402 403 404

Graf II, 2, Nr. 1834. so Erich Trunz im Kommentar zur Hamburger Ausgabe, Bd. 3. 5. Aufl., Hamburg 1960, S. 560. So z. B. in der »Hamburger Ausgabe« von Erich Trunz.

193

Da die Ausgaben zu verschiedenen Ergebnissen kommen, wird sich die Diskussion zunächst an den im Manuskript enthaltenen Szenarien orientieren. Die konjizierten Szenare »Am Obern Peneios« und »Am Untern Peneios« (die Goethe »vergessen« haben soll) werden dann im Zusammenhang zu bewerten sein. Völlig unumstritten ist das Szenar »Pharsalische Felder. Finsterniß«. Geringe Beachtung in späteren Editionen (im Gegensatz zur Weimarer Ausgabe) findet dagegen der klar ausgezeichnete Einschnitt vor »Peneios umgeben von Gewässern und Nymphen«. Die Überlie ferungslage ist dadurch kompliziert, daß Goethe im letzten Manuskript eigenhändig eine Szenenanweisung »Am oberen Peneios wie zuvor« einfügte. Diese Einfügung wurde von den Herausgebern der »Ausgabe letzter Hand« so bedeutsam genommen, daß sie hier einen Szenenschnitt vorsahen, wenn auch in geringerem Schriftgrad ausgezeichnet, den Erich Schmidt in die Weimarer Ausgabe übernahm. Von der Handschrift her ist dieses Vorgehen keineswegs zwingend. Es fehlen nämlich entsprechende graphische Auszeichnungen, wie Schlußstriche und Absätze. Von der graphischen Gestaltung in der Handschrift her (durch Goethe selbst so ausgezeichnet) handelt es sich vielmehr um eine normale Bühnenanweisung, - wie üblich ein geschlossen in Zeichen, die den musikalischen Wiederholungszeichen entsprechen. Die »Ausgabe letzter Hand« sieht in diesen Fällen Klammern und Petitdruck vor. Goethe trug also keinen Szenenschnitt ein, welcher im Druck durch Großdruck und Zwischenlinien ausgezeichnet wird. Berücksichtigt man den Handschriftenbefund und stuft »Am oberen Peneios« als Regieanweisung ab, so entfällt überdies die pedantische Notwendigkeit, zuvor einen Szenenschnitt »Am unteren Peneios« e i n zuführen, der keinerlei Stütze in der Handschrift und der »Ausgabe letzter Hand« findet. Über Goethes Motive, die Regieanweisung in das Mundum einzufügen, nur soviel: Faust, der nun »mit Manto zusammen ist«, steigt mit dieser herab in den dunklen Gang zu Persephoneia. Wenn dieser Gang, wie es in der Regieanweisung ausdrücklich verlangt wird, gezeigt werden soll - der Eingang zum Hades - muß die folgende Regieanweisung wieder auf den oberen Schauplatz, also »Am obern Peneios wie zuvor« zurückleiten. Dies ist umso wichtiger, als gemäß des erst in der letzten Arbeitsphase veränderten Schemas die

194

ursprünglich vorgesehene

Hades-Szene

nicht mehr ausgeführt

wird.

Goethe klärt also mit seiner Einfügung eine etwa noch bestehende Unklarheit

über

den

nun

gewählten

oberirdischen

Abschluß

der

»Antecedenzien«. Nicht Ungenauigkeit, sondern eher Übergenauigkeit kennzeichnen sein Vorgehen. Der nächste Einschnitt »Felsbuchten des ägäischen Meers. Mond im Zenith verharrend.« ist wiederum unstrittig. Auffallend in allen neueren Ausgaben ist die faktische Abstufung des Szenenschnitts vor »Teichinen von Rhodus auf Hippokampen und Meerdrachen, Neptunens Dreizack handhabend.« Dieses Szenar wendet den Zuschauerblick zum

Meer

und leitet die »Erscheinung« der Galatee ein. Noch in der »Ausgabe letzter Ausgabe

Hand«

ist

leitet

hier

die

ein

Szenenschnitt

faktische

gesetzt.

Abstufung

durch

Die

Weimarer

einen

geringeren

Schriftgrad ein. Neuere Ausgaben verzichten in ihrem Druckbild auf diesen Einschnitt ganz. Wenn man textphilologische Gründe für diese Quasi - Konjektur angibt, so könnten sie auf einige Anhaltspunkte in älteren

Entwürfen

verweisen,

die

noch

von

einer

einheitlichen

Meerszene ausgehen, der dann aber noch die Hadesszene folgen sollte. Diese jedoch hat Goethe im Zusammenhang mit der Neukonzeption des

Schlusses

im

wahrscheinlich erst

Jahre

1830

nicht

ausgeführt.

So

könnte

die

1830 neu eingeführte, von den Editoren wieder

eliminierte Szene auf die Notwendigkeit der Erhaltung der Gesamtökonomie des Stückes (vorgegebene Anzahl der Szenen) zurückzuführen sein. 405 Sie betont zudem die Meererscheinung als eigenes Bild. Die Problematik wird noch einmal im Zusammenhang mit der Diskussion des »Schluß des Schlusses« aufzunehmen sein. Verzichtet Handschrift

man

auf Konjekturen

zurück,

so

sind

und

folgende

geht

vier

konsequent

Szenen

für

auf

die

»Classische

Walpurgisnacht« anzusetzen: 1. Pharsalische Felder (V. 7005 -

7248)

2. Peneios umgeben von Gewässern und Nymphen (V. 7249 -

8033)

3. Felsbuchten des Ägäischen Meers (V. 8034 405

8274)

Hinweise auf eine »Neue Resolution wegen 'Faust'« enthält das Tagebuch am 15. Juni 1830, kurz vor dem Abschluß der »Classischen Walpurgisnacht«, von der am 25. Juni 1830 im Brief an den Sohn die Rede ist. Vgl. Graf II, 4, Nr. 1853 u. 1854.

195

4. Teichinen von Rhodus auf Hippokampen und Meerdrachen (V. 8275 - 8487) Nach dieser textphilologischen Vorklärung, die, wie alle Mutmaßungen über den endgültigen Autorwillen, mit hypothetischem Charakter auftritt, ist die Frage nach »Allegorik« oder »Symbolik« der Szenen der »Walpurgisnacht«, nach »Lesbarkeit« oder »Schaubarkeit« auf der Ebene des Sachkommentars weiterzuführen. Der Vorschlag, bei der Szenengliederung der »Classischen Walpurgisnacht« und der »Helena« strikt auf die Handschrift zurückzugehen, hätte seinen Probierstein darin, ob er wirklich »bühnenpraktisch« handhabbar wäre und ob er dem Kriterium der Bestimmtheit entspräche. Figuren, Bilder, Elemente Bei den vorgeschlagenen vier »Scenen« der »Walpurgisnacht« ergeben sich in der Tat kaum szenisch - praktische Probleme: Es ist jeweils eine »Erscheinung« auf einer Szene zu gestalten. Diese »Scenen« sind im Gegensatz zu bloß gemalten Allegorien als lebende Bilder zu denken, sie sind in Handlung umgesetzt: »Ut pictura poesis« im Sinne des Horaz.406 Die allegorischen »Figuren« bewegen sich und reden. Die Besucher, Faust, Mephistopheles und der Homunculus, getragen von Wagner, betreten zunächst den klar bestimmten Boden der »Pharsalischen Felder«. Die Szene selbst ist literarisch. Gemäß der Schilderung Lukans in der »Pharsalia« trafen die Heere des Cäsar und des Pompeius auf den Pharsalischen Feldern in Thessalien aufeinander. Sie ist damit als Produktionskontext vom Bildungswissen her vorgegeben. Daß der alte Goethe solche Produktionskontexte »festumrissene Figuren« - liebt, um sich nicht im »Vagen« zu v e r lieren, seinen Visionen damit eine »feste« Form gebend, gehört zu den »Geheimnissen« seines Werks. Das Verfahren ermöglicht nicht zuletzt den Abschluß. Kenntnis eines solchen Produktionskontextes muß beim Zuschauer nicht vorausgesetzt werden, wohl aber bei dem, der das Stück inszeniert. Mutete er solche Kenntnis dem Zuschauer zu, so

406

Epistula ad Pisones: De Arte Poetica 361, Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lat./Dt. Übersetzt u. mit einem Nachwort herausgegeben von Eckart Schäfer. Rev. u. bibl. erg. Aufl. Stuttgart 1984, S. 26 ( = UB Nr. 9421).

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verriete er nur, daß er selbst sich mit der sinnlichen Präsentation der Vorgabe nicht vertraut gemacht hätte. Der Vorwurf der Unsinnlichkeit fiele also auf den Bühnenpraktiker zurück. Da Goethe von der Vorgabe nur im Sinne eines Bildes Gebrauch macht, muß der zugrundeliegende Text zunächst ins Bild transformiert werden, um dann auch auf der Bühne zu erscheinen. Auf den Zuschauer soll die »Scene« sinnlich wirken. Für den Leser allerdings ist diese Differenzierung eine Komplikation. Er muß drei Rollen spielen: die des gelehrten Philologen, die des Theaterpraktikers und schließlich die des Zuschauers in seiner eigenen Inszenierung im Kopfe. Die folgenden Überlegungen stehen also vor dem Problem, jeweils drei Ebenen der Rezeption bewußt zu halten. Die Aufgabe des Philologen kann mit Rücksicht auf seine Mittel oft nur die des trockenen Kommentars sein. Im Eingang der Walpurgisnacht zitiert Goethe mit Erichtho, der thessalischen Wahrsagerin, eine »Figur« aus der »Pharsalia« des Lukan, die zentrale Vision des Bürgerkriegs im VI. und VII. Buch, den Untergang des letzten Republikaners. Ihre »Figur« ist es, die den »Schauplatz« schafft. Daß gerade eine Lukanische Figur, aus einer Welt, die keine Götter mehr, sondern nur noch Gespenster kennt, von Goethe gewählt wird, ruft eine durchaus moderne Antike auf. Lukan wird bereits in den »Ephemerides« zitiert.407 Auf der thessalischen Ebene begegnen die Besucher zuerst einer Vierzahl von Mischwesen (Sphinxe, Sirenen, Ameisen und Greife). Die vier Besucher, Faust, Mephistopheles und der Homunculus, von Wagner in der Phiole mitgenommen, tragen ihre Suchmotive vor. Faust wird auf den Zentauren Chiron verwiesen, ein Bildungszitat, das später als Figur erscheinen wird. Daß der moderne Faust in dieser unbarmherzig männlichen, vom Kriegsgott und vom Element des Feuers dominierten Welt nach dem Urbild antiker Weiblichkeit fragen kann, macht die Paradoxie dieser Szene aus. Als »Antäus an Gemüte« (Fügung antik/modern) durchforscht er das »Labyrinth der Flammen«: Er hat jeden Bezug zur Wirklichkeit in seiner Suche verloren. Hier der philologische

407

Der junge Goethe I, S. 427. Die »Pharsalia« befand sich in der Bibliothek des Vaters. Vgl. S. 512 Anm.

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Kommentar: Hederich bemerkt die seinen mythologischen Kraftverlust der Erde verliert. Mephistopheles Element: Es ist seine Szene, die »Nahverwandten«, seine antikischen

»Geilheit« des Antäus, ebenso wie dann, wenn er die Berührung mit dagegen befindet sich in seinem Welt des Chaos, in der er seine »Vettern« (V. 7741ff.) findet.

Die folgende Szene beginnt mit der Vorstellung der allegorischen Figur des Flußgottes Peneios. Auch hier ist ein »bestimmtes« antikes Bild vorausgesetzt. Dieses »Bild« gehört zu den von Goethe hochgeschätzten »Philostratischen« »Eikones«. Unter der Rubrik »8. S e e - , Wasser - und Landstücke« der Neuordnung der »Philostratischen Gemälde« durch Goethe ist mit Nr. 72 aufgeführt: »Thessalien; Neptun nötigt den Peneus zu schnellerem Lauf. Das Wasser fällt, die Erde grünt.«408 Zweierlei ist wesentlich an dieser Szene: zum ersten die Erkenntnis ihrer mythologischen »Einheit«, zum zweiten ihre Funktion im Gesamt der »Walpurgisnacht«, die sie nicht nur rein quantitativ beherrscht. Zur Inszenierung ist die Kenntnis des Bildes erforderlich. Thessalien sei in grauer Vorzeit noch ein Sumpf ohne Abfluß ins Meer gewesen. Erst Neptun habe mit seinem Dreizack den Berg gespalten und dadurch dem Fluß die Vereinigung mit dem Meere ermöglicht (eine Art mythologischer Hochzeit). So sei lebendig-grünende Erde geschaffen worden. Im Bild wird, wie in der Begegnung mit dem Pädagogen Chiron, jene »Erdberührung« vorgestellt, die Faust neue, unwiderstehliche Kraft und »Geilheit« zurückgibt. Auch in dieser Szene tritt eine Vierzahl der Mischwesen auf. Faust trifft auf Chiron, den Zentaur, der einst Helena getragen hat, und auf die Zauberin Manto. Im Fortgang der Szene verwandelt sich das Bild; aus der »neptunischen« Idylle wird »vulkanische« Gewalttätigkeit. Goethe hat diese Szene als bewußt widersprüchliche Einheit geplant und ausgeführt. »Fernere Szene, wo Faust nach der Helena fragt und der Berg entsteht« ist die Kurzbezeichnung in Eckermanns Tagebuch.409 Die Frage nach Helena und die Bergentstehung sind also in einer Szene gestaltet, in deren Mitte Faust mit Manto den Weg in die Unterwelt, in das Innere der Erde antritt. Analog zur ersten »Walpurgisnacht« wird das eigentliche Geschehen überspielt. 408 409

WA I, 49. 1, S. 76. Graf II, 2, Nr. 1784 Anm.

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Vordergründig wird ein Gelehrtenstreit ausgetragen. Diskutiert werden die Fragen der Gestaltung und Umgestaltung der Erde. Und selbst die Bergentstehung ist nur äußeres Anzeichen des Hauptgeschehens. Auch das Herumspüren des Mephistopheles ist systematische Ablenkung. Er findet in diesem »Element« seine »Verwandten«, die häßlichen Phorkyaden, Voraussetzung für seine Verwandlung zur Phorkyas im Helena - Akt. Goethe läßt in seiner Konzeption des Mythos von der Begrünung der thessalischen Sümpfe zunächst offen, ob bei der Bergentstehung »neptunische« oder »vulkanische« Kräfte am Werke seien, um so die moderne Diskussion um die Gestaltung der Erdoberfläche einführen zu können. Seismos, der nach Goethes mythologischer Konzeption von unten herauf den Berg entstehen läßt, ist eine Zwittergestalt zwischen »neptunischen« und »vulkanischen«, menschlich fördernden, fruchtbaren Kräften und den lebensfeindlichen Kräften des Feuers.410 Die Sphinxe nennen den alten Mythos vom erderschütternden Meergott, der »die Insel Delos« »Einer Kreißenden«, also Demeter bzw. Ceres, der Göttin des fruchtbaren Feldes, »zuliebe« schuf. Sie ist die Mutter der Proserpina, zu der sich Faust in diesem Augenblick begeben hat, um Helena freizubitten. Seismos, eine mythologische Figur aus der Renaissance, dagegen stellt sein Eigenrecht an der Erdentstehung, ja selbst an der Entstehung des Göttersitzes, dar. Das von ihm geschaffene »neue Leben« aber bleibt der Raffgier und dem Besitzstreben, der lebensfeindlichen Welt der Flamme, verhaftet. Durch den »seismisch« entstandenen Ausweg sind die antike »Gesellschaft« und ihre nordischen Besucher aus der thessalischen Ebene ans offene Meer gekommmen. Zu Beginn der Szene »Felsbuchten des Ägaischen Meers« erscheint »Diana, Luna, Hekate«, die Göttin, in dreifacher Gestalt: als Göttin der (modernen) »wilden Jagd«, als »schöne Luna« am Himmel - fast marianisch - modern aufgehöht - und als schreckliche Göttin der Unterwelt, welche die

410

Vgl. Peter Schmidt (Freiberg): Das Motiv des Seismos in der klassischen Walpurgisnacht des Faust II. In: Zeitschrift für Geologische Wissenschaften 5 (1977) S. 395 - 402. P. Schmidt nimmt ein Vorbild bei Raffael an: »Raffaels in Flandern gewebter schmaler Wandteppich 'Paulus im Gefängnis zu Philippi' hatte Goethe bei der Gestaltung des Seismos vor Augen.« (Ebd. S. 401)

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»thessalischen Zauberfrauen« aus ihrem Gefolge in der Szene zuvor auf die Erde »herab gesungen« hatten. Der im Zenith verharrende Mond ist ebenfalls eine »Figur«. Dargestellt wird Luna »als ein Frauenzimmer [...], das zwey Hörner, oder einen mit den Spitzen in die Höhe stehenden halben Mond auf dem Kopfe hatte.«411 Mit Aer, der Luft, vermählt, Mutter des Taus, Vorsteherin von Zaubereien, »wenn selbige auf Liebesdinge abzieleten«,412 hat ihre Erscheinung eine spezifische Bildfunktion: Sie macht das unsichtbare Element, die Luft, schaubar. Der Mondhof ist »Lufterscheinung« (V. 8347). Er erscheint später in Gestalt von »liebentzündeten« Tauben. In der Tat ist dieses »Element« in dieser »Scene« dominant. »Vor des Sturmes grausen Schlünden« sind die Nereiden und Tritonen in die »stillsten Gründe« ausgewichen. (8047f.) Die Sirenen wollen von ihnen den Beweis, daß sie »mehr als Fische« seien. Als »Meerwunder« (die im Mittelmeer allbekannten »fliegenden Fische«, »Getümmel/ Das sich aus den Wogen hebt!« (V. 8040f.), gehören sie beiden Elementen, dem Wasser und der Luft, an.413 Sie verschwinden »mit günstigem Wind« nach Samothrake, um die Kabiren herbeizuschaffen. Die vielberätselten Kabiren haben im vorliegenden Mythos die Aufgabe, »Diana Luna Hekate« für das Meerfest zu »reinigen«.414 Wegen der Vielgestaltigkeit dieser Götter und ihrem »dunklen« Ursprung (unter anderem: der Kabira und des Vulkanus Kinder, Enkel des Proteus) und der mit ihnen verbundenen gelehrten Spekulationen erlaubt sich Goethe auch hier eine Modernisierung in Form einer Paraphrase des Hexeneinmaleins: drei sind vier, eigentlich sieben und acht. In Samothrake waren es nach Hederich vier: Ceres, Proserpina, Pluto und Merkur. Die Scherzfrage wäre, welcher von den beiden männlichen Kabiren nicht mitgekommen ist, Merkur oder Pluto. Des Rätsels Lösung bietet der Satz: »Er sagte,

411 412 413

414

Hederich a.a.O., Sp. 1480. Hederich a.a.O., Sp. 1478. Auf einem Kupferstich von Theodore de Bry (in: Das vierdte Buch von der neuwen Welt, 1594) findet sich eine Allegorie der Entdeckung Amerikas, die ähnliche figurale Bildelemente aufweist. So erscheinen die antiken Meergötter, rechts unten taucht Diana mit Köcher und dem Mond als Kopfzier aus dem Meer auf, links oben sieht man Neptun auf dem Muschelwagen. Meerungetüme bedrohen das Schiff, in der Mitte steht ruhig, stoisch der Erfinder der neuen Welt; setzt man dieses Bild voraus, ergibt sich wieder eine Fügung antik/modern. Hederich a.a.O., Sp. 1204.

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er sei der rechte,/ Der für sie alle dächte« (V. 8188f.): Es ist Pluto, der »Herr der Nacht, [...] des Lebens und des Todes, des Anfanges und des Endes aller Dinge.« 415 Die »drei« seien im nahen Olymp zu »erfragen«. Damit bleiben die weiteren Planetengötter übrig: Aphrodite, Zeus selbst und Kronos, nimmt man die ägyptische Tradition der zweiten Götterklasse (Planeten nebst Sonne und Mond, sowie die Naturkräfte: Feuer, Wasser, Luft und Erde), also vier plus drei. Der »achte« wäre Äskulapius, der Gott der Heilkunde. Das Zahlenspiel der anwesenden und nichtanwesenden Kabiren geht übrigens auf: Drei sind geholt worden, Pluto bleibt in seiner Hölle, Proserpina - Luna schaut von oben zu. Zeus bleibt auf dem nahen Olymp, und an den achten denkt eben niemand. Daß solche Zuordnungen immer spekulativ und »geheimnisvoll« sind, macht Goethe selbst mit seinem Scherz über den Rost, der erst die Münze wert mache, deutlich. Zur Figuration des luftigen Elements kommt die Beantwortung einer der Suchfragen: Homunculus findet in dieser Szene zu Proteus (dem Vorfahren der Kabiren), der ihm den Weg zur Verkörperlichung weist. In der »weichen Luft« der Felsbuchten »grunelt« es. Der »Duft« der Fruchtbarkeit weht ihn an (V. 8256f.). Zum Schluß, in der Szene »Teichinen von Rhodus« wendet sich der Blick des Zuschauers auf das Meer, auf die Erscheinung der Galatee, in der Homunculus zugleich wird und stirbt. Galatee erscheint »im Farbenspiel von Venus' Muschelwagen«; sie figuriert für die Vereinigung der Elemente auf und im Wasser. Wieder liegt ein Philostratisches Ikon der »Scene« zugrunde: Ruhig schwankt die breite Wasserfläche unter dem Wagen der Schönen; vier Delphine neben

einander

gespannt

scheinen, zusammen

fortstrebend, von

Einem Geiste beseelt; jungfräuliche Tritonen legen ihnen Zaum und Gebiß an, ihre muthwilligen Sprünge zu dämpfen. Sie aber steht auf dem Muschelwagen [-].416

Goethe weist auf moderne Transfigurationen hin:

415 416

Hederich a.a.O., Sp. 2027f. WA I, 49. 1, S. 106.

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Bedeutend ist es für unsere Zwecke, [...] was Raphael, die Carrache und andere an demselben Gegenstand gethan. Eine solche Vergleichung wird uns den alten und neuen Sinn, beide nach ihrer ganzen Würdigkeit, aufschließen.417

Auf dem Meer findet die Feier der vier Elemente, Feuer, Erde, Luft und Wasser, als welche die »Classische Walpurgisnacht« von ihrem Ende her zu lesen und zu schauen ist, ihr großartiges Finale. Ob »Lukanisch« - wie die »Pharsalischen Felder« - oder »Philo stratisch«, »classisch« »bestimmt« sind die Szenen der zweiten »Walpurgisnacht« in jedem Fall. Dieser Hintergrund, so Goethes kunsttheoretische Annahme, bestimmt auch die große Malerei der »Neueren«, so Giulio Romanos »Trauernden Peneus«, Raffaels Triumphzug der Galatee oder die entsprechenden Gemälde der Brüder Caracci. Goethe betont in einem späten Gespräch mit Eckermann, daß es ihm »'[o]hne eine lebenslängliche Beschäftigung mit der bildenden Kunst'« nicht möglich gewesen wäre, die mythologischen Figuren »wieder so frisch in's Leben treten zu lassen [...].