Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung: Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation 9783847098287, 9783847100522, 9783847000525


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Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung: Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation
 9783847098287, 9783847100522, 9783847000525

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Formen der Erinnerung

Band 55

Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

Gregor Feindt / F¦lix Krawatzek / Daniela Mehler / Friedemann Pestel / Rieke TrimÅev (Hg.)

Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0052-2 ISBN 978-3-8470-0052-5 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie des Lehrstuhls für Geschichte des Romanischen Westeuropa an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Paul Klee; Polyphonie, 1932; Ungefirnisste Tempera auf Leinwand; 66.5 x 106 cm Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel Fotografie: Martin P. Bühler, Öffentliche Kunstsammlung Basel Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Gregor Feindt, F¦lix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel, Rieke TrimÅev Europäische Erinnerung? Erinnerungsforschung jenseits der Nation . . .

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I. Erinnerung als Traditionsstiftung Klaus Oschema Ein Karl für alle Fälle – Historiografische Verortungen Karls des Großen zwischen Nation, Europa und der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Roland Scheel Wikinger und Wikingerzeit – Der vormittelalterliche Norden als Gegenstand europäischer Erinnerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Simon Hadler Zugehörigkeit durch Abgrenzung – Der Türke als der Andere Europas

93

.

II. Erinnerung als Deutungsregie Friedemann Pestel Versailles als memory building – Memory-building mit Versailles

. . . . 121

III. Erinnerung als Deutungskampf Gregor Feindt Flucht und Vertreibung zwischen Kaltem Krieg und Universalisierung . . 153 Marcin Napiûrkowski Der Warschauer Aufstand im Ringen um europäische Identität . . . . . . 179

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Inhalt

Daniela Mehler Srebrenica und das Problem der einen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . 205

Schlussbetrachtung Gregor Feindt, F¦lix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel, Rieke TrimÅev Funktionen europäischer Erinnerung in der postnationalen Konstellation Oliver Dimbath Nachwort aus sozialtheoretischer Perspektive

237

. . . . . . . . . . . . . . . 265

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Vorwort

Der vorliegende Band entstand durch die Dynamik glücklicher Umstände, die uns und unsere Gedanken zusammenführten. Er nahm seinen Ursprung in der von 2007 bis 2009 organisierten Arbeitsgruppe »Ein dunkler Kontinent? Konflikte und Konfliktlösungen im neuzeitlichen Europa« eines Gesellschaftswissenschaftlichen Kollegs der Studienstiftung des deutschen Volkes. Die dort jenseits universitär institutionalisierter disziplinärer Grenzen und akademischer Produktionslogiken geführten Diskussionen um Erinnerungen an Konflikte in Ost- und Westeuropa wurden für uns zum Ausgangspunkt, um die gegenwärtigen Debatten zu europäischer Erinnerung synchron und diachron vergleichend zu hinterfragen. Für diesen Rahmen und diese Initialzündung bedanken wir uns beim Leiter des Kollegs, Marcus Chr. Lippe, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Arbeitsgruppe und ihren beiden Leitern, Jörn Leonhard (Freiburg) und Joachim von Puttkamer (Jena), herzlich. Besonders Jörn Leonhard hat unsere Arbeit in den Folgejahren gleichermaßen mit Kritik und Unterstützung begleitet. Auch mit zeitlichem Abstand betrachtet, blieb der intensive Austausch während des Kollegs eine Inspirationsquelle. Er prägte nicht nur unsere Gedanken in der Anfangsphase der gemeinsamen Arbeit, sondern ermutigte uns zur Ausgestaltung einer Form des wissenschaftlichen Austauschs, der wir in den Folgejahren in vielfältigen personellen, medialen und institutionellen Kontexten Kontinuität zu geben versuchten. Im Verlauf von zwei Jahren des regen geistigen Miteinanders im Fünferkreis konnten wir eine gemeinsame Schreib- und Denkpraxis entwickeln, deren Zwischenergebnisse wir während zahlreicher Arbeitstreffen sowohl zu verwerfen als auch abzuschließen lernten. In dieser Zeit haben wir ebenfalls die wissenschaftlichen Förderstrukturen vor Abschluss (oder sogar Beginn) einer Promotion erkundet, woraus schließlich im Juli 2011 ein Workshop am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld entstand, dem am selben Ort im Dezember 2012 eine zweite Arbeitsphase folgte. Für ihre Begeisterung an unserem Projekt, die unkonventionelle Offenheit und das Wohlwollen, auf das wir von Beginn an trafen, gilt der Geschäftsführerin Britta

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Vorwort

Padberg, mitsamt ihrem Mitarbeiterstab, unser besonderer Dank. Inhaltlich ermöglichte es dieser außergewöhnliche Rahmen, einen methodisch-theoretischen Ansatz zu entwickeln, der für die weiteren Auseinandersetzungen leitend war. Unsere theoretischen Überlegungen zu europäischer Erinnerung wie auch die Diskussionen der Fallstudien haben entscheidend von den kritischen Fragen und Anregungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der beiden Workshops am ZiF profitiert. Hierzu zählen Alejandro Baer (Minnesota), Silja Behre (Paris), Mathias Berek (Leipzig), Sonja Kmec (Luxemburg), Jörn Leonhard (Freiburg), Agata Nörenberg (Konstanz) und Jeffrey K. Olick (Charlottesville). Besonderer Dank gilt darüber hinaus Oliver Dimbath (Augsburg), Helmut König (Aachen) und Harald Wydra (Cambridge), die sich als Diskutanten besonders intensiv auf unsere Ideen einließen und durch ihre Kommentare die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Texten dieses Bandes aus verschiedenen Perspektiven sichtbar machten. Vor und zwischen den Bielefelder Arbeitsphasen stellten wir unsere theoretisch-methodischen Überlegungen in Kolloquien und auf Konferenzen in Erlangen, Warschau, Canterbury, Hamburg und Lund vor. Die Nachfragen und Kritiken, die unsere Texte hier erfuhren, halfen unsere Argumente zu schärfen und diesen Band weiter zu konturieren. Darüber hinaus waren die Anmerkungen von Oliver Hollenstein (München) zum Schlusskapitel wertvoll, um diesen Band fertigzustellen. Dank Birgit Neumann (Passau) und Jürgen Reulecke (Gießen) fand unser Band seinen Platz in der Reihe »Formen der Erinnerung«. Von Verlagsseite begleitete uns Ruth Vachek so umsichtig wie geduldig durch den Publikationsprozess. Saskia Erdogan gilt unser Dank für das Korrektorat des Bandes. Darüber hinaus bedanken wir uns beim Direktorium des ZiF, Dittmar Dahlmann und der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie Jörn Leonhard und dem Lehrstuhl für Geschichte des Romanischen Westeuropa an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für den »Mut zur Lücke«, mit dem sie eine Leerstelle der deutschen Druckkostenförderung schlossen und diesem Band, der weder mit der Autorität akademischer Titel aufwarten konnte noch zur Erlangung solcher geschrieben wurde, die finanzielle Hürde der Drucklegung nahmen. Bonn/Oxford/Frankfurt am Main/Freiburg/Hamburg, im Dezember 2013, Gregor Feindt, F¦lix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel und Rieke TrimÅev

Einleitung

Gregor Feindt, F¦lix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel, Rieke TrimÅev

Europäische Erinnerung? Erinnerungsforschung jenseits der Nation

Warum braucht es heute noch ein Buch zu europäischer Erinnerung, widmet sich doch bereits eine überwältigende Menge an Forschungsbeiträgen diesem Thema? Auch politische Akteure auf europäischer Ebene haben Erinnerung längst als Politikfeld erkannt.1 Es bedarf also auf den ersten Blick keines weiteren Zentimeters zu den thematisch einschlägigen Regalmetern unserer Bibliotheken, denn auch die Kontroversität der Debatte ist manifest. Auch wenn in letzter Zeit eine Verdichtung und Verknappung der Argumentationsfiguren zu beobachten ist, so wird über die wirkliche, mögliche und tatsächliche Gestalt des Gegenstandes leidenschaftlich gestritten. Unumstritten ist lediglich, dass europäische Erinnerung sagbar und somit zu einer diskursiv erzeugten Möglichkeit unserer Zeit geworden ist. Insbesondere die – nicht erst durch die Finanzkrise virulent gewordene – politische Krise Europas macht jedoch in aller Dringlichkeit deutlich, dass die akademische Diskussion eine der wesentlichen Möglichkeiten vernachlässigt hat, die ihr als Instanz gesellschaftlicher Selbstreflexion zukommt. Sie begleitet den allgegenwärtigen Gebrauch des Begriffspaars europäische Erinnerung, erweitert oder bezweifelt deren Existenz, ohne aber zu hinterfragen, welche Vorstellung von Integrationsformen durch Vergangenheitsdeutungen und welches Selbstverständnis von Europa sich in dieser Semantik und ihrem Gebrauch eigentlich ausdrückt. In der Debatte um die politische Zukunft Europas nach europäischer Erinnerung zu fragen heißt bisher immer noch, eine Antwort bereits vorauszusetzen: dass die Integration Europas im Modell des Nationalstaates zu denken sei. Denn auch wenn die Erinnerungsforschung ihren national-affirmativen Impetus größtenteils überwunden hat und Bereiche jenseits des Nationalstaates auslotet, bleiben dabei Denkgewohnheiten prägend, die einem nationalen Erfahrungs1 Zuletzt Sarah Gensburger/Marie-Claire Lavafre, D’une »m¦moire europ¦enne« — l’europ¦anisation de la »m¦moire«, in: Politique europ¦enne 37 (2012), H. 2, S. 9 – 17, und die anderen Beiträge derselben Nummer.

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raum entstammen. In anderen Worten: Ihre Gegenstände hat die Erinnerungsforschung dem Dienst des Nationalstaates entzogen, ihre Theorien und Methoden jedoch nicht. Den Willen, Europa anders zu denken, äußern dabei fast alle Beitragenden zur Debatte. Doch Um- und Neudenken fordert auch eine Arbeit an den erkenntnisstrukturierenden Konzepten ein. Der vorliegende Band nimmt sich der dafür notwendigen theoretisch-methodischen Reflexion an und betrachtet europäische Erinnerung zunächst als diskursives Phänomen unserer Zeit. In dieser Einleitung werden wir die Notwendigkeit eines derartigen Vorgehens zunächst aus dem Forschungsstand entwickeln und begründen. Anschließend werden die methodischen Prinzipien dargestellt, welche die unterschiedlichen Beiträge leiten. Zum Abschluss präsentieren wir einen Ausblick auf das gedankliche Feld, das diese Beiträge in der historischen Zeit, dem gesellschaftlichen Raum und der theoretisch-reflexiven Tiefenebene umreißen.

Forschungsstand Die bis in die 1990er-Jahre prominente Verankerung der Erinnerungsforschung im nationalstaatlichen Kontext ist heute weitestgehend aufgebrochen. Wissenschaftliche Fragestellungen haben sich Erinnerungen in binationalen2 und anderen Konstellationen3 geöffnet. Insbesondere in den letzten zehn Jahren hat die Forschung eine rasche Entwicklung hin zum Thema europäische Erinnerung durchlaufen. Diese Öffnung berechtigte zu der Hoffnung, die konzeptuell ausgetrockneten Wege des nationalstaatlich orientierten Ansatzes zu verlassen und ein empirisch neues Feld zu erschließen. In den gegenwärtigen Theoriedebatten der Erinnerungsforschung ist unumstritten, dass ihr Erklärungspotenzial zum einen durch die Annahme der Homogenität erinnernder Gruppen begrenzt wird, zum anderen durch die bevorzugte Analyse fassbarer Manifestationen von Erinnerungen. Wie äußerten sich diese beiden typischen Charakteristika der nationalstaatlichen Erinnerungsforschung in ihren Fragestellungen und Untersuchungsdesigns? Einerseits hat die nationale Erinnerungsforschung dazu geneigt, ihren Gegenstand als 2 Hier sind neben verschiedenen kleineren Projekten besonders die »Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte« zu erwähnen, die mit geteilten und parallelen Erinnerungsorten eine methodische Weiterentwicklung des Nora’schen Ansatzes darstellen; Hans Henning Hahn/ Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, bislang erschienen Bd. 3 und 4, Paderborn 2012/13. Zur Programmatik und methodischen Innovation dieses Projekts, ebd., Bd. 4. 3 Vgl. z. B. Christoph Markschies (Hrsg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010; Mareike Witkowski (Hrsg.), Oldenburger Erinnerungsorte, Oldenburg 2012.

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Funktion nationalstaatlichen Homogenisierungsdruckes zu begreifen. Die methodischen Triebfedern eines solchen heuristischen Vorgriffs waren Untersuchungsdesigns, die eine einzelne Gruppe in den Vordergrund stellten und das Konzept von Erinnerung eng an den Begriff kollektiver Identität banden.4 Andererseits leistete die Bedeutung von invented traditions für das nationale Denken der Essenzialisierung von Untersuchungsgruppen und -räumen Vorschub, die der Erinnerungsforschung trotz ihrer sozialkonstruktivistischen Ausgangsintention oft beiblieb. Triebkraft dieser unterschwelligen Essenzialisierung war, wie Jeffrey K. Olick treffend herausgearbeitet hat, eine Verwechslung von Erinnerungshandlungen mit ihren materiellen Objektivationen, also beispielsweise Gedenksteinen, Museen, Landschaften, die nur allzu oft mit der impliziten Annahme einer »prerepresentational past« einhergingen.5 Im Folgenden nehmen wir eine Standortbestimmung der gegenwärtigen Debatte um europäische Erinnerung vor, indem wir Beiträge aus dem deutsch-, englisch- und französischsprachigen Kontext mit diesen zwei Aspekten konfrontieren, die wir an anderer Stelle in Anlehnung an Astrid Erll auch als Maßstäbe einer »dritten Welle« der Erinnerungsforschung definiert haben.6 Demnach muss sich die Untersuchung von Erinnerung jenseits des Nationalstaates daran messen lassen, inwiefern der Nationalstaat in den jeweiligen Beiträgen nicht nur der Sache nach, sondern auch in Gestalt von Homogenitätsannahmen und Essenzialisierungsmomenten tatsächlich überwunden wird.7 In der akademischen Diskussion lassen sich idealtypisch zwei Vorstellungen von europäischer Erinnerung unterscheiden. Ihre Leitdifferenz ist das oftmals nur implizite Verständnis davon, was an den verhandelten Erinnerungen europäisch ist. Auf der einen Seite kreist eine Debatte um die Frage, inwiefern es vergangene Ereignisse gibt, die eine genuin europäische Dimension schon vor 4 Für die Erinnerungsforschung klassisch hat den Zusammenhang von Erinnerung und Identität Jan Assmann geprägt: Ders., Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders./Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9 – 19. Auch für die konstruktivistische Nationalismusforschung ist dieser Nexus grundlegend: Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London erw. Aufl. 2006; Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 5 Jeffrey K. Olick, The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility, New York 2007, S. 89. 6 S. unsere ausführlichere theoretische Positionsbestimmung: Gregor Feindt/F¦lix Krawatzek/ Daniela Mehler/Friedemann Pestel/Rieke TrimÅev, Entangled Memory. Toward a Third Wave in Memory Studies, in: History and Theory 53 (2014), S. 24 – 44, sowie Astrid Erll, Travelling Memory. Whither Memory Studies?, in: Parallax 17 (2011), H. 4, S. 4 – 18. 7 Für ein solches differenziertes Verständnis von Erinnerung zur Untersuchung heterogener Räume s. Moritz Cs‚ky, Transnationales Erinnern – ein hybrides Phänomen? Kultur als Kommunikationsraum, in: Hahn/Traba (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte 4, S. 31 – 48.

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ihren Erinnerungen aufweisen. Hier steht also der europäische Charakter von Deutungsträgern von Erinnerungen im Vordergrund.8 Dem gegenüber steht eine zweite Auseinandersetzung, in der es darum geht, ob es ein europäisches Moment in der Art der Bezugnahme auf die Vergangenheit geben kann, soll oder bereits schon gibt. Im Vordergrund steht hier also der europäische Charakter von Erinnerungshandlungen, die bestimmte Deutungsträger interpretieren. Wir werden beide Debattenstränge in ihren typischen Argumentationsfiguren vorstellen und mit den beiden oben aufgestellten Herausforderungen konfrontieren.

Die europäische Dimension des Deutungsträgers Gibt es genuin europäische ›Gegenstände‹ von Erinnerung? Als Suche nach einem Kanon europäischer lieux de m¦moire hat diese Frage in unterschiedlichen Kontexten einen ersten Strang der Europäisierung der Erinnerungsforschung geprägt.9 In Anbetracht des Erfolgs des Nora’schen Modells, das nicht zuletzt mit wirtschaftlichen Interessen von Verlagen und der Popularisierbarkeit weiterer Erinnerungsorte verbunden war,10 lag es nahe, sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Fortsetzung der europäischen Integration einer europäischen Deutung der Vergangenheit des Kontinents zu widmen. Natürlich war dabei immer schon ein bestimmter Begriff von Europa vorausgesetzt, der unvermeidbar unter zeitgenössischen Vorzeichen stand. So bei Êtienne FranÅois, wenn er ein Kaleidoskop von Phänomenen, von den Kreuzzügen über die Aufklärung hin zu den beiden Weltkriegen und 1968, als »explizite ›geteilte europäische Erinnerungsorte‹«11 mit Geltungsanspruch für ein von Westen aus erweitertes Gesamteuropa bezeichnet. 8 Mit dem Begriff des Deutungsträgers werden wir im Weiteren Begriffe wie ›lieu de m¦moire‹ oder ›Erinnerungsort‹ ersetzen, da dieser dem sozialkonstruktivistischen Charakter von Erinnerung besser gerecht wird. In einer englischen Fassung unseres theoretischen Ansatzes haben wir ›Deutungsträger‹ auch mit ›mnemonic signifier‹ bezeichnet. Feindt/Krawatzek/ Mehler/Pestel/TrimÅev, Entangled Memory, S. 31. 9 So geht das Projekt der Europäischen Erinnerungsorte auf eine Tagung des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte in der Villa Vigoni im Jahr 2000 zurück, bei der zu den einzelnen historischen Epochen jeweils ein deutscher und ein nichtdeutscher Historiker zusammenarbeiteten, um der Frage nach »›europäische[n]‹ lieux de m¦moire« nachzugehen, »in bewusster ›Europäisierung‹ des Nora’schen Ansatzes«, aber »ohne jeden (europa)politischen Nebengedanken«. Editorial: Europäische lieux de m¦moire?, in: Jahrbuch für europäische Geschichte 3 (2002), S. 1 f., hier S. 1. Im Rückblick Heinz Duchhardt, Europäische Gedächtnisorte, in: Hahn/Traba (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte 4, S. 63 – 68. 10 Einen Überblick über die einzelnen nationalen Projekte gibt Kornelia Kon´czal, Erinnerungsorte. Über die Karriere eines folgenreichen Konzepts, ebd., S. 79 – 106. 11 Êtienne FranÅois, Geteilte Erinnerungsorte, europäische Erinnerungsorte, in: Robert Born

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Auch wenn solche deutlichen Benennungen eines vermeintlich authentischeuropäischen Kerns von geschichtlichen Ereignissen in späteren wissenschaftlichen Beiträgen kaum zu finden sind, so bilden die mit diesem ersten Ansatz einhergehenden Prämissen das Fundament vieler späterer Interventionen. Wenn beispielsweise Willfried Spohn 2005, also im Jahr des Referendums über die europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden, von den gemeinsamen antiken Wurzeln europäischer Zivilisation spricht, erschließt ganz offensichtlich die Erfahrung von Erinnerung im nationalen Kontext den Erwartungshorizont des zukünftigen europäischen Projektes.12 Zutreffend unterstreicht in diesem Zusammenhang Helmut König, dass die Beschwörung europäischer Wurzeln vorrangig eine Reaktion auf die Krise des politischen Projektes Europas ist.13 Inwiefern insbesondere auch der politische Diskurs dazu beiträgt, einen Kanon europäischer Erinnerungen zu definieren, verdeutlicht Lothar Probst am Beispiel der Vereinnahmung des Holocaust als negativem Gründungsmythos.14 Dieser ersten Argumentationsfigur steht auf den ersten Blick eine zweite diametral gegenüber, welche die Frage nach genuin europäischen Gegenständen der Erinnerung vehement verneint.15 Während dieses skeptische Argument zunächst als Gegenspieler der oben skizzierten optimistischen Position erscheint, funktioniert es doch in pragmatischer Hinsicht als ihr Komplement: Ob nun der genuin europäische Referenzpunkt von Erinnerung zugestanden oder verneint wird, so arbeiten beide Seiten mit einer Vorstellung von Erinnerung, die den Erwartungshorizont eines durch ein gemeinsames vergangenes Fundament

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(Hrsg.), Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen 1800 bis 1939, Warschau 2006, S. 15 – 31, hier S. 23. Der Verweis auf Europa als Hintergrund von nationalen Erinnerungsorten findet sich bereits in: Ders./Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 2002, S. 9 – 24, hier S. 19. Willfried Spohn, National Identities and Collective Memory in an Enlarged Europe, in: Klaus Eder/Ders. (Hrsg.), Collective Memory and European Identity. The Effects of Integration and Enlargement, Aldershot/Burlington 2005, S. 1 – 14, hier S. 4. Helmut König, Statt einer Einleitung: Europas Gedächtnis. Sondierungen in einem unübersichtlichen Gelände, in: Ders./Julia Schmidt/Manfred Sicking (Hrsg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008, S. 9 – 37, hier S. 9. Lothar Probst, Founding Myths in Europe and the Role of the Holocaust, in: New German Critique 90 (2003), S. 45 – 58. Z.B. Pierre Nora, Auf der Suche nach europäischen »Orten der Erinnerung«, in: Henning Schulte-Noelle/Michael M. Thoss (Hrsg.), Abendland unter? Reden über Europa, Kreuzlingen/München 2007, S. 150 – 156; aber auch Robert Traba, Wprowadzenie [Einleitung], in: Ders./Agnieszka Grzybkowska (Hrsg.), Pamie˛c´. Wyzwanie dla nowoczesnej Europy [Gedächtnis. Herausforderung für ein modernes Europa], Allenstein 2008, S. 19 – 20, hier S. 19. In Erwiderung auf Claus Leggewie: Stefan Troebst, Konzentrische Kreise oder Haleckische Geschichtsregionen?, in: Christoph Bieber/Benjamin Drechsel/Anne Lang (Hrsg.), Kultur im Konflikt. Claus Leggewie revisited, Bielefeld 2010, S. 49 – 54.

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auch in Gegenwart und Zukunft geeinten Europas eröffnet. Exemplarisch für diese Janusköpfigkeit vermag hier Pierre Nora stehen. Seine Diagnose, dass europäische Erinnerungsorte »überall und nirgends«16 seien und nur durch die Transposition nationaler Fälle entstünden, könnte nur dann überzeugen, wenn es um Deutungsträger ginge, die für eine supranationale politische Gemeinschaft dieselbe Funktion erfüllten, wie es Jeanne d’Arc, der Eiffelturm oder der Wein für Frankreich taten. Der von diesen beiden Polen der Debatte – Zuschreibung oder Zurückweisung der europäischen Dimension des Deutungsträgers – abgesteckte Raum wird durch verschiedene Argumentationsfiguren nuanciert. Drei von ihnen sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden. In einer ersten Argumentationsfigur wird Europa mit der Summe seiner im Regelfall national gefassten Teile gleichgesetzt. Parallelen oder Konvergenzen zwischen mindestens zwei Erinnerungsnarrativen motivieren dabei ein Sprechen von europäischer Erinnerung. Europa wird hier nicht an bestimmte Qualitäten gekoppelt, sondern funktioniert schlicht als Container, der durch nationale, regionale oder soziale Kategorien gefüllt werden kann. Ein derartig additives Europa leitet verschiedene Forschungsdesigns und entspricht häufig dem Grundaufbau von Sammelbänden, die »Europa« im Titel führen und nach (bi-) national ausgerichteten Kapiteln gegliedert sind. Das Europäische scheint als solches nicht weiter erklärungsbedürftig da es, so die Vermutung, der Kombination der einzelnen Beiträge entspricht. Diese Argumentationsfigur ist beispielsweise in Robert Gildeas Analyse der Chiffre »1848« in der europäischen Erinnerung zu finden. Ohne eine als europäisch zu charakterisierende Erinnerungskultur affirmieren zu wollen, illustriert er die Vielstimmigkeit von Erinnerungsnarrativen in verschiedenen nationalen Kontexten unter dem dann fast schon paradoxalen Titel 1848 in European Collective Memory.17 Auch Harald Welzers vergleichende Tradierungsforschung versteht Europa als eine derartige Summe nationaler Einheiten, in deren Auffächerung nach abstrakten gemeinsamen Mustern und Erinnerungsräumen gesucht wird.18 Einen Schritt weiter geht Andreas Eckert, wenn er prophezeit,

16 Nora, Suche nach europäischen »Orten der Erinnerung«, S. 151. 17 Robert Gildea, 1848 in European Collective Memory, in: Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/ Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europe in 1848. Revolution and Reform, New York 2001, S. 916 – 937. Die ursprüngliche deutsche Fassung des Aufsatzes trug den neutraleren Titel »Mythen der Revolution von 1848«. 18 Harald Welzer (Hrsg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2007.

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dass der bisher hauptsächlich im nationalen Rahmen erinnerte Kolonialismus zwangsläufig in eine europäische Erinnerung führen werde.19 Eine zweite Argumentationsfigur geht davon aus, dass es in der Erinnerungslandschaft des Kontinents gewisse Räume gebe, die für Europa stehen. Hierbei handelt es sich in erster Linie um Orte oder Regionen, die von grenzüberschreitenden Prozessen geprägt sind und unterhalb, oberhalb oder quer zur Ebene des Nationalstaates verlaufen. Durch Freund- oder Feindschaftsbeziehungen, Austausch von Gütern und Symbolen sowie Migration über Staats- und Sprachgrenzen hinweg, oder eben gerade aufgrund ihrer Heterogenität, gelten diese Räume als repräsentativ für Europa insgesamt. In exemplarischer Weise widmet sich das Memotransfront-Projekt für das Saarland, Luxemburg und Lothringen vernetzten Erinnerungen in einer regional organisierten »europäischen Kernzone«.20 Dabei fanden auch solche Erinnerungsorte Aufnahme, die sich nicht auf den ersten Blick in ihrem transnationalen Charakter erschließen, sondern durch den Erinnerungsforscher erst im Vergleich als europäisch freigelegt werden müssen, wie beispielsweise die »Dorfentwicklung« oder die »Architektur der Arbeiterbewegung«. Dies geschieht noch expliziter in einem weiteren Projekt, das aus der Gegenüberstellung von Ostsee- und Mittelmeerraum als transnationale Regionen Elemente gemeinsamer Identität ableitet.21 Am Beispiel der Soldatenfriedhöfe um Verdun und des Holocaust stellen Ren¦ Sigrist und Stella Ghervas die verflochtenen deutsch-französischen Erfahrungen vorwegnehmend als integralen Bestandteil einer europäischen Erinnerung dar. In Anbetracht der politischen Entwicklung der Europäischen Union und des viel beschworenen deutsch-französischen Motors überrascht es wenig, dass die offenbar definitiv pazifizierte Beziehungsgeschichte dieser beiden Länder auf die europäische Ebene transponiert und als Vorbild einer eingehegten Deutung einer konfliktreichen Vergangenheit idealisiert wird.22 19 Andreas Eckert, Der Kolonialismus im europäischen Gedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 56 (2008), H. 1/2, S. 31 – 38. 20 Rainer Hudemann, Saar-Lor-Lux: Vernetzungen in einer europäischen Kernzone (2009), http://www.memotransfront.uni-saarland.de/pdf/konzept.pdf (30. 09. 2013). 21 Bernd Henningsen/Henriette Kliemann-Geisinger/Stefan Troebst, Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin 2009, S. 5 – 9. 22 Ren¦ Sigrist/Stella Ghervas, La m¦moire europ¦enne — l’heure du »paradigme victimaire«, in: Dies./FranÅoise Rosset (Hrsg.), Lieux d’Europe. Une tentative d’inventaire, Paris 2008, S. 215 – 243. Europa als Fluchtpunkt der deutsch-französischen Beziehungsgeschichte nimmt in einem binationalen Erinnerungsband zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs noch keine bestimmende Rolle ein, scheint aber wie im Falle Karls des Großen klar durch: »AprÀs tout, peu importe que Charlemagne soit franÅais ou allemand. […] Ce qui compte, c’est que, par son g¦nie, il ait pu, — partir d’Aix-la-Chapelle, faire la synthÀse, dans le cadre d’une certaine Europe, des int¦rÞts de peuples dont les tendances n’¦taient pas a priori convergentes. C’est ce souci de synthÀse qui est — l’origine de l’id¦e moderne d’Europe

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Einen anderen Ansatz verfolgen Kirstin Buchinger, Claire Gantet und Jakob Vogel mit ihrem topografischen Vorgehen. Inspiriert vom spatial turn fragen sie nach der sozialen Relevanz von Europa in den räumlichen Beziehungen von Erinnerungen, da Debatten über geografische Grenzen und Migration immer auch Debatten um europäische Erinnerungen seien, in denen sich die mentalen Raumordnungen der Europäer widerspiegelten.23 Inwiefern diese Suche nach exemplarischen Orten mittlerweile auf der politischen Ebene angekommen ist, illustrieren Oriane Calligaro und FranÅois Foret in ihrer Analyse von Förderprogrammen wie dem des europäischen Kulturerbes, für das nationale Erinnerungsorte ihre »europäische Dimension« herausstellen müssen.24 Eine dritte Argumentationsfigur sucht den europäischen Kern von Erinnerungen in den Erfahrungen der Zeitgenossen. Schon genuin europäische Momente in der historischen Erfahrung, und nicht erst spätere Prozesse der Aushandlung von Deutungen, sollen für die Europäizität bestimmter Erinnerungen bürgen. So ist für die Herausgeber der dreibändigen »Europäischen Erinnerungsorte« die europäische Rezeption des erinnerten Phänomens von Zeitgenossen ein Kriterium für einen »Europäischen Erinnerungsort«.25 Selbst die sozialkonstruktivistische Färbung dieses Zuganges kann nicht verhindern, dass Europa in den Deutungen der Akteure zu einer eigenen Ursprünglichkeit gelangt und letztendlich essenzialisiert wird. Europa dient bei einem solchen Vorgehen als erkenntnisstrukturierender Begriff, der gegen die Zeit projiziert wird. Typisch ist, insbesondere Erinnerungen an Gewalterfahrungen eine genuin europäische Qualität zuzusprechen. Europa wird so zum Distinktionsmerkmal solcher Erinnerungen, die sich nicht in den Idealtypus nationaler Erinnerung und ihres »h¦ritage de gloire«26 fügen. So werden auch bei Georges Mink und Laure

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carolingienne […].« Jacques Morizet/Horst Möller, Conclusion, in: Dies. (Hrsg.), Allemagne – France. Lieux et m¦moire d’une histoire commune, Paris 1995, S. 205 – 208, hier S. 208. Kirstin Buchinger/Claire Gantet/Jakob Vogel, Einleitung. Räume europäischer Erinnerungen, in: Dies. (Hrsg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt am Main 2009, S. 9 – 19, hier S. 12. Oriane Calligaro/FranÅois Foret, La m¦moire europ¦enne en action. Acteurs, enjeux et modalit¦s de la mobilisation du pass¦ comme ressource politique pour l’Union europ¦enne, in: Politique europ¦enne 37 (2012), H. 2, S. 18 – 43, hier S. 26. Elisabeth Kübler widmet sich am Beispiel der Initiativen des Europarats zur Holocaust-Erinnerung einer Nicht-EU-Institution. Dies., Europäische Erinnerungspolitik. Der Europarat und die Erinnerung an den Holocaust, Bielefeld 2012. Weitere Kriterien sind eine »europäische Vermittlung« im Laufe der Zeit sowie die Suche nach Erinnerungsorten, die sich explizit auch auf Osteuropa beziehen. S. dazu auch unsere Kritik: Gregor Feindt/F¦lix Krawatzek/Friedemann Pestel/Rieke TrimÅev, Rezension zu: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte. Bd. 1. Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, in: Memory Studies 6 (2013), H. 4, S. 495 – 497. Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une nation?, Paris 1997, S. 32.

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Neumayer der Hitler-Stalin-Pakt oder der »Verrat von Jalta« zu Gegenständen von europäischer Erinnerung.27 Ähnliche Angebote genuin europäischer Erfahrungen finden sich bei Klaus Schönhoven. Diese erstrecken sich von der europäischen Dimension des Holocaust über »Flucht und Vertreibung« bis hin zum »kultur- und sozialgeschichtlichen Kapital Europas«, worunter so unterschiedliche historische Phänomene wie Adels- und Bürgerkultur, Kolonialgeschichte, totalitäre Doppelherrschaft oder Religions- und Emanzipationsgeschichte subsumiert werden.28 Zusammengefasst besitzt der Europabegriff dieses ersten größeren Diskursstranges einen doppelten Erwartungshorizont: Einerseits kommt Erinnerungsprozessen noch immer eine fundierende, eine ursprungskonstituierende Funktion zu. Andererseits setzt der Diskurs auch das Homogenitätsdenken der früheren Erinnerungsforschung dort fort, wo er auf die Konstitution einer europäischen Identität abzielt. Das Attribut europäisch wird all jenen Erfahrungen verliehen, die sich im Rückblick nicht in nationale Erinnerungsregime einordnen lassen, sondern in der Erinnerung einen Grad von reflexiver Distanznahme einfordern.

Die europäische Bezugnahme auf einen Deutungsträger Ein zweiter Strang im Diskurs verschiebt den Akzent und betont den Prozess des Aushandelns von Erinnerung. Die Frage nach europäischer Erinnerung ist hier nicht länger die Frage nach einem Kern an europäischen Ereignissen, sondern nach historisch kontingenten Veränderungen in den Rahmen, in denen vergangene Ereignisse mit Sinn versehen werden. Das europäische Moment wird also nicht im Deutungsträger selbst gesucht, sondern in der Art und Weise, wie an ihn erinnert wird. Im Vordergrund stehen der Umgang mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und die sich anschließenden Erinnerungskonflikte. Insbesondere der Holocaust-Erinnerung wird dabei Modellcharakter zugesprochen. Zwei unterschiedliche Auffassungen von spezifisch europäischen Formen der Erinnerungsaushandlung stehen sich gegenüber : Einerseits wird 27 Georges Mink/Laure Neumayer (Hrsg.), L’Europe et ses pass¦s douloureux, Paris 2007, S. 22. Zutreffend unterstreichen die Autoren die Konflikthaftigkeit von Erinnerung. Ähnlich ist für Konrad H. Jarausch europäische Erinnerung die Summe der Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts, also letztlich ein »Albtraum«. Ders., Nightmares or Daydreams? A Postscript on the Europeanisation of Memories, in: Małgorzata Pakier/Bo Str”th (Hrsg.), A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, New York 2010, S. 309 – 320, hier S. 314. 28 Klaus Schönhoven, Europa als Erinnerungsgemeinschaft. Abschiedsvorlesung an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim am 13. September 2007, Bonn 2007, S. 16 – 24.

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gerade das Aushalten von Unterschieden zum integrierenden Moment einer spezifisch europäischen Form des Vergangenheitsbezuges; andererseits wird Erinnerungskonflikten dort ein europäischer Horizont zugeschrieben, wo sie die alten Differenzen in einer neuen Einheit zu überwinden versprechen. Daniel Levy und Natan Sznaider formulieren die zweite dieser beiden Argumentationsfiguren auf exemplarische Weise: »Die Kosmopolitisierung der Holocausterinnerung ist mittlerweile zu einem integralen Bestandteil europäischer Politik und Zivilgesellschaft geworden. Die Erinnerung an den Holocaust wird zu einer europäischen Erinnerung, die Europa dazu verhelfen kann, ein eigenes (wenn auch negatives) Wertesystem zu entwickeln.«29

Dieses »kosmopolitische Gedächtnisregime«, das die Holocaust-Erinnerung beiden Autoren zufolge im Laufe von Erinnerungskonflikten geformt habe, könne der Rahmen der Bearbeitung und Aufhebung all derjenigen Konflikte sein, die nach einem von Kriegen, politischen Strukturbrüchen und ethnischer Gewalt geprägten Jahrhundert die europäischen Gesellschaften durchziehen.30 Die globale Rekontextualisierung der Judenvernichtung geht einher mit einem Bewusstseinsgrad, der die Ansprüche der Aufklärung am Beginn des 21. Jahrhunderts fortführen und das Versprechen einer universalen Solidarität einlösen will. Es bedarf heute keiner damnatio memoriae mehr, sondern es genügt, bis zu dem Grad zu abstrahieren, ab dem das individuelle Opfer im Vordergrund steht.31 Von hier aus erschließt sich das Fundament eines summum malum, das auch im Wissen um das erfahrene Unrecht gespaltene Gesellschaften zusammenhalten kann. Der Erinnerungskonflikt ist in dieser Argumentationsfigur der Weg zu seiner eigenen Überwindung – denn das kosmopolitische Gedächtnis erweist sich als »über jeden Konflikt erhaben«32. Europäische Erinnerung als Etikett für den so antizipierten Konsens steht hier weiterhin im Zeichen der

29 Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001, S. 11. 30 Das betrifft nicht nur die »bloodlands«, sondern, wie Danielle Rozenberg herausgearbeitet hat, auch Spanien, wo in den letzten Jahren die Notwendigkeit des Holocaust-Gedenkens verinnerlicht wurde. Dies., Espagne: penser la Shoah, penser l’Europe, in: Mink/Neumayer (Hrsg.), L’Europe et ses pass¦s, S. 50 – 64, hier S. 57, sowie Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, New York 2011. 31 Ähnlich unterstreichen Ren¦ Sigrist und Stella Ghervas, dass das Gedenken an Opfer das Hauptcharakteristikum europäischer Erinnerung sei. Dies., La m¦moire europ¦enne, S. 232 – 236. Das verbindende Element der Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges betont auch Dan Diner und stellt Konvergenzen von Erinnerungsnarrativen und Praktiken heraus, die zu einem europäischen Gründungsereignis werden können. Ders., Restitution and Memory : The Holocaust in European Political Cultures, in: New German Critique 90 (2003), S. 36 – 44, hier S. 36. 32 Levy/Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 12.

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Homogenisierung, die auch das nationale Erinnerungsregime kennzeichnete.33 Dass vor diesem Hintergrund der politische Horizont eines solchen Arguments historische Paten hat, ist wenig verwunderlich. Am deutlichsten formuliert ihn Gesine Schwan: »Für ein zukünftiges gemeinsames Europa, das als Europäische Union zusammenwächst und zugleich ein verantwortlicher weltpolitischer Akteur sein soll, käme es aber gerade darauf an, gemeinsame Erinnerungen an vergangene Gegnerschaften und Konflikte zu entwickelten, um zu einer gemeinsamen europäischen Identität zu gelangen. Das hieße zunächst, die unterschiedlichen Perspektiven des persönlichen kommunikativen Gedächtnisses ebenso wie des jeweils nationalen kulturellen Gedächtnisses herauszuarbeiten, gegenseitig auszutauschen und eine Ebene zu gewinnen, wo diese Unterschiede sich treffen könnten.«34

Der mitgedachte Zielpunkt einer derartigen Annäherung konflikthafter Erinnerungsnarrative ist die Verwandlung der EU in einen super state – ganz nach dem Muster der idealisierten Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts.35 Geleitet durch dieses Ziel versuchen zahlreiche Initiativen, durch eine Verschränkung von Gewaltnarrativen in den verschiedenen nationalen Geschichten »aus den Bürgern der Mitgliedstaaten Europäer zu machen«36. Symptomatisch dafür sind Europamuseen, deren geschichtspolitische Mission darin besteht, vermeintliche europäische Erinnerungslücken zu schließen und Erinnerung zu einer politischen Handlungskategorie zu machen.37 Eine nicht nur katalysatorische, sondern konstitutive Funktion für das symbolische Ganze Europas wird Erinnerungskonflikten in einer zweiten Argumentationsfigur zugeschrieben, die sich im Laufe der letzten Jahre zur Mainstreamposition entwickelt hat. Auch hier werden die wiederkehrenden Konflikte um Deutungen als Zeichen für die unvollendete erinnerungspolitische Inte33 Kritisch bemerken diesen Aspekt auch Gensburger/Lavafre, D’une »m¦moire« europ¦enne, S. 13. 34 Gesine Schwan, Europäische Erinnerungskulturen, in: Schulte-Noelle/Thoss (Hrsg.), Abendland unter?, S. 145 – 149, hier S. 148. 35 S. Ute Freverts Plädoyer für eine europäische »Gedächtnisoffensive« nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts. Dies., Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003, S. 168, sowie auch Chiara Bottici, European Identity and the Politics of Remembrance, in: Karin Tilmans/Frank van Vree/Jay Winter (Hrsg.), Performing the Past. Memory, History, and Identity in Modern Europe, Amsterdam 2010, S. 335 – 359; Jarausch, Nightmares or Daydreams?, S. 310. 36 Schönhoven, Europa als Erinnerungsgemeinschaft, S. 13. Ähnlich auch bei Jarausch, Nightmares or Daydreams?, S. 317 – 319. Jarausch fordert allerdings auch die kritische Distanz von Historikern ein, damit diese nicht einfach nur zu »naive promoters of Euromemory« werden. 37 Camille Maz¦, Des usages politiques du mus¦e — l’¦chelle europ¦enne. Contribution — l’analyse de l’europ¦anisation de la m¦moire comme cat¦gorie d’action publique, in: Politique europ¦enne 37 (2012), H. 2, S. 72 – 100, hier S. 85.

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gration Europas verstanden. Als Antwort darauf plädieren Autoren wie Claus Leggewie, Aleida Assmann oder Volkhard Knigge aber nicht für eine Überwindung, sondern für eine zivilisierende Aushandlung von Erinnerungskonflikten, welche die Anerkennung von Differenz zum Medium einer neuen Form sozialer Integration macht.38 Für sie sind »die Erörterung und Anerkennung der strittigen Erinnerungen genauso hoch [zu] bewerten wie Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen«39. Die Bezeichnung europäische Erinnerung suggeriert eine grundlegende Abkehr vom Homogenisierungsdruck nationalstaatlicher Erinnerungsregime, indem anerkannte Erinnerungsdifferenzen im politischen Zielhorizont europäischer Integration nebeneinander bestehen. Für Hans Henning Hahn bedarf Erinnerungspolitik fortan eines »Verhaltenskodex«, »dessen wichtigster Teil der Schutz der Autonomie der einzelnen ›Gedächtnisgemeinschaften‹ wäre«40. Das Modell der Holocaust-Erinnerung, das bei Leggewie als innerster Kern einer europäischen Erinnerungskultur oder bei Assmann noch griffiger als »Gründungsmythos« für Europa figuriert, wird so zum Schlüssel einer allgemeinen Diskursöffnung erhoben. Denn in dessen universalisierter Opfererinnerung könnten verschiedene und auch widersprüchliche Erinnerungen in »dialogische[r] Bezogenheit und gegenseitige[r] Anschlussfähigkeit«41 koexistieren und alle bisher unterdrückten Stimmen im Disput um die Bedeutung der Vergangenheit hörbar werden. Allerdings besteht der Preis einer solchen Öffnung in einer Depolitisierung, bei der die Antagonismen tradierter Selbst- und Fremdbilder teilweise aufgehoben werden.42 Dabei geht es für Aleida Assmann jedoch nicht um die Schaffung einer alternativen Meistererzählung, vielmehr gelte es, »to diminish the destructive differences of national memories by making them compatible with each other«43. 38 Claus Leggewie, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 7; Volkhard Knigge, Zur Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25/26 (2010), S. 10 – 16; Aleida Assmann, Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur, Wien 2012. 39 Claus Leggewie, Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (2009), H. 2, S. 81 – 93, hier S. 82. 40 Hans Henning Hahn, Geschichtspolitik und binationale Beziehungen. Plädoyer für einen erinnerungspolitischen Verhaltenskodex, in: Ders./Traba (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte 4, S. 159 – 173, hier S. 171. S. auch Arnd Bauerkämpers Plädoyer für eine empathiegeleitete europäische Erinnerung, die sich indes nicht auf den Holocaust beschränken könne. Ders., Das umstrittene Gedächtnis, Paderborn 2012, S. 392 – 401. 41 Assmann, Auf dem Weg, S. 62. 42 »Such a European memory would not provide a platform for political legitimization; rather, it would work against exaggerated self-images and antagonistic images of others.« Aleida Assmann, Europe. A Community of Memory? Twentieth Annual Lecture of the GHI, 16. 11. 2006, in: GHI Bulletin 40 (2007), S. 11 – 25, hier S. 23. 43 Assmann, Auf dem Weg, S. 38. Auch Heidemarie Uhl argumentiert ähnlich zu diesen An-

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Obwohl diese Ansätze für sich selbst beanspruchen, als unparteiische Schiedsrichter die Regeln für die gerechtere Austragung von Erinnerungskonflikten zu formulieren, ergreifen ihre Autoren tatsächlich Partei. Die Rolle als Gründungsmythos, die hier der Holocaust-Erinnerung zugesprochen wird, legitimiert – intendiert oder unintendiert – eine westeuropäische Erinnerungsund Kulturpolitik, in deren Rahmen das Maß an geleisteter Erinnerungsarbeit zum Maßstab vermeintlicher Europäizität wird. Mit anderen Worten lässt sich anhand der Holocaust-Erinnerung die Positionierung eines Erinnerungsraumes zwischen europäischen Zentrum und europäischer Peripherie bestimmen. Mit der Stockholmer Erklärung aus dem Jahr 2000 bekannten sich die Regierungen praktisch aller europäischer Staaten zum singulären Charakter des Holocaust und betonten seine Ausnahmestellung in der Erinnerung. Während diese erinnerungspolitische Festschreibung in vielen westeuropäischen Ländern nur eine bereits hegemoniale Erinnerung kodifizierte, standen ihr in den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten, welche die Stockholmer Erklärung gleichermaßen unterzeichneten, zusätzlich die Gewalterfahrungen des Stalinismus gegenüber – und das Bedürfnis, dieser Erinnerung in Europa stärkeres Gehör zu verschaffen. Doch hier offenbarte das Paradigma der Holocaust-Erinnerung ein ihm eigenes Paradox: Einerseits fordert es seine Anwendung auf andere historische Gewalterfahrungen ein und verspricht Anerkennung im Rahmen europäischer Erinnerung. Wird es zur Repräsentation anderer Gewalterfahrungen aber tatsächlich auf konkrete historische Deutungsträger bezogen, so erwächst daraus in der Perspektive der Holocaust-Erinnerung ein Vergleich, der die Holocaust-Erinnerung in ihrer fundierenden Rolle relativiert und bedroht. In der Folge konnte die Rede vom Gründungsmythos Holocaust den Eisernen Vorhang in der erinnerungspolitischen Landschaft letztlich nicht überwinden, sondern perpetuierte diese Teilung vielmehr. Als zum Beispiel die kurz darauf zur EU-Kommissarin berufene lettische Politikerin Sandra Kalniete 2004 während einer Rede auf der Leipziger Buchmesse den Stalinismus als »gleichermaßen verbrecherisch« gegenüber dem Nationalsozialismus bezeichnete, rief dies in Deutschland heftige Reaktionen hervor, erschien jedoch aus osteuropäischer Perspektive offensichtlich.44 Auch ein zweites Beispiel macht deutlich, sätzen, dass gerade durch die Erinnerung an Konflikte Europa zu einem symbolischen Ganzen werde. Dies., Wozu braucht Europa ein Gedächtnis?, in: Bieber/Drechsel/Lang (Hrsg.), Kultur im Konflikt, S. 55 – 59, hier S. 59. 44 Vgl. einerseits Salomon Korn, NS- und Sowjetverbrechen. Sandra Kalnietes falsche Gleichsetzung, in : Süddeutsche Zeitung, 31. 03. 2004, S. 13. Auf der anderen Seite Adam Krzemin´ski, To odprysk niemieckiej debaty na temat odpowiedzialnos´ci i za komunizm, i za nazizm [Das ist ein Splitter der deutschen Debatte über die Verantwortung sowohl für den Kommunismus als auch den Nationalsozialismus], in: Gazeta Wyborcza, 28. 03. 2004.

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dass das Modell der Holocaust-Erinnerung der osteuropäischen Erinnerung an den Stalinismus entgegen den Vorhersagen von Assmann und Leggewie keinen Raum innerhalb einer europäischen Erinnerung schaffen kann: So richtete das Europäische Parlament 2008 für den 23. August einen »Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus« ein, für den sich besonders ostmitteleuropäische und baltische Parlamentarier eingesetzt hatten. In seiner Bezeichnung überlappt dieser Gedenktag offenkundig mit dem ebenso europäisch sanktionierten Holocaust-Gedenktag am 27. Januar.45 Folglich stehen zwei sich ausschließende Narrative von Massengewalt des 20. Jahrhunderts einander gegenüber, die beide für sich eine Erinnerung als europäisch in Anspruch nehmen und jeweils eigene Inhalte in dieser Erinnerung betont wissen wollen. Dabei zeigt der 23. August auch, wie Anspruch und Geltungsbereich dieser dilatorischen europäischen Erinnerung auseinanderklaffen, denn als Gedenktag wurde er bislang nur in ostmitteleuropäischen EU-Beitrittsländern und in Schweden verankert. Die scheinbar gleichberechtigte Erinnerung an den Stalinismus in Osteuropa bleibt unvereinbar mit dem Imperativ des Holocaust-Gedenkens. Ein drittes Beispiel zeigt, dass dieses Problem nicht nur entlang einer OstWest-Achse verläuft. Auch im spanischen Verständnis von europäischer Erinnerung wird die Integrationswirkung der Holocaust-Erinnerung nur anerkannt, wenn sie die eigene Erfahrung von Massengewalt während des Bürgerkriegs von 1936 bis 1939 explizit einschließt. Der nationalsozialistischen Diktatur muss also immer auch der entstehende franquismo zur Seite gestellt werden. Mit der EU-Erweiterung von 2004 gewann diese Frage neue Relevanz, da Spanien, von den ehemaligen Achsenmächten und Portugal abgesehen, fortan nicht mehr der einzige EU-Mitgliedsstaat mit eigener Diktaturerfahrung war. Angesichts der doppelten Herausforderung durch die Holocaust-Erinnerung und den Umgang mit dem Stalinismus wird im spanischen Erinnerungsdiskurs, nach dem »Pakt des Schweigens«46 während der transiciûn, nunmehr der eigene Umgang mit der memoria histûrica explizit als Öffnungsprozess in Richtung Europa thematisiert.47 In der als mustergültig verstandenen Aufarbeitung von Bürgerkrieg und 45 Vgl. die offizielle Bezeichnung des Holocaust-Gedenktages in Deutschland als »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus«. 46 Carolyn P. Boyd, The Politics of History and Memory in Democratic Spain, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 617 (2008), S. 133 – 148, hier S. 135. 47 Exemplarisch hierzu Ulrich Beck, El milagro europeo [Das europäische Wunder], in: El Pa†s, 27. 03. 2005 und Joan Saura, Memoria antifacista [Antifaschistische Erinnerung], ebd., 10. 09. 2004. Ansätze zu einem Vergleich der spanischen Selbst- und Fremdbilder von Diktaturerfahrung bietet am Beispiel Polens Claudia Kraft, »Europäische Peripherie« – »Europäische Identität«. Über den Umgang mit der Vergangenheit im zusammenwachsenden Europa am Beispiel Polens und Spaniens, in: Jahrbuch für europäische Geschichte 4 (2003), 11 – 37, ohne jedoch die Holocaust-Referenzen zu behandeln.

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franquismo erhält in diesem Verständnis das Modell der Holocaust-Erinnerung ein unverzichtbares, da ebenfalls europäisierbares Komplement.48 Diese divergenten Reaktionen auf ein europäisiertes Holocaust-Gedenken hängen mit einem potenziellen Interpretationsreichtum zusammen, der jeden Deutungsträger dies- und jenseits der nationalen Ebene auszeichnet. Selbst wenn Erinnerungen artikuliert werden, die den Mustern des Assmann’schen »dialogischen Erinnerns« oder der Leggewie’schen »konzentrischen Kreise« gerecht werden, aktivieren sie im diskursiven Feld gleichzeitig immer auch andere, oftmals ältere Interpretationsschemata, die den intendierten Zivilisierungseffekt durchkreuzen. Nachdem beispielsweise am 25. Januar 2006 42 Abgeordnete in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gegen eine Initiative zur »Verurteilung von Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime« gestimmt hatten, forderten zwei französische Historiker die französische Kommunistische Partei auf, das unter sozialistischer Herrschaft begangene Unrecht endlich zu verurteilen.49 Der Ruf nach einer solchen Anerkennung von Opfern war aber bereits von deren Seite als anmaßender Vergleich zurückgewiesen worden. Deutungsträger, die wie der Stalinismus unterschiedliche europäische Öffentlichkeiten miteinander verbinden, sind in diesen Öffentlichkeiten immer auch mit älteren Deutungsmustern verbunden, hier der Kontiˇ istka 1937/38.50 Im gesellnuitätslinie der jakobinischen Terreur 1793/94 zur C schaftlichen Feld von Vergangenheitsdeutungen begegnen, überschreiben und verflechten sich unterschiedliche, selbst gegensätzliche Deutungsregeln. Frühere Deutungsmuster werden durch neue nicht abgelöst, sondern bleiben oft gleichzeitig bestehen. Diese Verflechtungen von Erinnerungen bedingen ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft. Diese zeigt sich hier in der Möglichkeit einer sich gegenseitig stabilisierenden Unterscheidung von zwei Regionen europäischer Erinnerung, die in ihrer jeweiligen normativen Deutung Europas zugleich unmöglich und unauflöslich erscheinen muss. Die Erinnerung an den Stalinismus soll zum einen in das Paradigma der Holocaust-Erinnerung integriert werden, zum anderen aber dessen Singularität nicht infrage stellen. Die vermeintliche Anerkennung der Stalinismus-Erinnerung durch den Gründungsmythos Holocaust verweist diese in der vermeintlichen Diskursöffnung tatsächlich auf einen zweiten Platz. Der Gründungsmythos Holocaust ist 48 S. Hermann Tertsch, El cementerio de Viena [Der Wiener Friedhof], in: El Pa†s, 13. 04. 2004, und Leserbrief von Tom‚s Diez Vivas, in: ABC, 08. 01. 2010. 49 Entschließung 1481 (2006) des Europarats betr. die Notwendigkeit der internationalen Verurteilung von Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime (Januar 2006), www.coe.int/t/d/ Com/Dossiers/PV-Sitzungen/2006-01/Entschl1481_kommunist.asp (30. 09. 2013), und JeanLouis Margolin/Nicolas Werth, Retour sur le communisme d’Êtat, in: Le Monde, 03. 02. 2006. 50 Vgl. Dmitry Shlapentokh, A Problem in Self-Identity. Russian Intellectual Thought in the Context of the French Revolution, in: Journal of European Studies 26 (1996), S. 61 – 76.

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daher heute – und in dieser Diagnose steckt selbst noch keine Wertung – das Zeichen eines Erinnerungskonfliktes, und nicht schon seine Überwindung. Im Spiegel dieser Diskussion um europäische Erinnerung blenden die heutigen Mainstreampositionen um Assmann und Leggewie, obwohl sie sich in ihrer Argumentation vielfältig der Heterogenitäts- und Konfliktsemantik bedienen, doch eine ganz entscheidende Konfliktlinie aus, zu der sie sich gleichzeitig eindeutig positionieren. Das Werben für das Aushalten von Differenz und die Anerkennung der Erinnerung des Anderen transportiert implizit ganz bestimmte Kräfteverhältnisse innerhalb Europas und schreibt diese letztlich fort. Damit führt dieser Strang im akademischen Diskurs um europäische Erinnerung zum jetzigen Zeitpunkt der Debatte auf eine Herausforderung, die an anderer Stelle Małgorzata Pakier und Bo Str”th trefflich formuliert haben: Europäische Erinnerung sei weder homogenisierend noch essenzialisierend zu verstehen, sondern vielmehr müsse die Pluralität europäischer Erinnerungen hervorgehoben werden.51 Wenn auch implizit, grenzen sie sich damit deutlich von einer weit verbreiteten Tendenz der Erinnerungsforschung ab, das dem erinnerten Gegenstand einen bestimmten Grad an Europäizität zuschreibt, um im gleichen Atemzug die Erforschung der inhärenten Vielstimmigkeit zu vernachlässigen.52 Dabei erscheinen gerade Erinnerungskonstruktionen im europäischen Kontext besonders vielversprechend.53 Der skizzierte Dualismus veranschaulicht zudem ein weiteres methodisches Problem der Erinnerungsforschung, das in den bisherigen Arbeiten zu europäischer Erinnerung deutlich zutage tritt. Wenn Forscher wie Claus Leggewie aus der Analyse eben dieser holocaustzentrierten Erinnerung Postulate ableiten, wie europäische Erinnerung gelingen könne, tragen sie zur Normierung eben dieser

51 Małgorzata Pakier/Bo Str”th, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), A European Memory?, S. 1 – 20, hier S. 13. 52 Gegen explizite und implizite Vereinheitlichung von Erinnerungsnarrativen wenden sich auch Wolfgang Stephan Kissel/Ulrike Liebert, Europäische Erinnerungskonstellationen – zum Wandel nationaler Narrative seit 1989, in: Dies. (Hrsg.), Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989, Berlin/Münster 2010, S. 9 – 29, hier S. 10. 53 Ein ähnlicher Appell findet sich bei Michel Margue, Lieux de m¦moire au Luxembourg, lieux de m¦moire en Europe, in: Beno„t Majerus/Sonja Kmec/Ders./Pit P¦port¦ (Hrsg.), D¦passer le cadre national des »Lieux de m¦moire«. Innovations m¦thodologiques, approches comparatives, lectures transnationales, Brüssel 2009, S. 9 – 22, hier S. 20. Auch an anderer Stelle wurde bemerkt, dass die Gleichsetzung von EU und Europa in der Debatte um Erinnerung irreführend ist, s. Pakier/Str”th, Introduction, S. 13, sowie Christoph Kühberger/Clemens Sedmak, Vom Erfinden, Entdecken und Erarbeiten einer europäischen Geschichtskultur. Zur Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Europäische Geschichtskultur – Europäische Geschichtspolitik. Vom Erfinden, Entdecken, Erarbeiten der Bedeutung von Erinnerung und Geschichte für das Verständnis und Selbstverständnis Europas, Innsbruck 2009, S. 9 – 15, hier S. 10.

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Erinnerung bei. Seine Überlegungen, die »Erfolgsgeschichte«54 der europäischen Integration seit 1945 heranzuziehen und so Osteuropa in die europäische Erinnerung einzubeziehen, zielt sowohl auf den wissenschaftlichen wie auch den politischen Diskurs. Leggewies Forderung steht hier nur stellvertretend für zahlreiche weitere Beiträge, die sich für die Heterogenität einer europäisch verstandenen Erinnerung sensibel zeigen und dennoch offensiv eine eigene Position innerhalb des Erinnerungsdiskurses vertreten. Peter Funke hat es bereits 2002 festgestellt: Erinnerungsforscher sind mit einem permanenten Drahtseilakt konfrontiert, sobald sie sich auf das verminte Gelände europäischer Erinnerung wagen. Da ein Ende der Inventarisierungsbemühungen europäischer Erinnerungsorte nach wie vor nicht abzusehen sei, schlüpfe der Erinnerungsforscher »unversehens in eine politische Rolle und wird selbst zum Baumeister und Gestalter einer europäischen Gedächtnislandschaft«55. Es ist unvermeidlich, dass die sozial-, geistes- und kulturwissenschaftliche Debatte die zukünftige Form ihres Gegenstands mitgestaltet. Sie muss jedoch ihre konstruktive Teilhabe transparent halten. Für den hier vorliegenden Band leiten wir daraus zwei forschungspraktische Forderungen ab. Erstens muss Erinnerungsforschung im Allgemeinen, und mit Bezug auf Europa im Besonderen, selbstreflexiv sein, also ihre konstruktive Rolle im Erinnerungsdiskurs bedenken. Zweitens müssen Methoden und Begriffsbildungen einer solchen Erinnerungsforschung aus der Anschauung des Gegenstandes erwachsen, Europa und europäische Erinnerung also induktive Kategorien werden, um für Erinnerungskonflikte tatsächlich zu sensibilisieren.

Theorie und Methode: Verflochtene Erinnerungen Dieser Band begegnet den im Forschungsstand aufgeworfenen Problemen mit einem neuen Zugriff auf den Gegenstand europäische Erinnerung. Als Erinnerungen werden im Folgenden Akte der geistigen Repräsentation bezeichnet, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden. Das abwesende Vergangene wird mittels eines Zeichens im Bewusstsein vergegenwärtigt.56 Erinnerungen zeichnet dabei aus, dass das vorgestellte Abwesende als vergangen 54 Leggewie, Schlachtfeld, S. 93. 55 Peter Funke, Europäische lieux de m¦moire oder lieux de m¦moire für Europa im antiken Griechenland?, in: Jahrbuch für europäische Geschichte (2002), H. 3, S. 3 – 16, hier S. 10. 56 Vor dem Hintergrund der »Krise der Repräsentation« sind solche Zeichen selbstverständlich immer mehr als reine ›Abbilder‹, s. dazu synthetisch Hans Ulrich Gumbrecht, Krise der Repräsentation, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1984, Sp. 846 – 853.

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begriffen wird, sie folgen also einer hermeneutischen Grundstruktur.57 Insofern erfolgt die Zuschreibung als vergangen nicht objektiv, sondern unterliegt einer standortgebundenen Perspektive in der Gegenwart. Das europäische Moment einer Vergangenheitsdeutung wird weder in das gedeutete Objekt selbst gelegt noch in die Form dieser Deutung, sondern in ihr Selbstverständnis. Europäisch sind in diesem Sinne Erinnerungshandlungen, die sich als europäisch verstehen. Die Leitfrage des Bandes lautet also: Was ist das gemeinsame Moment all derjenigen Interventionen, in denen Akteure einen Gegenstand als vergangen und als europäisch deuten? Erst eine solche Herleitung aus den Deutungen der Akteure, unter Verzicht auf eine präjudizierte Definition Europas, kann einer Vorstellung von europäischer Erinnerung das Terrain ebnen, welche die charakterisierten Spuren von nationalstaatlichen Denkgewohnheiten überwindet.

Der gemeinsame Ausgangspunkt: Zeitgenössische europäische Deutungen Alle Fallstudien dieses Bandes greifen vor diesem Hintergrund Deutungsträger auf, die gegenwärtig als vergangen und als europäisch gedeutet werden. Eine Studie zu Karl dem Großen eröffnet den Hauptteil nicht etwa deshalb, weil er der ›Vater Europas‹ ist, sondern weil er in bestimmten und identifizierbaren Fällen als ›Vater Europas‹ begriffen wird. Ebenso wenig hat eine Studie zu Flucht und Vertreibung ihren legitimen Platz in diesem Buch, weil das historische Geschehen in Europa stattfand oder weil die Austragung des Konfliktes über diese Erinnerung europäisch ist. Vielmehr gibt die diskursive Mobilisierung von Europa in diesem geschichtspolitischen Konflikt den Ausschlag. Die Themen der sieben Fallstudien interessieren nicht als historische Subjekte, materielle Orte oder Ereignisse, sondern ausschließlich in dem Zeichencharakter, den diese durch eine Objektivierung von Erfahrung erlangt haben. Alfred Schütz und Thomas Luckmann unterscheiden unterschiedliche Typen von Objektivierungen, die von Körperbewegungen über Erzeugnisse bis zu Zeichen reichen. Für die Frage nach der Objektivierungsform von Erinnerungen ist ihre hermeneutische »Als-Struktur« bedeutsam. Damit auf eine Erfahrung als vergangen Bezug genommen werden kann, muss sich ihre Bedeutung von den spezifischen körperlichen, räumlichen, sozialen und besonders zeitlichen Umständen ablösen, denen sie entstammt. Eine solche Ablösung wird erst auf der komplexen Stufe der Objektivierungsformen möglich, die bei Schütz und Lu57 Die Formulierung der hermeneutischen Struktur als »Etwas als Etwas« findet sich klassisch im Abschnitt »Verstehen und Auslegung« in: Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 149.

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ckmann das Zeichen darstellt.58 Um den Zeichencharakter der Deutungsträger von Erinnerungen bewusst zu halten, werden sie in diesem Band stets kursiviert. Die Bezeichnung ›Deutungsträger‹ soll die beiden theoretischen Prämissen von Erinnerungsgeschichte bewusst halten, die diesem Band zugrunde liegen. Sie signalisiert zunächst, dass Deutungsträger wie Versailles oder Srebrenica von ganz unterschiedlichen Akteuren aufgegriffen und mit ebenso unterschiedlichen Bedeutungen versehen werden. In der Mannigfaltigkeit dieser Bedeutungszuschreibungen ist Europa folglich eine – historisch kontingente – Vorstellung, welche an Deutungsträger angelegt werden kann. Zugleich drückt diese Bezeichnung aber auch die Annahme aus, dass es in dieser Pluralität möglicher Vergangenheitsdeutungen eine minimale Kontinuität gibt, durch die diese in einer Erinnerungsgeschichte aufeinander bezogen werden können. Die Frage lautet somit, welche früheren Bedeutungen europäische Vergangenheitsdeutungen ablösen, mit welchen Letztere sich verbinden, welchen Erfahrungsraum sie in sich tragen und welchen Erwartungshorizont sie eröffnen. Die Fallstudien erschließen ihren jeweiligen Deutungsträger ausgehend von einer zeitgenössischen europäischen Deutung, wobei jegliches Vorverständnis des Begriffes Europa ausgeklammert und die Epistemik der national affirmativen Erinnerungsforschung systematisch umgekehrt wird. Statt also den »methodologischen Nationalismus«59 schlicht durch einen ebenso fragwürdigen »methodologischen Europäismus« zu ersetzen, stützen sich die Autoren auf zwei Heuristiken, um nicht doch Vorverständnisse von Europa durch die Hintertür in die Untersuchung zu holen. Die Heuristik der Vielstimmigkeit erschließt die Heterogenität von Erinnerung und nimmt an, dass jede Deutung in wechselseitiger Beeinflussung zu anderen Deutungen steht. Komplementär dazu betont die Heuristik der Vielschichtigkeit, dass Erinnerungen immer auf frühere Erinnerungen verweisen. Der Interpret wird somit auf immer weiter zurückliegende Bedeutungsschichten zurückgeführt, niemals jedoch auf einen wie auch immer gearteten »Kern«, als dessen »Überrest« Erinnerungen dann gerne nostalgisch verstanden wurden. Die Methodik dieses Bandes schlüsselt somit die Heterogenität von europäischer Erinnerung synchron und diachron auf. Sowohl die Heuristik der Vielstimmigkeit als auch die Heuristik der Vielschichtigkeit setzen sich in eine Reihe konkreter Untersuchungsfragen um, welche die Ausarbeitung und Diskussion 58 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 355 – 386. Für den Begriff der ›Erfahrung‹ als »deutende Aneignung erlebter Wirklichkeit« s. Jörn Leonhard, Europäisches Deutungswissen in komparativer Absicht. Zugänge, Methoden und Potentiale, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 4 (2006), H. 3, S. 341 – 363, hier S. 348. 59 Ulrich Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter, Frankfurt am Main 2002, S. 70 – 94.

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der Fallstudien dieses Bandes begleitet und geprägt haben. Sie sollen daher im Folgenden kurz dargelegt und begründet werden. Heuristik der Vielstimmigkeit. Erinnerungen schreiben ein Individuum nicht ausschließlich in eine Großgruppe ein, sondern drücken in verschiedenen, sich teilweise überlappenden cadres sociaux, wie beispielsweise die von Familie, Region oder Schicht, stets mehrere Gruppenbezüge aus.60 Dies war die zentrale Einsicht, mit der Maurice Halbwachs »Erinnerung« zum Gegenstand der Sozialwissenschaften machte. Die situativ natürlich zutreffende Hypothese der »Identitätskonkretheit von Erinnerungen«61 hat diese Einsicht vergessen lassen. Die konventionelle Fragestellung der Erinnerungsforschung konzentrierte sich entsprechend darauf, wie bestimmte Erinnerungen die Identität einer einzelnen Gruppe mitkonstituieren. Jede Erinnerung, so aber unsere Prämisse, mit der wir an die frühe Intuition wieder anschließen wollen, muss stattdessen als soziale Handlung verstanden werden. Dazu ist ein Wechsel von der Frage nach Identität zu einem Fragen nach Analogien nötig. Erinnerungen weisen Analogien zu vielen unterschiedlichen Deutungsmustern gleichzeitig auf. Genau in ihrer jeweiligen Aufnahme oder Abgrenzung von ähnlichen Deutungsmustern schaffen sie Bedeutung. Diese Bedeutungen können frühere Bedeutungen fortsetzen oder verändern – in diesem Moment liegt der Handlungscharakter von Erinnerung. Die Aufgabe der Erinnerungsforschung ist es also, in der einzelnen Vergangenheitsdeutung die ganz unterschiedlichen, jeweils identitätskonkreten Deutungsmuster auszumachen, die ihre Sinnkonstitution ermöglichen. Mit anderen Worten: Erst die Analogiesetzung von identitätskonkreten Deutungsmustern mit anderen identitätskonkreten Deutungsmustern, wie religiöse, politische, regionale oder soziale Zugehörigkeiten, ermöglicht die Sinnhaftigkeit einer Erinnerungshandlung. So können sich solche unterschiedlichen Deutungsmuster auf einen Deutungsträger beziehen, der folglich für unterschiedliche soziale Gruppen identitätskonkret wird.62 Die Frage gegenüber jeder als europäisch artikulierten Vergangenheitsdeutung der Fallstudien lautet also: Welche anderen Deutungsmuster werden in dieser Deutung implizit oder explizit mobilisiert? Ist die europäische Selbstbeschreibung mit einem bestimmten politischen Diskurs verknüpft? Oder sind es gerade Intellektuelle und Wissenschaftler, die Europa zur Realutopie eines kosmopolitischen Diskurses machen? Nimmt Europa etwa eine bestimmte Position in gewissen religiösen Argumentationsfiguren ein? Die Bezugnahmen und 60 F¦lix Krawatzek/Rieke TrimÅev, Eine Kritik des Gedächtnisbegriffes als soziale Kategorie, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 159 – 176. 61 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2007, S. 39. 62 Feindt/Krawatzek/Mehler/Pestel/TrimÅev, Entangled Memory, S. 31 – 33.

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Differenzen zwischen verschiedenen Deutungsmustern erschließen sich über die Analyse der »Regeln«, denen die Akteure in ihren Aushandlungsprozessen folgen und damit immer auch verändern. Fassbar werden diese Regeln beispielsweise anhand der Sprecher- und Adressatenfunktionen sowie der Medien, durch die Erinnerung kommuniziert wird. Doch diese jeder einzelnen Vergangenheitsdeutung eigene Vielstimmigkeit ist nicht immer einfach zu beobachten. Je unumstrittener eine bestimmte Deutung der Vergangenheit scheint, umso weniger offensichtlich sind die in ihr enthaltenen vielfältigen Gruppenbezüge und Verweise. In Momenten des offenen Erinnerungskonfliktes allerdings werden Bezugsdiskurse im Sprechen der erinnernden Akteure, sowohl in positiver als auch in ablehnender Weise, eher sichtbar. Insofern haben die Autoren Erinnerungskonflikten in ihren Fallstudien eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Hier, so die Erwartung, enthalten Deutungen Referenzen auf andere Deutungen, die es ermöglichen, ein diskursives Feld induktiv zu erschließen. Die Deutungskämpfe um Srebrenica reduzieren sich beispielsweise nicht auf die Deutungsmuster innerhalb der Nachfolgestaaten Jugoslawiens, sondern schließen durch die international geführte militärische Intervention und die Anbindung an globale Erinnerungsrahmen auch andere Gruppen, wie niederländische Blauhelmsoldaten, die griechischorthodoxe Kirche oder internationale Menschenrechtsorganisationen, mit ein. Erst eine solche Kontextualisierung erlaubt es zu verstehen, mit wem und gegen wen europäische Vergangenheitsdeutungen heute argumentieren, welche Interventionen mit ihnen gemacht werden – kurz, welche unterschiedlichen Bedeutungen Europa in den Diskursen zukommt, die heute unsere Vergangenheiten konstituieren. Unsere Hypothese war somit von vornherein, dass Europa derzeit eher der Kristallisationspunkt von Erinnerungskonflikten ist als der Bezugspunkt einer Versöhnung – auch wenn die Versöhnungsvision selbst natürlich zum argumentativen Arsenal dieses Konfliktes gehört. Heuristik der Vielschichtigkeit. Die Erinnerungsforschung zählt zu ihrem common ground, dass die Vergangenheit erst entsteht, indem wir uns auf sie beziehen. Dennoch wird die Analyse von Erinnerungen zeitgenössisch immer noch als Abtragen von Deutungsschichten verstanden, hinter denen dann die authentische Bedeutung einer Erfahrung »wiedergefunden« werden könnte. Dieser Tendenz begegnen wir in diesem Band mit zwei methodischen Instrumenten, welche die nicht zu hintergehende Dynamik und Wandelbarkeit von Vergangenheitsdeutungen zu ihrer Prämisse machen. Wie auch schon Astrid Erll dargelegt hat, sind Erinnerungen nicht nur im sozialen Raum plural, sondern auch in zeitlicher Dimension.63 Um diese 63 Erll, Travelling Memory, S. 11.

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Wandlungsprozesse von Erinnerungen sichtbar zu machen, fragen die Fallstudien systematisch nach der Aktualisierung von früheren Deutungsmustern, insbesondere bei Konflikten. Dafür schlagen sie an ausgewählten Stellen immer wieder eine gegenchronologische Analyserichtung ein. Um gleichfalls sichtbar zu machen, welche Erinnerungsmuster nicht fortgesetzt werden, verfolgen die Fallstudien ausgewählte Erinnerungskonflikte in chronologischer Blickrichtung. In den Bezugnahmen auf frühere Deutungsmuster stellt auch die am weitesten zurückliegende Erinnerung eines bestimmten Gegenstandes, also seine »erste« Deutung als vergangen, nicht die unmittelbare Verbindung zur zugrunde liegenden Erfahrung dar. Durch den Bezug auf andere frühere Erfahrungsräume ist sie in sich selbst vielschichtig. Wie die Erinnerungen an den Türken als Deutungsträger anschaulich machen, mobilisieren hier die frühesten Erinnerungen andere Deutungsträger, wie Sarazenen, Ismaeliten oder Hagarener. Dieses Zusammen- oder Gegenspiel unterschiedlicher Deutungsträger ist eine weitere methodische Konstante, die sich durch die Fallstudien zieht.

Zum Aufbau des Bandes Die Auswahl der sieben Fallstudien begründet sich aus diesen theoretisch-methodischen Überlegungen. Unser Anliegen war es nicht, einen Kanon einer vermeintlichen europäischen Erinnerungskultur zu definieren und ihm eine historische Tiefendimension zu verleihen, die »Repräsentativität« reklamieren könnte. Kriterium der Auswahl aller Fallstudien war vielmehr, dass ihr Gegenstand durch Politik, Zivilgesellschaft, die Medien oder Wissenschaft gegenwärtig als europäisch gedeutet wird. Aus dem so umrissenen Feld möglicher Themen wurden solche Deutungsträger ausgewählt, die eine möglichst große Bandbreite an unterschiedlichen sozialen Bezugsrahmen und ihren Verflechtungen sichtbar machen. Über den erwartbar wichtigen sozialen Rahmen der Nation hinaus zeigt jede Fallstudie auch Wechselwirkungen mit anderen Erinnerungsrahmen auf, beispielsweise religiösen Gruppenzugehörigkeiten oder politischen Ideologien. Als ebenso vielfältig erweisen sich die Medien der Erinnerung, die in den Fallstudien in ihren unterschiedlichen diskursiven Regelmäßigkeiten und Eigenlogiken betrachtet werden. Die Spannbreite reicht vom öffentlichen Diskurs, über politische Debatten hin zu rechtlicher Aufarbeitung. Ebenso werden politische Ritualisierung, populäre Geschichtsvermittlung und Geschichtsschreibung in ihrer diachronen Varianz betrachtet. Aber auch Gesten, Bilder und Architektur sind als Manifestationsformen von Erinnerungshandlungen Bestandteil der Analyse. Anders als es auf den ersten Blick erscheinen mag, unterliegt die Anordnung der Studien im Band keinem chronologischen Prinzip. Vielmehr hat der Ver-

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gleich der einzelnen Arbeiten zur analytischen Differenzierung von drei unterschiedlichen Modi geführt, die Erinnerungsprozesse in den betrachteten Beispielen annehmen. Der Band untergliedert sich entsprechend in drei Sektionen, die man mit Erinnerung als Traditionsstiftung, Erinnerung als Deutungsregie und Erinnerung als Deutungskampf überschreiben kann. Bevor die einzelnen Sektionen genauer vorgestellt werden, möchten wir kurz die Einsichten und Annahmen skizzieren, die ihrer Unterscheidung unterliegen. Die Zusammenschau der Fallstudien zeigt, dass nicht alle Deutungsträger ein gleichbleibend großer Möglichkeitsraum unterschiedlicher Interpretationen umgibt. In der Gesamttendenz nimmt der Grad ihrer interpretatorischen Verfügbarkeit ab, je näher Erinnerungen und vergangene Erfahrungen zeitlich beieinanderliegen. Allerdings lässt sich dieser Zusammenhang nicht schlicht auf einen proportionales Verhältnis von Zeitabstand und interpretatorischer Verfügbarkeit – und somit letztlich wieder ein chronologisches Prinzip – reduzieren. Vielmehr zeigen sich zwei unterschiedliche Faktoren für die Erklärung unterschiedlicher Deutungsspielräume als bedeutsam: Zunächst spielt tatsächlich ein solches temporales Kriterium eine Rolle, nämlich die zeitlichen Abstände zwischen Erfahrung (als deutender Aneignung einer Wirklichkeit), erster Erinnerung (also der erstmaligen Deutung einer Erfahrung als vergangen) und der zur Beobachterperspektive zeitgenössischen Erinnerung (also der letzten Deutung als vergangen). Ein solches temporales Kriterium ist der Erinnerungsforschung vertraut, seit Jan Assmann es als Differenzierungskriterium für unterschiedliche Modi von Erinnerung verwandte.64 Die eigentliche Neuerung, die für uns aus den Studien dieses Buches für das Verständnis für Erinnerung hervorgeht, hängt aber mit einem zweiten Faktor zusammen, der in der Erinnerungsforschung und ihrer Theoriebildung nicht systematisch berücksichtigt wurde: nämlich dem Zusammenhang von Erfahrungsobjektivierung und Erinnerungsobjektivierung. Im Theorieteil dieser Einleitung haben wir begründet, warum sich Deutungen in Erinnerungsprozessen auf eine ganz bestimmte Art und Weise von den sie verkörpernden Handlungen lösen, mithin eine zeichenhafte Objektivationsform besitzen. Nun kann man natürlich nicht nur nach der Objektivationsform von Erinnerungen, sondern auch nach der Objektivationsform von Erfahrung fragen65 – und nach ihrem Verhältnis untereinander. Man kann also fragen, ob Erfahrungsobjektivierung und Erinnerungsobjektivierung »artgleich« oder unterschiedlich sind. 64 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48. 65 Es gibt selbstverständlich auch andere Formen, in denen Deutungen von den sie verkörpernden Handlungen Unabhängigkeit erlangen – zum Beispiel Körperbewegungen oder auch Artefakte. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, S. 355 – 386. Schütz und Luckmann bezeichnen in ihrer diesbezüglichen Typologie die erste Form der Objektivierungen als »Handlungen«.

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Je ähnlicher die Erfahrungsobjektivierung der zeichenhaften Objektivierungsform der Erinnerung ist, umso mehr kann sie den Möglichkeitsraum von Erinnerungen vorstrukturieren. Dies ist das zweite Merkmal, durch das sich die drei nun zu skizzierenden Erinnerungsmodi unterscheiden, die den Aufbau des Bandes prägen.

Erinnerung als Traditionsstiftung Die Fallstudien zu Karl dem Großen, den Türken und den Wikingern thematisieren ein Paradigma von europäischer Erinnerung als Traditionsstiftung. Europa wird hier in die Vergangenheit verlagert und kann im Resultat dieser Logik eine Gegenwart fundieren, deren europäischer Charakter zu Unrecht noch keine genügende Anerkennung gefunden habe. Wie Klaus Oschema, Simon Hadler und Roland Scheel herausstellen, wird in solchen Deutungen die heutige Präsenz des Europagedankens in den unsere Erinnerungsprozesse strukturierenden Rahmen mit einer symbolischen Präsenz Europas in der historischen Erfahrung verwechselt. Es kommt also zu einer Naturalisierung oder Traditionsstiftung. Klaus Oschema demonstriert in seiner Studie die performativen Logiken eines bekenntnishaften Sprechens, das Karl den Großen ex post europäisiert. Simon Hadler untersucht anhand der Erinnerung an den Türken die Funktion von Feindbildern. Während seine Fallstudie zeigt, wie ein gefährlicher Anderer im Außen ein Bild von Europa generiert, verfolgen wir bei Roland Scheel, wie die Wikinger als Figur eines eingehegten Anderen im Inneren eine komplementäre Funktion erfüllen. Bezeichnenderweise erlaubt im Modus der Traditionsstiftung die hohe semiotische Verfügbarkeit des Deutungsträgers nicht nur eine große Freiheit in der Frage der Zuschreibungen, sondern findet mit Europa in der Vergangenheit gleichsam eine ganz besondere Form der Erinnerung wieder : Gemeint ist die triumphale Erinnerung, die das Erinnerungsdispositiv des Nationalstaates auszeichnete und deren Möglichkeit in Bezug auf den sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausbildenden Imperativ anerkennender Erinnerung von Niederlage und Schuld verloren ging. So wird exemplarisch in der Fallstudie zur Erinnerung an den Türken deutlich, wie bestimmte triumphale Gesten, die in der Gegenwart jenseits der Gesetze politischen Takts liegen, in vermeintlich ferne Zeiten verlegt werden – und so weiterhin Ausdruck finden.

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Erinnerung als Deutungsregie Ganz anders funktionieren europäisierende Aneignungsversuche im Falle der Erinnerung an Versailles. Friedemann Pestel präsentiert an diesem Beispiel die eigentümliche Ambivalenz von interpretatorischer Offenheit und einer gleichzeitigen eindeutigen Rahmung von Deutungsmöglichkeiten. Versailles konnte von unterschiedlichsten Akteuren in unterschiedlichen Kontexten als Metonymie eingesetzt werden, brachte dabei aber immer eine bestimmte Eigenlogik mit: Dies zeigt sich an den Oppositionspaaren von Krieg vs. Frieden und Monarchie vs. Republik, welche die Erinnerungsgeschichte von Versailles durchziehen. Die Fallstudie trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie ihre Erinnerungsgeschichte durch eine Analyse der Prozesse vorbereitet, in denen Versailles in der Erfahrung der Zeitgenossen, also der Generation der Erlebenden des 17. Jahrhunderts, als Deutungsträger konstituiert wurde. Dabei wird deutlich, dass die Errichtung der Schlossanlage von Beginn an Zeichencharakter besaß. Dadurch kommt es im intergenerationellen Wechselspiel zwischen den Erlebenden, den Miterlebenden und den Nacherlebenden gewissermaßen zu »Interpretationsübungen«, welche die erinnernden Analogieschlüsse von Anfang an mit gewissen Regeln versehen können. Gerade diese Kontinuität wird durch die »Artgleichheit« von Erfahrungsobjektivierung und Erinnerungsobjektivierung ermöglicht.

Erinnerung als Deutungskampf Die letzten drei Fallstudien stellen den Zusammenhang von Erinnerung, Europa und Gewalterfahrung in den Vordergrund. Gregor Feindt, Marcin Napiûrkowski und Daniela Mehler vollziehen nach, welche Rolle Referenzen auf Europa in Erinnerungsdiskursen spielen, denen nicht nur wegen des gewaltsamen Charakters der ihnen zugrunde liegenden Erfahrung, sondern auch in Hinblick auf deren zeitliche Nähe zur Gegenwart ein besonderes Konfliktpotenzial zukommt. Es zeugt davon, dass es zwar synchron viele unterschiedliche Deutungen von Flucht und Vertreibung, des Warschauer Aufstandes und Srebrenicas gibt, dass diese Vielfalt tatsächlicher Deutungen aber gerade nicht mit einem großen Deutungsspielraum verwechselt werden darf: Indem hier die einzelnen Erinnerungshandlungen und nicht der Deutungsträger selbst als europäisch verstanden werden, begreifen sich die einzelnen Deutungen selbst als alternativlos. Über die naheliegende Erklärung der Konflikthaftigkeit durch die Nähe zur Erfahrung hinaus zeigen die Fallstudien beim näheren Hinsehen ein interessantes Zusammenspiel von generationellen Deutungsprozessen auf. Jüngere

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Erinnerungsgeschichten spielen sich in jenem Zeitfenster von drei Generationen ab, das typischerweise entscheidend für Institutionalisierungsprozesse von Erinnerung ist – eine Tendenz, die mit noch größeren Deutungsspielräumen bereits im Modus der »Deutungsregie« zu finden ist. Jede Deutung findet noch vor den Augen der Generation der Erlebenden statt, der als Urheber jedweder Repräsentation eines Deutungsträgers eine Autorität über ihn zukommt. Dem immer wieder als Gründungsmythos Europas in Anspruch genommenen Holocaust widmet dieser Sammelband keine eigene Fallstudie. Seine Bedeutung spiegelt sich vielmehr in den Wechselwirkungen zwischen der Holocaust-Erinnerung und den Erinnerungen an Flucht und Vertreibung, den Warschauer Aufstand und Srebrenica wider. Im Zusammenhang dieser unterschiedlichen und gleichwohl verflochtenen Erinnerungsgeschichten wird deutlich, dass die Funktion von Europa als Argument in ihnen erstens weniger eindeutig und zweitens nicht notwendigerweise so zivilisierend ist, wie die sich herausbildende Mainstreamposition zu europäischer Erinnerung annehmen lässt. Die unterschiedlichen Querverweise und strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Fallstudien, die sich hier bereits andeuten, wird das Schlusskapitel systematisch aufbereiten und weiterdenken. Es ist der Ort, an dem ein anderer Begriff von europäischer Erinnerung entsteht – ein Begriff, der sich nicht als Schlusspunkt versteht, sondern als eine Herausforderung und ein Maßstab, um den zukünftig gestritten werden will.

I. Erinnerung als Traditionsstiftung

Klaus Oschema

Ein Karl für alle Fälle – Historiografische Verortungen Karls des Großen zwischen Nation, Europa und der Welt

Ein europäischer Blick auf das Mittelalter fördert Zwiespältiges zutage: Die Epoche gilt einerseits als entscheidend für die historische Ausprägung dessen, was man unter Europa verstehen könne. Andererseits aber habe sie selbst gerade nicht über einen »Europabegriff« verfügt und nicht einmal spezifische »europäische Erinnerungsorte« hervorgebracht.1 Zwar wurde in jüngeren Publikationen eine ganze Reihe von Figuren zu »Mythen Europas« erklärt,2 doch bleibt fraglich, ob diese auch das Zeug zu europäischen »Helden« hätten, auf die überzeugte Europäer, einer Forderung Daniel Cohn-Bendits und Guy Verhofstads zufolge, ihren Blick richten sollten.3 Sieht man einmal davon ab, dass eine solche bewusste Fokussierung auf die »Helden« Europas anstatt nationaler Identifikationsfiguren aus der Warte der Geschichtswissenschaft in die Untiefen der Frage nach dem Gebrauch und Missbrauch der Geschichte führt,4 so reduziert sie auf jeden Fall das mittelal1 Anstelle ausführlicher Literaturverweise sei mir hier der Hinweis gestattet auf Klaus Oschema, Bilder von Europa im Mittelalter, Ostfildern 2013, v. a. S. 11 – 15 und S. 75 – 79. Zu den »europäischen Erinnerungsorten« des Mittelalters s. Jean-Marie Moeglin, Hat das Mittelalter europäische lieux de m¦moire erzeugt?, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 3 (2002), S. 17 – 37, und Bernd Schneidmüller, Europäische Erinnerungsorte im Mittelalter, ebd., S. 39 – 58. 2 Inge Milfull/Michael Neumann (Hrsg.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Bd. 2. Mittelalter, Regensburg 2004; Almut Schneider/Michael Neumann (Hrsg.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Bd. 3. Zwischen Mittelalter und Neuzeit, Regensburg 2005. 3 Daniel Cohn-Bendit/Guy Verhofstadt, Für Europa! Ein Manifest, München 2012, S. 39 – 41; diese »echten europäischen Helden« seien zudem »Helden von heute« (ebd., S. 40), sodass sich der Blick in die fernere Geschichte hier eigentlich erübrigt. 4 S. etwa J‚nos M. Bak/Jörg Jarnut/Pierre Monnet/Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert, München 2009. Die Begrifflichkeit wäre noch vertieft zu diskutieren, da die Bedingungen eines angemessenen ›Gebrauchs‹ der Geschichte nicht geklärt erscheinen. Zur Frage des Missbrauchs von Mittelalter-Bezügen s. bereits J‚nos M. Bak, Die Mediävisierung der Politik im Ungarn des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Petra Bock/Edgar Wolfrum (Hrsg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999, S. 103 – 113.

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terliche Angebot. Aus der Zeit vom 5. bis 15. Jahrhundert sind nur wenige Figuren mit einschlägigem Potenzial bekannt – die berühmteste Ausnahme dürfte Karl der Große sein, der schon seit Jahrzehnten als »Vater Europas« gehandelt wird. Ein genauerer Blick auf Karls Nachleben in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Historiografie zeigt aber, dass sein europäisches Dasein recht jungen Datums ist. Im Folgenden soll dieser Prozess der ›Europäisierung‹ eines lange verstorbenen Kaisers vor allem aus der Perspektive geschichtswissenschaftlicher Beiträge des 20. und 21. Jahrhunderts nachgezeichnet werden, um damit zum Verständnis der Konstruktion von europäischer Erinnerung beizutragen.

Europa im Mittelalter – oder ein europäisches Mittelalter? In den vergangenen beiden Jahrzehnten vermehrten sich die mediävistischen Publikationen, die Europa im Titel führen und ihren Gegenstand damit als europäisch deklarieren. Zwar handelt es sich in den meisten Fällen um eine wenig reflektierte geografische Abgrenzung des Untersuchungsrahmens.5 Dennoch sind solche Verortungen auch in der historischen Retrospektive von immenser Tragweite, wie ein Blick auf die politischen Implikationen zeigt, denn die Geschichte ganz allgemein, vor allem aber auch die Mittelalterliche Geschichte, wurde nicht ohne Grund seit dem 19. Jahrhundert gerne aus nationalstaatlicher Perspektive als ›Orientierungswissenschaft‹ eingesetzt. Die Historiker der europäischen Nationen – und mit ihnen eine breite, meist bürgerliche Leserschaft – blickten in diese ferne Zeit zurück, um sich der ›Geburt‹ ihrer eigenen Nationalstaaten zu versichern.6 Im Zentrum standen damit nationale Eigenheiten, Mit Bezug auf Europa-Konstruktionen anhand des Mittelalters s. Rudolf Speth, Europäische Geschichtsbilder heute, ebd., S. 159 – 175, hier S. 168: »Diese mittelalterlichen Europabilder sind deshalb oft Gebilde, die in Analogie zu nationalmythischer Ursprungsversicherung entworfen wurden.« Vgl. Cohn-Bendit/Verhofstadt, Für Europa, S. 39: »Er [der Nationalismus, K.O.] negiert die Geschichte, indem er sie dauernd neu schreibt und manipuliert.« Damit ignorieren die Autoren die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, die Geschichte ›dauernd neu zu schreiben‹. 5 Korrekt spricht daher Bernd Schneidmüller, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. Europa 1200 – 1500, München 2011, von einer Geschichte »in Europa«, nicht von »europäischer Geschichte«. 6 Vgl. knapp Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Neuausgabe Göttingen 2007, S. 26 – 31, und Franziska Metzger, Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, Bern/Stuttgart/Wien 2011, S. 156 – 185. Eine Reihe von Fallstudien bieten Stefan Berger/Mark Donovan/Kevin Passmore (Hrsg.), Writing National Histories. Western Europe since 1800, London/New York 1999, und Stefan Berger/Chris Lorenz (Hrsg.), Nationalizing the Past. Historians as Nation Builders in Modern Europe, London/New York 2010.

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und historische Figuren oder Ereignisse wurden entsprechend kategorisiert: Heinrich I. wurde zum ersten »deutschen« König, während der Merowinger Chlodwig in die Position eines Stammvaters der französischen Nation einrückte.7 Auch jüngere Beiträge zur »Geschichte Europas« zeigen Charakteristika eines dergestalt praxisorientierten Einsatzes von Geschichte.8 Die Untersuchung der Geschichte Europas und europäischer Phänomene, die sich in den Jahrzehnten nach 1945 und verstärkt nach 1989/91 etablierte,9 ist also keinesfalls interessenfrei. Dieser Befund betrifft dabei nicht so sehr Beiträge zur jüngsten Geschichte, die sich ausdrücklich der Entwicklung einer ›europäischen Gemeinschaftsidee‹ oder gar dem politischen Projekt der europäischen Einigung im späteren 20. Jahrhundert widmen. Vielmehr gilt die Feststellung, dass die Hinwendung zur ›europäischen Geschichte‹ und zur europäischen Einbettung einzelner Phänomene von aktuellen Bedürfnissen geprägt ist, auch und gerade für die Darstellung von Gegenständen aus dem weit entfernten Mittelalter – wenn es nämlich erklärtermaßen oder auch unterschwellig darum geht, nicht bestimmte Aspekte der Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern damit »Europa zu bauen«.10 7 Als aktuelle Studien zu den beiden Herrschern s. Gerd Althoff/Hagen Keller, Heinrich I. und Otto der Große. 2 Bde., Göttingen 1985; Michel Rouche (Hrsg.), Clovis – histoire et m¦moire. 2 Bde., Paris 1997; Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt, München 2011. 8 Hierbei leben Konzepte und Zugänge wieder auf, die eigentlich im Rahmen der Debatte über die Entwicklung der ›Nation‹ methodisch überwunden wurden. Vgl. Nicolas Offenstadt, L’histoire bling-bling. Le retour du roman national, Paris 2009, S. 55 – 64; Speth, Europäische Geschichtsbilder, S. 168; Jan Ifversen, Myth in the Writing of European History, in: Berger/ Lorenz (Hrsg.), Nationalizing the Past, S. 452 – 479. Einen ›purifizierenden‹ Zugriff auf die Geschichte im Rahmen der Identitätsdebatte kritisiert Michael Heffernan, The meaning of Europe. Geography and Geopolitics, London 1998, S. 3: »The history of the European idea is […] read backwards from the present into the past so that recent moves towards European unification appear as an inevitable historical evolution. […] Good things are of Europe; bad things merely happen there.« 9 Zur Entwicklung der Forschung aus der Perspektive der Mediävistik s. Klaus Oschema, Europa in der mediävistischen Forschung – eine Skizze, in: Rainer C. Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hrsg.), Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur, München 2006, S. 11 – 32; ders., Bilder von Europa, S. 11 – 79. Die Möglichkeiten einer genuin »europäischen Geschichtsschreibung« erörtern u. a. die Beiträge in Heinz Duchhardt/ Andreas Kunz (Hrsg.), »Europäische Geschichte« als historiographisches Problem, Mainz 1997. Vgl. auch Gerhard Stourzh (Hrsg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002; Wolfgang Schmale, Die Bedeutung der Europäistik für die Geschichtswissenschaften, in: Michael Gehler/Silvio Vietta (Hrsg.), Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 111 – 120, sowie Ifversen, Myth, S. 457 – 459. 10 Im Vorwort zur Reihe »Europa bauen«, die er herausgab, unterstrich Jacques Le Goff ausdrücklich die konstruktive Absicht des Publikationsprojekts, s. ders., Die Geburt Europas im Mittelalter, München 2004, S. 7 f. Kritisch bereits Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 4. Aufl. 2004, S. 8; vgl. auch

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Hier kann der Mediävist mit einem kritischen Blick auf die eigene Disziplin ansetzen und fragen, mit welchen Hintergründen und Auswirkungen sein Fach zur Konstruktion aktueller Europabilder beiträgt. Besonders deutlich treten die damit verbundenen Prozesse bei kontrovers diskutierten Grenzfällen hervor, die im zeitlichen Verlauf unterschiedlich bewertet wurden – und genau zu diesen Grenzfällen zählt die Titelfigur dieses Beitrags. An ihr sollen die sich wandelnden Deutungen und damit der Prozess der ›Europäisierung‹ einer Gedächtnisfigur exemplarisch vorgeführt werden: Karl der Große wird heute gerne mit einer berühmt gewordenen Formel, die auf einer Wendung seiner Zeit beruht, als »Vater Europas« bezeichnet.11 Dem Frankenherrscher und seinem Umfeld wird damit eine besondere Rolle zuteil: Zwar sprechen große Teile der Forschung dem Begriff Europa für das Mittelalter eine tiefere politische oder ideologische Bedeutung ab, nehmen dabei aber die Zeit der Karolinger aus. Im Umfeld Karls des Großen habe Europa eben doch eine Rolle gespielt, deren Ausmaß allerdings umstritten ist. Während Timothy Reuter skeptisch kommentierte, Europa habe auch in der karolingischen Herrscherpanegyrik des 9. Jahrhunderts nicht mehr bedeutet als »my back-yard plus anywhere else that counts«12, betonten andere emphatisch das regelrecht ›europäische Programm‹ Karls.13 Die Argumentation baut nur gelegentlich auf dem Europabegriff selbst auf sowie auf den damit verbundenen Vorstellungen. Daneben existiert eine zweite, weiter verbreitete Deutungsvariante: Ohne über Europa näher nachzudenken, werden hier bestimmte Phänomene – oder auch deren Kombination – als europäisch identifi-

Oschema, Europa in der mediävistischen Forschung, S. 16, sowie jüngst aus politikwissenschaftlicher Perspektive Olaf Asbach, Europa – Vom Mythos zur Imagined Community? Zur historischen Semantik ›Europas‹ von der Antike bis ins 17. Jahrhundert, München 2011, S. 18. 11 Vgl. etwa (mit populärer Ausrichtung) Roland Pauler, Karl der Große. Der Weg zur Kaiserkrönung, Darmstadt 2009, S. 7. Zum panegyrischen Gedicht, in dem die Formel pater Europae zu finden ist, s. Anm. 42. 12 Timothy Reuter, Medieval Ideas of Europe and Their Modern Historians, in: History Workshop 33 (1992), S. 176 – 180, hier S. 178. 13 Walter Ullmann, A History of Political Thought. The Middle Ages, Harmondsworth 1965, S. 69: »The governmental idea animating Charlemagne was that of being the ›Rector of Europe‹, and it was here that the concept of Europe became operational. Europe was for him Latin christendom, which he indeed had done so much to strengthen.« Ebenso entschieden wie falsch ist die zuspitzende Feststellung von Rolf-Joachim Sattler, Europa. Geschichte und Aktualität des Begriffes, Braunschweig 1971, S. 26: »Das Reich Karls des Großen verstand sich expressis verbis selbst als Europa und nannte sich so.« Für einen Überblick zu den Europa-Belegen der Karolingerzeit s. Karl J. Leyser, Concepts of Europe in the Early and High Middle Ages, in: Past and Present 137 (1992), S. 25 – 47, hier S. 31 – 41; Jürgen Fischer, Oriens – Occidens – Europa. Begriff und Gedanke »Europa« in der späten Antike und im frühen Mittelalter, Wiesbaden 1957, S. 74 – 98; Oschema, Bilder von Europa, S. 133 – 160.

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ziert und auf diese Weise Karl dem Großen die europäische Vaterschaft zugeschrieben oder seltener auch abgesprochen.14 Interessant ist an solchen Zuschreibungen die Verschiebung des ›Karlsbildes‹, die sie bedeuten:15 Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein galt nämlich der Frankenkönig, der im Jahr 800 die römische Kaiserwürde erwarb und 814 als Herrscher über ein weit ausgreifendes Reich starb, kaum als Europäer. Stattdessen griff auch bei ihm der nationale Zugriff, der aber zwischen Frankreich und Deutschland zu unterschiedlichen Ansichten führen musste. Emblematischen Ausdruck fanden diese Divergenzen im vielzitierten Titel einer Publikation, die 1935 die Frage stellte: Karl der Große oder Charlemagne?16 Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis Karl-Ferdinand Werner diese Alternative als fehlgeleitete Frage aufwies, indem er Karl explizit auf der europäischen Ebene verortete.17 14 Vgl. etwa Franz-Reiner Erkens, Karolus Magnus – Pater Europae? Methodische und historische Problematik, in: Christoph Stiegemann/Matthias Wemhoff (Hrsg.), 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Bd. 1, Mainz 1999, S. 2 – 9, der Karls Position als »Vater Europas« ausdrücklich zu stützen bemüht ist; ähnlich Alessandro Barbero, Karl der Große. Vater Europas, Stuttgart 2007, S. 12. Le Goff, Geburt Europas, S. 48 – 61, unterstreicht zwar Karls Bedeutung, schriebt ihm aber auf eigentümliche Weise ein ›falsches Europabewusstsein‹ zu, ebd., S. 48. Vgl. die Kritik bei Asbach, Europa, S. 73 (mit Anm. 86), sowie Oschema, Bilder von Europa, S. 77 f. Die lange Tradition der Erforschung von ›Karlsbildern‹ betont Max Kerner, Mythos Karl der Große, in: Schweizerische Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland/Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Karl der Große und Europa. Symposium, Frankfurt am Main 2004, S. 87 – 100, hier S. 87 f.; s. auch Johannes Fried, Karl der Große. Geschichte und Mythos, in: Milfull/Neumann (Hrsg.), Mythen Europas. Bd. 2. Mittelalter, S. 14 – 47, und ders., Ein dunkler Leuchtturm, in: Stefan Aust/Michael Schmidt-Klingenberg (Hrsg.), Experiment Europa. Ein Kontinent macht Geschichte, Stuttgart/München 2003, S. 40 – 60. 15 Die Literatur zu Karl dem Großen ist hier nicht angemessen wiederzugeben. Für einen hervorragenden Überblick zu den wechselhaften Deutungen s. Max Kerner, Karl der Große. Entschleierung eines Mythos, Köln 2. Aufl. 2001, sowie bereits Arno Borst, Das Karlsbild in der Geschichtswissenschaft vom Humanismus bis heute, in: Wolfgang Braunfels/Percy Ernst Schramm (Hrsg.), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. Bd. 4: Das Nachleben, Düsseldorf 2. Aufl. 1967, S. 364 – 402. Der zitierte Band bietet weitere wichtige Studien zur Fortwirkung des Karlsbilds in unterschiedlichen Kontexten. Zentrale Beiträge zu den mittelalterlichen Ausprägungen der Karlsbilder enthält Klaus Herbers (Hrsg.), Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin, Tübingen 2003. Als knappe Synthese s. Joachim Ehlers, Charlemagne – Karl der Große, in: Êtienne FranÅois/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 4. Aufl. 2002, S. 41 – 55 und S. 675 f. 16 Karl der Große oder Charlemagne? Acht Antworten deutscher Geschichtsforscher, Berlin 1935. Die Beiträge stammten von Karl Hampe, Hans Naumann, Hermann Aubin, Martin Lintzel, Friedrich Baethgen, Albert Brackmann, Carl Erdmann und Wolfgang Windelband. Zum Band im Kontext des nationalsozialistischen Karlsbildes s. Kerner, Karl der Große, S. 211 – 224. 17 Karl Ferdinand Werner, Karl der Große oder Charlemagne? Von der Aktualität einer überholten Fragestellung, München 1995, S. 50. Vgl. hierzu Bernd Schneidmüller, Sehnsucht nach Karl dem Großen. Vom Nutzen eines toten Kaisers für die Nachgeborenen, in: Ge-

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Tatsächlich bewirkte dieser Kategorienwechsel aber keine wirkliche Lösung des Problems: Noch heute wird die Rolle des »großen« Frankenherrschers kontrovers bewertet, wenngleich sich die Differenzen kaum mehr an der nationalen Zuordnung entzünden. Vielmehr ergeben sich die unterschiedlichen Positionierungen aus der Frage nach Karls europäischem Standort selbst: Während die einen seine Rolle als »Vater Europas« unterstreichen und zu begründen versuchen,18 wenden sich andere gegen eine solche Einschätzung,19 wobei die Begründungen mehr ›Glaubenssätzen‹ gleichen denn zwingenden Argumenten.20 So bleibt die Einschätzung der Großreichsbildung und Prägung eines weit ausgreifenden Kulturraums als europäisch ebenso Ansichtssache wie die Argumentation der Gegenseite: Schon 1941 beschrieb Joseph Calmette den Zusammenbruch des Karolingerreichs als Voraussetzung für die Entstehung Europas21, und noch 2004 charakterisierte Jacques Le Goff Karls Reichsgründung als »Fehlgeburt«, der jener spezifisch heterogene Zug gefehlt habe, der Europa charakterisiere.22 Europäischen wie ›anti‹-europäischen Einschätzungen von Karls Rolle ist aber eines gemein: Vor den 1940er-Jahren wäre kaum ein Historiker auf den Gedanken gekommen, die Problemstellung in dieser Weise zu formulieren. Gerade für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung des Mittelalters spielte die Kategorie Europa kaum eine Rolle,23 bis die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs einen Wandel herbeiführte. Immer öfter schrieb man nun von übernationalen Einheiten, wobei das Abendland und Europa zunächst nebeneinander standen.24 Erst in den 1960er-Jahren setzte sich Europa sprachlich

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schichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000), H. 5/6, S. 284 – 301. Einschlägig und instruktiv ist in diesem Kontext auch Karl Ferdinand Werner, L’Europe pr¦cÀde les nations, in: Joseph Rovan/Gilbert Krebs (Hrsg.), Identit¦s nationales et conscience europ¦enne, Paris 1992, S. 13 – 20. Vgl. Erkens, Karolus Magnus. Deutlich etwa Le Goff, Geburt Europas; reflektierter insgesamt Hubert Mordek, Karl der Große – barbarischer Eroberer oder Baumeister Europas?, in: Bernd Martin (Hrsg.), Deutschland in Europa. Ein historischer Rückblick, München 1992, S. 23 – 45. Vgl. zu den Europa-Debatten in der Mediävistik die in Anm. 9 genannten Titel. Hilfreich in den Debatten um eine ›europäische Identität‹ Thomas Meyer, Die Identität Europas. Der EU eine Seele?, Frankfurt am Main 2004. Die weiterführende Frage nach einer verbindlichen Definition des Europabegriffs als analytisch operationalisierbares Instrument sei hier ausgeklammert. Joseph Calmette, L’effondrement d’un empire et la naissance d’une Europe, IXe–Xe siÀcles, Paris 1941. Le Goff, Geburt Europas, S. 48. Für einen knappen Überblick zu den wenigen Ausnahmen (im Sinne von Vorläufern) s. Oschema, Europa in der mediävistischen Forschung; ders., Bilder von Europa, S. 36 – 51. Vgl. knapp Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920 – 1970), München 2005, S. 205 und

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immer weiter durch, ohne dass man deswegen von einer ›Europäisierung‹ der Interpretationshorizonte sprechen könnte.25 Tatsächlich ringt die Fachdebatte noch heute, also in einer Zeit, in der die ›Globalgeschichte‹ das Signum des Neuen und Zukunftsweisenden für sich beanspruchen kann, um den angemessenen Rahmen und die Möglichkeiten einer europäischen Geschichte, die nicht einfach eine Ansammlung von Nationalgeschichten darstellt.26 Bei genauerem Hinsehen erstaunt diese unvollständige Umsetzung des europäischen Paradigmas nicht. Zwar hatte die mittelalterliche Geschichte seit jeher europäische Verflechtungen im Blick,27 dies führte aber nicht zur Beschreibung mithilfe der Analysekategorie Europa. Neben der tief eingeschliffenen Vorliebe für den nationalen Deutungsrahmen, die zum Teil bis in unsere Gegenwart hinein wirkt, beruht dieser Effekt auch auf der seit den 1950er-Jahren wiederholt getroffenen Feststellung, Europa habe eben für die Menschen des Mittelalter kaum eine Rolle gespielt: Zwar sei das Wort in den Quellen zuweilen zu finden, aber die bekannten Texte bezeugten kaum Ansätze zu einer politischen oder kulturellen Aufladung. So schloss nicht nur Gerd Tellenbach im Jahr 1958: »Im Mittelalter wäre noch niemand auf den Gedanken gekommen, eine Geschichte Europas zu schreiben«28, sondern noch 1991 konstatierte Rudolf Hiestand: »Noch etwas pointierter könnte man behaupten: es gibt keine Europaidee des Mittelalters, die Europaidee löst das Mittelalter ab.«29 Die sichtliche Zurückhaltung verwundert kaum, denn man kann davon ausgehen, dass der Import Europas in das Vokabular der Mediävistik kein Resultat innerwissenschaftlicher Debatten und der daraus zu erklärenden Her-

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S. 395 f.; Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, München 1999; vgl. auch die Fallstudien von Simon Hadler und Gregor Feindt. Vgl. die Bestandsaufnahme von Matthias Schnettger, Auf dem Weg nach Europa? Deutsche Historiker der 1940er Jahrgänge, in: Ders./Irene Dingel (Hrsg.), Auf dem Weg nach Europa. Deutungen, Visionen, Wirklichkeiten, Göttingen 2010, S. 7 – 23, hier S. 22. Vgl. für das Mittelalter Bernd Schneidmüller, Die mittelalterlichen Konstruktionen Europas. Konvergenz und Differenzierung, in: Duchhardt/Kunz (Hrsg.), »Europäische Geschichte«, S. 5 – 24, sowie Michael Borgolte, Vor dem Ende der Nationalgeschichten?, in: Rolf Ballof (Hrsg.), Geschichte des Mittelalters für unsere Zeit, Wiesbaden 2003, S. 29 – 62. Zum Konzept der Globalgeschichte in Bezug auf das Mittelalter s. ders., Mittelalter in der größeren Welt. Eine europäische Kultur in globaler Perspektive, in: Historische Zeitschrift 295/1 (2012), S. 35 – 61; ders., Über europäische und globale Geschichte des Mittelalters. Historiographie im Zeichen kognitiver Entgrenzung, in: Steffen Patzold/Klaus Ridder (Hrsg.), Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität, Berlin 2013, S. 47 – 66. Knapp hierzu Schnettger, Auf dem Weg, S. 13 f. Gerd Tellenbach, Kaisertum, Papsttum und Europa im hohen Mittelalter, in: Fritz Valjavec (Hrsg.), Historia Mundi. Bd. 6. Hohes und spätes Mittelalter, Bern 1958, S. 9 – 103, hier S. 9. Rudolf Hiestand, »Europa« im Mittelalter – vom geographischen Begriff zur politischen Idee, in: Hans Hecker (Hrsg.), Europa – Begriff und Idee. Historische Streiflichter, Bonn 1991, S. 33 – 47, hier S. 36.

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vorbringung eines neuen Paradigmas darstellt. Stattdessen reagierten die Mediävisten nach 1945 damit auf Bedürfnisse ihrer eigenen Zeit: Nach der Katastrophe der nationalen Konflikte erhofften sich insbesondere deutsche Historiker eine Lösung in der europäischen oder auch abendländischen Orientierung.30 Tatsächlich legt es die Lektüre mittelalterlicher Texte und die Suche nach hier präsenten Ordnungskategorien kaum nahe, ausgerechnet nach Europa im Mittelalter zu forschen.31 Das gilt insbesondere dann, wenn man sich – wie es für die grundlegenden Beiträge der 1950er-Jahre zutrifft32 – für die Entwicklung dezidiert politischer Vorstellungen interessiert. Dass eine kulturhistorisch erweiterte Untersuchung der mittelalterlichen Befunde dennoch bedeutende Ergebnisse zutage fördern kann, stellt demgegenüber eine jüngere Einsicht dar. Die zurückhaltenden Wertungen in Sachen Europa hinderten die Mediävisten nach 1945 aber nicht daran, die Vorstellung eines ›real existierenden Europa‹ des Mittelalters auszuarbeiten.33 Das ist nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, weil damit jene Epoche, die einst als Wiege der Nationen konstruiert wurde,34 nunmehr zum Substrat der europäischen Kultur avancierte. Argumentativ lässt sich diese Umwertung unter anderem mit dem gängigen Hinweis stützen, dass die Entstehung einer Vielfalt von Reichen nach dem Fall Westroms und schließlich die Ausdifferenzierung einer Ordnung von Nationen eine genuine und prägende europäische Entwicklung darstellten, die sich eben im Mittelalter vollzogen habe.35 Darüber hinaus konstatierte man zuweilen auch die Existenz europäi-

30 Dies gilt wohl trotz divergierender Einschätzungen zur Bedeutung des ›Epochenjahrs‹ 1945. Selbst wenn man das Peter Rassow zugeschriebene Diktum »Fort aus der deutschen und hinein in die europäische Geschichte« (zit. bei Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 160) nicht im Wortsinne nimmt, so dürfte das Urteil Werner Conzes doch kaum zutreffen, der keinen signifikanten Einfluss auf die Arbeiten der individuellen Historiker erkennen wollte, s. ebd., S. 20. 31 S. Klaus Oschema, Medieval Europe – Object and Ideology, in: Teresa Pinheiro/Beata Cieszynska/Jos¦ Eduardo Franco (Hrsg.), Ideas of j for Europe. An Interdisciplinary Approach to European Identity, Frankfurt am Main 2012, S. 59 – 72. 32 Hervorzuheben sind hier vor allem Fischer, Oriens; Denys Hay, Europe. The Emergence of an Idea, Edinburgh 2. Aufl. 1968 [orig. 1957]; Carlo Curcio, Europa. Storia di un’idea. 2 Bde., Florenz 1958, und Federico Chabod, Der Europagedanke. Von Alexander dem Großen bis Zar Alexander I., Stuttgart 1963. Diese Werke erfassten letztlich fast den ganzen Quellenbestand, der bis vor wenigen Jahren zur Entwicklung des Europabegriffs im Mittelalter diskutiert wurde. Eine signifikante Ausweitung bietet jetzt Oschema, Bilder von Europa. 33 S. etwa Hermann Heimpel, Europa und seine mittelalterliche Grundlegung, in: Die Sammlung 4 (1949), S. 13 – 26. 34 Vgl. etwa Patrick Geary, The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton 2002. 35 So bereits Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker, Leipzig/Berlin 1824; s. knapp Oschema, Bilder von Europa, S. 39 – 41.

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scher Phänomene, die von den ›Europäern‹ jener Tage nur noch nicht als solche erkannt oder benannt worden sei.36 Dieser holzschnittartig verkürzte Vorspann zu den Positionen, die in der mediävistischen Forschung zu finden sind, sollte die Debatten, Haltungen und Einflüsse verdeutlichen, die auch über die Fachdiskussion hinaus Eingang in die Bezugnahmen auf das Mittelalter und Konstruktion eines ›europäischen Gedächtnisses‹ finden konnten. Die deklarative Europäisierung des Mittelalters bildet den Hintergrund, vor dem sich auch die Karlsbezüge entwickelten: So wie vor dem Zweiten Weltkrieg das nationale Paradigma die Geschichtswissenschaft dominierte, so durchlief Karl der Große als eine der prominentesten Figuren des lateinischen Mittelalters nach 1945 einen Prozess der Europäisierung, zumindest in den Ländern westlich des »Eisernen Vorhangs«.37 Diese Entwicklung kam den politischen Bedürfnissen der Zeit entgegen: Mit Karl war eine emblematische Figur identifiziert, die einen Ansatz für die neu zu konstruierende ›europäische‹ Identität bieten konnte. Darüber hinaus waren mit ihm auch spezifische Positionen zu begründen: Die Identifikation der fränkischen Reichsbildung als ›eigentlicher‹ historischer Kern Europas konnte etwa dazu beitragen, den Gebrauch des Europa-Namens für die Gemeinschaftsbildung im Westen zu legitimieren.38 Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob und inwiefern der Begriff denn auch für den historischen Akteur selbst eine Rolle gespielt haben mag oder an welcher Stelle er mit ihm verbunden wurde. In den 1960er-Jahren ging etwa der Mediävist Walter Ullmann davon aus, dass Europa für Karl den Großen ein programmatisches Konzept geboten habe.39 Tatsächlich stützt die kritische Sichtung 36 Heimpel, Europa, S. 15, S. 18 und S. 20. 37 Zu den vielfältigen, stets auf die eigene Gegenwart ausgerichteten Bezugnahmen auf Karl den Großen seit dem frühen Mittelalter s. Kerner, Karl der Große; Schneidmüller, Sehnsucht; ders., Karl der Große lebt weiter, in: Matthias Becher/Lars Hagneier/Rudolf Schieffer/Bernd Schneidmüller/Caspar Ehlers/Ulrich Weidinger (Hrsg.), Das Reich Karls des Großen, Darmstadt 2011, S. 115 – 128. 38 Dabei ist grundsätzlich gleichgültig, ob man die europäische Rolle Karls von der zeitgenössischen Begrifflichkeit her begründet oder vielmehr von der (behaupteten) Existenz einer faktisch existierenden europäischen Kultur ; zur Problematik des letzteren Zugangs s. knapp Klaus Oschema, Eine Identität in der Krise – Konstruktionen des mittelalterlichen Europa, in: Christoph Dartmann/Carla Meyer (Hrsg.), Identität und Krise? Konzepte zur Deutung vormoderner Selbst-, Fremd- und Welterfahrungen, Münster 2007, S. 23 – 43, hier S. 23 – 27. Auf moderne Europa-Konzepte zielen ab Wolfgang Schmale, Die Europäizität Ostmitteleuropas, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 4 (2003), S. 189 – 214, und Gerard Delanty, What Does It Mean to Be a ›European‹?, in: Innovation. The European Journal of Social Science Research 18 (2005), H. 1, S. 11 – 22. Allerdings konstatiert Michael Borgolte, Perspektiven europäischer Mittelalterhistorie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs, Berlin 2001, S. 13 – 27, hier S. 17, »dass ein wertneutraler Europabegriff gar nicht möglich wäre«. 39 S. Anm. 13.

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der Quellen eine solche Einschätzung nicht; diese Einsicht wird aber erst durch eine Analyse der historischen Entwicklung der Begrifflichkeiten und expliziten Zuschreibungen möglich. Im Folgenden wird daher der Blick auf die Präsenz Europas im diskursiven Umfeld Karls des Großen während dessen Lebzeiten gelenkt, bevor die Situation zur Zeit seiner Nachkommen beleuchtet wird. Im Anschluss soll die wesentlich national orientierte Aufladung umrissen werden, die das Karlsbild bis in das 20. Jahrhundert prägte, um abschließend auf Karls ›Europäisierung‹ nach 1945 zurückzukommen.

Karl als pater Europae? Zu den meistzitierten Quellenpassagen bei der Erörterung von Karls europäischer Rolle zählt ein herausragendes Zeugnis der karolingischen Herrscherpanegyrik: Im Jahr 799 suchte Papst Leo III., der in Rom überfallen und misshandelt worden war, den fränkischen Herrscher in Paderborn auf und bat ihn um Beistand. Diese Gelegenheit muss dem höfischen Umfeld Karls gleichsam als glänzendes Gipfeltreffen erschienen sein – das Oberhaupt der römischen Kirche begab sich über die Alpen, um den König der Franken und der Italiener um Hilfe zu bitten.40 Die darauf folgenden Ereignisse sind weithin bekannt: Karl zog nach Rom, sorgte für die Wiedereinsetzung des Pontifex und bekam von diesem die Würde eines imperator verliehen.41 Wohl schon kurz nach dem Treffen von Paderborn – aber vermutlich erst nach der Kaiserkrönung vom Weihnachtstag des Jahres 800 – fasste ein anonymer Dichter die Begegnung zwischen Papst und Kaiser in blumige Worte. Beide Protagonisten beschrieb der Autor mit exquisiten Formeln, unter denen im Falle Karls gleich eine ganze Reihe von Europa-Bezügen auffällt: Der König sei der »verehrungswürdige Leuchtturm Europas«, der »Gipfel Europas« – ja sogar der »Vater Europas«.42 Diese Wendung hat nicht nur die Fantasie späterer 40 Für einen Überblick zu Karls Leben und Regierung s. Rosamund McKitterick, Karl der Große, Darmstadt 2008; Rudolf Schieffer, Die Zeit des karolingischen Großreichs (714 – 887), Stuttgart 2005, S. 69 – 136. Die aktuellen Monografien von Johannes Fried, Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München 2013, und Stefan Weinfurter, Karl der Große. Der heilige Barbar, München 2013, die pünktlich zum 1200. Todestag des 814 verstorbenen Frankenherrschers erschienen, konnten für diesen Beitrag leider nicht näher berücksichtigt werden. 41 Zur Frage, ob Karl, wie sein Biograf Einhard berichtet, dieser Erhebung eher ablehnend gegenüberstand, und auch den resultierenden diplomatischen Verwicklungen mit dem Kaisertum in Ostrom s. knapp McKitterick, Karl der Große, S. 110 – 113; Schieffer, Zeit, S. 107 – 109. 42 Karolus Magnus et Leo Papa, hrsg. von Franz Brunhölzl, in: Ders. (Hrsg.), Karolus Magnus et Leo Papa. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799, Paderborn 1966, S. 55 – 97, S. 60, Z. 12

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Gelehrter befeuert, sondern sie scheint auf den ersten Blick eine ausdrückliche Bestätigung von Karls europäischer Vaterschaft im direkten Umfeld des Herrschers zu bieten. Im 20. Jahrhundert wurde die Formel entsprechend viel strapaziert. Dem war allerdings nicht immer so, auch wenn mehrere hervorragende Mediävisten in den vergangenen Jahrzehnten mit Emphase das Gegenteil behaupteten. Sie erklärten, dass »die Dichter« am Karlshof den Herrscher als »Vater Europas« bezeichneten43, und vergaßen darüber, dass das »Paderborner Epos« nur in einer einzigen Handschrift aus dem späten 9. Jahrhundert überliefert ist,44 unter den Zeitgenossen also nur eingeschränkt Anklang fand. Wichtiger als die auch durch Zufälligkeiten beeinflusste Überlieferungssituation ist aber eine weitere Feststellung: Die Formel pater Europae findet sich nämlich in keinem weiteren Text des Mittelalters – weder in Bezug auf Karl den Großen noch für einen anderen Herrscher. Überhaupt halten sich bei kritischer Sichtung die Europa-Bezüge zu Karls Lebzeiten in engen Grenzen: Am Beginn seines Herrschaftsantritts im Frankenreich hatte ihn der Priester Cathwulf in einem Brief aufgefordert, Gott dafür zu danken, dass er ihn zum Herrscher über das »Reich Europas« (regni Europae) gemacht habe.45 Wenige Jahre später erklärte Alkuin einem englischen Briefempfänger, dass die Kirche in Europa in Frieden lebe – dank Karl.46 Mehr Verweise finden sich in Schreiben, die sich an Karl richteten oder zumindest in seinem direkten Umfeld produziert wurden, nicht. Es scheint also, als sei Karl die europäische Verortung trotz ihres gelehrten Klangs nicht recht gewesen. Wenngleich der Kaiser selbst die Bezugnahme auf Europa weitgehend vermied – was angesichts des unklaren Bedeutungsprofils des Begriffs in dieser Zeit

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(pharus, Übers. S. 61), S. 66, Z. 93 (apex, Übers. S. 67) und S. 94, Z. 504 (pater, Übers. S. 95). Zum Gedicht s. Christine Ratkowitsch, Karolus Magnus – alter Aeneas, alter Martinus, alter Iustinus. Zu Intention und Datierung des »Aachener Karlsepos«, Wien 1997. Zur Autorfrage zuletzt Francesco Stella, Autore e attribuzioni del »Karolus Magnus et Leo Papa«, in: Peter Godman/Jörg Jarnut/Peter Johanek (Hrsg.), Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos »Karolus Magnus et Leo papa« und der Papstbesuch in Paderborn 799, Berlin 2002, S. 19 – 33. Vgl. etwa Curcio, Europa, Bd. 1, S. 113 f.; Ehlers, Charlemagne, S. 41: »Schon Zeitgenossen nannten ihn den ›Vater Europas‹ (pater Europae) […].« Zur Handschrift s. Hans-Walter Stork, Die Sammelhandschrift Zürich, Zentralbibliothek, C 78, in: Wilhelm Hentze (Hrsg.), De Karolo rege et Leone papa. Der Bericht über die Zusammenkunft Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in einem Epos für Karl den Kaiser, Paderborn 1999, S. 105 – 118. Relativierend zur Bedeutung des Gedichts bereits Fried, Dunkler Leuchtturm, S. 41. Cathwulf, Carolo I Francorum regi, hrsg. von Ernst Dümmler, in: Epistolae Karolini aevi. Bd. 2, Berlin 1895, S. 501 – 505, hier S. 502 f. (von ca. 775); vgl. Fischer, Oriens, S. 79; Leyser, Concepts, S. 32. Alkuin, Epistolae, hrsg. von Ernst Dümmler, in: Epistolae Karolini aevi. Bd. 2, S. 1 – 481, hier S. 32 (Ep. 7: »Colcu magistro«, Anf. 790); vgl. Fischer, Oriens, S. 79 f.; Leyser, Concepts, S. 32 f.

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kaum verwundert47 –, vermehrten sich entsprechende Zuschreibungen in der Historiografie nach seinem Ableben. Noch ganz im Sinne Karls dürfte wohl sein erster und bedeutendster Biograf Einhard gehandelt haben, in dessen Vita Karoli Magni der Name des Erdteils kein einziges Mal zu finden ist.48 In den folgenden Jahrzehnten benutzten dann aber gleich mehrere Verfasser panegyrischer oder historiografischer Texte das Wort, das auf diese Weise eine in der Zeit zurückgewandte Note erhielt.49 Die Panegyriker wandten sich zwar an Karls Nachkommen und Amtsnachfolger, die Autorität über Europa schrieben sie aber ausschließlich dem toten Kaiser zu, indem sie diesem die Herrschaft über das regnum Europae (im Singular) attestierten, während seine Nachfahren bestenfalls Autorität über die regna Europae (im Plural) beanspruchen konnten.50 Damit mag sich für die Zeitgenossen des 9. Jahrhunderts das regnum Karoli der Herrschaft über Europa angenähert haben. Auf eine vollständige Identifikation der beiden Größen sollte man allerdings nicht schließen, vielmehr dürfte ihre Ähnlichkeit im Sinne eines poetischen Bildes zu verstehen sein, mit dem Karl für die ihm nachfolgenden Generationen zu einer Art ›europäischer Gedächtnisfigur‹ wurde – wobei das angesprochene Europa aber schon immer verloren war.

Eine besondere ›Universalgeschichte‹ – von Europa zur Welt Auch wenn die Annäherung des Karlsreichs an Europa in historiografischen Texten des 10. Jahrhunderts sehr weit ging, führte sie doch nie zur Formulierung eines konkreten Herrschaftsanspruchs – mit einer Ausnahme, die bezeichnenderweise einen ›Außenblick‹ auf den Kontinent bietet: In der irischen Annalistik begegnet Karl wiederholt als »Kaiser Europas« (imperator Europae).51 Die Zu-

47 Vgl. Fischer, Oriens, S. 77 f. 48 Einhard, Vita Karoli Magni, hrsg. von Oswald Holder-Egger, Hannover/Leipzig 1965 [EA 1911]. 49 Zum karolingischen Quellenmaterial s. die in Anm. 13 genannten Titel. 50 Die Belege bereits bei Fischer, Oriens, S. 74 – 98, hier v. a. S. 83 – 87. 51 Chronicum Scotorum. A Chronicle of Irish Affairs from the Earliest Times to A.D. 1135, with a Supplement Containing the Events from 1141 to 1150, hrsg. von William M. Hennessy, London 1866, S. 129 (zu 813): »Carolus ri Frainze et impir Eorpa, quievit.« Vgl. The Annals of Ulster (to AD 1131), hrsg. von Se‚n Mac Airt/Gearûid Mac Niocaill, Dublin 1983, S. 268 (zu 813): »Karalus, rex Francorum, immo totius Europe imperator, in pace dormiuit.« Näher zu den Europa-Belegen in der irischen Historiografie demnächst Klaus Oschema, An Irish Making of Europe (Early and High Middle Ages), in: Wolfram R. Keller/Dagmar Schlüter (Hrsg.), ›A Fantastic and Abstruse Latinity?‹ Hiberno-Continental Cultural and Literary Interactions in the Middle Ages [im Druck]. Dass die knappen Einträge ein falsches Todesjahr notieren, ist angesichts der in diesen Texten nachzuweisenden Datierungsprobleme nicht überzubewerten. Vgl. die Hinweise in Daniel P. McCarthy, The Chronology of the Irish

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schreibung war also gerade Autoren möglich, die von der Insel auf das Festland blickten, das sie vielleicht als homogenere Größe wahrnehmen mochten als ihre dort lebenden Zeitgenossen.52 Für die Wahrnehmung Karls wurde diese singuläre Titulatur aber ebenso wenig wirksam wie der pater-Europae-Beleg des sogenannten Paderborner Epos. So brach schon bald die europäische Verortung des Herrschers ab53 und machte einem ambitionierteren Rahmen Platz, der einem Kaiser angemessener war, denn das ›Imperium‹ beanspruchte universale Geltung. Die Konkurrenz mit dem in Konstantinopel regierenden oströmischen Kaiser störte dabei nicht besonders, entwickelte man die entsprechenden Bilder doch vor allem in der Historiografie (die zuweilen hagiografische Züge annahm), nicht im offiziellen diplomatischen Verkehr. Von Bedeutung wurde die Bezugnahme auf den Kaiser Karl und den mit ihm verbundenen Nimbus universal ausgreifender Autorität vor allem im ostfränkisch-deutschen Reich, das sich mit der Dynastie der Ottonen ab dem 10. Jahrhundert dauerhaft die Kaiserwürde sicherte.54 Schon die Nachfahren Karls hatten sich zur Legitimierung ihrer Herrschaft ausdrücklich auf ihn berufen – so ließ sich etwa Karl III. ›der Kahle‹ wohl nicht zufällig am 25. Dezember 875 in Rom zum Kaiser krönen, also am 75. Jahrestag der Erhebung seines Großvaters.55 Ging es hier, wie es im westfränkisch-französischen Reich noch länger der Fall sein sollte,56 vor allem auch um die biologisch-dynastische Anbindung, so stand im ostfränkisch-deutschen Reich bald der Bezug auf die herrscherliche Idealfigur im Vordergrund. Europäische Gedanken waren damit nicht verbunden. Als Kaiser Otto III. im Jahr 1000 das Karlsgrab in Aachen öffnen ließ, um den Leichnam seines Vorgängers zu besichtigen und zu ehren, erwies er also nicht dem Herrscher über Europa seine Reverenz, sondern der Verkörperung eines grenzenlos ausgreifenden Modell-Kaisers – Karl war »zum Idealtyp christlicher

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Annals, in: Proceedings of the Royal Irish Academy. Section C 98 (1998), S. 203 – 255, sowie Nicholas Evans, The Present and the Past in Medieval Irish Chronicles, Woodbridge 2010. Für den Hinweis auf die insularen Einflüsse s. etwa Schneidmüller, Konstruktionen, S. 10; vgl. ausführlich Oschema, Irish Making. In den 1120er-Jahren erscheint der Europabegriff in einem Werk des englischen Chronisten William von Malmesbury bei einem Verweis auf Karl den Großen: Dies ist nicht nur mit einer ›Vorliebe‹ des insularen Autors zu erklären, da es sich um das Zitat eines Briefs Alkuins aus der Zeit um 800 handelt, s. William von Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, Bd. 1, hrsg. von Roger A.B. Mynors/Rodney M. Thomson/Michael Winterbottom, Oxford 1998, S. 134/ 136 (I 92). S. knapp Bernd Schneidmüller, Die Kaiser des Mittelalters. Von Karl dem Großen bis Maximilian I., München 3. Aufl. 2012. Schneidmüller, Sehnsucht, S. 291, begründet dies ausdrücklich mit der politischen Schwäche Karls III. Knapp Ehlers, Charlemagne, S. 42 f.

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Herrschaft geworden«.57 Dies spiegelt sich nicht zuletzt in seiner Annäherung an die Sphäre der Heiligen, denn man fand den Berichten zufolge den Körper Karls weitgehend unbeschadet vor – nur die Nase sei leicht beschädigt gewesen und daher auf Ottos Geheiß mit einer goldenen Spitze versehen worden.58 Klarer noch als bei diesen hochgradig symbolischen Vorgängen erscheint die Umwertung in der wenig später verfassten Chronik des ›französischen‹ Mönchs Ademar von Chabannes, für den Gott Karl zum »großen und geliebten Herrscher über das Volk der gläubigen Christen in der ganzen Welt« eingesetzt hatte.59 Ademar griff auch als einziger Autor des Mittelalters die Vaterschaftsformel für Karl auf, veränderte sie aber signifikant: Karl war ihm nicht der »Vater Europas«, sondern sein Tod sei auch von den »Heiden« betrauert worden wie derjenige eines »Vaters der ganzen Welt« (pater orbis).60 Damit war der enge Rahmen des Erdteils aufgesprengt und Karl in einen universalen Kontext eingerückt. Diese Universalität sollte er nicht so schnell wieder verlieren: Seine Annäherung an die Heiligen wurde vervollständigt, als Kaiser Friedrich I. Barbarossa im Jahr 1165 erfolgreich Karls Heiligsprechung betrieb.61 Wie schon der Besuch Ottos III. in Aachen war auch diese Zuwendung nicht interessefrei, sondern aus der Situation heraus zu erklären. Im Konflikt mit Papst Alexander III. um den Vorrang in der Christenheit erhoffte sich Barbarossa ein schlagkräftiges Argument, wenn er sein Amt mit dem Glanz eines heiligen Vorgängers ausstattete und das ›Reich‹ zu einem sacrum imperium erhöhte.62 Allerdings hatte die Kanonisierung des alten Frankenherrschers einige Schönheitsfehler, da er von einem kaiserlich installierten ›Gegenpapst‹ zur Ehre der Altäre erhoben wurde. In der Folge blieb der geografische Wirkungskreis, in dem er als Heiliger verehrt wurde, auch recht beschränkt.63 Dennoch hatte Karl einen Status erlangt, der eine Projektion auf ein eingeschränktes Territorium wie Europa ausschloss. Entsprechend finden wir auch in den Texten der Folgezeit keine Belege, die eine europäische Geltung Karls behaupteten: Entweder wurde er als historische Figur in einen quasi nationalen 57 Schneidmüller, Sehnsucht, S. 295 f., Zitat S. 296; ausführlich zu den Ereignissen in Aachen s. Knut Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen. Überlegungen zu Heiligenverehrung, Heiligsprechung und Traditionsbildung, in: Gerd Althoff/Ernst Schubert (Hrsg.), Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen, Sigmaringen 1998, S. 381 – 430. 58 Knapp Schneidmüller, Sehnsucht, S. 296. 59 Ademar von Chabannes, Chronique, hrsg. von Jules Chavanon, Paris 1897, S. 65 (II 1). 60 Ebd., S. 105 (II 25). 61 Im Überblick knapp Schneidmüller, Sehnsucht, S. 297 – 299; s. auch Klaus Herbers, Karl der Große und Santiago. Zwei europäische Mythen, in: Ders. (Hrsg.), Jakobus, S. 173 – 193, hier S. 184 – 187. 62 Vgl. knapp Herbers, Karl der Große, S. 186. 63 Eine aktive Karlsverehrung ist im Gebiet des Wallis nachzuweisen, s. Maria Margaretha Werder, Das Nachleben Karls des Grossen im Wallis, Brig 1977. Im Zentrum des Karlskults stand und steht natürlich Aachen, s. Kerner, Karl der Große, S. 233 – 266.

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Rahmen gestellt, der zwischen fränkisch, französisch und deutsch schwanken konnte, oder mit universalen Attributen versehen. Dies trifft nicht nur auf die Schriften gelehrter Kleriker und Mönche zu, sondern auch auf die ›Karlstradition‹ der epischen Dichtung, deren Zeugnisse ab dem Umbruch vom 11. zum 12. Jahrhundert überliefert sind. Karl begegnet hier als idealer Herrscher, vorbildlicher Ritter, Heidenkämpfer und Missionar.64 Mit dem Einsetzen der Hagiografie im Umfeld der Heiligsprechung ändert sich dieser Befund nicht: Europa bleibt als Begriff außen vor, während Karl als Kämpfer für das Christentum, die Kirche und den Frieden in der ganzen Welt präsentiert wird.65 Erste Ansätze zu einer erneuten Europäisierung begegnen erst wieder am Ende des Mittelalters, als Jean Lemaire de Belges in seinen Illustrations de Gaule zwar nicht Karl selbst, aber doch seine Familie als Retter eines christlichen Europa feierte, das sich die Völker der Heiden unterwarf und damit den Glauben sicherte.66 Diese Darstellung gliedert sich aber bereits in einen neuen Kontext ein, da in Jean Lemaires Zeit die Auseinandersetzung der lateinischen Christen mit dem expandierenden Osmanischen Reich zur intensivierten Bezugnahme auf den Europabegriff führten.67

Der nationale und der europäische Karl Auch am Übergang zur Frühen Neuzeit wurde Karl weniger europäisch verortet als vielmehr national. Im hohen und späten Mittelalter oszillierte seine Figur noch zwischen dem ›französischen König‹ und dem ›fränkischen Kaiser‹.68 Nun

64 Die Auflistung der Zuschreibungen nach Schneidmüller, Sehnsucht, S. 294; vgl. Herbers, Karl der Große, S. 183 f., sowie zu den Karlsbildern in der deutschsprachigen Literatur Volker Honemann, Der Pseudo-Turpin und die deutsche Literatur des Mittelalters, in: Herbers (Hrsg.), Jakobus, S. 161 – 172. 65 S. die im Aachener Umfeld entstandene Vita Karoli, in: Die Legende Karls des Großen im 11. und 12. Jahrhundert, hrsg. von Gerhard Rauschen, Leipzig 1890, S. 17 – 93, hier S. 34 (I 13). Vgl. zum Text Ludwig Vones, Heiligsprechung und Tradition: Die Kanonisation Karls des Großen 1165, die Aachener Karlsvita und der Pseudo-Turpin, in: Herbers (Hrsg.), Jakobus, S. 98 – 105, hier S. 98. 66 Jean Lemaire de Belges, Les illustrations de Gaule et singularit¦z de Troye, in: Ders., Œuvres. Bd. 1 – 2, hrsg. von Jean Stecher, Löwen 1882 – 1885, Bd. 2, S. 463. 67 Vgl. aus der breiten Literatur Dieter Mertens, Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Wien 1991, S. 45 – 90, und Almut Höfert, Den Feind beschreiben. »Türkengefahr« und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450 – 1600, Frankfurt am Main 2003. Für weitere bibliografische Hinweise s. Oschema, Bilder von Europa, S. 299 – 310. 68 S. Georg Jostkleigrewe, Das Bild des Anderen. Entstehung und Wirkung deutsch-französischer Fremdbilder in der volkssprachlichen Literatur und Historiographie des 12. bis

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reklamierten deutsche Humanisten im entstehenden »Wettkampf der Nationen« Karl für sich und machten den toten Kaiser zum Modell des idealen »deutschen« Herrschers.69 Man mag diesen ›deutschen‹ Entwicklungsstrang ab dem späten Mittelalter als »sklerotisch« betrachten und ihm gegenüber die Lebendigkeit der Tradition im französischen Westen betonen.70 Auf jeden Fall herrschte die Deutung in einem nationalen Rahmen konkurrenzlos vor – und sie wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch verstärkt. In dem Maße, in dem das neuzeitliche Konzept der Nation zum beherrschenden Paradigma politischer und gesellschaftlicher Ordnung avancierte, bot es auch immer stärker einen gewissermaßen natürlichen Deutungsrahmen der historischen Analyse. Im Verein mit der starken Ausrichtung auf die Erforschung politischer und verfassungsrechtlicher Phänomene verwundert es also nicht, dass Europa in den historischen Darstellungen bestenfalls eine nachrangige Rolle zukam.71 Ein Wandel deutete sich in der Fachdebatte über das Mittelalter erst im 20. Jahrhundert an. Im Jahr 1928 verwies Richard Wallach auf die vielgestaltige Darstellung Karls des Großen »als ›Weltbeherrscher‹, […] als Beherrscher ›Europas‹ oder endlich des römischen ›Abendlandes‹«72. Er selbst interpretierte Karls Rolle im Rahmen eines »Großfrankentums«, dessen Geschichte zu den im Zentrum des Abendlandes stehenden Einheiten Deutschland und Frankreich führt.73 Ohne sich der Karolingerzeit näher zuzuwenden, diskutierte drei Jahre später auch Werner Fritzemeyer in seinem Band über die »Christenheit und Europa« Karls Rolle im übergreifenden Rahmen des Imperiums.74 Nur kurz darauf – noch vor der Schockerfahrung des Zweiten Weltkriegs – legte der Pole Marian-Henryk Serejski eine breite Bestandsaufnahme der Europa-Terminologie im Umfeld der karolingischen Herrscher vor.75 Serejski

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14. Jahrhunderts, Berlin 2008, S. 157 – 170; vgl. Robert Morrissey, L’empereur — la barbe fleurie. Charlemagne dans la mythologie et l’histoire de France, Paris 1997. Ein frühes und deutliches Zeugnis bietet Alexander von Roes, Noticia Seculi, in: Ders., Schriften, hrsg. von Herbert Grundmann/Hermann Heimpel, Stuttgart 1958, S. 149 – 171, hier S. 165: Nec est dubium, quin Karolus fuisset Teutonicus, licet ipse super Gallicos regnaverit. Vgl. Schneidmüller, Karl der Große lebt, S. 127. Vom »Wettkampf der Nationen« spricht Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005. Schneidmüller, Sehnsucht, S. 299 – 301, Zitat S. 299. Beredsames Zeugnis legt der Erfolg einer der wenigen Buchpublikationen mit europäischem Zuschnitt ab: Henry Hallam, View of the State of Europe during the Middle Ages. 2 Bde., London 1818, wurde in kurzer Zeit ins Deutsche (Leipzig 1820 – 21) und Französische (Paris 1820 – 22) übersetzt. Richard Wallach, Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im Mittelalter, Leipzig/ Berlin 1928, S. 11. Ebd., S. 11 f. Werner Fritzemeyer, Christenheit und Europa. Zur Geschichte des europäischen Gemeinschaftsgefühls von Dante bis Leibniz, München/Berlin 1931, S. 3 f. Marian-Henryk Serejski, Idea jednos´ci karolinskiej. Studium nad geneza˛ wspûlnoty euro-

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machte bei den Karolingern die Spannung zwischen einem universal-imperialen Herrschaftsanspruch und dessen pragmatischer Einschränkung aus, die zur Verschmelzung der Vorstellung des orbis mit Europa geführt habe – in dessen Mittelpunkt wiederum die Trias von Deutschland, Frankreich und Italien stand.76 Damit buchstabierte auch Serejski den Blick auf den europäischen Rahmen letztlich national aus. Über diesen Rahmen hinaus verwiesen in der Zwischenkriegszeit vor allem die Arbeiten des katholischen Historikers Christopher Dawson, der die Glaubensgemeinschaft der lateinischen Kirche als einheitsstiftendes Band für Europa ansah und damit den Karolingern eine fundamentale Rolle zuschrieb.77 Wie wenig solche Ansätze die Debatte in der Fachwissenschaft, aber auch die Wahrnehmung in der breiteren Bevölkerung zunächst prägten, zeigt der bereits genannte Band zur Frage Karl der Große oder Charlemagne?. Zwar wandten sich die beteiligten »Geschichtsforscher«, so das Titelblatt, durchaus gegen die Art, wie Karl durch die NS-Ideologie, insbesondere Alfred Rosenbergs, präsentiert wurde. Damit beabsichtigten sie aber kein Aufbrechen der nationalen Kategorien, sondern zeichneten den Frankenherrscher vielmehr als ›guten Deutschen‹.78 Interessanterweise begegnen erste Ansätze zu einer Umwertung Karls als europäische Identifikationsfigur aber nicht erst nach 1945, sondern schon in den letzten Kriegsjahren. Sie spiegeln damit die Versuche des NS-Regimes wider, eine eigene Lesart des Europa-Gedankens zu propagieren.79 Deutschland wurde

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pejskiej w s´redniowieczu [Die Idee der karolingischen Einheit. Studie über die Entstehung der europäischen Gemeinschaft im Mittelalter], Warschau 1937. Ebd., S. 170 f. (französisches Resümee). Christopher Dawson, The Making of Europe. An Introduction to the History of European Unity, London 1932; vgl. zur Einschätzung und zum Widerspruch Geoffrey Barracloughs den Beitrag von Martin C. Brands, Europe Halved and United. From a Split Object to a Restored Cultural Unity?, in: Albert Rijksbaron/Willem Hendrik Roobol/Max Weisglas (Hrsg.), Europe from a Cultural Perspective. Historiography and Perceptions, Den Haag 1987, S. 73 – 83, hier S. 77. S. etwa das nicht namentlich gezeichnete Vorwort, Karl der Große oder Charlemagne?, S. 5 f.; vgl. Kerner, Karl der Große, S. 216 – 219. Tatsächlich veränderte Rosenberg auch seine Darstellung: Bekannte er sich noch in der Auflage seines »Mythus des 20. Jahrhunderts« von 1935 eindeutig zu Widukind als Vorbild (S. 186), so zeigt die Auflage von 1943 sein Bemühen um Harmonisierung der beiden Figuren (S. 186): »Nach Wiederherstellung der Ehre der 1000 Jahre geschmähten Niedersachsen, gehen beide großen Gegner ein in die deutsche Geschichte: Karl als Gründer des Deutschen Reiches, Widukind als Verteidiger der germanischen Freiheitswerte.« Ein Kernmoment der Diskussionen bildete die Bewertung des »Tags von Verden«, s. Sabine Kuhlmann, Der Streit um Karl den Großen, Widukind und den »Tag von Verden« in der NS-Zeit, Stade 2010. Zur nationalsozialistischen Europa-Ideologie s. etwa Tom Lawson, The Myth of the European Civil War, in: Richard Littlejohns/Sara Soncini (Hrsg.), Myths of Europe, Amsterdam/ New York 2007, S. 275 – 289, sowie bereits Paul Kluke, Nationalsozialistische Europaideologie, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 240 – 275. Vgl. auch Robert Gru-

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hier zum Vorkämpfer der vereinten europäischen Völker gegen den »asiatischen Bolschewismus« – hierzu passt, dass eine Division der SS, die hauptsächlich aus kollaborierenden, freiwilligen Franzosen bestand, den Namen »Charlemagne« erhielt.80 Für die Offiziere dieser Division ließ Adolf Hitler als besonderes Memorialobjekt einen Porzellanteller produzieren. Diesen ziert die berühmte, wohl um 870 hergestellte Bronzestatuette des Louvre, die einigen Deutungen zufolge den reitenden Karl den Großen zeigen soll,81 sowie eine lateinische Inschrift: Imperium Caroli Magni Divisum Per Nepotes Anno DCCCXLIII Defendit Adolphus Hitler Una Cum Omnibus Europae Populus Anno MCMXLIII – »Das Reich Karls des Großen, geteilt von den Enkeln im Jahre 843, verteidigt Adolf Hitler zusammen mit allen Völkern Europas im Jahre 1943«82. Im Kern macht der Kontext aber auch hier klar, dass es sich bei diesem emphatisch angerufenen Europa vorrangig um einen ›Zusammenschluss‹ Deutschlands und Frankreichs handelte, also just jener beiden nationalen Pole, zwischen denen Karl seit Jahrhunderten eingespannt war. Darüber hinaus weist der gesamte Rahmen der nationalsozialistischen Karlsbezüge darauf hin, dass dieses Europa eine Konstruktion unter deutscher Führung sein sollte. Karl steht hier für den ›germanischen‹ Reichsgründer, der ein Vorbild als kraftvoller Einiger des Erdteils bieten konnte, ohne dass dies seiner deutschen Verortung widersprochen hätte.83

Karl als Europäer – zwischen dem Westen und der erweiterten EU Nach 1945 vertiefte sich die europäische Verortung Karls, die auf unterschiedlichen Strömungen aufbauen konnte: Erste Grundlagen waren mit Dawsons Darstellung des Karlsreichs als eines religiös geprägten Kulturraums gelegt worden.84 Im Bereich der Publizistik hatte Richard Coudenhove-Kalergi als rühriger Propagator eines »Paneuropa«-Gedankens schon zuvor von einem

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nert, Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940 – 1945, Paderborn 2012. Die verstärkte Bezugnahme ab 1943 betont Conze, Europa der Deutschen, S. 61 f. Schneidmüller, Karl der Große lebt, S. 118. Detailliert zu dieser Division der SS Pierre Giolitto, Volontaires franÅais sous l’uniforme allemand, Paris 1999. Knapp Kerner, Karl der Große, S. 21 (zur Statuette) und S. 221 (zum Porzellanteller). Olaf B. Rader, Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin, München 2003, S. 171. Vgl. Kerner, Karl der Große, S. 219 – 221, sowie Karl Ferdinand Werner, Karl der Große in der Ideologie des Nationalsozialismus. Zur Verantwortung deutscher Historiker für Hitlers Erfolge, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 101 (1997/98), S. 9 – 64. Überzogen wohl Fried, Dunkler Leuchtturm, S. 58: »Erst das Nazitum verschmolz diesen Helden in neuer Weise mit der Europa-Idee.« S. Anm. 77.

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»germanischen Europa« gesprochen, das er mit Karl verbunden sah und als das dritte von insgesamt sechs Europas identifizierte.85 Ohne von einer Fortführung des nationalsozialistischen Karlsbilds sprechen zu wollen, ist es doch frappierend, wie sich in den Jahren nach 1945 unterschiedliche Perspektiven überlagerten. Gebündelt erscheinen sie in der Ausrichtung des im Jahr 1950 erstmals verliehenen Karlspreises. Die »Proklamation« des Preises aus dem Jahr 1949 bezog sich zwar nur knapp auf Karl, präsentierte ihn aber als »Begründer abendländischer Kultur«86. Klarer markierte den intendierten Zuschnitt eine Rede, mit der Kurt Pfeiffer als Initiator des Preises im Dezember des Jahres 1949 den »Gedanke[n] der westeuropäischen Schicksalsgemeinschaft« unterstrich.87 Der Karlspreis sollte also Personen auszeichnen, die sich um die supranationale Harmonisierung verdient gemacht hatten; die Konturen des propagierten Europa waren aber klar auf den Westen des Kontinents eingeschränkt. Für Pfeiffer bestand die Stoßrichtung in der Verteidigung gegen den Osten, der Gegner hieß »Sowjetunion«.88 Unterstützt wurde eine solche Ausrichtung auch durch Fachpublikationen jener Jahre. In einem breit rezipierten Bändchen dachte der im amerikanischen Exil lebende Pole Oskar Halecki über die »Grenzen und Gliederung« Europas in seiner Geschichte nach – mit eigentümlichen Ergebnissen. Während er nämlich Polen aus historischen und kulturellen Gründen – und der slawischen Sprache zum Trotz – klar zu Europa zählte, grenzte er Russland unter Verweis auf den Bolschewismus davon ab.89 Halecki erkannte die Rolle an, die Dawson Karl dem Großen zugeschrieben hatte; darüber hinaus insistierte er aber auf der prä85 Richard Coudenhove-Kalergi, Paneuropa, Wien/Leipzig 1926, S. 29; vgl. zum Autor Vanessa Conze, Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Gleichen/Zürich 2004, sowie (weniger kritisch gegenüber ihrem Protagonisten) Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien/Köln/Weimar 2004. 86 Die Proklamation von 1949, in: 50 Jahre Internationaler Karlspreis zu Aachen 1950 – 2000, Aachen 2000, S. 20. Zum Karlspreis s. auch Helmut Reuther (Hrsg.), Der internationale Karlspreis zu Aachen. Zeugnis europäischer Geschichte. Symbol europäischer Einigung, Bonn 1993. 87 Vortrag von Dr. Kurt Pfeiffer. Gehalten am 19. Dezember 1949 in der »Corona Legentium Aquensis«, Aachen, ebd., S. 30 f., hier S. 30. 88 Ebd.; vgl. Dieter Hägermann, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes, Berlin/München 2000, S. 19. 89 Oskar Halecki, Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte, Darmstadt 1957 [engl. Orig. 1950], S. 90 f. Zu Halecki s. knapp Małgorzata Morawiec, Oskar Halecki (1891 – 1973), in: Dies./Heinz Duchhardt/Wolfgang Schmale/Winfried Schulze (Hrsg.), Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Bd. 1, Göttingen 2006, S. 215 – 239; Klaus Oschema, Les Europes des M¦di¦vistes, Remarques sur la construction d’une identit¦ entre science historique et actualit¦ politique, in: Soci¦t¦ des Historiens M¦di¦vistes de l’Enseignement Sup¦rieur Public (SHMESP) (Hrsg.), §tre historien du Moyen Age au XXIe siÀcle, Paris 2008, S. 37 – 50, hier S. 47 f.

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genden Wirkung der Kontakte zwischen den Westslawen und dem Karolingerreich sowie seinen Nachfolgern im 9. und 10. Jahrhundert, die am Beginn des »Europäischen Zeitalters« entscheidenden Anteil gehabt hätten.90 Die Europa-Vorstellung des Karlspreises war mit ihrer westeuropäischen Ausrichtung noch enger gefasst und operierte alternativ auch mit der Formel vom Abendland. In diesem Sinne verwies auch Coudenhove-Kalergi als erster Preisträger in seiner Dankesrede am 18. Mai 1950 emphatisch auf Karl den Großen, dessen Reich er als »europäisches Kaiserreich« ansprach und in dessen Namen er die Erneuerung der »Einheit des Abendlandes« forderte.91 Zur praktischen Umsetzung schlug er die Schaffung einer Staatengemeinschaft von Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg vor, die »Union Charlemagne« genannt werden solle.92 Es ist bekannt, dass der von Coudenhove-Kalergi umrissene geografische Rahmen tatsächlich zum Kern des folgenden europäischen Einigungsprozesses wurde. Allerdings sollte man daraus keineswegs, wie es zuweilen geschieht,93 auf eine erstaunliche Dauerhaftigkeit der karolingischen kulturellen Prägung schließen, die sich noch über 1000 Jahre nach dem Ende der fränkischen Dynastie auswirkte. Vielmehr lassen sich in den Jahren um 1950 bewusste Bezüge maßgeblicher Politiker auf das Modell Karl nachweisen.94 Damit überrascht es nicht, dass Karl der Große zügig zum Vorbild der europäischen Einigung aufgebaut wurde. Eine besonders markante Etappe dieses Prozesses, bei dem politische Bedürfnisse und Wertungen der Fachwissenschaft eng zusammenspielten, stellte die Karl gewidmete und unter dem Patronat des Europarates stehende Aachener Ausstellung des Jahres 1965 dar.95 90 Halecki, Europa, S. 30 – 35, Zitat S. 35. Jeno˝ Szu˝ cs weist aus ungarischer Perspektive ähnliche Züge auf. S. ders., Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt am Main 1994. Ich danke Gregor Feindt für diesen Hinweis. 91 Rede von Richard Nikolaus Graf Coudenhove Calergi, in: 50 Jahre Internationaler Karlspreis, S. 40 – 42, hier S. 40. 92 Ebd., S. 41. 93 Vgl. Adolf Muschg, Karl der Große – Kleineuropa?, in: Karl der Große und Europa. Symposium, S. 101 – 116, hier S. 112, der durchaus kritisch von einer »verführerischen Koinzidenz« spricht. Sylvain Dufeu, Valeurs et constitutions europ¦ennes. Une identit¦ politique entre deux mythes: universalisme et frontiÀre, Paris 2005, S. 30, Anm. 5, verweist auf die »continuit¦ historique frappante« zwischen dem Karlsreich und dem »Europa der Sechs« von 1958. Vgl. auch C¦line Bathias-Rascalou, Charlemagne et l’Europe, Paris 2004, S. 5 f. (Vorwort von Thomas Granier) und S. 260; Enno Rudolph, Historische Manifestationen der europäischen Identität und ihres Scheiterns, in: Ders./Furio Cerrutti (Hrsg.), Brauchen die Europäer eine Identität? Politische und kulturelle Aspekte, Zürich 2011, S. 205 – 228, hier S. 209. 94 Matthias Pape, Karl der Große – Franke? Deutscher? oder Europäer? Karlsbild und Karlskult in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 4 (2003), S. 243 – 254, hier S. 247. 95 Knapp Pape, Karl der Große, S. 247; dokumentiert ist die Ausstellung im Katalog Die Aus-

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Über dieser Entwicklung des ›europäischen Karlsbildes‹ sollten aber nicht die kritischen Stimmen vergessen werden, die in den Jahren um und nach 1945 ebenfalls existierten. Für manchen Historiker stellte das Karlsreich aufgrund seiner hegemonialen Züge gerade kein Vorbild für die eigene Gegenwart dar. Aus dieser Perspektive hatte das Großreich der Karolinger erst zerfallen müssen, um den Weg für die Entstehung Europas frei zu machen.96 Letztlich ging es bei diesen divergierenden Einschätzungen weniger um das historische Fachwissen als vielmehr um Deutungsfragen, die von der Rekonstruktion der historischen Verhältnisse weitgehend abgelöst diskutiert werden konnten. Denn wer Karl den Großen zum Modell erhob, akzeptierte nicht nur die hegemonialen Züge eines imperialen Anspruchs, sondern votierte implizit auch für die ›kleineuropäische‹ Variante eines (lateinisch-)christlich-abendländischen Europas.97 Diese Vorentscheidung gilt es zu beachten, wenn man die Beiträge von Mediävisten der 1950er-Jahre zu den europäischen Vorstellungen und Realitäten des Mittelalters liest.98 Die Identifikation des ›eigentlichen‹ Europa des Mittelalters mit dem Karolingerreich rechtfertigte zugleich die neue Grenzziehung des »Eisernen Vorhangs« sowie die Selbstbeschreibung der westeuropäischen Staatenorganisationen als europäisch.99 Darüber hinaus mag man es als Reflex der gewohnten nationalen Deutungsvarianten interpretieren, dass die dem Modell Karl gegenüber kritischen Stimmen in der deutschen Geschichtswissenschaft der 1950er- und 1960er-Jahre kaum aufgenommen wurden.100 Zwar wurde der Kaiser hier jetzt meist nicht mehr als »Deutscher«, sondern als »Franke« bezeichnet, aber auch 1956 bildete er in einem Band zu den »Großen Deutschen« noch den Auftakt.101 Diese Schlaglichter zeigen, wie variabel die Deutungsmöglichkeiten auf dem Weg zum europäischen Karl auch nach 1945 noch waren. Interessanterweise

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stellung Karl der Große – Werk und Wirkung, Düsseldorf 1965. Vgl. demnächst auch Philippe Cordez, 1965, Karl der Große in Aachen. Geschichten einer Ausstellung, in: Ausstellungskatalog Karl der Große (Aachen 2014) (in Vorbereitung); ich danke dem Autor für die Überlassung des Beitrags in Manuskriptform. Vgl. den Band Calmettes, wie Anm. 21. Ähnlich äußerte sich, in dezidierter Wendung gegen Dawson, Geoffrey Barraclough, The Crucible of Europe, London 1976. Für weitere Beispiele s. Pape, Karl der Große, S. 245. Den Begriff ›kleineuropäisch‹ entnehme ich hier Muschg, Karl der Große. Vgl. die in Anm. 32 genannten Titel. Insofern erscheint es nur konsequent, dass Karl nicht zu einem ›Jahrgangspatron‹ des Europa-Kollegs in Brügge wurde, s. die Porträts in Henri Brugmans, ProphÀtes et fondateurs de l’Europe, Brügge 1974. Vgl. zudem ders., Visages de l’Europe, Neuch–tel 1965, S. 19: »le Rideau de fer ne correspond pas — une r¦alit¦ ancienne«. So Pape, Karl der Große, S. 245. Ebd., S. 244. Der betreffende Beitrag stammte von Heinz Löwe, Karl der Große, in: Hermann Heimpel/Theodor Heuss/Benno Reifenberg(Hrsg.), Die großen Deutschen. Deutsche Biographie. Bd. 1, Berlin 1956, S. 19 – 34.

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scheinen sich die Auseinandersetzungen dabei weitgehend innerhalb der historischen Fachliteratur abgespielt zu haben. Selbst in der Zeit Adenauers spielte Karl der Große etwa bei den Debatten im Deutschen Bundestag kaum eine Rolle.102 Die Frage erscheint also durchaus berechtigt, ob es sich bei Karls Fortleben um die lebendige Existenz einer ›europäischen Gedächtnisfigur‹ handelt, oder ob diese nicht vielmehr von Historikern künstlich am Leben erhalten wird, indem sie den alten Kaiser immer wieder aufs Neue als solche beschreiben.103 Für die Lebendigkeit könnten immerhin die Unterschiede zwischen den nationalen Traditionen zu sprechen: Aller Europäisierung zum Trotz scheinen nämlich in Frankreich vor allem literarisch geprägte Bezugnahmen nachzuwirken, während in der deutschen Tradition das politische Element im Vordergrund steht.104

›(De-)Provincialising Charlemagne‹ – Beobachtungen und Probleme105 Über die nationalen Grenzen hinweg dominiert heute aber die europäische Verortung Karls. Dies ist nicht nur angesichts der ›nationalen Vorgeschichte‹ des Kaisers bemerkenswert, sondern auch im Hinblick auf die Wandlungen, welche die Europa-Vorstellungen im späteren 20. Jahrhundert durchliefen und die Karl augenscheinlich ohne größeren Schaden überstand. Während sich die Karlsbezüge für die westeuropäische Identitätskonstruktion ab den späten 1940erJahren umstandslos anboten, wandelten sich die Parameter im Gefolge der politischen Umbrüche von 1989/91 und der anschließenden Osterweiterung der EU grundlegend. Dass der ›nationale‹ Karl überwunden ist, erscheint klar,106 und die meisten Historiker dürften sich einig sein, dass die Frage nach seiner nationalen Verortung zwischen Deutschland und Frankreich unproduktiv und in diesem Sinne 102 Peter Segl, Karl der Große im Deutschen Bundestag, in: Das Mittelalter 4 (1999), H. 2, S. 75 – 99. 103 In diesem Sinne skeptisch bereits Kerner, Mythos Karl der Große, S. 97. 104 Ebd., S. 88 (zu den mittelalterlichen Bezugnahmen). 105 Die Überschrift ist natürlich inspiriert von Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. 106 Im Jahr 2003 schaffte Karl es nicht auf die Ranking-Liste der ZDF-Frage nach den »größten Deutschen« – im Gegensatz zu Hildegard von Bingen, Albertus Magnus und Katarina Witt, s. Peter Arens/Guido Knopp, Unsere Besten. Die 100 größten Deutschen, München 2003. Als Indiz mag man auch die Tatsache interpretieren, dass sich heute offenbar nur eine europäische Nationalhymne (jene von Andorra, seit 1928) auf Karl bezieht, s. Schneidmüller, Sehnsucht, S. 248.

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falsch gestellt ist.107 Wie aber sollte die auf den europäischen Westen bezogene Integrationsfigur nun zum Symbol einer politischen Struktur werden, deren territorialer Rahmen weit über jenen des ehemaligen Karolingerreichs hinausgeht? Die Geschichte vieler Mitgliedsstaaten der EU weist keine Bezüge zu Karl dem Großen auf. Wie ist es also zu bewerten, wenn weiterhin der Frankenherrscher als Gründervater Europas propagiert wird? Wie reagieren die Historiker und die Bevölkerung der betreffenden Staaten? Angesichts solcher Fragen bleiben die heute konstruierten Karls-Narrative hochbrisant. So war zwischen 2000 und 2002 an wechselnden Orten die Ausstellung »Europas Mitte um 1000« zu sehen, welche die Regionen um Bayern, Böhmen und Ungarn emphatisch zum Zentrum des Kontinents deklarierte.108 Manche der Konzepte, die der Ausstellungskatalog vermittelt, erstaunen: So spricht der Einleitungstext von der »Integration der Westslawen und Ungarn in das christlich-lateinische Abendland der Zeit um 1000«109 – und verteilt damit klar die Rollen zwischen einer existierenden kulturellen Einheit und den aufzunehmenden Neuankömmlingen. Diese beinahe kolonialistisch anmutende Vorstellung eröffnet damit aber zugleich den Weg zu einer Anknüpfung der Völker des »jüngeren Europa« oder auch des »neuen Europa«110 an die prägenden Figuren der Kultureinheit.111 Europa ist aus einer solchen Perspektive aber nicht mehr eine sich historisch entwickelnde, für Einflüsse offene Größe, sondern besitzt gleichsam einen verfestigten Kern, an den sich Neuankömmlinge ›anpassen‹ müssen. Wollte man eine solche Vorstellung annehmen, dann ließe sich wohl ein produktiver Platz für Karl den Großen reservieren, der hier postum die hegemonialen Tendenzen

107 Dies gegen Fried, Karl der Große, S. 35; vgl. Werner, Karl der Große oder Charlemagne? 108 Dokumentiert im Katalog Alfried Wieczorek/Hans-Martin Hinz (Hrsg.), Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie. 3 Bde., Stuttgart 2000. 109 Alfried Wieczorek/Johannes Fried/Michael Müller-Wille, Europas Mitte um 1000, ebd., Bd. 1, S. i – iii, hier S. i. 110 So ausdrücklich aus polnischer Perspektive Henryk Samsonowicz, Das lange 10. Jahrhundert. Über die Entstehung Europas, Osnabrück 2009, S. 13 (»jüngeres Europa«), und ders., Polens Platz in Europa, Osnabrück 1997, S. 22 (»Neue[s] Europa«). Beide Wendungen sind unglücklich: Während die erste eine subtile Hierarchisierung zwischen ›alt‹ und ›jünger‹ transportiert, begegnet die Formel ›Neues Europa‹ vor allem in ideologisch aufgeladenen Schriften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von Masaryks »Neuem Europa« bis zum italienisch-faschistischen Konzept des »Neuen Europa«. 111 Wieczorek/Fried/Müller-Wille, Europas Mitte, S. iii: »Innerhalb eines Jahrhunderts war somit in fast allen Bereichen, die über die materiellen Hinterlassenschaften greifbar sind, die Angleichung der Ungarn an die Nachbarvölker in der Mitte Europas vollzogen.« Zur Problematik moderner Mittelalter-Bezüge mit politischer Motivation s. demnächst Rainer Gruhlich, Was ist »europäisch« an der europäischen Geschichte des Mittelalters? Das Mittelalter im Zeichen europäischer Geschichtspolitik, in: Jahrbuch für europäische Geschichte [in Vorbereitung].

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ausleben könnte, auf die Jaques Le Goff hinwies.112 Tatsächlich lassen sich auch schon im Mittelalter solche Anknüpfungsversuche beobachten: Henryk Samsonowicz wies darauf hin, dass man sich im Epos des hohen Mittelalters polnische Krieger unter den Truppen Karls der Großen vorstellen konnte.113 Auch Samsonowicz, der die historische Zugehörigkeit Polens zu Europa untermauern will, kann aber letztlich nur wenig mit dem Frankenherrscher anfangen. Stattdessen ›wächst‹ aus seiner Sicht Polen im 10. Jahrhundert ›nach Europa hinein‹114 – in ein Europa also, in dem das Karlsreich längst zerbrochen ist. Angesichts der zeitlichen Nähe der politischen Umwälzungen von 1989/91 und der nur langsamen Reaktionszeit der historischen Forschung ist noch nicht abzusehen, wie sich die Figur Karls des Großen in ihren europäischen Bezügen weiter entwickeln wird. Ähnliche Beispiele bezeugen aber die Flexibilität kollektiver Identifikationsfiguren, deren Wirkungsbereich als Erinnerungsort keineswegs mit ihren historischen Handlungsräumen übereinstimmen muss115 – die Schere zwischen geschichtswissenschaftlicher Analyse und dem ›kollektiven Gedächtnis‹ kann weit aufgehen. In diesem Sinne zeigen die Konstruktionen des europäischen Karl, dass sich die Geschichtswissenschaft den Einflüssen des ›Gedächtnisses‹116 nicht entziehen kann, da sie nicht außerhalb ihrer sozialen Umwelt steht. Auch wenn es aus einer ›wissenschaftlichen‹ Perspektive wenig sinnvoll erscheint, von Karl als »Vater Europas« zu sprechen, bedeutet dies nicht, dass sich ein solches Bild nicht verfestigen kann. Die dabei zu beobachtenden Prozesse und Deutungen bieten erneut Material für die historische Untersuchung. Sieht man eine der Aufgaben einer kritischen Geschichtswissenschaft in ihrer Funktion als Korrektiv für allzu freie Deutungen unserer Vergangenheit – und

112 Vgl. Anm. 22. 113 Samsonowicz, Polens Platz, S. 30. Die polnische Tradition steht hier nicht allein – weder für das Mittelalter noch für die Moderne. Vgl. etwa zur mittelalterlichen Tradition des katalanischen Klosters Ripoll die Studie von Nikolas Jaspert, Karolingische Legitimation und Karlsverehrung in Katalonien, in: Herbers (Hrsg.), Jakobus, S. 121 – 159, der auf die ›realitätsferne‹ Natur der »fundierenden Erzählungen« mit Karlsbezug in Katalonien hinweist (S. 156) und auch aktuelle Bezugnahmen kurz erwähnt (S. 158). 114 Samsonowicz, Polens Platz, S. 13. 115 Vgl. als prominentes Beispiel die Figur des »Wilhelm Tell«, die auch in der romanischsprachigen Schweiz wirkt, s. Jean-FranÅois Bergier, Wilhelm Tell. Realität und Mythos, München 1990. Eine kritische Bestandsaufnahme zum Schweizer Kontext bietet Guy P. Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006. 116 Gedächtnis sei hier als Gegensatz zur distanzierenden Geschichte begriffen, s. Pierre Nora, Entre M¦moire et Histoire. La probl¦matique des lieux, in: Ders. (Hrsg.), Les lieux de m¦moire. Bd. 1., Paris 1997 [EA 1984], S. 23 – 43; vgl. knapp Metzger, Geschichtsschreibung, S. 42 f.

Ein Karl für alle Fälle

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vieles spricht für eine solche Einschätzung117 –, dann ist aber schon jetzt darauf hinzuweisen, dass die bisherige ›Europäisierung‹ Karls um den Preis einer verzerrenden ›Purifizierung‹ der historischen Bestandsaufnahme erkauft wurde: Europäisch an Karl wurden nämlich all jene Aspekte seiner Geschichte und Person, die uns aus heutiger Warte als wertvolle Anknüpfungspunkte erscheinen mögen – von der karolingischen ›Bildungs-‹ bis zur ›Münzreform‹ –, während problematische Seiten entweder ausgeblendet oder heruntergespielt wurden.118 Mit einem solchen Vorgehen wären aber viele Figuren zu ›Vätern Europas‹ zu stilisieren, und der Bezug auf die Geschichte verkäme zu einem rein ideologischen Gedankenspiel. An Karl dem Großen lassen sich die Prozesse und Effekte bei der Konstruktion identitätsprägender Gedächtnisfiguren schon jetzt beispielhaft aufzeigen. Die zukünftige Entwicklung dürfte dem neue und spannende Facetten hinzufügen.

117 Vgl. Olaf Asbach, Konstruktionen einer politischen Identität Europas. Dimensionen und Fallstricke eines Diskurses zwischen Wissenschaft und Politik, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 11 (2007), H. 3/4, S. 281 – 295, hier S. 295: »Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, die Entstehung und das Funktionieren europäischer Identitätskonstruktionen zu analysieren und nicht, an ihrer Errichtung und Durchsetzung mitzuwirken.« 118 Vgl. in diesem Sinne insbesondere Mordek, Karl der Große; damit greift auch die Kritik von Heffernan, s. Anm. 8.

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Wikinger und Wikingerzeit – Der vormittelalterliche Norden als Gegenstand europäischer Erinnerung?

Der Wikinger ist ein Alltagsmythos. Intensive wissenschaftliche Analyse, literarische und künstlerische Rezeption haben dem Begriff und den mit ihm verbundenen bildlichen Symbolen – insbesondere dem charakteristisch geformten Schiff1 – seit dem 19. Jahrhundert ein Bündel an Assoziationen angehängt und im kollektiven Bewusstsein verankert, welches den Wikinger in der gesamten westlichen Welt in verschiedensten Kontexten attraktiv macht: Er begegnet in zahlreichen Ausstellungen, allenthalben bei verschiedenen Formen des reenactment, als Typus in Fantasy-Romanen, in Comics wie Asterix und Hägar der Schreckliche, in Computerspielen, in Filmen, deren Bandbreite von der Zeichentrickserie Wickie und die starken Männer über Dokumentationen bis hin zu aufwendigen Hollywood-Produktionen reicht, in Markennamen und in der Werbung für verschiedenste Produkte. Auch der Europarat präsentiert auf seinen Webseiten über das kulturelle Erbe Europas eine »Viking Cultural Route«, welche wie zahlreiche andere solcher Routen die Wahrnehmung von Geschichte als europäisch und damit eine europäische Identität durch Kulturtourismus stärken soll. Die gezielte und in der aktuellen Rezeption keineswegs dominante Vereinnahmung des Wikingers für Europa aus erinnerungspolitischen Motiven geht dabei Hand in Hand mit der Zertifizierung von Kooperationen zwischen verschiedenen Institutionen, die aufgrund der touristischen Zielrichtung auch kommerziellen Charakter besitzen – womit sich der Kreis zur Produktwerbung schließt.2 Ein solch vielgestaltiges Phänomen setzt voraus, dass sich um den Wikinger 1 Einen Überblick hierzu bietet Daniel Föller, Die Wikinger und ihre Schiffe, in: Johannes Fried/ Olaf B. Rader (Hrsg.), Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, München 2011, S. 167 – 179. 2 Council of Europe, Culture, Heritage and Diversity : The Viking Routes (1993), http:// www.coe.int/t/dg4/cultureheritage/culture/Routes/viking_en.asp (30. 09. 2013). Vgl. die Homepage des »European Institute of Cultural Routes« zum dahinterstehenden Ziel, ein »europäisches« Geschichtsbewusstsein zu befördern: http://www.culture-routes.lu/php/ fo_index.php?lng=en& dest=bd_pa_det& unv=em (30. 09. 2013).

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ein »sekundäres semiologisches System«3 etablierte. Es ruft beim Rezipienten bereits auf der präreflexiven Wahrnehmungsebene (positive) Assoziationen hervor, etwa mit Skandinavien, Seefahrt, Entdeckergeist, Mobilität, Unbesiegbarkeit, Lernfähigkeit oder handwerklichem Können, die trotz des prinzipiellen Wissens um die Brutalität skandinavischer Plünderungszüge frei von Ambivalenz zu sein scheinen.4 Der Aneignung durch den Rezipienten steht offenbar keine solche Alteritätserfahrung im Wege, wie sie die Wahrnehmung anderer mittelalterlicher Phänomene, etwa der Kreuzzüge oder des Investiturstreits, dominiert. Es wäre wohl aussichtslos, mit einem anderen dem Mittelalter entnommenen Emblem zugleich Rasenmäher, Bücher, Konditoreiwaren, Kreuzfahrten oder gar ein gemeinsames europäisches Erbe vermarkten zu wollen. Auch wenn der hier abgerufene Inhalt nahezu komplett semantisiert und nicht an bestimmte Episoden beziehungsweise spezifische historische Orte geknüpft ist,5 bildet derart als Mythos Erinnertes einen Teil des Referenzrahmens von Erinnerung. Gleichzeitig ist der im anthropologischen Sinne zum Mythos geronnene Wikinger seinerseits ein Resultat von Erinnerungsprozessen, welche sich einerseits aufgrund ihrer diachronen Vielschichtigkeit und ihrer jeweiligen synchronen Vielstimmigkeit ausgesprochen vielfältig ausnehmen, andererseits aber immer besonders stark durch die jeweilige Gegenwart geprägt wurden. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Ferne aller überlieferten Erinnerungszeugnisse von ihrem historischen Gegenstand, dem vormittelalterlichen6 Norden 3 Roland Barthes, Mythologies, Paris 1957, S. 222. Vgl. auch die Bemerkungen von Rudolf Simek, Die Wikinger, München 1998, S. 7 – 10. 4 Als Beispiel für das positive populäre Bild mag Priit J. Vesilind, In Search of Vikings, in: National Geographic 197 (2000), H. 5, S. 2 – 27 gelten. Eine Rubrik, ebd. S. 10 f., stellt lapidar fest: »In a casually brutal age Vikings were simply better brutes.« Auch Titel wie »Wikinger – Genies aus der Kälte« (Dokumentation des ZDF, 1996) oder die Deckblattgestaltung der Zeitschrift Geo Epoche 53 (2012) mit der Abbildung eines berühmten wikingerzeitlichen Helms mobilisieren beim Käufer o. g. Assoziationen. An der Schnittstelle von Wissenschaft und populärer Rezeption war v. a. Peter Foote/David M. Wilson, The Viking Achievement. The Society and Culture of Early Medieval Scandinavia, London 1970 wirkmächtig. Problematisch erscheint hier, dass die hochmittelalterliche Überlieferung als Zeugnis für »wikingische Kultur« angesehen und zudem das Etikett Wikinger für kulturelle Phänomene bis ca. 1200 in Anspruch genommen wird. 5 Vgl. die Trennung von semantischem und episodischem Gedächtnis bei Daniel A. Schachter/ Anthony D. Wagner/Randy L. Buckner, Memory Systems of 1999, in: Endel Tulving/Fergus I.M. Clark (Hrsg.), The Oxford Handbook of Memory, Oxford/New York 2000, S. 627 – 643, hier S. 627 – 633. 6 Der Begriff ›vormittelalterlich‹ steht hier bewusst an Stelle von ›frühmittelalterlich‹, weil der Wikinger sich als Kulturtypus oft außerhalb des (post-)karolingisch konzeptualisierten europäischen Mittelalters befindet. Vgl. hierzu Klaus Oschema, Europa in der mediävistischen Forschung – eine Skizze, in: Rainer Christoph Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hrsg.), Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur, München 2006, S. 11 – 32, hier S. 31 f., und seinen Beitrag in diesem Band.

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Europas und seinen Bewohnern. Sie hinterließen zwar selbst zahlreiche Erinnerungen an Verstorbene auf Runensteinen und in Skaldengedichten, abgesehen von einer reichen mythologischen Tradition. Diese erhielt ihre früheste überlieferte Form indes erst in dänischen und isländischen Skriptorien;7 die ältesten historiografischen Werke entstanden nur wenig früher. Zwischen dem Erinnerten und den ersten überlieferten Erinnerungszeugnissen liegen also, sofern sie aus Skandinavien selbst stammen, mindestens ein, meist jedoch mehrere Jahrhunderte rasanter und tief greifender gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen, deren einschneidendste die Christianisierung gewesen sein dürfte. Erst die Übernahme eines linear-eschatologischen Weltbildes und die schriftliche Fixierung komplexer Zusammenhänge ermöglichte Erinnerung jenseits einer »rituellen Kohärenz«, die Vergangenes in Mythologie aufgehen lässt.8 Zur Wikingerzeit synchrone Erinnerungen aus anderen europäischen Regionen dagegen entstanden wiederum in anderen kulturellen Kontexten und bringen ihrerseits, ähnlich wie die christlichen Autoren des skandinavischen Hochmittelalters, ganz anderes Weltwissen zur Anwendung als diejenigen, an deren Taten sie sich erinnern. Die Tatsache, dass Erinnertes »immer schon in Rezeption übergegangen«9 ist, erweist sich für die Wikingerzeit als besonders signifikant: Gleich, welcher der zahlreichen Zeitschichten überlieferte Zeugnisse angehören mögen, niemals greifen sie vor diejenigen des Mittelalters zurück, weshalb Letzteren eine besondere Bedeutung zukommt. Freilich ist der semantisch so aufgeladene Wikingerbegriff verhältnismäßig jung, ebenso wie der Terminus ›Wikingerzeit‹, den der dänische Archäologe Jens Jakob Asmussen Worsaae 187310 etablierte. Doch muss sich eine Analyse, welche die davor- und darunterliegenden Schichten exemplarisch in den Blick nehmen will, von einzelnen Objekten, der 7 Mythologische Inhalte in größerem Umfang verarbeiten die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (um 1180 – 1210), der Codex regius der Liederedda (um 1270, zurückgehend auf eine Vorlage des früheren 13. Jahrhunderts) und die Snorra-Edda (um 1220 – 25). 8 Die Bedeutung des Übergangs von ritueller zu textueller Kohärenz für das kulturelle Gedächtnis behandelt Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2005, S. 87 – 103. Zu den Implikationen für Skandinavien u. a. Lars Boje Mortensen, Sanctified Beginnings and Mythopoietic Moments. The First Wave of Writing on the Past in Norway, Denmark, and Hungary, c. 1000 – 1230, in: Ders. (Hrsg.), The Making of Christian Myths in the Periphery of Latin Christendom (c. 1000 – 1300), Kopenhagen 2006, S. 247 – 273, hier S. 255 – 260 und S. 265 – 269; Roland Scheel, Lateineuropa und der Norden. Die Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts in Dänemark, Island und Norwegen, Berlin 2012, S. 11 – 17. 9 Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11 – 66, hier S. 28. 10 Jens Jakob Asmussen Worsaae, De Danskes Kultur i Vikingetiden [Die Kultur der Dänen in der Wikingerzeit], Kopenhagen 1873.

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erst spät fest etablierten Vokabel sowie ihrer modernen Bedeutung lösen: Nicht der Signifikant, sondern das Signifikat ist das Senkblei, mit dem sich die Geschichte der Erinnerungen an den vormittelalterlichen Norden ausloten lässt. Dies zeigt sich umso deutlicher, als die Vokabel, welche ihren Weg in der schwedischen Großmachtzeit, und dann besonders intensiv seit der Nationalromantik, aus dem Isländischen der mittelalterlichen Sagas in andere nordgermanische und praktisch alle europäischen Sprachen fand, in den Sagas selbst mit ganz verschiedenen Konnotationen begegnet. Nachweisbar ist das Wort v†kingr beziehungsweise das seine Fahrten beschreibende Femininum v†king in Skandinavien bereits in Runeninschriften und Skaldengedichten, welche der Wikingerzeit selbst entstammen, sowie in angelsächsisch-lateinischen Glossarien schon um das Jahr 700.11 Seine Etymologie wurde bis heute nicht eindeutig geklärt, doch bezeichnet es von seinem frühesten Auftreten an Seeräuber beziehungsweise Seeräuberei, freilich ohne ethnische Konnotation. Eine Identifikation mit Skandinaviern tritt erst gegen Ende des 10. und im 11. Jahrhundert in angelsächsischen Texten zutage, zu einer Zeit, als auch vereinzelte skandinavische Runeninschriften ebensolche Seekrieger vı¯kingr nennen.12 In zeitgenössischen lateinischen Texten aus Regionen, die von skandinavischen Raubzügen betroffen waren, wurden die Akteure schlicht als piratae oder mit Ethnonymen wie Dani oder Normanni bezeichnet. Das Schwinden des Phänomens skandinavischer Plünderer im späteren 11. Jahrhundert bewirkte schließlich auch, dass seine Bezeichnung verschwand – erhalten blieb sie allein in altwestnordischen, insbesondere auf Island geschriebenen Texten, welche eigene und fremde Geschichte erinnern, aber auch fiktionale Geschichten erzählen. Dabei blieb die Bedeutung von v†kingr als »Seekrieger auf Beutefahrt« zwar erhalten, doch wurde sie keineswegs ethnisch auf Skandinavien bezogen, als Ethnonym über konkrete Personen hinaus ausgeweitet oder gar »national« aufgeladen. Vielmehr finden sich v†kingar unter den eigenen Vorfahren nur in der ferneren, überwiegend heidnischen Vergangenheit in negativ konnotierten Rollen,13 während in der Gegenwartsgeschichte des Hochmittelalters andere »heidnische« Plün11 Thorsten Andersson, Wikinger (Sprachlich), in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 35, Berlin/New York 2007, S. 687 – 697; Jana Krüger, »Wikinger« im Mittelalter. Die Rezeption von v†kingr m. und v†king f. in der altnordischen Literatur, Berlin/New York 2008, S. 2 – 10. 12 Neben mehreren ostnordischen, meist schwedischen Fundstellen mit Vı¯kingr als Eigennamen existieren vier Steine, die Personen als vı¯kingr oder Teil einer Gruppe von vı¯kingar bezeichnen; drei Inschriften beinhalten das Femininum vı¯king; Krüger, Rezeption, S. 42 – 45 und S. 62 f. Unerwähnt bleibt bei ihr die Inschrift Sm 10, s. Samnordisk runtextdatabas: http://www.nordiska.uu.se/forskn/samnord.htm/?languageId=1, (30. 09. 2013). 13 Krüger, die neben wikingerzeitlichen Zeugnissen Konungasögur untersucht, stellt für das Mittelalter einen überwiegend pejorativen Gebrauch des Wortes v†kingr fest, wohingegen der Begriff für die Heerfahrt (v†king) wertneutral gebraucht wird. Ebd., S. 211 – 217.

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derer, wie etwa Wenden im Ostseeraum oder muslimische Piraten im Mittelmeer, als v†kingar firmieren, gegen welche aktuelle Kreuzzugsrhetorik in Anschlag gebracht wird.14 In einigen spätmittelalterlichen, fiktionalen Fornaldarsögur (Vorzeitsagas) wiederum können Krieger auf v†king, dem unmittelbaren moralisch-tropologischen Anspruch der Historiografie entrückt, als burleske Helden der Unterhaltung des isländischen Publikums dienen. Das benachbarte Genre der Märchensagas wiederum benötigt den oft ins Dämonenhafte gesteigerten v†kingr als Störer der Ordnung und finsteren, dämonischen Widerpart zu seinen strahlenden Ritterhelden.15 Die Grundlagen (post-)moderner Wikingerrezeption erschließen sich über die verschiedenen Bilder, welche die vormodernen Skandinavier sich von ihrer Geschichte machten. Daher ist die Rezeption der altnordischen Literatur, insbesondere der dort verarbeiteten nordischen Mythologie, untrennbar mit der Erinnerung an den Norden vor der Integration in die christliche Schriftkultur Lateineuropas verbunden. Mit dieser Kulturverflechtung scheint zugleich ein Aspekt dessen auf, was üblicherweise im Nachhinein als europäisch bezeichnet wird, auch wenn die Vokabel Europa in den behandelten Zeugnissen nicht begegnet. Auf ein solches Labelling wird hier bewusst verzichtet, doch werden gruppenübergreifende Bezüge, welche über die Gesellschaften und den geografischen Raum Skandinaviens hinausgreifen, als Element spezifischer Eigenschaften des Wikingers ebenfalls beobachtet.

Eine Epochenschwelle und ihre Überbrückung Gleich am Anfang der šslendingabûk, des ältesten überlieferten isländischen Geschichtswerks, das Ari Æorgilsson zwischen 1122 und 1133 verfasste, begegnet ein heidnischer Skandinavier in der Rolle des mordenden Seeräubers: švarr Ragnarsson habe 870, im Jahr der Entdeckung Islands durch Norweger, den Heiligen König Edmund von Ostanglien töten lassen. Aus dessen saga habe er das Datum entnommen, das mangels Kontrollquelle für Aris Feststellung bis heute einen bedeutenden Fixpunkt der isländischen Nationalgeschichte und 14 So im Bericht über den Kreuzzug des Königs SigurÅr Jûrsalafari (des »Jerusalemfahrers«, 1103 – 1105) in Ýrmann Jakobsson/ÆûrÅur Ingi GuÅjûnsson (Hrsg.), Morkinskinna, Reykjav†k 2011, Bd. 2, Kap. 65, S. 80. Hier schlägt der Kreuzfahrer eine Schlacht gegen muslimische Piraten bei der Straße von Gibraltar. 15 Zu den Fornaldarsögur s. im Weiteren Kurt Schier, Sagaliteratur, Stuttgart 1970, S. 72 – 91. Zu den Riddarasögur ebd. S. 92 – 104, und Jürg Glauser, Isländische Märchensagas. Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island, Basel/Frankfurt am Main 1983, bes. S. 215 – 218.

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ihres Chronologiegerüsts darstellt.16 Es liegt auf der Hand, dass der Pionier der isländischen Historiografie auf lateinische Texte zurückgreifen musste, um relative Datierungen aus der lokalen mündlichen Überlieferung mit der Inkarnationsära in Verbindung bringen zu können. Er benötigte Skandinavier, an die sowohl in der einheimischen oralen Tradition als auch in Texten Erinnerungen vorhanden waren. Insofern ist es bezeichnend, dass der isländische Gelehrte diese Verbindung skandinavischer und lateineuropäischer Geschichte in einer Heiligenvita suchte und fand: Der heidnische Skandinavier švarr ist in ferner Vergangenheit das Werkzeug des Martyriums eines christlichen Königs. Dies unterstreicht die zentrale Bedeutung, welche der »Glaubenswechsel« zum Christentum, das siÅaskipti, auf Island im gleichen Werk einnimmt.17 Es konstituiert die entscheidende Epochenschwelle, auf welche die vorherige Geschichte teleologisch ausgerichtet wird. Hierin zeigt sich ein anderer Aspekt der Erinnerung an den vorchristlichen Norden, der Alterität gleichzeitig zu ihrer Konstitution wieder einebnet: Nicht nur sind die Vorfahren trotz ihrer Unkenntnis der christlichen Offenbarung zum moralischen Handeln nach christlichen Maßstäben fähig, sondern sie übertreffen alle anderen »Völker«, deren Erinnerungen zu jenem Zeitpunkt in lateinischer Sprache fixiert waren, indem sie sich ohne einen König selbst bekehren und damit vom Muster klassischer Bekehrungsgeschichten abweichen. Der anachronistische Charakter und die politische Intention der Identitätsstiftung in einem gruppenübergreifenden, christlichen Kontext sind offensichtlich. Zwar wird die eigene Vergangenheit als fern und andersartig erinnert, jedoch zugleich einer gegenwartsbezogenen und moralisch-allegorischen Aneignung zugänglich gemacht. Der plündernde Seekrieger švarr vom Anfang der šslendingabûk hat in diesem isländischen Selbstbild scheinbar keinen Platz. In der Tat war švarr zwar Skandinavier,18 16 Jakob Benediktsson (Hrsg.), šslendingabûk. Landn‚mabûk [Isländerbuch. Landnahmebuch], Reykjav†k 1968, Kap. 1, S. 4 f. Zur Bedeutung der Berechnungen für das Geschichtsbild bis heute Adolf FriÅriksson/Orri V¦steinsson, Creating a Past. A Historiography of the Settlement of Iceland, in: Studies in the Early Middle Ages 5 (2003), S. 139 – 161, hier S. 142 – 149 und S. 157 f. Vgl. hierzu nationalgeschichtliche Darstellungen, etwa Gunnar Karlsson, The History of Iceland, London 2000, S. 9 – 14. 17 Hier und im Folgenden Gerd Wolfgang Weber, Intellegere historiam. Typological Perspectives of Nordic Prehistory (in Snorri, Saxo, Widukind and Others), in: Kirsten Hastrup/ Preben Meulengracht Sørensen (Hrsg.), Tradition og historieskrivning. Kilderne til Nordens ældste historie [Tradition und Geschichtsschreibung. Quellen zur frühesten Geschichte des Nordens], ærhus 1987, S. 95 – 141, hier S. 114 – 122; Else Mundal, šslendingabûk. The Creation of an Icelandic Christian Identity, in: Ildar H. Garipzanov (Hrsg.), Historical Narratives and Christian Identity on a European Periphery. Early History Writing in Northern, East-Central, and Eastern Europe (c. 1070 – 1200), Turnhout 2011, S. 111 – 121; Scheel, Lateineuropa, S. 133 – 140. 18 Eine zeitgenössische Definition versteht unter »Skandinaviern« alle Sprecher der »dänischen Zunge«. Der Begriff do˛nsk tunga als Sammelbezeichnung für die nordgermanischen Dialekte

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jedoch kein Isländer, sondern Däne. Er bleibt in der šslendingabûk das Symptom einer Epoche, in der Isländer als Siedler und Aufbauer eines Gemeinwesens andere Aufgaben wahrnahmen. Diese Trennung setzt sich in der umfangreichen altwestnordischen, ganz überwiegend auf Island entstandenen Literatur fort: Der v†kingr als Protagonist von Erzählungen gehört, abgesehen von seiner Rolle in den Königssagas, in eine mythologische Zeit vor der Besiedlung der Insel. »Wikingersagas« als eine noch zu behandelnde Untergattung der Fornaldarsögur (Vorzeitsagas) mit den dort häufig verarbeiteten mythologischen Inhalten handeln von einer fernen, nicht historiografisch bestimmbaren Vorzeit. Als Konsequenz sind weder Seekrieger noch mythologische Geschichte in den historiografischen Erinnerungszeugnissen über Island selbst sonderlich präsent, sondern gattungsmäßig oder geografisch »ausgelagert«. Hieraus resultiert die an sich paradoxe Situation, dass nur im Isländischen das Wort v†kingr bis in die Moderne durchgehend benutzt wurde und von dort in andere Sprachen (rück-) entlehnt werden musste, es sich auf Island selbst aber nicht als Schlagwort für die Erinnerung an eine historische Epoche etablierte. Anders verhält es sich in jenen Regionen Skandinaviens, deren Gesellschaften in den Jahrhunderten zuvor auf die Beutezufuhr von außen angewiesen waren.19 In Dänemark, wo im frühen 12. Jahrhundert erste historiografische Werke entstanden, spielt die vorchristliche Geschichte zunächst keinerlei Rolle. Dennoch dringt die negative Außensicht auf die heidnischen Skandinavier aus dem Frühmittelalter auch im Norden in die Texte durch. So registriert Ælnoth, der erste Geschichtsschreiber in Dänemark, auch bei den zum Christentum bekehrten Dänen eine tief verwurzelte, aus der heidnischen Vergangenheit herrührende Neigung zur Barbarei. Diese äußere sich vor allem dadurch, dass sie sich nicht der gerechten Herrschaft eines starken Königs beugen wollen: So erschlagen die Jüten in einer Aufwallung heidnischen Freiheitsverlangens ihren eigenen König Knud und machen ihn so zum Märtyrer. Ælnoths Bild einer gar nicht fernen Vergangenheit ist verdunkelt durch Verhaltensmuster, welche noch aus der »Kälte des Heidentums« (frigor antiquae infidelitatis) stammen.20 und den Siedlungsraum ihrer Sprecher lässt sich in der Skaldendichtung ab dem früheren 11. Jahrhundert ebenso wie in der Historiografie nachweisen: Sigvatr ÆûrÅarson, V†kingarv†sur, Str. 15, in: Finnur Jûnsson (Hrsg.), Den norsk-islandske Skjaldedigtning [Die norwegisch-isländische Skaldendichtung]. Bd. B1, Kopenhagen 1912, S. 216; Bjarni AÅalbjarnarson (Hrsg.), Snorri Sturluson. Heimskringla, Reykjav†k 1957, Prologus, Bd. 1, S. 3. 19 Vgl. Jûn ViÅar SigurÅsson, Norsk Historie 800 – 1300. Fr” høvdingemakt til konge- og kyrkjemakt [Norwegische Geschichte. Von der Macht der Magnaten zu Königs- und Kirchenmacht], Oslo 1999, S. 62 – 73. 20 Ælnoth schreibt seine Gesta Swenomagni regis et filiorum eius et Passio gloriosissimi Canuti regis et martyris, eine in Historiografie eingebettete Vita des Hl. Königs Knud († 1086), um 1110 – 17. Hier relevant: Kap. 22 – 28, in: Martin Clarentius Gertz (Hrsg.), Vitæ sanctorum

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Zweifellos leiten sowohl Konventionen der Hagiografie als auch die Absicht, den Heiligenkult um König Knud in Odense zu fördern, Ælnoths Erinnerung. Nichtsdestoweniger wird die »wikingische« Vergangenheit auch vom ersten einheimischen Geschichtsschreiber, dem anonymen Verfasser des Chronicon Roskildense21, ausgeblendet. Eine Änderung tritt erst ein, als in Dänemark nach 1157 unter der stabilen Herrschaft eines Königs eine Phase flottengestützter »dänischer« Aggression und Expansion – nunmehr geprägt durch aktuelles Kreuzzugsdenken22 – im Baltikum beginnt. Im Laufe der 1160er-Jahre gelangt im kurzen Chronicon Lethrense erstmals in Skandinavien einheimische Geschichte vor der Berührung mit dem Christentum aufs Pergament. Die Chronik orientiert sich an einer Reihe von Königen, die in Lejre, einem prähistorischen Ort in der Nähe von Roskilde, herrschten, und integriert mythologische Helden mit spezifischen Eigenschaften in ihr historiografisches Gerüst: Einige von ihnen schützen das Land vor allen Invasionen, insbesondere aus dem Süden, andere wie der König Helge und sein Sohn Rolf Krake sind Seekönige (reges marini), führen Krieg zu See (bellum navale) und leben teilweise von Seeräuberei (piratia).23 Obschon einem das Wort ›Wikinger‹ nicht begegnet, wird der umherziehende, plündernde Seeräuber als Herrscher- und Heldentypus hier in die eigene, wenn auch ferne Geschichte inkludiert, die nicht bis an die Epochenschwelle der Christianisierung heranreicht: Das Chronicon Lethrense endet, bevor die Vergangenheitsgeschichte etwa im Chronicon Roskildense einsetzt.24 Diese Lakune bleibt auch in der ersten umfassenden Darstellung dänischer Geschichte, der Brevis historia regum Daciae aus den 1180er-Jahren,25 erhalten und ermöglicht es, ferne und nahe Geschichte analog zu Altem und Neuem Testament typologisch aufeinander zu beziehen, indem die Vorgeschichte gezielt

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Danorum, Kopenhagen 1908, S. 108 – 123. Der frigor antiquae infidelitatis findet sich in Kap. 1, S. 84. Die 1137/38 verfasste Chronik ist ediert in Martin Clarentius Gertz (Hrsg.), Scriptores minores historiae Danicae medii ævi, Kopenhagen 1917 – 22, Bd. 1, S. 14 – 33. Zur Bedeutung des Kreuzzugsgedankens für die dänische Geschichte im Hochmittelalter Kurt Villads Jensen, Korstog ved verdens yderste rand. Danmark og Portugal ca. 1000 til ca. 1250 [Kreuzzüge am äußersten Rand der Welt. Dänemark und Portugal ca. 1000 – 1250], Odense 2011, hier S. 437 – 444. Das Chronicon Lethrense entstand als Ergänzung des Chronicon Roskildense um mythologische Vorgeschichte höchstwahrscheinlich ebenfalls in Roskilde; Edition in Gertz (Hrsg.), Scriptores minores, Bd. 1, S. 42 – 53. Der Wikinger Helge wird behandelt in Kap. 4, S. 47. In den überlieferten Handschriften ist die Chronik in einen universalgeschichtlichen Kontext eingebunden. Auf sie folgen die A.D. 768 einsetzenden Annales Lundenses. Hierzu und zur Einordnung der Chronik Scheel, Lateineuropa, S. 73 – 80. In Gertz (Hrsg.), Scriptores minores, Bd. 1, S. 94 – 141. Die Lakune wird in Kap. 4, S. 106 besprochen. Vorgeschichte und Vergangenheitsgeschichte werden erst verbunden in den Gesta Danorum, dazu Inge Skovgaard-Petersen, Da tidernes herre var nær. Studier i Saxos historiesyn [Als der Herr der Zeiten nahe war. Studien zu Saxos Geschichtsbild], Kopenhagen 1987, S. 190 – 192.

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auf die Muster der Vergangenheitsgeschichte hin ausgerichtet wird.26 Ein bedeutendes Element der »alten« Geschichte ist dabei der Seeräuberheld, der auf diese Weise – am eindrucksvollsten in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, doch auch in der lateinischen Historiografie Norwegens27 – Teil gruppenübergreifender Erinnerung im nordischen Hochmittelalter wird. Konsequente historiografische Gegenwarts(be)spiegelung kennzeichnet die Konstruktion sowie die Überwindung der Epochenschwelle zum vormittelalterlichen Norden bereits in ihren frühesten Zeugnissen. Dass diese mittelalterliche Erinnerung an den vormittelalterlichen Norden in mehrerlei Hinsicht Bezüge zu einer imaginierten, den »eigenen« Raum übergreifenden Geografie aufweist, mögen zwei Beispiele verdeutlichen: Einerseits bezieht sich die Historia de profectione Danorum in Hierosolymam, die kurz vor 1200 unmittelbar nach einem dänisch-norwegischen Kreuzzug entstand, auf das Verhältnis zu den Nachbarn: Als die Nachricht vom Fall Jerusalems den dänischen Hof erreicht, legt der Autor einer Figur eine exhortative Rede in den Mund, die unter Verzicht auf religiöse Argumente den terror gentis nostre28 und die Verwüstungen evoziert, welche Dänen einst über Römer, Einwohner der Normandie, Englands und weiterer Regionen gebracht hätten. Wenn die heidnischen Vorfahren solche Strapazen und Gefahren allein für ihren Ruhm (fama) auf sich genommen hätten, sei die Pflicht zum Kreuzzug umso drängender.29 Heidnische Seeräuber werden so zum moralischen Vorbild für eine sozial herausgehobene Gruppe von Kreuzfahrern, die sich unter anderem durch einen solchen Vergleich im Kontext anderer ethnischer Gruppen als »dänisch« in Abgrenzung zu ehemals Terrorisierten definieren. Zum anderen bleiben nordische Helden einer fernen Vergangenheit kein rein skandinavisches Erinnerungsphänomen, sondern finden schon im Hochmittelalter ihren Weg in das kulturelle Gedächtnis anderer Regionen, genauer in die Chansons de geste: Bereits im Rolandslied aus dem späteren 11. Jahrhundert begegnet ein gewisser Ogier le Danois, nicht als Seeräuber, sondern als Anführer der Vorhut des Heeres bei Roncesvaux. Kurz nach 1200 präsentiert die Cheva26 Vgl. Scheel, Lateineuropa, bes. S. 114 f. 27 In den Gesta Danorum, hrsg. v. Karsten Friis-Jensen/Peter Zeeberg, Kopenhagen 2005 bspw. Starkad (in den Büchern 6 – 8, Bd. 1, S. 380 – 542) und Regner Lodbrog (9,4,1 – 39, S. 586 – 608). Die Historia Norwegie bezeichnet Wikingerzüge etwa von Go˛ngu-Hrûlfr (der 911 mit der Normandie belehnt wurde) oder dem jugendlichen Olaf dem Heiligen als tyrannis (Kap. 6, S. 66 bzw. Kap. 18, S. 100). 28 Edition der Profectio in Gertz (Hrsg.), Scriptores minores, Bd. 2, S. 457 – 492. Die Rede findet sich in Kap. 5, S. 465 – 467, die Evokation des terror auf S. 466. 29 Abermals wird hier die Vorgeschichte analog zum Alten Testament funktionalisiert. Zur fraglichen Rede s. Karen Skovgaard-Petersen, A Journey to the Promised Land. Crusading Theology in the Historia de Profectione Danorum in Hierosolymam (c. 1200), Kopenhagen 2001, S. 37 – 43.

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lerie d’Ogier de Danemarche den Dänen als (Kreuzfahrer-)Helden, der sich so von französischen Versromanen aus in zahlreiche verschiedene Texte in den meisten europäischen Volkssprachen verbreitet.30 Er gelangt über die Karlamagnffls saga, eine Übersetzung des Cycle du Rois, im 13. Jahrhundert ins Altnordische und lässt sich im 15. Jahrhundert als Holger Danske in der dänischen Ballade (folkevise) Holger Danske og Burmand nachweisen.31 Aus der (re-)importierten panokzidentalen Figur, die angeblich aus dem heidnischen Norden kam, wird seit dem ausgehenden Mittelalter ein ausgesprochener dänischer Nationalheld, der ähnlich dem Kaiser Friedrich entrückt wurde und darauf wartet, Dänemark in großer Not beizustehen.32 In der Tat findet sich in den Kasematten des Schlosses Kronborg in Helsingør die Replik einer Gipsskulptur, ausgeführt 1907 von Hans Peder Pedersen-Dan,33 die den Helden mit nach damaligem Kenntnisstand wikingerzeitlicher Kleidung und Waffen, in sitzender Pose, die verschränkten Arme gestützt auf Schwert und Rundschild, darstellt. Wie wirksam die in der Literatur immer wieder beschworene und hier verbildlichte Erinnerung an Holger Danske in der Moderne zumindest in bürgerlichen Kreisen tatsächlich war, zeigt sich auch darin, dass sich eine dänische Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besatzung in Zweiten Weltkrieg nach ihm benannte.34 Die Wege und Strategien des Zugriffs auf Gegenstände der fernen Vergangenheit sind bereits im Mittelalter multidirektional und offen für Adoption nicht einheimischer Stoffe, unterwerfen diese aber konsequent immer neuen gegenwärtigen Perspektiven.

30 Marco Eusebi (Hrsg.), La chevalerie d’Ogier de Danemarche. Canzone di gesta, Mailand 1963. Genese und Verbreitung des Ogier-Stoffes behandelt Knud Togeby, Ogier le Danois dans les litt¦ratures europ¦ennes, Kopenhagen 1969, bes. S. 15 – 19 und S. 45 – 65. Zur Übertragung ins Altnordische Constance B. Hieatt, Ogier the Dane in Old Norse, in: Scandinavian Studies 45 (1973), S. 27 – 37. 31 Svend Grundtvig (Hrsg.), Danmarks gamle Folkeviser. Første Del [Dänemarks alte Folkeviser. Erster Teil], Kopenhagen 1853, S. 384 – 397. 32 Eine Übersicht über die Folklore bei Grundtvig, S. 386 f. Die erste breit rezipierte nationalromantische Erinnerung findet sich 1837 bei Bernhard Severin Ingemann, Holger Danske. Et Digt i fem Sangkredse [Holger Danske. Ein Gedicht in fünf Gesangszirkeln], Kopenhagen 1893; das Wandermotiv des »Bergkönigs« findet sich 1845 bei Hans Christian Andersen, Holger Danske, in: Laurids Christian Fahl (Hrsg.), H.C. Andersens samlede værker 1 [H.C. Andersens Gesammelte Werke 1], Kopenhagen 2003, S. 362 – 365. 33 Bei der 1985 ersetzten Gipsfigur handelte es sich um das Modell für einen Bronzeguss, der sich vor dem Hotel Marienlyst (Helsingør) befindet. 34 Hierzu Peter Birkelund, Holger Danske. Sabotage og likvidering 1943 – 45 [Holger Danske. Sabotage und Liquidierung 1943 – 45], Odense 2008.

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Der Wikinger als Typus spätmittelalterlicher Unterhaltung Jener Primat der Gegenwart gilt insbesondere für die »Wikingersagas«, eine verhältnismäßig junge Untergruppe der Fornaldarsögur,35 welche in ihrer breiten handschriftlichen Überlieferung mehr noch als Liederedda und SnorraEdda das neuzeitliche Bild des vormittelalterlichen Nordens prägen sollten. Sie zählen nicht zu den qualitätsvollsten Vertretern ihrer Gattung, konstituieren aber aufgrund ihres stereotypen Aufbaus erstmals einen kohärenten WikingerTypus: Skandinavische Vorzeithelden begeben sich in den benachbarten Regionen des Kontinents auf Abenteuerfahrten, in deren Verlauf sie immer wieder in dramatische Kämpfe zur See und an Land verwickelt werden. Die Suche nach Schätzen, Brautwerbungen und der Gebrauch von Zauberwaffen zeigen Parallelen zum Märchen, obschon mitunter Elemente älterer mythologischer Traditionen in die Fiktion eingebunden werden. Einen Schlüssel zur Erinnerung an Wikinger in diesem Genre bildet die FriÅÁjûfs saga ins frœkna,36 eine in ihrer frühesten Fassung um 1300 entstandene Fiktion, deren Handlung sich um den norwegischen Sognefjord abspielt: FriÅÁjûfr, ein freier Bauer, gerät in eine Fehde mit Helgi und H‚lfdan, den Söhnen des lokalen Königs von Sygnafylki, weil diese ihm die Hand ihrer Schwester Ingibjo˛rg verweigern. Als sie erfahren, dass FriÅÁjûfr sich heimlich mit ihr trifft, wird er zur Strafe ausgeschickt, den Tribut von den Orkney-Inseln einzutreiben, während die Königssöhne seinen Hof niederbrennen und Ingibjo˛rg mit dem Schwedenkönig verheiraten. Bei FriÅÁjûfs Rückkehr kommt es zum Eklat während eines Opferrituals im BaldrTempel, der hierbei durch FriÅÁjûfs Verschulden niederbrennt, woraufhin er auf v†king geht, dabei allerdings nur Bösewichte (illmenn)37 behelligt, Bauern aber schont. Schließlich gelangt er an den Hof des alten Schwedenkönigs, widersteht der Versuchung, den Rivalen zu töten, und wird hierfür belohnt, indem jener ihm bei seinem Tode seine Frau Ingibjo˛rg und sein Reich überlässt, was FriÅÁjûfr schließlich zur Rache befähigt. Es erscheint auf den ersten Blick paradox, andererseits aber folgerichtig, dass gerade diese Saga, welche zwar einen Wikingerhelden präsentiert, jedoch im Gegensatz zu anderen ähnlichen Texten oder gar der Historiografie besonders stark von westeuropäischen Ritterromanen und auch orientalischen Motiven beeinflusst ist, das Wikingerbild des 19. Jahrhunderts in ganz Europa so nachhaltig prägen sollte: Man nahm wahr, was man sich zu eigen machen konnte. Hierfür war eine Geschichte, die eine zudem weniger sexuell als üblich konnotierte Romanze, einen Bauern, der zum Wi35 Die Gattungsdefiniton richtet sich nach Schier, Sagaliteratur, S. 76 – 78. 36 Gustaf Wenz (Hrsg.), Die FriÅÁjûfssaga. In ihrer Überlieferung untersucht und der ältesten Fassung herausgegeben, Halle an der Saale 1914. 37 Ebd. S. 26.

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kinger wird, und eine (freilich fiktionale) Beschreibung heidnischer Religion enthält, ungleich besser geeignet als andere Sagas von in erster Linie trinkfesten, promiskuitiven Helden, die in der Welt umherziehen und ihren Ruhm mit Zauberwaffen erkämpfen.

Der Wikinger und die schwedische Großmacht Der Weg von der spätmittelalterlichen isländischen Unterhaltungsliteratur zur Erinnerung an den vormittelalterlichen Norden an der Schwelle zur Moderne verläuft indes alles andere als geradlinig. Einerseits entstand seit dem Spätmittelalter zwischen Island mit seiner reichen volkssprachlichen Literatur und den kontinentalskandinavischen Regionen eine wachsende Sprachbarriere. Hinzu kam infolge des Aussterbens des norwegischen Königshauses und der Etablierung der Kalmarer Union eine Verschiebung der kulturellen Zentren Skandinaviens von der Atlantik- in die Ostseeregion. Während die Wissenstradition aufgrund der lateinischen Gesta Danorum sowie der folkeviser auch dort nie abriss, rückte die Frage nach Identitäten jenseits eines skandinavischen Rahmens den vormittelalterlichen Norden jedoch erst spät verstärkt in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Im Schweden des ausgehenden 17. Jahrhunderts ging dieser Prozess Hand in Hand mit einer Neuentdeckung isländischer Sagas. Mehrere Faktoren – das Fehlen einer »nationalen« mittelalterlichen Literatur, zahlreiche Runensteine in der Landschaft, der Aufstieg zur europäischen Großmacht im Dreißigjährigen Krieg – bewirkten, dass gerade in Schweden jene ferne Vergangenheit auf reges Interesse stieß. Zudem verfügte man dort seit dem 15. Jahrhundert über eine politisch attraktive etymologische Deutung des Landschaftsnamens Götaland und der Bezeichnung für seine Einwohner, die Götar : Diese seien identisch mit den Goten, von denen Jordanes und andere Autoren zur »Völkerwanderung« handelten. Ursprünglich als Argument in einem Rangstreit auf dem Baseler Konzil entworfen,38 entwickelte sich die Idee unter dem Eindruck schwedischer Eroberungen jenseits der Ostsee zum Götizismus, einer wesentlichen ideologischen Säule des neuen Großmachtstatus. Ihr bedeutendster Vertreter im 17. Jahrhundert ist Olof Rudbeck, der in seinem gigantischen schwedisch-lateinischen Werk Atland eller Manheim nordische und antike Quellen verbindet, 38 So argumentierte erstmals 1434 Nicolaus Ragvaldi (Nils Ragvaldsson), der Erzbischof von Uppsala, s. Werner Söderberg, Nicolaus Ragvaldis tal i Basel 1434 [Nicolaus Ragvaldis Rede in Basel 1434], in: Samlaren 17 (1896), S. 187 – 195. Aufgegriffen und weiter verbreitet wurde die Idee in der 1554 postum in Rom gedruckten Historia de omnibus gothorum sueonumque regibus von Johannes Magnus (Johan M”nsson), dem letzten katholischen, seit 1526 exilierten Erzbischof von Uppsala.

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um so zu beweisen, dass Skandinavier die Hyperboräer der antiken Überlieferung seien, Schweden das keineswegs untergegangene Atlantis Platons darstelle, dass die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes einschließlich ihrer materiellen Hinterlassenschaften, ihrer Mythologie und ihrer Schrift ursprünglich aus Schweden stammten, dass Schweden als erstes Land nach der Sintflut besiedelt worden und daher die vagina gentium sei.39 Es liegt auf der Hand, dass Rudbeck für sein monströses Konstrukt auch altisländische Texte benutzen musste.40 Wenn er nun antike Autoritäten und isländische Überlieferung zu harmonisieren sucht, geht er dabei davon aus, dass die Isländer eigentlich schwedische Geschichte lediglich deformiert bewahrt hätten. Nichtsdestoweniger nutzt er auch sie, um sein Bild hyperboräischer Siökämpare (Seekrieger) zeichnen zu können.41 Die eigenen »heidnischen Vorväter«, deren mythologische Überlieferung in große Nähe zur christlichen Offenbarung gerückt wird,42 hätten seit Urzeiten Plünderungszüge43 in die Nähe sowie nach ganz Europa unternommen, damit Mannhaftigkeit und Stärke bewahrt, ihre wachsende Bevölkerung versorgt und die Sicherheit der eigenen Heimat gewährleistet. Welche »männlichen Fähigkeiten« (manliga bedrifter) diese Vorfahren auszeichneten, konkretisiert Rudbeck in einer bunten Kompilation aus isländischen Texten verschiedener

39 Zum Götizismus und Rudbeck Bernd Henningsen, Die schwedische Konstruktion einer nordischen Identität durch Olof Rudbeck, Berlin 1997, S. 12 – 23; Patrick Hall, The Social Construction of Nationalism. Sweden as Example, Lund 1998, S. 42 – 52; Anna Wallette, Sagans svenskar. Synen p” vikingatiden och de isländska sagorna under 300 ”r [Die Schweden der Saga. Die Sicht auf die Wikingerzeit und die isländischen Sagas in drei Jahrhunderten], Malmö 2004, S. 55 – 65; Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 68 – 72. Vgl. zum Inhalt von Rudbecks Atlantica Gunnar Eriksson, The Atlantic Vision. Olaus Rudbeck and Baroque Science, Canton, Mass. 1994, S. 13 – 86. Rudbecks Methode und seine Arbeitsmaterialien behandeln Wallette, Sagans svenskar, S. 127 – 156, bes. S. 140 – 148; Eriksson, Vision, S. 97 – 148. Die eigentliche götizistische Argumentation findet sich erst am Ende des vierten, unvollendeten Teils von Rudbecks Werk; Axel Nelson (Hrsg.), Olaus Rudbecks Atlantica. Svenska originaltexten. Fjärde delen [Olof Rudbecks Atlantica. Schwedischer Originaltext. Vierter Teil], Uppsala/Stockholm 1950, Kap. 4, S. 121 – 192. 40 Hierzu konnte er auf erste Editionen der Liederedda und Snorra-Edda sowie auf Snorri Sturlusons Heimskringla, vor allem aber auf die Arbeiten seines Landsmannes Olof Verelius zurückgreifen, der verschiedene Fornaldarsögur herausgegeben sowie einen altnordischschwedischen Index linguæ veteris scytho-scandicæ sive gothicæ [sic!] erarbeitet hatte. Vgl. Wallette, Sagans svenskar, S. 142 f., Anm. 59. 41 Axel Nelson (Hrsg.), Olf Rudbäcks Atlands eller Manheims Tridie Del. […]. Olaus Rudbecks Atlantica. Svenska originaltexten. Tredje delen [Schwedischer Originaltext. Dritter Teil], Uppsala/Stockholm 1947, Kap. 10, §XIII – XXII, S. 283 – 352, insb. §XXII, S. 349 f. Der dritte Teil der Atlantica ist wie eine Weltchronik organisiert; die fragliche Passage fällt in das sechste Weltalter, die »Eisenzeit« (Järn-ælderen). 42 Nelson (Hrsg.), Atlantica 4, Kap. 1, S. 3 – 48. 43 »Siöröfwerij och plundrande« [»Seeräuberei und Plünderung«]; ebd., Bd. 3, S. 349.

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Gattungen an anderer Stelle,44 wo er auch das Wort wiking aus den Fornaldarsögur übernimmt. Parallelen zwischen Geschichtsbild und Erinnerung an Schwedens jüngste Geschichte sind bei Rudbeck keineswegs zufälliger Natur. Hier zeichnet sich ein bei aller Pluralität für die weitere Entwicklung prägender Qualitätssprung in der Erinnerung an den vormittelalterlichen Norden ab: Aus einer Melange mythologischer und historiografischer, zu einem bedeutenderen Anteil aber aus noch nicht als fiktional erkannten spätmittelalterlichen Sagas wird ein alter Kulturtypus destilliert und in ein größeres ideologisches Konstrukt nordischer Überlegenheit implantiert. Dabei werden in isländischen Handschriften überlieferte Inhalte als nationaler Besitz vereinnahmt. Die Eigenlogik früherer Erinnerungen wird dem Ziel der eigenen Argumentation untergeordnet.45 Dies bedingt zugleich die Abstraktion von konkreten Figuren jener Vergangenheit und ihrer Geschichte, wie sie etwa bei der Holger-Danske-Rezeption im renaissancezeitlichen Dänemark zu beobachten war : Episoden schwinden, die Semantik dagegen und mit ihr der Gegenwartsbezug des Vergangenen werden geschärft. Eine solche Form der Erinnerungsstiftung trägt zugleich mindestens latent wissenschaftsfeindliche Züge, obgleich sie bei Rudbeck im Gewande barockzeitlicher Gelehrsamkeit erscheint.46 So bekennt er, er halte sich generell lieber an die »wahren Träumer« als an die »unwahren Schreiber«47 – ein Motto, das sich vielfach auf die spätere, stark von der Romantik geprägte Erinnerung an den Wikinger und seinen Norden applizieren ließe.

Vom nationalen zum universellen nordischen Kulturtypus Obwohl Rudbecks Argumentation aus Sicht der Aufklärung mehr als abenteuerlich erscheinen musste und sich entsprechend Kritik und Spott zuzog,48 ent-

44 Ebd., Bd. 1, Kap. 12, S. 347 f. Rudbeck bezieht sich auf Vorzeitsagas, Liederedda und SnorraEdda, aber auch auf Königssagas, die mittelalterliche Ereignisse nach [sic!] der Christianisierung behandeln. 45 Den ideologischen Charakter betont v. a. Hall, Construction, S. 51 f. Henningsen, Konstruktion, S. 31 – 37, hebt besonders die Fortwirkung von Rudbecks »Nordismus« und seiner Rückwärtsgewandtheit in die Moderne hervor. 46 Zum gelehrten Kontext von Rudbecks Methodenkonglomerat Eriksson, Vision, S. 149 – 166. 47 Die Äußerung steht im Kontext der Reise von Orpheus und jener der Argonauten, die nach Schweden geführt hätten. Der »unwahre Schreiber« ist in diesem Kontext Ptolemaios, dessen Aussagen mit Rudbecks Ansicht nicht harmonisierbar sind. Nelson (Hrsg.), Atlantica 1, Kap. 26, S. 427. 48 Ablehnend äußert sich Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen sprachwissenschaftlichen Arbeiten; vgl. Sigrid von der Schulenburg, Leibniz als Sprachforscher, Frankfurt am Main 1973, S. 63 – 65. Der norwegisch-dänische Philosoph und Schriftsteller Ludvig Holberg (1684 –

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wickelte sich sein schwedenzentrierter Nordismus – und das Bild des Wikingers mit ihm – insbesondere in der Romantik weiter : 1811 gründeten schwedische Beamte und Offiziere den Götiska förbundet, dessen Ziel es war, den vermeintlichen nationalen Verfall aufzuhalten, indem man den »Freiheitsgeist, die Tapferkeit und den redlichen Sinn, die bei den alten Göten herrschten«, wiederaufleben ließ.49 An und für sich war dies angesichts der Geschichte des Götizismus und des romantischen Umfeldes sowie nationaler Aufwallungen nach dem Verlust Finnlands an Russland 1809 wenig spektakulär. Die Begeisterung für den vormittelalterlichen Norden, insbesondere für seine mythologische Überlieferung, war außerdem zu diesem Zeitpunkt bereits international verbreitet. Dazu hatte vor allem der Genfer Paul Henri Mallet beigetragen, der 1755 in Kopenhagen eine Introduction — l’histoire de Dannemarc verfasste, der er 1756 einen Band mit französischen Übersetzungen von Teilen der Snorra-Edda und der Liederedda folgen ließ. Mallet behandelt ausführlich nordische Mythologie, distanziert sich zwar aus aufklärerischer Perspektive von dort begegnender Rohheit und Grausamkeit, lobt aber zugleich die unverweichlichten Sitten und die vorbildliche Freiheit der alten Kelten und Skandinavier, die so zu ›edlen Wilden‹ werden.50 Johann Gottfried Herder etwa bezeichnete Mallets Werk als »Rüstkammer eines neuen Deutschen Genies«, die geeignet sei, auch in ästhetischer Hinsicht zur Ablösung der antiken Mythologie beizutragen.51 Diese Ansicht, obschon weder von pangermanischen Vorstellungen getragen noch auf Skandinavien selbst beschränkt, sondern »keltische« Überlieferung (insbesondere Macphersons Ossian) einschließend, tritt in der Romantik mit Kritik an der Vernunftkultur der Aufklärung zusammen: Friedrich Schlegel, der 1800 eine Erneuerung der Poesie auf der Basis einer »neuen« Mythologie gefordert hatte, äußerte 1812, die nordische Mythologie sei aufgrund ihrer größeren Nähe zur Natur höher als ihr materialistisches und zudem verbrauchtes griechisches Pendant zu bewerten.52 Ähnliche Auffassungen bestanden um 1800 bereits in

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1754) reagiert in der ihm eigenen satirischen Form auf die Aufklärungsferne Rudbecks. Vgl. Henningsen, Konstruktion, S. 16. Anton Blanck, Geijers götiska diktning [Geijers götische Dichtung], Stockholm 1918, S. 8 f. Zum Götiska förbundet allgemein Ingmar Stenroth, Göthiska Förbundet, Göteborg 1972; vgl. auch Anm. 62. Paul Henri Mallet, Introduction — l’histoire de Dannemarc, o¾ l’on traite de la religion, des loix, des mœurs et des usages des anciens Danois, Kopenhagen 1755. Der Begleitband von 1756 heißt Monumens de la mythologie et de la po¦sie des Celtes et particuliÀrement des anciens Scandinaves pour servir de suppl¦ment et de preuves — l’introduction — l’histoire de Dannemarc. Sie wurden alsbald in andere Sprachen übersetzt, darunter von Thomas Percy ins Englische. Vgl. Anm. 54. Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke 1, Hildesheim 1967, S. 73 – 77, hier S. 74, s. Klaus Böldl, Der Mythos der Edda. Nordische Mythologie zwischen europäischer Aufklärung und nationaler Romantik, Tübingen/Basel 2000, S. 152 – 154; von See, Barbar, S. 76 – 78. Bei Schlegels Vorstellung von seinem nordischen Gegenstand tritt neben Ossian zudem eine

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Skandinavien,53 doch auch in Großbritannien, wo sich das Bewusstsein um eigene nationale Verbindungen mit dem alten Norden seit dem 18. Jahrhundert rapide erweitert hatte.54 Selbst außerhalb germanofoner Regionen, wo die Adoption nordischer Mythologie als »Verwandtes« oder gar »Eigenes« in Ermangelung einer ähnlich umfassenden nationalen mythologischen Überlieferung problemlos schien, spielten der Wikinger und seine Zeit seit dem 18. Jahrhundert eine bedeutsame Rolle. In Russland, zu jener Zeit in der internationalen Wahrnehmung selbst Teil des »Nordens«, stritten Gelehrte seither um die Bedeutung, welche die älteste einheimische Historiografie wikingerzeitlichen Skandinaviern für die Gründung des russischen Staates zuschreibt.55 Auch in der Normandie regte sich zunehmend ein regionales Sonderbewusstsein, welches sich auf das wikingische Erbe stützte und 1911 mit der Tausendjahrfeier der Belehnung Rollos einen Höhepunkt erreichen sollte.56

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Begeisterung für die persische Verwandtschaft der nordischen Mythologie hinzu, s. Böldl, Mythos, S. 186 – 200; zu ästhetischen Aspekten vgl. Ulrike Hafner, »Norden« und »Nation« um 1800. Der Einfluß skandinavischer Geschichtsmythen und Volksmentalitäten auf deutschsprachige Schriftsteller zwischen Aufklärung und Romantik (1740 – 1820), Triest 1996, S. 87 – 104. S. auch Gerd Wolfgang Weber, Nordische Vorzeit als chiliastische Zukunft. »Nordisches Erbe« und zyklisches Geschichtsbild in Skandinavien und Deutschland um 1800 – und später, in: Ders., Mythos und Geschichte. Essays zur Geschichtsmythologie Skandinaviens in Mittelalter und Neuzeit, Triest 2001, S. 153 – 189, hier S. 164 – 168. Das früheste Zeugnis ist das Gedicht Guldhornene [Die Goldhörner] des Dänen Adam Oehlenschläger von 1802 über die in jenem Jahr gestohlenen Goldhörner von Gallehus aus dem 5. Jh. mit ihren mythologischen Bildern und Runeninschriften. Vgl. Weber, Vorzeit, S. 164 f. und S. 171; Jöran Mjöberg, Drömmen om Sagatiden. Första delen. æterblick p” den nordiska romantiken fr”n 1700-talets mitt til nygöticismen (omkr. 1865) [Der Traum von der Sagazeit. Erster Teil. Rückblick auf die nordische Romantik von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Neugötizimus (um 1865)], Stockholm 1967, S. 128 – 142. Grundlegend für die britische Erinnerung an den Wikinger Andrew Wawn, The Vikings and the Victorians. Inventing the Old North in Nineteenth-Century Britain, Cambridge 2000, S. 19 – 33 und S. 183 – 207; weiterhin Christine E. Fell, The First Publication of Old Norse Literature in England and Its Relation to Its Sources, in: Else Roesdahl/Preben Meulengracht Sørensen (Hrsg.), The Waking of Agantyr. The Scandinavian Past in European Culture/Den nordiske fortid i europæisk kultur, ærhus 1996, S. 27 – 57. Die »Warägerlegende« in der Povest’ vremennych let, der »Nestorchronik« vom Beginn des 12. Jahrhunderts, besagt, Rjurik, der erste Herrscher der Rus’, sei ein Skandinavier gewesen, s. Ludolf Müller (Hrsg.), Die Nestorchronik. Zugeschrieben dem Mönch des Kiewer Höhlenklosters Nestor […], ins Deutsche übersetzt, München 2001, S. 19 – 21. Der »Normannenstreit« bildet in seiner ideologisch radikalisierten Fortsetzung über Russland hinaus bis ins 20. Jahrhundert einen weiteren Aspekt der Erinnerung an den Norden, s. Birgit Scholz, Von der Chronistik zur modernen Geschichtswissenschaft. Die Warägerfrage in der russischen, deutschen und schwedischen Historiographie, Wiesbaden 2000, bes. S. 111 – 114. Hierzu Jean-Jacques Bertaux, Vikings et drakkars dans la litt¦rature r¦gionaliste normande, 1850 – 1950, in: Jean-Marie Levesque (Hrsg.), Dragons et drakkars. Le mythe Viking de la Scandinavie — la Normandie. XVIIIe – XXe siÀcles, Caen 1996, S. 57 – 70; Yves Gaulupeau, Nos ancÞtres les Vikings, l’imaginaire scolaire des invasions normandes (XIXe – XXe siÀcles), ebd., S. 85 – 122. Zum tausendjährigen Jubiläum der Belehnung Rollos/Hrûlfs mit der Nor-

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In diesem Kontext einer intensiven Mythologierezeption und eines geschärften Bewusstseins für die Bedeutung, welche mobile Skandinavier in ferner Vergangenheit für die Geschichte zahlreicher Nationen um 1800 besaßen, sticht der schwedische Götiska förbundet in zweierlei Hinsicht hervor:57 Einerseits knüpfte der Verbund selbst ostentativ an die Vergangenheit an, indem seine Mitglieder beispielsweise Namen von Sagahelden annahmen und bei Zusammenkünften aus Hörnern tranken, andererseits prägten zwei seiner Mitglieder das Wikingerbild des 19. Jahrhunderts weit über die Grenzen Schwedens hinaus entscheidend. Erik Gustaf Geijer, der Iduna, die Zeitschrift des Verbunds, herausgab, veröffentlichte im ersten, von ihm allein bestrittenen Band 1811 das Gedicht Vikingen.58 Ein autodiegetischer Erzähler berichtet, wie er als fünfzehnjähriger Jüngling, von Sehnsucht nach Freiheit auf dem Meer ergriffen, das rostige Schwert seines Vaters nimmt, um sich Reichtum und Land zu erobern, das »blutige Spiel des Heerzugs« spielt, um schließlich ein Königreich und eine Frau zu gewinnen. Beide gibt er für den Ruf der See und der sorgenfreien »Wikingerfahrt« (vikingfärd), mit dem Schwert geschlossene »Wikingerfreundschaften« (vikingavänskap) und Beute wieder auf, um schließlich im Alter von 20 Jahren auf See zu bleiben und in den Saal der Götter zu gelangen. Die letzte der 17 Strophen kommentiert, dies habe ein schiffbrüchiger Wikinger gesungen, der ein bleibendes Gedächtnis seiner Tapferkeit hinterlasse – eine Reminiszenz an die Liederedda, konkret an die Strophen 76 und 77 aus den H‚vam‚l. Geijer liefert hier geradezu programmatisch die Stichworte für die moderne Erinnerung an den Wikinger und bringt sie mit der Vokabel zusammen. Das Verhalten des Wikingers ähnelt dabei dem Bild vom harten, freiheitsdurstigen, kriegerischen, gleichwohl ritterlichen, von der Sehnsucht nach dem Meer getriebenen Helden, das partiell bereits in der FriÅÁjûfs saga begegnete. Das Deviante, welches sich im fremden v†kingr der Konungasögur oder Originalen Riddarasögur zeigte, ist dagegen völlig abwesend: Der Wikinger kämpft gegen andere Seekrieger, den Kaufmann jedoch schont er.59 Darüber hinaus bemerkt der Sterbende, dass mehr als ein Weg in die Halle der Götter führe.60 Hiermit wird ein Anknüpfungspunkt zum folgenden Gedicht Odalbonden geschaffen, welches

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mandie 1911 Jean-Pierre Chaline, Rouen, 1911, le mill¦naire de la Normandie, ebd., S. 71 – 82, mit Literatur auf S. 78 und einer Liste von Grußworten, Gaben und Denkmälern zum Anlass, S. 79 – 82. Die folgenden Ausführungen zu Geijer stützen sich auf Blanck, Geijer, S. 10 – 14 und S. 334 – 407, bes. S. 335 – 339 und S. 395 – 407; Mjöberg, Drömmen, S. 242 – 270 und S. 276 f.; Wallette, Sagans svenskar, S. 223 – 240; Hall, Construction, S. 174 – 176 und S. 206 – 208. Erik Gustaf Geijer, Dikter [Gedichte], Stockholm 1922, S. 29 – 33. Ebd., Str. 12, S. 32. Ebd., Str. 16, S. 33.

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dem Wikinger den freien, waffenführenden, seiner Scholle verbundenen Erbbauern von schlichter Bildung zur Seite stellt, dessen Bedeutung für Schweden besonders hervorgehoben wird.61 Mit dem freiheitsliebenden, in die Ferne drängenden Wikinger und dem bodenständigen Bauern etabliert Geijer zwei kulturelle Archetypen, welche der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft als ein Spiegel aus der nationalen Geschichte vorgehalten werden. Diese gegenwartsbezogene Fixierung auf Bauer und Wikinger sollte sich, abermals im Rückbezug auf spätmittelalterliche Unterhaltungsliteratur, noch weiterentwickeln: Esaias Tegn¦r, ein Theologe und ebenfalls Mitglied des Götiska förbundet, veröffentlichte in der Zeitschrift Iduna von 1820 bis 1825 in Abschnitten (romanser) die Fritiofs saga, eine Bearbeitung der bereits erwähnten spätmittelalterlichen Saga in Versen.62 Der Handlungsverlauf orientiert sich in seinen Grundzügen eng an der Vorlage. Es ist jedoch bemerkenswert, an welchen Stellen Tegn¦r tief greifendere Modifikationen vornimmt beziehungsweise den Inhalt frei vom mittelalterlichen Text gestaltet. Ein solcher Abschnitt findet sich, nachdem Fritiof den Baldr-Tempel unabsichtlich niederbrennt. Er entscheidet sich im inneren Monolog, das von tyrannischen Herrschern freie Meer, seine zweite »Muttererde«63, aufzusuchen. Der Transformation vom Bauer zum Wikinger folgt eine Beschreibung von Fritiofs Wikingerleben, die Geijers Gedicht inhaltlich zunächst ausgesprochen ähnelt und den Helden bis nach Griechenland führt, jedoch in Sehnsucht nach der fernen Geliebten und der Heimat übergeht und so zum weiteren Verlauf der Geschichte überleitet. Der Titel Vikingabalk beinhaltet zudem eine Anspielung auf die wikingerzeitliche Skaldendichtung.64 Insofern transportiert das in zahlreichen Ländern Europas im 19. Jahrhundert stark rezipierte Werk ein typisches Wikingerbild, verbunden mit dem Ideal des Bauern als Vorbild für den liberalen Bürger und einer passiven Rolle der Frau; dies verflicht es indes mit der Einbindung der nordischen Mythologie. Der Tempel des nordischen Gottes Baldr bildet bereits ein Element der 61 Ebd., S. 34 – 37. In den Ausgaben erscheint das Gedicht nach Vikingen, doch hält Blanck es für das ältere der beiden; ders., Geijer, S. 256 f. Vgl. die Analyse ebd. S. 269 – 277 und S. 314 – 334. 62 Esaias Tegn¦r, Fritiofs saga. Skolupplaga, Lund 1965. Hier und im Folgenden Fredrik Böök, Esaias Tegn¦r. En biografi [Esaias Tegn¦r. Eine Biografie], Stockholm 1963, bes. S. 136 f.; Klaus Düwel, Die Frithiofs saga von Esaias Tegn¦r. Ein Kapitel aus der schwedischen Romantik, in: Leonie Marx/Herbert Kunst (Hrsg.), Grenzerfahrung – Grenzüberschreitung. Studien zu den Literaturen Skandinaviens und Deutschlands. Festschrift für Philip M. Mitchell, Heidelberg 1989, S. 127 – 137; Mjöberg, Drömmen, S. 120 – 122 und S. 242 – 270; Thure Persson Wärendh, Tegn¦r och Teologien. Id¦historisk undersökning [Tegn¦r und die Theologie. Ideengeschichtliche Untersuchung], Lund 1939, S. 285 – 307. 63 Tegn¦r, Fritiofs saga, XIV, S. 71 – 75, hier S. 72, V. 57 – 60 (über das Meer): »Du bist mein Norden, meine Muttererde; von der anderen [i. e. Norwegen] musste ich ziehen.« 64 Ebd., XV, S. 75 – 78. Als b‚lkr (»Balken«) wird gewöhnlich ein Abschnitt eines Skaldengedichts bezeichnet; dies passt zum »Wikingerabschnitt« im Rahmen der Fritiofs saga.

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spätmittelalterlichen Vorlage; der Theologe Tegn¦r wiederum benutzt die Kulisse, um die heidnische Mythologie mit der christlichen Botschaft in Einklang zu bringen.65 So versöhnt sich Fritiof entgegen der mittelalterlichen Vorlage mit seinen Gegnern und baut den Tempel wieder auf, bevor der Baldr-Priester ihm und dem Leser in der 24. und letzten, jedoch schon 1821 entstandenen Romanze (Försoningen) schließlich in einer Predigt die moralisch-ethische Quintessenz aus der Geschichte präsentiert. Hier wird durch allegorische und moralische Deutung des Verhältnisses zwischen der nordischen Götterwelt sowie ihrer Geschichte und der Menschenwelt eine komplette eschatologische, religiöse Lehre entworfen, die, geprägt von einem augustinisch-lutherischen Pessimismus, durch die Handlungen der Götter und Menschen auf die Selbstreinigung der Schöpfung in den ragnarök (der »Götterdämmerung«) hinführt, welche die Versöhnung mit Allvater, einem monotheistisch gedachten Schöpfergott, bringt.66 Diese »heidnische Religion« lässt sich durch ihre Aufforderung an das Individuum Fritiof zur Versöhnung in der Tat moralisch als eine Art »nationales Altes Testament« mit dem Christentum in Einklang bringen.67 Somit schließt sich in Tegn¦rs Fritiofs saga in mehrerlei Hinsicht der Kreis zu den mittelalterlichen Erinnerungszeugnissen an den frühen Norden: Einerseits wird das Bild vom heidnischen Seekriegervorfahren mit der mythologischen Überlieferung des Mittelalters verbunden, andererseits – bedeutsamer noch – wird die Verbindung zwischen heidnischer Vergangenheit und christlicher Gegenwart analog zur mittelalterlichen Geschichtsschreibung mit den Mitteln der Bibelexegese hergestellt und die zeitliche Ferne in allegorisch-moralische Nähe verwandelt: Abermals geht die Alterität der Vergangenheit ganz in Gegenwart auf; der Wikinger Fritiof wird zum moralischen Ideal. Ein solcher geschichtstheologischer Zugang im 19. Jahrhundert wurde dadurch begünstigt, dass auch die frühesten überlieferten Erinnerungsschichten an die »Wikingerzeit« und die Mythologie aus dem Hochmittelalter mehr oder weniger stark selbst eine solche Prägung aufwiesen, auch wenn dies Tegn¦r und seinen Zeitgenossen nicht bewusst gewesen sein mag. Zweifellos aber gingen von Euhemerismen, christlich 65 Zu Tegn¦rs Versöhnungstheologie s. Persson Wärendh, Tegn¦r, S. 285 – 295. 66 Tegn¦r, Fritiofs saga, S. 100 – 108, die Predigt S. 102 – 107, V. 72 – 279. Zur Bedeutung dieser Passage vgl. Persson Wärendh, Tegn¦r, S. 312. Dass aus dem »Allvater« der Eddalieder, mit dem ­Åinn gemeint ist, ein Schöpfergott wird, kennzeichnet die vom Christentum her denkende, letztlich viktorinische und damit zu den mittelalterlichen Erinnerungszeugnissen (Snorra-Edda) zurückführende Mythenhermeneutik. Die Wege ihrer Vermittlung in den protestantischen Norden im 18. Jahrhundert zeichnet Lars Lönnroth, Andrew Ramsay’s and Olof Dalin’s Influence on the Romantic Interpretation of Old Norse Mythology, in: Geraldine Barnes (Hrsg.), Old Norse Myths, Literature and Society, Sydney 2000, S. 229 – 238, nach. 67 Zudem deutet bereits der Baldr-Priester selbst explizit auf das Christentum hin, indem er Erzählungen über einen jungfräulich geborenen Balder aus dem Süden anspricht; Tegn¦r, Fritiofs saga, S. 106, V. 211 – 213.

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gefärbter Kosmologie sowie Imagination heidnischen Kults etwa in der FriÅÁjûfs saga Signale aus, die den Rezipienten in der Romantik eine auffällige Nähe der alten nordischen Religion zum Christentum suggerierten, mit ihrer eigenen Religionshermeneutik harmonierten und die nicht nur Tegn¦r begeistert aufgriff. Die Fritiofs saga begeisterte die Zeitgenossen auch außerhalb Schwedens; so zeigte sich Goethe von der »gigantisch-barbarischen Dichtart« des »SeeEpos« tief beeindruckt.68 Tegn¦rs Werk wurde zeitnah auch ins Englische, Französische und Italienische übersetzt und prägte so europaweit die Wahrnehmung des Wikingers und seiner Welt im 19. Jahrhundert. Neben Tegn¦r beeinflusste der Däne Nikolaj Frederik Severin Grundtvig, ebenfalls ein Theologe, maßgeblich die gegenwartsbezogene Aneignung insbesondere der nordischen Mythologie. Viel deutlicher noch als bei Tegn¦r lässt sich an seinem immensen Œuvre die politische Instrumentalisierung und auch die biologistische Wendung in der Erinnerung an den vormittelalterlichen Norden im 19. Jahrhundert ablesen. Einerseits legt Grundtvig mit einem seiner frühesten Werke bereits 1808 die Grundlage für die mystisch-allegorische Auslegung der nordischen Mythologie als »Asenlehre« und Präfiguration des Christentums,69 wie sie dann in Tegn¦rs Fritiofs saga begegnet. Andererseits sind seine späteren Werke geprägt von dem Bestreben, aus der Mythologie eine überzeitlich gültige, dem dänischen beziehungsweise nordischen »Volksgeist« angemessene, symbolische »Sinnbildsprache« herzuleiten und zu etablieren, indem etwa politische Akteure, Staaten oder Völker der Gegenwart mit verschiedenen Götternamen belegt werden: So repräsentiert Dänemark im Schleswig-Holstein-Konflikt der 1840er-Jahre Heimdall, den Wächter der nordischen Götter, während Deutschland die Rolle des apokalyptischen FenrisWolfes zugewiesen bekommt.70 Hinter diesem Sprachgebrauch steht die Idee, die 68 Goethes Werke, herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 41, 2. Abteilung, Weimar 1903, S. 103 – 109, hier S. 105. 69 Nordens Mytologi eller Udsigt over Eddalæren for dannede Mænd der ei selv ere Mytologer [Die Mythologie des Nordens oder Ausblick über die Eddalehre für gebildete Männer, die nicht selbst Mythologen sind], in: Holger Begtrup (Hrsg.), Nik. Fred. Sev. Grundtvigs Udvalgte Skrifter [Ausgewählte Schriften] 1, Kopenhagen 1904, S. 241 – 372. Hierzu Flemming Lundgreen-Nielsen, Grundtvigs Auffassung der nordischen Mythen in seiner Forschung und Dichtung, in: Klaus Bohnen/Sven-Aage Jørgensen/Friedrich Schmöe (Hrsg.), Dänische »Guldalder«-Literatur und Goethezeit, Kopenhagen/München 1982, S. 160 – 191; Böldl, Mythos, S. 179 – 185; Sune Auken, Sagas spejl. Mytologi, historie og kristendom hos N.F.S. Grundtvig [Der Spiegel der Saga. Mythologie, Geschichte und Christentum bei N.F.S. Grundtvig], Kopenhagen 2005, S. 122 – 158. 70 Die Grundlage von Grundtvigs »Sinnbildsprache« bildet Nordens Mythologie eller Sindbilled-Sprog historisk-poetisk udviklet og oplyst. Anden omarbejdede Udgave [Die Mythologie des Nordens oder Sinnbildsprache, historisch poetisch entwickelt und erklärt. Zweite umgearbeitete Ausgabe] von 1832; Holger Begtrup (Hrsg.), Nik. Fred. Sev. Grundtvigs Udvalgte Skrifter 5, Kopenhagen 1907, S. 378 – 767. Zum deutsch-dänischen Konflikt vgl.

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Mythologie repräsentiere mit ihrer »lebendigen Asensprache« (Asamaal) ein frühes, genuin nordisches volkspsychologisches Entwicklungsstadium und sei als dem Volkstum adäquater (folkelig) Ausdruck eines überzeitlichen nordischen Geistes angemessener als die »tote« rationale Sprache der Aufklärung. Aufklärungsfeindlichkeit und biologistische Auffassung einer nordischen Volksgemeinschaft sind hier unverkennbar.71 Grundtvigs Ideen in diesem Teil seines Œuvres illustrieren neben der romantischen eine weitere, ausgesprochen politische und radikal gegenwartsbezogene Form der Erinnerung, einen auf Skandinavien zugespitzten Nordismus, der im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts seine Kreise in vielfach verschiedener Gestalt über Skandinavien hinaus vor allem nach Großbritannien und Deutschland zog, stets die Frage der eigenen Identität in einem gruppenübergreifenden Zusammenhang berührte und Inklusions- beziehungsweise Aneignungsstrategien und damit zugleich Grenzziehungen beinhaltete. Für Grundtvig endete der Norden hinter Schleswig; deutsche Germanenideologie hingegen sah Deutschland als Teil dieses Nordens und Teilhaber am Erbe der »nordischen Vorzeit«. Erinnerungen an den Wikinger beziehungsweise die Wikingerzeit, wie sie seit der Romantik präsent sind, sind mit diesen Entwicklungen auf das Engste verzahnt.

Proliferation und Entleerung im 19. und frühen 20. Jahrhundert In Großbritannien, wo Übersetzungen eddischer Stoffe bereits seit dem späten 18. Jahrhundert vorlagen und auch Tegn¦rs Fritiofs saga früh bekannt wurde, sieht die viktorianische Epoche eine rasche und vielgestaltige Rezeption der mittelalterlichen, isländischen Erinnerungen an die Wikingerzeit. Sie findet gleichsam als drittes Element der nationalen Geschichte neben dem angelsächsischen und dem normannischen Erbe rasch Eingang in mediävistische und folkloristische Diskurse und das populäre Mittelalterbild. Obschon auch hier der vormittelalterliche Norden vereinzelt zum Ankergrund pangermanischer Vorstellungen wird, bleiben solche Erscheinungen im Gegensatz zum wilhelminischen Deutschland jedoch randständig und von nationalen Blickwinkeln bestimmt.72 In Deutschland schloss das eher vage, humanistisch geprägte Konzept des Skov-Hornets Klang [Der Klang des Waldhorns], 1844, in: Begtrup (Hrsg.), Skrifter 9, S. 20 – 38. 71 Inga Meincke, Vox viva. Die »wahre Aufklärung« des Dänen Nikolaj Frederik Severin Grundtvig, Heidelberg 2000, S. 51 – 74, S. 120 – 129 und S. 213 – 253. 72 Wawn, Vikings, bes. S. 139 – 141, S. 236 – 244 und S. 368 – 372; David M. Wilson, The Viking Age in British Literature and History in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Roesdahl/Meulengracht Sørensen (Hrsg.), The Waking of Agantyr, S. 58 – 71.

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Nordens bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch die keltischsprachigen Regionen und Russland ein.73 Nach Tegn¦rs intensiv rezipierter Fritiofs saga brachte im bürgerlichen und aristokratischen Milieu vor allem Richard Wagners Ring des Nibelungen von 1876 eine Fixierung auf das vormittelalterliche Skandinavien und seine mythologischen und materiellen Hinterlassenschaften mit sich, stützte sich Wagner doch stark auf die isländische Überlieferung und amalgamierte sie so mit der deutschen zu einem »Nationalepos«.74 Wie weit diese Aneignung reichte, illustrieren hervorragend zwei Reichstagsreden des Kanzlers Bismarck aus dem Jahre 1885, in denen er das Bild vom »Urwähler Hödur«75 evoziert, welches dem gebildeten Adressaten sogleich verständlich gewesen sein muss: In Anspielung auf den semantischen Gehalt des Mythos, in welchem Ho˛År Baldrs blinder Bruder ist, der durch Lokis Täuschung zum Brudermörder wird, zeichnet Bismarck hier in subtiler und doch klar verständlicher Weise das Bild des inkompetenten, blinden, von Zentrum und Sozialisten (Loki) irregeleiteten Wählers (Hödur/Ho˛År), der so die guten Absichten der Regierung (Baldr) meuchelt. Dass Bismarck sich hier einer eigentlich grundtvigianischen »Sinnbildsprache« auf Basis der nordischen Mythologie bedienen kann, kennzeichnet den Stand, welchen die Internalisierung der nordischen Mythologie als »nationales Erbe« zu jenem Zeitpunkt erreicht hatte. Die Nordlandaffinität Kaiser Wilhelms II. beförderte diese Aufmerksamkeit für den skandinavischen Norden und sein »germanisches« Erbe und verdeutlicht die Vielgestaltigkeit der Adoption der nordischen Vorzeit: So komponierte Wilhelm einen 1894 uraufgeführten und breit rezipierten Sang an Aegir.76 Er begeisterte sich ebenfalls für Tegn¦rs Wikingerhelden Fritiof, zumal seine alljährlichen Nordlandfahrten in den Sognefjord führten, und ließ in Vangsnes 73 Julia Zernack, Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich, in: Uwe Puschner/ Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871 – 1918, München 1996, S. 482 – 511, hier S. 482 f.; Hendriette Kliemann, Russlands nordisches Image und der Wandel des Nordens um 1800, in: Jan Hecker-Stampehl/Aino Bannwart/ Dörte Brekenfeld/Ulrike Plath (Hrsg.), Perceptions of Loss, Decline and Doom in the Baltic Sea Region/Untergangsvorstellungen im Ostseeraum, Berlin 2004, S. 97 – 111. 74 Von See, Barbar, bes. S. 132 – 134; Weber, Vorzeit, S. 158 f. 75 Reden vom 02.03. und 13. 03. 1885, in: Horst Kohl (Hrsg.), Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 11. Die Reden des Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Fürsten von Bismarck im Preußischen Landtage und im Deutschen Reichstage 1885 – 1886, Stuttgart 1894, S. 65 und S. 85. 76 Albert Becker (Hrsg.), Sang an Aegir. Dichtung und Composition von S.M. dem Deutschen Kaiser, König von Preussen Wilhelm II. Für eine Singstimme und Klavier eingerichtet, Berlin 1894. Julia Zernack, Kaiserkunst und Propaganda. Bemerkungen zum Titel Sang an Aegir, in: Katja Schulz/Florian Heesch (Hrsg.), »Sang an Aegir«. Nordische Mythen um 1900, Heidelberg 2009, S. 13 – 29, behandelt u. a. die Rezeption in der Werbung, aber auch verbreitete satirische Reaktionen. Vgl. außerdem Birgit Marschall, Reisen und Regieren. Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms II., Heidelberg 1991, S. 91 – 96.

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1913 eine von Max Unger ausgeführte, zwölf Meter hohe Bronzestatue des Helden aufstellen.77 Auch der Sagaliteratur wandte man sich seit 1911 in der »Sammlung Thule« zu, einem großangelegten Übersetzungsunternehmen ins Deutsche. Ihr Herausgeber erkannte in Islands wikingerzeitlicher Kultur nichts Geringeres als ein »nordisches Hellas«78. Insofern überdeckt die Rezeption ein im hier gegebenen Rahmen kaum zu skizzierendes, breites Spektrum an Kulturbereichen und auch politischen Prägungen, deren extremste völkisch orientiert war. Gemein ist diesen Erinnerungen freilich eine der Romantik verwandte, eskapistische und utopistische Tendenz: Erinnerung an den vormittelalterlichen Norden beinhaltete immer ein Moment der Zivilisations- und Fortschrittskritik und konnte so das aus der nordischen Vorzeit vermeintlich unvermischt und klar aufscheinende Germanenbild chiliastisch aufladen.79 Diese die Gegenwart als Gegenbild spiegelnde Erinnerungsform kennzeichnet die Wahrnehmung und Instrumentalisierung des vormittelalterlichen Nordens im kaiserzeitlichen Deutschland; ihrer Wendung ins Völkische in der Weimarer Zeit und ihrer Instrumentalisierung im Dritten Reich stand daher strukturell nur wenig entgegen. In den skandinavischen Ländern selbst indes trat neben die nationale Vereinnahmung, die aufgrund der örtlichen Kongruenz zwischen historischem Phänomen und Erinnerung hier keines pangermanischen Unterbaus bedurfte, während des 19. Jahrhunderts ein wachsendes Bewusstsein für die materielle Kultur der Wikingerzeit. Nachdem Worsaae 1873 sein Werk Vikingetiden i Danmark publizierte und damit die heute dominante Vorstellung von der Wikingerzeit als einer archäologisch zu erfassenden Epoche begründete, vervielfachte sich das Wissen durch Neufunde rasch. Als ein Meilenstein sei hier die Entdeckung und Ausgrabung des hervorragend erhaltenen, berühmten Gokstadschiffes 1880 genannt.80 Ein Zugang auf solch unmittelbar materieller Basis, der Erkenntnisse über das Alltagsleben auch jenseits kriegerischer Aktivitäten ermöglichte und sich unter verschiedenen ideologischen Konstellationen direkt in ein nationales Geschichtsbild einordnen ließ, bot sich der deutschen Germanistik beziehungsweise Altnordistik nicht. Obwohl das vormittelalterliche Skandinavien sich in 77 Ebd., zur Statue S. 80 – 88, zum Germanenbild Wilhelms II. S. 88 – 101. Zum politischen Aspekt der Nordlandfahrten ebd. 102 – 104, und P”l Hougen, Kaiser Wilhelm II og Norges heroiske fortid [Kaiser Wilhelm II. und Norwegens heroische Vorzeit], in: Roesdahl/Meulengracht Sørensen (Hrsg.), The Waking of Agantyr, S. 147 – 155. 78 Felix Niedner, Islands Kultur zur Wikingerzeit, Jena 1913, S. 10; vgl. auch die gesamte Einleitung, S. 1 – 11; hierzu Julia Zernack, Geschichten aus Thule. šslendingasögur in Übersetzungen deutscher Germanisten, Berlin 1994, bes. S. 374 – 378. 79 Zernack, Anschauungen, S. 488 f. und S. 509; Weber, Vorzeit, S. 161 – 170. 80 Föller, Schiffe, S. 170 f.

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der populären sowie der gelehrten Rezeption großen Interesses erfreute, vermochte das Konzept einer Wikingerzeit als der letzten, lokal begrenzten Phase der nordgermanischen Eisenzeit nicht, die Brücke zur nationalen Vorzeit zu schlagen. Eine gemeinsame Vorgeschichte musste weiter zurückreichen. Nicht zuletzt aufgrund einer Deutschland inkludierenden, universitäre wie populäre Erinnerung einschließenden, germanenideologisch geprägten Vorstellung vom Norden entwickelte sich dort das Konzept des »germanischen Altertums«. Es bot die Möglichkeit der Inklusion aller germanischsprachigen Regionen Europas und des Anknüpfens an antike Germanenbilder, die seit dem Humanismus auf die deutsche Identität gewirkt hatten. Zugleich ermöglichte es damit, das klassische Modell euromediterraner Geschichte von Antike, Mittelalter und Neuzeit auf einen germanischen Norden zu projizieren. Seine Berechtigung zieht das germanische Altertum als Konzept indes keineswegs allein aus ideologischen, sondern auch aus phänomenologischen Gründen, wie sie das nüchtern argumentierende Vorwort von Johannes Hoops zur ersten Auflage des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde auflistet.81 Nichtsdestoweniger zeigt der hier verwendete Altertumsbegriff eine charakteristische chronologische und geografische Verzerrung, da er sich nicht an einer überregionalen zeitlichen Grenze, sondern an einem regional zu unterschiedlichen Zeiten schwindenden Kulturtypus orientiert. Hierdurch besteht eine besondere Offenheit zur ideologischen Aufladung und zur Entzeitlichung an sich orts- und zeitgebundener Phänomene: Beeinflusst von Konjunkturen der Renaissance-Rezeption im 19. Jahrhundert konnte das germanische Altertum einem dunkleren Mittelalter entgegengesetzt werden; man denke an die einleitende Formel vom »nordischen Hellas« in der »Sammlung Thule«. Diese Tendenz wurde allenthalben durch die volkstumsideologisch gestützte Annahme gestärkt, das Altertum, dessen letzte Kulturtypen Wikinger und isländischer Siedler waren, sei durch eine »genuine« germanische Kultur geprägt gewesen, während das Mittelalter durch das Vordringen »fremder« und daher negativ bewerteter christlicher Einflüsse von Süden nach Norden gekennzeichnet sei. Für den Altnordisten Andreas Heusler jedenfalls kennzeichnete um 1900 das Mittelalter im Gegensatz zum Altertum eine »Bastardcultur«82 ; folglich mussten den in Skriptorien entstandenen 81 Johannes Hoops, Vorwort, in: Ders (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 1, Straßburg 1911 – 13, S. V – IX. Die Problematik des Begriffs und seiner Geschichte behandelt Heinrich Beck, »Germanische Altertumskunde« – Annäherung an eine schwierige Disziplin, in: Ders./Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung »germanisch – deutsch«, Berlin/New York 2004, S. 629 – 647, bes. S. 633 – 636. 82 Klaus Düwel/Heinrich Beck/Oskar Bandle (Hrsg.), Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Briefe aus den Jahren 1890 – 1940, Basel/Frankfurt am Main 1989, S. 121 (vom 09. 01. 1898). Hierzu Julia Zernack, Altertum und Mittelalter bei Andreas Heusler, in: Jürg Glauser/Julia Zernack (Hrsg.), Germanentum im Fin de siÀcle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers, Basel 2005, S. 120 – 145, bes. S. 133 f.

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hochmittelalterlichen Isländersagas »freimündliche«, von fremder christlicher Buchkultur unbeeinflusste, wikingerzeitliche Vorläufer vorausgegangen sein.83 Auf der Basis solcher Argumentation konnte sich der vormittelalterliche Norden auch in hochmittelalterlichen Texten manifestieren, ließ sich das Monument des Altertums aus mittelalterlichem Sediment freipräparieren wie das Wikingerschiff aus dem Schlamm. Heuslers kulturtypologischer Altertumsbegriff, der hier stellvertretend für zahlreiche weitere gelehrte Ansichten steht, konnte zu keinem Zeitpunkt einen breiten Konsens außerhalb Deutschlands erzielen. Dennoch wirkt die Vorstellung, die Wikingerzeit repräsentiere die letzte Phase einer autochthonen germanischen oder nordeuropäischen Kulturentwicklung, deren Erbe sich in die folgende Epoche einer kulturellen Kolonialisierung beziehungsweise Provinzialisierung verfolgen lasse, latent oder offen formuliert bis in heutige Forschungsdiskurse84 und museale Ausstellungsentwürfe fort. So kombiniert eine Ausstellung über »Die letzten Wikinger« die Darstellung der normannischen Eroberung Englands auf dem Teppich von Bayeux mit zum Teil erheblich älteren Fundstücken aus dem Dänemark der Wikingerzeit. Die Kohärenz zwischen Normannen und dänischen Wikingern beruht allein auf der Vorstellung eines »wikingischen« Erbes der Ersteren, die sich aber im Inschriftenband des Teppichs selbst ostentativ als Franci zu erkennen geben.85

Schlussbetrachtung Sowohl in der Forschung wie auch in der populären Rezeption kennzeichnet der Wikinger emblematisch und zugleich vage das nordeuropäische Andere zum karolingischen beziehungsweise postkarolingischen Lateineuropa, dessen Ex83 Andreas Heusler, Die Anfänge der isländischen Saga, Berlin 1914 entwickelt die »Freiprosalehre«. Einen Eindruck von den Kontroversen mit den Vertretern der »Buchprosalehre« vermittelt Walter Baetke (Hrsg.), Die Isländersaga, Darmstadt 1974. 84 So sieht etwa der Historiker Sverre Bagge in der Sverris saga (verfasst um 1185 – 1215) eine realistisch-politische Erzählung, die den germanic warlord vor der Durchsetzung »mittelalterlicher« Ideologien vom Königtum darstelle; ders. From Gang Leader to the Lord’s Anointed. Kingship in Sverris saga and H‚konar saga H‚konarsonar, Odense 1996, S. 81 – 87. Heftige Kritik kam u. a. von Lars Lönnroth, Sverrir’s Dreams, in: Scripta Islandica 57 (2006), S. 97 – 110, und Fredrik Charpentier Ljungqvist, Kristen kungaidealogi i Sverris saga [Christliche Königsideologie in der Sverris saga], ebd., S. 79 – 95. 85 Egon Wamers, Der Teppich von Bayeux und die letzten Wikinger/La Tapisserie de Bayeux et les derniers Vikings, in: Ders. (Hrsg.), Die letzten Wikinger. Der Teppich von Bayeux und die Archäologie, Frankfurt am Main 2009, S. 8 – 15, hier S. 14, konzediert abschließend, dass die Normannen auf dem Teppich und die »Wikinger« miteinander »nicht mehr viel zu tun haben«. Dennoch wird die normannische Eroberung Englands als letzter der skandinavischen Eroberungszüge nach England gesehen.

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pansion wiederum die moderne Vorstellung vom Mittelalter, auch dem skandinavischen, prägt. Kontinuitäten der Erinnerung an Wikinger seit dem Mittelalter zeigen sich einerseits in einem harten Kern an Eigenschaften: Die Bewohner des vormittelalterlichen Nordens waren stets kriegerische, meist heidnische Seefahrer. Eine noch ausgeprägtere Kontinuität wird andererseits in einer von Anfang an extrem gegenwartsbezogenen Hermeneutik sichtbar, die sich durch Rückgriffe späterer Akteure auf frühere Erinnerungsschichten wie in der Romantik noch verstärken konnte. In der Erinnerung an den vormittelalterlichen Norden spiegelten sich gleichermaßen mittelalterliche dänische Kreuzfahrer, die von höfischer Literatur geprägte, spätmittelalterliche isländische Oberschicht ebenso wie Ideologen der schwedischen Großmachtzeit und unter kontrapräsentischen Vorzeichen Romantiker auch außerhalb Skandinaviens. Ein entscheidender qualitativer Sprung zur Ideologisierung vollzieht sich dabei in der Frühen Neuzeit, als erstmals aus Island importiertes Material in den Dienst einer nationalen Agenda gestellt wird. Die seit dem 19. Jahrhundert sichtbare Proliferation solcher gegenwartsbezogenen Erinnerungen, welche das Milieu gelehrter Rezeption rasch überschreiten und letztlich, durch Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg gebrochen, in die selbstverständliche Alltagspräsenz des Wikingers in der Gegenwart münden, ist freilich von Beginn an gekennzeichnet durch eine zunehmende Entleerung von kohärenten Narrationen. Letztlich werden der Wikinger und mit ihm verbundene Erinnerungen an den vormittelalterlichen Norden zu einem Gefäß aus semantischen Assoziationen, das sich je nach Gegenwartsbezug neu füllen und instrumentalisieren lässt. So erklärt sich, warum im Zweiten Weltkrieg skandinavische Kollaborateure in der SS-Division »Wiking« kämpften, während gleichzeitig bürgerliche dänische Widerstandskämpfer unter dem Namen »Holger Danske« die deutsche Besatzungsmacht sabotierten und Kollaborateure umbrachten. Die zeitliche Einschränkung einer nordischen Vorzeit auf die erst im 8. Jahrhundert einsetzende Wikingerzeit hat diesem Aufgehen des Wikingers in jeweils situationsbezogener Semantik ebenso wenig entgegengewirkt wie die zahlreichen Erkenntnisse der Forschung über die materielle Kultur jener Epoche jenseits der Manifestationen von Krieg und Beutegewinn. Fundstücke sperren sich naturgemäß viel weniger als komplexe Narrationen gegen eine anachronistische Interpretation. Der aktuelle Begriff Wikinger bezieht sich zudem auf alle Bewohner der skandinavischen Regionen und ihre Kultur zu einer bestimmten Zeit und kann damit gar supranational ein »Volk« bezeichnen,86 was

86 So die deutsche Übersetzung von Peter Sawyer, The Oxford Illustrated History of the Vi-

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einen Archäologen zur nachdrücklichen Feststellung führte, die Wikingerzeit sei durch krude gegenwärtige Vorstellungen im kollektiven Bewusstsein kolonialisiert.87 So haben gegenwärtige Perzeptionen zumeist völkisch-rassistische, wenn auch nicht immer volkstumsideologische Assoziationen hinter sich gelassen. Stattdessen wird die Freiheit von religiösen Zwängen, die vermeintlich bessere Position der Frau in der wikingerzeitlichen Gesellschaft gegenüber dem Mittelalter, die kulturelle Vernetzung und Öffnung infolge der hohen Mobilität oder die Kunstfertigkeit in der Holzverarbeitung bei Schiffen und Gebäuden hervorgehoben.88 In diesem fernen Spiegelbild einer säkularen, die Geschlechter zumindest dem eigenen Ideal nach gleich berechtigenden, globalisierten und technisierten Gesellschaft setzt sich die lange Geschichte des Wikingers als ein in Erinnerung projiziertes kulturelles Ich fort. Der gruppenübergreifende Charakter dieser oft im Dienste nationaler Strukturen stehenden Erinnerungen, der semasiologisch dennoch kaum Bezüge zu Europa aufweist, manifestiert sich hierbei von den frühesten Zeugnissen an in drei Aspekten: Es zeigen sich, erstens, von der šslendingabûk an hermeneutische Strukturen, die in den Regionen, in welchen das Lateinische als Gelehrtensprache dominiert, vorherrschen. Zweitens folgen die gelehrten Diskurse ebenfalls Regeln, welche die fragliche Region der Welt teilt. Beides lässt sich bis in die Emergenz des nordischen Altertums um 1900 verfolgen. Darüber hinaus kommen drittens Raumbezüge des imaginierten Anderen zum Wikinger und seinem Norden zum Tragen, wofür als Projektions- und Reibungsfläche stets der postkarolingische Raum des europäischen Kontinents herhält. Insofern handelt es sich beim Wikinger um ein implizites Gegenkonzept zu Europa. Räumliche Bezüge, die wiederum Aneignungsprozesse des Fremden nach sich ziehen, zeigen sich weiterhin im Wandern und Austausch von Inhalten mit Nachbarregionen Skandinaviens, wie sie etwa bei Ogier le Danois/Holger Danske oder der Fritiofs saga sichtbar werden. Aufgrund solcher Transfers erinnert man sich im Rahmen neuzeitlicher Identitätskonstrukte auch jenseits des Raums, der heute als Skandinavien bezeichnet wird, an den Wikinger als das Andere im Eigenen – etwa in England, der Normandie, Deutschland und Russland. Wollte man ex post für einen europäischen Charakter der Erinnerung an den Wikinger argumentieren, böten gerade die geografisch-politischen Verflechtungen dem Historiografen der Gegenwart Anhaltspunkte. Dass der Wikinger dennoch, trotz seiner Präsenz in Nationen, die sich und ihre Geschichte kings, Oxford 1997: Die Wikinger. Geschichte und Kultur eines Seefahrervolkes, Darmstadt 2000. 87 Fredrik Svanberg, Decolonizing the Viking Age 1. Stockholm 2003, S. 96 – 99 und S. 202 f. Zur Problematik des gegenwärtigen Wikingerbegriffs auch Föller, Wikinger, S. 13 – 18. 88 Wie schon eingangs stellvertretend: Vesilind, Search, S. 12 f., S. 25 und S. 28 – 35.

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als europäisch definieren, in der jüngsten Vergangenheit, von Ausnahmen abgesehen, nicht in den Sog der aktuellen Europaterminologie geraten ist, sondern sich vielmehr parallel zur Konjunktur der Europa-Vokabel hoher Popularität erfreut, resultiert einerseits aus seiner elementaren Funktion als das Andere im gruppenübergreifenden Vergleich, andererseits aus seiner Entwicklung zum Alltagsmythos. Nichtsdestoweniger zeigt die Erinnerung an die Wikingerzeit bei aller Andersartigkeit, welche sie konstituiert, stets das narrative Grundmuster moderner Geschichten Europas. So ist es äußerst signifikant, dass auf die intensiv erinnerte und angeeignete Epoche des Wikingers ein wenn nicht finsteres, so doch jenseits nationaler Kontexte aschgraues skandinavisches Mittelalter folgt – in dessen Überlieferung spätere Jahrhunderte den Wikinger und seine Zeit fanden.

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Kurz vor seinen Anschlägen im Juli 2011 veröffentlichte der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik den 1.500-seitigen Text 2083: A European Declaration of Independence2, der nicht nur im Titel auf die zweite Wiener Türkenbelagerung und andere historische Konflikte mit dem Osmanischen Reich Bezug nahm. Ebenso verweist der Name des islamfeindlichen Blogs Gates of Vienna, den er mehrmals zitierte, auf die Schlacht am Kahlenberg. Diese datiert Breivik auf den 11. statt auf den 12. September, um eine Verbindung zu den Anschlägen auf das World Trade Center herzustellen.3 2083, also 400 Jahre nach dem Entsatz Wiens, solle eine konservative Revolution Europa vom Einfluss des Islams und des dafür verantwortlichen Multikulturalismus befreit haben. Der Fall des Attentäters Breivik ist nur das bekannteste und spektakulärste Beispiel dafür, dass die Erinnerung an das Osmanische Reich und die Auseinandersetzungen, die verschiedene Länder mit ihm geführt haben, auch heute noch aktualisiert wird. Derartige europäische Aktualisierungen dienen dazu, 1 Diese Fallstudie basiert zu großen Teilen auf den Ergebnissen des Forschungsprojekts »Shifting Memories – Manifest Monuments. Memories of the ›Turks‹ and Other ›Enemies‹« an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in welchem der Autor als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig ist. Die Studie profitierte aus diesem Grund auch von den Forschungsleistungen von Johannes Feichtinger, Johann Heiss, Marion Gollner, Silvia Dallinger, Johanna Witzeling und Martina Bogensberger sowie den Vorträgen im Rahmen der vom Projekt veranstalteten Tagungen und den daraus hervorgegangenen Publikationen. Auch der geografische und zeitliche Fokus auf das Gebiet der Habsburger Monarchie und ganz besonders des heutigen Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert liegt in der inhaltlichen Ausrichtung des Projekts begründet. 2 Andrew Berwick [= Anders Behring Breivik], 2083: A European Declaration of Independence, London 2011. 3 Diese Linie zwischen dem historischen Konflikt vor über 300 Jahren und dem islamischen Terrorismus der Gegenwart zieht auch eine aktuelle polnisch-italienische Filmproduktion mit dem Titel September Eleven 1683. Vgl. Vernichtende Kritiken für »September Eleven 1683«, in: DiePresse.com, 17. 10. 2012, http://diepresse.com/home/kultur/film/1302224/Vernichtende-Kritiken-fuer-September-Eleven-1683 (30. 09. 2013).

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Erklärungen für die Gegenwart und Lehren für die Zukunft zu liefern sowie eine Grenze zwischen der eigenen und der anderen Gruppe zu ziehen. Bei Breivik wird diese Grenze zwischen einem erträumten konservativen sowie monokulturellen Europa und den imaginierten inneren Feinden gezogen, das heißt Multikulturalisten, Humanisten, Globalisten, und äußeren Feinden, also Muslimen. Die Erinnerung an die Türken diente in Vergangenheit und Gegenwart als Folie für unterschiedlichste Gruppendifferenzierungen, die auf religiöser, politischer, lokaler, kommunaler, regionaler, nationaler oder eben auch auf europäischer Ebene angesiedelt sein konnten. Die historische Langlebigkeit und die Flexibilität seiner Anwendung lassen den Deutungsträger Türke als ein Modell für das offenbar genuin Andere erscheinen, mit dem stets aufs Neue aktuelle Feinde markiert und dämonisiert werden können. Doch auch wenn er oftmals als Feindbild-Schablone zum Einsatz kommt, so ist der Türke als der Andere nicht darauf zu reduzieren. Denn mit der Erinnerung an ihn können nicht nur Bedrohungen, sondern ebenso Hoffnungen auf ihre Überwindung vorgestellt werden. Er diente außerdem als Projektionsfläche geheimer Wünsche und öffentlicher Ängste.4 So wurde der Türke neben einem Feindbild-Modell auch zur »exotischen Leitfigur«5, wie sie ihren Ausdruck unter anderem in der seit dem 16. Jahrhundert aufkommenden Turquerie fand. Dazu kommt, dass nicht jede Erinnerung an Ereignisse oder Personen mit Bezug auf die Konfrontation mit den Osmanen dabei den Türken thematisieren musste und sich oft auf einen impliziten Verweis beschränken konnte. Dieser Komplex an Vergangenheitsbezügen soll mit dem Begriff des ›Türkengedächtnisses‹ erfasst werden. Der Türke ist darin kein tatsächlicher Akteur, sondern ein Deutungsträger, der gerade wegen seiner Allgemeinheit immer schon offen für Übertragungen auf die unterschiedlichsten Gruppen oder Personen war. Neben dieser Offenheit waren es außerdem die jahrhundertelangen Inszenierungen des Türken als Bedrohung, als blutrünstiger oder erniedrigter Feind sowie als Spiegelbild des eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses, die ihn zu einer immer wieder neu einsetzbaren und damit aktualisierbaren Figur machten. Der Begriff des ›Türkengedächtnisses‹ umfasst insofern nicht nur die Erinnerung an die Konflikte und Begegnungen mit dem Osmanischen Reich und seinen Verbündeten, sondern verweist explizit auf den propagandistischen Einsatz dieser Erinnerungen und auf die Frage, welche Akteure dafür verantwortlich sind. Im Folgenden sollen gegenchronologisch die Konjunkturen dieses Vergan4 Cornelia Kleinlogel, Exotik – Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit (1453 – 1800), Frankfurt am Main 1989. 5 Ebd., S. 51.

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genheitsbezuges skizziert werden, wobei ab einem gewissen Punkt auch die Vorstellungen vom Türken in der tatsächlichen Zeit der Bedrohung durch die Osmanen dargestellt werden. Ein abschließender geschichtlicher Rückblick verweist des Weiteren auf Vorläufer des Türkenbildes. Im Mittelpunkt stehen insgesamt zum einen die Vielfalt der Zuschreibungsmöglichkeiten und die Flexibilität der Kategorie Türke. Zum anderen liegt der Schwerpunkt auf der Auswahl solcher Beispiele, die mehr oder weniger deutlich einen Bezug zu Europa aufweisen. Dies ist manchmal nicht ausdrücklich, jedoch implizit der Fall, wenn etwa der militärische Konflikt mit den Osmanen – als aktuelle Erfahrung wie auch retrospektiv – auch in anderen als den beteiligten Ländern rezipiert wurde und die Bilder und Vorstellungen vom Türken in den unterschiedlichen Regionen miteinander korrespondierten, wobei hier Ähnlichkeiten ebenso wie länderspezifische Unterschiede festzustellen sind. In anderen Fällen existiert zwar explizit ein derartiger europäischer Bezug, doch dies vor allem deswegen, um die Bedeutung einer nationalen oder auch kommunalen Erfahrung beziehungsweise Erinnerung zu erhöhen. Eine weitere Einsatzmöglichkeit der europäischen Referenz lässt sich anhand von Beispielen zeigen, bei denen mittels Verweis auf historische Ereignisse die – nun auch gegenwärtige – Zugehörigkeit zu Europa postuliert werden konnte.

Der historische Türke im 21. Jahrhundert Als im Jahr 2008 in Krakau das 325-jährige Jubiläum des Entsatzes von Wien gefeiert wurde, nutzte der für die Veranstaltung verantwortliche Stadtrat Paweł Bystrowski diesen Anlass zur Konstruktion historischer Kontinuitäten. Ihm zufolge sollte dieser Tag dazu anregen, über die Geschichte Polens und Europas nachzudenken sowie darüber, was die Europäer durch die Jahrhunderte und bis heute verbinde. Er fragte außerdem, ob sich die geopolitische Karte der Gegenwart wirklich so sehr von der zu Zeiten Sobieskis unterscheide, als 1683 die Christenheit vor dem »radikalen Islam« gerettet wurde: »Heute beobachten wir ein sich festigendes russisches Imperium, und wir leben in einem Zustand der Bedrohung vonseiten eines kämpfenden Islams.«6 Bystrowski betonte hier nicht nur die historische und gegenwärtige Zusammengehörigkeit Polens und Europas, sondern markierte Russland und den radikalen Islam als die Türken von heute. Während die Wahl Russlands ein spezifisch polnischer Fall ist, werden Muslime, aber auch Türken, Migranten und »Gastarbeiter«, in den letzten Jahren in weiten Teilen Europas mit diesen gleichgesetzt. Dies war etwa bei Breivik der 6 Paweł Bystrowski, Bronie˛ pomysłu (= Czytelnicy do »Gazety«) [Ich verteidige das Konzept (= Die Leser an die »Zeitung«)], in: Gazeta Wyborcza, 17. 09. 2008.

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Fall, ein weiteres Beispiel wäre der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP), der im Jahr 2005 an die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich erinnerte, um damit die historische Bedeutung seiner Stadt zu betonen: »Graz war immer das letzte Bollwerk eines westlichen Europas gegenüber den türkischen Übergriffen. Graz hat eine lange Geschichte des Abwehrkampfes gegen die Türken geführt. Wir führen diesen Abwehrkampf heute nur mit anderen Mitteln, das ist die Diplomatie.«7

Die Parallelisierung des erinnerten Türken mit heutigen Einwanderern türkischer Herkunft ist besonders weit verbreitet, wie auch das vor allem seit einem Interview mit dem damaligen Bischof von St. Pölten, Kurt Krenn, bekannte Schlagwort von der »dritten Türkenbelagerung«8 deutlich macht. Eine solche Gleichsetzung liegt im Falle Österreichs auch darin begründet, dass gerade hier die Geschichten der Kriege mit dem Osmanischen Reich besonders bekannt sind. Allgemeinere Erklärungen für die neuen Feindbilder sind hingegen emotionalisierte politische Debatten über Migranten, der Wegfall eines globalen Gegenspielers nach Ende des Kalten Krieges oder die medial und politisch inszenierte Bedrohung durch den islamischen Terrorismus.9 Was ihre öffentliche Wirksamkeit betrifft, sind diese Feindbilder tatsächlich neu. Denn noch vor relativ kurzer Zeit spielten Migranten oder der Islam keine große Rolle in der Beschäftigung mit den Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich.

Die Aktualisierung des Türkengedächtnisses vor dem Hintergrund des Kalten Krieges Als man 1983 in Österreich das 300-Jahr-Jubiläum des Wiener Entsatzes mit einem umfangreichen Veranstaltungsreigen feierte, wurden die türkischen »Gräueltaten« kaum thematisiert. Stattdessen ging man vielfach auf den kulturellen Einfluss des Osmanischen Reiches ein, und in den Zeitungen fanden die Lebensumstände türkischer Gastarbeiter Platz. Überhaupt war in diesem Kontext viel von Hoffnung, Frieden und Völkerverständigung die Rede. Zum einen war dies in einer bewussten Abgrenzung zu den Jubiläumsfeiern 50 Jahre zuvor begründet, als die 1933 gemeinsam mit dem Deutschen Katholikentag abge7 Walter Müller, »Bollwerk« gegen Türkei-Beitritt, in: derstandard.at, 15. 07. 2005, http://derstandard.at/2097522 (30. 09. 2013). 8 Kurt Krenn, »Die dritte Türkenbelagerung«, in: derstandard.at, 19. 08. 2002, http://derstandard.at/1044208 (30. 09. 2013). 9 Iman Attia, Die »westliche Kultur« und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld 2009, S. 71 f.

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haltenen Wiener Gedenkveranstaltungen zu einem aufwendig inszenierten Vorspiel des Austrofaschismus wurden. Zum anderen war das Jubiläumsjahr 1983 vom Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. in Wien geprägt, der bei seinen Auftritten mehrmals auf die »christlichen Wurzeln Europas« zu sprechen kam. Der Papstbesuch stellte das Jubiläum des Entsatzes von Wien auch in den Kontext der aktuellen internationalen politischen Situation, sei es die Unterdrückung der polnischen Oppositionsbewegung oder die geplante Stationierung nuklear bestückter Pershing-II – Mittelstreckenraketen, die ein Erstarken der Friedensbewegung zur Reaktion hatte. Insofern ist es wenig überraschend, dass trotz der Abgrenzung zu den Feiern des Jahres 1933 ähnlich diesen das katholische und antikommunistische Element vorherrschend war, was dem Jubiläum einen Subtext gab, der eine christliche Gemeinschaft im Kampf gegen den ungläubigen beziehungsweise atheistischen Feind zu konstituieren versuchte.10 Auch die Diskussionen um das Motto für den Österreichischen Katholikentag, der den offiziellen Anlass des Papstbesuches darstellte, verdeutlichten einerseits die Probleme der Abgrenzung zu 1933 sowie andererseits die Betonung einer europäischen Dimension der Erinnerung an 1683. Ursprünglich dachte man dabei an »Das christliche Europa« und an »Europa – Erbe und Auftrag der Christen« für die Europavesper am Heldenplatz. Nicht zuletzt weil eine der Hauptversammlungen des Jahres 1933 aber den Titel »Das Abendland als christliche Völkergemeinschaft« trug, änderte man den Leitgedanken des Katholikentages auf »Hoffnung« und jenem der Vesper strich man den Untertitel.11 Ein frühes Beispiel für die Verwendung von Europa als zentralem Begriff der inszenierten Erinnerung an die Türken liefert die Feier zum dreihundertjährigen Jubiläum der Schlacht bei Mogersdorf/Szentgotth‚rd im Jahr 1964, die unter dem Motto »Im Zeichen der europäischen Einheit« stand. Dies war zum einen eine Anspielung auf die aus halb Europa stammenden Koalitionstruppen, die 1664 einen zu dieser Zeit seltenen Erfolg gegen ein osmanisches Heer in einer Feldschlacht feiern konnten. Zum anderen verwies das Motto auf die Spaltung Europas durch den Eisernen Vorhang und die Grenzlage des Burgenlandes. Es gab ein offensichtliches Bemühen von Land und Gemeinde um eine Neuinterpretation dieser Lage hin zu einer Brückenfunktion, die bereits wenige Jahre später in Form des Internationalen Kulturhistorischen Symposions mit Teil-

10 Vgl. Simon Hadler, Politik und Erinnerung. Polnisch-österreichische Verflechtungsgeschichten 1883 und 1983, in: Johannes Feichtinger/Johann Heiss (Hrsg.), Der erinnerte Feind. Kritische Studien zur »Türkenbelagerung«, Wien 2013, S. 244 – 264, hier S. 256 – 261. 11 Vgl. Silvia Dallinger, Österreichischer Katholikentag 1983 (01. 03. 2011), in: Türkengedächtnis, http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/feierlichkeit/osterreichischer-katholikentag-1983 (30. 09. 2013).

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nehmern aus dem Burgenland, der Steiermark, Ungarn, Kroatien und Slowenien realisiert werden konnte.12

Nationale Deutungen und der Bollwerk-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert Im Jahr 1964 wie auch im Jahr 1983 stellte Europa insofern einen diskursiven Bezugsrahmen dar, als die erinnerten Ereignisse als gesamteuropäisch relevant betrachtet wurden. Dies unterscheidet die Verwendung des Begriffs wesentlich von Anwendungen vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwar wurde auch zuvor häufig auf Europa Bezug genommen, doch zumeist nur, um einzelne Personen oder Nationen als »Retter Europas« darzustellen. So unterschiedliche Gruppen wie Nationen, Parteien oder soziale Schichten konkurrierten darum, den eigenen Anteil beziehungsweise den der vorgestellten Ahnen an dieser Rettung als bedeutend darzustellen. Dafür war es auch notwendig, die erinnerten Ereignisse als Entscheidungsschlachten und den Gegner als existenzielle Bedrohung darzustellen. Was dabei konkret bedroht wurde, war je nach Akteur und dem Zeitpunkt des Erinnerns austauschbar : Es konnten die eigene Nation, Wien, Mitteleuropa, der Westen, die Christenheit, das Abendland13 oder eben Europa sein. Dabei waren die Grenzen zwischen diesen Begriffen oft fließend. Ausdrücklich von Europa war vermehrt im 19. Jahrhundert die Rede, als die kirchliche Diskurshoheit über die Vergangenheit durchbrochen wurde und unterschiedliche nationale Interpretationen verstärkt an Bedeutung gewannen. Häufig verbunden mit dem Antemurale-Christianitatis- und dem BollwerkMythos, ging es den Vertretern der einzelnen Nationen darum zu zeigen, mit welch großer Opferbereitschaft sie ein möglichst großes Unheil für die Christenheit beziehungsweise Europa abgewehrt hätten und dass ihnen deswegen – in der Gegenwart – Ruhm und Dankbarkeit gebührte. Einen exemplarischen, wenn auch verspäteten Fall stellt die Ukraine dar. Mit der 1983 erfolgten Einweihung einer Tafel zur Erinnerung an die am Entsatz Wiens beteiligten Kosaken an der Leopoldskirche am Leopoldsberg sowie der Errichtung des Kosaken-Denkmals im Wiener Türkenschanzpark im Jahr 2003 sollte der ukrainische Anteil an der Befreiung Wiens ebenso manifestiert werden wie die Zugehörigkeit dieses Landes zu Europa. Dieses Ansinnen wurde in der 12 Vgl. Simon Hadler, Denkmäler im weitesten Sinne. Eine Spurensuche im Burgenland, in: Johannes Feichtinger/Johann Heiss (Hrsg.), Geschichtspolitik und »Türkenbelagerung«, Wien 2013, S. 281 – 299, hier S. 296. 13 Zum Topos des Abendlandes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. auch den Beitrag von Gregor Feindt in diesem Band.

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nationalen Geschichtsschreibung und Publizistik schon seit langem verfolgt und entwickelte sich nicht zuletzt im Rahmen einer Erinnerungskonkurrenz mit Polen im 19. Jahrhundert. Die in Polen weit verbreitete Antemurale-Christianitatis-Vorstellung berief sich auch auf den Einsatz König Johann III. Sobieskis und seiner Truppen beim Entsatz Wiens. Ukrainische Stimmen sahen Polen zu Unrecht in dieser Rolle und beanspruchten eine solche vielmehr für die eigene Nation. Dabei wandelte sich der seit dem 17. Jahrhundert bestehende Mythos von den Kosaken als Verteidiger der Orthodoxie gegen die Ungläubigen zu der Vorstellung vom gesamten ukrainischen Volk als Vormauer Europas.14 Schon 1845 hatte etwa der galizisch-ukrainische Intellektuelle Denys Zubryc’kyj diese Rolle für die Ruthenen15 eingefordert: »Die ausländischen Schreiber stellen fälschlicherweise fest, dass Polen Europa und die Christenheit vor den Einfällen der Tataren beschützt hätte. Uns, uns, den Ruthenen gebührt diese Ehre.«16 Einen Höhepunkt erreichte der Wettstreit zwischen Polen und Ukrainern im Zuge des 200-Jahr-Jubiläums des Entsatzes von Wien im Jahr 1883. Während die Polen in ganz Galizien17, und besonders spektakulär in Krakau, Jan Sobieski feierten und dabei auch die ruthenische Landbevölkerung für ihre Zwecke zu vereinnahmen versuchten, fiel die Reaktion der Ruthenen zwiespältig aus: Zum Teil versuchten sie Sobieski für sich zu reklamieren, indem sie etwa auf seine Geburtsstadt Oles’ko/Olesko verwiesen. Andere Stimmen wiederum kritisierten den König, so etwa der Schriftsteller Ivan Franko, der ihm vorwarf, durch seine passive Politik den Vormarsch der Osmanen nach Wien erst ermöglicht zu haben. Mit seinem Einsatz in der Schlacht am Kahlenberg habe Sobieski nur vergangene Versäumnisse gutgemacht.18 Trotz der ukrainischen Versuche, den polnischen Bollwerk-Mythos zu dekonstruieren, verlor dieser nichts von seiner Wirksamkeit. 1883 waren es auch nicht die Ruthenen, gegen die sich die polnischen erinnerungspolitischen Anstrengungen an erster Stelle richteten. Die Ruthenen konnten ganz einfach unter die polnische Landbevölkerung subsumiert werden, wie auf einer Gedenktafel am Krakauer Karmelitenkloster : Diese wurde anlässlich eines Festessens enthüllt, an welchem Pilger und Gäste der Sobieski-Feier teilnahmen, die aus 14 Burkhard Wöller, »Die Türken zitterten – aber nicht vor den Polen, sondern vor den Kosaken«. Der Bollwerk-Mythos bei den galizischen Ruthenen, in: Feichtinger/Heiss (Hrsg.), Der erinnerte Feind, S. 265 – 284, hier S. 267. 15 Als Ruthenen wurden die im Habsburgerreich lebenden Ukrainer bezeichnet. 16 Zit. n. Wöller, Bollwerk-Mythos, S. 269. 17 Während in den polnischen Gebieten Preußens zumindest eingeschränkt gefeiert werden konnte, war es im Russischen Reich verboten, auch nur den Namen Sobieskis in den Zeitungen zu erwähnen. Aufgrund der übertrieben als ›Galizische Autonomie‹ bezeichneten kulturellen Freiheiten in diesem Kronland war es den hier lebenden Polen möglich, nationale Feierlichkeiten abzuhalten. 18 Wöller, Bollwerk-Mythos, S. 278.

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ländlichen Gebieten kamen und unter denen sich auch viele Ruthenen befanden.19 Viel wichtiger war es für die Organisatoren, die Rolle Sobieskis gegenüber den Wiener Deutschliberalen zu betonen und dadurch auch innenpolitisch zu profitieren. So kritisierte etwa die liberale Krakauer Zeitung Nowa Reforma die Wiener Stadtregierung dafür, dass sie keine würdige Gedenkveranstaltung auszurichten vermochte. Stattdessen werde nun Krakau zum Schauplatz einer tatsächlich europäischen Feier. Europäisch sei sie insofern, als auch das Ereignis epochal für die europäische Zivilisation gewesen sei.20 Der konservative Czas betonte, dass Polen Europa von den Barbaren befreit habe und die Feier demnach von katholischer und zivilisatorischer Natur sei.21 Die Ablehnung der Deutschliberalen und die Hervorhebung des katholischen Elements brachte der Zeitung die Zustimmung des katholisch-konservativen Wiener Blattes Das Vaterland22 ein, was nur ein Beispiel dafür ist, dass die Fronten dieser Erinnerungskonkurrenz analog zur politischen Lagerbildung, nicht aber zwangsläufig entlang nationaler Grenzen verliefen. 50 Jahre später, also im Jahr 1933, ging es im mittlerweile unabhängigen Polen vordergründig nicht mehr um eine Heroisierung der Person Sobieskis, sondern um die des nun mächtigsten Mannes im Staat, Jûzef Piłsudski. Ihm zu Ehren veranstaltete man in Krakau eine Parade von Kavallerie-Regimentern. Die Erinnerung an Sobieski und seinen Erfolg bei Wien sowie die militärische Inszenierung der Feier dienten allein dem Zweck, eine historische Kontinuität zwischen Johann III. Sobieski und Jûzef Piłsudski herzustellen, um damit die machtpolitische Stellung des Marschalls zu legitimieren.23 Demnach war Sobieski der letzte militärische Sieger des alten Polens, Piłsudski der erste des modernen Polens. Beide Male retteten sie Europa und veränderten die Geschichte – so lautete das vermittelte Narrativ. Um dieser Interpretation mehr Gewicht zu verleihen, druckte der Czas zustimmende Zitate westeuropäischer Blätter ab. So stand in der Times zu lesen, dass die Tat Sobieskis genauso entscheidend gewesen sei wie jene Piłsudskis 1920, als der Europa vor dem Bolschewismus

19 Patrice M. Dabrowski, Commemorations and the Shaping of Modern Poland, Bloomington 2004, S. 68. 20 Korespondencya »Nowej Reformy« [Die Korrespondenz der »Nowa Reforma«], in: Nowa Reforma, 13. 09. 1883. 21 Przegla˛d Polityczny [Politischer Überblick], in: Czas, 11. 09. 1883. 22 Die Sobieski-Feier in Krakau, in: Das Vaterland, 20. 09. 1883. 23 Zur Kontinuitätskonstruktion Piłsudskis mit polnischen Herrschern und Helden vgl. Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926 – 1939, Marburg 2002, S. 286 – 290.

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gerettet habe.24 La Suisse wiederum schrieb vom Genius Sobieskis und Piłsudskis und von 1683 und 1920 als entscheidenden Daten der Geschichte Europas.25 In Wien prägte die schon angedeutete Auseinandersetzung zwischen der deutschliberalen Stadtregierung und Vertretern eines katholisch-dynastischen Narrativs die Jubiläumsfeiern des Jahres 1883. Erstere bemühten sich, die Rolle der Wiener, allen voran ihres Bürgermeisters Johann Andreas von Liebenberg, als heldenhaft darzustellen und erhielten darin die Unterstützung der einflussreichen liberalen Wiener Presse. Entsprechend groß war die Aufregung, als der katholisch-konservative Historiker Onno Klopp eben dieses heroische Verhalten infrage stellte.26 Die Auseinandersetzung spiegelte sich auch in zwei unterschiedlichen Denkmalprojekten wider, dem Liebenberg-Denkmal vor der Mölkerbastei (1890) einerseits und dem Türkenbefreiungsdenkmal im Stephansdom (1894) andererseits. In beiden Fällen wiesen die Unterstützer dieser Monumente auf die historische und gegenwärtige Bedeutung der Belagerung und des Entsatzes Wiens hin und stellten die Bedrohung besonders groß, die Befreiung entsprechend heroisch dar. So war in einem Aufruf des Gesamt-Comit¦s für das Türkenbefreiungsdenkmal von der unmittelbaren Bedrohung Mitteleuropas zu lesen: »Die Rettung von Wien aus der Türkennot im Jahre 1683 war ein Ereignis, wie seit Jahrhunderten kein zweites eine gleiche welthistorische Bedeutung hatte. Auf und vor den Mauern unserer Stadt wurde die österreichische Monarchie, und weil diese das Bollwerk des ganzen Abendlandes gegen die lawinenartig angewachsene Macht des Osmanentums war, auch das Christentum Europas gerettet.«27

Diese Interpretation entsprach der offiziellen kirchlichen Lesart, wie dem Sendschreiben Papst Leos XIII. an den Wiener Fürsterzbischof Cölestin Josef Ganglbauer zu entnehmen war. Darin wurde besonders die Koalition aus Staat und Kirche als der ausschlaggebende Grund für den Erfolg betrachtet. Nicht nur Wien und das Reich seien gerettet worden, sondern auch das Christentum, da sich ansonsten der »muhamedanische Aberglaube« über Europa verbreitet hätte.28 Auch die Deutschliberalen sahen im Wien des Jahres 1683 ein »Bollwerk 24 »Times« o oswobodzeniu Wiednia przez krûla Sobieskiego [Die »Times« über die Befreiung Wiens durch König Sobieski], in: Czas, 13. 09. 1933. 25 Rok 1683 i 1920 [Das Jahr 1683 und 1920], in: Czas, 14. 09. 1933. 26 Onno Klopp, Das Jahr 1683 und der folgende große Türkenkrieg bis zum Frieden von Carlowitz 1699, Graz 1882. 27 Zit. n. Johanna Witzeling/Johannes Feichtinger, Stephansdom, Türkenbefreiungsdenkmal (29. 10. 2009), in: Türkengedächtnis, http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/turkenbefreiungsdenkmal-im-stephansdom (30. 09. 2013). 28 Vgl. Johannes Feichtinger/Johann Heiss/Johanna Witzeling, Sendschreiben Papst Leos XIII. vom 30. August 1883 (03. 07. 2012), in: Türkengedächtnis, http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/kontext/sendschreiben-papst-leos-xiii-vom-30-august-1883 (30. 09. 2013).

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der christlichen Kultur«. »[D]ie Türken von heute«, gegen die es sich als ein »Bollwerk der modernen Kultur« zu verteidigen gelte, seien allerdings die Christlich-Konservativen, die jedoch wie die Osmanen im Jahr 1683 an der Bürgerschaft scheitern würden.29 Hier zeigt sich erneut, wie sich das Feind- und Bedrohungsbild Türke, auch wenn vom Osmanischen Reich gegenwärtig keine Gefahr ausging, zur Markierung und Dämonisierung aktueller Gegner eignete. Diesen Aspekt machten sich auch die Gegner der Deutschliberalen zunutze. So formulierte etwa Leo XIII. in seinem Sendschreiben: »Auch in unserer Zeit wird die Kirche heftig bekämpft, wenn auch von anderen Feinden und mit anderen Mitteln. Nicht so sehr äußere als innere Feinde führen die Waffen gegen die katholische Sache in zwar unblutigem, aber heftigem und unheilvollem Kampfe.«30

Neben den Liberalen konnten von katholischer Seite auch andere Feinde mit den Türken parallelisiert werden, wenn etwa der antisemitische Pfarrer und Initiator der anlässlich des Entsatzjubiläums erbauten St. Josephs-Votivkirche schrieb: »[1683] drohten erst die Sclavenketten; jetzt tragen wir sie schon«31, und dabei an die »Judenherrschaft«32 dachte. Ein bekanntes Beispiel dieser Feindbildverschiebung vom Türken zum Juden stellte in der Zwischenkriegszeit das bis heute populäre Kinderbuch Hatschi Bratschis Luftballon dar, dessen türkischer Protagonist, der Kinderräuber Hatschi Bratschi, seit der Neuauflage 1933 offensichtliche stereotype jüdische Züge trug.33 Auch mit anderen aktuellen Bedrohungsszenarien wurde die Erinnerung an die Türken verbunden: Eine dynastische Variante der Parallelisierung von Feindbildern, in diesem Fall zur Darstellung eines habsburgischen Heldennarrativs, findet sich auf dem Wiener Heldenplatz. Dort stehen sich seit den 1860er-Jahren die beiden Reiterdenk-

29 Unsere Türken von heute, in: Neues Wiener Tagblatt, 11. 09. 1890. 30 Das päpstliche Sendschreiben über die Säcularfeier, in: Neue Freie Presse (Morgenblatt), 12. 09. 1883. 31 Joseph Deckert, Türkennoth und Judenherrschaft, Wien-Weinhaus 1894, S. 17, zit. n. Johanna Witzeling/Johannes Feichtinger/Johann Heiss, St. Josephs-Votivkirche zu Weinhaus (23. 09. 2010), in: Türkengedächtnis, http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/st-josephs-votivkirche-zu-weinhaus (30. 09. 2013). 32 Ebd. 33 Zsuzsa Barbarics-Hermanik, ›Türkensterz — la Graz?‹. Motive und Bilder aus dem ›Türkengedächtnis‹ der steirischen Landeshauptstadt, in: Feichtinger/Heiss (Hrsg.), Geschichtspolitik und »Türkenbelagerung«, S. 211 – 234, hier S. 227; Gudrun Harrer, Morgenländer im Kopf, in: derstandard.at (13. 06. 2008), http:/derstandard.at/3375308 (30. 09. 2013). Ernst Hanisch erinnert auch an die Anschlussfähigkeit dieses Türkenbildes mit dem Bolschewismus; vgl. ders., Heldenplatz, in: Êtienne FranÅois/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte 1, München 2009. S. 105 – 121, hier S. 108.

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mäler von Erzherzog Karl und Prinz Eugen gegenüber : Der eine kämpfte gegen Napoleon, der andere im Großen Türkenkrieg. Die schon erwähnte 250-Jahr-Feier der Regierung Dollfuß im Jahr 1933 in Wien richtete sich wiederum gegen die sozialdemokratische und nationalsozialistische Opposition. Ähnlich nutzte auch Piłsudski das Kavallerie-Fest in Krakau zur Demonstration militärischer Stärke, die gegen die Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland einsetzbar war. Hitler, so schrieb der Ilustrowany Kuryer Codzienny, stehe heute für einen neuen, diesmal »germanischen Islam«34. In Kroatien sah man sich wiederum als dreifaches Opfer. Nicht nur die Türken, sondern auch die Ungarn und Deutschen beziehungsweise Österreicher wurden als Unterdrücker wahrgenommen. In der Zwischenkriegszeit identifizierte man im Königreich Jugoslawien die Serben als barbarische, asiatische Türken und nicht, wie man meinen könnte, die muslimischen Bosnier, welche die Nationalisten zu Kroaten zu konvertieren hofften.35 Der nationalistische Diskurs in Serbien unterscheidet wiederum bis heute zwischen den Osmanen als »echten Türken« und den Bosniern als »nicht echten Türken«, als »Vertürkten« (poturica), denen so das zusätzliche Stigma des Verräters anhaftet.36 In den Kriegen der 1990er-Jahre griff man auch von kroatischer Seite die Erinnerung an die Osmanen auf und sah sich als Bollwerk gegen ein »byzantinisch-bolschewistisches« Serbien.37 Eine etwas andere Entwicklung nahm die Funktionalisierung des Türken in Ungarn. Obwohl man auch hier den nationalen Mythos von der Rettung der Christenheit aufrecht hielt, sah man sich im Rahmen des im 19. Jahrhundert aufkommenden Turanismus mit den Türken verwandtschaftlich verbunden. Diese Annäherung spiegelt sich auch in – im Vergleich zu anderen zentraleuropäischen Ländern frühen – gemeinsamen Denkmalprojekten wider. So wurde auf Initiative des osmanischen Konsuls eine Gedenktafel an der Kirche von Turb¦k bei Szigetv‚r angebracht, an der Stelle, wo einst die Türbe Süleymans des Prächtigen stand.38 Angesichts dieser gefühlten ethnischen Nähe wurde daher 34 Gdy skon´cza˛ sie˛ uroczystos´ci – rozpocznie sie˛ decyduja˛ca bitwa [Wenn die Feierlichkeiten enden – beginnt die entscheidende Schlacht], in: Ilustrowany Kuryer Codzienny, 15. 09. 1933. 35 Maria Todorova, The Ottoman Menace in Post-Habsburg Historiography, in: Austrian History Yearbook 40 (2009), S. 141 – 147, hier S. 146. 36 Vgl. Stef Jansen, ›Why do they hate us?‹. Everyday Serbian Nationalist Knowledge of Muslim Hatred, in: Journal of Mediterranean Studies 13 (2003), H. 2, S. 215 – 237, hier S. 218; Dragan Prole, Erinnerung als Bedrohung. Zum ›Türkengedächtnis‹ in Serbien, in: Feichtinger/Heiss (Hrsg.), Geschichtspolitik und »Türkenbelagerung«, S. 318 – 338, hier S. 323. 37 Wolfgang Höpken, Post-sozialistische Erinnerungskulturen im ehemaligen Jugoslawien, in: Emil Brix/Arnold Suppan/Elisabeth Vyslonzil (Hrsg.), Südosteuropa. Traditionen als Macht, Wien 2007, S. 13 – 50, hier S. 20. 38 L‚szlû Levente Balogh, Szigetv‚r (26. 07. 2012), in: Türkengedächtnis, http://www.tuerk-

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das Feindbild Türke in der Zwischenkriegszeit vor allem zur Unterdrückung der rumänischen sowie slawischen Minderheiten eingesetzt,39 während noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Parallelisierung von Türken und Habsburgern vollzogen worden war. Dies veranschaulicht am besten das Denkmal für den in der Schlacht bei Moh‚cs gefallenen ungarischen König Ludwig II. Es wurde 1864 von einem Offizier der ungarischen Revolution von 1848/49 errichtet, der in Arad zu Tode verurteilt wurde, aber fliehen konnte. Dementsprechend richtete sich dieses Türken-Denkmal gegen Österreich, jedoch ebenso gegen Russland und Kroatien.40

Akteure des Türkengedächtnisses – Bürger, Kirche, Höfe Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit, mit den beiden Entsatzjubiläen 1883 und 1933 als Höhepunkten, erfuhr die Erinnerung an die Konflikte mit den Osmanen eine bis dahin nicht gekannte Aktualität. Unterschiedliche Gruppen wie Nationen, Parteien oder die Kirche konkurrierten miteinander um die Diskurshoheit über die Vergangenheit, und die sich steigernden nationalen Spannungen wurden nicht zuletzt auf dem Feld der Erinnerungspolitik ausgetragen. Die Anwendung von Feindbildern zur Stabilisierung individueller und kollektiver Identitäten war nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die als krisenhaft wahrgenommene Moderne. So entstand ein sich ausdifferenzierendes Bild von der Vergangenheit, bedingt durch neue Akteure, die das bis dahin weitgehend vorherrschende Deutungsmonopol von Kirche und Höfen brechen konnten. Tatsächlich war ein solches Monopol jedoch nie vollständig durchzusetzen gewesen, es gab durchaus Ausnahmen, in denen besonders im lokalen Kontext bürgerliche und populärkulturelle Erinnerungsformen ihren Ausdruck fanden. Zu diesen Ausnahmen zählen Legenden und wohl damit legitimierte Privilegien bestimmter Zünfte. In Wien waren dies die Bäcker, über deren Beteiligung an der Verteidigung der Stadt in den Jahren 1529 und 1683 viele Geschichten kursierten und denen wegen ihres heldenhaften Einsatzes das Recht auf einen engedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/szigetvar (30. 09. 2013). Eine Art Fortsetzung fand dieses Projekt im Jahr 1994 ebendort in Form des Parks der ungarisch-türkischen Freundschaft (Magyar-Török Bar‚ts‚g Park). In Österreich erinnert seit dem Jahr 1984 der sogenannte Friedensstein in Mogersdorf an die hier gefallenen »türkischen« Soldaten des Jahres 1664. Vgl. Hadler, Denkmäler, S. 295. 39 Todorova, Ottoman Menace, S. 146. 40 L‚szlû Levente Balogh, Ungarische Erinnerungsmuster und ihre Wendepunkte. Moh‚cs als Epochenkategorie und Erinnerungsort, in: Feichtinger/Heiss (Hrsg.), Der erinnerte Feind, S. 121 – 140, hier S. 132.

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Umzug mit Fahne zugesprochen wurde.41 Zum 100. Jahrestag der Schlacht am Kahlenberg wurde außerdem ein Innungsbecher gefertigt, der an ihre – historisch nicht belegten – Verdienste erinnern soll.42 Auch im niederösterreichischen Waidhofen an der Ybbs wird ein Zunftumzug in den Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit osmanischen Truppen gebracht. In diesem Fall waren es die Sensenschmiede, denen ein großer Anteil an der Vertreibung von im Jahr 1532 nahe der Stadt lagernden Reitertruppen nachgesagt wurde. Der sogenannte Hernalser Eselsritt stellte wiederum eine populärkulturelle Form des Erinnerns dar. Zwar dürfte dieser Umzug religiöse Ursprünge haben, doch bereits 1684 diente er der Verspottung des besiegten Feindes, der in der Figur eines auf einem Esel reitenden Paschas im Mittelpunkt stand.43 Unter anderen Vorzeichen durchbrach auch schon die Wiener Zentenarfeier des Entsatzes das Erinnerungsmonopol, vor allem jenes der Kirche. Joseph II. ordnete an, dass im Jahr 1783 die Verteidigung der Stadt letztmalig erinnert werden sollte. Aus diesem Grund ließ er praktisch alle – und damit besonders die kirchlichen – Prozessionen verbieten. Zusätzlich fand im Prater ein öffentlich zugängliches Feuerwerk statt, das die Belagerung und den Entsatz der Stadt zeigte. Auch diese Veranstaltung richtete sich gegen etablierte kirchliche Gedenktraditionen und bezog außerdem gezielt die Wiener Bürger ein, die übrigens auch in den Veröffentlichungen und Theaterstücken eine nun tragende Rolle einnahmen.44 Schlussendlich scheiterte jedoch der Säkularisierungsversuch des Kaisers. Schon bald nach seinem Tod setzten sich die von ihm bekämpften Traditionen wieder durch. Trotz der hier angeführten bürgerlichen Rituale und Teilnahmen dominierten weiterhin Kirche und Höfe als Akteure der Erinnerung an die Osmanen. Zwei der wichtigsten Medien der katholischen Kirche – und aus diesem Grund auch von Joseph II. stark beschnitten – waren Umzüge und Wallfahrten. So rief Papst Gregor XIII. kurz nach der erfolgreichen Seeschlacht bei Lepanto 1571 das Rosenkranzfest (ursprünglich der Gedenktag »Unserer Lieben Frau vom Siege«) aus, welches 1628, also zwei Jahre nach der Schlacht bei Moh‚cs, auch in Wien erstmals begangen wurde. Nur zwei Wochen nach dem Entsatz 41 Vgl. Johannes Feichtinger/Johann Heiss/Martina Bogensberger/Marion Gollner, Florianigasse, Bäckerkreuz (21. 06. 2010), in: Türkengedächtnis, http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/backerkreuz-in-der-florianigasse (30. 09. 2013). 42 Marion Gollner/Martina Bogensberger/Johann Heiss, Florianigasse, Innungsbecher der Wiener Bäcker (10. 01. 2011), in: Türkengedächtnis, http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/innungsbecher-der-wiener-backer (30. 09. 2013). 43 Vgl. Silvia Dallinger, Was macht ein Pascha auf einem Esel? – Die zweite Wiener ›Türkenbelagerung‹ als gegenwärtige Vergangenheit, in: Feichtinger/Heiss (Hrsg.), Geschichtspolitik und »Türkenbelagerung«, S. 168 – 191. 44 Johann Heiss, Die Ereignisse zum hundertjährigen Jubiläum 1783, ebd., S. 58 – 88, hier S. 67 – 72.

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Wiens 1683 ordnete außerdem Papst Innozenz XI. das Fest Mariä Namen an, welches seitdem am 12. September, dem Tag der Schlacht am Kahlenberg, gefeiert wird. Die Erfolge gegen den »Erbfeind Christlichen Namens« seien nämlich ganz besonders der Hilfe der heiligen Maria zu verdanken gewesen. Das schlug sich auch in der Verehrung verschiedener Marienbilder nieder : von dem aus Ungarn in den Wiener Stephansdom überstellten Bildnis M‚ria Pûcs und dem ebendort befindlichen Gnadenbild Maria in der Sonne bis zur Schwarzen Madonna im Paulinerkloster im polnischen Tschenstochau. Dabei wurden einerseits ältere Traditionen übernommen, wie im Falle der Schwarzen Madonna, die vor allem durch die ihr zugeschriebene Abwehr der Schweden 1656 und 1657 Berühmtheit erlangt hatte. Andererseits konnten ältere Traditionen aber auch umgedeutet werden. Letzteres trifft bei Bildern wie der Maria in der Sonne zu, welches die Madonna auf einer Mondsichel stehend und von der Sonne bekleidet zeigt. Diese weit verbreitete Symbolik konnte verschieden interpretiert werden, sie stand etwa für Anfang und Ende oder für Kaiser und Papst. Durch den Konflikt mit den Osmanen sah man nun jedoch in der Mondsichel den islamischen Halbmond.45 Aus diesem Grund wurden 1683 auch Stern und Mondsichel von der Spitze des Stephansdoms entfernt und durch ein Kreuz ersetzt. Die Verehrung Mariens und ihrer Abbildungen sowie die »Pflicht zur Dankbarkeit«46 für den Beistand in der Gefahr beförderten außerdem das Wallfahrtswesen. Kirchen wie jene im niederösterreichischen Sonntagberg profitierten davon, dass sie von den osmanischen Streifzügen verschont geblieben waren. Sie erschienen als unter einem besonderen Schutz stehend, was ihre Bedeutung als Wallfahrtsorte steigerte. Machtpolitisch dienten all diese Rituale nicht zuletzt dazu, die katholischen Gläubigen an die Kirche zu binden und sich von den Protestanten abzugrenzen. Katholische Herrscherhäuser, allen voran die Habsburger, legitimierten so ihre Machtposition. Doch nicht nur die enge Verbindung von Fürst und Kirche diente der weltlichen Herrschaftslegitimierung. Auch von den Höfen selbst gingen zahlreiche Initiativen aus, um die Erinnerung an die Osmanen für die eigenen Zwecke zu nutzen. In Polen war etwa König Stanislaus August Poniatowski darum bemüht, mittels der Erinnerung an Sobieski sein eigenes Reformprogramm politisch durchzusetzen. Anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht bei Wien beschloss 45 Johanna Witzeling, Stephansdom, Gnadenbild ›Maria in der Sonne‹ (29.10. 2009), in Türkengedächtnis, http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/gnadenbild-%E2%80%9Amariain-der-sonne-im-stephansdom (30. 09. 2013). 46 Georg Simmel, Exkurs über Treue und Dankbarkeit, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1992 [Leipzig 1908], S. 652 – 670, hier S. 667, zit. n. Johannes Feichtinger, Maria Hilf! ›Türkengedächtnis‹ und Marienkult in Wien (16. bis 21. Jahrhundert), in: Ders./Heiss (Hrsg.), Geschichtspolitik und »Türkenbelagerung«, S. 24 – 57, hier S. 32.

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der König die Neugestaltung des königlichen Sarkophags in der Krypta der Wawel-Kathedrale in Krakau. Fünf Jahre später wurde im Łazienki-Park bei Warschau ein Reiterstandbild Sobieskis im Rahmen aufwendiger Feierlichkeiten enthüllt. Nicht immer aber waren solche Initiativen erfolgreich, wie folgendes, anlässlich der Denkmalseinweihung verbreitetes Spottgedicht belegt: »Hunderttausend für ein Denkmal!/Zweimal mehr möcht’ ich geben,/Würde Stanisław zu Stein/und Jan III. leben.«47 Zuvor gab es unter den sächsisch-polnischen Königen wenig Interesse an einer Pflege des Gedenkens an Sobieski. Diese Aufgabe blieb seiner Familie und seinen Nachkommen überlassen. So wurde 1760 ein vom litauischen Großhetman Michał Kazimierz Radziwiłł initiiertes Denkmal in der Kathedrale auf dem Wawel enthüllt. Dieses Denkmal zeigt auch Maria Kazimiera, die Gattin Sobieskis, die noch zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tod den Mythos um ihren Gemahl kultivierte. Nicht nur zahlreiche Stiftungen in Polen zeugen davon; ihre in Rom anlässlich der Jahrestage der Schlacht bei Wien inszenierten Feierlichkeiten bescherten Sobieski bald im Ausland einen besseren Ruf als in Polen, wo ihm nach seinem Wiener Triumph nur mehr wenig Erfolg beschieden war. Auch die Habsburger feierten ihre militärischen Erfolge gegen die Osmanen. Dabei fällt auf, dass sie dies im 18. Jahrhundert zumeist in einem religiösen Rahmen taten. So fand die verherrlichende Darstellung, die Kaiser Karl VI. auf einem besiegten Osmanen stehend zeigt, ihren Ort im Marmorsaal im Augustiner-Chorherrenstift im oberösterreichischen St. Florian. Im Klosterneuburger Augustinerstift finden sich Bilder heidnischer Gefangener, die ganz offensichtlich an osmanische Krieger erinnern, ebenfalls im Marmorsaal. Es handelt sich dabei um einen Ausschnitt des Deckenfreskos von Daniel Gran, welches »ehre, ruhm und majestät des hauses Österreich«48 darstellen soll, wobei der angesprochene Ausschnitt für die Tapferkeit des Hauses Österreich und den Sieg des Christentums steht. Erst im 19. Jahrhundert, etwa mit den erwähnten Reiterstatuen am Heldenplatz oder der Feldherrenhalle im heutigen Heeresgeschichtlichen Museum, trat der Hof offensiver als Akteur der Erinnerung an die Kriege mit den Osmanen in Erscheinung. Eine Ausnahme, auch bezüglich der frühen Entstehungszeit, stellt das sogenannte Kugelkreuz in Schwechat dar. Dieses Denkmal entstand zwischen 1683 und 1690 im Auftrag von Kaiser Leopold I. und erinnert an seine Zusammenkunft mit König Sobieski am 15. September 1683.49 47 Martina Thomsen, Prinz Eugen und Jan III. Sobieski. Der Ruhm des Siegers. Um den Vorrang im nationalen und europäischen Heldenpantheon, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte 3, Paderborn 2012, S. 182 – 201, hier S. 188. 48 Eckhart Knab, Daniel Gran, Wien/München 1977, S. 265. 49 Simon Hadler, Schwechat, Kugelkreuz (22. 07. 2012), in: Türkengedächtnis, http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/schwechat-kugelkreuz (30. 09. 2013).

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Der Türke – Bedrohung und Hoffnung, Attraktion und politischer Faktor In dieser Zeit des Großen Türkenkrieges (1683 – 1699) unterlag das Türkenbild einem Wandel: Bis dahin wurde dieses Bild von Vorstellungen geprägt, die sich um die Grausamkeit und die sexuelle Freizügigkeit der Türken drehten und von biblischen, apokalyptischen Deutungen bestimmt waren. In unzähligen Flugschriften wurden die Türken als orientalische Bluthunde bezeichnet, die Frauen und ganz besonders Schwangere schänden und zerstückeln, Kinder aufspießen, Sklaven töten und Geistliche verfolgen würden. Vor allem in protestantischen Drucken und Predigten wurden sie als die biblischen Völker Gog und Magog dargestellt, die aufseiten Satans gegen Christus kämpften. In diesem Sinne war der Türke der Antichrist, der Erbfeind der ganzen Christenheit, der folgerichtig auch nicht rechts- und vertragsfähig war und mit dem es keinen tatsächlichen Frieden geben konnte.50 Nun aber wurde der Türke zum Objekt des Spottes, auf den mit Herablassung geblickt wurde, wie es auch die erwähnten barbarisierenden Darstellungen in den Augustinerklöstern veranschaulichen. Auf diesen und ähnlichen Abbildungen und Monumenten ist der Feind vernichtet, seine Nacktheit ein Zeichen seiner kulturellen Rückständigkeit. Direkt im Anschluss an den erfolgreichen Entsatz Wiens waren es aber nicht Denkmäler und Fresken, die vom Triumph über die Osmanen berichteten, den Feind erniedrigten, die Heerführer verherrlichten oder die himmlische Errettung verkündeten, sondern eine Flut von Flugblättern, Schmähschriften, Augenzeugenberichten und Bildern geriet in Umlauf. In weiten Teilen Europas fanden kirchliche Prozessionen, Dankgottesdienste, Theateraufführungen und Feuerwerke statt. »Wohl kaum ein anderes politisches oder militärisches Ereignis der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde ähnlich rasch und intensiv rezipiert.«51 Dieser und andere Siege wurden auch in jenen Teilen Europas gefeiert, die von der Expansion des Osmanischen Reiches nicht betroffen oder bedroht waren beziehungsweise umgekehrt trotz der Nähe zu den Osmanen einen modus vivendi gefunden hatten. Zu Letzteren ist etwa Venedig zu zählen, das, wenn es sich finanziell lohnte, zwar auch gegen die Osmanen Krieg führte, im Allgemeinen jedoch gute Handelsbeziehungen bevorzugte.52 Auch in Polen konnte sich, re50 Vgl. Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004, S. 72 – 80, 92 – 99. 51 Andrea Sommer-Mathis, Türckische Tragödia und Christliche Comödia. Die ›Türkenfeiern‹ 1683 in Europa, in: Feichtinger/Heiss (Hrsg.), Geschichtspolitik und »Türkenbelagerung«, S. 89 – 118, hier S. 89. 52 Mustafa Soykut, Europe and the Turks in the Modern Age. A Representation of »Otherness«

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trospektiv betrachtet, kein derart negatives Türkenbild durchsetzen, wie dies in den Habsburger Ländern meist der Fall war. Konfliktreiche Phasen wechselten sich mit solchen ab, die von engem kulturellen Kontakt geprägt waren. Den deutlichsten Ausdruck fand dieser Kulturtransfer in der Übernahme osmanischer Kleidung oder Waffen durch den vom Sarmatismus geprägten polnischen Adel.53 Seit dem 18. Jahrhundert sahen sich außerdem Polen-Litauen und die Osmanen in einer ähnlichen, zunehmend defensiven Position, nicht zuletzt gegenüber Russland. Dies fand in weiterer Folge seinen Ausdruck darin, dass sich das Osmanische Reich gegen die Aufteilung Polens aussprach und im 19. Jahrhundert vielen Teilnehmern der gescheiterten Aufstände als Exil diente.54 Für die westeuropäischen Länder waren die Osmanen wiederum zu weit entfernt, um eine tatsächliche Bedrohung darzustellen. Zwar existierten auch hier antitürkische Schriften, jedoch in weit geringerem Umfang als in grenznahen Regionen.55 Es dominierte vielmehr der Pragmatismus der Realpolitik, wenn sich etwa England und die Niederlande wegen des Levantehandels um gute zwischenstaatliche Beziehungen bemühten. Frankreich wiederum sah im Osmanischen Reich einen Verbündeten gegen das Heilige Römische Reich. Zu einer tatsächlichen Allianz kam es jedoch nie. Je nach Interessenslage konnten die diplomatischen Beziehungen auch wieder schnell gedrosselt werden, und in der Bevölkerung unterschied sich das Bild vom Türken nicht wesentlich von dem in anderen Ländern vorherrschenden.56 Umgekehrt wurde jedoch Frankreich unter Ludwig XIV. zum mit dem Türken parallelisierten »Occidentalischen Erb=Feindt«57. Derartige Gleichsetzungen kamen immer wieder vor, so wurde

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According to the Popes and Doges, in: Gabriele Haug-Moritz/Ludolf Pelizaeus (Hrsg.), Repräsentationen der islamischen Welt im Europa der Frühen Neuzeit, Münster 2010, S. 168 – 176, hier S. 173; vgl. auch Yigit Topkaya, Der ›Türke‹ als neues Feindbild des christlichen Abendlandes, in: Thomas Kolnberger/Ilja Steffelbauer (Hrsg.), Krieg in der europäischen Neuzeit, Wien 2010, S. 386 – 405, hier S. 386 und S. 392. Vgl. Wrede, Reich, S. 111 f. Vgl. Sebastian Płûciennik, Die Türkei ante portas. Die polnische Perspektive, in: Angelos Giannakopoulos/Konstadinos Maras (Hrsg.), Die Türkei-Debatte in Europa. Ein Vergleich, Wiesbaden 2005, S. 159 – 175, hier S. 159 – 161. Luc Deitz, Das Türkenbild in der englischen Literatur des 16. Jahrhunderts, in: Bodo Guthmüller/Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000, S. 395 – 407, hier S. 395 f. Klaus Malettke, Die Vorstöße der Osmanen im 16. Jahrhundert aus französischer Sicht, ebd., S. 373 – 394, hier S. 378 und S. 387; vgl. hierzu auch Michael Hochedlinger, Die französischosmanische »Freundschaft« 1525 – 1792. Element antihabsburgischer Politik, Gleichgewichtsinstrument, Prestigeunternehmung – Aufriß eines Problems, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 102 (1994), S. 108 – 164. Der Occidentalische Erb=Feindt. Das ist Die Frantzösische heut zu Tag übliche underschidliche Staats=Maximen und Regierung / so wohl in Geist= als Weltlichen / und deren Vergleichung / mitdenen Türckischen Staats=Grundt=Reglen / Dabey auch Uber die heu-

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schon Karl der Kühne als »Burgundisch Turck« oder »Türk im occident« bezeichnet.58 Ein modus vivendi blieb auch vielen Bewohnern Ungarns nicht erspart, die zwar im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder unter der Bedrohung unterschiedlicher Streifscharen und Heeresbewegungen zu leiden hatten, doch gleichzeitig mit den neuen Machthabern und Nachbarn Handel und kulturellen Austausch trieben. Nach dem für den ungarischen Adel enttäuschenden Frieden von Eisenburg (1664) bemühten sich die Anhänger der sogenannten Magnatenverschwörung um Unterstützung der Osmanen bei einem Aufstand gegen die Habsburger. Dies taten – erfolgreicher – auch die Anführer diverser antihabsburgischer Aufstände, die von Anfang des 17. bis zum beginnenden 18. Jahrhundert meist von Nordungarn und Siebenbürgen ausgingen. In der Außenwahrnehmung wandelte sich das Land so vom Verteidiger zum Verräter der Christenheit.59 Bei aller Dominanz und Hartnäckigkeit eines negativen Türkenbildes bleibt festzustellen, dass es in den verschiedenen Regionen je nach historischem Kontext und sozialer Schicht eine große Bandbreite unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen in der Auseinandersetzung mit dem Türken gab. Diese Bandbreite erweiterte sich noch zusätzlich, seit Ende des 17. Jahrhunderts mit der Aufklärung auch »neue Formen des Verstehens und Bemühens um das Osmanische Reich, die Türken und den Islam«60 aufkamen. Ausgehend vom französischen Adel kam eine »Türkenmode« auf, eine Vorliebe für das Exotische und Fremde, das meist undifferenziert als türkisch bezeichnet wurde. Ihren Ausdruck fand diese Entwicklung in manchen höfischen Inszenierungen, besonders aber in der Kunst.61 In der Malerei, im Theater, in der Literatur oder der Musik fand die Begeisterung für den imaginierten Orient

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tige annoch währende weit außsehende Frantzösische Proceduren / auch in incidenter wegen der unvermuthet vorgenommenen Fridens= und Stillstandts=Ruptur, Und Bißdahero verübter Frantzösisch=Barbarischen Grausamkeiten / einige Reflexiones und Politische Anmerckungen bedencklich zu lesen, o. O. 1690. Claudius Sieber-Lehmann, Der türkische Sultan Mehmed II. und Karl der Kühne, der »Türk im Occident«, in: Franz-Reiner Erkens (Hrsg.), Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter, Berlin 1997, S. 13 – 38. Andr‚s Forgû, Überlegungen zum Wandel des Osmanenbildes im Königreich Ungarn der Frühen Neuzeit, in: Haug-Moritz/Pelizaeus (Hrsg.), Repräsentationen, S. 75 – 94, hier S. 86. Maximilian Grothaus, Zum Türkenbild in der Adels- und Volkskultur der Habsburgermonarchie von 1650 bis 1900, in: Gernot Heiss/Grete Klingenstein (Hrsg.), Das Osmanische Reich und Europa 1683 bis 1789: Konflikt, Entspannung und Austausch, Wien 1983, S. 63 – 88, hier S. 64. Vgl. dazu Mario Kramp, Mythos, Mode, Maskerade. Der türkische Orient als Provinz des europäischen Rokoko, in: Beate Dorfey/Mario Kamp (Hrsg.), »Die Türken kommen!«. Exotik und Erotik: Mozart in Koblenz und die Orient-Sehnsucht in der Kunst, Koblenz 2006, S. 67 – 93.

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Eingang. Mozarts Entführung aus dem Serail oder die 1704 erstmals ins Französische übertragene Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht sind nur die prominentesten Beispiele dieser Mode. Der Kontakt mit dem Osmanischen Reich schlug sich auch in neuen Begriffsbildungen nieder, etwa in der Anatomie (Türkensattel/Sella turcica62) oder in volkstümlichen botanischen Bezeichnungen. So wird der Mais in Österreich je nach Region als »Türkischer Weizen«, »Türken«, »Türk Woaz« oder in Italien als »granoturco« bezeichnet. Türkisch bezeichnete in solchen Fällen die fremde Herkunft, denn bekanntermaßen kam der Mais aus Übersee nach Europa. Fester Bestandteil ist der Kulturtransfer auch in populären Legenden. So wird dem kaiserlichen Dolmetscher Georg Franz Kolschitzky nachgesagt, er habe wegen seiner heldenhaften Botengänge 1683 das erste Wiener Kaffeehaus eröffnen dürfen und dafür jene Kaffeebohnen verwendet, die von den osmanischen Belagerern zurückgelassen wurden.63 Auch die Entstehung des Wiener Kipferls wird wegen seiner Ähnlichkeit mit dem türkischen Halbmond mit der zweiten Wiener Türkenbelagerung in Zusammenhang gebracht. Nicht eindeutig negativ ist auch die Haltung der Habsburger gegenüber dem Osmanischen Reich. Man führte nicht durchgängig gegeneinander Krieg, die beiden Reiche hatten vielmehr jahrzehntelang weitgehend eingehaltene Waffenstillstandsverträge miteinander. Die schon Ende des 18. Jahrhunderts begonnene Kooperation gipfelte schließlich im Bündnis von Österreich-Ungarn, dem Deutschen und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg. Auch unter den niedrigeren gesellschaftlichen Schichten, deren Vorstellung von den Türken von den Veränderungen der Aufklärung weitgehend unbeeinflusst blieben,64 sah man die Osmanen nicht immer als das schlimmste Übel. Unter dem Eindruck gegenreformatorischer Anstrengungen der Habsburger und wegen der Belastungen durch Türkensteuer und Aushebungen wandten sich beispielsweise viele Bauern aus der Umgebung Wiens gegen die angesichts des heranrückenden osmanischen Heeres aus der Stadt fliehenden geistlichen Würdenträger, allen voran die Jesuiten.65 Obwohl für Protestanten der Türke nicht weniger bedrohlich als für Katholiken war, so galt doch lange Zeit der Papst als der zumindest ebenso verhasste 62 Irmgard Nöbauer, Türkensattel (Sella turcica) (20. 09. 2012), in: Türkengedächtnis, http:// www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/kontext/turkensattel-sella-turcica/ (30. 09. 2013). 63 Vgl. dazu Karl Teply, Die Einführung des Kaffees in Wien. Georg Franz Koltschitzky – Johannes Diodato – Isaak de Luca, Wien 1980. 64 Grothaus, Türkenbild, S. 64. 65 Vgl. Martin Scheutz/Kurt Schmutzer, Schwirige baurn – pfaffen – Jesuviter. Die ›Große Angst‹ 1683 in Niederösterreich am Beispiel des Fluchtberichtes von Balthasar Kleinschroth (geb. 1651), in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 68 (1997), S. 306 – 335.

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Feind. Nicht nur Luther betrachtete beide als zusammengehörig. Die Vorstellung, die Türken seien der leibhaftige, der Papst hingegen der geistliche Ausdruck des Antichristen, und auch der Ausspruch »lieber Türckisch als Papistisch« entstammten nicht bloß der Diffamierung der Protestanten durch die katholische Propaganda. Tatsächlich erschien vielen Protestanten die Vorstellung erträglicher, unter einer toleranten osmanischen Herrschaft zu leben, als unter den katholischen Habsburgern. Damit ging es ihnen ähnlich wie den orthodoxen Griechen in Hinblick auf Venedig.66 So wurde auf der einen Seite die Bedrohung durch die Osmanen im Streit der christlichen Konfessionen zur Abgrenzung benutzt: Man warf sich gegenseitig vor, durch moralisches Fehlverhalten Gott erzürnt zu haben, der nun sein uneiniges Volk, mit den Türken als Werkzeug, bestrafe. Das Abgehen vom rechten Glauben beziehungsweise das Verharren im falschen wurde als der eigentliche Grund für die »Türkennot« betrachtet. Derartige Interpretationen waren weit verbreitet und dienten nicht zuletzt der Disziplinierung der Untertanen. Auf der politischen Handlungsebene waren die katholischen Habsburger allerdings lange Zeit von den protestantischen Ständen abhängig, und Letztere versuchten, durch ihren militärischen Einsatz religiöse und andere Konzessionen zu erzwingen, wie dies beispielsweise im 16. Jahrhundert in der Steiermark der Fall war.67 Umgekehrt waren auch die protestantischen Stände immer wieder vom Kaiser und seinen Truppen abhängig. Das zeigte sich beispielsweise in den Jahren vor der zweiten Wiener Türkenbelagerung, als sich die Solidarität der deutschen Stände mit den ungarischen Glaubensbrüdern in Grenzen hielt, da man angesichts der – für sie viel akuteren – Bedrohung durch Ludwig XIV. auf die Unterstützung des Wiener Hofes angewiesen war. Der Konflikt mit den Osmanen hatte also für Christen spaltendes und verbindendes Potenzial. Zweiteres spiegelt sich in der Rede von der Bedrohung und Rettung der Christenheit wider. Darüber hinaus darf auch die Rolle der osmanischen Gefahr für die Formulierung eines Europabegriffs nicht unterschätzt werden. Der Humanist und spätere Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini, forderte 1454 die Delegierten des Frankfurter Reichstages dazu auf, eine Armee aufzustellen, um Europa als ihr Vaterland zu verteidigen.68 Damit marginalisierte er die Spaltung in Ost- und Westkirche zugunsten einer Konstruktion Europas als ursprüngliches Territorium der Christenheit, wie die Historikerin Almut Höfert feststellt: »Europa war nun mit der apokalyptischen Dynamik der 66 Wrede, Reich, S. 90. 67 Barbarics-Hermanik, ›Türkensterz‹. 68 Vgl. Johannes Helmrath, Pius II. und die Türken, in: Guthmüller/Kühlmann (Hrsg.), Europa und die Türken, S. 79 – 137; vgl. auch Dieter Mertens, »Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra…«. Zu Funktionen und Überlieferungen lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert, in: Erkens (Hrsg.), Europa und die osmanische Expansion, S. 39 – 57.

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Türkengefahr verbunden und hatte als bedrohtes Territorium der Christenheit eine heilsgeschichtliche Bedeutung erhalten.«69 Piccolomini gilt zwar allgemein in der Forschung als der erste maßgebliche Vertreter einer modernen EuropaIdee, doch wären in diesem Zusammenhang auch der Humanist Lampo Birago oder Georg von Trapezunt zu nennen.70 Beide nutzten die Europa-Terminologie bereits vor den bekannten Reden Piccolominis, alle drei verwendeten sie in direktem Zusammenhang mit der osmanischen Bedrohung. Solchen Aufrufen zur europäischen Einigkeit folgte zwar keine politische Umsetzung, es gelang jedoch immer wieder, zumindest ungewöhnliche Koalitionen zustande zu bringen. So brachte es etwa Leopold I. fertig, 1663/64 auf dem Reichstag zu Regensburg auch Truppen des Ersten Rheinbundes und damit des französischen Gegners zu mobilisieren, die maßgeblich an der erfolgreichen Schlacht bei Mogersdorf/Szentgotth‚rd beteiligt waren. Papst Innozenz XI. wiederum war, nicht zuletzt durch großzügigen finanziellen Einsatz, mitverantwortlich für das Defensivbündnis zwischen dem Kaiser und Polen-Litauen im Jahr 1683. Aus diesem Bündnis erwuchs bald darauf die Heilige Liga, der 1686 auch das russische Zarenreich beitrat. Überhaupt gingen vom Vatikan regelmäßig Initiativen zur Bildung militärischer Bündnisse aus, die auch Kontrahenten umfassen konnten. Dies war etwa 1538 bei der Seeschlacht von Preveza der Fall, als der genuesische Admiral Andrea Doria auch den Oberbefehl über die Schiffe des mit Genua verfeindeten Venedigs hatte, was den Sieg der Osmanen begünstigt haben dürfte. Erfolgreicher war die von Papst Pius V. initiierte Heilige Liga des Jahres 1571, als eine gemeinsame venezianische, genuesische und spanische Flotte in der Seeschlacht von Lepanto die osmanische Vorherrschaft im Mittelmeer brechen konnte. Neben der zweifellos gegebenen machtpolitischen Bedeutung dieser Schlacht war sie vor allem auch psychologisch und propagandistisch ein Erfolg. Die Osmanen hatten den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren, was in der zeitgenössischen Wahrnehmung als ein Wendepunkt des Konfliktes gesehen wurde. Aus diesem Grund wurde das schon genannte Rosenkranzfest gestiftet, Venedig führte einen alljährlichen Feiertag ein, und in den folgenden Jahrhunderten fand die Schlacht ihren Niederschlag in zahlreichen Kunstwerken.

69 Almut Höfert, Alteritätsdiskurse. Analyseparameter historischer Antagonismusnarrative und ihre historiographischen Folgen, in: Haug-Moritz/Pelizaeus (Hrsg.), Repräsentationen, S. 21 – 40, hier S. 29. 70 Klaus Oschema, Ego Europa – die Zukunft eines Kontinents und der Untergang der Welt, in: Steffen Patzold/Klaus Ridder (Hrsg.), Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe und europäische Identitäten, Berlin 2013, S. 323 – 355, hier S. 350 – 352.

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Erinnerungen an Siege und Niederlagen Im Gegensatz zu den meisten Niederlagen wurde nach militärischen Erfolgen oft sehr rasch großer Aufwand betrieben, um sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Als etwa 1598 die bedeutende Festung Raab/Gyo˝ r nach vier Jahren von Habsburger Truppen zurückerobert werden konnte, ordnete Kaiser Rudolf II. an, als Dank dafür Bildstöcke und Wegkreuze – die sogenannten Raaber Kreuze – zu errichten. Zum Teil existierten diese Denkmäler mit anderer Bedeutung bereits vorher, nun jedoch wurden sie mit der Inschrift »Sag Gott dem Herrn Lob und Danck, das Raab wieder komen in der Christen Hand 1598« neu kodiert. Noch heute sind solche »Marterln« unter anderem in Niederösterreich und im Burgenland zu finden, auch das sogenannte Bäckerkreuz in Wien zählt dazu. Im 17. Jahrhundert war es zuerst die Schlacht bei Mogersdorf/Szentgotth‚rd im Jahr 1664, die nicht nur in weiten Teilen Europas Aufsehen erregte, sondern an die in Form von Denkmälern und bildlichen Darstellungen erinnert wurde.71 So stehen etwa in den steirischen Orten Graz, Fürstenfeld, Ilz, Gleisdorf und im kärntnerischen Maria Saal Mariensäulen, die zum Dank für die Errettung vor den Osmanen errichtet wurden. Ein Votivbild Jacob Pendlers entstand 1665 und befindet sich heute im Bayerischen Armeemuseum, und in der Klosterkirche von Szentgotth‚rd ist seit 1784 ein die Schlacht darstellendes Fresko von Istv‚n Dorfmeister zu sehen. Vor allem in Mogersdorf selbst entstand im Laufe der Zeit eine Reihe von Denkmälern und Gebäuden zum Gedenken an den Sieg. Im Jahr 1670 wurde als erstes die Annakapelle errichtet. 1840 folgte das Weiße Kreuz, welches durch seine in deutscher, lateinischer, ungarischer und französischer Sprache verfasste Inschrift auf die Internationalität der siegreichen Armee verweist. Heute verbindet der sogenannte Friedensweg alle Erinnerungsorte der Marktgemeinde. Doch auch die Erinnerung an Niederlagen wurde institutionalisiert. Im lokalen Rahmen, wie etwa in Perchtoldsdorf, gedachte man der Ereignisse häufig mit alljährlich stattfindenden kirchlichen Trauerritualen. Das angebliche Massaker an 800 Männern nach der Eroberung der süditalienischen Stadt Otranto im Jahr 1480 wird jedoch nicht nur bis heute in der Stadt selbst erinnert. Vielmehr erkannte Papst Clemens XIV. 1711 die Opfer als Märtyrer an, was 2007 von Benedikt XVI. bestätigt wurde. Demnach wird alljährlich am 14. August der Toten gedacht. Zu den noch im 20. Jahrhundert am nachhaltigsten wirksamen Erinnerungen an Niederlagen zählen die Schlachten am Amselfeld (1389) und bei Moh‚cs (1526). Erstere wurde zu einem mächtigen nationalen Mythos, der besonders 71 Vgl. Karl Brunner u. a. (Hrsg.), 800 Jahre Mogersdorf unter Berücksichtigung der Ortsteile Deutsch Minihof und Wallendorf, Mogersdorf 1987, S. 48 – 60.

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seit den 1980er-Jahren politisch instrumentalisiert wurde und bis in die Gegenwart emotionalisiert. Die Schlacht von Moh‚cs wurde wiederum schon von den Zeitgenossen grenzübergreifend wahrgenommen und galt wie schon zuvor die Eroberung von Konstantinopel 1453 als Zäsur. In der ungarischen Nationalgeschichtsschreibung spielte Moh‚cs zwar immer eine zentrale Rolle, besonders seit der Zwischenkriegszeit wurde die Erinnerung daran jedoch in Verbindung mit dem als »Schandfrieden« bezeichneten Vertrag von Trianon reaktualisiert. Die Bedeutung dieser Niederlage war so groß, dass als Siege interpretierte historische Ereignisse wie das Ende der Belagerung von Ko˝ szeg 1532 in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr sinnstiftend waren. Eine anlässlich der 400-Jahr-Feier 1932 angebrachte Gedenktafel spiegelt neben Triumphalismus nur noch Zynismus wider : »Zur Erinnerung an die wenigen unter Führung von Miklûs Jurisics kämpfenden, aber einem Heer von Hunderttausenden sich siegreich widersetzenden 700 Helden anlässlich des vierhundertjährigen Jubiläums der türkischen Belagerung im Jahre 1532 das – durch den geschützten Westen mit Trianon beschenkte – Ko˝ szeg«.

Noch im Jahr 2011 wurde bei der Eröffnung der renovierten und ausgebauten Gedenkstätte in Moh‚cs vom Präsidenten des ungarischen Parlaments, L‚szlû Köv¦r, nationale Einigkeit beschworen: »Es gab immer genug Leute, die bereit waren, Opfer zu bringen, um alles wieder aufzubauen, was das Unglück, die fremden Kräfte und die unter uns weilenden Liederlichen, Feiglinge, Selbstsüchtigen und Verräter zerstörten. […] Es soll kein Zweifel bestehen, dass sichtbare und unsichtbare Mächte das Land heute noch vor schicksalhaften Herausforderungen stellen. Herausforderungen bestehen jetzt in nichts weniger als in Unterwerfung oder Unabhängigkeit, in Elend oder Wohlfahrt, in neuem Joch oder Freiheit.«72

Türkenbilder vor den Türken Schreibt man eine Geschichte des »Türkenbildes«, muss man in die Zeit vor der Entstehung des Osmanischen Reiches zurückgehen. Denn viele der jedenfalls bis ins 17. Jahrhundert verbreiteten Motive existierten bereits, bevor die Osmanen oder andere türkische Reiche wie die Seldschuken in Europa wahrgenommen wurden, ja sogar bevor es den Islam überhaupt gab. Bevor der Türke zum neuen Überbegriff wurde, existierten unterschiedliche Bezeichnungen für Völker, die meist von biblischen Figuren abgeleitet wurden, und von denen die ›Sarazenen‹ die bekanntesten waren. Daneben kursierten im frühen Mittelalter auch die 72 Zit. n. Balogh, Erinnerungsmuster, S. 135.

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Begriffe ›Ismaeliten‹ oder ›Hagarener‹, genauso verwendete man ›Araber‹. Die spärlichen Informationen, die man über diese Völker hatte, versuchte man in das christliche Weltbild einzuordnen, etwa indem man in der Bibel und in den Schriften der Kirchenväter nach Informationen über dieses Volk suchte. Daraus entwickelte sich, noch vor der Verbreitung des Islams, ein stereotypes Sarazenenbild.73 Auch wenn in Spanien sowie im südöstlichen Europa schon bald größeres Wissen über den Islam vorhanden war, behielten viele Elemente des Sarazenenbildes auch in Bezug auf Muslime und die Türken lange Zeit ihre Gültigkeit. So wurden etwa je nach Kontext Muslime mal als Heiden und dann als Häretiker bezeichnet – wobei sich Letzteres schließlich durchsetzen sollte und außerdem die Hoffnung auf eine friedliche Bekehrung einschloss. Auch biblische Motive wie das des Antichristen oder apokalyptische Deutungen behielten ihre Überzeugungskraft, egal ob sie sich auf Sarazenen oder auf Türken bezogen.74 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass westliche Autoren, wenn sie über Muslime, Araber oder Türken schrieben, sich bis in die Gegenwart auf Bilder und Vorstellungen bezogen, wie sie zwischen dem 7. und 13. Jahrhundert entstanden waren.75

Schlussbetrachtung Der vorliegende Beitrag veranschaulicht zuallererst die Hartnäckigkeit eines Feindbildes, welches »aus europ. Sicht [..] sich ausgeprägter nicht denken ließ.«76 Rechnet man Vorläufer wie die Vorstellungen von den Sarazenen mit ein, währt es bald eineinhalb Jahrtausende, das des Türken selbst auch schon um die 600 Jahre. Wie die Ausführungen aber zeigen, handelte es sich dabei keineswegs um eine homogene Wahrnehmung. Vielmehr existierte in einer diachronen wie auch synchronen Perspektive eine Vielzahl an Vorstellungen des Türken, darunter auch neutrale und relativ positive. Bemerkenswert ist jedoch, dass die negativen Bilder schlussendlich nicht nur häufiger auftraten, sondern auch stärker internalisiert wurden. Selbst wenn über lange Zeiträume keine Bedrohung von osmanischer Seite ausging und positive Vorstellungen überwogen, blieb das negative Bild in einem Zustand der Latenz, aus dem es rasch wieder erweckt werden konnte. Die Besonderheit des Türken als Feindbild liegt unter 73 John V. Tolan, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002, S. XIX [Hervorhebung im Original]. 74 Höfert, Alteritätsdiskurse, S. 25 f. 75 Tolan, Saracens, S. XIX. 76 Martin Wrede, Feindbild, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 878 – 890, hier Sp. 879.

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anderem auch darin, dass er nicht einmal Teil einer akuten Bedrohungssituation sein musste, um aktualisiert zu werden. Mit ihm stand vielmehr ein Modell zur Verfügung, das sich auf jeweils aktuelle Feinde übertragen ließ und deren Gefährlichkeit noch einmal unterstrich. Diese Modellhaftigkeit ist grundlegend von der wahrgenommenen religiös-kulturellen Dichotomie bestimmt, welche bis in die Gegenwart auch gegenüber politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Kategorien ihre Wirkmächtigkeit erhalten konnte. Feindbilder dienen Gemeinschaften vorrangig dazu, den inneren Zusammenhalt der Gruppe herzustellen oder zu stärken. Ihre Propagierung konstruiert und akzentuiert die Grenzen zum Anderen, lenkt von inneren Konflikten ab, betont ex negativo die eigenen Werte oder mobilisiert Ressourcen für die Abwehr der vorgestellten Bedrohung. Um welche Art von Gemeinschaft es sich dabei handelt, spielt dabei vordergründig keine Rolle. Allerdings hatte die Differenz zum Türken besonders häufig für zwei Gemeinschaftskategorien eine integrierende Funktion: die Christenheit und seit dem 19. Jahrhundert die Nation. Genauso gut konnte der Bezug auf beziehungsweise die Abgrenzung vom Türken auch für lokale, regionale oder politische Gemeinschaften kollektiv identitätsbildend wirken, vorausgesetzt, das Feindbild wurde mit der Gruppe propagandistisch in Beziehung gesetzt. Ebendies gilt auch für den Europabegriff, der jedoch ebenso wie die Funktionen, die er erfüllt, im Rahmen der dargelegten Fallstudie alles andere als einheitlich war. Vielmehr stand er in engem Zusammenhang mit anderen Begriffen wie Christenheit, Abendland oder Okzident, die untereinander austauschbar waren. Gerade in der Auseinandersetzung mit einem nichtchristlichen, auch räumlich außerhalb des Eigenen verorteten Anderen, wurden diese Begriffe vor allem religiös und geografisch verstanden, spätestens im 19. Jahrhundert auch kulturell, im Sinne von (westlicher oder europäischer) »Zivilisation«. Für diesen Prozess sinnstiftender Selbstverortung war die Existenz eines nichteuropäischen Anderen wesentlich, denn durch dessen jahrhundertelange Darstellung als despotisch und barbarisch gelang es, sich davon als »zivilisiert« und christlich abzugrenzen. Insofern hatte das Feindbild Türke entscheidenden Anteil an einer europäischen Selbstdefinition.77 Die im 19. Jahrhundert deutlich gewordene kulturelle Konnotation Europas, beziehungsweise des Westens, bedeutete eine gleichzeitige Abwertung des Nichteuropäischen. Es genügte nicht mehr, Teil der Christenheit zu sein, man musste vielmehr am europäischen kulturellen Bestand teilhaben. Die Abgrenzung zu den Türken bot – mit Rückgriff auf Antemurale-Christianitatis-Vorstellungen – für manche Länder und Nationen eine Möglichkeit, ihre Zugehörigkeit zu diesem »Kulturraum« zu postulieren und zu legitimieren. Dazu 77 Vgl. Topkaya, Der ›Türke‹, S. 387.

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wurden die Erinnerungen an die Konflikte mit dem Osmanischen Reich aktualisiert und popularisiert. Das bedeutete in weiterer Folge aber auch eine Konkurrenz zwischen den Nationen, die für sich jeweils einen möglichst großen Anteil an der Verteidigung dieses – christlichen – Europas reklamierten. Indem man argumentierte, man habe Europa verteidigt und gerettet, forderte man die internationale Anerkennung dieser Leistungen. Der Bezug auf Europa diente daher vor allem dazu, die Bedeutung der eigenen Nation mittels historischer Konstruktionen herauszustellen. Diese nationalen Argumentationslinien existieren zwar auch heute noch, doch gleichzeitig führte eine Reihe von Faktoren zu einer Neuakzentuierung der Erinnerung an die Osmanen und ihrer Bezüge zu Europa. So fiel mit Ende des Kalten Krieges der für die westliche Gemeinschaftsbildung wichtigste Gegner weg, gleichzeitig wuchs die Aufmerksamkeit für konservative bis extremistische islamische Strömungen, die sich mit einem »über die Jahrhunderte erwachsenen Unbehagen gegenüber der islamischen Religion«78 verband. Ereignisse wie die Anschläge auf das World Trade Center und der sich anschließende sogenannte ›Krieg gegen den Terrorismus‹ fungierten als Katalysatoren dieser Entwicklung. Im europäischen Kontext spielten zusätzlich die Migration aus islamischen Ländern sowie die Debatten um einen EU-Beitritt der Türkei eine wichtige Rolle. Nicht nur Vertreter rechtsextremer Parteien und Netzwerke sowie Einzeltäter wie Anders Breivik sehen sich in einer Abwehrposition gegenüber einer drohenden »Islamisierung Europas« und berufen sich auf eine christliche Identität als Wertebasis Europas. In der Erinnerung an die Kriege mit dem Osmanischen Reich wird die einstige Bedrohungslage mit jener in der Gegenwart wahrgenommenen parallelisiert. Die Türken von damals sind die türkischen und muslimischen Menschen von heute, und so wie sie vor den Mauern Wiens geschlagen wurden, so scheint es, als ob es auch dieses Mal gelte, Europa und seine Kultur gegen sie zu verteidigen.

78 Udo Steinbach, Feindbild Islam – Feindbild Westen, in: Sir Peter Ustinov Institut (Hrsg.), Feindbilder in Europa. Analysen und Perspektiven, Wien 2008, S. 55 – 73, hier S. 65.

II. Erinnerung als Deutungsregie

Friedemann Pestel

Versailles als memory building – Memory-building mit Versailles

Niemals sind europäische Deutungen von Versailles expliziter formuliert worden als anlässlich der deutsch-französischen Feiern zum 40. Jahrestag des Êlys¦e-Vertrages im Januar 2003.1 Im Gegensatz zu 1963 sollte diesmal der Staatsvertrag nicht mehr als Projekt von Staatsmännern inszeniert werden, sondern als über sie selbst hinausweisende Versöhnung zweier vielfach verfeindeter Nationen. Auf der Suche nach einem geeigneten Sitzungssaal und einem Rahmen, der die Komplexität des Wechselverhältnisses angemessen widerspiegelte, wählten die französischen Organisatoren das Versailler Schloss. In der Residenz dreier Bourbonenkönige sollten am 22. Januar 2003 als Höhepunkt eines sich im Übrigen in Paris abspielenden deutsch-französischen Tages die Abgeordneten der beiden nationalen Parlamente zunächst in der Schlachtengalerie LouisPhilippes gemeinsam zu Mittag essen, um anschließend im Parlamentssaal der III. Republik den Festakt zu begehen. Vorangegangen war der Reise von zwei Dritteln der Bundestagsabgeordneten – kurz nach dem erneuten Wahlsieg der rot-grünen Koalition im Herbst 2002 – eine maßgeblich von Teilen der CDU/CSU-Fraktion sowie der BILD-Zeitung betriebene Kampagne gegen die »Paris-Sause«. Versailles’ Architektur zusammen mit vagen Vorstellungen von den Ausschweifungen des hauptstädtischen Nachtlebens weckten den Verdacht von Dekadenz gegenüber einem Projekt, dessen »Größenwahn […] den Bürgern nicht zu vermitteln«2 sei. Da der äußere 1 Weitere explizit europäische Lesarten finden sich als »Schicksalsort Europas« in: Michael Stürmer, Versailles, ein Schicksalsort Europas, in: Die Welt, 01. 07. 2007 anlässlich der Wiederöffnung der restaurierten Spiegelgalerie sowie als »Magnet für viele Europäer« bei Êtienne FranÅois, Auf der Suche nach dem europäischen Gedächtnis. Akademische Causerie am 27. November 2008, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berichte und Abhandlungen, Berlin 2009, S. 203 – 215, hier S. 208. 2 Peter Raumsauer, Geschäftsführer der Unionsfraktion, zit. n. Reisestreit im Bundestag, in: faz.net, 07. 11. 2002, http://www.faz.net/aktuell/politik/deutsch-franzoesische-freundschaftreisestreit-im-bundestag-181928.html (30. 09. 2013). Die von der BILD-Zeitung angestoßene Debatte zeichnet Christiane Wirtz, Reise nach Absurdistan. Bundestagspräsident Thierse gewinnt vor Gericht gegen »Bild«, in: Süddeutsche Zeitung, 23. 11. 2002 nach. Vgl. außerdem

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Rahmen der Feierlichkeiten wenig Einsparpotenzial bot, wurde auf Drängen von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) zumindest das kulinarische Programm abgespeckt. Die finanzielle Entgleisung war damit trotz fortdauernder Verschwendungskritik abgewendet; auch die Union zeigte sich zufrieden, »dass alles mit der notwendigen Bescheidenheit und in der Größe organisiert wurde, wie es nur Franzosen können«3. Über das Protokollarische hinaus forderte das erinnernde Zusammenspiel von Êlys¦e-Vertrag und Versailles auch zu inhaltlichen Positionsnahmen heraus.4 Sowohl Staatspräsident Jacques Chirac als auch Bundeskanzler Gerhard Schröder widmeten sich in ihren Reden der in der Wahl der Räumlichkeiten manifesten historischen Tiefendimension. Während Chirac auf die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches 1871 und, als dessen unmittelbare Folge, den Versailler Vertrag von 1919 verwies, erweiterte Schröder diesen Kanon um eine kulturelle Perspektive und erwähnte sowohl von Versailles inspirierte Schlossbauten deutscher Fürsten als auch die »Werte der französischen Revolution«. Trotz Schröders Bemühen um historische Positivmomente taugte die kriegerische Beziehungsgeschichte jedoch nicht mehr recht zur gegenwärtigen Selbstbestimmung, sondern wurde durch die Verknüpfung mit der im Êlys¦e-Vertrag formulierten Aussöhnungsvision zum Fluchtpunkt eines nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts »wiedervereinigten« Europa.5 Das in Versailles heraufbeschworene »neue Kapitel in der europäischen Geschichte« setzten beide Politiker synonym zum moteur franco-allemand. Andere Größen kamen in dieser euroDaniel Vernet, Pompe franco-allemande — moindre co˜t — Versailles, in: Le Monde, 18. 01. 2003. 3 Angela Merkel, damals CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende, zit. n. Hans-Hagen Bremer, Eine wunderbare Freundschaft – neu entdeckt. Wie Deutsche und Franzosen in Paris und Versailles den 40. Jahrestag des Elys¦e-Vertrags begehen, in: Frankfurter Rundschau, 23. 01. 2003. Zum Programm in Versailles Michaela Wiegel, Deutschen Wein, damit es nicht zu teuer wird. Wie Bundestag und Nationalversammlung in Versailles den Elys¦e-Vertrag feiern werden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 01. 2003. Zur französischen Perspektive Georges Marion, Voyage spartiate et d¦jeuner modeste — Versailles pour les d¦put¦s allemands, in: Le Monde, 21. 01. 2003; die Ausgaben kritisiert weiterhin Cesare Martinetti, Schroeder e Chirac, il patto di Versailles. Parigi e Berlino celebrano i quarant’anni del Trattato [Schröder, Chirac und der Pakt von Versailles. Paris und Berlin feiern den 40. Jahrestag des Vertrages], in: La Stampa, 22. 01. 2003. 4 Vgl. Robert Frank, Der Êlys¦e-Vertrag: ein deutsch-französischer Erinnerungsort, in: Corine Defrance/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Der Êlys¦e-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 – 1963 – 2003, München 2005, S. 237 – 247, hier S. 246 f. 5 Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 22. Januar 2003 in Versailles anlässlich der gemeinsamen Sitzung des Deutschen Bundestages und der Assembl¦e Nationale, http:// www.france-allemagne.fr/Rede-von-Bundeskanzler-Gerhard,354.html (30. 09. 2013), und Discours du Pr¦sident de la R¦publique, M. Jacques Chirac, devant les d¦put¦s allemands et franÅais (Versailles, 22 janvier 2003), http://www.france-allemagne.fr/Discours-du-Presidentde-la,039.html (30. 09. 2013).

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päischen Gleichung nicht vor. Die teleologische Einbettung von Versailles ins Festprogramm wurde auf die deutsch-französischen Wechselfälle reduziert und folgte ganz dem Muster einer seit der Frühen Neuzeit eingespielten binationalen »Vergleichsfixiertheit«6. Bezeichnenderweise wurde das darin für Europa liegende Spannungsverhältnis 2003 ausgeblendet. Versailles bestätigte vielmehr das Selbstverständnis angesichts des gemeinsamen Neins zum Irakkrieg. Der Festakt erhielt somit einen abgrenzenden Impetus, der sich insbesondere gegen die an der Seite der USA zur Intervention entschlossenen EU-Staaten richtete, allen voran Großbritannien. Folglich präsentierten die angloamerikanischen Reaktionen auf das Jubiläum das »odd couple at the center of modern Europe«7 als eine selbstreferenzielle politische Größe, die für sich fälschlich reklamierte, als Europa zu sprechen. In Großbritannien sah man in der Demonstration deutsch-französischer Geschlossenheit vor dem unpassenden Versailler Dekor eine unangenehme Bloßstellung der eigenen Beziehung zum Kontinent.8 Auch die deutsche und französische Presse reagierten auf die Ortswahl mit gedämpftem Enthusiasmus. Nur vereinzelt wurde Versailles’ republikanische Tradition betont oder die gemeinsame Geschichte als »Erbfreundschaft« gedeutet.9 Die Mehrzahl der Berichte wähnte die Feierlichkeiten am »falsche[n] Ort« und kritisierte den »cancer commun des deux m¦moires« mit seinen Folgen für das Europaverständnis: »Die vielen Kleinen als Opfer im langen Kräftemessen der beiden Großen sind nicht geladen. Und wieder ist Versailles kein gutes Symbol für Europa.«10 Darüber hinaus folgte das Jubiläum einem ausgesprochen nations- und personenzentrierten Geschichtsverständnis: Allen Überlegungen zur Repräsentation der Bevölkerungen durch die Parlamente beim Festakt zum Trotz präsentierten Schröder und Chirac das deutsch-französische Europaprojekt als 6 S. Jörn Leonhard, Nationen und Emotionen nach dem Zeitalter der Extreme? Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Vergleich und Verflechtung. Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert [im Druck]. 7 Handshakes across the Rhine, in: The International Herald Tribune, 24. 01. 2003, weiterhin Philip Delves Broughton, France and Germany are friends reunited. The 40th anniversary of the Elysee Treaty is marked by bonhomie and back-slapping, in: The Daily Telegraph, 23. 01. 2003; Symbolic moment that underlines Britain’s isolation in Europe, in: The Independent, 23. 01. 2003 und Lara Marlowe, Schroeder and Chirac salute common destiny, in: The Irish Times, 23. 01. 2003. 8 Als Überblick über die »europhoben« Reaktionen s. Marc Roche, Londres est officiellement ravi des rapports franco-allemands, in: Le Monde, 24. 01. 2003, sowie Symbolic moment. 9 Gerd Kröncke, Die Erbfreunde, in: Süddeutsche Zeitung, 22. 01. 2003, sowie L’Irak, Barbara et le siÀcle des LumiÀres, vedettes du 40e anniversaire du Trait¦ de l’Elys¦e, in: Le Temps, 23. 01. 2003. 10 Berthold Seewald, Versailles ist der falsche Ort, in: Die Welt, 22. 01. 2003, und Daniel Scheidermann, Tout va alles gut…, in: Le Monde, 25. 01. 2003.

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das Werk altbekannter Eliten aus europäischen Gründervätern und jener Kette von politischen Paaren, angefangen bei Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, deren jüngstes Glied die beiden Staatsmänner selbst bildeten. Widerstand dagegen artikulierte sich besonders in Bayern. Schröder hatte in Versailles Ludwig II. zum Urheber der Kaiserproklamation in der Spiegelgalerie erklärt, obwohl dieser dem Akt 1871 aus Protest ferngeblieben war. In dieser Tradition gehörte die CSU zu den entschiedenen Gegnern der Versailles-Reise. Der Landesgruppenvorsitzende Michael Glos weigerte sich anfänglich, überhaupt an den Ort des Endes der bayerischen Unabhängigkeit mitzufahren.11 Sein Bundestagskollege, der erklärte Europaskeptiker Peter Gauweiler, reklamierte dagegen »eine uralte Sonderbeziehung der Grande Nation zu den Bajuwaren«, jenseits von »Bismarcks Kleindeutschland«. Indem sich Bayern dem Verlust seiner staatlichen Souveränität widersetzte, habe es nur gegenwärtige europäische Risiken vorweggenommen: »[E]s war eine Art innerdeutscher MaastrichtVertrag, den Bismarck damals in Versailles durchgesetzt hatte«12. Wie die Feierlichkeiten von 2003 zeigen, bestimmte sich die Kontroversität der Reaktionen wesentlich durch die Ortswahl. Die nachfolgende Untersuchung geht davon aus, dass die fortdauernde memoriale Funktion von Versailles bereits bei der Konzeption der Schlossanlage eine Schlüsselrolle spielte und seitdem die jeweiligen erinnernden Akteure in ihrem Erfahrungsgewinn zu einer Auseinandersetzung mit früheren Deutungsschichten herausgefordert hat. Diese topische Qualität des Schlosses eignet sich daher als Sonde zur Analyse von Deutungsmustern, in deren Zentrum das deutsch-französische Wechselverhältnis steht, ergänzt um Korrektive zu dessen Eigenlogik.13 Die zeitliche Gliederung orientiert sich an drei Mustern, die sich bereits im 17. beziehungsweise 18. Jahrhundert ausgeprägt haben: der Antagonismus von Krieg und Frieden, das Spannungsverhältnis von Monarchie/Aristokratie und Republik/Bürgertum sowie die Konkurrenz von universalisierenden und partikularistischen Ansprüchen, in denen sich unterschiedliche Vorstellungen über Geltung und Reichweite von Herrschaft niederschlugen.

11 Erst gekauft und dann ersäuft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 11. 2002. 12 Peter Gauweiler, Bayern in Versailles. Die große Feier zum Jahrestag des Elys¦e-Vertrages in dem geschichtsträchtigen Schloss Ludwigs XIV., in: Süddeutsche Zeitung, 23. 01. 2003. 13 Die Erinnerungsort-Forschung privilegierte jeweils nationale Perspektiven: H¦lÀne Himelfarb, Versailles, fonctions et l¦gendes, in: Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de m¦moire. Bd. 1. La R¦publique, Paris 1997, S. 1283 – 1329; Hagen Schulze, Versailles, in: Êtienne FranÅois/Ders. (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 2002, S. 407 – 421.

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Das »universale« Versailles und die Inszenierung monarchischer Herrschaft Der Schlossbau von Versailles war eine Objektivierung herrscherlicher Erfahrung. Mit der Verlegung der königlichen Residenz zog Ludwig XIV. Konsequenzen aus seinen traumatischen Kindheitserfahrungen im Paris der Fronde. Zugleich erwies der mit vier Jahren 1643 auf den Thron gekommene Monarch in der Ortswahl seinem Vater einen Dienst filialer Ehrerbietung und integrierte das Jagdschloss Ludwigs XIII. ins Zentrum der neuen Anlage. Im Wechselverhältnis von Dynastie und Staat forderte die noch junge Bourbonendynastie im Repräsentationsanspruch nach außen die etablierten europäischen Herrscherhäuser heraus. Der Schlossbau wurde in den 1670er- und 1680er-Jahren vornehmlich zwischen den Feldzügen vorangetrieben. Bauen bildete ein Äquivalent zum Krieg, beides war gleichermaßen konstitutiv für Ludwigs gloire und Frankreichs Größe.14 Obwohl Ludwigs Machtinszenierung auf eine Hegemonie Frankreichs unter den europäischen Mächten abzielte, folgte sie keiner spezifisch europäischen Logik, sondern verstand sich als universel. Im Bildprogramm der Innenräume wurden zwar die einzelnen europäischen nations dargestellt, der Escalier des Ambassadeurs zeigte aber ebenso die vier Weltteile – mithin die ›globale‹ Dimension der französischen Universalität.15 Entsprechend bildeten das Treppenhaus und die ebenso auf ihre Publikumswirkung angelegte Spiegelgalerie den Rahmen für den Empfang ausländischer Gesandtschaften beim »plus grand roi du monde«. Diese kamen nicht nur aus Europa, sondern der größte Aufwand wurde für die Delegationen aus Persien, Siam und China betrieben.16 Eine Schlüsselrolle innerhalb der Machtinszenierung spielte das Bildprogramm, insbesondere in der Spiegelgalerie. Statt der ursprünglich vorgesehenen mythologischen Szenen entschied sich Ludwig XIV. für eine publikumswirksame Darstellung eigener Triumphe und gegnerischer Niederlagen zwischen dem Pyrenäenfrieden 1659 und dem Frieden von Nimwegen 1678. Die Bilder sprachen jedoch nicht für sich allein, sondern wurden mit eindeutigen In-

14 Uwe Schultz, Versailles. Die Sonne Frankreichs, München 2002, S. 8 f. und S. 24; Jean-Claude Allain, Das Schloß von Versailles, in: Horst Möller/Jacques Morizet (Hrsg.), Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte, München 1996, S. 59 – 77, hier S. 59; Olivier Chaline, Le rÀgne de Louis XIV, Paris 2005, S. 232. 15 Ebd., S. 275 – 279, und Mathieu Da Vinha, Le Versailles de Louis XIV. Le fonctionnement d’une r¦sidence royale au XVIIe siÀcle, Paris 2009, S. 273 – 278. 16 Ebd., S. 213 – 215, und G¦rard Sabatier, Les itin¦raires des ambassadeurs pour les audiences — Versailles au temps de Louis XIV, in: Ralph Kauz/Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn (Hrsg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im mittleren Osten in der frühen Neuzeit, Wien 2009, S. 187 – 211.

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schriften versehen. Die Grenzen zwischen Architektur, Skulptur, Malerei, Dichtung und Musik sollten in einer Gesamtaussage aufgelöst werden. Die Inszenierung versuchte nicht nur die Inhalte, sondern auch die Modi der Deutungen der Schlossanlage als Symbol des Sonnenkönigs zu bestimmen.17 Voraussetzung war dabei, dass sie öffentliche Wirkung entfaltete, die über den symbolischen Bezug zum Monarchen dessen gloire weitertrug. Zum Schloss erhielt daher nicht allein die Hofgesellschaft Zutritt, sondern es stand grundsätzlich der gesamten Bevölkerung, und vor allem den zahlreich strömenden Ausländern, offen. Da diese außerhalb des höfischen Beziehungsgeflechts standen, spielte der soziale Status der Besucher eine geringe Rolle, sodass letztlich sowohl Adlige auf Grand Tour als auch Künstler und Bildungsreisende bis hin zur petite bourgeoisie problemlos in großer Zahl empfangen wurden.18 Im Gegenzug wurden alle Besucher zu Zielobjekten der königlichen Propaganda, an der sich Ludwig XIV. eigenhändig beteiligte. Seine ManiÀre de montrer les jardins de Versailles gab ab den 1690er-Jahren, als Promenaden im Park die früheren Feste im Hofprogramm abgelöst hatten, exemplarisch die Steuerung der Besucher vor. Im Ordonnanzenstil verfasst, zielte dieser Besucherleitfaden auf eine Normierung der Erfahrungen.19 Ähnlich funktionierten die zahlreichen offiziellen oder semi-offiziellen Schlossbeschreibungen. Gestützt auf die herrscherliche Autorität, verknüpften sie zudem in ihrem Organisationsprinzip mnemotechnisch Räume mit den dazugehörigen Erzählungen, derer sich wiederum das zahlreiche Führungspersonal bei den Besichtigungen bediente. Derart gestiftete Habitusformen von Bewunderung und Bescheidenheit integrierten den Schlossbesuch um 1700 als Bekenntnis zum Monarchen in den Herrschaftsdiskurs.20 Damit sollte die Versailles-Erfahrung über Frankreich 17 Grundlegend zur Symbolpolitik Ludwigs XIV. Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 1993, weiterhin Michaela Völkel, Schloßbesichtigungen in der Frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur Frage nach der Öffentlichkeit höfischer Repräsentation, München 2007, S. 55, und Pablo Schneider, Versailles – Standpunkt und Erkenntnis, in: Matthias Bruhn/Kai-Uwe Hemken (Hrsg.), Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld 2008, S. 101 – 111, hier S. 104. 18 S. Robert W. Berger, Tourists during the Reign of the Sun King: Access to the Louvre and Versailles and the Anatomy of Guidebooks and Other Printed Aids, in: George L. Mauner/ Jeanne Chenault Porter/Elizabeth Bradford Smith/Susan Scott Munshower (Hrsg.), Paris, Center of Artistic Enlightenment, University Park 1988, S. 126 – 158, außerdem Claire Goldstein, Vaux and Versailles. The Appropriations, Erasures, and Accidents that Made Modern France, Philadelphia 2008, S. 157; Himelfarb, Versailles, S. 1292. 19 Ludwig XIV., ManiÀre de montrer les jardins de Versailles, Paris 1992, sowie Schultz, Versailles, S. 83. 20 Dazu Goldstein, Vaux and Versailles, S. 160; Völkel, Schloßbesichtigungen, S. 15, S. 56 und S. 61, sowie Da Vinha, Le Versailles de Louis XIV, S. 287 – 289, und Katharina Krause, Versailles als Monument Ludwigs XIV., in: Christoph Kampmann/Dies./Eva-Bettina Krems/ Anuschka Tischer (Hrsg.), Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700, Köln u. a. 2008, S. 85 – 95, hier S. 94.

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hinaus und in überzeitlicher Wirkung zum Ruhm Ludwigs XIV. verankert werden.

Äußere und innere Diskontinuität eines »vergangenen« Versailles Durch Adaptionen wurde Versailles’ Symbolkraft europaweit verankert. Die Schlossbauten drückten dabei weniger eine Anerkennung französischer Hegemonie aus, als die Inszenierung Ludwigs XIV. zu imitieren.21 Nachbauen konnte Kontinuität oder Diskontinuität stiften: Auch die Feinde Ludwigs XIV. griffen für ihre »Gegen-Versailles« auf das französische Vorbild zurück. In den Niederlanden ließ Wilhelm III. von Oranien seinerseits durch einen hugenottischen Architekten den Escalier des Ambassadeurs in sein Schloss Het Loo einbauen. Am Wiener Hof datieren die ersten Pläne für das »Sonnenschloss« Schönbrunn vom Beginn des Pfälzischen Erbfolgekrieges, und auch in anderen deutschen Residenzen erblickten Besucher während der fast kontinuierlichen Kriege gegen Frankreich ihr jeweiliges Versailles.22 Um 1700 waren diese Bauten Teil visueller Kommunikation. Am deutlichsten lässt sich am englischen Beispiel zeigen, wie die Versailles-Referenz eine Diskontinuität zu Ludwig XIV. stiftete, darüber hinaus aber auch national aufgeladen werden konnte. Während des Spanischen Erbfolgekrieges entwickelte sich Bauen explizit zum politischen Instrument. Den Anlass bot der Sieg von englischer, kaiserlicher und Reichsarmee über die Koalition aus französischen und bayerischen Truppen 1704 in der Nähe von Blindheim. Zur Belohnung des kommandierenden Duke of Marlborough beschloss die englische Königin Anna, dem Feldherrn einen Landsitz errichten zu lassen – Blenheim Palace. In der Verbindung von Feldherrenruhm mit nationaler Siegesrepräsentation verfolgte insbesondere die Fassadengestaltung eine gezielte Demütigung des französischen Erzfeindes: Neben Kanonenkugeln und auf den Kopf gestellten bourbonischen Lilien, auf denen Marlborough’sche Herzogskronen sitzen, erregte insbesondere die Verwendung der beiden Nationalsymbole große Aufmerksamkeit, nämlich: »[…] the Figure of a monstrous Lion tearing to pieces a little Cock. For the better understanding of which Device, I must acquaint my English Reader that a Cock has the 21 Vgl. Da Vinha, Le Versailles de Louis XIV, S. 294. Zu den Versailles-Adaptionen als Überblick Thomas Höpel, Das Modell Versailles (2010), http://www.ieg-ego.eu/de/threads/modelle-undstereotypen/europe-francaise/thomas-hoepel-das-modell-versailles (30. 09. 2013), §36 – 45; Burke, Ludwig XIV., S. 204 – 206, und Allain, Das Schloß von Versailles, S. 61. 22 Zu den negativen Referenzen Burke, Ludwig XIV., S. 207 – 212; Höpel, Das Modell Versailles, §50 f., und Guido Braun, Von der politischen zur kulturellen Hegemonie Frankreichs, 1648 – 1789, Darmstadt 2008, S. 151.

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Misfortune to be called in Latin by the same Word that signifies a French-Man, as a Lion is the emblem of the English Nation. Such a Device in so noble a Pile of Building looks like a Pun in a heroic Poem […]. But I hope what I have said will gain Quarter for the Cock, and deliver him out of the Lion’s Paw.«23

Indirekt verweist dieser Kommentar auf die innenpolitische Dimension des anglo-französischen Verhältnisses. Der Bau von Blenheim Palace war nur gesichert, solange Marlboroughs Frau als erklärte Whig-Anhängerin und Vertraute der Königin mit ihrem Mann in Gunst stand. Als sich Anna jedoch den Torys zuwandte, die für einen Verständigungsfrieden mit Frankreich eintraten, kam die erinnernde Bautätigkeit zum Erliegen. Erst die Thronbesteigung des Hannoveraners Georg I. 1714 verhalf den Whigs zu neuem Aufwind und dem Palast zu seiner Vollendung. Indes konnte Marlborough, kurz bevor er in Ungnade fiel, den ebenfalls auf der Fassade sitzenden Chronistenfiguren eine weitere Trophäe der Erinnerungswürdigkeit seiner antifranzösischen Taten zur Seite stellen. Bei der Einnahme der Zitadelle von Tournai gehörte zur Kriegsbeute eine Kolossalbüste Ludwigs XIV. Nach Oxfordshire transportiert, krönte das Angesicht des Feindes fortan die Südostfassade, den Zeitgenossen und der Nachwelt zum Beleg, dass für ihn das ›System Versailles‹ als Symbol der Herrschaft Ludwigs XIV. vergangen war. Aus Versailler Perspektive stand das 18. Jahrhundert in Kontinuität zu herrscherlicher Machtentfaltung, wozu auch gehörte, dass die Nachfolger des Sonnenkönigs die Anlage an ihre Vorstellungen und Bedürfnisse anpassten und massive bauliche Veränderungen vornahmen.24 Doch mehren sich für die letzten Regierungsjahre Ludwigs XVI., parallel zur Schwerpunktverlagerung des Hofadels nach Paris, in den Reiseberichten Wahrnehmungen von Niedergang und Verfall. Vor dem Hintergrund der französischen Finanz- und Staatskrise verweisen solche Deutungen auf eine allmähliche Entaristokratisierung des Versailles-Bildes und in der Rezeption der Kunstobjekte auf eine Ablösung ästhetischer Kategorien vom symbolischen Gesamtkunstwerk. Im Gegensatz zu den Grand-Tour-Besuchern des Hofes konstatierten nichtadlige Reisende eine wachsende Diskrepanz zwischen dem monarchischen Deutungsangebot und ihrer eigenen Zeitwahrnehmung: »Vermutlich werden diese Schönheiten bey veränderten Gesinnungen nun das Schicksal aller menschlichen Unternehmungen erfahren, und nach und nach eingehen.«25 23 The Spectator, 08. 05. 1711, zit. n. Kerry Downes, Sir John Vanbrugh. A Biography, London 1987, S. 310; zu Blenheim Palace weiterhin Marcus Junkelmann, Theatrum belli. Die Schlacht von Höchstädt 1704 und die Schlösser von Schleißheim und Blenheim, Herzberg 2000, S. 382 – 397. 24 Himelfarb, Versailles, S. 1305 f. 25 Bericht Johann Jacob Vollmanns von 1787/88, zit. n. Bernhard Struck, Nicht West – nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen 1750 und 1850,

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Diese »Gesinnungen« traten in Versailles am 5. Oktober 1789 in Gestalt einer Pariser Volksmasse auf den Plan. Am folgenden Tag siedelte die Königsfamilie zwangsweise nach Paris in die Tuilerien über. Im politischen Sprechen über die Monarchie kehrten sich mit revolutionärer Definitionsmacht die Zeichensysteme bourbonischer Herrschaft in Negativsymbole tyrannischer Unterdrückung um.26 Die Deutungsgeschichte von Versailles wird somit ab der Revolution zur Erinnerungsgeschichte. Als Monarchiereferenz blieb sie jedoch weiterhin reaktivierbar, wie die visuellen Zeichensysteme als Medien eines französischen Hegemonieanspruches in veränderter Perspektive auch von außen weiterhin reaktualisiert werden konnten. Mit dem Ende der Monarchie stellte sich die Frage einer angemessenen Nutzung des Schlosses, die einerseits der Legitimation der französischen Republik durch erinnernde Abgrenzung zur Monarchie Rechnung trug und andererseits den objektivierbaren Wert der Versailler Kunstwerke ins französische Nationsverständnis integrierte. Auf Vorschlag des Konventsabgeordneten Pierre Joseph Cambon wurde aus der Residenz ein Museum als »seul moyen de conserver les monuments des arts, mÞme ceux qui portent l’image hassable du despotisme«27. Jenseits des politischen Bruchs verdankte Versailles allen Abrissplänen zum Trotz sein physisches Überleben dieser ästhetischen Kontinuität, die allein die ›universale‹ Ausstrahlung bewahrte, »indem die Aufhelfung eines solchen Orts, wie Versailles allerdings wünschenswerth ist, nicht um der Bewohner, wohl aber der Künste wegen, wodurch dieser kleine, aber interessante Erdraum, nicht allein Frankreich, sondern dem gebildeten Menschen-Geschlecht gehört«28.

Das Nationalmuseum in Versailles als Holismus der französischen Geschichte Auch wenn Versailles für alle fünf französischen Monarchen des 19. Jahrhunderts aufgrund seiner symbolischen Persistenz ›unbewohnbar‹ blieb, kam ihm Göttingen 2006, S. 329 f., außerdem S. 328 – 336, und Völkel, Schloßbesichtigungen, S. 71 f.; in ähnlichem Tenor Louis S¦bastien Mercier, L’an deux mille quatre cent-quarante. RÞve s’il en f˜t jamais, Paris 1786, Bd. 3, S. 202 – 210. 26 S. zu den revolutionären Umdeutungen Franck Ferrand, Ils ont sauv¦ Versailles. De 1789 — nos jours, Paris 2003, S. 47 – 65; Schultz, Versailles, S. 163 – 165, und Völkel, Schloßbesichtigungen, S. 74 f. 27 Zit. n. V¦ronique L¦onard-Roques, Avant-propos, in: Dies. (Hrsg.), Versailles dans la litt¦rature. M¦moire et imaginaire aux XIXe et XXe siÀcles, Clermont-Ferrand 2005, S. 9 – 22, hier S. 12. 28 Johann Wilhelm von Archenholtz, in: Minerva 1802, Bd. 4, S. 108.

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eine Rolle als Imaginationsort und Projektionsfläche für politische Spannungen zu. Denn der Umgang mit Versailles stand immer auch für den Umgang mit Ancien R¦gime und Revolution insgesamt. In der dort konkreten Erinnerungspolitik lasen die Zeitgenossen das Verhältnis von Staatsform und Nation.29 Sowohl Napoleon I. als auch Ludwig XVIII. versuchten, sich durch die Wiederaufnahme der Bautätigkeit und Renovierungen produktiv in Kontinuitäten einzuschreiben. Ein allein historischer Bezug auf Versailles hätte dagegen Probleme für die eigene Legitimitätsstiftung aufgeworfen, wobei sich die historischen Ambivalenzen fortan nicht mehr vollständig auflösten. Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts markierten auch generationell eine Übergangszeit, in der Überreste vergangener Sinnstiftung gleichwohl überdauerten. Dies fiel in erster Linie ausländischen Besuchern auf, die von ehemaligen Angestellten durch deren einstige Wirkungsstätte geführt wurden: »I am persuaded there is not one of these old serving-men, who wander about Versailles like ghosts revisiting the scenes of former happiness, who would not more humbly pull off his hat to FranÅois Premier or Louis le Grand, in the greenhouse, than to any monarch of a younger race.«30

Dieser Nostalgie begegnete nach der Julirevolution 1830 Louis-Philippe mit einem Revitalisierungsplan, der unter den Bedingungen fragmentierter politischer Legitimität auf die integrierende Wirkung der französischen Geschichte setzte. Das Mus¦e national des nun »toutes les gloires de la France« gewidmeten Schlosses wurde zu einem politischen Kernprojekt seiner Herrschaft, dessen Ausführung er in über 400 Besuchen überwachte, wobei er peinlich darauf achtete, niemals über Nacht zu bleiben und dadurch absolutistische Assoziationen zu wecken. Wie seine Vorgänger ließ Louis-Philippe ein visuelles Narrativ erarbeiten. Die Geschichte Frankreichs wurde in mehreren Tausend Bildern kanonisiert, bei denen die Sujets Vorrang vor künstlerischer Qualität hatten. Im Zentrum stand die Galerie des batailles – 33 Gemälde französischer Schlachtensiege vom 5. Jahrhundert bis zum napoleonischen Triumph in Wagram, flankiert von Sälen zum siegreichen Feldzug der Revolutionsarmee von 1792, mit dem späteren Louis-Philippe in ihren Reihen, und zur Revolution von 1830, die zum Höhepunkt der französischen Ruhmesgeschichte führte: die Julimonarchie mit ihrem Bürgerkönig. Die blinden Flecken dieses Narrativs der Überparteilichkeit der 29 S. Thomas Wolfgang Gaehtgens, Versailles als Nationaldenkmal. Die Galerie des Batailles im Mus¦e Historique von Louis-Philippe, Berlin 1985, S. 33; Michael Marrinan, Painting Politics for Louis-Philippe. Art and Ideology in Orl¦anist France, 1830 – 1848, New Haven, London 1988; Val¦rie Bajou, Versailles ancien ou moderne, in: L¦onard-Roques (Hrsg.), Versailles dans la litt¦rature, S. 83 – 104. 30 Frances Trollope, Paris and the Parisians, Paris 1836, Bd. 1, S. 124.

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Gegenwart verdeutlichen seine homogenisierende Funktion: Nicht dargestellt wurden ›schwache‹ Könige und die Religionskriege; auch die Revolution kam innenpolitisch nicht vor, wie die Restaurationszeit im militärischen Glanz des Empire verschwand.31 Der historische Synkretismus der Julimonarchie machte allen politischen Gruppen Erinnerungsangebote: Die notorisch riskanten Republikaner und Bonapartisten fanden sich in einer Militärgeschichte der Miterlebenden wieder, alte Adelsfamilien durften bei erwiesener Teilnahme ihre Wappenschilde in der Salle des croisades anbringen.32 Sein historisches Pendant nationaler Glorifizierung fand Louis-Philippe in Ludwig XIV., dessen prominente und zugleich entzeitlichte Platzierung im Museum die historischen Inhalte mit dem Rahmen Versailles zur Deckung brachte. Victor Hugo sparte nicht mit Lob: »Ce que Louis-Philippe a fait — Versailles est bien. Avoir accompli cette œuvre, c’est avoir ¦t¦ grand comme un roi, impartial comme un philosophe, c’est d’avoir fait un monument national d’un monument monarchique, c’est avoir mis une id¦e dans un immense ¦difice, c’est avoir install¦ le pr¦sent dans le pass¦, 1789 vis-—-vis de 1688, l’empereur chez le roi, Napol¦on chez Louis XIV; en un mot, c’est avoir donn¦ — un livre magnifique qu’on appelle l’histoire de France, cette magnifique reliure qu’on appelle Versailles.«33

Die Eröffnung des Museums erfolgte 1837 anlässlich der Hochzeit des Thronfolgers mit Helene von Mecklenburg-Schwerin, deren kleinfürstliche Herkunft das dynastische Legitimationsdefizit der durch Revolution auf den Thron gekommenen Orl¦ans-Dynastie vor Augen führte. Entsprechend war Louis-Philippe um eine europäische Kontextualisierung Frankreichs über die ewig siegreichen Feldzüge hinaus bemüht und legte den Akzent auf dynastische Verbindungen, die sich mit dem übrigen Programm des »rapprochement de tous les temps« nur bedingt vertrugen.34 So lasen ausländische Besucher wie der Dichter und Komponist Ludwig Rellstab das Museum dann auch nicht als europäisch, sondern als hierarchische Kontrastierung von Nationalgeschichten: »Jeder 31 Gaehtgens, Versailles als Nationaldenkmal, S. 247 – 252 und S. 275 – 313, und Ferrand, Ils ont sauv¦, S. 121 – 140. 32 Roland Cvetkovski, Modalitäten des Ausstellens. Musealisierungskultur in Frankreich, 1830 – 1860, in: Historische Anthropologie 18 (2010), S. 247 – 274, hier S. 263 f., und Schultz, Versailles, S. 170. 33 Victor Hugo, Feuilles pagin¦es, zit. n. Val¦rie Bajou, Versailles en 1837: entre la »Gal¦rie des gloires« et le »Panth¦on de la pacotille«, in: L¦onard-Roques (Hrsg.), Versailles dans la litt¦rature, S. 117 – 138, hier S. 126, außerdem FranÅoise Chenet-Faugeras, Le Versailles de Hugo: un Versailles madr¦pore, ebd., S. 53 – 65. 34 Vgl. Marie-Louise von Plessen, Versailles et l’Europe, l’Europe — Versailles, in: Laurent Gervereau/Claire Constans (Hrsg.), Le mus¦e r¦v¦l¦. L’histoire de France au Ch–teau de Versailles, Paris/Versailles 2005, S. 147 – 153; das Zitat in: FranÅois Guizot: M¦moires, zit. n. Bajou, Versailles en 1837, S. 126.

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Spanier, Oestreicher, Preuße muß durch einzelne Bilder, die hier prunkend zur Schau gestellt sind, am Tiefsten beleidigt werden, um so mehr, als sie die Geschichte häufig verfälschen.« In Bezug auf Frankreich wurde der Eklektizismus des Museums dagegen nicht infrage gestellt – »für die Treue bürgt der Ort«, so Friedrich Hebbel. Vielmehr waren es französische Besucher, die aus legitimistischer Perspektive historische Klarheit vermissten oder, wie Ernest Renan, die Herrscher- und Militärprominenz zulasten geistiger Errungenschaften kritisierten.35 In Bezug auf die Gegenwart hing das Urteil davon ab, ob die Untertanen in Louis-Philippe den roi oder den citoyen erblickten. Im ersten Fall erschien die Ausstattung des neuen Museums als Zeichen monarchischen Verfalls, im zweiten markierte seine Eröffnung die Übergabe eines Nationalsymbols an das Volk. Louis-Philippe integrierte letztlich beide Dimensionen, legte darin jedoch auch die Risiken seiner prekären Herrschaft offen: »Versailles aujourd’hui n’est plus l’œuvre de la munificence d’un monarque, c’est le fruit de ses ¦conomies; toute la grandeur de la royaut¦ moderne est dans ce mot. […] croyezvous qu’il soit possible de b–tir des palais en marbre et de sculpter des lambris d’or avec un budget de roi-citoyen, entre la machine infernale de la veille et les coups de pistolet du lendemain? Le premier devoir d’un souverain, c’est de comprendre son ¦poque; le premier devoir d’un monument, c’est de la repr¦senter.«36

Zwar lasen die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts Versailles nicht mehr als symbolisches Gesamtsystem wie unter Ludwig XIV., doch erfuhr dieses dort eine nur schwer kontrollierbare Reaktivierung, wo Versailles nach 150 Jahren selbst zu seinen Besuchern ›sprach‹. Während des Eröffnungsbanketts saß Louis-Philippe, dessen Regierungszeit von der Auseinandersetzung um die konstitutionelle Stellung des Königs geprägt war, in der Mitte des Saales. Damit erhielt die anhaltende Diskussion um das Prinzip »Le roi rÀgne mais ne gouverne pas« (Adolphe Thiers) durch den Blick an die Decke einen Kommentar : Le Roy Gouverne Par Lui Même.37 Damit wurde fortan die Differenzbestimmung zwischen Deckengemälden und tagespolitischem Geschehen in der Spiegelgalerie zum Konstitutiv der Versailles-Erinnerung. Affirmativ europäisierende Deutungen blieben die Ausnahme. Beklagten 35 Rellstab, Paris im Frühjahr 1843, zit. n. Gaehtgens, Versailles als Nationaldenkmal, S. 340 f.; Friedrich Hebbel an Elise Lensing, Paris, 03. 10. 1843, in: Ders., Briefe. Bd. 2. 1839 – 1843, Berlin 1905, S. 293; zur legitimistischen Perspektive und Renan Ferrand, Ils ont sauv¦, S. 138 f., sowie Alfred Nettement, Versailles d¦voil¦ par »La Mode«, Paris 1837. 36 Delphine de Girardin, Le vicomte de Launay : lettres parisiennes. Bd. 1, Paris 1857, S. 157; zur demokratisierenden Lesart L’Illustration, 03. 06. 1843, auch in: Solange Contour (Hrsg.), Chroniques de Versailles. De Louis-Philippe — la Commune, Saint-Cyr-sur-Loire 2008, S. 26, und El¦onore AdÀle de Boigne, M¦moires, zit. n. Bajou, Versailles en 1837, S. 132. 37 Ebd., S. 122.

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frühere Revolutionsemigranten aus der Erinnerung an ihr britisches Exil, dass die Schlachtenbilder diesen friedlichen Erfahrungsraum ausblendeten, so verstand die Schriftstellerin Frances Trollope den »palace of recollections« als Träger einer nationenübergreifenden, von Kulturtransfer geprägten Erinnerung: »[…] the English go there not merely as strangers visiting a palace in a foreign land, but as pilgrims to the shrine of the princes and poets who have left their memory there, and with whose names and histories they are as familiar as if they belonged to us.«38 Der ältere napoleonische Plan, die mythologischen Figuren im Park durch Modellpanoramen aller französisch eroberten Hauptstädte Europas zu ersetzen, rekurrierte dagegen auf das frankozentrisch-hegemoniale Muster des Krieges, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Umkehrung erfuhr.39

1870/71: Deutsch-französische Erinnerungskonkurrenzen Auch wenn dem Nationalmuseum keineswegs das Hauptaugenmerk der deutschen Fürsten, Militärs, Künstler und Journalisten galt, die im Oktober 1870 für mehrere Monate ihr Hauptquartier in Stadt und Schloss aufschlugen, zeigte sich der dortige »Hochmuthswahnsinn« in umgekehrter Polung unmittelbar anschlussfähig an die preußische Interpretation des Krieges gegen Frankreich als Revanche gegenüber Ludwig XIV.: »Kein Schatten natürlich auf der Regierung Ludwig [sic!] XIV; […]; überall reinliche Einnahmen brennender Städte, Feldherrnruhm, während im Vordergrund Champagner getrunken wird […]. Nirgends rauchen die Trümmer des Schlosses von Heidelberg und die vertilgten Dörfer der Pfalz zum Himmel. Nirgends erzählen die Bilder von dem furchtbaren Gewitter, das aus den giftigen Tiefen der Laster, Unthaten und Verblendung des vierzehnten und fünfzehnten Ludwig […] zerschmetternd heraufzieht über dem gutherzigsten der Bourbonen [Ludwig XVI., F.P.] […]. Macht man sich nach diesen Bildern eine Idee von französischer Geschichte, so ist geradezu unbegreiflich, warum diese Tugendhelden und Schlachtensieger alle mit einem größeren oder geringeren Gewicht von Flüchen der französischen Nation beladen, vom Thron gestoßen worden sind.«40 38 Trollope, Paris, Bd. 1, S. 122; dazu auch Claudine Giacchetti, Frances Trollope: une touriste — Versailles en 1835, in: L¦onard-Roques (Hrsg.), Versailles dans la litt¦rature, S. 107 – 116; zu den Emigranten Claire Constans, Louise-Philippe r¦invente Versailles, in: Gervereau/Dies. (Hrsg.), Le mus¦e r¦v¦l¦, S. 15 – 21, hier S. 19 f. 39 Gaehtgens, Le Mus¦e historique de Versailles, in: Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de m¦moire. Bd. 2. La Nation, Paris 1997, S. 1781 – 1801, hier S. 1784. 40 Daheim 7 (1870/71), Nr. 7, 12. 11. 1870, S. 107. Das Bonmot von Ludwig XIV. als eigentlichem Kriegsgegner wird sowohl Otto von Bismarck als auch Leopold von Ranke zugeschrieben. Daniel Madel¦nat, Le 18 janvier : contraintes, apories et diversit¦s d’une ¦vocation litt¦raire

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In Versailles fand die preußisch-kleindeutsche Reichsidee in Ludwig XIV. einen Zerrspiegel zur eigenen seit dem Großen Kurfürsten vollzogenen Staatsbildung. Die Interpretation der französischen Geschichte als permanenter Niedergang während des 18. Jahrhunderts half dabei, dem eigenen ambivalenten Repertoire von Deutungsträgern – Jena 1806 wie Leipzig 1813 – einen äußeren Fluchtpunkt zu verleihen: Sieg und Reichsgründung 1870/71 bildeten im preußischen Verständnis die außenpolitische Revanche für die französische Hegemonie, für die Frankreich innenpolitisch mit vier Revolutionen seit 1789 und mittlerweile drei im Exil »umherirrenden«41 Dynastien bestraft worden war. Da dieser historische Holismus nirgends so sichtbar wurde wie in Versailles, markiert die preußische Besatzung 1870 eine Kernphase in der Herausbildung der deutsch-französischen »Überbeziehung«42 in Form einer umgekehrten Parallelisierung. Besonders deutlich zeigt sich der Versuch, den gegenwärtigen Feldzug auf das 17. Jahrhundert projizieren, bei der preußischen Königsfamilie: Wilhelm I. war bereits 1814 in Versailles gewesen und somit 1870 praktisch der einzige Zeitzeuge des alliierten Siegs in den Revolutionskriegen. Kronprinz Friedrich kannte Versailles von einem Monarchentreffen im Rahmen der Weltausstellung 1867. Erst 1870 erkannte er jedoch die Vorbildwirkung der Anlage auf preußische Schlossbauten als Ursache für den französischen Niedergang wie für den preußischen Aufstieg: Während Versailles in seinem »steifen, altfranzösischen Charakter« verharrt sei, habe sich Preußen kontinuierlich weiterentwickelt und damit Deutschland aus seinem inneren Zerfall geführt.43 Für den 18. Januar 1871, den Jahrestag der Krönung Friedrichs I. zum König in Preußen, wurde die als Lazarett genutzte Spiegelgalerie als größter Raum des Schlosses geräumt und für die Kaiserproklamation so ausgestaltet, dass die Raumarchitektur Ludwigs XIV. mit dem aktuellen Anlass korrespondierte. Die kaiserliche Estrade wurde vor dem Durchgang zwischen der Galerie und dem flankierenden Salon de la Guerre aufgebaut, die gegenüberliegende Seite zum Salon de la Paix dagegen gemieden. Diese Raumaufteilung korrespondierte mit den Deckengemälden, wo besonders die Alliance De L’Allemagne Et De L’Espagne Avec La Hollande als Anspielung auf den Auslöser des gegenwärtigen Krieges und die Passage Du Rhin En Présence Des Ennemis ins franÅaise (1871 – 1900), in: L¦onard-Roques (Hrsg.), Versailles dans la litt¦rature, S. 343 – 355, hier S. 344, Anm. 4, und Êmile Delerot, Versailles pendant l’occupation, Versailles 1900, S. 112. 41 Daheim 7, Nr. 14, 31. 12. 1870, S. 216. 42 S. Leonhard, Nationen und Emotionen [im Druck]. 43 Friedrich III., Das Kriegstagebuch von 1870/71, Berlin/Leipzig 1926, S. 132 und S. 140, Einträge vom 20. und 27. 09. 1870; zu Wilhelm I. FranÅois Roth, La guerre de 1870, Paris 1990, S. 196 f. Der Theologe Paulus Cassel sah in der Verschränkung des 17. mit dem 19. Jahrhundert einen Beleg für die »Mnemonik der Weltgeschichte«. Ders., Gedanken beim Einzug in Versailles, Berlin 2. Aufl. 1871, S. 4.

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Blickfeld rückten. Da man in Ludwig XIV. als Eroberer Straßburgs und Verwüster der Pfalz in erster Linie den Feind Deutschlands sah, spielte es keine Rolle, dass die Deckenszenen damit gerade nicht in Zusammenhang standen. Andere Elemente der Raumausstattung liefen dagegen Gefahr, den providenzialistischen Gründungsakt durch frivole Dekadenzanspielungen zu konterkarieren, die freilich bis ins 21. Jahrhundert, Stichwort »Paris-Sause«, wirkmächtig geblieben sind: »Der improvisierte Altar stand einer nackten Venus gegenüber, ein allerdings im Schloß von Versailles schwer zu vermeidendes Verhältniß.«44 Dadurch bedurfte die Ineinssetzung Wilhelms I. mit Ludwig XIV. einer protestantischen Purifizierung, wie sie der Hofprediger Bernhard Rogge, selbst für einen Teil der Anwesenden, ad nauseam betrieb. Ins Zentrum seiner Festpredigt am 18. Januar stellte er die bekannte Inschrift in der Mitte der Galerie. Sie wurde nicht mehr wie 1837 auf die Stellung des Monarchen bezogen, sondern diente in der räumlichen Übersetzung auf Deutschland als Warnung vor Selbstüberhebung und Gottvergessenheit: »Die in eitler Hoffart diese Hallen dereinst zu einem Götzentempel der irdischen Majestät gemacht, die in hochmütiger Vermessenheit auf ihre eigene Kraft getrotzt und das stolze Wort: ›Der König regiert kraft seiner eigenen Macht‹ zum Wahlspruch ihres Thrones gemacht haben, […] sie sind verschwunden mit aller ihrer eitlen Pracht und in ihrer Thorheit zunichtegeworden; und die nach ihnen emporgetragen von den Wogen der Revolutionen, in der Gunst des Volkes, in der Stimmenzahl der Massen ihre Stütze gesucht haben, auch die sind zu Schanden geworden.«45

Im Selbstverständnis des Kaiserreiches trat das Deutschland des 19. Jahrhunderts an die Stelle des Frankreichs des 17. Jahrhunderts. Da innerhalb des in Versailles omnipräsenten Deutungsmusters des Krieges Ludwig XIV. in seiner provokanten visuellen gloire nicht ignoriert werden konnte, stellte die Reichsgründung 1871 symbolisch zunächst das Gleichgewicht wieder her. Preußischdeutsche Überlegenheit ließ sich nur in späterer französischer Dekadenz spiegeln; die Erinnerung an Ludwig XIV. war jedoch auch in negativer Konnotation eine symmetrische, das heißt grundsätzlich anerkennende. Entsprechend beantwortete das Kaiserreich die Inszenierung des Sonnenkönigs auch auf visu44 Paul Bronsart von Schellendorff, Geheimes Kriegstagebuch 1870 – 1871, Bonn 1954, S. 298, Eintrag vom 18. 01. 1871. 45 Bernhard Rogge: Weiherede bei der feierlichen Proklamirung des deutschen Kaiserreiches, 18. Januar 1871, in: Ders., Gott war mit uns – Ihm sei die Ehre. Eine Sammlung von Predigten und Reden im Feldzuge von 1870/71, Berlin 1871, S. 42, sowie die Kritik des Kronprinzen an der »Strafrede« in: Friedrich III., Kriegstagebuch, S. 341 f., Eintrag vom 18. 01. 1871. Zur Proklamationsfeier weiterhin Theodor Toeche-Mittler, Die Kaiserproklamation in Versailles am 18. Januar 1871, Berlin 1896, v. a. S. 23 f.; Leonhard von Blumenthal, Tagebücher des Generalfeldmarschalls Graf von Blumenthal aus den Jahren 1866 und 1870/1871, Stuttgart/ Berlin 1902, S. 232 f., Einträge vom 17./18. 01. 1871.

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eller Ebene. Der in Versailles anwesende Maler Anton von Werner wollte mit seiner Darstellung der Proklamation ein später omnipräsentes historisches Dokument schaffen und dem Gründungsakt eine höhere Wahrheit verleihen, die sich unmittelbar von Versailles ableitete: In der ersten Fassung, dem Geschenk der deutschen Fürsten zum 80. Geburtstag des Kaisers 1877, bildet die detailgenau übernommene Architektur mit dem bestimmenden Triumphbogenmotiv der Spiegelgalerie samt den beiden Kartuschen – die antifranzösische Allianz und der Rheinübergang – ein zentrales Element der Bildaussage. Indem das Gemälde im Berliner Schloss in die dortige Raumarchitektur, die ihrerseits die Versailles-Ornamentik imitierte, integriert wurde, erfüllten sich äußere und innere Darstellungsebene ineinander – ganz abgesehen davon, dass sich die Darstellung der Personengruppen maßgeblich an den Historiengemälden orientierte, die Werner während seines Versailles-Besuches im Nationalmuseum hatte studieren können.46 Auch für die französische Seite war die Verschmelzung von Ludwig XIV. mit der Gegenwart evident, unabhängig davon, ob man, wie die politische Rechte, in der deutschen Versailles-Bemächtigung einen Angriff auf die Nation in allen historischen Tiefenschichten erblickte oder, wie die republikanische Linke, den diktatorischen Napoleon III. in situ durch Wilhelm I. ersetzt sah. Während die deutsche Inszenierung auf eine Auflösung der Spannung zwischen der Herrschaftssymbolik an der Decke der Spiegelgalerie und der Kaiserproklamation unten im Saal zielte, markierte im französischen Verständnis die Persistenz des Versailler Dekors die überzeitliche Überlegenheit: »[…] au plafond, contraste impressionnant, triomphe toujours […] le Louis XIV qu’on est venu ici humilier ; sur la chemin¦e du salon de la guerre le mÞme Louis XIV […] foule aux pieds l’Allemagne«47. Die Nationalisierung Versailles’, die unter Louis-Philippe vor allem mit innenpolitischen Ambivalenzen aufgeladen war, erwies sich 1871 mithilfe des deutschen Feindbildes als wirkmächtig. Mit Spiegel- und Schlachtengalerie ließ sich die Niederlage transzendieren. Immerhin wären die Preußen vor 1870 erst einmal in französisches Territorium eingefallen – gegenüber der visuellen Evidenz von 23 siegreichen französischen Ausgriffen nach Deutschland.48 Wenn 1870 schon nicht die französische Armee den preußischen Hochmut demütigen konnte, so hielt Versailles die passenden historischen Argumente parat, die zudem noch sprachen: 46 Thomas Wolfgang Gaehtgens, Anton von Werner. Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches. Ein Historienbild im Wandel preußischer Politik, Frankfurt am Main 1990, und Dominik Bartmann, Anton von Werner. Geschichte in Bildern, München 1993, S. 100 – 110. 47 Louis Batiffol, La proclamation de l’Empire allemand — Versailles (18 janvier 1871), in: La Revue de Paris (1919), S. 631 – 654, hier S. 650. 48 Delerot, Versailles, S. 209. Tatsächlich betraten preußische Truppen dreimal französisches Territorium: 1792, 1814 und 1815.

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»›L’ancien orgueil des puissances voisines de la France‹: toutes ces glorieuses r¦miniscences du pass¦ n’ont pas ¦t¦ peintes pour les faire rire. Et la salle du Sacre, et la salle de 1792, et la galerie des Batailles, et la salle de Marengo! Tout cela leur a fait comprendre sans doute que la France, elle aussi, conna„t le chemin de la victoire«.

Diese Prophezeiung blieb selbsterfüllend, da die deutschen Besucher in diesem Gesamtprogramm 1870 bestenfalls »reichen Stoff zur Ironie« erblickten.49 Als problematisch erwies sich, dass die vergleichenden Bezüge in Versailles mittlerweile mehrfach kodiert waren. Die preußische Requisition des Schlosses 1870 geschah am selben Tag wie der Zug der Pariser Volksmassen 1789; den Tag der Völkerschlacht bei Leipzig feierten die Besatzer mit Grandes Eaux im Park. Hinzu kam die als Entweihung verstandene lutherische Nutzung der Schlosskapelle des Allerchristlichsten Königs.50 In Reaktion auf das didaktische deutsche Gegenprogramm zur Geschichtsund Herrschaftssymbolik in Versailles, entwickelte sich in den 1870er-Jahren eine ganze Welle französischer Versailles-Lyrik, welche die Besatzung als Zivilisationsbruch und die Preußen als Barbaren deutete, so ein Band mit dem bezeichnenden Titel: Liber memorialis. Attila Deux — Versailles.51 Diese Gedichte funktionierten allesamt nach demselben Schema: In einem historischen Irrealis begegnen Wilhelm I., Bismarck oder beide, gestiefelt und Zigarre rauchend, in Versailles dem in seiner Eleganz unübertrefflichen Geist Ludwigs XIV., der ihnen als Schlossführer anhand der französischen Geschichte einmal mehr ihre historisch kontingente Unterlegenheit demonstriert, während sich Racine, MoliÀre und Boileau angesichts der barbarischen deutschen Sprache die Ohren verstopfen. Dem solcherart zur »Hölle« gewordenen Versailles wird indes als Metonymie für Gesamtfrankreich die baldige Wiederauferstehung prophezeit, denn der Sieger Wilhelm erscheint selbst als Sohn eines zuvor Besiegten und legt zudem in Versailles Zeugnis seiner zivilisatorischen Inferiorität ab: »D’abord il a prouv¦ qu’entre l’homme et le singe/S¦par¦s pour l’usage et le respect du linge,/ L’intervalle est rempli par l’allemand-outang!«52 Darin erschöpfte sich 1870/71 jedoch die Verflechtung der Erinnerungen. Vielmehr dominierten, wie im Folgenden die französische Perspektive bestätigt, die jeweiligen nationalen Fluchtpunkte, die letztlich auch die Forschungsperspektiven geprägt haben. 49 Le Monde illustr¦, 26. 11. 1870, auch in: Contour (Hrsg.), Chroniques de Versailles, S. 138, und Daheim 7, Nr. 7, 12. 11. 1870, S. 107. 50 Batiffol, Proclamation, S. 634 – 636, und Delerot, Versailles, S. 126 f. und S. 193. Der Erlös des 1873 erstmals erschienenen Werks war den Elsässern und Lothringern gewidmet. 51 Louis-Auguste Montalant-Bougleux, Liber memorialis. Attila Deux — Versailles. Po¦sies obsidionales 1870 – 1871, Versailles 1871; ders., Attila Deux — Versailles. Suppl¦ment, Versailles 1872; Êmile Bergerat, PoÚmes de la guerre 1870 – 1871, Paris 1871, und Th¦odore de Banville, Odes funambulesques. Occidentales, Idylles prussiennes, Paris 1878, dazu auch Madel¦nat, Le 18 janvier. 52 Bergerat: La nuit de Versailles. PoÚme populaire, in: Ders., PoÚmes, S. 83.

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Nach der Besatzung, die für das Deutungsmuster des Krieges stand, wurde Versailles auch für den Dualismus von Monarchie und Republik reaktiviert. Mit der Commune stand der unzerstörten, latent royalistischen Königsstadt, in die kurz nach Abschluss des Präliminarfriedens aus Bordeaux eine mehrheitlich antirepublikanische Nationalversammlung übersiedelte, das revolutionäre, republikanische, opferbereite und zerstörte Paris gegenüber. In Versailles wurden die gefangenen Kommunarden interniert, verurteilt und hingerichtet, in Versailles saß ein zurückgekehrter Bourbone im Namen der III. Republik Gericht über einen Mar¦chal de l’Empire – Versailles und Paris spiegelten nach 1870 paradigmatisch die Deux France wider.53 Mit dem Einzug von Regierung und Parlament wandelten sich die Funktionen des Schlosses abermals. In der Spiegelgalerie wurde aus dem preußischen Lazarett ein Schlafsaal für wohnungslose Abgeordnete, die Schlachtengalerie beherbergte die Nationalpost, das Parlament tagte in der Oper. 1875 wurde dann ein eigener Sitzungssaal eingeweiht, der fortan Schauplatz der Präsidentenwahlen war. Doch war das royale Dekor nicht dazu angetan, eine republikanischbürgerliche politische Kultur verankern zu helfen: »[…] ces petits bourgeois changer de chemise dans la salle mÞme o¾ le Roi-Soleil n’apparaissait — ses humbles sujets que vÞtu d’or, de plumes et de velours?« – »[…] un Dufaure, un Larcy, souillant ces domiciles historiques de leurs bourgeoises tables de nuit et de leurs bidets ¦gueul¦s. Quant aux petits appartements de Mme du Barry, ils servent — Mme Simon pour ravauder ses bas.«54

Der weitgehende Umzug der republikanischen Institutionen 1879 nach Paris markierte für Versailles einen doppelten Neubeginn: Einerseits erfuhr das Museum mit dem weitgehenden Abbau der Innenausstattung Louis-Philippes eine Umgestaltung unter stärker konservatorischen Gesichtspunkten und wurde der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. Andererseits wurden verschiedene Versuche unternommen, Versailles und mit ihm das französische Nationalbewusstsein von der Schmach der Niederlage reinzuwaschen. Pläne, die Oper im Schloss mit Lully- und Rameau-Festspielen zu einem französischen GegenBayreuth zu machen, realisierten sich zwar nicht, doch bot das 100-jährige Jubiläum der Eröffnung der Generalstände 1889 Anlass zu einer republikanischfranzösischen Neubesetzung der Schlüsselorte des Schlosses. Schließlich emp53 Vgl. Isabelle Durand-Le Guern, Versailles et la Commune, in: L¦onard-Roques (Hrsg.), Versailles dans la litt¦rature, S. 357 – 368, und Le Monde illustr¦, 11. 10. 1873, auch in: Contour (Hrsg.), Chroniques de Versailles, S. 150. 54 Le Monde illustr¦, 22. 07. 1871, auch ebd., S. 208, und Edmond und Jules de Goncourt, Journal. M¦moires de la vie litt¦raire. Bd. 10, Monaco 1956, S. 30, Eintrag vom 27. 08. 1871. Jules-Armand-Stanislas Dufaure war 1871 Premierminister, Charles-Paulin-Roger Saubert de Larcy Arbeitsminister und Louise Marie Êmilie Simon die Ehefrau des Bildungsministers Jules Simon.

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fing 1896 die Republik Zar Nikolaus II. im Königsschloss. Die eventuelle monarchische Brisanz des Besuchs trat jedoch vollkommen in den Hintergrund gegenüber der gegen das Deutsche Reich gerichteten franko-russischen Allianz.55

Außereuropäische Aneignungen Die geografische Reichweite des Deutungsträgers Versailles beschränkte sich nicht auf Europa, sondern strahlte über die Kolonialreiche insbesondere nach Amerika aus. In Brasilien legte der Historiker Manuel de Oliveira Lima 1908 eine Geschichte der brasilianischen Unabhängigkeit vor, pünktlich zum 100. Jahrestag der Übersiedlung des portugiesischen Königshofes von Lissabon nach Rio de Janeiro infolge der Napoleonischen Kriege. Darin erklärte er die politische Integration der kolonialen Eliten durch den Prinzregenten mit dem etablierten Konzept der absolutistischen Domestizierung des französischen Adels durch Ludwig XIV. in Versailles. Unter »tropischen« Rahmenbedingungen sei die Königsfamilie einerseits dem »Exotismus« Brasiliens verfallen, andererseits habe sie europäische Kultur, Sklaverei und Hautfarbe als Distinktionskategorien eingesetzt. Somit steht Versalhes tropical56 am Beginn eines historischen Narrativs, das die brasilianische Unabhängigkeit 1822 auf die Ankunft des Prinzregenten als Nationsgründer datierte. Der Transfer monarchischer Inszenierung aus Europa konnte zugleich begründen, warum Brasilien im Gegensatz zu allen anderen südamerikanischen Staaten mit der Unabhängigkeit keine Republik wurde. In der Zwischenkriegszeit erfuhr dieses Deutungsmuster eine Reaktualisierung, als der Bürgermeister von Rio den französischen Architekten Alfred Agache 1930 mit einem urbanen Masterplan für die Stadt beauftragte und Agache Rios Außenwirkung mit einer groß angelegten Stadterweiterung erhöhen wollte. Für die Gestaltung der Seefassade griff er auf die Schloss- und Parkanlage in Versailles zurück und entwickelte für Brasilien unter nunmehr republikanischen Vorzeichen ein Modell für Repräsentationsbauten. Die Pläne wurden in den 1960er-Jahren beim Bau der neuen Hauptstadt Bras†lia wieder aufgegriffen, deren PraÅa dos TrÞs Poderes ein ahistorisches »Versailles des Volkes« bilden 55 S. Pierre de Nolhac, La r¦surrection de Versailles. Souvenirs d’un conservateur, 1887 – 1920, Paris 2002, S. 26, S. 28 f., S. 86 f., S. 142, S. 154 – 156, S. 164 und S. 172, sowie Madel¦nat, Le 18 janvier, S. 355. 56 Manuel de Oliveira Lima, Dom Jo¼o VI no Brasil [Johann VI. in Brasilien], Rio de Janeiro 1996, S. 88. Zu seiner Kontextualisierung Kirsten Schultz, Tropical Versailles. Empire, Monarchy, and the Portuguese Royal Court in Rio de Janeiro, 1808 – 1821, New York 2001, S. 1 – 5.

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sollte.57 Damit erfuhr das historiografische wie architektonische Vorbild über den doppelten Transfer und seine Funktionalisierung für die Nationsbildung eine Demokratisierung, wie sie in Europa durch die historischen Kontextverankerungen nicht möglich war. Im Falle der USA verwies die Unabhängigkeit ebenfalls zweifach auf Versailles. Einerseits entwickelte sich ein architektonisches Transferverhältnis, das schließlich seinen vollen Niederschlag in der Stadtanlage Washingtons fand. Andererseits markierte die amerikanische Unabhängigkeit das Ergebnis des »Versailler Vertrages« von 1783. Während dieser im europäischen Erinnerungsdiskurs das 19. Jahrhundert hindurch praktisch keine Rolle spielte, stimulierte er eine nicht zuletzt architektonische Rezeption in den Vereinigten Staaten.58 Als Dank für den Kriegseintritt 1917, der von französischer Seite wiederum auf das eigene Engagement in den 1770er- und 1780er-Jahren zurückgeführt wurde, erhielt das Nationalmuseum 1919 einen eigenen Saal zur amerikanischen Unabhängigkeit. Dessen Einweihung berührte jedoch sofort wieder das sensible Spannungsverhältnis zwischen Monarchie und Republik. Zwar konnten immerhin die Porträts Ludwigs XVI. und seines Außenministers, die sich für die Unabhängigkeit besonders engagiert hatten, aufgehängt werden, der französische Bildungsminister wie der amerikanische Botschafter würdigten bei der Einweihung die Rolle der Monarchie jedoch mit keinem Wort. Lediglich die Leistungen des »demokratischen« Generals La Fayette fanden Erwähnung.59 Auch eine mit der Amerika-Würdigung verbundene französische Hoffnung ging auf – nämlich die Rettung der vom Verfall bedrohten Schlossanlage durch amerikanische Spendengelder, allen voran von John D. Rockefeller jr., der zwischen 1923 und 1936 23 Millionen Dollar für Restaurierungsarbeiten zur Verfügung stellte.60 Versailles als Ort der amerikanischen Unabhängigkeit ist bis in die Gegenwart ein wichtiger Anreiz für das Engagement amerikanischer Philanthropen geblieben.61 In der außereuropäischen Deutungsgeschichte wurde Versailles zum Symbol sich auflösender eurozentrischer Kolonialbeziehungen und einer damit einhergehenden Nationsbildung. Die europäischen Spannungsmuster traten dabei 57 David K. Underwood, Alfred Agache, French Sociology, and Modern Urbanism in France and Brazil, in: Journal of the Society of Architectural Historians 50 (1991), S. 130 – 166. Die demokratisierte Verfügbarkeit der Versailles-Referenz spielte in der Zwischenkriegszeit auch im sozialen Wohnungsbau in Wien eine Rolle, wo der Karl-Marx-Hof, eine Anlage mit 1382 Wohnungen, als »Versailles der Arbeiter« konzipiert wurde. Gerald Kriechbaum/Genoveva Kriechbaum, Karl-Marx-Hof, Versailles der Arbeiter. Wien und seine Höfe, Wien 2007. 58 Pascale Richard, Versailles, the American Story, Paris 1999, S. 58 f., und für die Nachbauten S. 116 – 119. 59 Nolhac, R¦surrection, S. 76. 60 Richard, Versailles, S. 122 – 138. 61 S. auch G¦rald Van Der Kemp, The Versailles Foundation, Versailles 1972.

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vollkommen in den Hintergrund und führten erst beim Rücktransfer wie 1919 zu Übersetzungsproblemen.

1919: Die Selbstreferenzialität eines inszenierten Friedensschlusses Noch vor Ende des Ersten Weltkriegs äußerte die französische Regierung in Gesprächen mit den USA ihre Präferenz für Versailles als Ort des Friedensschlusses nach einer antizipierten deutschen Niederlage. Sie begründete ihre Forderung mit strategischen und vor allem moralischen Überlegungen, die Frankreich angesichts seiner Kriegsopfer die Ausrichtung der Friedenskonferenz an dem Ort zusprachen, die ihr als Grundstein zur deutschen »Weltherrschaft« galt. Allerdings teilten die Alliierten keineswegs die französische Fixierung auf 1871. Britischen Diplomaten diente vielmehr der Pariser Frieden von 1814 als Vergleichsfolie, die jedoch Erinnerungen an schwierige Verhandlungen evozierte. Für die USA war die mit Versailles verbundene Unabhängigkeitsreferenz mit ausschlaggebend.62 Daraus folgt zum einen, dass mit Ausnahme Frankreichs für die Siegermächte die deutsch-französische Erinnerungschronologie eine Aporie bildete, dafür aber 1919 andere Deutungsschichten reaktualisiert wurden. Zum anderen lösten sich die späteren Deutungen des »Versailler Vertrages« ihrerseits von der Erinnerungsgeschichte Versailles’ ab. Er bildete vielmehr wie die übrigen Pariser Vorortverträge einen eigenen Deutungsträger, der stärker auf die territorialen, bevölkerungspolitischen und wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges verwies als auf die zentralen Versailler Erinnerungsmuster. So erscheint zweifelhaft, dass sich etwa die polnische Erinnerung an Versailles semantisch auf »Ludwigs Königsschloss« bezieht.63 Da zudem der Friedensvertrag von 1919 keine Oblivionsklausel mehr enthielt, sondern nur den Auftakt zur Festschreibung von Erinnerungsmustern bildete, kann er lediglich als eine Sonde zum gesamten Feld der Weltkriegserinnerung fungieren.64 In der hier verfolgten 62 S. Allain, Das Schloß von Versailles, S. 64 f.; Richard, Versailles, S. 106; Alan Sharp, The Versailles Settlement. Peacemaking after the First World War, 1919 – 1923, Basingstoke 2008, S. 20 f.; Charles Zorgbibe, Wilson. Un crois¦ — la Maison-Blanche, Paris 1998, S. 284 f. 63 So Włodzimierz Borodziej, Versailles und Jalta und Potsdam. Wie Deutsch-Polnisches zur Weltgeschichte wurde, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte 3, Paderborn 2012, S. 360 – 380, hier S. 363; Antoine Fleury, Die Pariser Vorortverträge, in: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte 2, München 2012, S. 505 – 515, bietet einen sachgeschichtlichen Überblick über die Vertragsinhalte. 64 Vgl. Jost Dülffer, Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001, S. 17 – 34,

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Perspektive der longue dur¦e interessiert Versailles 1919 vor allem in Bezug auf die erinnernde Resynchronisierung mit früheren Deutungen und deren Fortschreibungen. Für den Ablauf der Friedensverhandlungen fallen, ähnlich wie 1870/71, die sorgfältige Chronologie – Eröffnung am Jahrestag der Kaiserproklamation, Übergabe des Vertragstextes am Tag der Versenkung der Lusitania 1915, Unterzeichnung fünf Jahre nach dem Sarajevo-Attentat – wie das durchgeplante Protokoll ins Auge. So wohnte die deutsche Delegation im selben Hotel wie zuvor Bismarck. Beides geht wesentlich auf Premierminister Georges Clemenceau zurück, der 1919 das einzige noch lebende Mitglied der 1871 in Versailles tagenden Nationalversammlung war.65 In Clemenceaus generationeller Revanchebesessenheit hob erst der am selben Ort unterzeichnete »zweite Versailler Frieden« den Präliminarfrieden mit dem Kaiserreich samt der Proklamation auf; der »allererste« Frieden von 1783 mit Großbritannien spielte in dieser Logik keine Rolle. Jüngeren Konferenzteilnehmern, gleich welcher Nationalität, erschienen Clemenceau und dessen »theatralische Schlachtung der deutschen Sünder« als Anachronismus eines »autre siÀcle«, dessen Erfahrungsraum mit dem eigenen Erwartungshorizont der Nacherlebenden von 1871 nicht in Einklang zu bringen war : »This is the policy of an old man, whose most vivid impressions and most lively imagination are of the past and not of the future. He sees the issue in terms of France and Germany, not of humanity and European civilization.«66 Gemessen an Clemenceaus symbolischen Ansprüchen, schlug die Inszenierung der Vertragsunterzeichnung fehl, weil sich die übrigen Akteure auf ihren mimetischen Charakter nicht einließen.67 Die Delegation der gueules cass¦es in der Spiegelgalerie als Kontrapunkt zum deutschen Herrschaftsanspruch blieb praktisch auf allen Seiten unbemerkt.68 Dafür blickten die Anwesenden, ein-

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hier S. 24, sowie für diese weitere Perspektive die übrigen Beiträge desselben Bandes; bezogen auf Deutschland Schulze, Versailles, S. 418. Hier ist außerdem noch auf den Kriegsschuldartikel 231 und die französische Gesetzgebung zum Schutz der Schlachtschauplätze zu verweisen. Susanne Brandt, Versailles auf den ehemaligen Schlachtfeldern im Westen, in: Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919, S. 323 – 332, hier S. 324. Jacques Bari¦ty, Das Deutsche Reich im französischen Urteil, 1871 – 1945, in: Klaus Hildebrand (Hrsg.), Das Deutsche Reich im Urteil der großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871 – 1945), München 1995, S. 203 – 218, hier S. 204. Victor Schiff, So war es in Versailles, Berlin 1929, S. 10; Maurice Martin du Gand, Les M¦morables (1918 – 1923), Paris 1957, S. 69; John Maynard Keynes, The Economic Consequences of the Peace, London/Basingstoke 1971, S. 23. Zur Inszenierung der Friedenskonferenz und den Akteurswahrnehmungen s. Verena Steller, Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutschfranzösischen Beziehungen 1870 – 1919, Paderborn 2011, S. 431 – 470. St¦phane Audouin-Rouzeau, Die Delegation der »gueules cass¦es« in Versailles am 28. Juni

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schließlich der deutschen Unterzeichner, einmal mehr an die Decke und wechselten regelrecht die Zeitebene: »Dans les all¦gories de Charles Le Brun, BarrÀs [Maurice BarrÀs, Schriftsteller und Abgeordneter der nationalen Rechten, F.P.] suivait Louis XIVaccompagn¦ par Cond¦ et Turenne; on comprenait que son regard cherchait les inscriptions de Racine et de Boileau.«69

Dort lasen sie, nicht zuletzt weil die Raumausgestaltung auch 1919 der Architektur des 17. Jahrhunderts folgte, einen eigenen Kommentar zum Geschehen, so der britische Diplomat Harold Nicolson: »Clemenceau is already seated under the heavy ceiling as we arrive. ›Le roi,‹ runs the scroll above him, ›gouverne par lui-mÞme.‹ He looks small and yellow. A crunched homunculus.« Auch Assoziationen mit der Französischen Revolution zeigen, dass die Gegenwart in einem inkongruenten Verhältnis zu den Deutungsschichten des 17. und 18. Jahrhunderts stand.70 Da die nationalisierenden Aufladungen des 19. Jahrhunderts gerade aus britischer und amerikanischer Perspektive weitgehend ausgeblendet blieben, boten die früheren Referenzen vielmehr alternative, allerdings diskontinuierliche Deutungsszenarien. Im Gegensatz zu Le Bruns Frieden von Nimwegen am Ende der Spiegelgalerie und dem anschließenden Salon de la Paix vermochten diese den Friedensschluss jedoch nicht mehr symbolisch zu stabilisieren. Die Repräsentation von Krieg und Frieden als Triumph und Niederlage empfanden gerade nichtfranzösische Beteiligte und Zuschauer der Vertragsunterzeichnung von 1919 als unangemessen. Entsprechend zeigt das offizielle Versailles-Gemälde von 1919, William Orpens vom Imperial War Museum bestelltes The Signing of the Peace in the Hall of Mirrors, keine historische Apotheose wie Anton von Werner 1877, sondern eine sarkastisch-prosaische Verzerrung der Spiegelgalerie. Das verspiegelte Dekor, mit Clemenceau unter besagter Deckeninschrift im Zentrum, zerstört in seinen Lichtbrechungen die Proportionen der Figuren, der von Orpen als frocks verachteten Politiker und Diplomaten, deren Habitus für ihn eine Verhöhnung der Leiden der Soldaten darstellte.71 1919, in: Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919, S. 280 – 287; Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2005, S. 9; Steller, Diplomatie, S. 462 – 464. 69 Martin du Gand, Les M¦morables, S. 68. 70 Harold Nicolson, Peacemaking 1919, London 1945, S. 301 (dort das Zitat); Edward Mandell House, The Intimate Papers of Colonel House, Bd. 4. The Ending of the War. June 1918 – November 1919, London 1928, S. 501 f.; James Wycliffe Headlam-Morley, A Memoir of the Paris Peace Conference, 1919, London 1972, S. 178; Warwick Greene an Edith Greene, Paris, 29. 06. 1919, in: Warwick Greene, Letters 1915 – 1928, Cambridge, Mass. 1931, S. 104 – 107. 71 Alan Sharp, Consequences of Peace. The Versailles Settlement: Aftermath and Legacy, 1919 – 2010, London 2010, S. 221; weiterhin William Orpen, An Onlooker in France. A Critical Edition of the Artist’s War Memoirs, London 2008, S. 220 – 223; Robert Upstone (Hrsg.), William Orpen. Politics, Sex & Death, London 2005, S. 43 – 46; Steller, Diplomatie, S. 461.

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Das französische Festhalten an einer hegemonialen Deutung funktionierte vor diesem Hintergrund allenfalls als selbsterfüllende Prophezeiung. Der Chefkonservator des Schlosses konnte sich bemühen, Versailles architektonisch in den Zustand Ludwigs XIV. zurückzuversetzen, in Übertragung auf die Tagespolitik wurde diese Denkmalspflege zum Anachronismus: »Monsieur le pr¦sident [Clemenceau, F.P.] […] vous venez d’achever l’œuvre des grands hommes de la Monarchie. Vous avez abaiss¦ la Maison d’Autriche, d¦truit l’Empire comme l’ont rÞv¦ Richelieu et Louis XIV.«72

Mit dem Blick des frühen 20. Jahrhunderts auf das Grand SiÀcle ließen sich auch völlig umgekehrte Schlussfolgerungen aus der Instrumentalisierung von Versailles ziehen: Hatte nicht Ludwig XIV. seine Verträge stets im Kabinett unterzeichnet, wohingegen theatralische Inszenierung vor Publikum dem reinen Vergnügen vorbehalten blieb? – »La d¦mocratie est plus th¦–trale que le grand Roi.«73 Es nimmt daher nicht wunder, dass die Resynchronisierung von 1871 und 1919 dort besonders positiv aufgenommen wurde, wo sie den eigenen Erfahrungsraum unmittelbar widerspiegelte, nämlich bei der Versailler Bevölkerung in ihrer »l¦gitime fiert¦«.74 Die Verschmelzung von Symbolhandlung und Alltagsleben, die 1919 in eine Vielzahl von Gedenkaktivitäten mündete, trug dazu bei, nun auch die frühere Demütigung zu historisieren: »Maintenant que la souillure de 1870 est effac¦e, les ¦v¦nements de cette ¦poque n¦faste sont entr¦s dans le domaine de l’Histoire, et leurs cons¦quences ne pesant plus lourdement sur nos destin¦s, nous pouvons […] nous appliquer — leur ¦tude pour ¦tablir avec les circonstances actuelles d’instructives comparaisons.«75

Dieser vergleichende Gegenwartsbezug bildete eine Reaktion auf die sich nach der Friedenskonferenz andeutende Interessensverlagerung der Versailles-Rezeption. Bereits im Sommer 1919 zählten die wieder aufgenommenen Grandes Eaux im Schlosspark fast 100.000 Besucher pro Tag – dazu sollte die lokale Gründung einer »Ligue pour perp¦tuer — travers les –ges le souvenir des crimes allemands« ein Gegengewicht schaffen. Der letzte Akt im deutsch-französischen Revanchemuster folgte 1940, als 72 Nolhac, R¦surrection, S. 187. 73 Paul Cambon, französischer Botschafter in London, an Jules Cambon, 28. 06. 1919, in: Paul Cambon, Correspondance 1870 – 1924, Bd. 3. 1912 – 1924. Les guerres balcaniques, la Grande Guerre, l’organisation de la paix, Paris 1946, S. 340. 74 FranÅois Boulet, L’opinion locale et les souvenirs des trait¦s de paix de Versailles, SaintGermain, Neuilly, Trianon et SÀvres, in: Ders. (Hrsg.), Les trait¦s de paix 1919 – 1920 et l’Europe au XXÀme siÀcle, Paris 2007, S. 118 – 146, das Zitat in einer Ankündigung des Stadtrats vom 24. 04. 1919, ebd., S. 119. 75 Revue d’histoire de Versailles et de la Seine-et-Oise 1919, zit. n. ebd., S. 119.

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nach dem Blitzkrieg gegen Frankreich über Versailles die Hakenkreuzfahne aufgezogen wurde. Hitler und Goebbels kamen, die Berliner Philharmoniker gastierten in der Kapelle, und die ersten der später zahlreich zum Schloss gebrachten Wehrmachtssoldaten verwiesen mit Taschenspiegeln auf das Objekt ihres Interesses. Auf französischer Seite erwog die Vichy-Regierung zeitweilig einen Umzug nach Versailles, das wegen 1871 vor deutschen Angriffen als sicher galt. Die amerikanischen Truppen sicherten es bei ihrem Vorrücken 1944 ihrerseits wegen des Vertrags von 1783. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges fanden die Reaktualisierungen im ambivalenten Modus von Krieg und Frieden dann einen Schlusspunkt.76

Versailles’ Historisierung nach 1945 zwischen Renationalisierung und Reuniversalisierung Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich drei Tendenzen beobachten. Zunächst erfuhr Versailles eine Renationalisierung, die in ihrem Bemühen nach holistischer historischer Sinnstiftung auf die Programmatik LouisPhilippes verwies und vor dem Hintergrund der innen- und kolonialpolitischen Krisen der IV. Republik zu verstehen ist.77 In der nationalen Erinnerung gehörte Versailles in den 1950er-Jahren zu den wenigen »grandes choses que les FranÅais ont faites ensembles«78. Die Beschwörung des nationalen Erbes durch die staatliche Kulturpolitik diente zugleich der Akquisition finanzieller Mittel für die wieder einmal überfällige Restaurierung der Anlage. In diesen Kontext gehört eine Reihe publikumswirksamer Großveranstaltungen wie 1953 ein Spektakel aus verschiedenen Tableaux vivants unter dem bezeichnenden Titel A toutes les gloires de la France.79 Ebenfalls mit ministerieller Duldung drehte im

76 Pierre Ladou¦, Et Versailles fut sauvegard¦, souvenirs d’un conservateur, 1939 – 1941, Paris 1960, und Himelfarb, Versailles, S. 1316. 77 Dies zeigen exemplarisch Spendenbriefe aus Indochina, welche die Versailles-Rettung wie die Verteidigung der Kolonien auf Ludwigs XIV. Devise Nec pluribus impar beziehen. Gaston Papeloux, Pour sauver Versailles, Paris 1954, S. 13. Beide nationale Initiativen konkurrierten aber auch miteinander, wenn die Neuanschaffung von Napalm-Bombern in Relation zu den Dachdeckungskosten in Versailles gesetzt wurde, so in: Les Lettres franÅaises, 15. 02. 1954, zit. n. Antoine de Baeque, Versailles — l’¦cran. Sacha Guitry, historien de la France, in: Yves Gaulupeau (Hrsg.), L’histoire au mus¦e, Arles/Versailles 2004, S. 145 – 162, hier S. 151. 78 So der Schriftsteller Andr¦ Maurois, zit. n. Ferrand, Ils ont sauv¦, S. 271, im Folgenden ebd., S. 278 – 314; Fabien Oppermann, Versailles comme outil de propagande r¦publicaine au XXe siÀcle, in: Denis Rolland/Didier Georgakakis/Yves D¦loye (Hrsg.), Les R¦publiques en propagande. Pluralisme politique et propagande, entre d¦ni et institutionnalisation, XIXe – XXIe siÀcles, Paris 2006, S. 115 – 126, hier S. 123 – 125. 79 Maurois, Le PoÀme de Versailles (1954), zit. n. L¦onard-Roques, Crises et fractures de

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Folgejahr Sacha Guitry mit Si Versailles m’¦tait cont¦ ein filmisches Epos, das die Ruhmesgeschichte ein weiteres Mal deklinierte – um den Preis lebhafter politischer Polemiken zwischen den Royalisten unter den Amis de Versailles, Kommunisten und Historikern um die Darstellbarkeit von Monarchie und Revolution. Dem ursprünglichen Ziel, mit der Öffentlichkeitskampagne Gelder einzuwerben, kam die Regierung in den 1950er-Jahren einmal mehr durch eine 100Millionen-Francs-Spende der Rockefeller-Söhne näher, eine trotz der patriotischen Aufladung der Versailles-Referenzen allgemein gefeierte Geste – mit Ausnahme der kommunistischen Linken, die in den »aumúnes ¦trangÀres« einen Verrat am Nationalstolz erblickte.80 Dass Versailles in der V. Republik durch die Direktwahl des Staatspräsidenten seine innenpolitische Bedeutung als Wahlschauplatz verlor, kompensierten die zahlreichen Staatsbesuche zwischen den Präsidentschaften de Gaulles und Mitterrands. Diese außenpolitische Instrumentalisierung bildete den Auftakt zu einer zunehmend internationalisierten Versailles-Rezeption als zweiter Tendenz nach 1945. Obwohl de Gaulle das Schloss eigentlich nur »souverains d’ancienne dynastie« vorbehalten wollte, wurde in feinen Abstufungen die Auszeichnung eines Empfangs im Schloss mit Diner und Opernaufführung bis hin zum Ball auch amerikanischen Präsidenten und anderen Staatsoberhäuptern zuteil, kulminierend in der Ausrichtung des G7-Gipfels 1982.81 Die präsidialen Inszenierungsstrategien hoben dabei das Spannungsfeld von Monarchie und Republik in sich auf. Mit der Aufnahme in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste wurde Versailles 1979 offiziell globale Erinnerungswürdigkeit bescheinigt. Begründet wurde die Entscheidung allerdings europäisch und im engeren Sinne frankozentrisch mit der Ausstrahlung Versailles’ auf die »Europe francis¦e« im 17. und 18. Jahrhundert.82 Damit einher ging seine memoriale Festschreibung auf die Zeit Ludwigs XIV., die nicht nur Auswirkungen auf die bauliche Konservierung der Anlage hat, sondern zugleich eine Hegemonie innerhalb der historischen Deutungsschichten impliziert. Fast ironisch mutet es daher an, dass im Gegensatz zu den Appartements Ludwigs XIV. und der jüngst in den »Originalzustand« zurückversetzten Spiegelgalerie die Schlachtengalerie wegen Personalmangels häufig geschlossen bleibt. l’Histoire: le XXe siÀcle au miroir de Versailles, in: Dies. (Hrsg.), Versailles dans la litt¦rature, S. 381 – 397, hier S. 392, sowie zu Guitry Baeque, Versailles — l’¦cran. 80 L’Humanit¦, 06. 01. 1954, auch in: Oppermann, Versailles, S. 124. 81 Himelfarb, Versailles en notre temps, in: Yves Marie Berc¦ (Hrsg.), Destins et enjeux du XVIIe siÀcle, Paris 1985, S. 139 – 151, und Oppermann, Versailles, S. 117 – 122. 82 UNESCO, Advisory Body Evaluation (1979), http://whc.unesco.org/archive/advisory_body_evaluation/83bis.pdf (30. 09. 2013).

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Schließlich wurde auf einer dritten Ebene Versailles in das mit dem Êlys¦eVertrag institutionalisierte r¦gime m¦moriel deutsch-französischer Versöhnung integriert. Vorausgegangen war diesem Prozess eine zunehmende symbolische Entleerung des Versailler Vertrages von 1919 auf beiden Seiten. Zwar rekurrierten zum 50. Jahrestag 1969 in der Bundesrepublik sowohl Kommunisten als auch die NPD im Kontext der Neuen Ostpolitik mit entgegengesetzten Akzenten auf Versailler »Erfüllungspolitik«, und Franz-Josef Strauß erblickte im Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag »ein neues Versailles, und zwar eines von kosmischen Ausmaßen«. Doch fehlte der Mehrheit der Deutschen ein spezifisch zeitgenössischer Bezug.83 1970 ergab eine Allensbach-Umfrage, dass nur ein Drittel der befragten Bundesbürger imstande war, richtige Angaben zum Versailler Vertrag zu machen, dagegen 39 Prozent dazu nichts Näheres oder Falsches zu sagen wussten und 20 Prozent überhaupt noch nie davon gehört hatten.84 Bei den Initiativen zu einer gemeinsamen Versailles-Erinnerung fällt jedoch auf, wie spät sie einen Platz im deutsch-französischen r¦gime m¦moriel erhielt, nämlich erst an der Wende zum 21. Jahrhundert. Das deutsch-französische Geschichtsbuch weist Versailles einen zentralen Stellenwert zu, sowohl auf der normativen wie der reflexiven Ebene. Einerseits werden an den Beispielen Reims und Versailles die »[s]ymbolische[n] Gesten und Erinnerungsorte im deutschfranzösischen Verhältnis« behandelt, woraufhin die Schüler entscheiden sollen, welcher Ort sich für den Festakt der beiden Parlamente zum 50. Jahrestag des Êlys¦e-Vertrages 2013 besonders eignen würde. Andererseits werden die visuellen Versailles-Repräsentationen als methodische Einführung in die historische Bildanalyse herangezogen.85 Für die politische Ebene legen jedoch die Reaktionen auf die Feierlichkeiten 2003 und das deutsch-französische Zeremoniell von Gedenktagen, wie zum Ende des Ersten Weltkriegs und Mauerfall 2009, eine allmähliche Verschiebung der Zeitebenen nahe: Weniger auf die Begründungsmacht gegenwärtiger Vergangenheit als auf die gegenwärtige Zukunft der Problemlagen bezogen, schwächt sich der Eigenwert des r¦gime m¦moriel als Legitimationsressource für die deutsch-französischen Beziehungen ab.86

83 Richard Scheringer (ehemaliger KPD-Vorsitzender), Von links betrachtet, in: Der Monat 21 (1969), H. 246, S. 68 – 70, und Adolf von Thadden (Vorsitzender der NPD), Erfüllungs- und Verzichtspolitik, ebd., S. 79 f., zu Strauß Kolb, Frieden, S. 109. 84 Ebd., S. 109, zu Frankreich exemplarisch Versailles, cinquante ans aprÀs, in: Le Monde, 29. 06. 1969. 85 Peter Geiss/Guillaume Le Quintrec, Histoire/Geschichte. Bd. 3. Europa und die Welt seit 1945, Stuttgart 2007, S. 302 f., und dies./Daniel Henri, Histoire/Geschichte. Bd. 2. Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945, Stuttgart 2008, S. 42 f. 86 Dies legt auch Nicolas Offenstadt, 14 – 18 aujourd’hui. La Grande Guerre dans la France contemporaine, Paris 2010, S. 128 – 130, nahe.

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Schlussbetrachtung Die drei über drei Jahrhunderte dominanten Deutungsmuster der VersaillesErinnerung – Krieg vs. Frieden, Monarchie/Aristokratie vs. Republik/Bürgertum und Universalisierung vs. Partikularismus – haben sich historisiert. Die einst konstitutiven Dichotomien halten mittlerweile sogar Verwechslungen stand: 2003 erklärte die SPD-Bundestagsabgeordnete Monika Griefahn gegenüber französischen Journalisten, dass sie anlässlich des Êlys¦e-Jubiläums zum ersten Mal in ihrem Leben in Versailles sei, weil sie das Königsschloss in ihrer Jugend für zu »bourgeois« befunden habe.87 Innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen repräsentiert Versailles mittlerweile die von Peter Sloterdijk konstatierte »Entflechtung« der beiden Nationen zugunsten einer »benignen Entfremdung«.88 Der »Atem der Geschichte«89, den bereits die meisten Kommentaren 2003 nicht mehr zu finden glaubten, wurde für das Goldene Êlys¦eJubiläum 2013 an diesem Ort gar nicht erst mehr gesucht, zumal die Hauptfeierlichkeiten diesmal in Berlin stattfanden. In der Zusammenschau der Versailles-Deutungen zwischen dem späten 17. und dem frühen 21. Jahrhundert fällt auf, dass die unterschiedlichen Erinnerungskonstellationen von einer Diskrepanz zwischen französischen Wirkungsabsichten und ihrer ausländischen Rezeption durchzogen werden: Den Universalitätsanspruch Ludwigs XIV. rezipierten seine Verbündeten wie Gegner als französisches Hegemoniestreben, teils in explizit nationaler Aufladung. Im späten 18. Jahrhundert wurden die Zeichensysteme der absoluten Monarchie zunehmend politisch delegitimiert und auf einen rein ästhetischen Sinngehalt reduziert. Auch die Kluft zwischen dem Geschichtsbild des Nationalmuseums und einer vermeintlichen Abwertung der übrigen Nationen und Staaten, bis hin zu Clemenceaus von den ausländischen Delegationen als unangemessen bewerteter Inszenierung des Friedensschlusses von 1919, machen deutlich, dass die Innen-Außen-Differenz für die Versailles-Erinnerung konstitutiv blieb. Explizitere Europabezüge finden sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuvor deuteten die Zeitgenossen Versailles in universalistischen, kosmopolitischen oder konkurrierenden nationalen Kategorien, worin auch Europasemantiken aufgehen konnten. Dass selbst in der jüngeren Versailles-Erinnerung eurozentrische oder selbstwidersprüchliche Topoi präsent sind, erklärt sich einerseits durch die Prominenz deutsch-französischer Erinnerungsbezüge, die in ihrer Binnensymmetrie andere Perspektiven nur bedingt integrieren und da87 Le jour o¾ la France et l’Allemagne ont c¦l¦br¦ leur r¦conciliation, in: Le Monde, 24. 01. 2003. 88 Peter Sloterdijk, Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945, Frankfurt am Main 2008, S. 64 und S. 9. 89 Martinetti, Schroeder e Chirac.

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durch ein EU-zentriertes Europaverständnis verfestigen. Andererseits steht der holistische Charakter der Versailles-Erinnerungen im Widerspruch zur 1789 abgerissenen symbolischen Kontinuität des Ortes. Dies hat zur Folge, dass seit der Französischen Revolution Versailles zu einer Metonymie anderer Deutungsträger wurde und sich dadurch polyseme Erinnerungsdiskurse ausprägten, deren Bezüge von den verschiedenen Akteursgruppen nur schwer kontrolliert werden konnten. Zwischen den widersprüchlichen Semantiken entstand für die jeweiligen Zeitgenossen häufig der Eindruck: »Versailles gouverne par lui-mÞme«.

III. Erinnerung als Deutungskampf

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Im Februar 2011 forderte der Deutsche Bundestag nach kontroverser Debatte die Bundesregierung auf »zu prüfen«, ob der 5. August zum bundesweiten »Gedenktag für die Opfer der Vertreibung« erhoben werden könne.1 Dabei bezogen sich die Initiatoren des Antrags auf die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«, die 1950 an diesem Tag proklamiert worden war, und maßen ihr einen entscheidenden Beitrag zur europäischen Einigung bei.2 Nach deutlichen negativen Reaktionen in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit, die auf den belasteten Hintergrund der Unterzeichner der Charta hinwiesen und deren ausschließlich innerdeutsche Perspektive kritisierten,3 kam es jedoch nicht zu weiteren Schritten. Nicht nur die Charta selbst, sondern die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa als solche bleibt bis zum heutigen Tag kontrovers. Bei einer zugleich älter werdenden oder gar aussterbenden Erlebnisgeneration stellt sich Politikern und Betroffenenorga1 Zitat: Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig u. a., 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden, Deutscher Bundestag Drucksache 17/4193 (15. 12. 2010), http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/041/1704193.pdf (30. 09. 2013), S. 4. Der am 10. 02. 2011 vom Bundestag verabschiedete Antrag bezieht sich auf eine Bundesratsinitiative des Freistaates Bayern vom 11. 07. 2003, die von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder abgelehnt wurde. Vgl. Entschließung des Bundesrates zur Erhebung des 5. August zum »Nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung«, Bundesrat Drucksache 460/03 (Beschluss) (11. 07. 2003), http://www.umwelt-online.de/PDFBR/2003/ 0460_2D03B.pdf (30. 09. 2013); Mitteilung der Bundesregierung zu der Entschließung des Bundesrates zur Erhebung des 5. August zum »Nationalen Gedenktag für die Opfer der Vertreibung«, Bundesrat Drucksache 769/03 (16. 10. 2003), http://www.umwelt-online.de/ PDFBR/2003/0769_2D03.pdf (30. 09. 2013). 2 Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950, http://www.hdg.de/lemo/html/ dokumente/JahreDesAufbausInOstUndWest_erklaerungChartaDerHeimatvertriebenen/index. html (30.09. 2013). 3 Raphael Gross, Die Mär von der Versöhnungs-Charta, in: Süddeutsche Zeitung, 11. 02. 2011, S. 2. Zur Dominanz ehemaliger nationalsozialistischer Funktionäre in den Anfangsjahren der Vertriebenenorganisationen s. Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das »Dritte Reich«, München 2013.

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nisationen wie dem Bund der Vertriebenen (BdV) zunehmend die Frage, wie eine solche Erinnerung perspektivisch gestaltet werden kann. Vor allem die Auseinandersetzung um ein »Zentrum gegen Vertreibungen« und die deutlichen Verstimmungen zwischen Deutschland und Polen haben in den letzten Jahren gezeigt, welches Konfliktpotenzial die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in sich birgt. Im Folgenden soll dieser Erinnerung und den darin immanenten Vorstellungen von Europa nachgegangen werden. Der vorliegende Aufsatz betrachtet dabei Flucht und Vertreibung in Deutschland und integriert weitere räumliche und thematische Diskursstränge, wo diese Erinnerungen in Deutschland beeinflussen. Europa ist dabei nicht vordergründig der Raum des ihm zugrunde liegenden Geschehens, sondern, ungleich wichtiger, der Horizont seiner Deutung und spezifischer Inhalt seiner Aushandlung. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit mussten mehr als zwölf Millionen Deutsche ihre Wohnorte in Südost- und Ostmitteleuropa4 verlassen. Bereits seit 1938 waren Polen, Tschechen, Ukrainer, Angehörige deutscher Minderheiten in ostmitteleuropäischen Ländern sowie zahlreiche weitere Volksgruppen zumeist von den nationalsozialistischen Machthabern zur Migration gezwungen worden. Solche gewaltsamen und in ihrer Durchführung meist ungeordneten Bevölkerungsverschiebungen setzten sich auch nach dem Kriegsende und der politischen Neuordnung der Region fort. Diese zahlreichen und wiederholten Zwangsmigrationen veränderten die Bevölkerungsstruktur in der Mitte des Kontinents nachhaltig und waren die Grundlage für ethnisch homogenere Staaten in Ostmitteleuropa nach dem Krieg.5 Im deutschen Sprachgebrauch firmiert der deutsche Aspekt dieser Zwangsmigration unter dem Topos Flucht und Vertreibung. Die begriffliche Dopplung steht nicht nur für zahlreiche, höchst unterschiedliche Einzelschicksale, sondern auch für ein hohes Maß an Gewalt in einem großen geografischen Raum.6

4 Dieser Raum umfasst die ehemals deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße, die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien sowie das Baltikum. 5 Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011, S. 99. Besonders angelsächsische Forscher reihen Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa mit vergleichbaren Ereignissen in ein Jahrhundert der Massengewalt ein, für das Zwangsmigration ein entscheidendes Strukturelement ist. Vgl. Mark Mazower, Dark Continent. Europe’s Twentieth Century, New York 1999; Norman M. Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe, Cambridge, Mass. 2001; Michael Mann, The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing, New York 2004. 6 Beer, Flucht und Vertreibung, S. 13 – 16.

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Verlorene Heimat etablieren Als sich am 5. August 1950 in Stuttgart die Vertreter verschiedener westdeutscher Vertriebenenverbände zusammenfanden, verabschiedeten sie unter den Augen zahlreicher prominenter Gäste und sorgfältig inszeniert ein Dokument, das Europa als neuen Erwartungshorizont der deutschen Heimatvertriebenen pointierte. Dabei erschien die »Herbeiführung eines freien und geeinten Europas« den Delegierten als notwendige Voraussetzung einer besseren Zukunft und der Wiedererlangung ihrer Heimat. Sie nahmen für sich in Anspruch, im Namen der Millionen Deutschen zu sprechen, die ihre Heimat im Osten verloren hatten, und riefen eine quasi-konstitutionelle Deklaration, ein »Grundgesetz«7 der deutschen Heimatvertriebenen, aus. In pathetischer Wortwahl knüpften sie an Duktus und Geist der deutschen Verfassung an und erklärten in »Verantwortung vor Gott und den Menschen« die »Pflichten und Rechte« der Vertriebenen. Unter den selbstauferlegten Pflichten der Heimatvertriebenen trat neben dem Willen zur Integration besonders der pauschale Verzicht auf »Rache und Vergeltung« hervor, der die Wahrnehmung der Charta in der Folge prägen sollte. Der »christlich-abendländische Kulturkreis«, das »Bewußtsein ihres [der Heimatvertriebenen, G.F.] deutschen Volkstums« und die »gemeinsamen Aufgaben aller europäischen Völker« vervollständigten diese Selbstverortung. Gegenüber der Pflicht des Verzichts ist das Bekenntnis zur Beteiligung am »Wiederaufbau Deutschlands und Europas« vor dem Hintergrund der prekären Lebensumstände vieler Vertriebener zu dieser Zeit kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit.8 Optisch hervorgehoben ist im Originalschriftstück die Proklamation eines »Rechts auf die Heimat«,9 das in den folgenden Jahren zum Kernbegriff der politischen Argumentation der Vertriebenenverbände werden sollte. Aus ihm leitete die Charta, »solange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist«, das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am »Leben des deutschen Volkes« ab. Bedenkt man die keineswegs konfliktlose Integration der Vertriebenen,10 ist offenkundig, dass sich das Dokument besonders an die nichtvertriebenen Deutschen und die deutsche Politik richtete. Im Gegensatz zur oft

7 Hiernach auch alle weitere Zitate der Charta: Charta der deutschen Heimatvertriebenen. 8 Jörg Hackmann, Die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« vom 5. August 1950, in: Themenportal Europäische Geschichte (2010), http://www.europa.clio-online.de/Portals/ _Europa/documents/B2010/E_Hackmann_Charta.pdf (30. 09. 2013), S. 2. 9 Im Originaldokument wurde der Begriff ›Recht auf die Heimat‹ sowohl durch Sperrung als auch größeren Schriftgrad abgehoben, vgl. das Faksimile bei: Charta der deutschen Heimatvertriebenen. 10 Andreas Kossert hat für diese schwierige Integration den zuvor nur im Volksmund gebräuchlichen Begriff der ›kalten Heimat‹ eingeführt. Ders., Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008.

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ablehnenden Haltung der nichtvertriebenen Bevölkerung11 verstanden die Vertriebenenvertreter ihre Klientel als Gruppe »der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen«12. Es ist aber nicht das Vergangene, also die Art und die Umstände der Migration, das im Zentrum des Dokuments steht, sondern das in den Augen der Autoren nur unterbrochen Gegenwärtige, nämlich die Heimat. Schon die Bezeichnung der Zwangsmigranten stellte so eine erste richtungsweisende, lange nachwirkende Aushandlung des Phänomens Zwangsmigration selbst dar. ›Vertriebene‹ war dabei zunächst eine Fremdzuschreibung der amerikanischen Besatzungsmacht, um den endgültigen Charakter ihrer Situation zu unterstreichen.13 Während bereits der Alltagsgebrauch von Begriffen wie ›Vertriebene‹, ›Flüchtlinge‹, ›Umsiedler‹, ›Zuwanderer‹ oder ›Neubürger‹ – um nur neutrale Begriffe zu nennen – heterogen war, fügten die verschiedenen Gesetzestexte der einzelnen deutschen Länder divergierende Definitionen hinzu.14 Seit etwa 1947 setzten sich die Begriffe ›Vertriebene‹ und ›Heimatvertriebene‹ durch, wurden durch den Parlamentarischen Rat definiert und fanden unter Betroffenen selbst als Eigenbezeichnung Verwendung.15 Dennoch ließen auch diese Begriffsklärungen Interpretations- und Agitationsspielräume offen. Die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« ist so als weitere Zuspitzung und Homogenisierung einer sprachlichen Abbildung des heterogenen Phänomens Zwangsmigration zu verstehen. Denn mit der breiten Verwendung des Begriffs Vertreibung wurden auch Aussiedler und Evakuierte zu gewaltsam Vertriebenen, unabhängig von ihrer individuellen Migrationsgeschichte. Der Begriff des ›Heimatvertriebenen‹ betonte zudem, dass die Vertreibung im Verlust der Heimat lag und weniger in ihren gewaltsamen Umständen. Mit der Heimat knüpften die Charta und der Vertriebenendiskurs der 1950er-Jahre an einen bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgbaren Diskurs an. Mit den Napoleonischen Kriegen und der Erfahrung von Fremdherrschaft war die Heimat im deutschen Denken Bestandteil einer wehmütigen Selbstverortung vor dem

11 Eva Hahn/Hans Henning Hahn, Flucht und Vertreibung, in: Êtienne FranÅois/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte 1, München 2001, S. 335 – 351, hier S. 337. 12 Die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«. 13 Matthias Stickler, »Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch«. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände: 1949 – 1972, Düsseldorf 2004, S. 10. 14 Mathias Beer, Flüchtlinge – Ausgewiesene – Neubürger – Heimatvertriebene. Flüchtlingspolitik in Deutschland nach 1945, begriffsgeschichtlich betrachtet, in: Ders./Martin Kintzinger/Marita Krauss (Hrsg.), Migration und Integration. Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel, Stuttgart 1997, S. 145 – 167, hier S. 149 f. 15 Stickler, »Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch«, S. 10. Ähnlich Karin Böke, »Flüchtlinge« und »Vertriebene« zwischen dem »Recht auf alte Heimat« und »Eingliederung in die neue Heimat«. Leitvokabeln der Flüchtlingspolitik, in: Dies./Frank Liedtke/Martin Wengeler (Hrsg.), Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära, Berlin/New York 1996, S. 131 – 210, hier S. 137.

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Hintergrund politischer und sozialer Umbrüche geworden.16 In seiner naturrechtlichen Herleitung, wie durch die Charta, verkörperte der Begriff Heimat den idyllischen Raum einer natürlichen Existenz. Eine solche Überhöhung der Heimat ließ Vertreibung zur Verletzung einer göttlich gegebenen Ordnung werden, zur Tötung des Vertriebenen »im Geiste«17. Neben der politischen Repräsentation war die Heimat- und Traditionspflege eines der Kernanliegen der verschiedenen Landsmannschaften, das besonders in sogenannten Heimatstuben verfolgt wurde. Auf den jährlichen Großkundgebungen der Verbände wurde die verlorene Heimat in Trachten und Bräuchen zur Schau gestellt. Für den plakativen Gebrauch im politischen Raum war dieses Heimatmotiv dagegen zu vielfältig. Heimat konnte die zwölf Millionen Vertriebenen mit ihren jeweils unterschiedlichen Herkunftsgebieten nämlich nur als Abstraktum vereinen. Bei den »Tagen der Heimat« zählte so vielmehr die schiere Masse der Teilnehmenden, um »durch ein besonders schneidiges Auftreten« die eigentliche Schwäche der organisierten Vertriebenen zu verschleiern.18 Statt auf die unterschiedlichen Herkunftsgebiete der Vertriebenen zu verweisen, beschworen Vertriebenenvertreter und Politiker dagegen plakativ einen »deutschen Osten« und deuteten Vertreibung so als Verlust jahrhundertealter deutscher Kultur.19 Dieser deutsche Osten figurierte ähnlich wie die Heimat seit dem 19. Jahrhundert als invented tradition einer zunächst nur in solchen Repräsentationen erfahrbaren deutschen Nation und bezog sich auf den Raum eines vermeintlich jahrhundertelangen germanisch-slawischen Konflikts seit der deutschen Ostsiedlung.20 Die nationalsozialistische Ideologie des Lebensraums hatte diese Vorstellung zusätzlich verstärkt und sie auf einen vermeintlich zukünftigen Siedlungsraum außerhalb der deutschen Grenzen ausgeweitet. Unter den veränderten Vorzeichen des Kalten Kriegs ließ sich diese Raumvorstellung ins Defensive wenden, wenn zum Beispiel die Landsmannschaft

16 Celia Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990, S. 7 – 16. Die Deutschen Erinnerungsorte ordnen zwar sieben Fallstudien unter den Begriff der Heimat, vertiefen diesen aber nicht selbst. 17 Die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«. 18 Stickler, »Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch«, S. 155. 19 Eva Hahn/Hans Henning Hahn (Hrsg.), Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010, S. 411 – 414. 20 Andrew Demshuk, The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory 1945 – 1970, Cambridge 2012, S. 69 – 71. Damit verbunden war, dass einige Vertreter der Vertriebenenverbände, besonders im Hinblick auf Oberschlesien, die Grenzen von 1937 als Minimalforderung betrachteten, viel eher aber Ansprüche auf Gebiete in den Grenzen von 1914 und darüber hinaus als legitim erachteten. Vgl. Christian Lotz, Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948 – 1972), Köln 2007, S. 62.

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Schlesien das »Expansionsstreben des Weltkommunismus«21 als Kontext der Vertreibung anführte. Auf der Grundlage des antikommunistischen Konsenses der jungen Bundesrepublik22 versuchten die Vertriebenenvertreter, ihrem Anliegen anhaltende Aktualität zu verschaffen und finanzielle wie institutionelle Unterstützung zu generieren.23 Auch hier war der Rückgriff auf nationalsozialistische Propaganda und deren Berichterstattung über Zwangsmigration aus dem Osten deutlich. Angesichts der heranrückenden Front hatte beispielsweise der Völkische Beobachter 1945 stereotypisch vor jüdischen Kommissaren und asiatischen Horden gewarnt, welche die »sittlichen Werte, die das Wesen Europas ausmachten«, bedrohten.24 Die Fokussierung auf den Bolschewismus als Gegenbild zu Europa übernahm so nationalsozialistische Deutungsmuster und konnte diese ideologischen Anknüpfungspunkte der Vertriebenenverbände zugleich kaschieren.25 Die »Charta der deutschen Heimatvertrieben« verwies nicht direkt auf diese Bedrohung, machte jedoch deutlich, dass es sich bei der Vertreibung der Deutschen um eine Existenzfrage des christlichen Abendlandes, Europas und der ganzen Welt handele und evozierte diese Räume implizit als durch den Kommunismus bedroht. Aus dieser Perspektive musste Europa aber Westeuropa bedeuten, denn eine Annäherung an die östlichen Länder schien unmöglich. Diese eigene Spielart der Westintegration positionierte Flucht und Vertreibung im Kalten Krieg und machte den zentralen Topos des intellektuellen Diskurses der Nachkriegszeit, das Abendland, sowie seine säkularisierte und zukunftsträchtigere Anknüpfung, also Europa, für das Verständnis der Vertreibung nutzbar.26 Solche Deutungen des Verlusts beanspruchten zwar durchgängig gesamtgesellschaftliche und gesamtdeutsche Geltung, erfüllten darüber hinaus aber auch Funktionen innerhalb der Vertriebenenverbände.27 Waren die Verbände nämlich entlang landsmannschaftlicher, konfessioneller und regionaler Unterscheidungen vielfach uneins, schlossen solche verbindlichen und zur politischen Ab21 Zit. n. ebd., S. 121. 22 Vgl. Gesine Schwan, Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, Baden-Baden 1999; Stefan Creuzberger, Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949 – 1969, Düsseldorf 2008; Wolfgang Wippermann, Heilige Hetzjagd. Eine Ideologiegeschichte des Antikommunismus, Berlin 2012. 23 In dieser gegenseitigen Beeinflussung fiel auch die signifikante Vertretung von Vertriebenen in Bundesbehörden ins Gewicht. Stickler, »Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch«, S. 194 – 201. 24 Völkischer Beobachter, 08. 03. 1945, zit. n. Hahn/Hahn (Hrsg.), Vertreibung, S. 394. 25 Stickler, »Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch«, S. 361. 26 Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 21. 27 Lotz, Deutung, S. 122; Stickler, »Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch«, S. 357.

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grenzung eingesetzten Deutungen die eigenen Reihen und allgemeiner die ›Heimatvertriebenen‹,28 zu deren Gruppe es vor der Zwangsmigration keine Entsprechung gab. Die gesetzlichen Regelungen des Bundesvertriebenengesetzes von 1953 stifteten nicht nur einen vererbbaren Rechtsstatus, sondern auch – zumindest für einige Betroffene – eine Identität, die je nach Situation in die Mehrheitsgesellschaft der Bundesrepublik integrierte oder aus ihr exkludierte. Zwangsmigranten waren nun neben Bundesbürgern und Schlesiern, Pommern oder Ostpreußen eben auch Vertriebene.29 Deutsche Heimat und Antikommunismus, Abendland und Europa boten ein abstraktes Mobilisierungspotenzial, erfassten aber die individuellen Schicksale der Betroffenen nicht. Wollte der selbstreferenzielle Opferdiskurs der Verbände die ›Vertriebenen‹ als soziale Gruppe mobilisieren, stand dem die schrittweise Integration der Zwangsmigranten in die Aufnahmegesellschaft entgegen. Mit dem Lastenausgleich und dem zunehmenden Wohlstand des Wirtschaftswunders konnten die sozialen Probleme der Zwangsmigranten grundlegend gelindert werden.30 Durch diese Einbindung in die neue Heimat veränderte sich zwangsläufig auch die Haltung zu den Herkunftsgebieten. Zwar wurden in neuen Wohnsiedlungen Straßen nach schlesischen oder ostpreußischen Städten benannt, die OderNeiße-Gebiete selbst gerieten aber mehr und mehr in Vergessenheit.31 Auch die Betroffenen selbst gewannen in diesem Prozess eine zunehmende Distanz zur Vertreibungserfahrung, die Vorstellung einer Rückkehr verlor an Bedeutung.32 Für die politische und gesellschaftliche Vertretung der Heimatvertriebenen, die Verbände und die zwischenzeitlich im Bundestag vertretene Vertriebenen-Partei

28 Lotz, Deutung, S. 122. Dies lässt sich bis in die Heimatbücher der Vertriebenen erkennen, die beispielsweise im Falle der Sudetendeutschen schon in den 1950er-Jahren ein sehr einheitliches Geschichtsbild präsentierten. Jutta Faehndrich, Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen, Köln 2010, S. 202 – 206. 29 Eva und Hans Henning Hahn sprechen dabei auch von einer »Sondergemeinschaft innerhalb der deutschen Nation«, die vermeintlich vom Bund der Vertriebenen oder seinen Teilorganisationen repräsentiert werde. Dies. (Hrsg.), Vertreibung, S. 660. 30 Gesetz über den Lastenausgleich. LAG, in: Bundesgesetzblatt I. Bd. 1952, S. 446 – 533; Constantin Goschler, Lastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland, in: Detlef Brandes/Holm Sundhaussen/Stefan Troebst (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien u. a. 2010, S. 382 – 384. Das im August 1952 verabschiedete Lastenausgleichsgesetz, dessen Umsetzung sich über mehrere Jahre hinziehen sollte, hob hervor, dass die erheblichen Zahlungen an die Heimatvertrieben keine Wiedergutmachung oder Entschädigung darstellten, sondern nur vorläufigen Charakter hätten. 31 So sollte »ostkundlicher« Unterricht Schülern die weitestgehend unbekannten Gebiete nahebringen. Vgl. Manfred Kittel, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961 – 1982), München 2007, S. 90 – 92. 32 Meinungsumfragen zufolge lehnten 1959 bereits 30 Prozent der Betroffenen eine Rückkehr kategorisch ab. Vgl. Jahrbuch für öffentliche Meinung, 1958 – 1964, Allensbach 1964, S. 505.

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GB/BHE verband sich mit diesem Bedeutungsverlust der Vertreibungserfahrung auch die Gefahr ihrer institutionellen Marginalisierung. Als die Evangelische Kirche in Deutschland Anfang der 1960er-Jahre die Arbeit an einer Denkschrift zur »Lage der Vertriebenen« aufnahm, gelang es den etablierten Vertriebenenvertretern dementsprechend nicht mehr, die Arbeiten in ihrem Sinne zu beeinflussen. In dieser »Verschiebung der Kräfteverhältnisse«33 behielten die Verbände weiterhin eine wichtige Stimme; ihre vermeintliche Hegemonie in der Sachfrage Vertreibung34 bedeutete jedoch eine zunehmende Selbstausgrenzung aus einer sich öffnenden Debatte. So brach die 1965 veröffentlichte Denkschrift ein Tabu, als sie den Deutschen abwägend und vorsichtig nahelegte, dass eine zukünftige Friedensordnung nur durch Verständigung und »nicht ohne Opfer des deutschen Volkes auch an alten Rechtspositionen zu haben sein« werde.35 Mit diesen Rechtspositionen war die alleinige Hervorhebung deutscher Opfer der Zwangsmigration verbunden, die andere Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus überlagerten. Wenn kirchliche Akteure nun die Eindeutigkeit dieses deutschen Opferdiskurses infrage stellten, hinterfragten sie damit auch den Heimatbegriff der Vertriebenenverbände.36

Konkurrierende Erinnerung: Der Holocaust Parallel zu diesen Kräfteverschiebungen in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung gewann ein anderer Deutungsträger für die Erinnerung in der Bundesrepublik an Bedeutung, der Holocaust. In den ersten Jahren der neuen Demokratie war der nationalsozialistische Massenmord an den europäischen Juden ein Tabu geblieben.37 Als im April 1961 in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann begann, war die deutsche Öffentlichkeit erstmals mit einem Schreibtischtäter des Holocaust konfrontiert, der dazu im neuen Medium 33 Lotz, Deutung, S. 127. 34 Ebd., S. 260. 35 Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Eine evangelische Denkschrift, Hannover 1965, S. 37. Vgl. Gregor Feindt, Zwischen »Recht auf Heimat« und Versöhnung – die Kirchen in der Bundesrepublik und ihr Verhältnis zu Polen 1956 – 1965, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 58 (2009), S. 433 – 468, hier S. 450 – 456. 36 Ders., Semantiken der Versöhnung. Theologische Hintergründe der Versöhnung mit Polen am Beispiel des Briefwechsels der polnischen und deutschen Bischöfe und des Polen-Memorandums des Bensberger Kreises, in: Kirchliche Zeitgeschichte 24 (2011), S. 396 – 414, hier S. 410. 37 Vgl. Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967, vgl. darüber hinaus Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußsein, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 579 – 599.

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Fernsehen auch visuell sichtbar wurde. Flankiert von Provokationen wie Rolf Hochhuths Der Stellvertreter und der immer wiederkehrenden Frage nach der Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen machten gerade solche Gerichtsverfahren, wie auch die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965, den Zivilisationsbruch des Holocaust jenseits intellektueller Nischen öffentlich und erschütterten die Sinnwelten der deutschen Nachkriegsdemokratie nachhaltig.38 Aus einem Diskurs über deutsche Opfer wurde im Verlauf dieser zweiten formativen Phase der jungen Demokratie ein Diskurs über deutsche Täter, der sich nicht nur im Rahmen der Studentenbewegung des Jahres 1968 immer wieder in politische Grundsatzdiskussionen erstreckte.39 Nach dem Schock des Mauerbaus schien zugleich die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands endgültig unrealistisch. Die »Neue Ostpolitik« unter Bundeskanzler Willy Brandt stellte auch deutschlandpolitische Ansprüche infrage und ließ 25 Jahre nach Kriegsende erkennen, dass die ehemals deutschen Ostgebiete nicht bloß ›unter polnischer Verwaltung‹ standen.40 Kurz vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages am 7. Dezember 1970 besuchte Brandt das Denkmal für die Aufständischen des Warschauer Ghettos und kniete dort nieder. Dieser Kniefall, in der öffentlichen Wahrnehmung der Bundesrepublik keineswegs unumstritten,41 machte auf ganz eigene Weise die Erinnerungskonkurrenz zwischen Flucht und Vertreibung und dem Holocaust deutlich. Das Eingeständnis deutscher Verbrechen und die Anerkennung politischer Realitäten durch die Ostverträge zogen nicht nur die Staatsräson der Ära Adenauer, sondern auch den Deutungsanspruch der Verbände in ostpolitischen Fragen in Zweifel. Zwar bestätigte das Bundesverfassungsgericht in zwei Urteilen die andauernde Gültigkeit der Grenzen von 1937,42 im Alltag wurden die Oder-Neiße-Gebiete dagegen zunehmend zur Abstraktion. So fuhr die Bundesbahn seit dem Fahrplan 1975/1976 nicht mehr ein ver38 Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 – 1990, Darmstadt 1999, S. 238 f.; Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2007, S. 118 f.; Sabine Horn, Erinnerungsbilder. Auschwitz-Prozess und Majdanek-Prozess im westdeutschen Fernsehen, Essen 2009. 39 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 277. 40 Vgl. Dieter Bingen, Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl, 1949 – 1991, Baden-Baden 1998, S. 138 f. 41 So beurteilten nach einer Spiegel-Umfrage 48 Prozent der Befragten den Kniefall als übertrieben, 41 Prozent dagegen als angemessen. Vgl. Kniefall angemessen oder übertrieben?, in: Der Spiegel, 14. 12. 1970, S. 27. 42 So die gängige zeitgenössische Interpretation. Kittel, Vertreibung der Vertriebenen, S. 106. Vgl. in seinem Urteil aus juristischer Sicht grundsätzlich widersprechend: Klaus Joachim Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage. Eine dogmatische und historische Untersuchung zum judikativen Anteil an der Staatsleitung, Tübingen 2004, S. 309.

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meintlich deutsches Breslau an, sondern das polnische Wrocław. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnete ›Ostdeutschland‹ längst die DDR, und nicht mehr die deutschen Ostgebiete.43 Nach politischen Rückschlägen entglitt den Verbänden so mit zunehmendem Abstand von der Zwangsmigration auch die semantische Bewahrung des deutschen Ostens. Die Erinnerung an den Holocaust setzte auch in medialer Hinsicht neue erinnerungskulturelle Maßstäbe. Als im Januar 1979 die amerikanische Fernsehserie Holocaust im deutschen Fernsehen zu sehen war, veränderte sie nicht nur die deutsche Haltung zum Mord an den europäischen Juden, sondern prägte eine neue mediale Darstellung von Opfern von Gewalt im Allgemeinen und wurde auch für die Erinnerung an Flucht und Vertreibung stilbildend.44 Begleitet von verschiedenen Kontroversen um die Ausstrahlung wurde Holocaust ein soziales Medienereignis ungekannter Größe.45 Die dramaturgische Aufbereitung des Themas durch eine fiktionale Familiengeschichte beeindruckte die Zuschauer nachhaltiger als das zuvor eher abstrakt Bekannte und wurde zugleich als authentisch wahrgenommen.46 Sie rückte nicht nur Juden als Opfer des Nationalsozialismus ins Zentrum eines gesellschaftlichen Interesses, sondern gab diesen Opfern Namen und Gesichter. Der Bayerische Rundfunk produzierte 1981 eine ebenso erfolgreiche Dokumentation zu Flucht und Vertreibung, womit er diesem Beispiel folgte und offensichtlich ein Korrektiv zur Holocaust-Serie anstrebte.47 Im Zuge der zunehmend normalisierten Beziehungen zu Polen und der Tschechoslowakei konnten seit den 1970er-Jahren Vertriebene der Erlebnisgeneration ihre alte Heimat besuchen und gewannen dabei, gerade bei privaten 43 Kittel, Vertreibung der Vertriebenen, S. 127; Lotz, Deutung, S. 133. 44 Vgl. entsprechende Aussagen der Sudetendeutschen Landsmannschaft bei Faehndrich, Eine endliche Geschichte, S. 193. 45 Sandra Schulz, Film und Fernsehen als Medien der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Holocaust. Die deutsche Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust im Jahre 1979, in: Historical Social Research 32 (2007), H. 1, S. 189 – 248, hier S. 214 – 217. Zur medialen Rezeption s. Jens Müller-Bauseneik, Die US-Fernsehserie »Holocaust« im Spiegel der deutschen Presse (Januar–März 1979). Eine Dokumentation, ebd., S. 128 – 140; Jürgen Wilke, Die Fernsehserie »Holocaust« als Medienereignis, ebd., S. 9 – 17. 46 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 398; Schulz, Film und Fernsehen, S. 197. 47 Maren Roeger, Zeitzeugen von Flucht, Vertreibung und Heimatverlust im deutschen Geschichtsfernsehen. Funktionen und Funktionalisierungen, 1981 – 2010, in: Heinke M. Kalinke (Hrsg.), Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Neue Forschungen. Oldenburg, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (2011/2012), http://www.bkge.de/52803.html (30. 09. 2013), S. 7; Tobias Ebbrecht, Die große Zerstreuung: Heimat-TV im deutschen Geschichtsfernsehen. Einige kritische Anmerkungen zur Darstellung von »Flucht und Vertreibung« in deutschen und österreichischen Film- und Fernsehproduktionen, in: Florian Beck/Renate Hennecke (Hrsg.), Vom Münchner Diktat zur Nachkriegsordnung. Geschichte und ihre Instrumentalisierung in der aktuellen deutschen Politik, Hamburg 2004, S. 3 – 31, hier S. 12 f.

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Reisen ohne Reiseleitung, einen neuen Eindruck vom »verlorenen Osten«. Für diese sogenannten »Heimwehtouristen« war eine dauerhafte Rückkehr mittlerweile unrealistisch geworden und vielmehr die imaginäre Weitergabe der Heimat an nachkommende Generationen ein wichtiges Anliegen.48 Diese Distanzierung lässt sich auch in Heimatbüchern und anderen Formen von »Wiederbegegnungsliteratur«49 nachvollziehen, die differenzierter als offizielle Verlautbarungen der Verbände über die alte Heimat berichteten.50 Wie abhängig die Erinnerung an Flucht und Vertreibung auch von politischen Orientierungen sein konnte, zeigte der Regierungswechsel 1982 zur christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl. Diese stiftete unter großem Aufwand eine Vielzahl an Gedenksteinen und stockte auch die Kulturförderung für die Vertriebenenverbände deutlich auf.51 Eine signifikante Wende in der bundesdeutschen Erinnerungskultur brachten diese Bemühungen jedoch nicht.52 So wurde Flucht und Vertreibung in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einem Randthema, ohne dass es tabuisiert worden wäre.

Universalisierung von Zwangsmigration Die deutsche Wiedervereinigung überwand nicht nur die Teilung des Landes, sondern klärte auch den völkerrechtlich offenen Status der Oder-Neiße-Gebiete. Endgültig waren die ehemals deutschen Ostgebiete Teile Polens und der Sowjetunion. Für die Vertriebenenverbände war dieses Ende des »Provisoriums« nur schwer zu akzeptieren, entzog der endgültige Verzicht doch ihrer bisherigen, 48 Mateusz J. Hartwich, Wirtualny Heimat. Obraz stron ojczystych w pis´miennictwie ziomkowskim regionu jeleniogûrskiego w okresie powojennym [Virtuelle Heimat. Das Bild der Heimatgebiete im Schrifttum der Hirschberger Landmannschaften in der Nachkriegszeit], in: Rocznik Jeleniogûrski 41 (2009), S. 111 – 130, hier S. 129. 49 Albrecht Lehmann, Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland, 1945 – 1990, München 1991, S. 144. 50 Vor allem Vertriebene aus Südosteuropa rekurrierten nur in beschränktem Maße auf die offizielle Rhetorik. Faehndrich, Eine endliche Geschichte, S. 216. 51 Vgl. Thomas Grosser, Von der freiwilligen Solidar- zur verordneten Konfliktgemeinschaft. Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft im Spiegel neuerer zeitgeschichtlicher Untersuchungen, in: Dierk Hoffmann/Marita Krauss/ Michael Schwartz (Hrsg.), Vertriebene in Deutschland, München 2000, S. 65 – 85, hier S. 69; Hans Hesse, Denkmäler und Gedenkstätten der deutschen Vertriebenen, in: Brandes/ Sundhaussen/Troebst (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen, S. 114 – 117, hier S. 115. 52 Diese lag auch daran, dass Kohl Deutschlandpolitik und auch die Vertriebenenthematik stets zweckrational verstand und als integrativen Faktor innerhalb der Unionsparteien und der deutschen Innenpolitik nutzbar machte. Die daraus resultierenden Deutungen wurden in der Folge immer komplexer und nahmen gar dilatorischen Charakter an. Karl-Rudolf Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982 – 1989, Stuttgart 1998, S. 247 – 254.

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gebietsbezogenen Argumentation jegliche Grundlagen.53 Zudem stand die Deutung von Flucht und Vertreibung im wiedervereinten Deutschland vor neuen Herausforderungen. So waren auch gut zwei Millionen Ostdeutsche, die sich selbst als Heimatvertriebene bezeichneten,54 in eine bestehende und infrage gestellte westdeutsche Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu integrieren. »Flüchtlinge« oder »Vertriebene« hatte es in der DDR offiziell nicht gegeben, vielmehr sprachen die Behörden in euphemistischer Verfremdung von »Umsiedlung«. Trotz symbolischer Sozialpolitik für diese »Umsiedler« oder »Neubürger« tabuisierte die SED bereits in den 1950er-Jahren die Zwangsmigration und ihre Hintergründe, um die propagierte Völkerfreundschaft zu den Staaten des Ostblocks und besonders der Sowjetunion nicht in Zweifel zu ziehen.55 Der von der sozialistischen Staatsmacht erzwungene soziale Wandel und die daraus folgende gesellschaftliche Homogenisierung bedingten ein weitgehendes Aufgehen der Zwangsmigranten in die DDR-Gesellschaft. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine solche damnatio memoriae nur langsame Akzeptanz innerhalb der DDR-Bevölkerung fand, weil sie den Erfahrungen der letzten Kriegsmonate, aber auch den Lebenswirklichkeiten der ersten Nachkriegsjahre offenkundig widersprach. Auf längere Sicht beförderte sie jedoch eine wirksame Verdrängung der Vertreibungserfahrung und verhinderte eine öffentlich präsente Erinnerung, sodass Flucht und Vertreibung nur mehr in Familienkreisen thematisiert werden konnte.56 Sieht man vom Engagement der Vertriebenenverbände ab, die sich in den neuen Bundesländern mit der Stiftung von Gedenksteinen und ähnlichen erinnernden Handlungen befassten,57 bedeutete die Wiedervereinigung für die Erinnerung an Flucht und Vertreibung zunächst keine einschneidende Veränderung. Die ritualisierten Erinnerungsakte zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 53 So stimmte der BdV-Präsident und CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Czaja zusammen mit zwölf weiteren CDU/CSU-Abgeordneten gegen den Einheitsvertrag. 54 Maren Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, Marburg 2011, S. 50. Dabei dürften einmalige staatliche Zuwendungen nach dem 1994 erlassenen Vertriebenenzuwendungsgesetz für Heimatvertriebene aus der ehemaligen DDR ein zusätzlicher Anreiz zur Selbstzuschreibung »Vertriebener« gewesen sein. 55 Michael Schwartz, Vertreibung und Vergangenheitspolitik. Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten, in: Deutschland Archiv 30 (1997), H. 2, S. 176 – 195, hier S. 180 – 184. Zur Ambivalenz zwischen karitativer, sozialrevolutionärer und redistributiver Vertriebenenpolitik und ihrer Beendigung in der DDR s. Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956, Göttingen 1998. 56 Ute Schmidt, Flüchtlingsmilieus in der SBZ/DDR. Formen kultureller Selbstbehauptung und Identitätswahrung am Beispiel der Deutschen aus Bessarabien, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2006), H. 20, S. 3 – 19. 57 Hesse, Denkmäler und Gedenkstätten, S. 115.

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im Jahr 1994 zeugten beispielsweise eher von Kontinuität in Deutungen und Ausdrucksformen. Auch die deutsche Medienlandschaft berichtete zwar weiterhin über Vertreibung und den ehemals deutschen Osten, zeigte dabei aber »[w]eder Tabu noch Leidenschaft«.58 Als infolge der Jugoslawienkriege ab 1991 etwa 350.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen, konfrontierten sie die deutsche Gesellschaft jedoch überraschend und sehr anschaulich mit unmittelbar erfahrener Zwangsmigration. Mit der in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangenen Wendung der »ethnischen Säuberung« erhielt die Zwangsmigration zudem eine neue, universelle Begrifflichkeit, die sich zwar vom Begriff des ›Völkermordes‹ abgrenzte, sich aber dennoch auf ihn bezog.59 Darüber hinaus hinterfragte eine zweite Welle der deutschen Vergangenheitsbewältigung das Selbstverständnis der neuen, nun Berliner Republik. Der öffentliche Disput über die Wehrmachtsausstellung und Täter im Vernichtungskrieg erschütterte ein deutsches Geschichtsbild, das zwar Verantwortung und Schuld kannte, Täter aber immer noch nur in hohen Ämtern vermutete.60 Die Thesen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Daniel Goldhagen von den Deutschen als »Hitlers willige Vollstrecker« und die Kontroverse zwischen dem Schriftsteller Martin Walser und dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, spitzten diese Debatte über den Stellenwert des Holocaust für die deutsche Gesellschaft und ihre Erinnerung weiter zu.61 Deutsches Erinnern an den Nationalsozialismus ging nun deutlicher in kosmopolitische Deutungsmuster über, in denen der Holocaust infolge einer glo58 Jan H. Kirsch, »Wir haben aus der Geschichte gelernt«. Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln 1999, S. 177. Zitat: Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, S. 69. 59 Naimark, Fires of Hatred, S. 2 – 4. Bislang sind die Auswirkungen dieses Flüchtlingsstroms und einer intensivierten Behandlung von Migration und Migranten überhaupt in der deutschen Gesellschaft nicht auf ihre Folgen für die erinnernde Betrachtung von Flucht und Vertreibung untersucht worden. Eine solche Kausalität wird jedoch immer wieder angenommen. K. Erik Franzen, Der Diskurs als Ziel? Anmerkungen zur deutschen Erinnerungspolitik am Beispiel der Debatte um ein »Zentrum gegen Vertreibungen« 1999 – 2005, in: Peter Haslinger/Ders./Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989, München 2008, S. 1 – 29, hier S. 5; Grosser, Von der freiwilligen Solidar- zur verordneten Konfliktgemeinschaft, S. 67; Peter Haslinger, Von der Erinnerung zur Identität und zurück, in: Christoph Cornelißen/Roman Holec/Jirˇ† Pesˇek (Hrsg.), Diktatur, Krieg, Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945, Essen 2005, S. 473 – 488, hier S. 483 f. 60 Vgl. Christian Hartmann/Johannes Hürter/Ulrike Jureit (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005; Hans-Ulrich Thamer, Vom Tabubruch zur Historisierung? Die Auseinandersetzung um die »Wehrmachtsausstellung«, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, S. 171 – 186. 61 Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 1996; Frank Schirrmacher (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999.

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balisierten Medialisierung als universales Phänomen verstanden wurde.62 Welchen allgemeinen Stellenwert der Holocaust für das politische Denken in Deutschland erlangt hatte, wurde 1999 in der Debatte über den Kosovokrieg deutlich, als nämlich Auschwitz sinnbildlich für die Verhinderung serbischer Gräuel im Kosovo stand und Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping den ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg mit diesem Verweis rechtfertigte.63 Die Erinnerung an den Holocaust wurde so reflexiv und zum konstruktiven Ausgangspunkt nicht nur eines deutschen Selbstverständnisses, sondern eines Selbstverständnisses europäischer Institutionen.64 Eine solche Universalisierung von Leid beschränkte sich aber nicht bloß auf den Holocaust und zeitgenössische Menschenrechtsverletzungen, sondern wirkte sich auch auf den Diskurs über deutsche Opfer im Zusammenhang des Zweiten Weltkrieges aus. Die Stilisierung der Vertriebenen als letzte Opfer Hitlers gab der Erinnerung an Flucht und Vertreibung eine neue moralisierende Legitimation aus der universalisierten Holocaust-Erinnerung.65 Die nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus intensiveren Kulturkontakte nach Ostmitteleuropa beeinflussten auch Erinnerungsdebatten und zeigten der deutschen Öffentlichkeit parallele Debatten in Polen oder der Tschechischen Republik auf, die in der gesellschaftlichen Transformation nicht nur die Zwangsmigration der Deutschen, sondern auch die Bedeutung dieses »kulturellen Erbes« für ihre jeweiligen Gesellschaften entdeckten und öffentlich verhandelten.66 Obgleich die Geschichtswissenschaften sich seit Mitte der 1990er-Jahre dem Thema Vertreibung wieder intensiver annahmen und es teils in längere Kontinuitäten der Zwangsmigration stellten,67 war es vor allem die populäre Geschichtsvermittlung in den Medien, die das wachsende öffentliche Interesse an Flucht und Vertreibung in Dokumentation und Spielfilmen mit persönlichen Geschichten und Zeitzeugen-Berichten beantwortete und steigerte.68 Diese 62 Levy/Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 155 – 157. 63 Ebd., S. 195 – 197. 64 Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 804. Vgl. auch Daniela Mehlers Fallstudie zu Srebrenica in diesem Band. 65 Goschler, Versöhnung und Viktimisierung, Der deutsche Opferdiskurs und die Vertriebenen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 873–884, hier S. 880 f. 66 Claudia Kraft, Der Platz der Vertreibung der Deutschen im historischen Gedächtnis Polens und der Tschechoslowakei/Tschechiens, in: Cornelißen/Holec/Pesˇek (Hrsg.), Diktatur, Krieg, Vertreibung, S. 329 – 353, hier S. 342 – 348. Als Dokumentation solcher Debatten s. Klaus Bachmann, Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen, Bonn 1998; Petr Pithart/Petr Prˇ†hoda/Otfrid Pustejovsky´ (Hrsg.), Die abgeschobene Geschichte. Ein politisch-historisches Lesebuch, München 1999. 67 Vgl. z. B. Hellmuth Auerbach/Wolfgang Benz, Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt am Main 1995. 68 K. Erik Franzen, In der neuen Mitte der Erinnerung Anmerkungen zur Funktion eines

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mediale Aufbereitung spiegelte eine entscheidende Wendung in der hegemonialen Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen wider, nämlich die Individualisierung der Betroffenen und die Emotionalisierung ihres Schicksals über das bekannte Maß der 1950er-Jahre hinaus.69 Waren diese noch in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten, als die Darstellung von »Vertreibungsverbrechen« zur Untermauerung territorialer Ansprüche diente, kollektiv und unspezifisch behandelt worden, erhielten sie nun für die Generation der Nacherfahrenden konkrete Gesichter.

Reaktualisierung deutscher Opfer Dennoch stand Erinnerung an Flucht und Vertreibung angesichts einer alternden Erlebnisgeneration und eines offensichtlich schwindenden Wissens junger Deutscher über den historischen deutschen Osten vor einer ungewissen Zukunft. Auf dem »Tag der Heimat«, der zentralen Veranstaltung des Bundes des Vertriebenen, stellte seine neue Vorsitzende, die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach, 1999 erstmals die Idee eines »Zentrums gegen Vertreibungen« vor, das explizit »mehr sein sollte als ein Denk- oder Mahnmal«70. In den folgenden Jahren wurde ein solches in Berlin zu verortendes Vorhaben zum zentralen Gegenstand einer intensivierten Erinnerungsdebatte über Flucht und Vertreibung, die immer wieder um die so umstrittene wie streitbare Person Steinbachs selbst kreiste. Neben innerdeutschen Auseinandersetzungen, die sich auffällig, zumeist aber indirekt auf das 1999 beschlossene und 2005 eingeweihte Mahnmal für die ermordeten Juden Europas bezogen, belastete das Zentrums-Projekt die Beziehungen zu den ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten, besonders zu Polen. Im Mai 2002 schlug der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel anlässlich einer Bundestagsdebatte vor, das geplante Zentrum europäisch auszurichten und im polnischen Breslau anzusiedeln, wobei er von polnischen Intellektuellen wie Adam Michnik unterstützt wurde.71 Auch die vom BdV geOpferdiskurses, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), H. 1, S. 49 – 53, hier S. 51. 69 Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, S. 161 f. 70 Franzen, Diskurs, S. 8 – 10., Zitat S. 10. 71 Gemeinsame Erinnerung als Schritt in die Zukunft. Für ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen, Zwangsaussiedlungen und Deportationen – Geschichte in Europa gemeinsam aufarbeiten (Juli 2003), http://markus-meckel.de/wp-content/uploads/2009/12/AufrufEurop%C3 %A4isches-Zentrum-gegen-Vertreibungen_mit-Unterzeichnern.pdf (30. 09. 2013). Die Unterzeichner, sowohl Politiker als auch Wissenschaftler, kamen vor allem aus Deutschland und Polen. In Polen wurde das Ansinnen, ein solches Museum in Berlin anzusiedeln, als Provokation wahrgenommen, da Berlin als Ausgangspunkt des Zweiten

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gründete Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« verwies darauf, das Schicksal von deutschen Vertriebenen mit einer europäischen Perspektive verbinden zu wollen, bestand aber auf Berlin als einzig möglichem Standort. Trotz dieser ähnlichen – europäischen – Konnotation beider Projekte schlossen sich beide Vorschläge in der entstehenden politischen Kontroverse aus. Hatte die Regierung Schröder zunächst Unterstützung für das Vorhaben signalisiert, distanzierte sie sich bereits 2000 von dem BdV-Projekt.72 Der Umstand, dass mit Peter Glotz ein prominenter Sozialdemokrat gemeinsam mit Steinbach Vorsitzender der Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« war, vermochte nicht, diese parteipolitisch geprägte Auseinandersetzung zu beruhigen. Während sich dabei alle Seiten affirmativ auf Europa bezogen, stand unausgesprochen die Frage im Raum, ob eine Europäisierung der Erinnerung an Flucht und Vertreibung in einem bloß deutschen Museumsprojekt möglich sei, oder ob es einer Kooperation mit anderen Europäern dazu bedürfe. Verstärkte mediale Aufmerksamkeit erhielt die Frage jedoch erst im Frühsommer 2003, als das für seine Polemik bekannte polnische Nachrichtenmagazin Wprost die in Polen wie auch in Deutschland nahezu unbekannte Erika Steinbach in SS-Uniform auf dem Rücken von Bundeskanzler Schröder darstellte.73 In Polen hatte zwar während der 1990er-Jahre vorsichtig eine Aufarbeitung der Vertreibungsthematik begonnen. Durch die Debatte um das Massaker von Jedwabne, bei dem im Juli 1941 die jüdische Bevölkerung einer ostpolnischen Kleinstadt von ihren polnischen Nachbarn ermordet worden war, war der Diskurs über polnische Täter jedoch hoch sensibilisiert. Wprost und andere Boulevardmedien warnten vor einer revanchistischen deutschen Geschichtsinterpretation und erneuerten die aus kommunistischer Zeit tradierte Deutung der Zwangsmigration als »gerechte Strafe«.74 Hinzu kam, dass mit der Weltkriegs und folglich der Vertreibungen verstanden wird. Vgl. dazu die Beiträge liberaler polnischer Intellektueller in der deutschen Presse: Adam Michnik, Breslau, nicht Berlin, in: Die Welt, 15. 05. 2002; »Das Berliner Zentrum wäre ein Ort des Hasses« [Interview mit Bronislaw Geremek], in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21. 09. 2003; Leszek Kołakowski, Noch einmal: Über das Schlimmste, in: Die Zeit, 18. 09. 2003. Steinbach erhielt dabei Unterstützung aus Reihen der Union, aber auch von Otto Schily, der Berlin als möglichen Ort diskutiert wissen wollte. Ein Gespräch mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, »Selbstverständlich in Berlin«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 08. 2003; Schily will Debatte über Zentrum gegen Vertreibungen, ebd., 06. 09. 2003. 72 Samuel Salzborn, Die Kontroverse über ein »Zentrum gegen Vertreibungen«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 1120 – 1130, hier S. 1122. 73 Sławomir Sieradzki, Niemiecki kon´ trojan´ski [Ein deutsches trojanisches Pferd], in: Wprost, 21. 09. 2003. Als Beispiel der deutschen Rezeption: Thomas Urban, Troja in Warschau, in: Süddeutsche Zeitung, 18. 09. 2003. 74 Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, S. 213 – 217. Die Beiträge dieser Boulevardmedien sind nicht ausschließlich national oder inhaltlich zu erklären, sondern verfolgten auch kommerzielle Interessen. Als im Herbst 2003 der Springer-Verlag die Boulevard-Zei-

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»Preußischen Treuhand« – einem privaten Verein aus dem Umfeld der Schlesischen Landsmannschaft, der privatrechtliche Entschädigungsklagen deutscher Heimatvertriebener gegenüber heutigen polnischen Hausbesitzern vertreten wollte – die Bedrohung deutscher Restitutionsansprüche eine vermeintlich reale Dimension erhielt. Diese Interaktion deutscher und polnischer Medien emotionalisierte die Debatte und bezog die beiden national gerahmten Erinnerungsdiskurse aufeinander, ohne dass es zu einem tatsächlichen Austausch von Positionen gekommen wäre.75 Die entsprechende Eigenlogik der jeweils fremden Auseinandersetzungen erschloss die Berichterstattung kaum, vielmehr diente sie nur zur Bestätigung der eigenen Position. Gerade aber vor dem Hintergrund des EU-Beitritts Polens und sieben weiterer ostmitteleuropäischer Staaten im Mai 2004 erschien Politikern und Intellektuellen eine Europäisierung der Debatte notwendig.76 So forderten Wissenschaftler aus Deutschland und Polen oft in enger Zusammenarbeit mit politischen Stiftungen eine multiperspektivische Betrachtung des Themas Zwangsmigration, die an die wissenschaftliche Kritik rein nationaler Deutungen anknüpfte. Europa stand dabei für ein aus der Addition von Nationalstaaten und ihren Perspektiven zu entwickelndes Projekt, bei dem »eine gemeinsame Betrachtung der Vertreibungen den Blick für das Leid der anderen öffnen kann«77. Parallel zu solchen Appellen trieben deutsch-polnische Regierungskonsultationen einen institutionellen Ausweg voran. Im August 2005 gründeten Polen, Ungarn, die Slowakei und Deutschland nach langen Verhandlungen das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität«, jedoch ohne Österreich und die Tschechische Republik, die ursprünglich an den Konsultationen beteiligt waren, sich aber nicht in den Gründungskonsens einfügen konnten. Im »Geist der Versöhnung« und »zur Entwicklung einer europäischen Erinnerungskultur«78 sollte das Netzwerk bereits bestehende Initiativen in den beteiligten Ländern miteinander verbinden, erwies sich jedoch in der Umsetzung nach

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tung Fakt, die sich an der deutschen Bild orientiert, auf den polnischen Markt brachte, wurde sie von der Konkurrenz als »deutsches Blatt« attackiert und begann umgehend selbst antideutsche Töne anzustimmen. Ebd., S. 111 – 138. Goschler, Versöhnung und Viktimisierung, S. 883. Arbeitspapier VI der Kopernikus-Gruppe »Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen« Handlungsempfehlungen für eine Konzeption (11. 12. 2003), http://www.deutsches-poleninstitut.de/Projekte/Projekte-Aktuell/Kopernikus-Gruppe/raport6.php (30. 09. 2013); vgl. ähnlich Bonner Erklärung, in: Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Vertreibung gesamteuropäisch erinnern. Gemeinsam – nicht getrennt!, Bonn 2007, S. 7 – 9. Absichtserklärung über die Gründung des »Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität«, 02. 02. 2005, in: Peter Haslinger/K. Erik Franzen/Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989, München 2008, S. 307 f., hier S. 307.

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erneuten politischen Querelen als »Totgeburt«79. Wissenschaftlicher Beirat und Kuratorium des Netzwerks konnten erst im Jahr 2010 die Arbeit aufnehmen, ohne bislang nachhaltige Wirkung entfaltet zu haben.80 Die Rezeption dieses erinnerungspolitischen Konflikts durch die französischen Medien zeigt jedoch,81 dass ein solcher institutioneller Vorstoß durchaus zur Transnationalisierung der Debatte beitragen konnte. Einen konkreteren Vorstoß, wie Flucht und Vertreibung erinnert werden kann, präsentierten auf diesem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwei museale Ausstellungen, die sich für kurze Zeit im Herzen von Berlin auch räumlich gegenüberstanden. Das Haus der Geschichte zeigte in seinem Bonner Stammhaus und darauf folgend im Deutschen Historischen Museum in Berlin mit »Flucht, Vertreibung, Integration« Zwangsmigration als ein europäisches Phänomen seit dem Ersten Weltkrieg. Komprimiert und mithilfe der durch das Fernsehen popularisierten Zeitzeugenvideos fand die Zwangsmigration mit der erfolgreichen Integration in die Bundesrepublik einen Fluchtpunkt. Diese positive Erzählung reduzierte die Komplexität der Auseinandersetzung mit dem Thema in der Nachkriegszeit deutlich82 und vermied vor allem »eine Engführung auf die Perspektive der Vertriebenenverbände«83, wodurch die Ausstellung sowohl in der deutschen Öffentlichkeit als auch im stark sensibilisierten Polen durchweg positiv aufgenommen wurde. Das rege Publikumsinteresse brachte sie bald als Vorbild für das geplante »Zentrum gegen Vertreibungen« ins Gespräch. Eine zeitgleich von der Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« präsentierte Ausstellung unter dem Titel »Erzwungene Wege« wählte einen deutlich anderen Zugang. Statt an individuellen Schicksalen orientierte sie sich an Opferkollektiven. Die Einreihung des deutschen Falls in Zwangsmigrationen wie diejenige 79 Stefan Troebst, Wiederbelebung einer »Totgeburt«? Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität, in: Polen-Analysen 33 (20. 05. 2008), http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen33.pdf (30. 09. 2013). Durch den Regierungswechsel in Polen im März 2006 und die ablehnende Haltung der Mitte-Rechts-Regierung unter Kazimierz Marcinkiewicz bzw. Jarosław Kacyzn´ski verliefen weitere Kooperationen im Sande. 80 Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität, Pressemitteilung: Das »Euroaäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität« hat seine Arbeit aufgenommen (18. 02. 2010), http:// www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/BKM/2010-02-18-pressemitteilung-europaeisches-netzwerk-erinnerung-und-solidaritaet.pdf ?__blob=publicationFile (30. 09. 2013). 81 Vgl. beispielsweise: Henri de Bresson, Mme Merkel discute, — Varsovie, du projet controvers¦ de Centre — la m¦moire des expuls¦s allemands, in: Le Monde, 17. 08. 2005; C¦cile Calla/C¦lia Chauffour, Projet centre sur les allemands expuls¦s d’Europe centrale, ebd., 07. 02. 2008. 82 Vgl. Franziska Augstein, Auf dem Leiterwagen, in: Süddeutsche Zeitung, 03. 12. 2005. 83 Sabine Voßkamp, Ausstellungs-Rezension zu: Flucht, Vertreibung, Integration 03. 12. 2005 – 17. 04. 2006, Bonn, in: H-Soz-u-Kult (18. 03. 2006), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ rezensionen/id=35& type=rezausstellungen (30. 09. 2013). Zur Ausstellungskonzeption: Hermann Schäfer, Zur Ausstellung »Flucht, Vertreibung, Integration«, in: Petra Rösgen (Hrsg.), Flucht, Vertreibung, Integration, Bonn 2006, S. 7 – 13.

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der Armenier im Ersten Weltkrieg bis zu derjenigen der Bewohner von BosnienHerzegowina in den Jugoslawien-Kriegen verurteilte Gewalt als Mittel der Bevölkerungspolitik ganz allgemein, ohne jedoch zu erklären, wie aus einem anerkannten Mittel des Völkerrechts ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde. Nicht die Integration der Opfer, sondern ihre fortwährende Traumatisierung und die Wiederholbarkeit dieses Leids standen hier im Fokus des Ausstellungsnarratives.84 Diese Abstraktion ließ eine übergreifende Aussage der Ausstellung nur schwer erkennen85 und einigen Interpretationsraum offen. Die ungewichtete Zusammenstellung menschlicher Tragödien bekräftigte in ihrer Universalisierung von Sachgeschichte damit letztlich nur eine innerdeutsche Betrachtung deutschen Leids. Europa war also, anders als in der Bonner Ausstellung, nicht Fluchtpunkt von Erinnerung, sondern nur ihr Gegenstand. Im Kontext dieses neuen Interesses an Flucht und Vertreibung ergriffen immer wieder Historiker das Wort und engagierten sich nicht nur als Fachleute, sondern bezogen pointierte Positionen. Deutsche und polnische Historiker mit einem Schwerpunkt auf Ostmitteleuropa versuchten beispielsweise, die kontroverse und emotionalisierte Debatte zu versachlichen.86 Sie übertrugen dabei das Modell eines inhaltlichen und institutionalisierten wissenschaftlichen Dialogs auf den Bereich der Gedenkstätten- und Museumspolitik.87 Konträr zu dieser wissenschaftlichen Gemeinschaft profilierten sich besonders zwei deutsche Historiker, Andreas Kossert und Manfred Kittel, mit affirmativen Publikationen im Sinne des vom BdV geplanten »Zentrums gegen Vertreibungen«. Kittel überspitzte den seit den 1970er-Jahren von Vertriebenenvertretern geäußerten Vorwurf einer Tabuisierung der Vertreibung durch die deutsche Linke prägnant als zweite, nun erinnerungspolitische »Vertreibung der Vertriebe-

84 Joachim von Puttkamer, Irrwege des Erinnerns. Die Ausstellung »Erzwungene Wege« im Berliner Kronprinzenpalais, in: Monika Gibas/Rüdiger Stutz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Couragierte Wissenschaft. Eine Festschrift für Jürgen John zum 65. Geburtstag, Jena 2007, S. 174 – 190, hier S. 179 f.; Michael Wildt, »Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts«, Kronprinzenpalais Berlin. Bilder einer Ausstellung, in: Historische Anthropologie 15 (2007), H. 2, S. 281 – 295, hier S. 290. 85 Marcus Sander, Alle Opfer sind gleich – manche sind gleicher, in: Stuttgarter Zeitung, 17.08.2006. Vgl. darüber hinaus: Pressestimmen zur Ausstellung »Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts« (07. 09. 2006), http://www.zeithistorische-forschungen.de/portals/_rainbow/documents/pdf/presse_erzwungene_wege.pdf (30. 09. 2013). 86 Philipp Ther, Der Diskurs um die Vertreibung und die Falle der Erinnerung, in: Thomas Strobel/Robert Maier (Hrsg.), Das Thema Vertreibung und die deutsch-polnischen Beziehungen in Forschung, Unterricht und Politik, Hannover 2008, S. 29 – 48, hier S. 29. Vor allem Dieter Bingen, Włodzimierz Borodziej, Stefan Troebst und Krzysztof Ruchniewicz, die jeweils international ausgerichteten Forschungsinstituten vorstehen, traten in der Debatte immer wieder hervor. 87 Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, S. 179 f.

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nen«.88 Seit den 1960er-Jahren habe die öffentliche Bedeutung der Vertreibungserinnerung in der Bundesrepublik also nicht nur abgenommen, sie sei gezielt und zugunsten der Neuen Ostpolitik ausgegrenzt worden. Kossert wiederum, der mit zahlreichen Publikationen zu Ostpreußen und Masuren bekannt wurde, warnte davor, dass eine unzureichende Erinnerung an Flucht und Vertreibung das »reiche kulturelle Erbe des historischen deutschen Ostens« verloren gehen ließe und letztlich »unser [das deutsche, G.F.] kollektives Gedächtnis […] verkümmern« würde.89 Mit institutioneller Unterstützung – Kittels Buch erschien in der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, deren Redakteur er zum Erscheinungstermin war, und Kosserts Buch wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung in einer günstigen Lizenzausgabe aufgelegt – pointierten beide Autoren das zentrale Argument Erika Steinbachs, demzufolge die deutsche Erinnerung an Flucht und Vertreibung dem Schicksal der Vertriebenen nicht gerecht werde. Vor allem untermauern ihre Darstellungen die verbreitete Annahme, dass es sich bei den Vertriebenen um eine soziale Gruppe handele, die eine Repräsentation benötige und sie im BdV habe. Unter Auslassung der Erkenntnisse – nicht erst neuerer Forschungen – zur Unterscheidung vormoderner und moderner Nationen, suggeriert Kosserts Affirmation eines deutschen Ostens eine essenzielle Kontinuität dieser Raumvorstellung. Ähnlich motivierte Kittel seine Kritik am Verschwinden der »deutschen Ostsiedlung« aus dem schulischen Geschichtsunterricht.90 Diese Argumentation rekurriert inhaltlich, ohne es auszuformulieren, auf nationalbewegte Interpretationsmuster, die bis mindestens in die 1960er-Jahre zum argumentativen Repertoire der Vertriebenenverbände gehörten und unter Erika Steinbach unterschwellig eine Aufwertung erfuhren.91 Auch unter den disparaten Kritikern des Zentrum-Projekts ist eine solche engagierte Positionierung verbreitet. Die ausführliche und oft als Quellencollage daherkommende Dokumentation »Vertreibung im deutschen Erinnern« des 88 Kittel bezog sich dabei zumeist auf Aussagen von Vertriebenenfunktionären, die er als Bestätigung seiner These heranzog. Vgl. bspw. die Darstellung der bereits erwähnten TVDokumentation der frühen 1980er-Jahre und deren vermeintliche Überwindung eines Tabus. Kittel, Vertreibung der Vertriebenen, S. 159 – 161. 89 Kossert, Kalte Heimat, S. 336. 90 Kittel, Vertreibung der Vertriebenen, S. 135, S. 175 und S. 182. 91 Steinbach plante 2008 an der Universität Potsdam eine Vortragsreihe zur deutschen Ostsiedlung, die nach Protesten von Studierenden abgesagt wurde. Vgl. Erika Steinbach sagt Vortragsreihe ab (03. 06. 2008), http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/uni-potsdamerika-steinbach-sagt-vortragsreihe-ab-a-557467.html (30. 09. 2013). Die Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« eröffnete 2009 eine Ausstellung unter dem Titel »Die Gerufenen« zu »800 Jahren deutschen Lebens in Mittel- und Osteuropa«. Vgl. zur Ausstellung die offizielle Homepage des Projekts: http://www.ausstellung-diegerufenen.de (30. 09. 2013).

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Forscherehepaars Eva und Hans Henning Hahn beispielsweise ist zumindest in langen Passagen eine »Streitschrift«92, die keineswegs mit harscher oder polemischer Kritik spart. In Polen attackierten rechtskonservative Historiker, die das Projekt einer neuen, national orientierten polnischen Geschichtspolitik vorantrieben, ihre dialogbereiten vermeintlich linken oder liberalen Kollegen und stellten jede Differenzierung von Flucht und Vertreibung als nationale Unzuverlässigkeit dar.93 In dieser innerpolnischen Konfliktstellung diffamierten sie eine Europäisierung oder Kosmopolitisierung der Vertreibungserinnerung als Unterstützung einer revanchistischen, deutschen Geschichtsinterpretation, die den Verlust polnischer Wahrheit bedeute. Solche politisierten Argumentationen sind letztlich für eine vielfältig aufgeladene Historikerkontroverse nicht untypisch, sie bringen aber die Forschung zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung kaum weiter.94 Methodisch gewendet, wird an diesen Beispielen engagierter Wissenschaft das in der Einleitung dieses Bandes formulierte Postulat einer selbstreflexiven Erinnerungsforschung zwingend. Die oben genannten Akteure, die sich implizit oder explizit als Erinnerungsforscher begreifen, verhandeln nämlich ohne eine solche reflexive Distanzierung politische, nationale und europäische Identitäten, die sie mit spezifischen und vermeintlich wahren Deutungen von Flucht und Vertreibung motivieren.

92 So wörtlich: Maren Röger, Rezension zu: Eva Hahn/Hans Henning Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden Mythos Geschichte, Paderborn u. a. 2010, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 60 (2011), S. 114 – 116; Winfried Halder, Ein schiefes Bild?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 09. 2011; in der Beurteilung ähnlich Mathias Beer, Rezension zu: Hahn, Hans Henning/Hahn, Eva, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010, in: H-Soz-u-Kult (03. 06. 2011), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011 – 2 – 182 (30. 09. 2013). 93 Neben Marek A. Cichocki, einem Berater des polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczyn´ski, profilierten sich hier besonders der in Bremen lehrende Soziologe Zdzisław Krasnode˛bski und Dariusz Gawin, stellvertretender Direktor des Museums für den Warschauer Aufstand. Dariusz Gawin, Pamie˛c´ i odpowiedzialnos´c´ [Erinnerung und Verantwortung], Krakau 2005; Marek A. Cichocki/Piotr Kosiewski, Pamie˛c´ jako przedmiot władzy [Erinnerung als Objekt der Macht], Warschau 2008. Vgl. zu den Hintergründen dieser neueren polnischen Geschichtspolitik: Katrin Steffen, Ambivalenzen des affirmativen Patriotismus. Geschichtspolitik in Polen, in: Osteuropa 56 (2006), H. 11/12, S. 219 – 233. 94 Auf den geringen Erkenntnisgewinn solcher Kontroversen hat die Zeitgeschichtsforschung hingewiesen. Vgl. Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht, Einleitung: Zeitgeschichte als Streitgeschichte, in: Dies. (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, S. 9 – 18, hier S. 14.

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Ein »sichtbares Zeichen« als Ausweg? Solche Kontroversen zwischen Politikern und Wissenschaftlern zeigen deutlich, wie umstritten die Deutung von Flucht und Vertreibung auch 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war. Das Vorhaben einer musealen Gedenkstätte für Flucht und Vertreibung blieb weiterhin Maßstab einer angemessenen und umfassenden Erinnerung. Als die Bundesregierung im Dezember 2008 die unselbstständige Bundesstiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« gründete, sollte diese den unterschiedlichen Auffassungen einer solchen Erinnerung gerecht werden und ein »sichtbares Zeichen«95 in Berlin setzen. So summierte die dem Deutschen Historischen Museum in Berlin angegliederte Stiftung in ihrer Zielsetzung die im Verlauf der Debatte erhobenen Forderungen und griff dabei besonders Inhalte des BdV und Erika Steinbachs auf. Es sollte nicht nur Flucht und Vertreibung als Thema in Kontexten europäischer Vertreibungen dargestellt werden, sondern auch, »wie sehr der europäische Gedanke die Bereitschaft der deutschen Vertriebenen wie der Stiftung ›Zentrum gegen Vertreibungen‹ zu Versöhnung mit den Nachbarvölkern und zur Integration bestimmt hat«.96 Problematischer war die Besetzung des Stiftungsrates und des wissenschaftlichen Beraterkreises. In einer stark symbolisch aufgeladenen Kontroverse reduzierte sich die Bewertung des Vorhabens allzu oft auf die Beteiligung der Vorsitzenden des BdV als Symbolfigur des wechselseitigen deutsch-polnischen Unverständnisses, während zudem immer wieder Mitglieder der verschiedenen Gremien zurücktraten. Steinbach verzichtete schließlich auf einen Sitz im Stiftungsrat.97 Nachdem auch zwei Jahre nach Gründung der Stiftung kein Konzept einer Ausstellung vorlag und die öffentlichen Auseinandersetzungen um das Projekt weiterhin schwelten, veröffentlichten im September 2010 sieben deutsche Historiker aus dem Umfeld der »Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowaki95 So die Kompromissformel im Koalitionsvertrag der Großen Koalition: Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (11. 11. 2005), http://www.cducsu.de/upload/koavertrag0509.pdf (30. 09. 2013), S. 114. 96 Alle Zitate nach: Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien (19. 03. 2008), »Sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung« Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum in Berlin, http://www.sfvv.de/sites/default/files/downloads/konzeption_bundesregierung_2008_sfvv.pdf (30. 09. 2013). 97 Missverständliche, bewusst unklare oder gar offen revisionistische Äußerungen von Verbandsvertretern weckten darüber hinaus im In- und Ausland erhebliches Misstrauen. So behauptete Erika Steinbach 2000: »In Polen, in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien gab es Zwangsarbeits- und Vernichtungslager für Millionen von Deutschen.« Dies., Das Leid von 15 Millionen vertriebenen Deutschen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08. 05. 2000. Hartmut Saenger, designierter Vertreter des BdV im Stiftungsrat, zweifelte offen an der deutschen Kriegsschuld am Zweiten Weltkrieg. Vgl. Franziska Augstein, Versöhnen oder verhöhnen, in: Süddeutsche Zeitung, 31. 07. 2010.

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schen Historikerkommission« Überlegungen zu einer Ausstellungskonzeption. Sie schlugen eine multiperspektivische Betrachtung vor, die an drei städtischen Räumen Flucht und Vertreibung exemplifizieren sollte, und warnten ausdrücklich vor Verallgemeinerungen und einem bloßen Nebeneinander der Vertreibung der Deutschen mit anderen Vertreibungen oder dem Holocaust.98 Unter Wissenschaftlern wie auch in der Presse wurde der Vorschlag unterschiedlich aufgegriffen, was nur zeigte, wie unterschiedlich die Erwartungshaltungen gegenüber einer solchen Ausstellung waren.99 Erst im September 2012 legte die Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« ein eigenes, erkennbar von Vorsicht geprägtes Konzept vor. Mit seinem Ausgleich zwischen innerdeutscher und gesamteuropäischer Perspektive schloss es Flucht und Vertreibung mit einem Ausblick auf die Gegenwart und der Suche nach einer »Europäischen Erinnerungskultur« ab.100 Trotz aller medialen Auseinandersetzungen im Vorfeld fand dieses Konzept praktisch keine öffentliche Würdigung. Bei allen Widerständen in den vergangenen Jahren scheint das Thema eine gewisse Beruhigung gefunden zu haben.

Schlussbetrachtung: Flucht und Vertreibung und die Heterogenität Europas Wie auch die deutende Aneignung von Flucht und Vertreibung folgt die Chiffre Europa in dieser Erinnerung Konjunkturen. Während Europa keine Kategorie der Erfahrung von Zwangsmigration war, stellten Referenzen auf Europa die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in der Folge immer wieder in einen Bezug zu anderen Erinnerungsgeschichten. Die Charta der deutschen Heimatvertrie98 Martin Schulze Wessel/K. Erik Franzen/Claudia Kraft/Stefanie Schüler-Springorum/Tim Völkering/Volker Zimmermann/Martin Zückert, Konzeptionelle Überlegungen für die Ausstellungen der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung« (2010), http://www.hsozkult.de/daten/2010/Konzeptpapier_Vertreibungen_ausstellen_Aber_wie.pdf (30. 09. 2013). 99 Die Internetplattform H-Soz-u-Kult richtete ein Diskussionsforum ein, an dem sich deutsche und internationale Historiker beteiligten, die zumeist schon zuvor an der Debatte teilgenommen hatten. Vgl. Forum: Vertreibungen ausstellen. Aber wie? Debatte über die konzeptionellen Grundzüge der Ausstellungen der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (09. 09. 2010 – 18. 10. 2010), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?pn= texte& id=1350 (30. 09. 2013). Die Debatte zeigte bei vielerlei verschiedenen Verweisen auf den Forschungsstand, dass keineswegs unstrittig ist, ob die Zwangsmigration der Deutschen infolge des Zweiten Weltkrieges in die Geschichte von Zwangsmigrationen, in die Nationalismusforschung oder in eine Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert eingeordnet werden müsse. 100 Konzeption für die Arbeit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und Leitlinien für die geplante Dauerausstellung (29. 08. 2012), http://sfvv.de/sites/default/files/downloads/ konzeption_2012_sfvv.pdf (30. 09. 2013).

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ben aus dem Jahr 1950 verwies auf Europa als Raum einer zukünftigen Bewältigung der Zwangsmigration. Dennoch waren Europa und auch der immer wieder angeführte Gewaltverzicht der Vertriebenen nur Beiwerk eines Strebens nach Anerkennung und Teilhabe innerhalb der Bundesrepublik. Das Europa der Charta überschnitt sich inhaltlich mit dem Abendland als Exponent konservativer und antimoderner Diskurse dieser Zeit. Es gewann nur in seiner Verneinung Bedeutung, indem die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa als Angriff auf das Abendland und Europa gedeutet wurde. Flucht und Vertreibung blieb eine innerdeutsche Frage, die sich zwar auf die Außenpolitik und die Beziehungen zu den Ländern Osteuropas auswirkte, aber kein europäisches Handeln evozierte. Dies änderte sich mit der Debatte um ein »Zentrum gegen Vertreibungen«, in der Europa so allgegenwärtig wie bedeutungsoffen blieb. Für das vom BdV vertretene Zentrumsprojekt diente die Europasemantik als Legitimation einer innerdeutschen Betrachtung, die Zwangsmigration auf die gewaltsame Vertreibung aus der Heimat reduzierte. Folgerichtig musste auch die Charta selbst zum Gründungsdokument einer schon immer europäischen Erinnerung an Flucht und Vertreibung stilisiert werden, wie die eingangs zitierte Bundestagsinitiative illustriert.101 In diesem selbstreferenziellen Opferdiskurs bildete Europa weiterhin eine bloße Chiffre, welche die Interpretamente des Flüchtlingsdiskurses in der frühen Bundesrepublik reaktualisierte.102 In Anlehnung an die HolocaustErinnerung banden diese in den letzten Jahren erneuerten Deutungen zunehmend individuelle Schicksale in eine Opfererzählung ein und forderten ihre Aufbereitung für künftige Generationen. Diese Adaption von Holocaust-Deutungsmustern leitete aus Flucht und Vertreibung reflexiv einen universellen moralischen Imperativ für die eigene Gegenwart ab, ächtete also Zwangsmigration im Allgemeinen aus der Anschauung des deutschen Beispiels heraus. Auch die unterschiedlichen Kritiker des BdV-Vorhabens führten wiederholt eine notwendige Europäisierung dieser Erinnerung an, ohne aber Einigkeit darüber erzielt zu haben, ob Europa hier als postnationaler, homogener Erinnerungsrahmen für einen von nationalen Erfahrungen geprägten Gegenstand dient oder eine Anerkennung dieser heterogenen Erfahrungen meint.103 Der Ansatz, wissenschaftliche Multiperspektivität in öffentliche Erinnerung zu übersetzen, kann als Versuch verstanden werden, moralische Universalität mit 101 Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig u. a., S. 4. 102 Vgl. eine kritische Erklärung von Fachhistorikern zum Bundestagsbeschluss: Erklärung zum Beschluss des Bundestages »60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden« (16. 02. 2011), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/ id=1468& type=diskussionen (30. 09. 2013). Auch ich habe diese Erklärung nach ihrer Erstveröffentlichung unterzeichnet. 103 Vgl. dazu die Einleitung dieses Bandes, S. 13.

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erinnernder Heterogenität zu verbinden. Europa fungiert hier als institutionalisierte und vorweggenommene Verkörperung des anderen Erinnernden und seiner Deutungen. Betrachtet man die erheblichen Kontroversen, die das Vorhaben eines »Zentrums gegen Vertreibungen« allein in Deutschland ausgelöst hat, wird deutlich, dass die Erinnerung an Flucht und Vertreibung keine eindeutigen Hegemonien kennt, ebenso wenig wirksame Tabus. Funktionierte sie in der frühen Bundesrepublik als »integrationistischer Opferdiskurs«104, konnte diese Bedeutung trotz einiger Anknüpfungsversuche an die universalisierte Deutung des Holocaust nicht in eine europäisierte Erinnerung übertragen werden.

104 Goschler, Versöhnung und Viktimisierung, S. 874.

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Der Warschauer Aufstand im Ringen um europäische Identität1

Im heutigen polnischen Erinnerungsdiskurs ist der Warschauer Aufstand ein Schlüsselthema und bietet ein herausragendes Beispiel für den gegenwärtigen memory boom in Ostmitteleuropa. Sowohl Vergessen als auch Gedenken prägen den öffentlichen Umgang mit diesem zentralen Ereignis der polnischen Geschichte, das heute vor allem als Prüfstein politischer Identitäten gilt. »Sag mir, was du über den Warschauer Aufstand denkst, und ich sage dir, wer du bist…«, könnte als Motto des gegenwärtigen Diskurses in Polen dienen. Die Erinnerung an den Warschauer Aufstand formt auch die Haltung gegenüber der europäischen Integration. Grundlegend lassen sich zwei Deutungsmuster beobachten: der Warschauer Aufstand als vergangener heroischer Kampf Polens oder als zukünftiger Teil einer europäischen Identität. Kurz nach dem 60. Jahrestag des Aufstandes im August 2004, veröffentlichte die Gazeta Wyborcza, eine der führenden polnischen Tageszeitungen links-liberaler Prägung, einen Artikel mit dem Titel Powstanie Europy. Die Überschrift spielt mit der doppelten Bedeutung des Wortes »powstanie«, das sowohl für einen »Aufstand« Europas als auch für seine »Entstehung« stehen kann. Das Wortspiel ist in diesem Fall mehr als ein geistreicher Einfall, denn es zeigt eine wichtige strukturelle Parallele zwischen zwei scheinbar unzusammenhängenden Ereignissen des Jahres 2004. Einerseits trat Polen nach langen und komplizierten Verhandlungen, großangelegten Informationskampagnen und einem landesweiten Referendum am 1. Mai der Europäischen Union bei. Andererseits gedachte die polnische Nation genau drei Monate später des 60. Jahrestags des Warschauer Aufstandes. Paweł Wron´ski, Autor des besagten Artikels, verbindet die politische Vorstellung des vereinten Europas mit derjenigen des heroischen Kampfs von 1944: »Wenn Europa seine historische Identität sucht, dann kann es sie an der Weichsel finden, in der Symbolik des Warschauer Aufstandes. 1944 traten junge Menschen den 1 Übersetzung aus dem Englischen und Polnischen durch die Herausgeber in Zusammenarbeit mit dem Autor.

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zwei Totalitarismen entgegen im Zeichen des Freiheitskampfes. Im Namen der Idee, die das moderne Europa schuf.«2

Mit Bezug auf den Totalitarismus und seine Abwehr scheint die Verbindung des Warschauer Aufstandes mit Europa offensichtlich. Der gemeinsame Nenner dieser Analogie ist die Freiheit, ein Wert, den sowohl die Aufständischen 1944 als auch die Gründer des Europas der Sechs teilten. Eine genauere Lektüre des Artikels macht jedoch deutlich, dass diese beiden Ereignisse noch mehr gemeinsam haben. Die Erinnerung an den Warschauer Aufstand wurde lange unterdrückt, zunächst von der kommunistischen Propaganda, später durch die demokratische Fortschrittsverheißung der politischen Transformation, die stärker auf wirtschaftliche Entwicklung als auf historische Wurzeln abzielte. Wron´ski argumentiert, dass die Arbeit an einer gemeinsamen Erinnerung gleichermaßen ein Schlüssel zu einer Wiederentdeckung des Aufstandes und einer Versöhnung in Europa sei. Der Warschauer Aufstand könne also, obwohl er ein blutiger Konflikt mit beinahe 200.000 Toten war, als Quelle einer neuen, proeuropäischen polnischen Identität dienen.3 Gleichzeitig erblicken auch konservative Intellektuelle im Warschauer Aufstand die Keimzelle einer neuen europäischen Identität: Nicht Polen habe Europa vergessen, sondern vielmehr seien es die westlichen Alliierten gewesen, die Polen im Konflikt zwischen zwei totalitären Mächten alleingelassen hätten. Der Aufstand dient somit als Symbol eines gleichsam »postkolonialen« Verlassenseins, an dem Polen zusammen mit anderen ostmitteleuropäischen Ländern leide.4 Die beabsichtigte Wiedergutmachung durch eine Anerkennung des Warschauer Aufstandes innerhalb europäischer Erinnerung kann demnach als Versuch interpretiert werden, die ursprüngliche Aufgabe Polens durch die westlichen Alliierten im Zweiten Weltkrieg und der Neuordnung Europas ungeschehen zu machen. Auch Wron´ski versteht dies offen als eine Art der »Umkehrung« des historischen Prozesses selbst und stellt dem 60. Jahrestag des Aufstandes die EU-Erweiterung von 2004 als ein »umgekehrtes Jalta« gegenüber :5 2 Paweł Wron´ski, Powstanie Europy [Ein Aufstand Europas/Die Entstehung Europas], in: Gazeta Wyborcza, 04. 09. 2004. 3 Ebd. 4 Einflussreichstes Beispiel der Anwendung postkolonialer Theorie auf Polen ist sicherlich Maria Janion, Niesamowita słowian´szczyzna. Fantazmaty literatury [Unglaubliche slawische Länder. Phantasmen der Literatur], Krakau 2007, sowie dies., Do Europy tak, ale razem z naszymi umarłymi [Nach Europa ja, aber gemeinsam mit unseren Toten], Warschau 2000. 5 Jalta steht in der polnischen Erinnerung als Symbol für den Verrat des Westens an Polen und wurde zu einem »Gründungsmythos der ›Unbeugsamen‹ unter den polnischen Emigranten« und in der Volksrepublik Polen. Vgl. Włodzimierz Borodziej, Versailles und Jalta und Potsdam. Wie Deutsch-Polnisches zu Weltgeschichte wurde, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte 3, Paderborn 2012, S. 360 – 380, hier S. 368 f.

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»Das vereinte Europa entstand, damit es nie wieder zu einem solchen Krieg wie dem 1939 entfesselten kommen konnte. Im Jahr 1944 erhoben sich in Warschau 50.000 junge Menschen zum Kampf gegen die größte Bedrohung der europäischen Freiheit. […] In welcher anderen europäischen Hauptstadt geschah etwas mit einer ähnlich großen symbolischen Aufladung wie beim Warschauer Aufstand?«6

Die kurze Analyse dieses Zeitungsartikels zeigt bereits zentrale Erinnerungsfiguren auf, die sowohl die Erinnerung an den Warschauer Aufstand als auch die polnische Wahrnehmung der EU-Erweiterung strukturieren. Erstens stilisiert sich Polen in der Spiegelung des Warschauer Aufstandes 1944 als Bastion europäischer Werte. Das heroische Martyrium der sich für den Kampf entscheidenden Jugend nimmt dabei auf die Vorstellung des Bollwerks Bezug, die bereits seit dem 17. Jahrhundert in der polnischen Kultur weit verbreitet war und durch den romantischen Messianismus verstärkt wurde.7 Die zweite Erinnerungsfigur markiert die Spannung zwischen einem retrospektiven und einem progressiven Geschichtsmodell, die sich in der polnischen kollektiven Vorstellungswelt als »Trauerzug« und »langer Marsch« niederschlagen. Obwohl der »Trauerzug« sich vorwärts bewegt, gilt seine Aufmerksamkeit der Vergangenheit. Der »lange Marsch« hingegen ist der Zukunft zugewandt. Er lässt die Vergangenheit, wie traumatisch auch immer sie gewesen sein mag, zurück. Diese beiden Geschichtsbilder korrelieren mit einer vergangenheits- oder zukunftsorientierten Vision von Europa, die sich entweder auf gemeinsame Wurzeln oder auf gemeinsame Ziele bezieht. Das dritte Deutungsmuster liegt in der Spannung zwischen einer exklusiven und inklusiven Vision von Europa, die den Warschauer Aufstand den Konferenzen von Jalta und Teheran gegenüberstellt. Der folgende Beitrag untersucht in diachroner Perspektive anhand von Bildern und Metaphern, wie das kollektive Erinnern an den Warschauer Aufstand zu einer wichtigen Figur der öffentlichen Wahrnehmung wurde, in der sich auch gegenwärtige politische Sympathien und Überzeugungen ausdrücken. Dadurch lässt sich zeigen, wie sich die Deutung durch unterschiedliche Akteure im Laufe der Zeit veränderte und so eine »Erinnerungsgeschichte« konstituiert.

6 Paweł Wron´ski, Powstanie Europy. 7 Zur antemurale christianitatis als grundständige Metapher polnischer Sinnwelten s. Jadwiga Krzyzaniakowa, Poland and »Antemurale Christianitatis«. The Political and Ideological Foundations of the Idea, in: Polish Western Affairs 33, (1992), H. 2, S. 3 – 25. Vgl. dazu ebenfalls die Fallstudie von Simon Hadler in diesem Band.

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Zentrale Erinnerungsfiguren seit 1944 Bereits während des Warschauer Aufstandes schrieben die Aufständischen ihrem Handeln eine europäische Dimension zu. Sie waren sich bewusst, dass ihr Unternehmen nicht nur von eigener Stärke und Mut abhing, sondern vor allem von der komplexen politischen Situation zwischen Polen, dem nationalsozialistischen Deutschland, der Sowjetunion und den westlichen Alliierten. Zum Verständnis dieser ersten Deutung und seiner öffentlichen Erinnerung ist ein eingehenderer Blick auf die politische Landkarte, auf die Dynamik des sowjetischen Vorstoßes nach Westen sowie auf die polnische Erwartung einer Wiederholung des Sieges in der Schlacht von Warschau 1920 notwendig. Obwohl der Warschauer Aufstand 1944 eine Erhebung gegen die deutsche Besatzung war, stellte er gleichzeitig eine Machtdemonstration gegenüber der näher rückenden Roten Armee und deren Ambitionen eines weiteren Vorstoßes nach Westen dar.8 Wie bereits 1939 stand der polnische Widerstand in dieser Situation vor der Entscheidung, die ankommenden sowjetischen Truppen als Verbündete oder als Feinde zu behandeln.9 Ersteres erschien vor dem Hintergrund der sowjetischen Invasion 1939 und des Massakers von Katyn´ unmöglich; die zweite Option wäre einem diplomatischen Selbstmord gleichgekommen, da der weitere Kriegserfolg wesentlich von der Sowjetunion abhing und für die britische und amerikanische Außenpolitik die Einheit der Alliierten entscheidend war. Dementsprechend bewegten sich die Planungen des polnischen Untergrunds für die sogenannte Aktion »Burza« [Sturm] zwischen diesen beiden Optionen. Die Soldaten der polnischen Heimatarmee sollten unabhängig gegen die Deutschen vorgehen – ohne sich gegenüber der Roten Armee feindselig zu verhalten –, sich aber ebenso wenig ihrem Kommando unterwerfen.10 Welche Vorstellung der polnische Untergrund während der ersten Tage des Aufstandes von Europa hatte, lässt sich anhand seiner Presseorgane zeigen. Zygmunt Zaremba, eine der Führungsfiguren der moskaukritischen Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), betonte in einer Mischung aus politischem Realismus und national-romantischen Anklängen die Opferbereitschaft der polnischen Nation, die ihr Schicksal selbst gestalten wolle und der Welt zeige, »dass 8 Vgl. Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, New York 2010, bes. Kap. 4 »Molotov-Ribbentrop Europe«; Jerzy Łojek, Agresja 17 wrzes´nia. Studium aspektûw politycznych [Die Aggression vom 17. September. Ein Studie zu ihren politischen Aspekten], Krakau 1990. 9 Beim Einmarsch sowjetischer Truppen am 17. September 1939 war vielen polnischen Kommandeuren die Intention der sowjetischen Truppen unklar. Kampfhandlungen einzugehen war ihnen untersagt. Ebd, S. 107. 10 Jan M. Ciechanowski, Powstanie Warszawskie. Zarys podłoz˙a politycznego i dyplomatycznego [Warschauer Aufstand. Politische und diplomatische Grundlagen], Warschau 1984, S. 203 – 206.

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auf dem Fleck, der auf der Karte Europas als Polen bezeichnet wird, eine Nation lebt, die sich ihre Existenz und ihre Freiheit zu allererst selbst verdanken will.«11 In dieser Zeit befürchteten viele polnische Kommentatoren, dass auch das bevorstehende Kriegsende die Knechtschaft nicht beenden würde. Der Sieg über Polen 1939, so Zaremba prophetisch, habe eine neue Periode des Imperialismus eingeläutet, eine Epoche, die Europa erneut in Einflusszonen aufteile.12 Für viele Aufständische war die Erhebung dagegen von der romantischen Idee nationaler Selbstbestimmung geleitet und eine weitere Manifestation des Bollwerks. So sollte ihr Kampf gegen den deutschen Besatzer gleichermaßen die Sowjetunion aufhalten und polnische Souveränität demonstrieren, indem man die Hauptstadt selbstständig befreite. Wenn sich in den Selbstzeugnissen der Überlebenden oftmals die Überzeugung widerspiegelt, es sei »richtig [gewesen] zu sterben«, so muss der Aufstand als Teil eines größeren Wertesystems betrachtet werden.13 Zu seinem Referenzpunkt wurde der polnisch-sowjetische Krieg von 1919 bis 1921, der auch das Verständnis von Verbündeten und Feinden, Werten und Gegenwerten definierte. Der gleichen Rhetorik des Bollwerks bedienten sich allerdings auch die Nationalsozialisten. Noch Ende Juli 1944 unternahm die nationalsozialistische Propaganda große Anstrengungen, die polnische Bevölkerung gegen die nahenden Sowjets zu mobilisieren und verwies auf das Massaker von Katyn´. Gleichzeitig riefen die Nazis mit derselben Propaganda deutsche Staatsbürger zum Kampf gegen die Alliierten als vom Osten herannahende »bolschewistischen Horden« auf14 und versuchten, auch die polnische Bevölkerung von der Teilnahme oder Unterstützung des Aufstandes abzuhalten. So lastete das auf Polnisch erscheinende deutsche Propagandablatt Nowy Kurier Warszawski [Neuer Warschauer Kurier] die Verantwortung für die Massaker an Zivilisten der britischen und sowjetischen Führung an.15 11 Marcin [= Zygmunt Zaremba], Omyłka Churchilla [Der Irrtum Churchills], in: Robotnik [Warschau], 04. 08. 1944, abgedruckt in: Ders., »Z˙eby chociaz˙ s´wiat wiedział« [»Damit die Welt es dennoch weiß«], Warschau 2010, S. 123. 12 Ders., Znaczenie naszego Powstania [Die Bedeutung unseres Aufstandes], in: Robotnik [Warschau], 05. 08. 1944, abgedruckt ebd., S. 124. 13 Vgl. beispielsweise die im Archiv für Oral History des Museum des Warschauer Aufstandes gesammelten Zeitzeugenaussagen. S. ahm.1944.pl (30. 09. 2013). 14 Vgl. Sebastian Fikus, Powstanie Warszawskie jako obiekt propagandowych manipulacji prasy niemieckiej [Der Warschauer Aufstand als Objekt der propagandistischen Manipulation der deutschen Presse], in: Marian Arek Drozdowski (Hrsg.), Mie˛dzynarodowe aspekty Powstania Warszawskiego w 1944 roku [Internationale Aspekte des Warschauer Aufstandes im Jahr 1944], Warschau 2004, S. 18 – 34; Oliver Samson, Niemiecka propaganda zagraniczna. Staranie o zawia˛zanie antybolszewickiego frontu [Deutsche Auslandspropaganda. Bemühungen zur Schaffung einer antibolschewistischen Front], in: Bernd Martin/ Stanisława Lewandowska (Hrsg.), Powstanie Warszawskie 1944 [Warschauer Aufstand 1944], Warschau 1999, S. 241 – 249. 15 Kto ponosi wine˛ ? Na marginesie ne˛dzy uchodz´cûw z Warszawy [Wer trägt die Schuld?

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In diesem manichäischen Europabild der Nazipropaganda bildete der Aufstand nur den »letzten Akt des Hochverrats«, in dessen Rahmen Churchill Stalin bei der Liquidierung der polnischen Patrioten half.16 Aus Sicht der Aufständischen wurden dagegen kontinuierlich europäische Werte verteidigt, die von äußeren Feinden bedroht wurden. Folglich stand auf dem Spiel, ob man Teil einer imagined community gemeinsamer historischer Werte bleiben würde. Wie auch im Mythos des Wunders an der Weichsel17 von 1920 wurde die Sowjetunion als barbarisches Imperium betrachtet, das den europäischen Normen und Werten feindlich gegenüberstand. Folgt man dagegen der kommunistischen Propaganda im Nachkriegspolen, besiegte die Rote Armee nicht nur die deutschen Gegner oder befreite die polnischen Verbündeten, sondern wichtiger noch: Sie trieb in ihrem »langen Marsch« die Weltrevolution voran.18 In Anbetracht der Tatsache, dass sowjetische Truppen aus einmal besetztem Gebiet nicht mehr zurückwichen, schuf ihr Vormarsch eine neue Wirklichkeit in Europa. Für Polen bedeutete dementsprechend die Befreiung eine neue Besatzung. Am 21. Juli 1944 gründete eine Gruppe polnischer Kommunisten im Gefolge der Roten Armee das Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego [Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung], einen prosowjetischen Gegenspieler zur Londoner Exilregierung. Am 25. Juli erreichte die weißrussische Frontlinie der Roten Armee bei De˛blin die Weichsel. Zwei Tage später wurde sie von der sogenannten Berling-Armee verstärkt, einer Nebenbei bemerkt zum Elend der Flüchtlinge aus Warschau], in: Nowy Kurier Warszawski, 15. 08. 1944. 16 O. V., Ostatni akt zdrady. Churchill pomaga Kremlowi w likwidacji londyn´skich Polakûw na emigracji [Letzter Akt des Verrats. Churchill hilft dem Kreml bei der Liquidierung der Londoner Polen in der Emigration], in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 05. 08. 1944, abgedruckt in: Drozdowski (Hrsg.), Mie˛dzynarodowe aspekty, S. 52 – 54. 17 Das Wunder an der Weichsel steht für den unerwarteten Sieg polnischer Truppen gegen die Rote Armee am 15. August 1920 nahe Warschau. Er wurde oft mit dem polnischen Entsatz von Wien 1683 parallelisiert. 18 In der kommunistischen Propaganda war der »lange Marsch« ein zentraler literarischer Topos, der Erzählungen und sogar Architektur organisierte; vgl. W. Tomasik, Inz˙ynieria dusz. Literatura realizmu socjalistycznego w planie »propagandy monumentalnej« [Maschinerie des Geistes. Die Literatur des sozialistischen Realismus im Plan der »monumentalen Propaganda«], Breslau 1999, S. 93 f. Der Vormarsch der Roten Armee und des Kommunismus waren untrennbar mit dieser Erzählung verbunden, sodass die militärischen Anstrengungen und die sozio-ökonomische Transformationen lediglich zwei Seiten desselben Kampfes waren. Anschaulich wird dies in Artikeln der kommunistischen Zeitungen Z˙ycie Warszawy [Das Leben Warschaus] und Głos Ludu« [Stimme des Volkes], durch militärische Metaphern, um beide Kämpfe zu beschreiben. Beispielsweise sind auf der Titelseite von Z˙ycie Warszawy (18. 12. 1944) zwei Artikel zu lesen: »O kaz˙dy metr ziemi« [Kampf um jeden Meter Boden], der über die schweren Kämpfe in den Vogesen berichtete, und »O szybszy rozdział ziemniakûw« [Kampf um die schnellere Kartoffelverteilung]. Der Parallelismus dieser Syntax zeugt von den metaphorischen Mustern, die vom Topos des »langen Marsches« übernommen wurden.

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polnischen Militärformation, die in der Sowjetunion aufgestellt worden war. Es schien offensichtlich, dass sie kurz davor standen, in die westlich der Weichsel gelegenen Stadtteile Warschaus vorzurücken.19 Die Exilregierung in London wusste um die Bedeutung einer solchen sowjetischen Unterstützung für die Befreiung der Stadt. Einen Tag vor dem Beginn des Aufstandes besuchte eine polnische Delegation unter Premierminister Stanisław Mikołajczyk Moskau, um die sowjetische Seite für den Aufstand zu gewinnen. Sie scheiterte jedoch in diesem Ansinnen, denn Stalin stützte sich einzig auf das moskautreue Komitee der nationalen Befreiung. Für Stalin ging es bei dem Aufstand weniger um die Befreiung der polnischen Hauptstadt als um die symbolische Legitimation einer zukünftigen Regierung.20 Wenige Tage später, am 13. August, brandmarkte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS den Aufstand in einer sowohl in Moskau als auch in London veröffentlichten Meldung als verantwortungslose, »bourgeoise« Idee der polnischen Exilregierung.21 Dies war der Ausgangspunkt einer offiziellen Deutung, der später auch die staatliche Propaganda der Volksrepublik Polen folgte. Zudem blieb auf Stalins persönlichen Befehl die Rote Armee für mehr als fünf Monate auf dem rechten Weichselufer stehen, überließ Stadt und Einwohner den Deutschen und gab sie somit dem völligen Untergang preis.22 In dieser Vision eines »langen Marsches« der Roten Armee galt es, Europa nicht zu verteidigen, sondern zu erobern. Der Marsch selbst ist an eine Modernisierungsideologie gebunden. Im Folgenden wird gezeigt, dass sein ideologischer Kern trotz aller Entwicklungen in den 40 Jahren der Volksrepublik Polen nahezu unverändert blieb. Dabei wird zunächst die unmittelbare Deutung des Warschauer Aufstandes in den letzten Kriegsmonaten und im Nachkriegspolen behandelt. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Beschäftigung mit dem Warschauer Aufstand nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, besonders seit 2004.

19 Janusz Kazimierz Zawodny, Powstanie Warszawskie w walce i dyplomacji [Der Warschauer Aufstand im Kampf und der Diplomatie], Warschau 2005, S. 95 – 97. 20 Vgl. Jan M. Ciechanowski, Powstanie Warszawskie, S. 190 – 201. Diese Spannung wird im Gespräch zwischen dem polnischen Premierminister Stanisław Mikołajczyk und Stalin am 03. 04. 1933 deutlich sichtbar. Vgl. Fragmenty zapisu rozmowy S. Mikołajczyka z J. Stalinem na Kremlu [Fragmente der Gesprächsmitschrift S. Mikołajczyks mit I. Stalin im Kreml], abgedruckt in: Antoni Przygon´ski, Stalin i Powstanie Warszawskie [Stalin und der Warschauer Aufstand], Warschau 1994, S. 100 – 102. 21 Vgl. den vollständigen Text der Agenturmeldung bei Arthur Bliss Lane, I Saw Poland Betrayed. An American Ambassador Reports to the American People, Western Islands 1965 [1948], S. 49. 22 Ausführlicher bei: Przygon´ski, Stalin i Powstanie Warszawskie, S. 5 – 80.

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Teheran und Jalta Jedes historische Ereignis besitzt eine Art mental map, die nicht nur die Grenze zwischen »uns« und »ihnen« markiert, sondern auch die Dynamiken des Geschehens abbildet. Die Landkarte, auf der die Deutungen des Warschauer Aufstandes zu verorten sind, ist fünf Jahre älter als der Aufstand selbst, denn sie entspricht der Grenzziehung des Hitler-Stalin-Pakts von 1939.23 Diese Karte zeigt nicht nur eine weitere Teilung Polens, sondern teilt Osteuropa in zwei Einflusszonen auf. Für viele polnische Zeitgenossen der Jahre 1939 und 1944, aber auch noch heute, symbolisiert diese Karte vor allem die fehlende Unterstützung durch die westlichen Alliierten.24 Obwohl der britische Premierminister Neville Chamberlain Polen wenige Monate vor Kriegsausbruch uneingeschränkte Unterstützung im Kriegsfall zugesichert hatte,25 wurde dieses Versprechen nie in die Tat umgesetzt. Auch gegenüber dem Aufstand blieb die Haltung der britischen Öffentlichkeit ambivalent; Premierminister Churchill beispielsweise bezog öffentlich keine klare Position. Wurde auf den Kriegskonferenzen von Teheran und Jalta der polnische Staat um etwa 200 Kilometer nach Westen »verschoben«, konnte der Aufstand so als Symbol der »polnischen Frage« oder gar einer »mitteleuropäischen Frage« verstanden werden.26 Diese mental map spiegelt keine objektiven Entfernungen oder Verbindungen wider. In der Vorstellungswelt der meisten Polen liegen Jalta und Teheran direkt neben Warschau als Hauptstadt eines alleingelassenen Landes. Obwohl diese Grenzverschiebung westwärts erfolgte, bedeutete sie für die polnische mental map einen großen Schritt nach Osten.27 In der öffentlichen Meinung wurde Polen durch Teheran und Jalta aus Europa ausgeschlossen, während der Warschauer Aufstand einen vergeblichen Versuch darstellte, ein Teil davon zu bleiben. Für das übrige Europa bedeutet der Dreischritt Teheran – Potsdam – Jalta eine Befreiung und das Ende des Kriegsalbtraums, wohingegen er in Polen 23 Als Beispiel für die Bedeutung des Hitler-Stalin-Paktes als Gründungsmythos der polnischen Erinnerung vgl. Aleksander Bregman, Najlepszy sojusznik Hitlera. Studium o wspûłpracy niemiecko-sowieckiej 1939 – 1941 [Der beste Verbündete Hitlers. Studien über die deutschsowjetische Zusammenarbeit 1939 – 1941], London 1958. 24 Eine klassische Analyse hierzu bietet die Broschüre von Stanisław Grabski, The Polish-Soviet Frontier, New York 1941. 25 Rede des Premierministers im Unterhaus (31. 03. 1939), Avalon Project, http://avalon.law.yale.edu/wwii/blbk17.asp (30. 09. 2013). 26 S. Joanna K.M. Hanson, Prasa brytyjska a Powstanie Warszawskie [Die britische Presse und der Warschauer Aufstand], in: Zygmunt Man´kowski/Jerzy S´wie˛ch (Hrsg.), Powstanie Warszawskie w historiografii i literaturze 1944 – 1994 [Der Warschauer Aufstand in Geschichtsschreibung und Literatur 1944 – 1994], S. 97 – 103. 27 In der Emigrations- und in der Oppositionsgeschichtsschreibung wird auf Jalta oft als »JaltaVerrat« verwiesen, ein Label, welches von einigen gegenwärtigen Historikern reproduziert wird. Vgl. Borodziej, Versailles und Jalta und Potsdam, S. 367 f.

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Assoziationen mit dem neue Grenzen ziehenden Stalin, mit Verrat und dem Gefühl, im Stich gelassen zu werden, weckte. Die Befürworter der EU-Osterweiterung von 2004 folgten einem ähnlichen Argumentationsmuster, wenn sie den Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten als eine Überwindung der früheren Isolation darstellten.28 Die EU-Erweiterung wurde sowohl in Polen als auch in Westeuropa offen damit gerechtfertigt, »Jalta ungeschehen zu machen« und die künstlichen Grenzen auslöschen zu wollen, die Ost und West teilten.29 Das Narrativ des »westlichen Verrats«, symbolisiert durch Jalta und den Warschauer Aufstand, bildet in national affirmativen polnischen Deutungen einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis europäischer Erinnerung.30 Vereinfacht stellt diese mental map den Kern kollektiver Erinnerung an den Warschauer Aufstand dar. Obwohl diese Vorstellungen von Innenund Außenbeziehungen in der polnischen Öffentlichkeit auf breite Akzeptanz stoßen, besteht hinsichtlich der Deutungen des Aufstandes selbst alles andere als Einigkeit.

Der Warschauer Aufstand als »verbotene« und »vergessene« Erinnerung In der Volksrepublik Polen variierte die offizielle Interpretation des Warschauer Aufstandes auf Basis des Narrativs vom »langen Marsch«, das den Aufstand als vorschnelle und unverantwortliche Initiative ablehnte.31 In den 1940er- und 1950er-Jahren war jede sachliche Debatte über den Sinn des Aufstandes angesichts seiner Ideologisierung und seiner Diskreditierung als »bourgeoise« Aktion unmöglich.32 Direkt nach Kriegsende formulierte der Sozialist und spätere Oppositionelle Kazimierz Brandys:

28 Vgl. Helene Sjursen, Why Expand? The Question of Legitimacy and Justification of the EU’s Enlargement Policy, in: Journal of Common Market Studies 40 (2002), S. 491 – 513, hier S. 505. 29 Vgl. Magdalena Gûra/Zdzisław Mach, Identity Formation, Democracy and European Integration, in: Dies. (Hrsg.), Collective Identity and Democracy. The Impact of EU Enlargement, ARENA Report 13, http://www.sv.uio.no/arena/english/research/publications/arena-publications/reports/2010/Report_04_10.pdf (30. 09. 2013). 30 Vgl. Serhii Plokhy, Yalta. The Price of Peace, London 2011, inbes. S. 152 – 165. 31 Die Hauptthemen der kommunistischen Propaganda dem Warschauer Aufstand gegenüber sind dargestellt bei Jacek Zygmunt Sawicki, Bitwa o prawde˛. Historia zmagan´ o pamie˛c´ Powstania Warszawskiego 1944 – 1989 [Kampf um die Wahrheit. Geschichte des Ringens um das Gedächtnis des Warschauer Aufstandes], Warschau 2005. 32 Vgl. Marcin Napiûrkowski, Kształtowanie pamie˛ci zbiorowej przez figure˛ bohatera [Die Bildung des kollektiven Gedächtnisses durch die Figur des Helden], in: Magdalena Bogusławska/Zuzanna Gre˛becka/Ewa Wrûblewska-Trochimiuk (Hrsg.) Komunistyczni boha-

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»Der Warschauer Aufstand war ein nie da gewesener Verlust von Kraft und Blut. All das kehrt nie zu Polen zurück. Nur die Geschichte kann uns den großen Verdienst der Rationalität zurückzahlen und zukünftigen Generationen den einzigen Gewinn dieser Tage weitergeben: [Er ist] den Menschen eine Mahnung und [zeigt] die Verachtung des Betrugs. Nur die Geschichte hat das Recht, den Warschauer Aufstand zu feiern.«33

Eine solche Deutung des Aufstandes als sinnlosem Akt des Wahnsinns dominierte in allen offiziellen Dokumenten, von der volkspolnischen Presse hin zu Schulbüchern.34 Zentrales Anliegen dieser neuen Propaganda war es, den Aufstand als Zeichen der Entfremdung zwischen den »gewöhnlichen Leuten« und einer kleinen Gruppe aus London ferngesteuerter »Urheber« darzustellen. Indem man die Mitglieder der Londoner Exilregierung beschuldigte, aus politischem Interesse den Untergang der Stadt verschuldet zu haben, sollte ihre Unterstützung im Land selbst geschmälert werden. Auch jenseits von Presse und Schulbüchern standen sich verschiedene Interpretationen des Aufstandes gegenüber. Insbesondere im öffentlichen Raum, in den Straßen Warschaus, wurden Deutungen in einem ganz physischen Sinne verhandelt. Als die Sowjets im Januar 1945 die Stadt schließlich befreiten, lag sie in Schutt und Asche.35 Verlassene Straßen waren mit Leichen bedeckt – viele der Toten wurden nicht bestattet, andere in vorläufigen Massengräbern beigesetzt. Dabei handelte es sich nicht bloß um pragmatische Schritte zur Seuchenbekämpfung, sondern auch um ein politisch brisantes Thema. Die Leichen in den Straßen waren nicht nur Zeichen der Niederlage, sondern im Umkehrschluss auch ein Beleg breiter Unterstützung des Aufstandes, insbesondere auch seiner Vision eines starken, unabhängigen Staates, der Teil Europas ist. Viele der Gefallenen trugen Abzeichen der Heimatarmee, sodass ihre bloße Existenz die offizielle terowie. Bd. 1 Tradycja, kult, rytuał [Kommunistische Helden. Bd. 1 Tradition, Kult, Ritual], Krakau 2011, S. 281 – 296. 33 Kazimierz Brandys, W łunach patosu [Im Feuerschein des Pathos], in: Odrodzenie 39 (1945), abgedruckt in: Dariusz Gawin (Hrsg.), Spûr o Powstanie. Powstanie Warszawskie w powojennej publicystyce polskiej 1954 – 1981 [Streit um den Aufstand. Der Warschauer Aufstand in der polnischen Nachkriegspublizistik 1954 – 1981], Warschau 2004, S. 75 – 81, hier S. 81. 34 Małgorzata Z˙aryn, Powstanie Warszawskie w peerelowskich podre˛cznikach do historii [Der Warschauer Aufstand in den Schulgeschichtsbüchern der Volksrepublik Polen], in: Agnieszka Panecka (Hrsg.), Walka o pamie˛c´. Władze i społe˛czen´stwo wobec Powstania Warszawskiego 1944 – 1989 [Kampf um die Erinnerung. Die Staatsmacht und die Gesellschaft gegenüber dem Warschauer Aufstand], Warschau 2008, S. 131 – 146. 35 Die geschätzte Zahl an Toten liegt zwischen 130.000 und 250.000, der Großteil davon Zivilisten. Der materielle Verlust umfasste ca. 90 Prozent der Gebäude links der Weichsel. Vgl. Wojciech Fałkowski (Hrsg.), Straty Warszawy 1939 – 1945. Raport [Verluste Warschaus 1939 – 1945. Bericht], Warschau 2005; Marek Getter, Straty ludzkie i materialne w Powstaniu Warszawskim [Bevölkerungsverluste und Sachschäden im Warschauer Aufstand], in: Biuletyn Instytutu Pamie˛ci Narodowej 4 (2004), H. 8/9, S. 62 – 74.

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Version einer ausbleibenden Unterstützung des Aufstandes durch die Bevölkerung zweifelhaft erscheinen ließ. Exhumierungen und Wiederbestattungen wurden so zu dramatischen Kämpfen zwischen Familien und Veteranen auf der einen Seite, die ihre Verwandten und Kameraden als Mitglieder der Heimatarmee identifiziert und begraben wissen wollten, und der kommunistischen Staatsmacht auf der anderen Seite, die versuchte, so viele Menschen wie möglich in anonymen Massengräbern zu bestatten, um ihre politische Identität zu verheimlichen. Exhumierungskomitees bildeten die Hauptzentren des Widerstands und avancierten kurzzeitig zum obersten Staatsfeind. Dadurch wurden in den Anfängen des totalitären Regimes die bloße Anwesenheit auf einem Friedhof und das Gedenken an die toten Aufständischen, also Deutungen entlang der Erinnerungsfigur des »Trauerzugs«, zu einem politischen Vergehen. An die Vergangenheit zu erinnern bedeutete, sich der Gegenwart zu widersetzen.36 Zeitgleich ließ die Rhetorik des »langen Marsches« ihre destruktive Phase hinter sich und wandelte sich zu einer konstruktiven Rhetorik des Wiederaufbaus. Der Aufbau der Stadt schritt voran: An die Stelle von Ruinen und Massengräbern wurden neue Wohnblöcke und Monumentalbauten gesetzt. Der Wiederaufbau gründete auf einem Enthusiasmus, der nur teilweise Ergebnis der omnipräsenten sozialistischen Propaganda war.37 Das offizielle Geschichtsbild war darauf gerichtet, die tragischen Ruinen hinter sich zu lassen und in eine neue, strahlende, sozialistische Zukunft zu blicken. Die Spannung zwischen der offiziellen Propaganda und der allgemein als »zweiter Umlauf« bezeichneten oppositionellen Untergrundpresse bestand folglich zu einem großen Teil in der Dichotomie zwischen einem prospektiven und retrospektiven Geschichtsbild. Die Propagandisten verstanden die Bedeutung des Warschauer Aufstandes schnell. Nach einer kurzen Periode, in der jegliche Gedenkpraktiken untersagt waren (1949 – 1953), begann die kommunistische Staatsmacht, eigene, politisch opportune Gedenkfeiern zu organisieren. Diese betonten das Martyrium des einfachen Volkes und verbreiteten gleichzeitig das Narrativ der »böswilligen Urheber«, die den Aufstand für ihre eigenen Zwecke begonnen hätten. Daraus resultierte ein Konflikt, der den öffentlichen Raum und den Festkalender teilte. Die offiziellen Feierlichkeiten erschienen aus einer staatskritischen Perspektive 36 Dies lässt sich deutlich in den Berichten der Staatssicherheit veranschaulichen; vgl. eine detailliertere Analyse in: Marcin Napiûrkowski, O prawdzie i kłamstwie w pozalogicznym sensie. Praktyki antysystemowej pamie˛ci o zbrodni katyn´skiej i powstaniu warszawskim w latach osiemdziesia˛tych XX w. [Über Wahrheit und Lüge im außerlogischen Sinne. Praktiken des nonkonformen Erinnerns an das Verbrechen von Katyn´ und den Warschauer Aufstand in den 1980er-Jahren], in: Włodzimierz Pessel (Hrsg.), Prawda i fałsz. O polskiej chwale i wstydzie [Wahrheit und Falsches. Über polnische Ehre und Scham], Łomz˙a 2010, S. 269 – 282. 37 S. Wojciech Tomasik, Inz˙ynieria Dusz; Martyna Obarska, MDM. Mie˛dzy utopia˛ a codziennos´cia˛ [MDM. Zwischen Utopie und Alltäglichkeit], Warschau 2010.

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als falsche Erinnerung, an ihnen teilzunehmen galt als Verrat an der Idee des Aufstandes und eines unabhängigen Polens.38

Der zweite Umlauf und die Emigration War die »modernistische« Vision des »langen Marsches« ein wesentliches Klischee der offiziellen Propaganda, wurde die »traditionalistische«39 Metapher des Bollwerks zum Kennzeichen der Opposition. So wurde in der Zeit der Volksrepublik Polen das Gedenken an den Warschauer Aufstand zu einer wichtigen oppositionellen Ausdrucksform. Im zweiten Umlauf waren vor allem Geopolitik und die Geschichte der polnisch-sowjetischen Beziehungen Schlüsselthemen der Deutung des zeitgenössischen Polens. Der Warschauer Aufstand wurde häufig Teil einer Erzählung, welche die Bewahrung Europas vor dem Bolschewismus polnisch-sowjetischen Krieg von 1920, die »vierten« Teilung Polens im Hitler-Stalin-Pakt, den sowjetischen Einmarsch in Polen und den Elitenmord von Katyn´ umfasst.40 Auch wurden die Abkommen zwischen den Alliierten in Teheran und Jalta oftmals als Ursache der geopolitischen Lage Polens und seiner Zugehörigkeit zum Ostblock benannt. Dabei fand die Auseinandersetzung zwischen offizieller Erinnerung und dem alternativen Geschichtsbild der Opposition nicht nur in der Nische des publizistischen Untergrunds, sondern auch im öffentlichen Raum41 der Stadt Warschau statt. Viele erinnernde Praktiken, die in einigen europäischen Ländern als Integrationsmechanismen der Nation verstanden werden und die Herrschaft der Regierung unterstützen, waren hier mit Regierungskritik aufgeladen. Umzüge, Versammlungen oder auch das Totengedenken waren somit Praktiken der Delegitimierung staatlicher Macht. Mit der Krise und dem Zusammenbruch des Kommunismus wurden oppositionelle Gedenkzeremonien als Domäne der 38 Die Analyse der zentralen Primärquellen findet sich in: Napiûrkowski, Kształtowanie pamie˛ci zbiorowej przez figure˛ bohatera. 39 Die Begriffe ›Modernisten‹ und ›Traditionalisten‹ werden hier als Bezeichnung der temporalen Orientierungen benutzt, wie beschrieben in: Elz˙bieta Tarkowska, Czas w społeczen´stwie [Zeit in der Gesellschaft], Breslau 1987, S. 141 – 144. ›Modernismus‹ und ›Traditionalismus‹ als Vektoren der Zeit eingeführt bei: Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1992, S. 49 – 85. 40 Vgl. Agnieszka Cubała, Powstanie Warszawskie w prasie i wydawnictwach drugiego obiegu [Der Warschauer Aufstand in der Presse und den Verlagen des zweiten Umlaufs], in: Panecka (Hrsg.), Walka o pamie˛c´, S. 201 – 208. 41 Zum öffentlichen Raum im Staatssozialismus vgl. G‚bor T. Rittersporn/Jan C. Behrends/ Malte Rolf, Öffentliche Räume und Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typus. Ein erster Blick aus komparativer Perspektive (Einleitung), in: Dies. (Hrsg.), Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, Frankfurt am Main 2003, S. 7 – 21.

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Meinungsfreiheit und des unabhängigen Denkens immer wichtiger. Beispielsweise wurde der Powa˛zki-Friedhof, auf dem viele Aufständische begraben waren, bereits in der Volksrepublik zu einem Ort freier Meinungsäußerung. An jedem 1. August wurde das Gelände um das Gloria-Victis-Denkmal zur Gedenkstätte nicht nur für den Warschauer Aufstand, sondern für alle vergangenen und gegenwärtigen Leiden. Hier wurden alle Opfer polnischer Freiheitskämpfe im 20. Jahrhundert betrauert. So behauptete zum Beispiel einer der Redner während der Feierlichkeiten 1988: »Aber gegenüber dem Gloria-Victis-Denkmal – Ehre den Besiegten – gibt es ein Denkmal, dessen eine Gedenktafel den Opfern des Mordes von Katyn´ gewidmet ist […]. Und heute erweisen wir vor diesem Denkmal auch den Aufständischen von Warschau die Ehre […]. Wir erweisen den Soldaten des bewaffneten polnischen Untergrunds die Ehre, die bis 1954 für die Freiheit, territoriale Integrität und Unabhängigkeit Polens gekämpft haben und massenhaft am Galgen, durch Erschießung oder gar Mord starben. Zugleich gibt es hier Gedenktafeln für die Soldaten der Septemberkampagne [1939], des Jahres 1920, und am 15. [August] werden wir den Tag des polnischen Soldaten begehen, einen Feiertag des polnischen Volkes; der 15. August als Tag des Sieges über die bolschewistischen Horden, die vor den Toren Warschaus umkehren mussten.«42

Alle hier aufgeführten Ereignisse entstammen einem oppositionellen Festkalender. Sein regimekritischer Inhalt wird in Kontrast zu offiziellen Feierstunden deutlich, die vor allem aus Feiertagen des Klassenkampfes oder anderer Bezugspunkte des »langen Marsches« bestanden. Während also die Gründung des Komitees der nationalen Befreiung am 14. Juli gefeiert wurde, blieb der 15. August hingegen gänzlich unerwähnt. Darüber hinaus feierte man den Mut der Aufständischen des 19. Jahrhunderts wie auch den des Warschauer Aufstandes. Die nationalen Erinnerungen wurden zu einer kohärenten Erzählung beständigen Widerstands zusammengeführt.43 Nach dem Krieg waren Tausende Mitglieder der Heimatarmee zum Verbleib in der Emigration gezwungen, da ihnen im kommunistischen Polen Repressionen drohten. Eine große Gruppe von ihnen waren Teilnehmer des Warschauer Aufstandes, die nach der Befreiung aus deutschen Kriegsgefangenenlagern in westlichen Ländern blieben.44 Die polnische Emigration in London umfasste somit nicht nur eine Regierung, die sich selbst als legitimen Nachfolger der Zwischenkriegsregierungen begriff, sondern auch Publizisten, Kommandeure 42 Rede von Wojciech Ziembin´ski (01. 08. 1988), Videoaufzeichnung im Institut für Nationales Gedenken, IPN BU 1196/3. 43 Vgl. Marcin Napiûrkowski, O prawdzie i kłamstwie. 44 Tadeusz Wyrwa, Powstanie Warszawskie i akcja »Burza« w historiografii emigracyjnej [Der Warschauer Aufstand und die Aktion »Burza« in der Emigrationshistoriografie], in: Man´kowski/S´wie˛ch (Hrsg.), Powstanie Warszawskie, S. 91 – 96.

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und Augenzeugen des Aufstandes. Gemeinsam mit Paris – Heimat für Jerzy Giedroyc´ und das Umfeld der Zeitschrift Kultura45 – bildeten sie den Kern der polnischen Emigration. In den ersten im Exil veröffentlichten Berichten wurde der Aufstand noch als Teil einer breiten Kampagne dargestellt und nicht einmal als Warschauer Aufstand benannt.46 Dennoch wurden jene Berichte zu einer Wegmarke der Geschichtsschreibung in der Emigration und zu einem Symbol des Widerstands der Heimatarmee. Bereits 1946 publizierte Andrzej Pomian-Dowmuntt mit »Powstanie Warszawskie« [Der Warschauer Aufstand] eine erste Studie, die tiefere Einsichten in die geopolitischen Hintergründe der Geschehnisse bot47, und ein Jahr später führte Jan Nowak-Jezioran´ski unter dem Pseudonym J. Zych diese Argumentation in seinem Buch »Rosja wobec Powstania Warszwskiego« [Russland gegenüber dem Warschauer Aufstand] fort. Darin behauptete er, die Sowjets hätten bewusst auf eine Abstimmung des militärischen Handelns verzichtet, und unterstrich, dass »das Anhalten vor Warschau kein Ergebnis von Notwendigkeiten war, sondern eine bewusste sowjetische Entscheidung«48 gewesen sei. Spätere Veröffentlichungen von Emigrationshistorikern lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Eine erste Gruppe neigte dazu, die kommunistische Propaganda mit einer mehr oder weniger undifferenzierten Glorifizierung des Aufstandes zurückzuweisen, während eine zweite Gruppe zu einer eher kritischen Analyse der vorhandenen Quellen tendierte. Erstere, wie zum Beispiel Stefan Korbon´ski, Tymon Terlecki oder Jan Bielatowski, näherten sich der Thematik aus einer eher wissenschaftlichen Perspektive. Letztere begriffen den Aufstand vornehmlich als moralischen Wert und verstanden jeden Zweifel an seiner Sinnhaftigkeit als der Moral der unterdrückten Nation abträglich. Diese Glorifizierungen, einschließlich der wichtigen Monografie von Stefan Korbon´ski »Polskie Pan´stwo Podziemne« [Der polnische Untergrundstaat],49 gip45 Die Zeszyty Historyczne [Historische Hefte], herausgeben von Jerzy Giedroyc´, waren einer der zentralen Orte der Auseinandersetzung über die Vernünftigkeit des Aufstandes; vgl. Tadeusz Wyrwa, Powstanie Warszawksie, S. 79 – 88. 46 Vgl. die vom Polnischen Hauptquartier in London veröffentlichte Broschüre: »Drogosław«, Obrona Warszawy [Die Verteidigung Warschaus], London 1944. 47 Andrzej Pomian-Dowmuntt, Powstanie Warszawskie (Zarys problematyki) [Der Warschauer Aufstand (Beschreibung der Problematik)], London 1946, abgedruckt in: Jacek Z. Sawicki (Hrsg.), Powstanie Warszwawskie. Antologia tesktûw nieobecnych [Der Warschauer Aufstand. Anthologie nichtverfügbarer Texte], Thorn 2004, S. 121 – 194. 48 J. Zych [Jan Nowak Jezioran´ski], Rosja wobec Powstania Warszwskiego [Russland gegenüber dem Warschauer Aufstand], London 1947, nachgedruckt in: Sawicki (Hrsg.), Antologia, S. 195 – 225, hier S. 203. 49 Stefan Korbon´ski, Polskie Pan´stwo Podziemne. Przewodnik po Podziemiu [Der polnische Untergrundstaat. Vademekum des Untergrunds], Paris 1954. Zwei Jahre später erschien eine englische Übersetzung.

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felten in einer beinahe mythischen Umdeutung des Warschauer Aufstandes, wie bei dem Publizisten Tymon Terlecki: »Der Warschauer Aufstand stellt die größte Steigerung des polnischen Schicksals in diesem Krieg dar, er stellt die Synthese dieses tragischen Schicksals dar. […] Auf dem europäischen Kontinent liegen mehrere Hauptstädte in Schutt und Asche […], aber aus keiner strahlt solch ein Licht, aus keiner quillt lebhaftes Blut, keine von ihnen umgibt die erinnernde Liebe von Millionen Menschen, keine von ihnen ist ein heiliger Ort.«50

Diese romantische Rhetorik der Heldenverehrung und der Aufopferung neigte dazu, die offizielle kommunistische Propaganda auf den Kopf zu stellen und ignorierte bestehende gesellschaftliche Spaltungen gänzlich. Jan Bielatowicz, ein weiterer polnischer Publizist, der nach dem Zweiten Weltkrieg in London aktiv war, formulierte diese Homogenisierungstendenz wie folgt aus: »Auf die viele Polen quälende Frage, wer den Aufstand in Warschau zu verantworten habe – die Emigration oder das Land (die Heimatarmee), die Regierung oder der Rat der Nationalen Einheit, Sosnkowski und Mikołajczyk oder Bûr – gibt es eine einfache Antwort: die Aufständischen. Und hinter den Aufständischen stand zum Zeitpunkt seines Ausbruchs die ganze Nation: das Land und die Emigration, alle Parteien und Untergrundorganisationen.«51

Polnische Emigrationshistoriker arbeiteten besonders zum militärischen, politischen und diplomatischen Hintergrund des Kampfes 1944 und kritisierten selten polnische Entscheidungsträger.52 Ein bemerkenswertes Gegenbeispiel ist Jan M. Ciechanowskis Powstanie Warszawskie [Der Warschauer Aufstand].53 Ciechanowski, der an der London School of Economics promoviert wurde, analysierte die internationale diplomatische Dimension des Aufstandes. Relevanter noch als sein Inhalt war die enthusiastische Rezeption des Werks in der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit der Volksrepublik, wo es – im 50 Tymon Terlecki, Chûr aby odpowiadał [Ein Chor, um zu antworten], in: Wiadomos´ci (London), 14/15 (1946), abgedruckt in: Gawin (Hrsg.), Spûr o Powstanie, S. 247 – 251, hier S. 248. Kazimierz Sosnkowski war Oberbefehlshaber der Armee im Westen unter dem Kommando der Exilregierung, deren Premierminister Stanisław Mikołajczyk war. Tadeusz Komorowski, mit Decknamen Bûr, war Oberbefehlshaber der Heimatarmee, die im Auftrag der Exilregierung in Polen selbst kämpfte, und somit Oberbefehlshaber des Warschauer Aufstandes. 51 Jan Bielatowicz, Powstanie Narodu [Aufstand der Nation], in: Z˙ycie. Katolicki tygodnik religijno-kulturalny 8 (1954), H. 40, abgedruckt in: Gawin (Hrsg.), Spûr o Powstanie, S. 69 – 74, hier S. 69. 52 Bspw. Aleksander Bregman, Najlepszy sojusznik Hitlera oder Bolesław Wierzbian´ski, Teheran, Jałta, Poczdam. Reportaz˙ w przeszłos´c´ [Teheran, Jalta, Potsdam. Reportage in der Vergangenheit], New York 1985. 53 Jan M. Ciechanowski, Powstanie Warszwskie. Zarys podłoz˙a politycznego i dyplomatycznego [Der Warschauer Aufstand. Überblick der politischen und diplomatischen Grundlagen], London 1971 [Warschau 1984].

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Fall von Emigrationshistorikern höchst ungewöhnlich – schon bald nachgedruckt wurde. Ciechanowskis Diagnose wurde, ungeachtet seiner wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit, von der Opposition und Emigration gemeinsam abgelehnt, da seine Bewertung in zu vielen Punkten mit der kommunistischen staatstragenden Deutung übereinstimmte. Die Erinnerung an den Warschauer Aufstand wurde also aufgrund der komplizierten politischen Situation und vielleicht auch in Ermangelung einer wissenschaftlichen Debatte eher ein politischer als ein historischer Gegenstand. Jede Stimme in der Debatte über den Sinn des Kampfes war somit zuallererst eine politische Stellungnahme. Diese Aufladung überlebte das kommunistische Regime und setzte sich auch nach 1989 fort.54

Die erste Dekade der Transformation als Periode des Vergessens Erinnerung ist ein entscheidender Bestandteil politischer Transformationen, sowohl als Faktor als auch als Ergebnis.55 Dabei bedingte ein periodisch wiederkehrendes zeitliches Muster der Revolution eine sich verändernde Bedeutung der Erinnerung im Transformationsprozess. In einer ersten Phase des »Denkmalsturzes« dominierten verschiedene Erinnerungsforderungen, die Ideen der Übergangsjustiz und der Vergeltung. Die unterdrückten Erinnerungen kehrten gewaltsam an die Oberfläche des politischen Lebens zurück und nahmen, wie im Polen der 1980er-Jahre, die Form symbolischer Gesten an – laut, aber kurzlebig.56 Nach diesem kurzen revolutionären Ausbruch begann eine stabile Phase der politischen Neuordnung, in der politische und wirtschaftliche Fragen das Bild des Wandels prägten, während der Erinnerungsdiskurs nur latente Relevanz besaß. Gegenwart und Zukunft waren folglich wichtiger und interessanter als die Vergangenheit. So stellte Paweł Wron´ski im eingangs erwähnten Artikel fest: »Nach 1989 wollte meine Generation den alten Feldrock abwerfen, so wie sich die Generation der zwei Zwischenkriegsjahrzehnte bemühte, den ›Konrads-Mantel‹ abzulegen. Wir sagten uns oft, dass die Geschichte natürlich wichtig sei, man aber ein

54 Zur Debatte über den Sinn des Warschauer Aufstandes und seine Bedeutung in der polnischen Nachkriegskultur s. Piotr Wandycz, Rola powstan´ w dziejach nowoz˙ytnej Polski [Die Rolle von Aufständen in der neueren Geschichte Polens], in: Kwartalnik Historyczny 101 (1994), H. 4, S. 73 – 83. 55 S. Alexandra Barahona de Brito/Carmen Gonzalez-Enriquez/Paloma Aguilar (Hrsg.), The Politics of Memory. Transitional Justice in Democratizing Societies, Oxford 2001. 56 Elz˙bieta Tarkowska, Czas w z˙yciu Polakûw. Wyniki badan´, hipotezy, impresje [Zeit im Leben der Polen. Forschungsergebnisse, Hypothesen, Impressionen], Warschau 1992.

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neues Polen bauen müsse, dass der Bau von Autobahnen wichtiger als all die Feierlichkeiten, Gedenkveranstaltungen, Festmessen und Museen sei.«57

Dies ist vermutlich die deutlichste Positionsnahme der fortschrittlich orientierten Kräfte dieser ersten Periode der politischen Transformation. Elz˙bieta Tarkowska hat gezeigt, dass Zeitbewusstsein und Zeitvorstellungen die Einstellung gegenüber dem Transformationsprozess maßgeblich formten. Mithilfe dieser Kategorien lassen sich zwei Sichtweisen auf den Prozess der Transformation unterscheiden: einerseits eine zukunftsgerichtete Haltung, symbolisiert durch Wron´skis »Traum von Autobahnen«, andererseits eine rückwärtsgewandte Orientierung, die sich in der Metapher der ›Gräber und Gedenkfeiern‹ widerspiegelt.58 Während letztere Option die Vergangenheit idealisiert, bildet diese jedoch keine abgeschlossene Zeit. Sie wird vielmehr als Paradigma für die Gegenwart und die Zukunft verstanden und muss reaktualisiert und performativ wiederholt werden.59 In der zukunftsgerichteten Interpretation gilt: Die Vergangenheit ist so sicher, als ob (oder buchstäblich weil) sie niedergeschrieben wurde. So wurde Geschichte gerade in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren durch Museen, Archive oder Geschichtsinstitute zu einem zwar präsenten, aber keineswegs virulenten Thema öffentlicher Debatten. Paweł Ukielski, der stellvertretende Direktor des Museums des Warschauer Aufstandes, betrachtet diese Zeitwahrnehmung als Teil eines vermeintlichen »Endes der Geschichte«: »In Polen nahm in den 1990er-Jahren jenes ›Ende der Geschichte‹ die schlagwortartige Gestalt eines ›bauen wir die Zukunft, die Vergangenheit überlassen wir dem Historiker‹ an. Es handelte sich zudem um eine Ausklammerung von Fragen des kollektiven Gedächtnisses aus der öffentlichen Debatte. Es kam zu einer widersprüchlichen Situation, in der tatsächlich die völlige Freiheit historischer Forschung und der Darstellung ihrer Ergebnisse sichtbar wurde, diese aber kein breites Publikum erreichten.«60

Der gegenwärtige Erinnerungsboom in Polen stellt so eine Gegenbewegung zu dieser präsentistischen oder zukunftsgerichteten Haltung in den ersten 15 57 Paweł Wron´ski, Powstanie Europy. Mit dem Konrads-Mantel spielt er auf die literarische Figur des Konrad Wallenrod bei Adam Mickiewicz an, der als vom Deutschen Orden aufgezogener Litauer den Orden später bewusst ins Verderben führt. Übertragen steht der ›Wallenrodismus‹ für Polen in Diensten der Teilungsmächte, die sich dennoch für die polnische Sache einsetzen. Die Metapher des Konrad-Mantels geht auf den Dichter Antoni Słonimski zurück. 58 Elz˙bieta Tarkowska, Czas w z˙yciu Polakûw. 59 Zum Unterschied zwischen Einschreibungs- und Verkörperungspraxen s. Paul Connerton, How Societies Remember, Cambridge 1989. 60 Paweł Ukielski, Powstanie Warszawskie w ´swiadomos´ci Polakûw [Der Warschauer Aufstand im Bewusstsein der Polen] (04. 11. 2011), http://enrs.eu/en/component/content/article/47articles/37-powstanie-warszawskie-w-swiadomosci-polakow-muzeum-powstania-warszaws kiego-jako-miejsce-pamieci?tmpl=component& format=pdf (30. 09. 2013).

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Jahren der Transformation dar.61 Der rasante Wandel nahezu sämtlicher Aspekte des Alltagslebens ging mit einer allgemeinen Reorganisation der sozialen Landschaft einher, die viele Menschen ohne vertraute Wegmarken zurückließ.62 Dies führte zu einem Wiedererstarken einer »traditionalistischen« Haltung, die sich in der weit verbreiteten Wahrnehmung von Unsicherheit und Ablehnung gegen die Modernisten, ihre kosmopolitische, zukunftsgerichtete Kultur und deren sinnbildliche Verkörperung durch die EU richtete.

Die Rückkehr der unterdrückten Erinnerung und ihr europäischer Kontext Der polnische EU-Beitritt gilt weithin, wenn auch mit deutlichen Unterschieden in verschiedenen sozialen Gruppen, als Meilenstein, der sowohl in sozio-ökonomischer Hinsicht als auch in der subjektiven Wahrnehmung der Polen ein Ende der Transformationsperiode markiert.63 Zusammen mit dem Beitritt zur NATO schien die EU-Mitgliedschaft gemeinsame Hoffnungen und Anstrengungen Wirklichkeit werden zu lassen und Polen als rechtmäßigen Teil des Westens zu akzeptieren. In der öffentlichen Meinung machte der Integrationsprozess Jalta ungeschehen und hob die Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang auf.64 Die Beitrittsphase formte ein kollektives Bewusstsein, das als 61 Der »Erinnerungsboom« als Gegenbewegung zur »Vergessenskultur« wird von vielen zeitgenössischen Denkern analysiert, exemplarisch hierzu Harald Weinrich, Lethe. The Art and Critique of Forgetting, Ithaca/London 2004; Andreas Huyssen, Twilight Memories. Marking Time in a Culture of Amnesia, New York/London 1995; Edward S. Casey, Remembering. A Phenomenological Study, Bloomington/Indianapolis, 1987, S. 4 – 6. 62 S. Roch Sulima, Antropologia codziennos´ci [Anthropologie der Alltäglichkeit], Krakau 2000. 63 Dieser »Meilenstein« wird auch aus der Perspektive der Erinnerungsforschung sichtbar. Vgl. Piotr Tadeusz Kwiatkowski, Pamie˛c´ zbiorowa społeczen´stwa polskiego w okresie transformacji [Das kollektive Gedächtnis der polnischen Gesellschaft in der Transformation], Warschau 2008. Zur Wahrnehmung des Integrationsprozesses in unterschiedlichen sozialen Gruppen Lena Kolarska-Bobin´ska (Hrsg.), Polska eurodebata [Die polnische Eurodebatte], Warschau 1999; dies. (Hrsg.), Mieszkan´cy wsi o integracji europejskiej. Opinie, wiedza, poinformowanie [Dorfbewohner über die europäische Integration. Meinungen, Wissen, Informationsstand], Warschau 2002. 64 Diese Sicht wird klar von Pierre Houtart formuliert, der während der Konferenz anlässlich des 6. Jahrestages der Erweiterung sagt: »Zwar haben wir im Geiste nie die Zugehörigkeit zu dieser Welt verloren, aber seit vielen Jahren trennt uns der eiserne Vorhang von ihr«, zit. n. Sprawozdanie Mie˛dzynarodowa konferencja »Polska i Unia Europejska. Szes´c´ lat po rozszerzeniu« [Bericht der Internationalen Konferenz »Polen und die Europäische Union. Sechs Jahre nach der Erweiterung«] in: Polska i Unia Europejska. Szes´c´ lat po rozszerzeniu. Bilans kosztûw i korzys´ci [Polen und die Europäische Union. Sechs Jahre nach der Erweiterung. Bilanz von Kosten und Nutzen], Brüssel 2010, S. 249 – 258, hier S. 250.

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»Diskurs der großen Hoffnungen«65 bezeichnet werden kann. Aus ihm folgte für viele Polen ein Geschichtsverständnis, das auf die Zukunft ausgerichtet war und die Vergangenheit durch Versöhnung und das Heilen von Wunden in eine wohlwollende Suche nach einer gemeinsamen europäischen Erinnerung einbettete. Gleichzeitig wurden während der Beitrittsverhandlungen und des Referendums erstmals seit 1989 in größerem Maße euroskeptische und antiwestliche Stimmen hörbar.66 Zu großen Teilen kopierte dieser polnische Euroskeptizismus antieuropäische Argumente, die bereits in der »alten« EU Verwendung gefunden hatten.67 Auch wenn alle wichtigen politischen Kräfte offen proeuropäisch waren, weckte der Beitrittsprozess in Polen neue Ängste, denn er richtete den Verdruss von Transformationsverlierern auf neue externe Feinde: den Internationalismus im Allgemeinen und das multinationale Kapital im Besonderen.68 Diese neue Rhetorik nahm massive Anleihen beim früheren oppositionellen Diskurs gegenüber der Sowjetunion als externer Feind, der Polen ausbeutet.69 Ein anderer wichtiger Faktor, der den Beitritt zur EU zu einem Meilenstein des polnischen Erinnerungsdiskurses machte, ist die Arbeitsmigration. Ab 2004 verließen Millionen von Polen auf der Suche nach besseren Berufsaussichten das Land.70 Große Teile von ihnen waren Transformationsverlierer und damit mehr oder weniger euroskeptisch.71 Misstrauen gegenüber dem Fremden und eine nostalgische Idealisierung der eigenen nationalen Vergangenheit aufseiten der 65 Die »Hoffnung« wird in einem Bericht aus der ersten Periode der Verhandlungen des polnischen Beitritts zur EU analysiert; vgl. Bogdan W. Mach (Hrsg.), Polacy wobec integracji Polski z Unia˛ Europejska˛. Trwałos´c´ i zmiana postaw społecznych wobec integracji Polski z Unia˛ Europejska˛ [Die Polen gegenüber der Integration Polens mit der Europäischen Union. Kontinuität und Wandel der gesellschaftlichen Haltung gegenüber der Integration Polens mit der Europäischen Union], Warschau 1998. 66 Vgl. Aleks Szczerbiak, Polish Euroscepticism in the Run-up to EU Accession, in: Journal of European Culture, History and Politics 1 (2004), S. 247 – 268. 67 Vgl. Robert Harmsen/Menno Spierling, Introduction. Euroscepticism and the Evolution of European Political Debate, in: Dies. (Hrsg.). Euroscepticism. Party Politics, National Identity and European Integration, Amsterdam 2004, S. 13 – 36. 68 Radosław Markowski/Joshua A. Tucker, Euroscepticism and the Emergence of Political Parties in Poland, in: Party Politics 16 (2010), S. 523 – 548. 69 Dies lässt sich deutlich an der Wirkung des Begriffs ›Eurokommunismus‹ zeigen: Grzegorz Z˙uk, Twierdza czy wspûlnota? Europa w polskim dyskursie publicznym [Festung oder Gemeinschaft? Europa im polnischen öffentlichen Diskurs], Lublin 2010, S. 30 – 36. 70 Nach dem Beitritt Polens migrierte eine große Zahl polnischer Bürger nach Großbritannien und Irland, die bereits seit Mai 2004 ihre Arbeitsmärkte für die Beitrittsstaaten geöffnet hatten. Aufgrund fehlender personenbezogener Statistiken lässt sich die Zahl dieser Arbeitsmigranten nicht genauer beziffern. Allgemein wird von mehr als 1,5 Millionen Menschen ausgegangen. 71 Zum Zusammenhang von Migration und Erinnerung s. Julia Creet/Andreas Kitzmann (Hrsg.), Memory and Migration. Multidisciplinary Approaches to Memory Studies, Toronto 2011, S. 9.

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polnischen Arbeitsmigranten sowie die Effekte der Grenzöffnung und des ökonomischen Binnenmarktes in Polen selbst veränderten das politische Klima. Dadurch konnte die rechtsgerichtete Nischenpartei LPR (Liga der polnischen Familien) und später auch die etablierte konservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) der Brüder Kaczyn´ski an die Zwischenkriegstradition der fremdenfeindlichen Endecja [Nationaldemokratie] anknüpfen.72 Für die große Gruppe von Polen, die sich von der Transformation und ihren Leifiguren betrogen fühlte, wurden das heroische Martyrium und der antikommunistische Widerstand zu einer neuen Identitätsquelle. Angesichts der neuen kapitalistischen Realität und ihrer oft im Vergleich zur kommunistischen Herrschaft schlechteren Lebensbedingungen konnten sie sich nicht länger mit dem Schlagwort des Fortschritts und des Wandels identifizieren. 2004 wurden die Gewinner der polnischen Transformation und die Vertreter des europäischen Kapitals als neue Feinde ausgemacht, die den Polen ihr Geld, ihr Land und vor allem ihre Identität rauben wollten.73 Beide Parteien dieses Beitrittskonflikts bezogen sich in ihren Argumenten für oder gegen die Integration auf die Geschichte und die Erinnerung. Beitrittsbefürworter sprachen eher von einer »Rückkehr nach Europa« als von einem Beitritt und gingen bis zum Akt von Gnesen zurück, einem Treffen zwischen dem polnischen Herzog Bolesław Chrobry und Kaiser Otto III. im Jahr 1000, um den gegenwärtigen Prozess als natürliche Fortsetzung der polnischen Geschichte oder sogar als Wiederherstellung eines angemessenen status quo ante darzustellen. Zeitgleich verteilten Euroskeptiker Poster, auf denen Adolf Hitler mit der Parole abgebildet war : »Polen, Volksdeutsche und Euro-Volksdeutsche! Ich bin stolz auf euch! Einst wart ihr Zwangsarbeiter unseres Reiches. Heute ist mir eure freiwillige Entscheidung Beweis eurer Evolution. Hoch lebe das neue Reich. Euer Adolf Hitler!«74

Indem die EU also nicht nur als erneuertes Drittes Reich, sondern als eine neue, von »Eurokommunisten« regierte Sowjetunion präsentiert wurde, verkörperte sie die beiden Pole in der Geschichte feindlich gegenüberstehenden Mächte. Die Geschichte – die jüngere genauso wie die ältere – diente als Sprachrohr, um die gegenwärtigen Probleme klar und anschaulich zu artikulieren. Zum Verständnis des zweiten Ereignisses des Jahres 2004 – die öffentlichen 72 S. Markowski/Tucker, Euroscepticism. 73 Vgl. Maria Jarosz (Hrsg.), Polacy rûwni i rûwniejsi. Klasy i warstwy we wspûłczesnym społeczen´stwie polskim [Gleiche und gleichere Polen. Klassen und Schichten in der polnischen Gegenwartsgesellschaft], Warschau 2010. 74 Dazu Marcin Kula, Historyczne tres´ci w historycznym referendum [Der historische Inhalt in einem historischen Referendum], in: Ders., O co chodzi w historii? [Worum geht es in der Geschichte?], Warschau 2008, 167 – 178, hier S. 172.

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Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes – genügt es nicht, den eingangs erwähnten Erinnerungsboom zu betrachten, den dieses Jubiläum auslöste. Vielmehr muss auch die bereits angeführte Marginalisierung von Erinnerung in den ersten 15 Jahren der Transformation berücksichtigt werden. Der 1994 begangene 50. Jahrestag wirkt lediglich solange eindrucksvoll, wie er nicht mit der massenhaften Teilnahme der Bürger an den Feierlichkeiten 2004 verglichen wird. Außer dem Umstand, dass es sich um den ersten runden Jahrestag im freien Polen handelte, blieb das Ereignis abstrakt historisch und die Feierlichkeiten bewegten sich im engeren politischen Rahmen, blieben also weitgehend unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit. Die Einwohner Warschaus waren stärker an einer ökonomischen Modernisierung als an Erinnerungspraktiken interessiert. Diese Zurückweisung der Vergangenheit zu Beginn der Transformation pointierte Lech Kaczyn´ski, damaliger Oberbürgermeister von Warschau, während der Eröffnung des »Museums des Warschauer Aufstandes« rückblickend deutlich: »Warum eröffnen wir aber dieses Museum erst am 60. und nicht bereits am 50. Jahrestag des Aufstandes? […] Der besondere Charakter des Jahres 1989 und der Folgejahre führten dazu, dass in unseren Leben weiterhin Kräfte bedeutend sind, für die die im polnischen Herzen und Denken verankerte polnische Unabhängigkeit kein Wert, sondern eine Bedrohung ist. Kräfte, für die es besser ist, auf das Gedächtnis des Aufstandes zu zielen, als um seine Wahrnehmung in der Welt zu kämpfen, um Fakten zu kämpfen, die für jeden von uns selbstverständlich, aber unter anderen Nationen unbekannt oder schlimmer noch völlig verfälscht sind.«75

Das Museum wurde zweifelsohne zum sichtbarsten Zeichen dieser jüngsten Erinnerungswende. Einer sogenannten »neuen Museologie« folgend, setzt es stark auf Multimedia-Installationen und richtet sich auch optisch insbesondere an junge Menschen und ersetzt eine alte, in Polen noch immer sehr präsente, auf Zahlen, Daten und Fakten bezogene Erinnerungsrhetorik durch Erfahrungsberichte und Reenactments.76 »First and foremost we wanted to convey the climate of those times, recreate the atmosphere of fighting Warsaw, show, not only the military struggle of those 63 days but also everyday life of civilians. Only in this way we could reach our target audience –

75 Lech Kaczyn´ski, Zwien´czenie polskiego czynu niepodległos´ciowego [Bekrönung des polnischen Unabhängigkeitsstrebens] (31. 07. 2004), http://niezalezna.pl/31525-zwienczeniepolskiego-czynu-niepodleglosciowego (30. 09. 2013). 76 Ian MacCalman/Paul A. Pickering (Hrsg.), Historical Reenactment. From Realism to the Affective Turn, New York 2010.

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the young people. Our Museum is designed to tell them a story of the Rising, show all of its aspects and convey its significance.«77

Der 60. Jahrestag 2004 wurde in einem anderen Polen und von anderen Polen begangen. Natürlich konzentrierten sich die Feierlichkeiten vor allem auf die Hauptstadt, doch die Neuinszenierung der Erinnerung ergriff das ganze Land und etablierte ein neues Repertoire von Erinnerungspraktiken. Während offizielle Zeremonien lediglich die Feierlichkeiten von 1994 noch pompöser wiederholten, erschienen völlig neue Erinnerungsformen von unten: An den Warschauer Aufstand wurde auf Plaketten und T-Shirts, Flyern und Stickern erinnert. Geschichte sprach nicht nur in der mahnenden Erziehungsrhetorik, sondern auch in der verführerischen Sprache des Marktes. Erstmals war ein solches Erinnern nicht mehr bloß verpflichtend, sondern sogar anziehend.78 Als gemeinsame Sprache von Zeichen und Praktiken, welche die bereits transformierte kapitalistische Gesellschaft einte, erreichte es nicht nur die Alten, sondern vor allem die Jungen, die eher mit Desinteresse an Geschichte assoziiert werden. So strahlte das öffentlich-rechtliche Fernsehen Kurzfilme in der Ästhetik von Videoclips zum Warschauer Aufstand aus. Statt lediglich die von Politikern begangenen offiziellen Zeremonien zu zeigen, präsentierte die Medienberichterstattung über die Gedenkfeiern Geschichte als etwas Zeitgemäßes und zog Parallelen zwischen damals 20-Jährigen und heutigen Teenagern. Diese neue Medienrhetorik, die sich am westlichen Vorbild der history channels orientierte,79 entwickelte sich seit 2004 dynamisch und resultierte in einer Vielzahl von Medienereignissen. Rock- und Popbands nahmen zu Ehren der Aufständischen Alben auf, und auch Comic- und Graffiti-Künstler beteiligten sich an einer solchen Huldigung der Vergangenheit.80 Eine solche Medienberichterstattung und das neu errichtete Museum sind keine Ausnahmen, sondern vielmehr 77 Museum des Warschauer Aufstandes, About Us, http://www.old.1944.pl/index.php?a=site_text& id=1994& se_id=12850 (30. 09. 2013). 78 Das Phänomen, Erinnerungsdiskurse in die Domäne der Marktkommunikation zu integrieren, wurde erstmals analysiert von Jean Baudrillard, History. A Retro Scenario, in: Ders., Simulacra and Simulation, Ann Arbor 2004, S. 43 – 48. 79 Vgl. Tristram Hunt, How Does Television Enhance History?, in: David Cannadine (Hrsg.), History and the Media, Palgrave Macmillan, London 2004, S. 88 – 102. 80 Das bekannteste dieser Alben, Powstanie Warszawskie [Der Warschauer Aufstand], veröffentlicht 2005 von der Rockband Lao Che, wurde von den Hörern von Polskie Radio zum Nummer 1 Rockalbum gewählt. Das Konzeptalbum erzählt den Aufstand in chronologischer Reihenfolge von seinem Beginn bis zur Niederlage und Kapitulation nach. Nach Lao Ches Erfolg übernahmen viele andere Alben das Thema, wie Mateusz Pospieszalskis Pamie˛tnik z Powstania Warszawskiego [Tagebuch aus dem Warschauer Aufstand] von 2009, die musikalischen Interpretationen Miron Białoszewskis A Memoir of the Warsaw Uprising sowie Morowe panny [Fesche Fräulein in Moir¦] von 2012, welches das Heldentum der am Aufstand teilnehmenden Frauen darstellen soll.

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Symptome einer neuen Form kollektiver Erinnerung, die sowohl pompös als auch attraktiv sein will. Es scheint, dass der erwähnte romantische Messianismus eine neue Ausdrucksform gefunden hat und eine machtvolle Einheit mit den neuen Medien schuf.81

Gedenkpraktiken als Ausdruck gegenwärtiger politischer Spaltungen Die jüngste Wende hin zur Vergangenheit markierte ein Ende des Umbruchs und ließ neue Fragen und Zweifel über die Identität, die Erinnerung, den Sinn und die Rahmen der Gemeinschaft aufkommen. Fragen nach Identität und historischer Herkunft wurden gleichbedeutend oder gar wichtiger als Fragen nach zukünftigen Zielen. Zum ersten Mal seit 1989 wurde Erinnerung zu einer öffentlichen Angelegenheit und nicht mehr der Bevölkerung von den staatlichen Autoritäten aufgezwungen.82 Dies ging mit einer bemerkenswerten Verschiebung der Legitimationsmuster von Erinnerung einher. Erinnerung war als öffentliche Angelegenheit ein wichtiger Teil des polnischen Widerstands während des 19. Jahrhunderts und während der Volksrepublik gewesen. Ein Appell an die Vergangenheit war ein klarer Akt der Ablehnung des gegenwärtigen (fremden) politischen Regimes. Das bedeutet, dass viele sonst nationalaffirmative oder legitimatorische Gedenkpraktiken in Polen mit regierungskritischer Bedeutung aufgeladen sind. Märsche, Zusammenkünfte, und auch das Totengedenken, sind keine Legitimationspraktiken, sondern vielmehr grundlegende Formen der Delegitimation von Macht. Als die demokratischen Regierungen nach 1989 sukzessive begannen, offizielle Zeremonien zu organisieren, war deren Position höchst ambivalent. Einerseits verstanden sie sich zumeist als Erben der oppositionellen Tradition, andererseits nahmen sie umgehend die Position des vorherigen Regimes ein. Nichtsdestotrotz blieb diese ambivalente Analogie bis zur Wende von 2004, als Friedhöfe plötzlich zu ideologischen Kampfplätzen wurden, weitgehend unproblematisch. Heute dagegen trägt jeder Versuch, die offiziellen Gedenkfeiern zu organisieren, vor allem seitens der Modernisten, schwer an der Last der Vergangenheit. Diese Uneindeutigkeit gegenüber den offiziellen Gedenkfeiern

81 Vgl. Maria Janion, Gora˛czka romantyczna [Romantisches Fieber], Warschau 1975. 82 »Public memory emerges from the intersection of official and vernacular cultural expressions. The former originates in the concerns of cultural leaders or authorities at all levels of society«. John Bodnar, Remaking America. Public Memory, Commemoration and Patriotism in the Twentieth Century, Princeton 1992, S. 12.

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drücken wohl am deutlichsten die Tumulte aus, die sich zu jedem Jahrestag wiederholen: »Ein Pfeifkonzert und Geschrei erschollen am Gloria-Victis-Denkmal auf dem Powa˛zki-Friedhof […] Als […] verkündet wurde, dass an den Feierlichkeiten Hanna Gronkiewicz-Waltz [Oberbürgermeisterin der Stadt Warschau, PO (Bürgerplattform), M.N.] und Małgorzata Kidawa-Błon´ska, die Chefin der Warschauer PO, teilnahmen, buhte eine Gruppe von Fußballfans und Funktionären des ONR [einer rechtsradikalen Organisation, M.N.] sie aus und skandierten: ›Mit dem Hammer, mit der Sichel, schlagen wir den roten Pöbel.‹«83

Je stärker die offizielle Deutung des Aufstandes infrage gestellt wurde, eskalierten solche öffentlich ausgetragenen Feindseligkeiten. So beispielsweise 2011, als am Vorabend des Jahrestages der polnische Außenminister Radosław Sikorski (PO), der regelmäßig soziale Medien nutzt, twitterte: »Wir sollten auch aus dieser nationalen Katastrophe Lehren ziehen«. Sikorski fügte einen Link auf eine Homepage hinzu, auf der er die Anführer des Aufstandes kritisierte. Wie zu erwarten, sorgte er nicht nur bei den Mitgliedern der konservativen PiS für Entrüstung, sondern auch seine Parteikollegen der liberalkonservativen Bürgerplattform rügten diese Einlassungen.84 Die Kontroversität des Themas war dem glücklosen Politiker zweifelsohne bewusst, wie auch die zu erwartenden Angriffe seitens der Verehrer der Aufständischen. Sikorski, selbst für seine antikommunistische Haltung und unversöhnliche Kritik an der Volksrepublik bekannt, hatte allerdings nicht damit gerechnet, durch seine Kritik am Aufstand selbst in die frühere kommunistische Position zu geraten. Augenscheinlich gaben weder seine ideologische Grundhaltung noch seine Vergangenheit als parteiloser Minister in einer PiS-geführten Regierung ihm das moralische Recht, die Sinnhaftigkeit des Warschauer Aufstandes infrage zu stellen. Ihn als »nationale Katastrophe« darzustellen entsprach genau der kommunistischen Interpretation eines »langen Marschs«. Um die Sinnhaftigkeit des Kampfes zu untergraben, hatten die kommunistischen Machthaber sämtliche opferzentrierte Gedenkpraktiken verboten und so die Trauerarbeit nach dem schrecklichen Verlust unterbunden. Heute ist zwar das Feld für Debatten offen, doch scheint es für eine offene Debatte zu spät zu sein. Vielmehr wurde die Metapher des Bollwerks zum einzigen legitimen narrativen Muster des Warschauer Aufstandes. Der Kult um ihn ist ein Narbengewebe, das essenziell für die moderne polnische Identität ist und damit letztlich die Unterscheidung zwischen einer Erinnerung an den Warschauer Aufstand und seiner Glorifizierung unmöglich 83 Jerzy S. Majewski, Gwizdy na obchodach [Pfeifkonzert bei den Feierlichkeiten], in: Gazeta Wyborcza, 01. 08. 2012. 84 Vgl. Wojciech Wybranowski, Sikorski na rocznice˛ o »katastrofie narodowej« [Sikorski zum Jahrestag über eine »nationale Katastrophe«], in: Rzeczpospolita, 01. 08. 2012.

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macht. Für seine Bewunderer ist die einzig denkbare Reaktion auf Versuche, die Sinnhaftigkeit dieses traumatischen Ereignisses neu zu verhandeln, der radikale Widerstand.85

Schlussbetrachtung Diese Untersuchung konnte zeigen, wie die Erinnerung an den Versuch, die polnische Hauptstadt für ein eigenständiges Polen zu befreien, das Verhältnis von Polen und Europa beeinflusst. Schon vor dem Ausbruch des Aufstandes reihte sich die Idee des bewaffneten Kampfs gegen Nationalsozialismus und Kommunismus in das Deutungsmuster eines Bollwerks für Europa ein und knüpfte auf diese Weise an ältere Konflikte zum Beispiel mit dem Osmanischen Reich an.86 Vor diesem Hintergrund wurde der Warschauer Aufstand in der Zeit der Volksrepublik Polen sowohl für Oppositionelle im Land selbst als auch im Exil zum Symbol eines »anderen Polens«. Lässt sich diese, dem Aufstand gegenüber affirmative Erinnerung als Betrauern der Gefallenen zusammenfassen, stand ihr eine zunächst vor allem kommunistische Erinnerung an die sinnlose Zerstörung Warschaus entgegen. Betont der »Trauerzug« die Bedeutung der Vergangenheit, nimmt der kommunistische »lange Marsch« ausschließlich die Zukunft in den Blick und lässt die Trümmer hinter sich. Diese Auffassung verlor in den 1990er-Jahren ihre kommunistische Zuschreibung und stand für eine vermeintliche Geschichtsvergessenheit und ambivalente Fortschrittseuphorie. Diese auch im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs präsente Deutungsdichotomie des Warschauer Aufstandes wird in aller Regel vor allem ideologisch erklärt, aus dem Gegensatz zwischen der Volksrepublik und einem anderen Polen. Die Erinnerung an den Aufstand erscheint so als eine Frage des Zugangs zu Informationen, seiner medialen Verbreitung und seiner gesellschaftlichen Aufbereitung, zum Beispiel in Schulbüchern. Betrachtet man dagegen die zeitlichen Zusammenhänge dieser unterschiedlichen Deutungen, lassen sie sich jedoch auch als generationelle Differenzen verstehen, sodass die geringe Intensität der Erinnerung während der politischen Transformation zur Deutung einer Nachkriegs- und Nachaufstandsgeneration wird. Die erneuerte Erinnerung des letzten Jahrzehnts lässt sich dagegen in das allgemeine Phänomen einer veränderten, sowohl personalisierten als auch universalisierten Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg einordnen, wie sie auch in Deutschland erkennbar ist.87 85 Vgl. Paul Connerton, The Spirit of Mourning. History, Memory and the Body, Cambridge 2011. 86 Vgl. hier die Fallstudie von Simon Hadler. 87 Vgl. hier die Fallstudie von Gregor Feindt.

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Marcin Napiórkowski

Dass schließlich auch die Frage von Inklusion und Exklusion die Erinnerung an den Warschauer Aufstand weiterhin trägt, zeigt das folgende Zitat des Historikers und stellvertretenden Direktors des Museums für den Warschauer Aufstand, Paweł Ukielski: »Der Aufstand zeigt, dass der Krieg nicht ein einfacher Kampf zwischen Gut und Böse war (wie das in Westeuropa oft wahrgenommen wird), sondern, dass an ihm drei Seiten mit unterschiedlichen Zielen teilnahmen – zwei totalitäre System und die westliche, demokratische Welt. […] den Preis […] zahlte jedoch Mitteleuropa.«88

Intensivierte sich die Erinnerung an den Warschauer Aufstand in direkter zeitlicher Nähe zum EU-Beitritt Polens, trat auch das Spannungsverhältnis zwischen der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu Europa wieder zutage, das vor 1989 mit dem Deutungsmuster Jalta ausgedrückt wurde. Stehen dabei das Museum für den Warschauer Aufstand und der hier zitierte Ukielski für den Versuch, den Aufstand in einen vermeintlichen Kanon europäischer Erinnerung einzuschreiben, versuchen liberale Stimmen in Polen, ihn als Kampf für die Freiheit auszulegen. Sie universalisieren so seine Deutung und nivellieren damit die Unterscheidung von »Trauerzug« und »langem Marsch«. In dieser erneuerten Konfliktstellung zwischen vergangenheitsbezogener und zukunftsorientierter Deutung verschiebt sich zudem der Bezug auf Europa. Blieb dieser nämlich zunächst auf die vergangenheitsbezogene Opfererinnerung und das Narrativ der Trennung von Europa beschränkt, bezieht sich nun auch die zukunftsorientierte Deutung eines »langen Marschs« zur Freiheit explizit auf Europa als Rahmen dieses Strebens.

88 Paweł Ukielski, Powstanie Warszawskie.

Daniela Mehler

Srebrenica und das Problem der einen Wahrheit

Am 15. Januar 2009 verabschiedete das Europäische Parlament eine fraktionsübergreifend1 initiierte Resolution, welche die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die Länder des Westbalkans aufforderte, den 11. Juli zum »Tag des Gedenkens an den Völkermord von Srebrenica« zu erklären.2 Innerhalb von wenigen Monaten kamen alle EU-Staaten dieser Aufforderung nach.3 Selbst das serbische Parlament nahm 2010 eine eigene Deklaration zur Verurteilung des Verbrechens von Srebrenica an. Damit wird Srebrenica neben anderen Massenverbrechen in den Kanon einer negativen EU-Erinnerungskultur eingeordnet. Der europaweite Gedenktag und seine Unterstützung suggerieren eine gemeinsame Deutung der ihn mittragenden Länder. Der Text der EU-Resolution beschreibt das Massaker von Srebrenica als »das schwerste Kriegsverbrechen […] seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa«4 und klassifiziert es gemäß der Interpretation des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) als Völkermord. Im Widerspruch dazu wird im Zusammenhang mit dem »Unvermögen der internationalen Gemeinschaft […] in den Konflikt einzugreifen und die Zivilbevölkerung zu schützen«5 euphemistisch von einer »Tragödie« gesprochen. Die Resolution schreibt die Rollen in Srebrenica eindeutig zu: Als Täter identifiziert sie »bosnisch-serbische Soldaten unter dem Kommando von General Ratko Mladic´ und paramilitärische Einheiten, darunter auch irreguläre serbische Polizeieinheiten, 1 Die Resolution ersetzt damit die Einzelresolutionen der verschiedenen Fraktionsgruppen zur Einrichtung des 11. Juli als europäischen Gedenktag für das Massaker von Srebrenica. 2 Europäisches Parlament, 11 [sic!] Juli: Tag des Gedenkens an die Opfer des Massakers von Srebrenica. Entschließung des Europäischen Parlaments (15. 01. 2009), http://www.europarl. europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA& reference=P6-TA-2009 – 0028& language=DE& ring= B6-2009-0027 (30. 09. 2013). 3 Auch in den USA und in Kanada wird der 11. Juli als Gedenktag für das Massaker von Srebrenica begangen. Maßgeblich für die Einführung von Gedenktagen waren lokale bosniakische Lobbygruppen. 4 Europäisches Parlament, 11 [sic!] Juli: Tag des Gedenkens. 5 Ebd.

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die von Serbien aus in bosnisches Hoheitsgebiet eingedrungen waren«6. Weiterhin führt der Text General Radislav Krstic´, der wegen Beihilfe zum Völkermord durch das ICTY schuldig befunden wurde, sowie Radovan Karadzˇic´, den damaligen Präsidenten der Republika Srpska und Befehlsgeber des Militärführers Mladic´s, als Verantwortliche an. Als Opfer werden 8.000 getötete muslimische Männer und Jungen sowie ca. 25.000 zwangsverschleppte und vergewaltigte Frauen, Kinder und alte Menschen genannt. Zwar gibt das Europäische Parlament in seiner Resolution nur ein Narrativ vor, gleichzeitig nennt es vier Akteure, die unterschiedliche Perspektiven auf das gleiche Ereignis haben: muslimische Opfer auf bosnischem Territorium, bosnisch-serbische und serbische (para-)militärische Täter sowie eine versagende internationale Gemeinschaft. Diese Überformung soll auf den folgenden Seiten analytisch aufgebrochen werden, indem die Pluralität und die Transformation der Erinnerungsnarrative der genannten Akteure zwischen 1995 bis 2010 und die in ihrem Ringen um Deutungsfestschreibung zusätzlich auffächernden Erinnerungen sichtbar gemacht werden. Als Material bieten sich dafür Deutungen an, die bereits eine erste Festschreibung in Form von Deklarationen, juristischen Prozessen und offiziellen Berichten erfahren haben. Welche Funktion hat die Erinnerung an Srebrenica für die jeweiligen Akteure und Institutionen, welchen Logiken folgt sie? Weiterhin wird das Zusammen- und Gegenspiel dieser Erinnerungen untersucht und nach den Bedingungen gefragt, unter denen Deutungen hegemonialisiert, marginalisiert oder nicht weiter tradiert wurden. Abschließend analysiert der Beitrag anhand der Resolution des Europäischen Parlaments von 2009, welche Bezüge auf Europa in den untersuchten Deutungen durch die erinnernden Akteure vorgenommen wurden.

Die Vereinten Nationen: Das Ringen mit der Verantwortung Die Jugoslawienkriege waren von Beginn an Gegenstand internationaler Politik und Öffentlichkeit. Nahmen anfangs noch Vertreter der Europäischen Gemeinschaft die Vermittlungsversuche zwischen den Kriegsparteien in die Hand, die sich als aufstrebender internationaler Akteur darstellen wollten, fielen dem UNO-Sicherheitsrat und den USA mit der Zeit eine zunehmend aktivere Rolle zu. Die UNO-Generalversammlung schloss die nunmehr nur noch aus Serbien und Montenegro bestehende Bundesrepublik Jugoslawien im Herbst 1992 als Mitgliedsstaat aus. Mit dem Einsatz von UNO-Blauhelmsoldaten griff der Sicherheitsrat in den Konflikt ein. Er versuchte, vereinbarte Waffenstillstände zu überwachen und bot Flüchtlingen ab Frühjahr 1993 in »Schutzzonen« innerhalb 6 Ebd.

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vom Gegner kontrollierter Gebiete Zuflucht. Nur wenige Tage nach der bosnisch-serbischen Eroberung der Enklave Srebrenica am 9. Juli 1995 wurde der Fall der Schutzzone international verurteilt. Angeprangert wurde zunächst, dass es den internationalen Beschützern nicht gelungen war, die Schutzzone gegen den Angriff zu schützen, obwohl ein Vorrücken der bosnisch-serbischen Einheiten auf Srebrenica absehbar gewesen sei. Vor allem die Türkei, die während des ganzen Bosnienkriegs international als Fürsprecher der bosnischen Muslime agierte, kritisierte die UNO scharf. Auch Frankreich forderte eine Rückeroberung der Schutzzone. Erst in der zweiten Julihälfte kamen Gerüchte über ein Massaker auf. Erste Flüchtende aus der Enklave und später Überlebende des Massakers lieferten Berichte, nachdem sie auf sicherem Territorium angekommen waren. Vereinzelt sagten auch niederländische Blauhelmsoldaten aus, die in und um Srebrenica eingesetzt waren. Am 24. Juli 1995 wurde schließlich der Bericht des UNO-Menschenrechtsbeauftragten Tadeusz Mazowiecki veröffentlicht, der die Ereignisse um Srebrenica untersuchte. Demnach gab es klare Anzeichen, die auf Massenexekutionen schließen ließen. Zudem seien ca. 7.000 Einwohner der Enklave offenbar »verschwunden«.7 Drei Tage später trat Mazowiecki von seinem Amt zurück. Am 10. August wurden die Verbrechen in der Umgebung von Srebrenica im UNO-Sicherheitsrat thematisiert. Über den Herbst schoben sich die involvierten Akteure zwischen UNO, NATO und den in die Friedensmission involvierten Staaten gegenseitig die Verantwortung für den Fall der Schutzzone zu.8 Am 21. Dezember verurteilte der UNO-Sicherheitsrat in einer Resolution die Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Fall von Srebrenica.9 In den Monaten nach dem Massaker wurde Srebrenica zum Symbol für einen Exzess ethnischer Gewalt, der untrennbar mit einer Schuldzuweisung gegenüber »den Serben« verknüpft ist. In den folgenden Jahren wandelte sich die Erinnerung an Srebrenica für die UNO und die an dem Schutzeinsatz Beteiligten von der Erinnerung an ein Massaker in eine Erinnerung des eigenen institutionellen und persönlichen Versagens. Am 15. November 1999 veröffentlichte UNO-Generalsekretär Kofi Annan einen Bericht zum Fall Srebrenica.10 Er gab zu, dass durch »error, mis-

7 United Nations Commission on Human Rights, Final Periodic Report on the Situation of Human Rights in the Territory of the Former Yugoslavia. Submitted by Mr. Tadeusz Mazowiecki, Special Rapporteur of the Commission on Human Rights, Pursuant to Paragraph 42 of Commission Resolution 1995/89 (22. 08. 1995), http://www.unhchr.ch/Huridocda/ Huridoca.nsf/0/4382f1156088a2ea8025669d00503b39?Opendocument (30. 09. 2013). 8 Marc Semo, Srebrenica, retour sur un massacre. Le g¦n¦ral Janvier est accus¦ d’avoir abandonn¦ l’enclave musulmane tomb¦e en juillet, in: Lib¦ration, 01. 11. 1995. 9 United Nations Security Council, On Violations of International Humanitarian Law and of Human Rights (Resolution 1034) 1995. 10 United Nations General Assembly, Report of the Secretary-General Pursuant to General

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judgment and an inability to recognize the scope of the evil confronting us, we failed to do our part to help save the people of Srebrenica from the Serb campaign of mass murder.«11 Annan betonte, »Bosnia was as much a moral cause as a military conflict. The tragedy of Srebrenica will haunt our history forever«12. Er forderte die UNO-Mitgliedstaaten zu einem Prozess der Reflexion und der Analyse auf. Das Versagen des Konzepts der Schutzzonen, das Fehlen eines robusten Mandats für etwaige Kampfeinsätze sowie die Frage der Immunität der unter UNO-Mandat Handelnden führten nachhaltig zu einer Diskussion über eine Reform der UNO-Friedenssicherungsinstrumente.

Internationale Gerichte und Prozesse: Richter über Deutungen Das durch den UNO-Sicherheitsrat 1993 eingerichtete ICTY qualifizierte das Massaker von Srebrenica als Völkermord, als es am 14. November 1995 Ratko Mladic´ und Radovan Karadzˇic´ wegen Genozids, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzungen des Kriegsrechts anklagte.13 Weitere Anklagen folgten. Schon im November 1996 wurde mit Drazˇen Erdemovic´14 der erste am Massaker von Srebrenica beteiligte Täter unter großer Aufmerksamkeit der Medien verurteilt. Der Prozess gegen den Kommandanten des Drina-Korps der Armee der Republika Srpska, Radislav Krstic´, in den Jahren 2000 und 2001 beruhte auf präziseren Ermittlungen und Recherchen. Im Rahmen dieses Prozesses wurde auch erstmals eine konkrete Opferzahl genannt, die auf konservativen Schätzungen beruhte: Mindestens 7.475 Personen seien nach Eroberung der Enklave umgekommen.15 Die Verurteilung Radislav Krstic´s durch das ICTY 2001 wegen Völkermords – dieses Urteil wurde 2004 in Beihilfe zum Völkermord revidiert – legte eine eindeutige Interpretation fest und bildete einen Referenzpunkt für alle folgenden Narrative über Srebrenica. Die Reaktionen auf das

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Assembly Resolution 53/35. The Fall of Srebrenica (15. 11. 1999), http://www.undemocracy.com/A-54 – 549.pdf (30. 09. 2013). Ebd., S. 108. Ebd. International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, The Prosecutor of the Tribunal Against Radovan Karadzic, Ratko Mladic. Indictment (November 1995), http://www.icty.org/x/cases/mladic/ind/en/kar-ii951116e.pdf (30. 09. 2013). Kaum bekannt ist, dass Drazˇen Erdemovic´ im Frühjahr 1996 von jugoslawischen Behörden (!) an das ICTY übergeben wurde. Helge Brunborg/Torkild Hovde Lyngstad/Henrik Urdal, Accounting for Genocide. How Many Were Killed in Srebrenica?, in: European Journal of Population/Revue europ¦nne de Demographie 19 (2003), H. 3, S. 229 – 248.

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ICTY-Urteil in Serbien und Bosnien-Herzegowina fielen erwartungsgemäß sehr gegensätzlich aus.16 Besonderes Aufsehen unter den in der Folge vor dem ICTY verhandelten Fällen erregte in Serbien und Bosnien-Herzegowina der Fall von Naser Oric´,17 der als ehemaliger Kommandant der muslimischen Enklave Srebrenica eine wichtige Symbolfigur darstellt. Während bosnische Muslime ihn als Rückeroberer von an die Serben verlorenem Territorium und Verteidiger der Enklave bis zu deren Fall feiern, nimmt die serbische Seite ihn als brutalen Gewalttäter wahr, der sich mit der Tötung und Folter serbischer Zivilisten öffentlich brüstete. Oric´ wurde 2003 vor dem ICTYdiverser Verbrechen an serbischen Zivilisten angeklagt. 2006 verurteilte das Gericht ihn aufgrund mangelnder Beweislast lediglich zu einer zweijährigen Haftstrafe, die meisten Anklagepunkte wurden fallengelassen und Oric´ direkt nach der Verkündung des Urteils auf freien Fuß gesetzt. Durch die Thematisierung serbischer Verbrechen in der Umgebung von Srebrenica schien die Verhandlung des Falles Oric´ zunächst die Dichotomien des hegemonialen Narrativs aufzubrechen. Der Prozessausgang allerdings erzielte einen gegenteiligen Effekt und führte zu Vorwürfen: von bosnisch-muslimischer Seite, das Gericht wolle eine »false ethnic balance«18 herstellen, und von serbischer Seite, serbischen Opfern würde keine Gerechtigkeit erfahren. Bosnien und Herzegowina hatte bereits am 20. März 1993, mehr als zwei Jahre vor dem Massaker von Srebrenica, unter Verweis auf die Genozidkonvention Klage vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die Bundesrepublik Jugoslawien eingereicht. Die bosnisch-muslimische Führung beschrieb darin den Bosnienkrieg nicht als Bürgerkrieg oder als einen territorialen Konflikt, sondern als entschlossene Anstrengung der serbischen Seite, die bosnischen Muslime auf dem von Serben kontrollierten Territorium als Volk zu eliminieren.19 Gleich in der Einleitung des Antrags wird ein Vergleich mit dem Holocaust gezogen, »[n]ot since the end of the Second World War and the revelations of the horrors of Nazi ›Final Solution‹ has Europe witnessed the utter destruction of a People«20. Die Bundesrepublik Jugoslawien beschuldigte die bosnische Regierung ihrerseits, die Genozidkonvention gebrochen und Verbrechen des Völkermords gegen Kroaten und Serben auf von Bosnien-Herzegowina kontrolliertem Gebiet

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Jelena Subotic´, Hijacked Justice. Dealing with the Past in the Balkans, Ithaca 2009, S. 137. S. hierzu die Prozessinformationen unter http://www.icty.org/case/oric/4 (30. 09. 2013). Ebd., S. 130. Ebd., S. 136. International Court of Justice, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Application Instituting Proceedings (20. 03. 1993), http://www.icj-cij.org/docket/files/91/ 7199.pdf (30. 09. 2013).

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nicht unterbunden oder durch staatliche Organe begangen zu haben.21 Auch hier wurden historische Parallelen zu den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gezogen. Im Februar 2007 befanden die Richter des Internationalen Gerichtshofs, dass es während des Bosnienkrieges zwar schwere Verbrechen gegen die muslimische Bevölkerung gegeben habe, aber, abgesehen vom Massaker von Srebrenica, keine Absicht zur Auslöschung eines ganzen Volkes zu belegen sei. Zwar habe der serbische Staat die bosnischen Serben in hohem Maße finanziell und militärisch unterstützt, aber eine Mittäterschaft für den Völkermord könne Serbien nicht nachgewiesen werden. Allerdings sei Serbien der Pflicht, den Völkermord in Srebrenica zu vermeiden sowie in dessen Aufklärung mit dem ICTY zusammenzuarbeiten, nicht nachgekommen.22 Während das Urteil in Serbien mit Erleichterung aufgenommen wurde, stieß es unter bosnischen Muslimen auf Kritik. Ihr Interesse an einem anders ausfallenden Urteilsspruch war dreifach: Einerseits wäre eine Verurteilung Serbiens dem Eingeständnis einer politischen beziehungsweise moralischen Schuld Serbiens gleichgekommen – in einer kollektiven Dimension, die vor dem ICTY nicht verhandelt wird. Hohe Entschädigungszahlungen wären die Folge gewesen. Gleichzeitig benutzte die bosniakische Seite den Fall, um auf das Ausmaß des Leidens der eigenen ethno-nationalen Gruppe hinzuweisen und drängte durch die Betonung des Opferstatus die eigene Täterschaft in den Hintergrund. Die Europäische Kommission forderte im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses von Serbien die Anerkennung des Urteils.

Frankreich und die Niederlande: Konfrontation mit dem Versagen In der Entwicklung der Deutungen von Srebrenica in Frankreich und den Niederlanden, die sich beide in der United Nations Protection Force (UNPROFOR) im Bosnienkrieg engagierten, lässt sich nachvollziehen, wie aus einer positiven eine negative Erinnerung wurde. Während man sich durch die Beteiligung an der UNO-Friedensmission bis zum Massaker 1995 als Schutzmacht der bosnischen 21 International Court of Justice, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Request for the Indication of Provisional Measures made 9 August 1993 by the Federal Republic of Yugoslavia in the Case Concerning the Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, instituted by the Application, dated 20 March 1993 of the so-called Republic of Bosnia and Herzegovina (01. 04. 1993), http:// www.icj-cij.org/docket/files/91/13277.pdf (30. 09. 2013). 22 International Court of Justice, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro) 2007.

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Muslime verstand, wurden in beiden Ländern in den Jahren danach Fehler, Schuld und Versagen diskutiert. Nachdem der französische General Philippe Morrillon der Bevölkerung der belagerten Enklave Srebrenica sein Versprechen gegeben hatte, erklärte der UNO-Sicherheitsrat die Stadt in einer Resolution zu einer »United Nations Protected Area«.23 1995 zeichnete sein Nachfolger Bernard Janvier verantwortlich für die nicht weitergeleitete Anforderung von NATO-Luftunterstützung, die möglicherweise die vorrückenden serbischen Einheiten hätte aufhalten können. Erst mit einigen Jahren Abstand folgte eine politische Auseinandersetzung in Frankreich, nachdem die »M¦decins Sans FrontiÀres« die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission gefordert hatte.24 Die NGO hatte durch das Massaker 22 lokale Mitarbeiter verloren. Als Teil der öffentlichen Debatte wurde die Frage nach politischer und militärischer Verantwortung gestellt, und es kamen Forderungen nach einer Aufklärung der genauen Abläufe auf. Durch die Medien wurde die schon 1996 geäußerte Vermutung aufgegriffen, dass es zwischen General Janvier, Ratko Mladic´ und dem Kommandanten der serbischen Armee, Momcˇilo Perisˇic´, geheime Absprachen gegeben habe. Janvier habe versucht, die Freiheit gefangener französischer UNO-Soldaten zu erwirken, und im Gegenzug zugesagt, im Falle einer Attacke auf Srebrenica keine Luftschläge zu unternehmen. Auf öffentlichen Druck hin wurde schließlich eine Expertenkommission eingesetzt, die der französischen Nationalversammlung im November 2001 einen Bericht vorlegte: »L’¦chec des Nations Unies — Srebrenica est donc avant toute chose l’¦chec des Etats qui ont pris des engagements, notamment au sein du Conseil de s¦curit¦, qu’ils n’ont pas respect¦s, faute de s’en donner les moyens. La raison de fond de la chute de Srebrenica est — rechercher dans l’absence de volont¦ politique affirm¦e d’intervenir — Srebrenica: de la France, du Royaume-Uni, des Etats-Unis, des autorit¦s bosniaques de Sarajevo elles-mÞmes.«25

Gerade Frankreich fiele als ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat eine besondere Rolle zu. Der Bericht räumte ein, dass General Janvier der Anforderung nach Luftunterstützung früher hätte nachkommen müssen,26 die bosnischen Serben aber unterschätzt habe. Fehlende Beweise entkräfteten den Vorwurf einer 23 United Nations Security Council, Resolution 819 (1993). 24 Lara J. Nettelfield, Courting Democracy in Bosnia and Herzegovina. The Hague Tribunal’s Impact in a Postwar State, Cambridge/New York 2010, S. 120. 25 Assembl¦e nationale, Rapport d’information d¦pos¦ en application de l’article 145 du R¦glement par la mission d’information commune (1) sur les ¦v¦nements de Srebrenica, Paris 2001, S. 187. Online unter : http://www.assemblee-nationale.fr/legislatures/11/pdf/rapinfo/i3413-01.pdf (30. 09. 2013). 26 S. Massaker von Srebrenica. Rolle der UNO-Truppe umstritten, in: Rheinische Post, 12. 04. 2001.

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Abmachung zwischen Janvier und serbischen Kräften. Da die Anhörung von Morrillon und Janvier unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, bleibt die »Wahrheit« über Srebrenica und die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft aber bis heute umstritten.27 Ermittlungen gegen General Janvier wurden nie eingeleitet. Zwar forderte der Kommissionsbericht dazu auf, dass Franzosen, Briten und Amerikaner insbesondere die nötigen Mittel und Gelder für das ICTY bereitstellen sollten, um »ces criminels contre l’humanit¦«28 zu fassen, allerdings weigert sich Frankreich weiterhin, französische Offiziere vor dem ICTYaussagen zu lassen. NGO-Initiativen aus Bosnien sowie das »Zentrum für politische Schönheit«, ein Zusammenschluss von Künstlern und Menschenrechtsaktivisten aus Deutschland, das in seiner Dokumentation »Himmel über Srebrenica« Parallelisierungen mit den ausgebliebenen Luftschlägen der Amerikaner auf Auschwitz vornahm, weisen auf das Versagen der internationalen Kräfte und insbesondere von General Janvier hin. In der niederländischen Erinnerung kommt zunächst die Hilflosigkeit der rund um Srebrenica eingesetzten UNO-Blauhelmsoldaten des niederländischen Bataillons zum Ausdruck. Kronprinz Willem Alexander lobte die Soldaten des sogenannten Dutchbat nach ihrer Rückkehr im Namen des Königshauses für den geleisteten Einsatz. Nur wenige Wochen später wurde die Schuldfrage und die Rolle der Blauhelmsoldaten breit in den niederländischen Medien diskutiert. Ihnen wurde vorgeworfen, nichts gegen den unter ihren Augen geschehenen Völkermord an Tausenden Menschen unternommen zu haben, die Schutz auf ihrem Gelände gesucht hätten. Während die niederländische Gesellschaft durch eine überaus hohe Spendenbereitschaft große Anteilnahme an dem Schicksal der bosnisch-muslimischen Opfer und ihrer Angehörigen zeigte,29 verwies das Militär auf sein eingeschränktes Einsatzmandat. Zur Klärung des Sachverhalts gab die niederländische Regierung 1996 eine Untersuchung am unabhängigen Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) in Auftrag. Im Frühjahr 2002 wurde die 3.875-seitige Studie30 veröffentlicht, die zu dem Schluss kam, dass das niederländische Bataillon keine Chance gehabt habe, Frieden dort zu sichern, »where there was no peace to keep«31. Auch wenn der Bericht die niederländischen Soldaten von jeglicher Schuld freisprach, wies er eindeutig auf Verfehlungen der niederländischen Regierung hin: »[H]umanitarian motivation 27 Dzˇevad Sabljakovic´, Srebrenica Evidence Kept under Wraps. French Public Barred from Hearing Crucial Evidence at Srebrenica Parliamentary Inquiry (2001), http://iwpr.net/report-news/srebrenica-evidence-kept-under-wraps (30. 09. 2013). 28 Assembl¦e nationale, Rapport d’information, S. 194. 29 S. ausführlicher Nettelfield, Courting Democracy, S. 117. 30 Johan C.H. Blom/Peter Romijn u. a., Srebrenica. Reconstruction, Background, Consequences and Analyses of the Fall of a ›Safe‹ Area, Amsterdam 2002. 31 Ebd., S. 1424.

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and political ambitions drove the Netherlands to undertake an ill-conceived and virtually impossible peace mission.«32 Die Mission sei weder entsprechend vorbereitet und ausgerüstet worden, noch hätte es eine angemessene Koordination zwischen Verteidigungs- und Außenministerium gegeben. Zudem sei Unterstützung durch NATO-Luftangriffe ausgeblieben. Sowohl die Niederlande als auch die UNO seien ihrer Pflicht nicht nachgekommen. Nach einer außerordentlichen Parlamentsdebatte trat die sozialliberale Regierung von Premierminister Wim Kok als Reaktion auf den NIOD-Bericht zurück. Diese umstrittene Entscheidung wurde einerseits als angemessen hinsichtlich der niederländischen Rolle während des Falls der Enklave gewertet, andererseits als Versuch, weitere Diskussionen über die Einsichten des NIOD-Report zu verhindern.33 Eine kritische politische Auseinandersetzung mit Srebrenica war damit beendet. Die nachfolgende konservative Regierung versuchte, den niederländischen UNO-Einsatz zu rehabilitieren und zeichnete die Dutchbat-Soldaten im Dezember 2006 für ihren Einsatz aus. Dieser symbolische Akt forderte eine Konfrontation der unterschiedlichen Erinnerungen an Srebrenica heraus: Während Verteidigungsminister Henk Kamp an etwa 500 Angehörige Dienstmedaillen verlieh, blieben 250 Soldaten der Einheit aus eigenem Willen der Zeremonie fern. Gegen die Auszeichnung protestierten der bosnische Staat, Opfergruppen sowie zahlreiche internationale NGOs.34 Seit 1995 wandelte sich die niederländische Erinnerungspolitik von einer Haltung der Hilflosigkeit und des Versagens in ein Bemühen um Verantwortlichkeit für die Bestrafung der Täter und der Unterstützung der Opfer. Lokale bosnische NGOs und Aufbauprojekte erhalten genauso niederländische Finanzmittel wie die Forschung zum Bosnienkrieg im Allgemeinen und zu Srebrenica im Besonderen. Als Fürsprecher für das in Den Haag angesiedelte ICTY blockierte die niederländische Regierung bis Winter 2012 das Stabilisierungsund Assoziierungsabkommen Serbiens mit der EU. Sie machte die Verhaftung von Ratko Mladic´ zur Bedingung für eine Ratifikation.

32 NIOD Institute for War, Holocaust and Genocide Studies, »Dutchbat had to keep the peace where there was no peace«. Humanitarian Motivation and Political Ambitions Drove the Netherlands to Undertake. An Ill-Conceived and Virtually Impossible Peace Mission (20.04. 2002), http://www.srebrenica.nl/Pages/OOR/23/377.bGFuZz1OTA.html (30. 09. 2013). 33 Nettelfield, Courting Democracy, S. 116. 34 Gesellschaft für bedrohte Völker, »Our lives lay in your hands – Srebrenica mourns! No medals for Dutchbat III!« Survivors from Srebrenica are protesting against the decoration of Netherlands peace-keeping soldiers, Pressemitteilung vom 04. 12. 2006, http://www.gfbv.de/ pressemit.php?id=742 (30. 09. 2013).

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Griechenland – kein staatlicher Umgang mit Tätererinnerung Die griechische Regierung, die griechisch-orthodoxe Kirche, aber auch die Medien im Land unterstützten während der Jugoslawienkriege mehr oder weniger offen ihre serbischen »orthodoxen Brüder«. Die Medien berichteten aus Pale, Belgrad oder den serbisch kontrollierten Teilen Sarajevos; der Fernsehsender MEGA übertrug sogar die Eroberung der Enklave Srebrenica. Auch die sogenannte »griechische Freiwilligengarde« (Grcˇka dobrovoljacˇka garda), die mit etwa hundert Söldnern und aus Solidarität Kämpfenden seit 1992 für die bosnisch-serbische Armee aktiv war, war vor und während des Massakers von Srebrenica vor Ort.35 Dementsprechend gestaltet sich die Erinnerung an das Massaker auch völlig anders als in anderen öffentlichen Diskursen in der EU: »In Greece, names like Srbrenica [sic!], Gorazˇde, Foc´a [sic!], and Omarska meant (and mean) practically nothing. They never entered the chain of signifiers that characterize the discourse of the trend-setting intellectuals in the West.«36

Ausgelöst vom erhöhten Medieninteresse rund um den zehnten Jahrestag des Massakers 2005 verlangten 163 Akademiker und Journalisten eine offizielle Entschuldigung Griechenlands für seine Rolle in dem Verbrechen. Der Appell prangerte die in der griechischen öffentlichen Meinung ausgedrückte Solidarität mit dem Milosˇevic´-Regime an und forderte eine Entschuldigung des Staates bei den Opfern des Massakers und ihren Angehörigen.37 Als Reaktion stellte die Regierung eine Untersuchung der Beteiligung der griechischen Freiwilligengarde an dem Massaker in Aussicht, und signalisierte Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem ICTY. Diese Ankündigungen blieben allerdings folgenlos. Statt einer Anpassung an Formen des Gedenkens an Srebrenica in der EU konkurrieren im griechischen Fall weiterhin Tätererinnerungen38 und mahnende Gedenken von Menschenrechtsaktivisten miteinander. Bis heute hat keine griechische Regierung die Geschehnisse in Srebrenica verurteilt oder strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Ganz offenbar soll die in der EU einzigartige

35 S. Blom/Romijn, Srebrenica, S. 1732, S. 2064 und S. 2785–2787. Über diese Formation hinaus wurden weitere Verbände von freiwilligen Kämpfern aus orthodoxen Staaten gebildet, wie die russischen Freiwilligengarden der »Weißen Wölfe« und der »Kosaken«. 36 Takis Michas, Unholy Alliance. Greece and Milosˇevic´’s Serbia. College Station 2002, S. 142. 37 The Tenth Anniversary of the Srebrenica Massacre (2005), http://cm.greekhelsinki.gr/index.php?sec=194& cid=881 (30. 09. 2013). 38 Ein bekannter Vertreter der griechischen Freiwilligengarde, Kyriakos Katharios, gibt regelmäßige Interviews und veröffentlichte ein Buch über das Engagement der griechischen »Brüder« während des Bosnienkriegs. Dazu ausführlich Hikmet Karcˇic´, »Fear Not, For You Have Brothers in Greece«. A Research Note, in: Genocide Studies and Prevention 3 (2008), H. 1, S. 147 – 152.

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Sympathie und Unterstützung für die orthodoxe Seite im Jugoslawienkrieg nicht öffentlich thematisiert werden.

Erinnerungskonsens in der EU? Die Spannung des griechischen Narrativs zu demjenigen der Europäischen Union zeigte sich in der vom Europäischen Parlament ebenfalls zum 10. Jahrestag des Massakers verabschiedeten Entschließung zur »Zukunft des Balkans zehn Jahre nach Srebrenica«39. Mit Verweisen auf den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, den Gipfel von Thessaloniki, UNO-Resolutionen und den aktuellen Bericht von UNO-Chefanklägerin Carla Del Ponte bestätigte die Resolution diese Instrumente, Institutionen und die von ihnen vorgenommenen Interpretationen. Sie beschreibt Srebrenica eher passivisch als Tragödie, aber auch stärker aktivisch als Ort tagelanger wahlloser Hinrichtungen. Als Täter benennt sie bosnisch-serbische Einheiten unter dem Kommando Mladic´s und paramilitärische Einheiten sowie irreguläre serbische Polizeieinheiten.40 Srebrenica wird als »Symbol für die Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft«41 gewertet, der es nicht gelungen sei, »in den Konflikt einzugreifen und Unschuldige zu schützen«42. Der Text verweist explizit auf das Fehlen von Entscheidungsmechanismen innerhalb der Europäischen Union und einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, das sich »auf den Ablauf der Ereignisse äußerst negativ ausgewirkt« habe. Unerwartet ist das Eingeständnis, dass es nach wie vor nicht möglich sei, die Ereignisse in und um Srebrenica vollständig zu rekonstruieren. Nichtsdestotrotz postuliert die Resolution Gerechtigkeit als erstes Ziel und die Qualifizierung als Genozid durch das ICTYals geeignetes Instrument zu seiner Erreichung. In insgesamt drei Absätzen behandelt das Parlament in der Resolution den von Serbien erwarteten politischen Umgang mit einem kurz zuvor im serbischen Staatsfernsehen ausgestrahlten Video, das serbische Staatsangehörige bei Erschießungen von bosnischen Muslimen während des Massakers von Srebrenica zeigt: Während es die vom Präsidenten durchgesetzte schnelle Strafverfolgung und die Zusage des Premierministers zur Teilnahme an der Gedenkfeier in Srebrenica lobt, bedauerte man, dass die von einem Belgrader NGO-Bündnis vorgeschlagene Resolution zur Verurteilung des Massakers nicht angenommen 39 Europäisches Parlament, Entschließung des Europäischen Parlaments zur Zukunft des Balkans zehn Jahre nach Srebrenica (07. 07. 2005), http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=OJ:C:2006:157E:0468:0471:DE:PDF (30. 09. 2013). 40 S. Europäisches Parlament 2005, Entschließung, S. 1. 41 Ebd., S. 2. 42 Ebd.

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worden sei. Weiterhin wird die in Serbien dominante Geschichtsauffassung kritisiert und eine entschiedene Politik der serbischen Regierung gefordert. Das Europäische Parlament leitet aus der Erinnerung an Srebrenica eine Vielzahl an Werten und Verhaltenserwartungen ab. Angemessen sind demnach die Verurteilung des Kriegsverbrechens, eine opferzentrierte, aber rechtliche Aufarbeitung der Geschehnisse sowie eine würdige Gedenkpraxis. Diese Erwartungen werden hier insbesondere an Serbien gerichtet. Gleichzeitig formuliert die Resolution implizit auch einen gemeinsamen Wertekanon für alle Mitgliedsstaaten, indem sie die Ächtung unzivilisierten Verhaltens fordert, Nationalismus eine klare Absage erteilt und zu politischem Handeln und militärischem Eingreifen für den Fall drohender Massaker aufruft.

Opfer? Bosnisch-muslimische Erinnerung an Srebrenica Die bosnisch-muslimische Erinnerung an Srebrenica wird erst im Kontext des Bosnienkrieges nachvollziehbar. Schon in den ersten drei Kriegsmonaten von April bis Juli 1992 verübten die Jugoslawische Volksarmee und lokale serbische Einheiten in und um Srebrenica massiv ethnische Säuberungen an bosnischen Muslimen. Auch hier schürte die Propaganda Ängste, indem sie Analogien zu Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs zog.43 Wegen solcher brutalen Übergriffe reichte die bosnisch-muslimische Führung im März 1993 eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof ein und warf der Bundesrepublik Jugoslawien einen Völkermord an der bosnisch-muslimischen Zivilbevölkerung in Ostbosnien vor. Auch die Einrichtung des ICTY wurde von bosnisch-muslimischen Eliten enthusiastisch begrüßt, da sie sich eine Parteinahme für ihre Interessen erhofften.44 Im Mai 1993 gelang es schließlich bosnisch-muslimischen Einheiten unter der Führung von Naser Oric´, die Stadt Srebrenica zurückzuerobern. Es war die erste Stadt im Bosnienkrieg, die von bosnisch-muslimischen Kräften von den serbischen Angreifern »befreit« und somit zum Symbol des bosnisch-muslimischen Widerstandes wurde. Nach dem Massaker im Juli 1995 begannen sich die Angehörigen der in Srebrenica Getöteten zu organisieren: Nur 72 Tage nach dem Fall der Enklave fanden im Flüchtlingslager in Tuzla erste Proteste statt, als Angehörige den Verbleib der Vermissten in Erfahrung bringen wollten.45 Da es in Bosnien43 Daniel Toljaga, Prelude to the Srebrenica Genocide. Mass Murder and Ethnic Cleansing of Bosniaks in the Srebrenica Region during the First Three Months of the Bosnian War (April – June 1992) (2010), http://www.bosnia.org.uk/news/news_body.cfm?newsid=2771 (30. 09. 2013). 44 Subotic´, Hijacked Justice, S. 131. 45 S. bei Nettelfield, Courting Democracy, S. 102.

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Herzegowina 1995 und in den folgenden Jahren keine staatlichen Anlaufstellen für ihre Belange gab, wandten sie sich direkt an internationale Organisationen. Dies sorgte für eine schnelle transnationale zivilgesellschaftliche Mobilisierung. Ein advocacy network entstand, welches Opfergruppen, lokale Menschenrechtsorganisationen, transnationale NGOs sowie Mitglieder der Diaspora umfasste. Auch bosnisch-muslimisch Politiker und Parteien hatten ein konkretes Interesse am Opferstatus: Die Definition des Konflikts als Völkermord schloss die internationale finanzielle und politische Unterstützung BosnienHerzegowinas ein, die aus dem »sense for shared guilt«46 der an der Friedensmission beteiligten Staaten und Organisationen zu erwarten war. Die Berufung auf die Genozidkonvention ermöglichte eine Internationalisierung dieser Deutung. Zudem erlaubt der Verweis auf Srebrenica eine grundsätzliche Kritik an der politischen Realität in Bosnien-Herzegowina: Da sie auf einem Genozid und auf ethnischen Säuberungen gegründet sei, habe die Republika Srpska kein Existenzrecht. Srebrenica symbolisiert den Kampf um das historische und gegenwärtige Territorium zwischen bosnischen Muslimen und Serben. Die von bosniakischer Seite vorangetriebene Opfer-Täter-Dichotomie reduziert vor allem Komplexität: Erstens gingen von der offiziell demilitarisierten Enklave weiterhin Angriffe auf umliegende serbische Dörfer aus. Zweitens befanden sich unter den bosnisch-muslimischen Zivilisten auch Männer, die zuvor in Kampfhandlungen verwickelt waren.47 Drittens verbietet das Opfernarrativ die öffentliche Diskussion der Anschuldigung, die bosnisch-muslimische Führung habe der Enklave 1995 nicht genug Unterstützung zukommen lassen und sei damit indirekt verantwortlich. Ihre unklare Rolle im Zusammenhang mit dem Massaker setzte sich in den Nachkriegsjahren fort. So wurden in den Jahren nach 1995 ca. 1.800 Militärangehörige unter den Opfern des Massakers aus den Armeeregistern gelöscht.48 Dadurch gingen auch jegliche Pensionsansprüche der Angehörigen verloren, wogegen einige Angehörige trotz der Tabuisierung von Nichtzivilisten unter den Opfern vorgehen. Auch ist die Anzahl der Opfer nicht abschließend geklärt. 2005 sorgte die unabhängige NGO »Research and Documentation Center« in Sarajevo für Aufruhr, als sie ihre international unterstützte Studie zur Feststellung der getöteten Opfer des Bosnienkrieges ver46 Subotic´, Hijacked Justice, S. 136. 47 S. Ibran Mustafic´, Planirani haos 1990 – 1996 (Geplantes Chaos 1990 – 1996), Sarajevo 2008. Die Erlebnisberichte und Enthüllungen von Mustafic´, der die bosniakische Stranka demokratske akcije [Partei der demokratischen Aktion] in Srebrenica gründete, sind politisch höchst brisant, da sie auf von bosnischen Muslimen begangene Kriegsverbrechen und das problematische Kalkül bosnisch-muslimischer Politiker verweisen. Das ICTY hat sie genauso übergangen wie die bosnische Politik. 48 Ebd.

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öffentlichte. Dabei lag die Anzahl der muslimischen Opfer deutlich unter der bisher von bosnisch-muslimischen Politikern genannten, was einen »innerbosnischen Zahlenkrieg« entfachte.49 Die bereits seit 1996 bestehende Idee der Einrichtung einer Gedenkstätte mit Friedhof in Potocˇari,50 einem Dorf bei Srebrenica, war höchst umstritten, vor allem weil sie tief in der mehrheitlich serbischen Republika Srpska liegen sollte. Besonders die NGO »Mütter von Srebrenica« setzte sich dafür ein, um ihre Angehörigen beerdigen und Gedenkfeiern abhalten zu können. Eine erste Gedenkfeier fand im Juli 2000 statt. Während die politischen Eliten der bosnischkroatischen Föderation und Vertreter der internationalen Gemeinschaft der Zeremonie beiwohnten, wurde sie von den offiziellen Vertretern der Republika Srpska ignoriert.51 In der Folge wurde das Gedenken an Srebrenica in BosnienHerzegowina durch die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft institutionalisiert. Der für die Einhaltung des Friedensabkommens von Dayton zuständige Hohe Repräsentant setzte ab dem Jahr 2000 die Einrichtung einer Gedenkstätte und damit die Interpretation von Srebrenica durch, die dem bosnisch-muslimischen Narrativ folgt. Indem er eine Entkontextualisierung des Massakers unterstützte, der die serbische Perspektive auf das Massaker außen vor ließ, waren weitere Auseinandersetzungen zwischen den ethno-nationalen Gruppen vorprogrammiert.52 Versuche vonseiten der bosnischen Serben, sich in die Gestaltung der Gedenkstätte einzubringen, blieben erfolglos.53 Nach einem innerbosnischen Disput über den Ort für ein würdiges Gedenken an die muslimischen Opfer wurde am 30. September 2003 das »Gedenkzentrum Srebrenica-Potocˇari-Gedenkstätte und Friedhof für die Opfer des Genozids aus dem Jahr 1995« eröffnet. Die Gedenkstätte dient seitdem sowohl bosnischen Muslimen als auch den Vertretern der internationalen Gemeinschaft als Gedenkort, die mit ihrer Teilnahme an den Gedenkfeiern am 11. Juli implizit ihr »mea 49 Subotic´, Hjacked Justice, S. 154 f. 50 Potocˇari liegt auf dem Gebiet der Enklave Srebrenica. Auf dem Gelände einer stillgelegten Fabrik für Autobatterien war das niederländische Bataillon untergebracht. Auch Potocˇari war Tatort von Massakern. 51 Rozita Dimova, Memory in Peril. Srebrenica as a »Commemorative Arena«, in: Anne von Oswald/Andrea Schmelz/Tanja Lenuweit (Hrsg.), Erinnerungen in Kultur und Kunst. Reflexionen über Krieg, Flucht und Vertreibung in Europa, Bielefeld 2009, S. 99 – 108, hier S. 101. 52 S. ausführlicher Ger Duijzings, Commemorating Srebrenica. Histories of Violence and the Politics of Memory in Eastern Bosnia, in: Ders./Xavier Bougarel/Elissa Helms (Hrsg.), The New Bosnian Mosaic. Identities, Memories and Moral Claims in a Post-War Society, Farnham/Burlington 2007, S. 141 – 166, hier S. 165. 53 Als das Justizministerium der Republika Srpska 2001 den Vorschlag in die Diskussion um die Errichtung der Gedenkstätte einbrachte, die Namen der serbischen Opfer in das Denkmal zu integrieren, protestierten Veteranen und Angehörige von Opfern auf allen Seiten der ehemaligen Konfliktparteien.

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culpa«54 zum Ausdruck bringen. Weiterhin kommt es am Rande der Feiern zu Provokationen zwischen den Angehörigen der ehemaligen Konfliktparteien.55 Über die Funktion als Gedenkort hinaus erfüllt das Gedenkzentrum auch eine Bildungsaufgabe. Seit 2010 werden internationale Sommeruniversitäten für Doktoranden veranstaltet, die eine Stärkung des bosnisch-muslimischen Narrativs in akademischen Diskursen befördern. So wird Erinnerungspolitik in Wissenschaftspolitik transformiert. Srebrenica steht im Zentrum der nationalen bosnisch-muslimischen Identität. 2011 erinnerte das Mitglied des bosnischen Präsidiums Bakir Izetbegovic´ daran, dass Srebrenica »die tiefste Wunde auf dem Körper der bosniakischen Nation, die niemals verheilen wird« und »ein dunkler Fleck auf dem Gesicht der internationalen Gemeinschaft« sei.56 Obwohl die meisten der Getöteten keine gläubigen Muslime waren, werden sie in Bosnien-Herzegowina als »sˇehid«57, als Märtyrer für den Islam, verehrt. Ihre Familien werden Märtyrerfamilien genannt, im Vergleich zu den durchschnittlichen Renten erhalten sie eine höhere Unterstützung vonseiten des Staates. Auch auf dem Friedhof in SrebrenicaPotocˇari werden alle Überreste nach muslimischem Ritus beerdigt. Durch die Benennung eines mit Spenden finanzierten Schiffs der zweiten Gaza-Friedensflotte nach dem Ort des Massakers wird Srebrenica auch über die Grenzen Bosnien-Herzegowinas in ein transnationales Narrativ muslimischer Solidarität eingeschrieben.58

Wer war verantwortlich? Schuld und Wiedergutmachung Während Vertreter der Niederlande und der UNO an den offiziellen Gedenkfeiern in Srebrenica-Potocˇari teilnehmen, mit symbolischen Gedenkakten und einer Unterstützung der Opfer eine schuldbewusste Anteilnahme zeigen, weisen sie die juristische Verantwortung ihrer Institutionen sowie die Forderungen nach Wiedergutmachung von sich. Nach dem Muster einer legal mobilisation 54 Duijzings, Commemorating Srebrenica, S. 165. 55 Ebd., S. 163 – 165. 56 16. godisˇnjica zlocˇina u Srebrenici: Visˇe od 10.000 ljudi u Potocˇarima [16. Jahrestag des Verbrechens in Srebrenica. Mehr als 10.000 Leute in Potocˇari], in: Vjesti, 11. 07. 2012. 57 Das bosnische Wort »sˇehid« ist dem Arabischen entlehnt. Es stammt aus dem Koran, bedeutet »Zeuge« und wurde für diejenigen verwendet, die Zeugnis von Gott ablegen. Erst mit der Zeit wurde es als würdiger Titel benutzt, um diejenigen zu bezeichnen, die für den Islam oder im Kampf für den Islam, also als Märtyrer, starben. S. die Erläuterung »Martyrdom«, in: John L. Esposito (Hrsg.), The Islamic World: Past and Present, Oxford Islamic Studies Online, http://www.oxfordislamicstudies.com/article/opr/t243/e209 (30. 09. 2013). 58 S.B. Turkovic´, Brod »Srebrenica« prevozit c´e pomoc´ palestinskom narodu [Schiff »Srebrenica« wird Hilfe für das palästinische Volk transportieren], in: Dnevni Avaz, 15. 04. 2011.

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fordern Angehörigeninitiativen solche Kompensationsleistungen systematisch ein.59 Im Jahr 2000 legte der amerikanische Juraprofessor Francis Boyle für die NGO »Mütter von Srebrenica und Podrinje« eine Beschwerde gegen die Vertreter der Internationalen Gemeinschaft vor dem ICTYein. Ab diesem Zeitpunkt kam es zu einem Dialog zwischen den Beschwerdeführern und ICTY-Chefanklägerin Del Ponte, doch die Initiativen gegen internationale Offizielle liefen ins Leere. Auch ein für die Angehörigen von einem Mostarer Anwaltsteam im Dezember 2002 verfasster Brief an den Generalsekretär, der eine Entschuldigung durch die UNO und Entschädigungszahlungen forderte, blieb folgenlos. Es war unklar, »how to penetrate the opaque UNO system«60. Die juristischen Maßnahmen konzentrierten sich in der Folge in erster Linie auf die Akteure, die während des Falls der Enklave vor Ort waren, während Vertreter von Opferorganisationen und NGOs weiterhin in symbolischen Protestaktionen die UNO kritisieren.61 2007 reichten zehn Frauen und die NGO »Mütter Srebrenicas« eine Zivilklage gegen die Niederlande und die UNO am Landgericht Den Haag ein, in der Kompensationszahlungen im Vordergrund standen.62 Die Klage wurde allerdings mit Verweis auf die Immunität im Rahmen von UNO-Einsätzen abgewiesen.63 Angehörige lokaler Beschäftigter des holländischen Bataillons, die an serbische Einheiten ausgeliefert worden waren, strengten 2008 ein weiteres Zivilverfahren gegen den niederländischen Staat an. Die Kläger beschuldigten die Niederlande fundamentaler Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und der Verwicklung in den Völkermord.64 Die Klage wurde abgewiesen, da das operationelle Kommando bei der UNO gelegen habe. Lange wurde in der Rechtsprechung keinerlei Fehlverhalten der internationalen Institutionen oder 59 S. Nettelfield, Courting Democracy, Kap. 4. 60 Ebd., S. 114. 61 Besonders medienwirksam waren die Proteste von Angehörigengruppen gegen die Verleihung des Friedensnobelpreises an Kofi Annan im Jahre 2001. 2010 wurde unter dem Titel »Säule der Schande – Weltorganisation vor Gericht« eine medienwirksame Aktion durch ein Netzwerk NGOs, Forschungseinrichtungen, Opfergruppen, Künstlern u. v. m. realisiert. 16.744 Schuhe, welche die Opfer des Massakers repräsentieren sollten, sollen in Form der Buchstaben U und N zum 15. Jahrestag des Massakers zu Gedenken und Verantwortung mahnen. S. www.stubsrama.org (30. 09. 2013). Aktionen fanden in Berlin, Den Haag und in New York statt. 62 Die Klage wurde von einem Anwaltsteam aus Mostar schon seit 2000 in Bosnien-Herzegowina in Zusammenarbeit mit zwei NGOs von Srebrenica-Angehörigen vorbereitet. Diese arbeiten dann eng mit der Kanzlei »Van Diepen van der Kroef« zusammen, die offiziell die Klage vertreten. Etwa zeitgleich registrierte sich die NGO »Mütter von Srebrenica« auch in den Niederlanden. S. Nettelfield, Courting Democracy, S. 112 – 114. 63 The Hague Justice Portal, Mothers of Srebrenica v. The Netherlands & the UNO, http:// www.asser.nl/default.aspx?site_id=36& level1=15248& level2=& level3=& textid=39956 (30. 09. 2013). 64 The Hague Justice Portal, District Court Hears Srebrenica Cases (18. 06. 2008), http:// www.haguejusticeportal.net/eCache/DEF/9/321.html (30. 09. 2013).

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Repräsentanten festgestellt, was sowohl auf bosnisch-muslimischer als auch auf serbischer und bosnisch-serbischer Seite großes Unverständnis hervorrief.65 Erst ein Berufungsverfahren machte die Niederlande im Juli 2011 für den Tod von lokalen Mitarbeitern verantwortlich.66

Täter? Bosnisch-serbische und serbische Erinnerung an Srebrenica In der serbischen Erinnerung an Srebrenica ist zwischen der bosnisch-serbischen Erinnerung und der serbischen Erinnerung zu differenzieren, auch wenn es viele Wechselwirkungen gibt. Dies liegt einerseits an der getrennten Staatlichkeit, aber auch an der Distanz zum Geschehen: Die bosnisch-serbische Erinnerung ist sehr viel stärker von den Nachwirkungen des Konflikts und den konkreten Erfahrungen des Zusammenlebens in der international verwalteten Nachkriegsgesellschaft geprägt. Schon seit den 1980er-Jahren wurden im serbischen Medien- und Wissenschaftsdiskurs Interpretationen populär, welche die Gegenwart durch die historische Erfahrung – vor allem des Zweiten Weltkriegs – nationalistisch deuteten.67 Im Kontext des sogenannten Genoziddiskurses, in dem man sich mit den Kroaten um Schuld, Verantwortung und die Höhe der Opferzahl im Zweiten Weltkrieg stritt, sowie der Kosovo-Krise, wurde der Eindruck erweckt, dass die Serben seit der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 Opfer einer genozidalen Politik anderer politischer Mächte seien.68 Dies schlug sich vor allem dort nieder, wo an vorhergehende Erfahrungen angeknüpft werden konnte. Bereits im Zweiten Weltkrieg war die Region rund um Srebrenica Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen der lokalen muslimischen und serbischen Bevölkerung. Angehörige der von Kroaten dominierten, aber auch bosnische und al65 Dieses Unverständnis schlägt sich mittlerweile auch in wissenschaftlichen Arbeiten nieder: ˇ atic´, Seven Eleven. Der Genozid von Srebrenica. Ein Verbrechen der UNO?, Wien Esmir C 2008. 66 The State of the Netherlands is responsible for the death of three Muslim men after the fall of Srebrenica, Den Haag 2011. 67 S. Tea Sindbæk, Usable History? Second World War Massacres and the Theme of Genocide in Yugoslav Historical Culture, 1945 – 2002, Aarhus 2011; Robert M. Hayden, Recounting the Dead. The Rediscovery and Redefinition of Wartime Massacres in Late- and Post-Communist Yugoslavia, in: Rubie S. Watson (Hrsg.), Memory, History and Opposition under State Socialism, Santa Fe 1994, S. 167 – 184; Nenad Stefanov, Wissenschaft als nationaler Beruf. Die Serbische Akademie der Wissenschaften 1944 – 1992. Tradierung und Modifizierung nationaler Ideologie, Wiesbaden 2011. 68 S. zum Beispiel Holm Sundhaussen, Die »Genozidnation«. Serbische Selbst- und Fremdbilder, in: Nikolaus Buschmann/Dieter Langwiesche (Hrsg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt am Main/New York 2004, S. 351 – 371.

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ˇ etnici überfielen die banische Muslime umfassenden Ustasˇe und serbische C jeweils andere ethnische Gruppe zwischen 1941 und 1943.69 Lokale und überregionale Medien reaktualisierten die Erinnerung an diese Gewalterfahrungen in der serbischen Bevölkerung und formulierten die Befürchtung, dass Srebrenica, wie im Zweiten Weltkrieg und während der osmanischen Zeit, erneut zu einem, wie es Ger Duijzings treffend beschreibt, »epicentre of genocide« werde.70 Ab April 1992 wiederholte sich dann in der Deutung vieler Serben die Geschichte tatsächlich, als muslimische Truppen unter der Führung von Naser Oric´ serbische Gemeinden und Dörfer monatelang immer wieder überfielen. Die Bundesrepublik Jugoslawien wertete die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die serbische Bevölkerung in den Gemeinden Bratunac, Skelani und Srebrenica in einem im Mai 1993 an die UNO versandten Bericht als Völkermord.71 Gerade die Protagonisten des Bosnienkriegs nutzten historische Analogien, auch bei der Eroberung der Enklave Srebrenica. Am Tag der Eroberung betonte General Mladic´ während einer Ansprache für das serbische Staatsfernsehen die historische Dimension, indem er die Übernahme der Stadt als Racheakt für die serbische Niederlage gegen die Osmanen 1809 darstellte. Als Sühne dafür »schenkte« Mladic´ in einer Fernsehübertragung die Enklave Srebrenica dem serbischen Volk und kündigte an, dass die Zeit gekommen sei, sich an den Türken in der Region zu rächen.72 Die serbische Erinnerung interpretiert Srebrenica im Kontext der dreifachen Gewaltausübung von Muslimen gegen Serben: 1809, 1941–43 und 1992–93. In dieser Lesart wurde die Eroberung Srebrenicas erstens als eine notwendige Präventionsmaßnahme gegen die Muslime verstanden. Zweitens wurde die Eroberung Srebrenicas als Befreiung der serbischen Bevölkerung von der jahrhundertelangen muslimischen Herrschaft gefeiert. Damit kann die Eroberung aus Perspektive der Militärangehörigen sogar als patriotische Pflicht und Wiedergutmachung für das Versagen der Rebellen 1809 gewertet werden. Drittens wurde das serbische Opfernarrativ mit der Eroberung Srebrenicas zu einer 69 S. Duijzings, Commemorating Srebrenica, S. 148. 70 Ebd., S. 151. Ausführlich zur Verwendung des Genozidbegriffes und zur Reaktualisierung der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs in dieser Periode s. Sindbæk, Usable History und Hayden, Recounting the Dead. 71 S. United Nations General Assembly, Letter Dated 24 May 1993 from the Charg¦ d’affaires a. i. of the Permanent Mission of Yugoslavia to the United Nations Addressed to the SecretaryGeneral, A/48/177. 72 Zit. n. Duijzings, Commemorating Srebrenica, S. 142. Während des Ersten Serbischen Aufstandes von 1804 bis 1813 hatten serbische Rebellen gegen die osmanische Herrschaft gekämpft, mussten 1809 aber die Region westlich der Drina aufgeben. Viele serbische Bewohner flüchteten in der Folge aus Angst vor Vergeltung ostwärts in von Serben kontrolliertes Gebiet.

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wehrhaften Emanzipationserzählung, in der man sich nicht mehr alles gefallen lasse – und die Täter bestraft. Serbische Soldaten waren sich vereinzelt durchaus bewusst, mit dem Massaker selbst ein nicht minder großes Verbrechen zu begehen, als an ihrer Volksgruppe begangen wurde. Vor dem ICTY sagte ein bosnischer Überlebender des Massakers von Srebrenica aus, dass die serbischen Soldaten in mindestens zwei Fällen während der Geschehnisse selbst davon sprachen, einen Völkermord zu begehen. Ein Soldat nahm sogar auf die ab Herbst 1941 verübten Massaker in Donja Gradina auf dem Gelände des kroatischen Konzentrationslagers Jasenovac Bezug, wo über Tausend Serben, Juden und Roma pro Tag mit Schusswaffen, Messern, Äxten und Hämmern ermordet wurden: »Wir haben einen Genozid veranstaltet, wie in Jasenovac, 1941.«73 Dennoch wurde in den serbischen Medien die Darstellung der eigenen Gruppe als Opfer und der Muslime als Täter aufrechterhalten, was sich in das Deutungsmuster der jugoslawischen Auflösungskriege als serbische »Verteidigungskriege« eingliederte. Von den Verbrechen in der Folge der Befreiung Srebrenicas wurde in der serbischen Presse kaum berichtet. Während in der zweiten Julihälfte und im August 1995 in den westlichen Medien erste Berichte und Stellungnahmen zu den Verbrechen veröffentlicht wurden, dominierte in Serbien und in der Republika Srpska ein anderes Thema die Berichterstattung: die kroatische Militäroffensive Sturm, bei der kroatische Armee- und Polizeieinheiten innerhalb von 84 Stunden den Hauptteil der 1991 entstandenen Republik Serbische Krajina zurückeroberten und während der Hunderttausende serbische Zivilisten vertrieben wurden. Sturm nimmt einen großen Raum im gegenwärtigen serbischen Opfernarrativ ein und wird als Genozid gewertet, während Srebrenica im öffentlichen Diskurs lediglich als Kriegsverbrechen qualifiziert wird. Mit dem Friedensvertrag von Dayton im November 1995 wurde auch die serbische Regierung zur Kooperation mit dem ICTY verpflichtet. Doch vermied die Regierung Milosˇevic´, die von der ultranationalistischen Opposition nach dem Friedensvertrag zunehmend des Verrats am eigenen Volk bezichtigt wurde, eine offene Zusammenarbeit.74 Schon seit der Einsetzung des ICTY 1993 diskreditierten die serbische Regierung und vor allem die Nationalisten der Ser-

73 Zeuge I, Überlebender von Pilica, in: Julija Bogoeva/Caroline Fetscher (Hrsg.), Srebrenica. Ein Prozeß. Dokumente aus dem Verfahren gegen General Radislav Krstic´ vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag, Frankfurt am Main 2002, S. 128 – 151, hier S. 142. 74 Die inoffizielle Übergabe des Zeugen Drazˇen Erdemovic´ oder die Tatsache, dass es zwischenzeitlich ein Büro des ICTY in Belgrad gab, sind kaum bekannt.

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bischen Radikalen Partei das Gericht als politisch motiviert, einseitig und antiserbisch.75 Sowohl einige serbische als auch einige kroatische und bosnisch-kroatische Akteure sind der Auffassung, dass die internationale Unterstützung der bosnisch-muslimischen Opfer eine verzerrte Wahrnehmung der Jugoslawienkriege durch das ICTYund der sich auf ihn berufenden Institutionen zur Folge habe. So ist auch zu erklären, warum Srebrenica im innerserbischen Diskurs mit den Schuldzuweisungen der internationalen Gemeinschaft und »serbenfeindlicher« Akteure gleichgesetzt wurde. Srebrenica entwickelte sich so zu einer Art »serbisches Trauma«76 und ist immer wieder Auslöser für geradezu reflexhafte und oftmals sehr emotionale und polemische Debatten. Die lokale bosnisch-serbische Bevölkerung feiert seit Kriegsende den 11. Juli als Tag der Befreiung Srebrenicas, während sie den 12. Juli als Tag der Trauer, vor allem um die Opfer der bosnisch-muslimischen Verbrechen an der bosnischserbischen Bevölkerung in Kravica, Skelani und Bratunac begeht.77 Diese Verbrechen bilden – oftmals in diskursiver Koalition mit anderen an Serben begangenen Kriegsverbrechen – ein reaktualisiertes Opfernarrativ, das in der lokalen Bevölkerung und in nationalistischen Kreisen bis heute kultiviert78 und zum Teil argumentativ gegen das Massaker in Srebrenica eingesetzt wird. Im serbischen Diskurs ist neben Opfergruppen das 1992 von Milivoje Ivanisˇevic´ gegründete »Zentrum zur Erforschung der Verbrechen gegen das serbische 75 S. Vojin Dimitrijevic´, The War Crimes Tribunal in the Yugoslav Context, in: East European Constitutional Review 5 (1996), H. 4, S. 85 – 92; Jelena Obradovic´-Wochnik, Strategies of Denial. Resistance to ICTY Cooperation in Serbia, in: Judy Batt/Jelena Obradovic´-Wochnik (Hrsg.), War Crimes, Conditionality and EU Integration in the Western Balkans, Paris 2009, S. 29 – 47, hier S. 32 f. 76 Wortgemäß verglich der Soziologe Todor Kuljic´ die für die Nationen dreier heute demokratischer Staaten »traumatischen« Völkermorde: »Das deutsche Trauma ist der Holocaust, das kroatische Trauma Jasenovac und das serbische Trauma Srebrenica«; ders., Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum, Berlin 2010, S. 167. 77 Interessant dazu ist die Karte des – berechtigterweise – umstrittenen Srebrenica History Project, welches einerseits ganz klar das Massaker von Srebrenica in seinen Ausmaßen leugnet, sich gleichzeitig aber für die wenig berücksichtigten Opfer der Verbrechen an der serbischen Bevölkerung stark macht. Sie zeigt die von muslimischen Einheiten angegriffenen Dörfer rund um Srebrenica im Zeitraum 1992 – 1995, s. Map of Serbian Villages Attacked and Destroyed by Moslem Forces from Srebrenica Enclave, 1992 – 1995, http:// www.srebrenica-project.com/images/stories/Slike-Srebrenica/mape/Mapa-napadnutih-srpskih-sela-VELIKA.jpg (30. 09. 2013). 78 S. exemplarisch die Ehrung der »neuen Märtyrer« der Region Srebrenica und Biracˇ in der Präambel des »Buches der Toten«: »They are the victims presented to the altar of our Homeland, our Orthodox Christian Faith and our Freedom. Their heads have been laid in the foundations of the Republik of Srpska. Oh Lord, take these martyr souls into Thou Heavenly Kingdom!«, Gojko Öogo und Milivoje Ivanisˇevic´, »Book of the Death«, in: Milivoje Ivanisˇevic´ (Hrsg.), Srebrenica July 1995. In Search of Truth, Belgrad 2008, S. 93 – 152, hier : S. 93.

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Volk« ein zentraler Akteur, das 2008 in »Institut zur Erforschung der Leiden des serbischen Volkes im 20. Jahrhundert« unbenannt wurde.79 Für beide serbischen Erinnerungsgemeinschaften hingegen spielen sowohl nationale, ethnische Bezüge als auch die serbisch-orthodoxe Kirche eine große Rolle, die sich selbst als Hüterin des Serbentums versteht. Nach Meinung vieler Bischöfe und Priester wurden die Kriege im Namen der Selbstbestimmung und -verteidigung der Serben geführt und waren damit »gerecht«.80 Kirchenrepräsentanten verurteilten auch Karadzˇic´s Anklage durch das ICTY, da lange die Meinung dominierte, es verfolge einen Patrioten, der einen Völkermord von den bosnischen Serben habe abwenden wollen. Zwar wurde Milosˇevic´ die Unterstützung der Kirche schon deutlich früher entzogen, doch die Distanzierung vom politischen und militärischen Führungspersonal und den Kämpfern für die serbische Sache folgte nur langsam. Im September 2002 veröffentlichte das Büro für die Beziehungen zum ICTY der Republika Srpska einen Bericht,81 demzufolge lediglich 1.800 bosnische Soldaten – und nicht Zivilisten – während der Kämpfe in und rund um Srebrenica umgekommen und weitere hundert aus Erschöpfung gestorben seien. Der Bericht umfasste zudem ein vorgebliches Geheimdokument der bosnischmuslimischen Armee mit einer Liste von muslimischen Kämpfern in Srebrenica. Der Bericht beschuldigte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes und andere Hilfsorganisationen, die Zahlen der getöteten Muslime manipuliert zu haben. Gleichzeitig verwies er auf die serbischen Opfer in der Region. Dem vergleichsweise kurzen Bericht wurde als Beleg eine umfangreiche Fotodokumentation beigefügt. Der Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina, Vertreter der internationalen Gemeinschaft und muslimische Opfergruppen kritisierten ihn massiv.82 Im Dezember 2003 richteten der Hohe Repräsentant, Paddy Ashdown, und die Nationalversammlung der Republika Srpska eine »Kommission zur Untersuchung der Ereignisse in und um Srebrenica vom 10. bis 19. Juli 1995« ein. Serbische Nationalisten kritisierten die Ergebnisse des Berichts dieser Kommission – unter anderem bestätigte er 8.731 Namen von toten oder vermissten Personen –, da dieser unter großem Druck des Hohen Repräsentanten ent-

79 S. die Homepage des Instituts unter http://www.serb-victims.org/ (30. 09. 2013), exemplarisch für Ivanisˇevic´s Publikationstätigkeit s. die Sonderbeilage: Milivoje Ivanisˇevic´, Licˇna karta Srebrenice, in: Glas Javnosti, 12. 03. 2007. 80 Klaus Buchenau, Gerechter Krieg. Die Haltung der Serbischen Orthodoxen Kirche zum Haager Tribunal, in: Der Überblick. Zeitschrift für ökonomische Begegnung und internationale Zusammenarbeit 43 (2007), H. 1, S. 54 – 57, hier S. 54. 81 Darko Trifunovic´, Report about Case Srebrenica (The First Part), Banja Luka 2002. 82 Reuters, New Srebrenica Report Condemned, in: SETimes, 04. 09. 2002.

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standen sei.83 Nach der Bekanntgabe der ersten Ergebnisse im Juni 2004 beˇ avic´, in einer TV-Sonzeichnete der Präsident der Republika Srpska, Dragan C dersendung Srebrenica als »black page in the history of the Serb people« und drückte sein Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer aus.84 Am 10. November folgte eine offizielle Stellungnahme vonseiten der Regierung, die sich für die »Tragödie« entschuldigte.85 In Serbien dauerte es deutlich länger, bis das Massaker von Srebrenica im politischen Diskurs thematisiert wurde. Über lange Jahre verwiesen Politiker darauf, dass die Jugoslawienkriege Verteidigungskriege gewesen seien, dass es keine Kriegshandlungen auf dem Territorium des serbischen Staates gegeben habe und dass Soldaten der eigenständigen Republik Srpska – also bosnische Serben, und keine Bürger des serbischen Staates – am Krieg beteiligt gewesen seien. Obwohl die Berichterstattung der Jugoslawienkriege weitgehend in der Semantik nationaler Kollektiva erfolgte, distanzierten sich serbische Politiker und Institutionen von dem Geschehen. Bestenfalls Aktivisten oder NGOs sprachen von »in unserem Namen« verübten Verbrechen. Kooperationen mit dem ICTY und Fortschritte auf dem Gebiet der Aufarbeitung der Jugoslawienkriege erfolgten nur oberflächlich im Kontext der Konditionalitätspolitik internationaler Geldgeber oder der EU. Dies änderte sich 2005 schlagartig: Die Fernsehsender B92 und RTS strahlten am 1. Juni das sogenannte »SkorpionVideo« aus, nachdem es kurz zuvor bei einer Verhandlung in Den Haag gezeigt worden war.86 Darauf ist die Erschießung von sechs bosnischen Muslimen durch die »Skorpione«, Paramilitärs mit serbischer Staatsangehörigkeit, in der Nähe von Srebrenica im Juli 1993 zu sehen.87 Erstmals wurde der breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass serbische Staatsbürger an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Der Staatsanwalt für Kriegsverbrechen leitete umgehend die Strafverfolgung der auf dem Video zu sehenden Täter ein; nach deren Verhaftung ebbte das mediale Interesse schnell ab.88 Wenige Tage nach der Veröffentlichung des

83 Komisija za istrazˇivanje dogad¯aja u i oko Srebrenice od 10. do 19. jula 1995., Dogad¯aji u i oko Srebrenice od 10. do 19. jula 1995 [Ereignisse in und um Srebrenica vom 10. bis zum 19. Juli 1995], Banja Luka 2004. 84 Serb Leader’s Srebrenica Regret, in: BBC News, 11. 11. 2004. 85 Associated Press, Bosnian Serbs Issue Apology for Massacre, in: The Boston Globe, 11. 11. 2004. 86 An der Sicherstellung des Videos war Natasˇa Kandic´ vom Fond für Menschenrechte, eine der bekanntesten und umstrittensten serbischen Menschenrechtsaktivistinnen, maßgeblich beteiligt. Das Video sollte auch als Beweisstück bei der Klage vor dem Internationalen Gerichtshof eine wichtige Rolle spielen. 87 Fond za humanitarno pravo (Hrsg.), Sˇkorpioni. Od zlocˇina do pravde [Skorpione. Vom Verbrechen zur Gerechtigkeit], Belgrad 2007. 88 Ivan Zverzˇhanovski, Watching War Crimes. The Srebrenica Video and the Serbian Attitudes to the 1995 Srebrenica Massacre, in: Southeast European and Black Sea Studies 3 (2007),

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Videos wertete die offiziell kommunizierte Deutung der Regierung die Erschießungen als einzelne Taten offenbar verwirrter Personen. Die serbisch-orthodoxe Kirche distanzierte sich von dem Verbrechen und veröffentlichte die Pressemitteilung »Herr, lass es nie wieder geschehen«, die sie wegen eines im Video während der Segnung der Kriegsverbrecher gezeigten Mönchs veranlasste.89 Zwei Abgeordnete brachten eine von acht Belgrader NGOs90 vorbereitete Deklaration zur Verurteilung von Srebrenica und aller während der Jugoslawienkriege begangenen Kriegsverbrechen ins Parlament ein. Da sich die verschiedenen Fraktionen nicht auf einen gemeinsamen Text einigen konnten, wurde die Deklaration schon vor einer Behandlung im Parlament mehrheitlich abgelehnt. Diese Kontroverse wurde medial breit thematisiert, erstmals behandelte die Politik die serbische Beteiligung am Bosnienkrieg und die Frage von Schuld. Es kam zu einer »bizarre hyperinflation of declarations«91, in der jede Fraktion ihre Version einer Deklaration anbot. Darin wurde Srebrenica oft als ein Kriegsverbrechen unter vielen anderen – zumeist an Serben begangenen – Verbrechen »während der Kriege auf dem Territorium der ehemaligen Sozialistisch-Föderativen Volksrepublik Jugoslawien«, so eine häufig verwendete technische Bezeichnung, um umstrittene Formulierungen zu umgehen, angeführt. Diese Einreihung Srebrenicas kommt einer Relativierung durch die Gleichsetzung mit anderen Kriegsverbrechen gleich. In den Deklarationsentwürfen wurden Strategien der Individualisierung der Verantwortung, der Relativierung Srebrenicas, indem man es in eine Reihe anderer Verbrechen stellt, sowie einer Distanzierung vom Täterkreis verwendet, der als »unserbisch« markiert wird.92 Zudem habe Serbien ein besonderes Interesse an der Aufklärung und Verurteilung von Verbrechen, da es »als erstes unter den Opfern […] auch erster im Verurteilen aller Kriegsverbrechen«93 sein müsse. Präsident Tadic´

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S. 417 – 430. Als Überblick zur Debatte s. Helsinsˇki odbor za ljudska prava (Hrsg.), Srebrenica. Od poricanja do priznanja [Von der Leugnung zur Anerkennung], Belgrad 2005. Milan Vukomanovic´, The Serbian Orthodox Church as a Political Actor in the Aftermath of October 5, 2000, in: Politics and Religion 1 (2008), S. 237 – 269, hier S. 257. Zu ihnen gehörten das Zentrum für kulturelle Dekontamination, der Belgrader Kreis, das Komitee der Anwälte für Bürgerrechte, der Fond für Menschenrechte, die Initiative Jugendlicher, »Frauen in Schwarz« sowie das Helsinki-Komitee für Menschenrechte in Serbien. Obrad Savic´, Srebrenica. Between Denial and Regocnition (2005), http://www.eurozine.com/ articles/2005 – 07 – 08-savic-en.html (30. 09. 2013). Zum 10. Jahrestag von Srebrenica gab auch der serbische Ministerrat eine Erklärung ab, um den außenpolitischen Erwartungen gerecht zu werden. S. Srpska pokreta obnove, Deklaracija povodom desete godisˇnjice ratnog zlocˇina u Srebrenici [Erklärung anlässlich des 10. Jahrestages des Kriegsverbrechens in Srebrenica], Belgrad 2005. DSS, Predlog: Deklaracija o osudi ratnih zlocˇina na prostoru nekadasˇnje Jugoslavije [Erklärung zur Verurteilung der Kriegsverbrechen im Raum des früheren Jugoslawien], Belgrad 2005.

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verfolgte eine ähnliche Strategie, indem er eine Anerkennung der von Serben begangenen Kriegsverbrechen forderte und sich im Namen seines Volkes für diese entschuldigte, allerdings mehrfach betonte, dass solche Verbrechen von allen ehemaligen jugoslawischen Staaten begangen worden wären und dass man zwischen den Tätern und dem serbischen Volk trennen müsse.94 Leugnungen des Massakers von Srebrenica oder anderer Kriegsverbrechen wurden von ihm mit Hinweis auf die Meinungsfreiheit legitimiert.95 Allerdings war eine Leugnung der Beteiligung von serbischen Staatsbürgern am Massaker mit der Ausstrahlung des Videos im innerserbischen Diskurs unglaubwürdig. Zwar verurteilten die politischen Parteien durch ihre Deklarationen das Massaker und die Kriegsverbrechen, die »im Namen des serbischen Volkes« begangen wurden, gleichzeitig distanzierten sie sich politisch, indem sie auf unbekannte Einzeltäter verwiesen. Durch die Analogien mit anderen an Serben begangenen Kriegsverbrechen wurde erneut eine Opferkonkurrenz angeheizt und das Verbrechen von Srebrenica relativiert. Präsident Tadic´ nahm an der offiziellen Gedenkfeier auf dem Gelände der Gedenkstätte in Potocˇari teil und löste damit Kritik der serbischen Opposition aus, die seine Abwesenheit beim Gedenken an die Opfer von Bratunac kritisierten. 2006 wohnte er dann, zur Zufriedenheit seiner Kritiker, den Feierlichkeiten für die serbischen Opfer in Bratunac bei. Sowohl 2007 als auch 2009, in Folge der EU-Resolution, scheiterten die liberale Partei LDP und die sozialdemokratischen LSV/SVM und SDU bei den Versuchen, erneut parlamentarische Verurteilungen des Massakers von Srebrenica zu initiieren. Auch Menschenrechts-Aktivisten protestierten seit Verabschiedung der EU-Resolution am 11. jeden Monats vor dem Präsidentenpalast und forderten die Anerkennung des 11. Juli als Gedenktag an das Massaker.96 Im Januar 2010 schließlich, im Vorlauf zum 15. Jahrestag und im Kontext der Verhandlung über die Rechtmäßigkeit der unilateralen Anerkennung des Kosovo vor dem Internationalen Gerichtshof sowie des europäischen Stabilisierungsund Assoziierungsprozesses, wurde der Vorschlag einer Deklaration nun vom serbischen Präsidenten Boris Tadic´ aufgegriffen. Man könne die serbischen Opfer »verteidigen«, da es möglich sei, »mit einer Politik des Respekts für das Leiden und des Zeigens von Achtung gegenüber anderen Opfern auf internationaler Ebene für die Durchführung nationaler Politik Glaubwürdigkeit zu

94 Tadic´, Svi dugujemo izvinjenje [Wir alle schulden eine Entschuldigung], in: B92, 06. 12. 2004. Diese Entschuldigung wurde zum Teil mit großem Unverständnis von der politischen Opposition kommentiert. 95 Liljana Smajlovic´, Srebrenica kao sudbina [Srebrenica als Schicksal], in: NIN, 08. 06. 2005. 96 Helsinki Committee for Human Rights in Serbia, Srebrenica. Transitional (In)Justice (Helsinki Bulletin Nr. 34) (Juli 2009), http://www.helsinki.org.rs/doc/HB-No34.pdf (30. 09. 2013), S. 1.

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erlangen«97. Daraufhin behandelten wochenlange hitzige Diskussionen die Notwendigkeit einer gesonderten, vom Parlament zu verabschiedenden Deklaration zu Srebrenica, individuelle beziehungsweise kollektive Schuld, die (Un-) Gleichheit von Opfern sowie die Anwendung der Kategorie Genozid. Gegenstimmen brachten an, die Resolution würde die Serben als Tätervolk verunglimpfen und die Existenzberechtigung der Republika Srpska infrage stellen. Mit nur knapper Mehrheit verabschiedete das serbische Parlament am 30. März 2010 die Resolution,98 mit der das serbische Narrativ zu Srebrenica in das europäische Erinnerungsmuster eingepasst wurde und weltweit positive Reaktionen erhielt. Gleichzeitig erweiterte die Debatte um die Deklaration den serbischen Patriotismus um ein universelles Opfergedenken. Zwar wurde eine explizite Nennung des Terminus ›Genozid‹ vermieden, jedoch bezog sich die Deklaration auf das Urteil des Internationalen Gerichtshofs und die Resolution des Europäischen Parlaments. Während Präsident Tadic´ die erfolgreiche Verabschiedung als »Akt des größten Patriotismus«99 begrüßte, blieben die Reaktionen in der serbischen Öffentlichkeit gespalten.100 Durch die Symbolpolitik Serbiens unter Druck gesetzt, kündigte nun auch der Präsident der bosnischen Serben, Dodik, eine Revision des Berichts von 2007 an und räumte ein, dass es in Srebrenica ein Verbrechen gegeben habe, das allerdings kein Genozid gewesen sei.101 Sein Vizepräsident Emil Vlajki äußerte sich weniger diplomatisch und knüpfte weiter an seine Äußerungen der Vorjahre an, nach denen Srebrenica der größte Mythos des 20. Jahrhunderts sei.102 97 Preneto, Tadic´, Rezolucija o Srebrenici je nasˇa obaveza [Resolution über Srebrenica ist unsere Pflicht], in: Politika, 11. 01. 2010. 98 Von den 149 Abgeordneten im Saal – die Abgeordneten der Fraktionen der SNS, SRS und LDP boykottierten die Abstimmung – stimmten die 127 Abgeordneten der Liste »Für ein europäisches Serbien«, G 17 plus, der SPS, JS, PUPS und der Minderheitenparteien für die Deklaration, während sich die 21 Abgeordneten der DSS und NS dagegen aussprachen. Ein ˇ ekerevac, Deklaracija usvojena posle 13 sati osˇtre Abgeordneter enthielt sich. S.M. C rasprave [Erklärung verabschiedet nach 13 Stunden scharfer Debatte], in: Politika, 31. 03. 2010. ˇ in najvisˇeg patriotizma [Akt des größten Patriotismus], in: Politika, 99 Preneto, Tadic´ : C 01. 04. 2010 100 So gab es kleine Gegendemonstrationen und Kampagnen aus dem zivilgesellschaftlichen Sektor, wie z. B. von der DSS-Jugend unter dem Motto »Nicht in meinem Namen«. Vonseiten des NGO-Sektors, der Initiative Jugendlicher für Menschenrechte und der liberal-demokratischen Partei hingegen wurde kritisiert, dass man sich um das Wort »Genozid« gedrückt habe. 101 Reuters, Envoy Slams Bosnia Serbs for Questioning Srebrenica (21. 04. 2010), http:// www.reuters.com/article/2010/04/21/idUSLDE63K0E2 (30. 09. 2013). 102 Emil Vlajki, Srebrenica kao metafora [Srebrenica als Metapher], Glas Srpske, 12. 03. 2004. Ausführlich seine These einer antiserbischen westlichen Verschwörung: Ders., Demonizacija Srba. Zapadni imperijalizam, njegovi zlocˇini, sluge i lazˇi [Die Dämonisierung der Serben. Der westliche Imperialismus, seine Verbrechen, Knechte und Lügen], Belgrad 2001.

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Wie die Auseinandersetzung 2010 zeigte, mobilisierten vor allem transnationale Netzwerke die serbische Gegenerinnerung. Sie werden außerhalb Serbiens und der Republika Srpska als »Srebrenica-Leugner« disqualifiziert, während sie in den Ländern als legitime Erinnerungsakteure wahrgenommen werden.103 Ein Beispiel für transnationale Mobilisierung ist die »Initiative der Bürger für die Wahrheit über Srebrenica«, die in einem am 22. Januar 2010 veröffentlichten Appell mehr als 80 serbische NGOs aus Serbien, dem ex-jugoslawischen Raum sowie Kanada, den USA, Österreich, Deutschland, Belgien und vielen weiteren Ländern versammelte. Unter dem Titel »Serbische Opfer sind nicht weniger wichtig [als muslimische, D.M.]« sprachen sie sich gegen die Resolution aus.104 Medien, die diesen Stimmen in Serbien Raum gaben und selbst in die Debatte um Srebrenica intervenieren, sind die nationalistische Wochenzeitung Pecˇat [Stempel]105 oder die Serbische Tore. Zeitung für nationale Kultur, die 2010 eine Sondernummer zu Srebrenica veröffentlichte.106 Sie bilden mit den Autoren oftmals quasi-wissenschaftlicher Publikationen eine transnationale diskusive Koalition eines serbischen Srebrenica-Narrativs, wie die kurz vor dem 17. Jahrestag des Massakers im Juli 2012 veröffentlichte Essaysammlung »Srebrenica – Das Fälschen der Geschichte«107 anlässlich der Studie Massaker in Srebrenica von Edward Herman zeigte. Das vom Srebrenica Historical Project und Pecˇat verlegte Buch wurde als kostenlose Beilage der Zeitschrift in einer Auflage von 15.000 Exemplaren verbreitet. In Bosnien sorgte das Buch für einen Skandal und wurde auf Antrag der Föderation Bosnien-Herzegowina als verfassungswidrig verboten. Der Herausgeber beklagte öffentlich Zensur und berief sich auf Meinungsfreiheit und Medienpluralismus. Im Nachklang dieser Vorkommnisse, die den Essays zusätzlich Berechtigung verliehen, erfreute sich der Text in Serbien und im Internet großer Beliebtheit. Das »Srebrenica Historical Project« ist eine in Den Haag eingetragene gemeinnützige Stiftung unter Leitung von Stefan Karganovic´,108 die den Völkermord in Srebrenica bestreitet. Sie 103 Auch Akteure innerhalb der Region aus dem NGO-Sektor prangern ihre Positionen an, s. z. B. Sonja Biserko/Edina Becˇirevic´, Denial of Genocide. On the Possibility of Normalising Relations in the Region (2009). http://www.bosnia.org.uk/news/news_body.cfm?newsid=2638 (30. 09. 2013). 104 S. Inicijativa grad¯ana za istinu o Srebrenici, Apel visˇe od 80 srpskih nevladinih organizacija povodom tvz. Rezolucije o Srebrenici [Appell von mehr als 80 NGOs anlässlich der sogenannten Resolution über Srebrenica] (2010), http://inicijativagis.wordpress.com/2010/02/ 11 (30. 09. 2013). 105 S. exemplarisch Dragan Mraovic´, Antisrpska medijska haranga i upotreba »genocida« [Antiserbisches Mediengeläut und die Verwendung des »Genozids«], in: Pecˇat, 28. 01. 2010. 106 Dveri srpske (Hrsg.), Srebrenica, Belgrad 2009. 107 Stefan Karganovic´ (Hrsg.), Srebrenica. Falsifikovanje istorije [Srebrenica. Fälschung der Geschichte], Belgrad 2012. 108 S. Stephen Karganovic´/Ljubisˇa Simic´/Edward Herman/George Pumphrey/J.P Maher/Andy Wilcoxson, Deconstruction of a Virtual’s Genocide. An Intelligent Persons Guide to Sre-

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möchte durch eine breite Einbeziehung des Konfliktkontextes und der Leiden der serbischen Zivilbevölkerung in den Jahren vor dem Massaker die Verzerrung der Darstellung der Ereignisse mit einer entsprechenden »Balance« kontrastieren. Edward Herman vertritt eine antiwestliche, antiimperialistische Stoßrichtung und koordiniert einen freien Zusammenschluss westlicher Autoren, die bereits 2005 einen Bericht über Srebrenica veröffentlichten.109 Sie zweifeln nicht nur die Fakten des hegemonialen Srebrenica-Narrativs an, sondern vermuten sogar eine Verschwörung und eine Opferung der Enklave durch die bosnischmuslimische Führung.

Schlussbetrachtung Es sind bis heute die Hauptakteure um das Massaker von 1995 sowie die zivilgesellschaftlichen Vertreter der Opfergruppen, welche die Erinnerung an Srebrenica wachhalten. Seit 1995 sind allerdings die jeweils für die eigene Identität problematischen Erinnerungen mehr oder minder systematisch »vergessen« worden. Die synchronen Deutungskämpfe wurden im Laufe der Zeit durch vornehmlich westlich dominierte Narrative eingehegt und hegemonial festgeschrieben. Eine besondere Rolle spielt dabei die juristische Aufarbeitung durch das ICTYund andere Institutionen.110 Juristische Wertungen nehmen die gleiche Funktion ein, die legitimatorische Geschichtsschreibung für andere Deutungsträger erfüllt. Sie entscheiden über die »richtigen« Narrative von Verbrechen, indem sie durch den positiven Geltungsanspruch der Justiz festlegen, was »wahr« ist.111 Zwar können internationale Gerichte wie das ICTY nationalistibrenica (2011), http://www.srebrenica-project.com/DOWNLOAD/books/Deconstruction_of_a_virtual_genocide.pdf (30. 09. 2013). 109 S. Srebrenica Research Group (2005), Conclusions of Srebrenica Research Group, http:// www.srebrenica-report.com/conclusions.htm (30. 09. 2013); Edward S. Herman, The Approved Narrative of the Srebrenica Massacre, in: International Journal for the Semiotics of Law 19 (2006), S. 409 – 434. 110 S. ausführlicher Richard Ashby Wilson, Judging History. The Historical Record of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, in: Human Rights Quarterly 27 (2005), H. 3, S. 908 – 942, oder breiter diskutiert in Richard Ashby Wilson, Writing History in International Criminal Trial, Cambridge/New York 2011. Zur Problematik von Historikern als Zeugen bei Gericht s. Vladimir Petrovic´, Historians as Expert Witnesses in the Age of Extremes, Budapest 2009. 111 Das Verhältnis von Recht und Narrativität ist mehrdimensional, es umfasst »the function and necessity of stories in actual court settings, the fictional and non-fictional representations of legal cases in popular culture, and the repercussion of stories about legal issues on the process of law«, Claudia Schwarz, Sentenced to »Storification«: A Trial on Legal Narratives, in: Gudrun M. Grabher/Anna Gamper (Hrsg.), Legal Narratives. European Perspectives on U.S. Law in Cultural Context, Wien 2009, S. 213 – 238, hier S. 213.

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sche Mythen über Verbrechen und Krieg dekonstruieren, allerdings urteilen sie in hochpolitisierten Kontexten. So stellt nationalistische Gegenmobilisierung die Legitimität des Gerichts an sich infrage, wie das serbische Beispiel zeigt. Die komplexitätsreduzierenden, partiellen Darstellungen eines universalistischen Menschenrechtsnormen verpflichteten Gerichts wie des ICTY112 kollidieren oftmals mit nationalen oder lokalen Darstellungen; Konflikte sind vorprogrammiert. Zudem bleiben die dichotomen Freund-Feind-Identitäten nach Konflikten durch die erneuten Zuweisungen der bipolaren Kategorien von schuldigen Tätern und unschuldigen Opfern erhalten. Vor allem die Verwendung des Genozidbegriffes institutionalisierte eine eindeutige Opfer-Täter-Relation. Genozid diente als deutungsoffenes Symbol, hinter dem sich die meisten Akteure versammeln konnten. Durch den Menschenrechtsdiskurs und das internationale Regime der transitional justice konnte sich mit Referenz auf die Rechtssprechung des ICTY und des Internationalen Gerichtshofs sowie auf die Genozidkonvention eine eindeutige Deutung hegemonial durchsetzen, mit der sich sowohl Opfergruppen, globale advocacy networks aus internationalen Organisationen und NGOs als auch Vertreter der internationalen Gemeinschaft identifizieren können. Dieser Prozess war ein beidseitiger : Während die Bosniaken mit der Verwendung des Genozidbegriffes ganz klar internationale Unterstützung beabsichtigten, war die internationale Gemeinschaft nach Srebrenica dankbar, diese Deutung aufzunehmen und von ihrer Verantwortung abzulenken. Die eindeutige Zuweisung der Täter-Opfer-Relation vermied eine weitere Auseinandersetzung mit Fragen des Kontexts, nach Schuld und Verantwortlichkeiten. Die Schuldfrage schien eindeutig geklärt. Der Internationale Gerichtshof entlastete zwar den serbischen Staat, nichtsdestotrotz wird das serbische Narrativ, demzufolge die Serben von internationalen Akteuren oder dem Westen oder der EU kollektiv verurteilt und bestraft würden, weiter getragen. Die Konditionalisierung der Bereitstellung von Finanzhilfen, der Reintegration in internationale Organisationen oder den EU-Integrationsprozess durch die Aufarbeitung der Vergangenheit befördern diese Deutung noch. Der Diskurs über Srebrenica hat klare Grenzen: Relativierungen des muslimischen beziehungsweise internationalen Narrativs werden nicht toleriert, auch Kontextualisierungen werden schnell mit dem Vorwurf der »Srebrenica-Leugnung« disqualifiziert. Das sorgt für eine diskursive Allianz einer Vielzahl von proserbischen Publizisten, Wissenschaftlern und linken Intellektuellen, die ih112 Besonders konzentriert findet man das ICTY-Narrativ zum Beispiel hier : International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia – Outreach Programme, Facts about Srebrenica, http://www.icty.org/x/file/Outreach/view_from_hague/jit_srebrenica_en.pdf (30. 09. 2013).

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rerseits die Machtverhältnisse eines imperialistischen Westens der 1990er-Jahre, der eine Zerschlagung Jugoslawiens aus ökonomischen und imperialistischen Gründen betreibe, fortgesetzt sehen. Eine weitere Grenze scheint die Auseinandersetzung der internationalen Akteure mit dem eigenen Versagen über die bisherigen deklaratorischen Bekundungen hinaus zu bilden: Weder den Forderungen auf Schadensersatz oder nach Entschuldigungen noch der Ausdehnung des Opfernarrativs wurde bislang nachgekommen. Vielmehr setzen die internationalen Akteure durch die massive Unterstützung eines homogenisierten muslimischen Narrativs auf ihre Rehabilitierung. Die Verurteilung des Massakers, die Aufarbeitung der Geschehnisse und die Aufrechthaltung der Erinnerung wurden in diesem Kontext zu einer europäischen, wenn nicht sogar globalen Normbekundung. Abschließend bleibt festzustellen, dass die untersuchten Deutungen, auch innerhalb Europas, zum Teil deutlich von jenen abweichen, die das Europäische Parlament in der eingangs angeführten Resolution zur Einrichtung eines Gedenktags verabschiedete. In der Erinnerung an Srebrenica lässt sich ein mehrfacher Europabezug feststellen: Einerseits wurde durch die ersten Deutung, der zufolge Srebrenica das größte Verbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs sei, sowohl auf die Zugehörigkeit zu Europa als auch in einem zweiten Schritt auf das Versagen der internationalen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik verwiesen. Zudem wird die Erinnerung an Srebrenica von der serbischen Regierung als Zeichen der Europafähigkeit interpretiert, weshalb die Verabschiedung der Deklaration zur Verurteilung von Srebrenica gegen viele Widerstände durchgesetzt wurde. Vertreter der Regierungskoalition nutzten die Deklaration als politische Ressource, um sie mit dem Vorwurf einer antieuropäischen Haltung innenpolitisch zu disqualifizieren.113 Vertreter der europäischen Kommission bestätigten mit ihren positiven Reaktionen auf die Verabschiedung der Deklaration den Nexus zwischen der Verurteilung des Massakers und der Europafähigkeit: Die Verabschiedung der Verurteilung des Massakers sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die EU.114 Mit der im Juli 2011 vollzogenen Auslieferung von Ratko Mladic´ wurde auch eine Bedingung an die Ratifikation des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit Serbien geknüpft, die dem serbischen Volk ganz klar den Zusammenhang zwischen Srebrenica und EU aufzeigte. Dieser Eindruck einer kollektiven Verurteilung aller Serben wird von serbischen Politikern weiter genährt. Durch die Europäisierung 113 Europäisch wird innerserbisch oftmals damit gleichgesetzt, dass Parteien reformorientiert, Wohlstand versprechend, freiheitlich und nicht nationalistisch orientiert sind. Antieuropäische Kräfte werden als dementsprechend rückwärtsgewandt und nationalistisch eingeordnet. 114 Kljucˇni potez za pomirenje u cˇitavom regionu [Entscheidender Zug für die Versöhnung in der ganzen Region], in: Vecˇernje Novosti, 01.04.10.

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eines partikularen Narrativs werden andere, unerwünschte Narrative ausgeschlossen oder vergessen gemacht. Die Lesart von Srebrenica als negative gesamteuropäische Erinnerung wird sowohl im öffentlichen Mediendiskurs als auch in den symbolischen Gedenkakten der EU fortgesetzt und jährlich aktualisiert. Die Konflikte zwischen den verschiedenen Perspektiven auf Srebrenica bleiben weitgehend unerwähnt und unbehandelt. Gleichzeitig wird Srebrenica sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas Teil einer variierenden Diskurskoalition, die eine Wiederholung der Geschichte von Auschwitz über Srebrenica bis zu einem drohenden neuen Genozid suggeriert. Schon in den ersten Monaten des Bosnienkrieges stellten amerikanische jüdische Lobbyorganisationen eine Analogie zum Holocaust auf,115 welche die jeweiligen nationalen Diskurse aufnahmen und gerade in Deutschland auf fruchtbaren Boden fiel. 1999 machten dann Außenminister Joschka Fischer und Verteidigungsminister Rudolf Scharping die Analogie von Srebrenica und Auschwitz während der Debatte über den Auslandseinsatz der Bundeswehr 1999 im Kosovokrieg prominent.116 Seitdem wird die Diskurskoalition zunehmend relevant und erfüllt durch ihre normative Aufladung eine wirkmächtige Legitimationsfunktion, um in der öffentlichen Meinung westlicher Gesellschaften Unterstützung für militärische Interventionen in (Bürger-)Kriegen aus humanitären Gründen zu erhalten.117

115 S. Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter : Der Holocaust, Frankfurt am Main 2007, S. 184 – 190. 116 S. ausführlicher zum Wandel der deutschen Rhetorik Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991 – 1999, Opladen 2002. 117 Ein jüngeres Beispiel ist die Forderung nach einer Intervention in Syrien zur Verhinderung eines Massakers in Homs. S. Emir Suljagic´/Reuf Bajrovic´, Keine Schutzzone ohne Schutz, in: Die Zeit, 01. 03. 2012. Es ist von besonderer Brisanz, dass die beiden bosniakischen Verfasser als Betroffene eine direkte Verbindung von Srebrenica zu Homs schlagen. Emir Suljagic´ ist Überlebender des Massakers von Srebrenica und Publizist, Reuf Bajrovic´ politischer Analyst in Washington.

Schlussbetrachtung

Gregor Feindt, F¦lix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel, Rieke TrimÅev

Funktionen europäischer Erinnerung in der postnationalen Konstellation1

In der Einleitung dieses Buches haben wir die Prämisse formuliert, dass europäische Erinnerung als Gegenstand kontroverser Auffassungen Teil der diskursiven Möglichkeiten unserer Zeit geworden ist. Jenseits der Frage nach Ideal oder Wirklichkeit haben die sieben Fallstudien europäische Erinnerung als semantische Realität verstanden, die es in ihrer Mehrdeutigkeit und Geschichtlichkeit zu erschließen galt. Die in der Einleitung entwickelten Heuristiken der Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit dienten dabei als Leitfaden für die Fallstudien und eröffnen nun abschließend eine vergleichende Perspektive. Tatsächlich entwickeln sich im Vergleich einzelne Aspekte einer Fallstudie im Dialog mit einem oder mehreren anderen Beiträgen zu tertia comparationis, die den Gedankengang dieses Schlusskapitels strukturieren. Die folgenden Seiten fragen nach unterschiedlichen Mustern solcher Deutungen, die ihren Gegenstand gleichzeitig als vergangen und als europäisch repräsentieren. Erst innerhalb eines so aufgefächerten Blicks wird deutlich, um welche Kategorien, Zuschreibungen und letztlich Ansprüche heute gerungen wird, wenn von europäischer Erinnerung die Rede ist. Damit soll eine Charakterisierung von europäischer Erinnerung in ihrer postnationalen Konstellation vorgeschlagen werden. Durch die unterschiedlichen Fallstudien hindurch sind regelmäßige Deutungsmuster europäischer Erinnerung zu erkennen, die sich in vier Kategorien unterteilen lassen. Erstens werden in ihnen die imaginierten Räume Europas verhandelt. Dies manifestiert sich anhand symbolischer und geografischer Grenzziehungen. Zweitens funktioniert Europa vielfältig als Kapital in Erinnerungsdiskursen. Drittens kann der Begriff Europa Erinnerung in politischideologischen Auseinandersetzungen mobilisieren. Viertens wird in den Deu1 Die folgenden Seiten formulieren Gedanken, die im Dezember 2012 im Rahmen eines Redaktionsworkshops am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld aus der Diskussion mit allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes sowie Oliver Dimbath, Helmut König und Harald Wydra entstanden sind.

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tungen der Vergangenheit Europas erprobt, wie heute mit seiner Heterogenität umgegangen werden kann. Europa steht hier für eine Veränderung im Erinnerungsdiskurs, die Heterogenität zum bewahrenswerten und eingehegten status quo von Erinnerung erhebt.

Imaginierte Räume Europas Erinnerungen stellen Vergangenheit stets in räumlichen Kategorien vor.2 Eine solche »topologische Qualität«3, um einen treffenden Ausdruck von Aleida Assmann aufzugreifen, zeigen auch die zeitgenössischen Erinnerungen, die als 2 Der Konnex von Erinnerungsprozessen und Raumvorstellungen hat historisch unterschiedliche Formen angenommen. Seit der Antike repräsentierte die ars memoria komplexe Bewusstseinsinhalte, indem sie deren Zusammenhang in Analogie zu bestimmten räumlichen Relationen in einer Landschaft oder einem Gebäude setzte, s. die exemplarische Studie von Stefan Goldmann, Topoi des Gedenkens. Pausanias’ Reise durch die griechische Gedächtnislandschaft, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hrsg.), Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift, Frankfurt am Main 1991, S. 145 – 164, sowie maßgeblich Frances A. Yates, The Art of Memory, London 1966. Anders als diese intendierte Lokalisierung der Mnemotechnik stellen aber auch typische Metaphern wie Bibliothek, Labyrinth, Tempel oder Stadt vergangene Wirklichkeiten oder gar Erinnerungsprozesse selbst in räumlichen Figuren vor. Wie zum Beispiel Aleida Assmann oder Douwe Draaisma zeigen, suggerieren unterschiedliche Raummetaphern dabei implizit immer auch unterschiedliche Verständnisse der Formen und Funktionen von Erinnerungsprozessen. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003, S. 158 – 162, und Douwe Draaisma, Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses, Darmstadt 1999, S. 36 – 40 und S. 78 – 84. Auf der theoretischen Metaebene wird der Zusammenhang von Raum und Erinnerung dann besonders bei Maurice Halbwachs als Materialisierung ausformuliert, s. Stephan Egger, Auf den Spuren der »verlorenen Zeit«. Maurice Halbwachs und die Wege des »kollektiven Gedächtnisses«, in: Maurice Halbwachs, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, hrsg. v. dems., Konstanz 2003, S. 219 – 268. Zwischen diesem soziologischen Zugriff, der Erinnerungssteuerung der lokalisierenden Mnemotechnik und der Naturalisierung räumlicher Erinnerungs- und Gedächtnismetaphern changieren räumliche Kategorien im Forschungsparadigma der lieux de m¦moire, die nicht streng dem räumlichen locus der klassischen Mnemotechnik, sondern oft den imagines, also verorteten Begriffen und Vorstellungen, nachgehen, s. Martin Reisigl, Das Konzept der »lieux de m¦moire« aus rhetorischer und linguistischer Perspektive, in: Beno„t Majerus/Sonja Kmec/Michel Margue/Pit P¦port¦ (Hrsg.), D¦passer le cadre national des »Lieux de m¦moire«. Innovations m¦thodologiques, approches comparatives, lectures transnationales, Brüssel 2009, S. 117 – 140, hier S. 132, und Tilmann Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009, S. 99 – 105. Zur »suggestiven Kraft dieser Unschärfen« s. auch Assmann, Erinnerungsräume, S. 158 – 162 und S. 298 – 339. Besonders im Verhältnis zur Mnemotechnik dreht unser Argument an dieser Stelle freilich den funktionalen Zusammenhang um: Betrachtet wird nicht, wie Raumvorstellungen komplexe Erinnerungsleistungen unterstützen können. Gefragt wird vielmehr, wie bestimmte Erinnerungsmuster Raumvorstellungen bedingen und transportieren. 3 Assmann, Erinnerungsräume, S. 158.

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europäisch dargestellt werden. Sie lassen auf unterschiedlichen Ebenen Raumvorstellungen erkennen. Damit sind nicht allein im strengen Wortsinne geografische Vorstellungen der Grenzen und Binnenstruktur Europas gemeint. Vielmehr entstehen Verräumlichungen auf abstraktere Weise auch dort, wo Erinnerungen soziale Gruppen durch innere und äußere Raumbezüge in eine relationale Ordnung zu anderen sozialen Gruppen stellen. Die Europareferenz erhält dadurch jeweils Kontur und Dichte. Die vorliegenden Fallstudien können hinsichtlich dreier wiederkehrender Erinnerungsmuster verglichen werden, für die räumliches Vorstellungsvermögen konstitutiv ist: Erstens finden sich unterschiedliche Figuren des Anderen, die für die Grenze dessen grundlegend sind, was als Europa vorgestellt werden kann. Zweitens geben innere Trennlinien Europa ein Zentrum und grenzen davon Peripherieregionen ab. Drittens beobachten die Fallstudien die expansive Tendenz eines solchen Zentrums. Durch die Konstruktion von Alterität stellt eine erinnernde Gruppe bekanntlich Identität und Kohäsion her.4 Simon Hadlers Fallstudie zum Türken illustriert, wie durch ein als europäisch konnotiertes Deutungsmuster eine kontinuierliche Abgrenzung von einem Anderen vorgenommen wird, der außerhalb des als eigen verstandenen Raums verortet wird. Die so gezogene Trennlinie wird insbesondere dadurch wirkungsvoll, dass sie im Sinne des in der Einleitung als Traditionsstiftung bezeichneten Erinnerungsmodus eine Vielzahl an unterschiedlichen Projektionsmöglichkeiten zulässt und die Figur des Anderen verschiedenartig variiert. So ist der Türke eine historisch wiederholt verfügbare Chiffre, um jeweils gegenwärtige Feinde zu benennen, sie negativ zu besetzen und sich von ihnen abzugrenzen. Die in der Fallstudie ausgeführte Gleichsetzung des islamischen Fundamentalismus oder des imperialistischen Russlands – jeweils verstanden als Metapher für die Bedrohung Europas – mit den heutigen Türken ist dabei nur eine der möglichen Konnotationen dieser Trennlinie zwischen dem Eigenen und dem als Bedrohung empfundenen Anderen. Die historische Kontinuität und Anpassungsfähigkeit dieses Musters der Abgrenzung durch den Begriff des Türken lässt sich durch fortlaufende Reaktualisierungen des Feindbildes seit dem 16. Jahrhundert nachzeichnen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass dieses Motiv bereits durch Strukturen besetzt war, die zeitlich vor dem Türken lagen, und Bilder der Sarazenen, Hagarener oder allgemeiner des Antichristen in Konfrontation mit dem historischen Türken fortgeführt und angepasst wurden. Trotz punktuell anzutreffender positiver Besetzung des Türken ist deutlich geworden, dass die negativen Konnotationen dieses Deutungsträgers überwiegen und für die eigene Standortbestimmung als europäisch relevant sind. Denn 4 S. die Einleitung dieses Bandes, S. 13, Anm. 4.

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nur durch ein Aushandeln der Trennlinie zwischen dem Türken und Europa ist es möglich gewesen, Europa als Abendland, Christenheit oder schlicht als vermeintlich zivilisiert zu definieren. Wenn also von Europa gesprochen wird, bedeutet das implizit auch, dass bestimmte Vergangenheitsbezüge ausgeschlossen, andere dafür normativ eingefordert werden. Das wird anhand der EU-Beitrittsverhandlungen mit dem heutigen Staat Türkei anschaulich, in denen die kulturelle Abgrenzung fortdauert und die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern zum Prüfstein europäischer Zugehörigkeit erhoben wird.5 Andernfalls werden, wie die 2001 von der französischen Nationalversammlung verabschiedete loi m¦morielle oder ein Beschluss des Deutschen Bundestages zur türkischen »Aufarbeitung« dokumentieren, unter dem Schlagwort europäische Erinnerung die Grenzen gegenüber der Türkei neu begründet.6 In Roland Scheels Fallstudie zu den Wikingern arbeiten Vorstellungen vom Eigenen und Anderen auf andere Weise an der Grenze dessen, was Europa genannt werden kann. Im Unterschied zum Türken werden die Wikinger nicht explizit als Anderer Europas dargestellt. Dennoch ist die Europavorstellung auch in den hier angeführten Deutungsgeschichten auf indirekte Weise präsent. Die Wikinger funktionieren als Antonym zu Nachbarkonzepten Europas: nämlich dem Christentum oder der lateinischen Kultur. So wurde im 12. Jahrhundert der Mord eines heidnischen nordischen Seekriegers an einem christlichen, altenglischen König zum Ursprungsmythos eines eigenständigen, christlichen Islands. In der Chronistik des mittelalterlichen Islands wurde der Wikinger als innerer Barbar aus dem eigenen Selbstbild verbannt, indem er einer fernen Vergangenheit zugewiesen wurde. Hier wurde Alterität in der Grundlage ihrer Entstehung eingeebnet, weil sie einen Selbstwiderspruch zu einem neuen Identitätskonzept bildete. Der Wikinger wurde in seiner Erinnerungsgeschichte zu einem domestizierten Anderen, der als solcher heute, von allen Assoziationen der Gewalt befreit, als neu erfundener harmloser Barbar auch in das Selbstbild Europas integriert werden kann. Am Beispiel der isländischen Geschichtsschreibung zeigt diese Fallstudie ferner, wie die vormittelalterlichen nordischen Seekrieger eine negative narrative Rolle ausfüllten, die zum Beispiel in späteren, hochmittelalterlichen Er5 S. die folgenden Ausführungen zur Anerkennung von Völkermorden als konstitutives Element der Zugehörigkeit zu Europa. 6 S. z. B. Alain-G¦rard Slama, La culpabilit¦ de l’Occident. Les n¦gociations d’adh¦sion avec la Turquie commenceront le 3 octobre 2005, in: Le Figaro, 20. 12. 2004; Carsten Fiedler, Union verlangt von der Türkei Mäßigung in Armenien-Debatte, in: Die Welt, 23. 04. 2005, und Heinrich August Winkler, Überdehntes Wir-Gefühl. Als Wertegemeinschaft kann die EU nur Nationen umfassen, die sich der politischen Kultur des Westens vorbehaltlos öffnen, ebd., 28. 12. 2005.

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zählungen mit muslimischen Piraten besetzt wurde. Vor dem Hintergrund der Fallstudie zum Türken wird deutlich, wie damit ein asymmetrischer Gegenbegriff zum Identifikationsbegriff Europa aufgerufen wurde, der im Sinne Reinhart Kosellecks primär auf Selbst- und nicht auf Fremdwahrnehmung beruhte und die implizit angesprochene Gegenseite für eigene Identitätskonzepte funktionalisierte.7 Der Wikinger stand für Eigenschaften, die gefürchtet sind und daher externalisiert wurden. Sie gehörten zwar im isländischen Fall der eigenen Vergangenheit an, verblieben jedoch in einer hinreichend fernen Vergangenheit, die für die jeweilige Gegenwart die binäre Logik des Feindbildes Wikinger aufhob. Im Erinnerungsmodus der Traditionsstiftung folgt aus dieser Historisierung, dass die Figur des Anderen eingehegt werden konnte – nicht jedoch als der Andere als solcher, sondern aus der Retrospektive eines scheinbar definitiv überwundenen Konflikts im Falle der Wikinger oder in der Erwartung einer erneuten Zuspitzung des dualistischen Feindbildes mit Blick auf den Türken. Auch im Falle Versailles’ haben sich die Erinnerungskonflikte nach dem Zweiten Weltkrieg scheinbar definitiv aufgehoben. Die von Friedemann Pestel untersuchten »Interpretationsübungen« der architektonisch-künstlerischen Schlossausstattung im Modus der Deutungsregie haben im deutsch-französischen Wechselspiel von Triumph und Niederlage allerdings ein solches Maß an Analogie zueinander entwickelt, dass eine qualitative Unterscheidung in der nach 1945 erfolgten wechselseitigen Anerkennung der nationalen Interpretationen kaum noch möglich ist, da sie nahezu vollkommen historisiert worden sind. Folglich markiert Versailles gegenwärtig keine räumliche Exklusionslinie zwischen Deutschland und Frankreich mehr, sondern stellt die Frage nach Inklusion und Exklusion nur noch außerhalb davon. Wenn sich Großbritannien und Irland beim Êlys¦e-Jubiläum 2003 aus dem Europaverständnis des deutschfranzösischen Gespanns bewusst ausgeschlossen fühlen und sich stattdessen auf partikulare beziehungsweise transatlantische Rahmen beziehen, tritt an die Stelle der Tradition einer deutsch-französischen Feindschaft die europapolitisch aufgeladene Vorstellung einer aus der Konfliktgeschichte umgedeuteten gemeinsamen Hegemonie. Bleibt aufgrund einer hohen semiotischen Verfügbarkeit der bislang betrachteten Deutungsträger die dichotome Logik von Feindbildern in ihrer Grundstruktur erhalten, wandelt sie sich, wenn angesichts der deutlich größeren zeitlichen Nähe ein höheres Konfliktpotenzial bewältigt werden muss. Im Modus des Deutungskampfs tritt in Gregor Feindts Fallstudie zu Flucht und Vertreibung 7 Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 211 – 259. Vgl. weiterführend Kay Junge/Kirill Postoutenko (Hrsg.), Asymmetrical Concepts after Reinhart Koselleck. Historical Semantics and Beyond, New Brunswick 2011.

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daher innerhalb einer solchen Konfliktkonstellation die Figur des Anderen in gewandelter Form auf, indem sie als Dritte Instanz zur Überwindung der Dichotomie führt. Bevor dieses Erinnerungsmuster im vierten Schritt dieses Vergleichs hinsichtlich seines Umgangs mit Konflikthaftigkeit genauer analysiert wird, soll es hier mit Blick auf die ihm inhärenten räumlichen Vorstellungen betrachtet werden. In den Europa-Vorstellungen öffentlicher Interventionen von Wissenschaftlern steht Europa im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung für eine vorweggenommene und anerkannte Instanz des Anderen. Hier ist zu erkennen, wie Wissenschaftler einen multiperspektivischen Zugang auch auf Erinnerungsfragen übertragen und durch Politikberatung letztlich Modelle von Erinnerung anleiten.8 Mit der aus der Wissenschaft entliehenen Forderung nach einer multiperspektivischen Erinnerung erhält der erinnerte Andere – repräsentiert durch Europa – eine aktive Funktion, wird folglich als erinnernder Dritter zu einer appellationsfähigen Akteursinstanz, die als Leitbild einer europäischen Erinnerung dient. Im Streitfall des geplanten »Zentrums gegen Vertreibungen« beziehen sich alle Akteure auf einen Erinnerungsraum Europa, um ihre spezifischen Deutungen zu legitimieren, und entleeren ihn dadurch semantisch. In dieser Einhegung von Erinnerungskonflikten stellt Europa folglich eine Alternative zu untereinander unvereinbaren – hier : nationalen – Erinnerungen dar, indem es durch die explizite Anerkennung anderer Erinnerungsinhalte selbst zu einem multiperspektivischen Dritten wird. Aus diesen Abgrenzungen und Grenzziehungen sind in den unterschiedlichen Fallstudien Räume Europas zu erkennen, die als diskursive Realitäten Europa einen Inhalt geben. Die offensichtlichste Konkretisierung ist die Unterscheidung zwischen Osteuropa und Westeuropa, die keineswegs erst seit Bestehen des Eisernen Vorhangs die Europawahrnehmung strukturiert.9 Die dabei implizierte Unterscheidung von Zentren und Peripherien des Kontinents lässt sich an den mit europäischer Erinnerung bezeichneten Inhalten selbst erkennen. So zeigt Klaus Oschemas Fallstudie zu Karl dem Großen, wie das karolingische Frankenreich nach dem Zweiten Weltkrieg die westeuropäische Integration traditionsstiftend als europäisch unterfütterte. Durch die explizite Gleichset8 S. die Fallstudie von Gregor Feindt, S. 169. 9 Zur Abgrenzung eines instabilen »Osteuropas« von einem »westeuropäischen« Zivilisationsmodell im Zuge der Staatsgründungen nach dem Ersten Weltkrieg s. Peter Bugge, ›Shatter Zones‹: The Creation and Re-creation of Europe’s East in Ideas of Europe since 1914, in: Menno Spiering/Michael J. Wintle (Hrsg.), Ideas of Europe since 1914. The Legacy of the First World War, Basingstoke 2002, S. 47 – 68, hier S. 47. Eine Verortung im Westen dominiert auch noch das gegenwärtige Europabild, s. Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920 – 1970), München 2005, S. 1.

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zung mit dem Herrschaftsgebiet Karls des Großen grenzte sich das Europa der Sechs vom Ostblock und Kommunismus ab, ganz dem Muster der asymmetrischen Gegenbegriffe folgend: Ein mit Karl legitimiertes historisch-westkirchlich-lateinisches Europa verstand sich dabei als eine »westeuropäische Schicksalsgemeinschaft«10 und nahm für sich in Anspruch, Europa als solches zu sein, bedurfte dazu aber der selbstvergewissernden Abgrenzung von einem »Anti«oder »Nichteuropa«. Diese dichotomische Vorstellung von Europa nutzt ebenso den aus der Erinnerung an den Türken geläufigen Bollwerk-Mythos. Die Konstruktion einer antemurale christianitatis beschreibt die Abwehr eines expansiven Feindes. Doch bildete im Kontext des Kalten Kriegs die Bedrohung nicht mehr der Islam, der durch langfristige Kulturkontakte und Migration teilweise zu einem domestizierten, auch im Inneren lebenden Anderen transformiert wurde. Stattdessen wurde die identitätskonstitutive Funktion des äußeren Anderen nunmehr politisch definiert; an die Stelle des Türken trat als neue Bedrohung die Sowjetunion. Diese Substitution des Türken durch den Bolschewisten hat auch, wie Marcin Napiûrkowski zeigt, in der Erinnerung an den Warschauer Aufstand stattgefunden. Die Verteidigung der europäischen Zivilisation verläuft hier an der Weichsel gegen den Kommunismus in Gestalt der herannahenden Roten Armee.11 Der Transfer von Deutungsmustern wie dem Bollwerk transportiert die darin ausgedrückte räumliche Vorstellung. Im Abwehrkampf gegen die Türken war es zunächst nicht Europa, das es zu schützen galt, sondern die Christenheit gegen einen heidnischen und daher friedensunfähigen Erbfeind. Mit der Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei in den 1990er-Jahren sind solche Vorstellungen zurückgekehrt, nun als christliches Erbe oder christlich-jüdische Wurzeln Europas formuliert. Sie verweisen auf eine dezidiert christliche Vorstellung des Abendlandes, die Europa nach 1945, mit Karl dem Großen als Gewährsmann, politisch auf die Erstunterzeichner der Römischen Verträge zentrierte.12 Spätestens mit der Zäsur von 1989 haben diese funktionalen Äquivalenzen 10 S. die Fallstudie von Klaus Oschema, S. 57. 11 Eine ähnliche Kopplung von Antibolschewismus und der Verteidigung der Kultur des Abendlandes stellt auch Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 22, fest. 12 Zur historischen Semantik der Begriffe Abendland und Europa s. Heinz Hürten, »Europa und Abendland – Zwei unterschiedliche Begriffe politischer Orientierung«, in: Philipp W. Hildmann (Hrsg.), Vom christlichen Abendland zum christlichen Europa. Perspektiven eines religiös geprägten Europabegriffs für das 21. Jahrhundert, München 2009, S. 9 – 16, hier S. 10. Nichtsdestotrotz geht die Bedeutung des Abendlands nicht in seiner christlichen Komponente auf. Insbesondere in der jungen Bundesrepublik war der Begriff immer auch ein politisch-ideologisches Konzept der Westintegration Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 22 f., sowie Conze, Das Europa der Deutschen, S. 57.

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von religiösen und säkularen Europasemantiken mit Blick auf das kommunistische Feindbild ihre konstitutive Referenz verloren. Mit der symbolischen Überwindung des Systemgegensatzes ist die Kategorie Europa unter den Erwartungsdruck einer vermeintlichen Rückkehr des Ostens geraten.13 Die politischen Erweiterungen der Europäischen Union wirken sich, wie am Warschauer Aufstand deutlich wird, auch auf die Handlungsspielräume und Legitimationsressourcen von Erinnerung und Geschichtspolitik aus. So plädieren polnische Politiker und höchst unterschiedliche zivilgesellschaftliche Akteure seit Mitte der 2000er-Jahre vehement für eine in Europa, das heißt in der Europäischen Union, anerkannte und lebendige Erinnerung an den Warschauer Aufstand. Solche Forderungen sind nicht nur als Deutungskampf vor dem Hintergrund einer polnischen Repräsentation in einem vermeintlichen Kanon europäischer Erinnerung zu verstehen, sondern betreiben eine Deutung des Aufstandes selbst als europäisch. Daniela Mehlers Fallstudie zu Srebrenica hingegen zeigt, wie das Anliegen eines gesamteuropäischen Gedenktags an das Massaker sowohl bei Bosniaken als auch seitens des Europäischen Parlaments auf Interesse gestoßen ist. Die Einreihung Srebrenicas in ein Narrativ negativer Erinnerung fällt leicht: Indem beide Seiten die Gewalteruption in der Region als Negation der europäischen Idee deuten, sprechen Bosniaken und Vertreter der Europäischen Union seit 1995 vom größten Kriegsverbrechen seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Mit der Einrichtung des Gedenktags an den Völkermord hat das Europäische Parlament 2009 erinnerungspolitisch die Rückkehr des zerfallenen Jugoslawiens nach Europa vollzogen, symbolisch die politische Integration Bosnien-Herzegowinas in die Europäische Union vorweggenommen und das Versagen europäischer Konfliktregelung korrigiert. Auch in der deutschen Debatte über das geplante »Zentrum gegen Vertreibungen« mobilisieren die Opferverbände die Zielvorstellung Europa, um ihrem Anliegen Legitimität zu verleihen. So verbindet die vom »Zentrum gegen Vertreibungen« initiierte Ausstellung »Erzwungene Wege« die Erinnerung an deutsche Heimatvertriebene mit der Erinnerung an andere als europäisch verstandene Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert. Deutsche Opfer werden so neben Armenier, Griechen und Türken, Juden oder Jugoslawen gestellt, die ebenso unter Gewaltandrohung ihre Heimat verließen, sodass sich Flucht und Vertreibung in die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts einreiht. Diese parallelisierende Europäisierung hat jedoch die Deutung der deutschen Erfahrung von Flucht und Vertreibung in keiner Form beeinflusst, sondern lediglich geholfen, deren im Kern aus den 1940er- und 1950er-Jahren stammende Interpretation der Zwangsmigration in ein neues Licht zu stellen. 13 Zu den Herausforderungen dieser Rückkehr s. Bugge, ›Shatter Zones‹, S. 61 – 64.

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Räumliche Europavorstellungen greifen auch auf entgrenzte Raumkategorien zurück, in denen europazentrierte Deutungsmuster aufgehen. Zwar gibt es auch hier Zentren und Peripherien, allerdings ist Europa in Bezug auf universalisierende Ansprüche nur eine Möglichkeit der räumlichen Verortung. Wenn Karl der Große einem Chronisten zu Beginn des zehnten Jahrhunderts als pater orbis galt und Versailles in seinem erdteilübergreifenden Bildprogramm die gloire universelle Ludwigs XIV. repräsentierte, wurde explizit über den europäischen Kontinent hinaus Deutungsmacht beansprucht. Während im Falle Karls dessen christliche Herrschaft als idealtypisch verstanden wurde, galt Ludwigs Repräsentation anderen Souveränen als wegweisend. Der Raumbezug liegt in beiden Fällen aber nicht im Globalen im Sinne der Anerkennung einer anderen epistemischen Struktur als der eigenen. Universal wird nicht in einer territorialen Dimension gedacht, sondern vielmehr aus Europa abgeleitet zum Idealtyp erhoben. Solche universalen Deutungsprojektionen blieben allerdings einseitig: Weder bezogen außereuropäische Akteure Stellung zu dieser Vereinnahmung, noch waren deren Reaktionen überhaupt beabsichtigt. Folglich fehlte es Universalisierungen in ihrer außereuropäischen Dimension an Konflikthaftigkeit, oder sie wurden in späteren Deutungen explizit europäisiert: »Welt«kulturerbe wurde Versailles dank seiner »europäischen« Ausstrahlung. Anders als die gewöhnlich als Äquivalenzen verstandenen Begriffe Europa und Abendland beruhen diese universalen Erinnerungsmuster auf einem asymmetrischen Verhältnis zwischen der Kernkategorie Europa und einer als größer imaginierten räumlichen Einheit, auf die die darin artikulierten Deutungsansprüche konzentrisch ausgreifen. Um spätere bis hin zu gegenwärtigen Europavorstellungen zu fundieren, müssen die jeweiligen Deutungskategorien zeitlich-semantisch übersetzt werden. Gegenüber der Gefahr, dass sie dadurch für spätere Akteure unverständlich und daher irrelevant werden, dominiert aber häufiger ihre vermeintliche Suggestivkraft, die ihnen eine vorweggenommene Bestätigung ihres eigenen europäischen Erwartungshorizonts zu bieten scheint. Was sich in diesen Fällen also beobachten lässt, sind Entgrenzungen räumlicher Kategorien, die entlang der Außengrenzen dieser Räume stattfinden. Sie beschränken sich jedoch nicht auf kulturelle Hegemonie. Vielmehr können sich Entgrenzungen regelrecht imperial weiten und konkrete territoriale Ansprüche kommunizieren. Im Falle von Flucht und Vertreibung gaben die vorherrschende Interpretation des völkerrechtlichen status quo und die politischen Sagbarkeitsregeln vor, ob dem »deutschen Osten« über seine Bedeutung als »kulturelles Erbe« auch eine jeweils gegenwärtige Relevanz als verlorenes Territorium zukam. Im Feindbild des Türken kehren sich dagegen die Raumrelationen teilweise um. Hier wird ein Abendland in Abwehrhaltung gegen vermeintlich universale Expansionspläne eines Gegners imaginiert, der verdächtigt werden

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kann, mit inneren Feinden im Bunde zu stehen – im 17. Jahrhundert waren diese aus Habsburger oder Reichssicht Spanien oder Frankreich, bei Anders Behring Breivik sind es »Multikulturalisten« oder »Globalisten«. Die trotz der unterschiedlichen politischen Kontexte unveränderte Implikation dieser als universal wahrgenommenen Bedrohung besteht in der Forderung nach innerer Disziplinierung eines Europas jenseits konfessioneller oder dynastischer Polarisierungen oder jenseits eines als zersetzend gedeuteten Pluralismus. Die Entgrenzungen überwinden somit innere Bruchlinien der Europasemantiken und heben – gerade in Bedrohungsszenarien – die Zentrum-Peripherie-Relation zeitweilig auf.

Kapital Europa Neben den impliziten Raumvorstellungen fungieren Deutungen als europäisch in einer zweiten Dimension als Zugang zu einem breiteren Deutungskampf. In diesen Zuschreibungen wird Europa zu einem symbolischen Kapital in heutigen Erinnerungsdebatten. Durch den Europabezug wird es möglich, partikularen Erinnerungen in einem größeren Kontext Relevanz zu verschaffen, daraus Forderungen abzuleiten oder sie außerhalb des eigenen Rahmens überhaupt kommunizierbar zu machen. Wenn die Bosniaken 1993 den Bosnienkrieg und ab 1995 dezidiert Srebrenica als erneuten Völkermord in Europa bezeichneten, appellierten sie mit der Referenz an die Verantwortung europäischer Regierungen und internationaler Institutionen für den weiteren Konfliktverlauf. Sie setzten auf die normative Kraft Europas, in dem nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Holocaust Völkermord keinen Raum mehr haben dürfe. Wie soeben anhand der Zäsur 1989 angedeutet, traf die Nachfrage der Bosniaken nach einer Zugehörigkeit zu Europa auf ein Bedürfnis bei den angerufenen Akteuren, nicht nur in der langfristigen Perspektive der »Rückkehr des Ostens« nach Europa, sondern zur Lösung konkreter kurz- und mittelfristiger Problemlagen von unmittelbarer politischer Relevanz für die EU-Mitgliedsstaaten. Denn eine Beitrittsperspektive für die Länder des westlichen Balkans verhieß nach Srebrenica als Fanal des Scheiterns internationaler Befriedungsversuche eine nachhaltige Lösung der Flüchtlingsproblematik und eine Stabilisierung der EU-Außengrenzen. Als Schritte auf diesem Weg rehabilitierte die EU mit dem Abschluss des Stabilisierungsabkommens, einer Beitrittspartnerschaft und der Einsetzung des EUSonderbeauftragten für Bosnien-Herzegowina auch ihre Außenpolitik. Auf symbolischer Ebene wurde Srebrenica mit der Einrichtung eines europaweiten Gedenktags zur identitätsstiftenden Ressource einer negativen europäischen Erinnerung.

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Auch polnische Medien erhoffen sich von einer europäischen Deutung des Warschauer Aufstandes dessen Wahrnehmung in einer europäischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die aus ihrer Perspektive mit klaren Freund-FeindSchemata einhergeht. Dies ist unter anderem als eine Reaktion darauf zu verstehen, dass weiten Teilen der Bevölkerung außerhalb Polens zwar der Warschauer Ghettoaufstand des Jahres 1943 bekannt ist, nicht jedoch die Erhebung des Spätsommers 1944. Indem der Warschauer Aufstand also nicht als europäisch wahrgenommen wird, kommt ihm eine vermeintlich zweitrangige Rolle zu. Während am Beispiel Srebrenica die Mobilisierung des Europabezugs einen positiven Effekt sowohl für die Bosniaken als auch für die Europäische Union hat, liegt der Mehrwert der Einschreibung in ein europäisches Narrativ im polnischen Fall lediglich auf nationaler Ebene vor, da die Einlösung der kommunizierten Ansprüche vonseiten der EU-Institutionen oder einer europäischen Öffentlichkeit noch aussteht. Über symbolisches Kapital hinaus können sich Deutungen als europäisch auch konkret monetär lohnen, wenn dadurch finanzielle Mittel aus Förderprogrammen der Europäischen Union beansprucht werden können, die zum Teil den eigenen politischen Erwartungshorizont vorwegnehmen, also bereits vor einem formellen Beitritt zur politischen Union Zugehörigkeit attestieren. Die 1993 eröffnete »Viking route« wird beispielsweise als »europäischer Kulturweg« bereits seit 1987 gefördert – Jahre bevor Finnland und Schweden, durch die die Route verläuft, 1995 der EU beitraten. Andere erinnerungspolitische Akteure nehmen das Label Europa aufgrund seines normativen, vor allem aber finanziellen Mehrwerts auch bewusst in Anspruch: Die Institutionalisierung des »Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität« oder die Pläne eines »Zentrums gegen Vertreibungen« wären ohne die diskursive Inanspruchnahme Europas nicht nur über den nationalen Rahmen hinaus, sondern auch finanziell undenkbar gewesen. Durch die Auslobung von Fördertöpfen schaffen die Europäischen Institutionen gezielt Anreize für europäische Selbstzuschreibungen, die sich auf Antrag offizialisieren lassen. So vergibt die Stadt Aachen im Vorfeld der Verleihung des Hauptpreises einen Jugendkarlspreis, bei dem der Frankenkaiser als erinnerungspolitischer Bannerträger fungiert, »um Jugendliche in der EU zur aktiven Mitgestaltung Europas anzuregen«14. Vergeben wird er von der Stadt Aachen in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament, das auf diese Weise die europäische Selbstintegrationspraxis von Jugendlichen fördert. Durch solche Selbstzuschreibungen als europäisch gelingt es den Akteuren, im Erfolgsfall Anerkennung bei einer breiter als europäisch legitimierten Gemeinschaft zu finden. Bedingung dafür ist, dass die beiden symbolischen, aber eben auch 14 Http://www.karlspreis.de/jugendkarlspreis/informationen.html (30. 09. 2013).

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monetären Währungssysteme zueinander äquivalent sind. Daraus folgt aber auch, dass in diesem Prozess des permanenten Aushandelns neue Grenzen gesetzt werden, wodurch, mutatis mutandis, anderen Akteuren und damit Deutungsträgern das Europäische zwangsläufig versagt bleibt. Jede Inklusion markiert zugleich eine Exklusion.

Der ideologische Horizont Europas Der Appell an Europa funktioniert in Erinnerungsdiskursen immer wieder als Scharnier zu politischen Weltanschauungen. Akteure, die ihre Vergangenheitsdeutungen als europäisch präsentieren, positionieren sich damit auch gegenüber den weltanschaulichen Grenzlinien, welche die unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten durchziehen. Bereits Mitte der 1980er-Jahre trat Europa auch in den spätsozialistischen Ländern des Ostblocks als Orientierungsgröße und Erwartungshorizont auf den Plan. Nicht nur in der oppositionellen Debatte um Mitteleuropa, sondern auch in staatskonformen Diskursen diente Europa als bedeutungsoffene Chiffre für Wandel, Fortschritt und eine Zukunft über Staats- und Blockgrenzen hinaus.15 Sind diese Staaten nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus im eigenen Verständnis sinnbildlich »nach Europa zurückgekehrt«16 und unterfüttern ihre Transformation auch mit der Appellation an Europa, markiert ihr Europaverständnis gleichzeitig eine Position gegenüber einer wiedererlangten nationalen Option. In diesem Kontext wird in den serbischen und polnischen Debatten um Srebrenica und den Warschauer Aufstand in gegenwärtigen Selbst- und Fremdzuschreibungen Europa an liberale Positionen gekoppelt und von konservativen Positionen abgegrenzt. Das ideologische Oppositionspaar liberal/ konservativ findet sein geschichtspolitisches Pendant im Gegensatz von Europa und der Nation als jeweils präferierten Rahmen von Erinnerung. In Polen, wo 2004 der EU-Beitritt mit dem 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes zusammenfiel, steht Europa für nationalkonservative Politiker als Chiffre für ein progressiv-liberales Szenario, in dem die Erinnerung an die leidvolle und

15 Christian Domnitz, Europäische Vorstellungswelten im Ostblock. Eine Topologie von Europanarrationen im Staatssozialismus, in: Jos¦ M. Faraldo/Paulina Gulin´ska-Jurgiel/Ders. (Hrsg.), Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945 – 1991), Köln 2008, S. 61 – 82, hier S. 76 – 80. 16 Die Formel geht auf den tschechoslowakischen Dissidenten und späteren Staatspräsidenten V‚clav Havel zurück. V‚clav Havel, Rede im polnischen Sejm und Senat, in: Ders., Angst vor der Freiheit. Reden des Staatspräsidenten, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 19 – 29, hier S. 25.

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identitätsstiftende Vergangenheit Polens einem bloßen Versprechen des Fortschrittes geopfert werde und die Nation dahinter zurücktrete.17 Am serbischen Beispiel wird erkennbar, wie Europa bei Liberal- und Sozialdemokraten die eigene geschichtspolitische Position zu Srebrenica unterstreichen soll. Die von liberaler Seite geforderte Anerkennung der eigenen Schuld erscheint zugleich als Türöffner zu Europa und ist damit als Weg zur Erfüllung des typischerweise liberal konnotierten Werts des Fortschritts zu verstehen. Analog dazu disqualifizierte die serbische Regierung unter Boris Tadic´ die »patriotisch« gesinnten Oppositionsparteien, die sich vehement gegen die Verabschiedung einer Resolution zur Verurteilung des Massakers von Srebrenica aussprachen, als antieuropäisch und somit als rückständig. Ein Perspektivwechsel auf die historische Dimension der europäischen Integration und die Geschichte der Europäischen Union kennzeichnet diese ideologische Dichotomie jedoch als osteuropäische Binnensicht. Außerhalb Osteuropas funktioniert Europa in geschichtspolitischen Diskursen keineswegs immer als eindeutiges ideologisches Kriterium, um liberale von konservativen Positionen zu unterscheiden. Europa ist also weder eine argumentative Waffe, die vorschnell einem vermeintlich liberalen geschichtspolitisch-rhetorischen Arsenal zugeordnet werden kann, noch funktioniert Europa pauschal innerhalb konservativer Diskurse als negativ besetzter Gegensatz zur positiv besetzten Nation. In geschichtspolitischen Debatten ist Europa vielmehr ein Mittel, mit dem gerade konservative Kräfte ihre Positionen der Brandmarkung als nationalistisch und rückständig entziehen und in einer Weise artikulieren können, die als politisch korrekt empfunden wird. So hat in Deutschland der Bund der Vertriebenen seinem Narrativ von Flucht und Vertreibung in dem Moment eine Zukunft sichern können, in dem das Schicksal deutscher Opfer ein – und in der deutschen Wahrnehmung das einzig konkretisierte – Beispiel eines europäischen »Jahrhunderts der Vertreibungen« wurde. Auf ähnliche Weise ist es den Organisatoren des Katholikentags in Wien 1983 gelungen, mit dem Verweis auf die gemeinsame christliche Vergangenheit und Zukunft Europas einer befürchteten Parallelisierung mit dem Jubiläum von 1933 und dessen nationalistischer Vereinnahmung zu entgehen.18 Indem Europa nationale Denkmuster überwindet, führt es eine eigene Logik in das öffentliche Sprechen von der Vergangenheit und das Aushandeln von Erinnerung ein, 17 Diese Dichotomie von Europa als Westeuropa mit liberalen Werten und einem konservativen und autokratischen Osteuropa existiert in der Fremdzuschreibung seit der Zwischenkriegszeit, s. Bugge, ›Shatter Zones‹, S. 51. Die Gleichsetzung Europas mit »freiheitlichpluralistischen Werten« wird ähnlich als Resultat eines längeren historischen Konfliktes betont, in dem ehemals konkurrierende Europavorstellungen vereinnahmt wurden. Conze, Das Europa der Deutschen, S. 4. 18 S. die Fallstudie von Simon Hadler, S. 97.

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welche die unterschiedlichen Akteure der Erinnerung unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung für sich nutzen.

Europas Heterogenitätsbewältigung Der Diskurs über europäische Erinnerung ist, das haben wir in der Einleitung gezeigt, auch ein Diskurs über den Umgang mit Andersartigkeit und dadurch bedingte Konflikte. Insbesondere die Fallstudien zu Erinnerung als Deutungskampf thematisieren Vergangenheitsdeutungen, die in zeitlicher Nähe zu gewaltsamen Geschehnissen stehen. Ihre Zusammenschau zeigt für das 20. Jahrhundert eine Wandlung der Erinnerungen an gewaltsame Konflikte. Europa wird zum semantischen Kondensat dieser Wandlung. Standen sich in der Deutung vergangener Konflikte gewöhnlich dessen teilnehmende Parteien nicht nur als erinnerte, sondern auch als erinnernde Antagonisten gegenüber und schrieben so den betreffenden Konflikt fort, hegt diese gewandelte Form der Konflikterinnerung die ursprüngliche Auseinandersetzung ein. Diese Veränderung lässt sich als Zusammenspiel und gegenseitige Transformation von drei unterschiedlichen Deutungsmustern nachzeichnen: Erstens zeigt sich, wie der Dualismus von Triumph und Niederlage, der die dichotomische Struktur des Konflikts erinnernd perpetuiert, in Erinnerungsprozessen zunehmend an Bedeutung verliert. Zweitens verändert sich das Erinnerungsmuster von Täter- und Opferschaft, sodass die dichotome Struktur des Konflikts zeitweilig nivelliert wird, Opfer und Täter also für sich stehen können. Schließlich lässt sich beobachten, wie auf dieser Grundlage durch die Vorstellung einer Dritten Instanz ein neues Muster unparteilichen Erinnerns erschlossen wird, das die dichotome Struktur des Konflikts grundsätzlich zu überwinden versucht. Diese Einhegung von Konflikten stellt zugleich den Erwartungshorizont dar, den der Begriff Europa heute in Erinnerungsdiskursen eröffnet. Triumph und Niederlage sind die beiden Pole eines Deutungsmusters, das für die Repräsentation historischer Konflikte gerade im Paradigma nationaler Erinnerung lange vorherrschte. Die Fallstudie zu Versailles illustriert dies besonders deutlich. Die erinnernden Inszenierungen deutsch-französischer Konflikte arbeiteten bis zur deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg mit einer scharfen Kontrastierung von Triumph und Niederlage, die den vergangenen Konflikt in seiner Erinnerung fortschrieb und für zeitgenössische Konflikte nutzbar machte. So schlugen sich die militärischen Triumphe Ludwigs XIV. im 17. Jahrhundert in der symbolischen Ausgestaltung des Versailler Schlosses nieder und wurden in der Glorifizierung der Siege des revolutionären Frankreichs im Nationalmuseum des 19. Jahrhunderts in der Erinnerung vergegen-

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wärtigt. Während der Pariser Vorortkonferenzen 1919 beeinflusste das Dekor unmittelbar die Inszenierung der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit dem Deutschen Reich. Darüber hinaus konnte die Zurschaustellung militärischen Erfolgs auch neu zu begründende politische Einheiten untermauern, wie sich in Anton von Werners Darstellung der Kaiserproklamation nachvollziehen lässt. Zugleich erfuhr Triumph als Deutungsmuster mit dem Versailler Vertrag eine erste Zäsur, betonte dessen Kriegsschuldparagraf doch in zuvor unbekannter Weise das Leid des Kriegs gegenüber seinem Ruhm. Damit begann eine Wandlung der Kriegserinnerung von einer heroischen Konflikterinnerung hin zu einer Erinnerung an Gewalt, und damit verbunden an die Opfer des Krieges. Die binäre Logik des Konflikts wurde so um eine passivere19 Wahrnehmung von Opferschaft ergänzt, wobei Triumph, Niederlage und Leid zunächst nebeneinander standen.20 Der Zweite Weltkrieg und die Massenvernichtung in den Lagern der Nationalsozialisten verstärkten diese Verschiebung grundlegender Deutungsmuster von militärischen Konflikten weiter, spitzten die Fokussierung auf Gewalt zu und führten zu einem völlig neuen Verständnis von Massengewalt und Völkermord.21 Statt wie bisher die Kriegserfahrung als Bestandteil einer glanzvollen Siegesgeschichte zu erinnern, trat in der deutenden Verarbeitung vor dem Hintergrund eines zuvor undenkbaren Ausmaßes an zivilen Opfern, infrastruktureller Zerstörung und allen voran des Holocaust die Gewalterfahrung ins Zentrum von Erinnerung.22 So wurde der Opferstatus, der nach 1945 den Juden zunehmend unbestritten zuerkannt wurde, in der erinnernden Aneignung vergangener Gewalterfahrung zu einem erstrebenswerten Prädikat. Dass dieser Status dabei auch die eigene Täterschaft zu nivellieren vermochte, zeigt das 19 Karsten Fischer, Between Sacrification and Victimization. On Political Semantics and Its Strategic Functions, in: Uwe Ewald/Ksenija Turkovic (Hrsg.), Large-Scale Victimization as a Potential Source of Terrorist Activities. Importance of Regaining Security in Post-Conflict Societies, Amsterdam 2006, S. 67 – 72, hier S. 69. 20 Für den höheren Stellenwert des Opfergedenkens infolge des Ersten Weltkriegs s. Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995. 21 Der vom polnisch-jüdischen Juristen Rafał Lemkin 1943 definierte Begriff des ›Völkermords‹, der in der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen Aufnahme fand, kann als Beispiel hierfür dienen. Lemkin entwickelte den Begriff vor dem ursprünglichen Hintergrund des Völkermords an den Armeniern ab 1915 und konkretisierte ihn aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Vgl. Christian Werkmeister, Johannes Lepsius und die Verbrechen an den Armeniern. Die Vorgeschichte der UN-Genozidkonvention, in: Sybille Steinbacher (Hrsg.), Holocaust und Völkermord. Die Reichweite des Vergleichs, Frankfurt am Main/New York 2012, S. 83 – 104. 22 Jan-Werner Müller, Contesting Democracy. Political Thought in Twentieth-Century Europe, New Haven 2011, S. 126, und Peter Reichel, Auschwitz, in: Êtienne FranÅois/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 2002, S. 600 – 621.

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Beispiel der frühen Bundesrepublik, in der nicht nur Vertriebene, sondern die Deutschen in ihrer Gesamtheit als Opfer des Nationalsozialismus gedeutet wurden.23 Diese Entwicklungen manifestieren sich in der Gegenwart europäischer Erinnerung, in der die Möglichkeiten einer triumphalen Konflikterinnerung stark eingeschränkt sind und nur im Falle eines vermeintlichen Gegensatzes zu Europa möglich bleiben, wie die triumphale Rhetorik gegenüber überwundenen totalitären Diktaturen zeigt. Darüber hinaus bleibt der triumphale Gestus als Ausdrucksform im Repertoire europäischer Erinnerung erhalten, wenn er sich auf die ferne Vergangenheit bezieht. Im Modus der traditionsstiftenden Erinnerung, so hatten wir in der Einleitung argumentiert, besteht bis in unsere Gegenwart hinein ein größerer Möglichkeitsraum unterschiedlicher Interpretationen, und insofern kann in diesem Modus die zurückgedrängte Triumpherinnerung eine beschränkte Präsenz wahren. Dies wird deutlich, wenn der Oberbürgermeister von Graz oder der Bischof von St. Pölten den Sieg der europäischen Zivilisation gegen eine türkische Bedrohung beschwören.24 Parallel zur zunehmenden Marginalisierung der Triumpherinnerung im Kontext der beiden Weltkriege ist anhand der Fallstudien auch eine Veränderung in der Erinnerung an Opfer zu beobachten. Der Triumpherinnerung entsprach eine Erinnerung an Opfer im Sinne eines sacrificium, also der Ehrung der eigenen Gefallenen als Helden, die sich für Volk und Vaterland aktiv geopfert hatten, um damit einem höheren Zweck zu dienen.25 Die ungarische Erinnerung an das Ende der Belagerung von Ko˝ szeg durch die Türken illustrierte bei der 400-Jahr-Feier 1932 mit dem Verweis auf den »Schandfrieden« von Trianon die Erfolglosigkeit und damit letztlich Unmöglichkeit eines solchen Narrativs. Auch im polnischen Stalinismus war die Erinnerung an das Heldentum des Warschauer Aufstandes letztlich nur in systemkritischen Kreisen möglich, denen die Kommunisten vorwarfen, mit der Erhebung die polnische Hauptstadt aus politischen Motiven der Zerstörung preisgegeben zu haben. Mit der Umdeutung vergangener Konflikte, die ohnmächtiges Erleiden und irrationale Gewalt in den Vordergrund stellte, trat an die Stelle des sacrificium das Deutungsmuster der victima, also des passiven und wehrlosen Opfers. Dies veranschaulicht die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, bei der sich Betroffene mit der Formel des Heimatverlustes als unschuldige Opfer deuteten. Ein solches Verständnis der Heimatvertriebenen als victimae schloss zugleich eine

23 Reinhart Koselleck, Die Diskontinuität der Erinnerung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), S. 213 – 222, hier S. 215. 24 Vgl. die Fallstudie von Simon Hadler, S. 96. 25 Vgl. Herfried Münkler/Karsten Fischer, »Nothing to kill or to die for…«. Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers, in: Leviathan 28 (2000), H. 3, S. 343 – 362, hier S. 345.

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Betrachtung der nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Osteuropa oder ethnischer Konflikte vor 1939 aus und fokussierte sich allein auf deutsche Opfer. Zeitgleich und mit wiederholter Wechselwirkung wandelte sich durch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust das Deutungsmuster der victima zu einer Erinnerung, die nunmehr das Leid anderer mit einschloss. Sie produzierte neue normgebende und erfolgversprechende Formen der Erinnerung, die sich auch in anderen Fallstudien nachverfolgen lassen.26 Gerade die Klage Bosnien-Herzegowinas vor dem Internationalen Gerichtshof im Jahr 1993 zeigt, dass sich mit Bezug auf den Holocaust ein universalisierter Opferdiskurs27 und ein Modell »globaler Opferschaft«28 institutionalisieren ließen, die über internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen Verbreitung gefunden haben. Die bosnische Regierung versuchte mit expliziten Verweisen auf den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg, einen Analogieschluss zwischen den muslimischen Bosniern und den weltweit erinnerten jüdischen Opfern herzustellen, um so die eigenen Kriegstoten als unschuldige Opfer zu deuten und die Kriegshandlungen gegen Bosnien-Herzegowina als Völkermord zu qualifizieren. In der deutschen Debatte um den Bundeswehreinsatz im Kosovokrieg erfuhr der Opferdiskurs schließlich sogar eine präventive Ausweitung. Mit dem Verweis auf die Gefahr eines zweiten Auschwitz genügte in der Umkehrung der bisherigen Logik bereits die drohende Erfahrung von Massengewalt als Interventionskriterium. Dabei bedeutet der Einschluss des Anderen als ebenso Leidendem, dass mit Referenz auf Europa weder ein Heldengedenken noch das Erinnern an ein sacrificium möglich ist. Der begrenzte Wirkungsgrad solcher konstitutiver Regeln zeigt sich allerdings gerade in den vermeintlichen Grenzregionen europäischer Erinnerung. Bosniakisch-nationalen Politikern ist es im staatlichen Erinnern gelungen, den international als passives Opfer gedeuteten Tod von 8.000 muslimischen Männern in Srebrenica zugleich für den eigenen sozialen Raum in ein heldenhaftes, religiös unterlegtes Selbstopfer umzudeuten. Diese unterschiedlichen Deutungen im Inneren und im Äußeren widersprechen sich grundlegend und können nicht zusammengeführt werden. Doch sind sie in der Fremd- und

26 Vgl. Daniel Levy/Natan Sznaider, Memories of Europe: Cosmopolitanism and Its Others, in: Chris Rumford (Hrsg.), Cosmopolitanism and Europe, Liverpool 2007, S. 158 – 177, hier S. 163 f., mit Blick auf die Verarbeitung von Unrechtserfahrungen im Kolonialismus s. Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009. 27 Münkler/Fischer, »Nothing to kill«; Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001, S. 155 – 158. 28 Thorsten Bonacker, Globale Opferschaft. Zum Charisma des Opfers in Transitional Justice Prozessen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 19 (2012), H. 1, S. 5 – 36.

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Eigenwahrnehmung für die bosniakische Nation gleichermaßen konstitutiv und veranschaulichen in ihrer Unvereinbarkeit die Grenze europäischer Erinnerung. Die Denkfigur der passiven victima nivelliert durch die inhärente Individualisierung der Gewalterfahrung nicht nur die Dichotomie des Konfliktes, sondern auch die Bedeutung der historischen Konfliktparteien für eine gegenwärtige Erinnerung. Finden wir also in allen der hier versammelten Fallstudien im Modus des Deutungskampfs eine zentrale Bedeutung der victima, bezieht diese oftmals die Anerkennung anderer erinnerter Opferschaften mit ein. Aus der Unmöglichkeit des Triumphes und der Universalisierung des Opfers folgt so die Bereitschaft und die Erwartung eines Dialogs zwischen den unterschiedlichen europäischen Erinnerungsgruppen, der an der Wende zum 21. Jahrhundert Europa mit Assoziationen von Unparteilichkeit und Zivilisierung aufgeladen hat. Ein solches Europa überschreitet also jegliche erinnerte Konfliktsituation und überwindet sie durch die alleinige Hervorhebung unschuldiger Opfer. Als Argument in Erinnerungsdiskursen wandelte sich Europa im Laufe des 20. Jahrhunderts von einer dezidierten Parteinahme für einen partikularen kulturellen Typus, wie zum Beispiel das christliche Abendland als Gegenposition zum Kommunismus im Europa der Sechs, zu einer über den Konflikt erhabenen Position der Unparteilichkeit. Diese Universalisierung Europas verläuft nicht zufällig in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht parallel zur voranschreitenden Integration europäischer Staaten, sondern ist deren identitätskonkretes und in die Vergangenheit projiziertes Äquivalent. So ist diese Entwicklung auch im Zusammenhang mit dem generationellen Übergang von der Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs zu einer Generation von Nachkriegsintellektuellen zu sehen, die typischerweise mit der Teilung des europäischen Kontinents durch den Kalten Krieg sozialisiert worden ist. Daraus erklärt sich, dass Europa beispielsweise in der Debatte um das »Zentrum gegen Vertreibungen« mehr als nur ein Argument ist und für Wissenschaftler und Intellektuelle als unparteiliche Instanz zum Erwartungshorizont einer dialogischen Erinnerung wird.29 Innerhalb des virulenten Erinnerungskonflikts kann diese Beanspruchung wissenschaftlicher Sachlichkeit damit die Autorität eines entperspektivierten Standorts einnehmen. Die europäische Stimme im Erinnerungskonflikt erschließt so die Position eines Dritten, der keiner der vorhandenen Konfliktparteien zuzuschreiben ist und mit ver29 Ein Beispiel für diesen Anspruch bietet – auch ohne konkreten Bezug auf Europa – Hans Henning Hahn, Geschichtspolitik und binationale Beziehungen. Plädoyer für erinnerungspolitischen Verhaltenskodex, in: Ders./Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte 4, Paderborn 2013, S. 159 – 173. Zur generationellen Verhaftung des Forschungsfeldes Erinnerungsorte s. Gregor Feindt/F¦lix Krawatzek/Daniela Mehler/Friedemann Pestel/Rieke TrimÅev, Entangled Memory. Toward a Third Wave in Memory Studies, in: History and Theory 53 (2014), S. 24 – 44, hier S. 39.

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meintlich gleichem Beobachtungsabstand auf sie blickt. Genau dieses Erinnerungsmuster verspricht, die dichotome Struktur des Erinnerungskonfliktes nicht nur im Modus der Viktimisierung zeitweilig zu nivellieren, sondern den Konflikt tatsächlich einzuhegen.30 Ähnlich wie die politisch engagierte Wissenschaft im Streit um Flucht und Vertreibung wird Europa auch im Erinnerungskonflikt zu Srebrenica mit der Vorstellung eines unparteilichen Dritten verbunden. Jedoch wurde es nicht erst an einem bestimmten, generationell bedingten Punkt einer von Konflikten geprägten Erinnerungsgeschichte zu einer nichtbetroffenen Instanz, sondern diese Qualität war der Erinnerung an Srebrenica bereits von ihrem Beginn an inhärent. So versuchte die europäische Diplomatie ab 1991, in den Jugoslawienkriegen für die internationale Gemeinschaft zu vermitteln. Später etablierten aus den europäischen NATO-Staaten stammende Blauhelmsoldaten Schutzzonen in Bosnien-Herzegowina. Auch die juristische Bewältigung der Kriege ging auf eine Initiative zurück, in deren Institutionalisierung europäischen Staaten und Institutionen die Rolle eines vermeintlich unparteilichen Dritten zufiel.

Europa als erinnerungspolitischer Akteur In der Einleitung ist bereits deutlich geworden, dass die Bedeutung von Europa als Argument in Erinnerungsdiskursen auch von der Position abhängt, welche die Europasemantik in einer Vergangenheitsdeutung einnimmt. Die traditionsstiftende Pragmatik europäischer Erinnerungen an Karl den Großen und den Türken, oder, um typische Beispiele aus dem breiteren öffentlichen Diskurs anzuführen, die Antike, die Renaissance oder die Aufklärung, setzt den Europabegriff als Attribut solcher Deutungsträger ein.31 Darüber hinaus, das wurde bereits anhand der Figur des Dritten deutlich, kann der Europabegriff in Erinnerungshandlungen solche Handlungen selbst als europäisch qualifizieren. Europa kann jedoch nicht nur Attribut des Deutungsträgers oder einer Erinnerungshandlung sein, sondern auch Attribut des erinnernden Akteurs. Nicht 30 In dieser Transformation von Erinnerungsmustern spiegeln sich damit auch eine im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmende Prominenz der Figur des Dritten und der Übergang von dichotomen zu triadischen Denkformen besonders in der Soziologie und Sozialtheorie wider. Dazu Thomas Bedorf/Joachim Fischer/Gesa Lindemann (Hrsg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München 2010, und Eva Eßlinger/ Tobias Schlechtriemen/Doris Schweitzer/Alexander Zons (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010. 31 Symptomatisch dafür Thomas Ferenczi, L’Europe, sa m¦moire, ses valeurs, in: Le Monde, 18. 02. 2004; Marcel Detienne, Un lungo filo sembra unire i Greci e noi [Ein langer Faden scheint die Griechen und uns zu verbinden], in: La Repubblica, 27. 10. 2007, und Quatorze voix fortes pour porter l’esp¦rance, in: La Croix, 23. 12. 2011.

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nur im Falle der Europäischen Union oder des Europarates, sondern ebenso im Beispiel des »Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität« oder der Stadt Aachen wird Europa zum Teil der Selbstbeschreibung.32 Anhand dieser Beispiele lässt sich fragen, welche Regelveränderungen solche Zuschreibungen für die bereits analysierten europäischen Erinnerungen mit sich bringen. Aus dem Selbstverständnis, genuin europäisch zu sein, richtete der Europarat mit dem Programm für europäische Kulturrouten eine »Viking Cultural Route« ein und hoffte so, nicht nur den regionalen Tourismus zu fördern, sondern zugleich das Bewusstsein für das europäische Erbe. Mit der Stiftung des Karlspreises inszeniert sich die Stadt Aachen, über die geografische Lage am Dreiländereck von Deutschland, Belgien und den Niederlanden hinaus, als »Wiege Europas« und als »Stadt der europäischen Einigung«. Auf diese Weise schaffen europäische Akteure nicht nur Orte, sondern verräumlichen Europa. Dabei verstehen politische Akteure bis hin zur Europäischen Union den Mehrwert des symbolischen Kapitals Europas insbesondere in seiner Auswirkung auf die kollektive Identität der Europäer.33 Das Bemühen um den »Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas«34 macht sie folglich zu »Agenten eines europäischen Bewusstseins«35. Während dabei sowohl der Europarat, die Europäische Union als auch die Stadt Aachen eine eher kulturelle Deutung der Vergangenheit präsentieren, lässt sich an den aufgezeigten Ambivalenzen des unparteilichen Dritten auch illustrieren, wie sehr Europa als Akteur Erinnerung politisch beeinflussen kann. Dabei besteht Europa zunächst aus denjenigen Akteuren, die sich in einem situativen Zusammenschluss vereinigen. Das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität« vermag es nicht, alle von Flucht und Vertreibung direkt betroffenen Staaten zu erfassen, und findet in seiner inhaltlichen Arbeit lediglich die Förderung einschlägiger Projekte als gemeinsamen Nenner. Die Selbstbeschreibung des Netzwerks, und stärker noch die verschiedenen, sich als europäisch verstehenden Zusammenschlüsse von Intellektuellen und Wissenschaftlern, ermöglichen einen Beitrag zur Debatte um Flucht und Vertreibung als unparteiliche Dritte. Das Europäische wird hier als angemessenste Form des Dialogs zwischen 32 So bildet die Stadt Aachen auf ihrem Internetauftritt zur Selbstbeschreibung das Karlsdenkmal mit daneben wehender Europaflagge ab. Vgl. http://www.aachen.de (30. 09. 2013). 33 Camille Maz¦, Des usages politiques du mus¦e — l’¦chelle europ¦enne. Contribution — l’analyse de l’europ¦anisation de la m¦moire comme cat¦gorie d’action publique, in: Politique europ¦enne 37 (2012), H. 2, S. 72 – 100. 34 Vertrag von Lissabon Art. 3, §3, http://europa.eu/lisbon_treaty/full_text/index_de.htm (30. 09. 2013). 35 Cris Shore, Building Europe. The Cultural Politics of European Integration, London/New York 2000, S. 26.

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Nationen präsentiert, die nationale Positionen zwangsläufig überlagert. Gerade diese Überschreitung und gleichzeitige Einengung national gerahmter Vergangenheitsdeutungen kann aber auch als konkrete Bedrohung wahrgenommen werden. In der Erinnerung an den Warschauer Aufstand folgt daraus in rechtskonservativen Kreisen die radikale Ablehnung Europas und seiner dialogischen Erinnerung. In der Erinnerung an Srebrenica handelt es sich beim unparteilichen Dritten um politische und internationale Akteure, die Europa auch unabhängig von den Jugoslawienkriegen für sich in Anspruch nehmen. Das manifestiert sich konkret, wenn die Europäische Kommission gegenüber den jugoslawischen Nachfolgestaaten eine Zusammenarbeit mit dem JugoslawienTribunal als Bedingung für eine Annäherung an die Europäische Union formuliert. Auch die Einrichtung des europaweiten Gedenktags kann als disziplinierendes Instrument gegenüber Serbien gewertet werden. Europäisches Erinnern wird somit zu einem impliziten Beitrittskriterium.

Die Aporie unparteilicher Erinnerung als Gründungsfigur für Europa »Nie wieder!« – das ist das Leitmotiv des genuin europäischen Umgangs mit Konflikten und Unterschieden nach 1945, das schrittweise die Erinnerung auch auf globaler Ebene strukturiert. Nach den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs wurde es politisch unbestreitbar, dass sich staatlich ausgeübter Terror, ethnische oder rassistisch motivierte Gewalt in Europa nicht wieder ereignen durften. Durch Wiederholung und Inszenierung im öffentlichen Raum entwickelte sich das Deutungsmuster des »Nie wieder!« zu einem normativen Erinnerungsparadigma, das sich einerseits schrittweise von seinem ursprünglichen Kontext löste36 und andererseits zu dem strukturierenden Merkmal europäischer Erinnerung avancierte. Diese Regel des »Nie wieder!« hat ihre Durchsetzungskraft auch in der Erinnerungsforschung bewiesen. Die Einleitung dieses Bandes zeigte auf, wie sich die Debatte um europäische Erinnerung immer mehr zur Streitfrage um einen »negativen Gründungsmythos« verdichtet. Die vergleichende Betrachtung der 36 Den Vorgang der Entkontextualisierung des Holocaust hat Helmut Dubiel zutreffend unterstrichen: »Concepts, symbols, and images are taken out of their immediate context and are employed to code, in a single term, the collective pain that people inflict upon others.« Dubiel, The Remembrance of the Holocaust as a Catalyst for a Transnational Ethic?, in: New German Critique 90 (2003), S. 59 – 70, hier S. 61. S. ebenfalls Klas-Göran Karlsson, The Holocaust in European Historical Culture, in: Teresa Pinheiro/Beata Cieszyn´ska/Jos¦ Eduardo Franco (Hrsg.), Ideas of j for Europe. An Interdisciplinary Approach to European Identity, Frankfurt am Main 2012, S. 427 – 440, hier S. 433.

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Fallstudien unterstreicht, dass hierbei zwei konstitutive Elemente zu unterscheiden sind: Erstens geht Europa als symbolische Objektivierung in Erinnerungshandlungen regelhaft mit solchen Erinnerungsmustern einher, in denen vergangenen Konflikt- und Gewalterfahrungen von einem Standpunkt der Unparteilichkeit aus begegnet wird. Zweitens scheint dieses Versprechen auch insofern erfüllbar, als es im politischen System, im Rechts- und im Wissenschaftssystem vermehrt Akteure gibt, die mit Europa im Namen und im Namen Europas sprechen und so durch Institutionalisierung dem Standpunkt der Unparteilichkeit ein besonderes Gewicht verleihen. Europa symbolisiert also neben der Unparteilichkeitserwartung eine Instanz mit Handlungsmacht – die Erwartung wird somit zum Unparteilichkeitsversprechen. Es war der Anspruch dieses Bandes, mithilfe der Heuristiken der Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit37 auch solche europäischen Erinnerungen sichtbar zu machen, die nicht im Mittelpunkt der ubiquitären Europäisierung von Erinnerungshandlungen stehen. Denn durch dieses Vorgehen, so haben die Fallstudien gezeigt, kann der sich abzeichnende Konsens zu europäischer Erinnerung kritisch auf seine blinden Flecken und Widersprüche hin befragt werden. Die Fallstudien zur Erinnerung an Srebrenica und den Warschauer Aufstand betonen mit Blick auf den Holocaust als integrierenden »negativen Gründungsmythos« und Kern einer europäischen Erinnerungskultur, dass es vielversprechend und notwendig ist, danach zu fragen, was europäische Erinnerung jenseits der gewohnten Argumentationsfiguren längst schon zu bedeuten begonnen hat. Die Fallstudie zur Erinnerung an den Warschauer Aufstand umreißt das Feld eines Erinnerungskonfliktes, der ohne »dialogisches Echo« innerhalb des Diskurses über die europäische Weltkriegserinnerung der alten EU der 15 geführt wird.38 Auch wenn die Europareferenz für den Erinnerungskonflikt relevant ist, insbesondere um Erwartungen zukünftiger politischer Teilhabe und gesellschaftlicher Identität zu formulieren, ist die Europasemantik hier nicht deckungsgleich mit dem Imperativ des »Nie wieder!«, der europäische Erinnerung auszeichnet. Ganz im Gegenteil: Das Zentrum der Erinnerung an den Warschauer Aufstand bilden nationale Helden, deren sacrificium stark affirmativ gedacht wird.39 Zudem steht Europa auf doppelte Weise für das Vergessen: Aus

37 Vgl. die Einleitung dieses Bandes, S. 29 – 32. 38 Dieser »rideau de fer m¦moriel« erstreckt sich Emmanuel Droit zufolge auch auf das »trou de m¦moire« des Gulag im Westen. Droit, Le Goulag contre la Shoah: M¦moires officielles et cultures m¦morielles dans l’Europe ¦largie, in: VingtiÀme SiÀcle 94 (2007), S. 101–120, hier S. 103 – 108. 39 Dies erklärt die besondere Problematik für die Integration des Warschauer Aufstandes in eine europäische Meistererzählung. Denn nicht nur liegt er jenseits des »rideau de fer

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der Binnenperspektive des polnischen Diskurses funktioniert es als Marker gegen diejenigen geschichtspolitischen Positionen, die bereit sind, für die Anbindung an Westeuropa den Preis des Vergessens eigener Gewalterfahrungen zu zahlen.40 Gleichzeitig finden aber solche Stimmen, die sich positiv auf Europa beziehen, nach außen öffentlich keine Anerkennung. Zwar wird versucht, die eigene Erfahrung als europäisch zu präsentieren, jedoch gelingt es den Akteuren nicht, diese Position in den westlichen EU-Mitgliedsstaaten zu verankern. Vielmehr ist aus polnischer Perspektive ein »Übermaß an Taktlosigkeiten«41 festzustellen, wenn die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs wichtige Jahrestage des Aufstandes missachten und der Warschauer Aufstand in der westeuropäischen Öffentlichkeit nicht erscheint oder bestenfalls als Leerstelle Erwähnung findet.42 Trotz aller Bekenntnisse zur Einbindung Osteuropas in eine »europäische Erinnerungsgemeinschaft« seitens der Verfechter des Holocaust als »negativem Gründungsmythos«43 kann die derzeitige Schlussfolgerung nur lauten, dass sich ein national als so zentral empfundener Erinnerungskonflikt wie der um den Warschauer Aufstand durch das von der Holocaust-Erinnerung geprägte Regelverständnis nicht in den Diskurs um europäische Erinnerung einfügen lässt. Eine andere Herausforderung stellt die Erinnerung an Srebrenica dar. In ihr werden über die Vielschichtigkeit von Erinnerungsmustern die Grenzen des Narrativs europäischer Erinnerung, das sich auf den »negativen Gründungsmythos« des Holocaust beruft, deutlich. Dieser Fall steht exemplarisch dafür, dass bereits die ersten Erinnerungen an eine Erfahrung in sich selbst vielschichtig sind, indem sie auf frühere Deutungsträger und andere Erinnerungsmuster verweisen.44 Denn die Erinnerungsmuster des Deutungsträgers

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m¦moriel«, sondern durch das schwierige Heldengedenken passt er nicht in das Narrativ von Shoah und Gulag, die eine gemeinsame ethische Grundlage teilen. Ebd., S. 118 f. S. auch die in der Einleitung dieses Bandes skizzierte Debatte um den Diktaturenvergleich nach der EU-Erweiterung von 2004, S. 23 – 25. Zachodnia prasa o 60. rocznicy Powstania Warszawskiego [Die westliche Presse über den 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes], in: Gazeta Wyborcza, 02. 08. 2004. So stellt der Aufstand nur eine Randerscheinung des Feuilletons dar oder wird – wie 1994 vom deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog oder 2004 vom US-Verteidigungsminister Colin Powell – mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 verwechselt. Vgl. Joseph Croitoru, Erbarmungslos pünktlich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. 11. 2004, und Timothy Snyder, A Rough Guide to an Uncertain Future, in: The Guardian, 19. 11. 2011. Claus Leggewie, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 12 und Aleida Assmann, Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur, Wien 2012, S. 45. Weniger emphatisch denn analytisch weist auch Tony Judt dem Holocaust die Funktion einer »Eintrittskarte« nach Europa zu, und im Gespann mit ihm dem Genozid an den Armeniern und Srebrenica. Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 803 f. S. dazu in der Einleitung dieses Bandes, S. 32.

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Holocaust prägten bereits die unmittelbare Wahrnehmung des gewaltsamen Konfliktes. Die Kategorisierung als Genozid, welche als Objektivierung der Holocaust-Erinnerung im Medium des Rechts zu begreifen ist, stellt dabei eine Institution des »Nie wieder!« dar. Durch eine Anbindung an diesen Erinnerungsimperativ kann eine Aufarbeitung von Gewalterfahrungen analog zu der als erfolgreich empfundenen Erinnerung an den Holocaust befördert werden. Genau diese über ein institutionalisiertes Medium der Unparteilichkeit vermittelte Analogie erweist sich aber im Falle Srebrenicas nicht als konflikteinhegend oder gar konfliktüberwindend, sondern konfliktverschärfend. Denn die Fortschreibung wird von den Konfliktparteien selbst strategisch eingesetzt. Gerade der internationalen Gemeinschaft erlaubt dieses Erinnerungsmuster, von der Position der Unparteilichkeit des Völkerrechts zu sprechen – und dadurch den eigenen Akteursstatus im Konflikt und das möglicherweise begangene Unrecht auszublenden. Schon bevor der Holocaust, gipfelnd in der Stockholmer Erklärung 2000, mit dem Ziel gegenseitiger Verständigung zum »negativen Gründungsmythos Europas« gekürt wurde, war das ihm zugrunde liegende »Nie wieder!« in der Erinnerung an Srebrenica gescheitert.45 Die Fallstudien zum Warschauer Aufstand und zu Srebrenica helfen, ein Problem zu identifizieren, das man die ›Aporie des unparteilichen Erinnerns‹ nennen kann. Der »Dritte« als neu erschlossenes Muster eines anerkennenden Erinnerns macht deutlich, dass diese Figur für einen Deutungsträger erst im Kontext breiterer Transformationen in der Erinnerung an Gewalterfahrungen im Zusammenspiel und der Ablösung unterschiedlicher generationeller Erinnerungsmuster erschlossen wird. Die heutige Verkörperung dieser Position unparteilichen Erinnerns durch Europa aber läuft Gefahr, genau diese konstitutive Vielschichtigkeit, die Gewordenheit dieses konfliktüberwindenden Erinnerungsmusters, auszublenden. Wenn das Paradigma der Erinnerung an den Holocaust als »negativen Gründungsmythos Europas« durch seine Generalisierung und Abstraktion diese Vielschichtigkeit nicht transparent zu halten vermag, dann droht es sich der eigenen Grundlagen zu berauben.

45 Zur Stockholmer Erklärung als »Gründungsmythos der Europäischen Union« s. Dubiel, Remembrance of the Holocaust, S. 68. Mit Blick auf das Genozid-Argument für die deutsche Kosovo-Intervention s. Eckart Conze, Der Holocaust wird zum negativen Gründungsmythos des Kontinents. Deutschland im Schnittpunkt europäischer Geschichtszonen, in: Die Politische Meinung 56 (2011), H. 494/495, S. 14 – 18, hier S. 18. Jüngst dazu mit weiterer symbolischer Verkürzung auf Auschwitz als das Symbol des Holocaust auch Karlsson, Holocaust, S. 427.

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Schlussbetrachtung Unsere Zusammenschau der sieben Fallstudien dieses Bandes hat gezeigt, dass die Bedeutung europäischer Erinnerung umstrittener ist, als der öffentliche und wissenschaftliche Diskurs vermuten lassen. Vergleicht man die Gebrauchsmuster dieses semantischen Paars, so erscheint europäische Erinnerung als Terrain eines lebhaften und akuten Deutungskonfliktes. Auf diesem Terrain haben wir vier tertia comparationis herausgestellt, die den Deutungsstreit strukturieren und die wir mit Raumvorstellungen, Kapital, Ideologien und Heterogenitätsbewältigung betitelt haben. Sie verstehen sich als Anstoß, die Debatte über europäische Erinnerung aus der Teleologie von Vergemeinschaftung durch Erinnerung zu führen. So erhält die polyfone Europasemantik durch die ihr eingeschriebenen Raumvorstellungen eine erste Kontur. Erinnerungskonflikte um Europa polarisieren soziale Räume von Erinnerung. Aus den von ihnen gezogenen Grenzen werden auch über den unmittelbaren Konflikt hinaus mental maps von Zentren und Peripherien erkennbar. Ihr wirkungsvollstes Zuordnungskriterium ist die Forderung nach Teilhabe an Europa – trotz der damit verbundenen Widersprüche eines homogen gedachten Raumes. Der expansive Charakter des selbsterklärten historischen Zentrums des Europas der Sechs entspricht dem normativen Anspruch des europäischen Erinnerungsprojekts, das heißt dem imperativen »Nie wieder!« der Holocaust-Erinnerung. Jedoch lässt sich die Europasemantik nicht auf einen solchen politisch-normativ aufgeladenen Gehalt reduzieren. Durch die fortschreitende Institutionalisierung unterschiedlicher europäischer Akteure und deren wachsende Alltagspräsenz eignet sie sich als vielfältig wandelbare und im Diskurs anschlussfähige Referenz. Dadurch funktioniert Europa als symbolisches und auch monetäres Kapital. Im Bemühen, partikulare Deutungen durchzusetzen oder wenigstens anschlussfähig zu machen, setzen Akteure die Möglichkeit einer Deutung als europäisch offensiv ein. So kommt europäischer Erinnerung als Argument eine doppelte Funktion auf supranationaler und auf nationaler oder regionaler Ebene zu. Nur noch teilweise markiert Europa dabei die Trennlinie zwischen politisch-ideologischen Standpunkten. Weitere Kontur erhält die Europasemantik durch den eng an den Begriff Europa geknüpften Deutungswandel von Konflikten. In prominenter Weise tritt hier aus der Nivellierung des Dualismus von Triumph und Niederlage die Figur eines unparteilichen Dritten hervor, deren Suggestionskraft in der Hoffnung auf eine grundsätzliche Einhegung erinnerter und zu erinnernder Konflikte besteht: Europäische Erinnerung wird heute gleichbedeutend mit »unparteilicher Erinnerung«. Es ist jedoch bezeichnend, dass gerade Europa bejahende Akteure im

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selbsterklärten westeuropäischen Zentrum europäische Erinnerung als einen Kanon unstrittiger, aus dem »negativen Gründungsmythos« abgeleiteter Regeln der Konfliktaustragung verstehen. Im Mittelpunkt dieser als konsensual antizipierten Position steht eine universalisierende Interpretation vergangener Konflikte als Gewalterfahrung und die Betonung unschuldiger Opfer. Diese Konsensbeschwörung erweist sich allerdings nur als eine Position innerhalb eines Spektrums unterschiedlich verlaufender Inklusions- und Exklusionslinien des imaginierten Raumes Europa. Durch die Fallstudien wurde deutlich, dass insbesondere osteuropäische Erinnerungsakteure, die erst seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und der Osterweiterung der EU dezidiert an europäischen Debatten partizipieren, auf die prekäre Zugehörigkeit zum Sprachspiel europäische Erinnerung verweisen. Sie geben Aufschluss über das Ringen um Regeln europäischer Vergangenheitsdeutung. Die hier zusammengeführten Konfliktlinien erhellen die ganz unterschiedlichen Bedeutungen und Funktionen, welche die Europasemantik in erinnerungspolitischen Diskursen heute annehmen kann. Das diesem Band zugrunde gelegte Verständnis von europäischer Erinnerung als einer semantischen Realität unserer Gegenwart lässt statt einer antizipierten Konfliktüberwindung den per se konfliktiven Charakter von Erinnerung hervortreten. Europa als Argument für einen bestimmten Erfahrungsraum oder Erwartungshorizont erweist sich im Lichte systematischer Perspektivwechsel zwischen den beteiligten Akteuren als kontingent. Diese reflektieren so die Aporie einer Konsens- und Homogenitätserwartung des Postulats des »Nie wieder!«. Die jeweiligen Europasemantiken und ihre in Vergangenheit wie Gegenwart begrenzte Erklärungsreichweite hängen auch vom Verhältnis von Erfahrungsund Erinnerungsobjektivierung ab, also der in der Einleitung beleuchteten Frage nach dem Zusammenhang von deutender und zeichenhafter Aneignung erlebter Gegenwart und erinnerter Vergangenheit. Wird dieses Verhältnis mithilfe der Heuristiken der Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit analysiert, erweisen sich scheinbar kontinuierliche Europabegriffe bei Deutungsträgern von hoher interpretatorischer Verfügbarkeit wie Karl dem Großen, dem Türken oder den Wikingern als Traditionsstiftungen voller Übersetzungsprobleme. Vermeintliche Deutungsgenealogien der longue dur¦e im Falle von Versailles verlieren in ihren europäischen Übersetzungen an Kohärenz, wenn sie sich in vergleichender Perspektive als Eigendynamik einer Deutungsregie darstellen. Wenn sich schließlich in den Deutungen der Gewalterfahrungen von Flucht und Vertreibung, des Warschauer Aufstandes und Srebrenicas die Akteure europäischer Erinnerung an ihrem Vermögen zur Bewältigung von Heterogenität messen und Maßstäbe für unparteiliche Erinnerung zu setzen suchen, erweist sich

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die Vorstellung von wechselseitiger Opferanerkennung als Trugschluss eines Deutungskampfes unvereinbarer Positionen. Ob diese Erinnerungskonflikte in Zukunft für Europa integrierend oder desintegrierend wirken – sicher ist nur, dass jeglicher Wandel aus veränderten Regeln der Konfliktaustragung hervorgehen wird. Solche Regelveränderungen, das haben die Beispiele gezeigt, geschehen durch Deutungsanalogien, die sich in ihren Verflechtungen der Kontrolle und Kalkulation seitens der Akteure entziehen. Folglich sind diese Regelveränderungen nicht mit dem Zielhorizont der Integration oder der Homogenisierung von Erinnerungen zu denken. Die politische, vor allem aber die wissenschaftliche Herausforderung lautet gerade nicht, durch den Appell an historische Erfahrungen alle Europäer an einem selbstreferenziellen Erinnerungsregime teilhaben zu lassen. Erinnerung – als vielstimmiges und vielschichtiges Phänomen verstanden – heißt, die Heterogenität Europas jenseits eines historischen Kanons und jenseits von Erinnerungsimperativen zu erschließen. Was eine solche Beschreibung leisten kann, ist, die Regeln der Konfliktaustragung transparent zu machen. Nur wenn Wissenschaft sich dieser Aufgabe stellt, kann sie gesellschaftliche Wandlungsprozesse reflexiv begleiten.

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Nachwort aus sozialtheoretischer Perspektive

Europäische Erinnerung ist ein heißes Thema. Dass Geschichtsbewusstsein, welches dabei dem vermeintlich lebendigeren und dem Alltagsdenken näher stehenden Erinnern innerhalb von sozialen Gruppen beigeordnet wird, einen Beitrag zur Konstituierung kollektiver Identitäten zu leisten vermag, ist eine Einsicht, die nicht nur Akteure der medialen und politischen Öffentlichkeit, sondern zunehmend auch die Forschung in Bewegung versetzt hat. Geteilte Vergangenheit, so die zugrunde liegende Annahme, bietet eine ergiebige Quelle der für Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftserhalt erforderlichen Sinnstiftung. Das auf den ersten Blick Besondere an europäischer Erinnerung als Form gruppenbezogenen Erinnerns ist, dass es nicht im Dienst nostalgischer Vergangenheitsverklärung oder Traditionspflege steht, sondern als Reaktion auf ein mehrdimensionales Entgrenzungsproblem betrachtet werden kann. Reaktion meint, dass nach einer Öffnung kollektiver – in diesem Fall nationalstaatlicher – Deutungshorizonte nun wieder politische Entscheidungen im Hinblick auf eine Schließung oder Begrenzung getroffen werden müssen.1 Es liegt auf der Hand, dass in einem solchen Arrangement einiges Konfliktpotenzial steckt, das identifiziert und bearbeitet werden will. Interessiert man sich jedoch für Veränderungen, die sich daraus für die Form des sozialen Erinnerns ergeben könnten, empfiehlt es sich, die Ansatzpunkte europäischen Erinnerns zu analysieren, zu ordnen und dann in theoriegenerierender Absicht zu konzeptualisieren. Das vorliegende Werk bietet eine kritische Sicht auf die Praxis europäischer Erinnerung und eröffnet damit eine neue Forschungsperspektive. Auf der Grundlage von Fallstudien wird untersucht, welche historischen Ereignisse von welchen sozialen Gruppen auf welche Weise als Referenten auf eine europäische 1 In der soziologischen Diskussion lässt sich dieses Motiv im Kontext einer fortschreitenden und auf sich selbst zurückwirkenden ›reflexiven‹ Modernisierung verorten: Ulrich Beck/ Christoph Lau (Hrsg.), Entgrenzung und Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt am Main 2004.

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Identität verwendet werden. Über diese an einzelnen Erinnerungsthemen – im Buch ist von Deutungsträgern die Rede – orientierten Beiträge hinausgehend, unternimmt das Resümee eine abstrahierende Analyse der dort rekonstruierten Deutungsmuster.2 Europäische Erinnerung dient demnach erstens der narrativen Konstituierung des Raumes Europa und zweitens einer Indienstnahme als symbolisches Kapital in einem Kampf unterschiedlichster Interessengruppen um Anerkennung3 und Zugehörigkeit. Drittens wird europäische Erinnerung in ideologischen Auseinandersetzungen genutzt, um von einer progressiv-liberalen Warte aus konservative und nationalistische Kräfte in ihren Bann zu schlagen.4 Ein vierter Aspekt europäischer Erinnerung ist, dass sie sich als Feld der Heterogenitätsbewältigung erweist, in dem unterschiedliche Erinnerungsperspektiven auf vergangene Krisen integriert werden (müssen). Hinzu kommt fünftens, dass europäische ›Institutionen‹ ihrerseits damit begonnen haben, lieux de m¦moire zu schaffen oder auszubauen und damit das Erinnern politisch zu beeinflussen. Sechstens ist zu konstatieren, dass sich europäische Erinnerung nach zwei von Europa ausgehenden Weltkriegen dem normativen Erinnerungsparadigma des ›Nie wieder!‹ verschrieben hat. Die sechs Deutungszusammenhänge verweisen einesteils auf bekannte Motive aus der Erforschung sozialen Erinnerns. Andernteils liefern sie Impulse, die zu einer Theoriebildung neue Aspekte beizusteuern vermögen. Im Hinblick auf ein europabezogenes nation-building,5 dem durch Bezugspunkte gemeinsamen Erinnerns eine sinnhafte Grundlage gespendet werden kann, sind zwei Vorgänge zu unterscheiden. Der eine verläuft jenseits der Alltagswahrnehmung in Form einer Evolution des kollektiven Gedächtnisses. Das 2 Vgl. das Resümee von Gregor Feindt, F¦lix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel und Rieke TrimÅev in diesem Band. 3 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992. 4 Wie Daniel Levy, Michael Heinlein und Lars Breuer in ihrer Arbeit zum reflexiven Partikularismus zeigen, kann das Erinnerungsnarrativ Europa auch umgekehrt als Vehikel für partikulare und nationalistische Erinnerungsdiskurse genutzt werden. Vgl. dies., Reflexive Particularism and Cosmopolitanization: The Reconfiguration of the National in Europe, in: Global Networks 11 (2011), H. 2, S. 139 – 159. 5 Es ist nicht zu bestreiten, dass weite Teile des Umgangs mit europäischer Erinnerung eindeutig im ›methodologischen Nationalismus‹ verhaftet sind. S. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt am Main 1997. Die große Erzählung von der Nation, die sich durch die Arbeit an einer kollektiven Identität noch einmal als realisierbar erweisen soll, kann weiterhin Gültigkeit und Funktionalität beanspruchen. Mit Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erscheint es als problematisch, einem normativen methodologischen Kosmopolitismus das Wort zu reden und Europa eine völlig neue Form postnationaler Gesellschaft zu prophezeien. Aus soziologischer Sicht bleibt jedoch festzuhalten, dass es gerade im Projekt der europäischen Erinnerung Entwicklungen gibt, die definitiv nicht mehr nach den Rezepten eines methodologischen Nationalismus gesteuert werden können.

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kollektive Gedächtnis erfährt eine multidimensionale Veränderung seiner gesellschaftlichen Bezugsrahmen, was zu einer Anpassung des Erinnerns führt.6 Der Prozess geht weitgehend unbemerkt vonstatten, weil er in langen Wellen gesellschaftlichen Wandels und damit aus Sicht von Individuen oder der Öffentlichkeit in Form einer schleichenden Anpassung erfolgt. Er verlagert sich weiter, wenn die Bezugsrahmen mit den nationalen oder allgemeiner : gruppenbezogenen Deutungsmustern und Mythen in Einklang gebracht wurden. Im Ergebnis sprechen die Mitglieder der Gruppe von einem »Wir-Gefühl der Europäer« als einem Fluchtpunkt unterschiedlicher Aspekte von kollektiver Identität. Der andere Vorgang geht im Modus zielgerichteter Handlungen vonstatten. Er ist auf die Herstellung eines Kollektivs ausgerichtet und läuft auf eine »Erfindung der Erinnerung«7 hinaus. Die Lancierung des Erinnerns und seine Indienstnahme zur Beförderung und Lenkung der Ausbildung einer kollektiven Identität ergeben sich aus dem Wissen um die identitätsstiftende Funktion des Erinnerns.8 Ohne Zweifel ist der Prozess der europäischen Einigung nicht der erste gesellschaftliche Großzusammenschluss der Geschichte. Neu ist jedoch das Wissen um das Risiko, welches mit solchen Transformationen verbunden ist: Die durch kollektives Bewusstsein9 beziehungsweise kollektive Identität10 zu beschreibenden Kräfte sozialer Kohäsion und Gemeinschaftlichkeit wachsen nicht so schnell wie das politisch ausgehandelte, neue gesellschaftliche Vertragswerk. Wenn der ›Bauch‹ dem ›Kopf‹ nicht zu folgen vermag und Großgesellschaften keine Identifikationsangebote an ihre Mitglieder auf der Ebene der Individuen machen können, werden diese Formationen als instabil wahrgenommen. Das Problem einer dem Typus des Vielvölkerstaates anhaftenden soziokulturellen Zentrifugalkraft macht das Bedürfnis der Suche nach zentripetalen Momenten 6 Ich beziehe mich hier auf Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985, sowie ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985. Überlegungen zu einer Evolution des kollektiven Gedächtnisses im Anschluss an Halbwachs finden sich bei Barbara A. Misztal, Theories of Social Remembering, Maidenhead/Philadelphia 2003, S. 45 f. 7 Diese Formulierung entnehme ich Michael Heinlein, Die Erfindung der Erinnerung. Deutsche Kriegskindheiten im Gedächtnis der Gegenwart, Bielefeld 2010. 8 Kritische Analysen zu einem solchen Gebrauch des Erinnerns finden sich bei Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. 9 Êmile Durkheim, auf den dieser Begriff zurückgeht, verbindet ihn mit dem Typus der auf Identifizierung aber auch politischer Herstellung von Ähnlichkeit gegründeten mechanischen Solidarität. Es ist bemerkenswert, dass Teile des Engagements um europäische Erinnerung auf diese, der vormodernen Gesellschaft zugerechneten Form des sozialen Zusammenhalts ausgerichtet sind. Ders., Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt am Main 1992. 10 Bernhard Giesen stellt den Begriff der ›kollektiven Identität‹ in unmittelbaren Zusammenhang mit Gemeinschaft und Geschichte. Ders., Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt am Main 1993.

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verständlich. Gemeinsames Erinnern erscheint hier als ein im Zusammenhang mit der Erfindung der Nation erprobter und somit gangbarer Weg. Angesichts unterschiedlicher Formen und Funktionen dieses Erinnerns bedarf es hier jedoch des näheren Hinsehens: Die latenten Momente, welche infolge der Veränderung sozialer Bezugsrahmen einen Wandel des Erinnerns bewirken, werden, wenngleich ihre Erforschung aus wissenssoziologischer oder ethnologischer Sicht geboten ist, im vorliegenden Buch weitgehend ausgeblendet. Ich möchte sie deshalb im Weiteren unberücksichtigt lassen und mich der manifesten Form zuwenden. Die von Politik- und Geschichtswissenschaft vorgenommene Bemächtigung des Erinnerns liefert die materiale Grundlage der hier vorliegenden Forschungs- und Reflexionsanstrengungen. Dies gilt auch für die besonderen Erträge aus dem methodischen Ansatz einer chronologischen und gegenchronologischen Spurensuche innerhalb der – quellenmäßig manifestierten – Bezugnahmen auf die als Deutungsträger bezeichneten historischen Sachverhalte. Aber auch auf der Seite manifester Erinnerungspolitik können umfassende Einsichten über das Europäische der europäischen Erinnerung gewonnen werden. Ich nehme daher im Folgenden eine aus der Lektüre dieses Buches hervorgegangene Unterscheidung von zwei Formen der Erinnerungspolitik vor: die aufarbeitende und die ideologisierende Variante. Im Fall einer aufarbeitenden Erinnerungspolitik, der es darum zu tun ist, die Gefahr der Destabilisierung zu bannen, muss bei der europäischen Erinnerung eine Besonderheit in Betracht gezogen werden: Das Wissen um vergangene Ereignisse kann nicht mehr einfach diskreditiert werden, wie dies in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unternommen wurde. So hatte Ernest Renan an die Notwendigkeit des Vergessens als Voraussetzung für die Entstehung der Nation gemahnt, und Friedrich Nietzsche warnte vor einer selbstverschuldeten Handlungs- oder Zukunftsunfähigkeit,11 wenn man zu viel Energie auf das Erinnern einer als abgeschlossen zu begreifenden Vergangenheit verwendete.12 Die Unschuld eines solchen seligen Vergessens im Sinne einer »Stunde Null« ist für Europa mit dem Holocaust und dem mit ihm verbundenen Erinnerungsgebot undenkbar. Besseres Wissen um die Risiken des Vergessens und die politisch notwendige Einrichtung von Erinnerungsimperativen haben auch auf gesellschaftlicher Ebene zu einer psychoanalytischen Umgangsweise geführt.13 Durch 11 Ernest Renan, Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, Wien/Bozen 1995, sowie Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders., Unzeitgemäße Betrachtungen, München 1999, S. 75 – 148. 12 Dass es dem Denkstil der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprach, dem Vergessen gegenüber dem Erinnern den Vorzug zu geben, betont auch David Gross, Lost Time. On Remembering and Forgetting in Late Modern Culture, Amherst 2000. 13 Sigmund Freud, Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, in: Ders., Studienausgabe. Bd. 3. Psychologie des Unbewussten, Frankfurt am Main 1914, S. 205 – 2015.

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die Verknüpfung einer Identifizierung vergessener Spannungen mit gezieltem Erinnern und Durcharbeiten können (und müssen) weiterhin schwelende, weil unterdrückte, Konflikte, die als ›Gespenster der Vergangenheit‹14 im Sinne sozialer Pathologien in Erscheinung treten und ihre destabilisierende Wirkung entfalten können, aufgehoben – zumindest hinsichtlich ihres emotional sting entschärft – und vergessen werden.15 Aufarbeitende Erinnerungspolitik hat nicht die Funktion, Bezugspunkte für die Herausbildung von kollektiver Identität zu beschaffen. Ihr geht es darum, die insbesondere in gesellschaftlichen Transformationsprozessen aufkommenden Störungen nachhaltig zu befrieden. Ein ähnliches Problem ergibt sich aus dem Umgang mit heterogenem Erinnern. Hierbei sind zwei unterschiedliche Varianten festzustellen: Das Aushandeln einer von nun an gemeinsamen, verbindlichen, ›verbrieften‹ Erinnerung wird einerseits beim Zusammenschluss von bisher getrennten Erinnerungsgemeinschaften zunächst aus einem Angebot verschiedener Erinnerungsthemen nötig, da nur eine begrenzte Anzahl in den Kanon des künftig gemeinschaftlich zu Erinnernden aufgenommen werden kann. Andererseits können sich die Erinnerungsthemen auf identische historische Ereignisse beziehen – unvereinbar jedoch durch die je nationalstaatliche Historisierung aus unterschiedlichen Blickwinkeln ehemaliger Konfliktparteien. Jenseits eines methodologischen Nationalismus, der auf die Herstellung einer vereinheitlichten Deutung zielt, steht die Politik des neuen Zusammenschlusses vor der Herausforderung, entweder heterogene Erinnerung im Zuge eines Toleranzgebots zu legitimieren oder durch Abstraktion auf eine höhere Deutungsebene zu verlagern, von der aus die ehemals verfeindeten Gruppen ihre je eigene Konflikterinnerung distanziert und jenseits der Täter-Opfer-Differenz reflektieren können. Alle Spielarten dieser aufarbeitenden Erinnerungspolitik dienen nicht der Ideologieproduktion, sondern einer Anpassung partikularer Erinnerungsthemen an ein übergeordnetes Erinnerungssystem. Bei freiwilligen Zusammenschlüssen ist hier politisches Fingerspitzengefühl geboten, wenn nicht aufgrund fehlenden Einflusses oder wegen eines Mangels an Artikulationschancen Ver14 Zur Erschließung des Konzepts ›Gespenst‹ für die sozialwissenschaftliche Erinnerungsforschung vgl. Oliver Dimbath/Anja Kinzler, Wie sozial sind Gespenster? Wissenssoziologische Untersuchungen zu einem unheimlichen Phänomen, in: Nebulosa. Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 3 (2013), S. 52 – 62. 15 Aus Sicht der Traumaforschung ist es der emotionale Stachel, der zu persistenter Erinnerung und Flashbacks führt. Sowohl die Psychoanalyse als auch die Pharmakologie richten ihre Therapien nicht auf ein umfassendes Vergessen im Sinne einer Löschung, sondern auf eine ›Einhegung‹ schmerzhafter Erinnerung. Vergessen werden soll nur die Verletzung der Seele, nicht jedoch das verletzende Erlebnis. Hierzu Christoph Lau/Peter Wehling/Oliver Dimbath, Therapeutisches Vergessen: Auf dem Weg zur Technisierung des Vergessens?, in: Oliver Dimbath/Peter Wehling (Hrsg.), Soziologie des Vergessens. Theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder, Konstanz 2011, S. 317 – 338.

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drängungen stattfinden sollen, die zu einem späteren Zeitpunkt die bekannten gesellschaftlichen Folgen inadäquater Erinnerungspolitik zeitigen: als Separatismus und Terrorismus. Ideologisierende Erinnerungspolitik ist im Gegensatz zur aufarbeitenden Erinnerungspolitik auf die Schaffung eines Bezugsrahmens gemeinsamen Erinnerns gerichtet und kann als unmittelbare Voraussetzung der Herausbildung kollektiver Identität begriffen werden: Dem Umstand der Entgrenzung von Erinnerung wird hier durch die Schaffung integrierender Mythen und Narrative Rechnung getragen. Für das Grundprinzip identitätsstiftender Erzählungen ist es zunächst gleichgültig, in welchem Umfang sie inkludierend wirken, da man mit ihnen eine Befehlsform des Erinnerns verbinden kann. Im Fall europäischer Erinnerung, deren Politik zumindest dem Selbstverständnis nach demokratisch-partizipativ ausgerichtet ist, wird der Erinnerungsimperativ in der Regel nicht mit harten Sanktionen gegen abweichende Individuen verbunden. Berüchtigt sind jedoch auch die Formen jener ideologisierenden Erinnerungspolitik, die der Praxis des Siegererinnerns und Opfervergessens folgt. Triumphale Erinnerung fungiert – und auch hier liegt der Rückgriff auf psychoanalytische Terminologie nahe – als soziale Deckerinnerung, deren Getöse alle Zwischentöne übertönt. Paraden, Aufmärsche, Triumpharchitektur und Siegesfeiern sind allerdings nur eine Seite der Indienstnahme des Erinnerns. Die andere Seite erscheint demgegenüber weitaus weniger performativ, adressiert aber ähnliche politische Motive. Auch die vonseiten der Politik lancierte und geförderte Suche nach historischen Bezugspunkten von Einigkeit folgt – in weitaus leiseren Tönen – dem Grundsatz der Deckerinnerung. Das Ausmachen transzendenter Fluchtpunkte von Gemeinschaft in der Vergangenheit dient, sofern es den Verdacht der Traditions- oder Mythenbildung nicht zu entkräften vermag, letztlich nicht der Rekonstruktion historischer Wahrheit als vielmehr – wie in der Einleitung des vorliegenden Bandes zu Recht bemerkt – einer Konstruktion politisch erwünschter Gemeinschaftserzählungen. Solche Erzählungen entstehen nicht nur auf den Schreibtischen der Redenschreiber oder in politischen Gremien; sie entspringen auch dem Schaffen europaeuphorischer Kunst und Geschichtsschreibung sowie der Feder mancher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren zum Beispiel auf europäische Vergangenheit gerichtete Forschungsarbeit mithilfe von EU-Mitteln finanziert wird. Mit Blick auf eine Theorie sozialen Erinnerns lässt sich somit festhalten, dass neben einem in Gruppen mehr oder weniger unreflektiert stattfindenden Erinnern – in Traditionen, Gewohnheiten, Bräuchen, Riten und anderen Formen der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung – gerade im Zusammenhang mit Prozessen der Vergesellschaftung Formen politischen Erinnerns zu beobachten sind. Letztere habe ich nach zwei Spielarten unterschieden, deren eine als aufarbeitende Erinnerung dazu dient, Deutungsunsicherheiten zu reduzieren,

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welche aus Prozessen der Entgrenzung beziehungsweise der Auflösung bisheriger Gewissheiten hervorgegangen sind. Im Mittelpunkt steht hierbei die Überführung partikularen Erinnerns in eine neue Erinnerungsgemeinschaft. Die ideologisierende Erinnerung dient im politischen Prozess demgegenüber dazu, den Sinn von Gemeinschaft neu zu definieren. Auch sie kann als Bewältigung von Entgrenzungsprozessen verstanden werden, wobei ohne Rücksicht auf neue Unsicherheiten mit bestehender Historie gleich neue Bezugspunkte für gemeinsame Erinnerung geschaffen werden. Sichtbar wird in beiden Fällen die stets gegenwartsbezogene Konstruktionsleistung, die nur bei Bedarf auf Vergangenheit Bezug nimmt und deren Funktion in der Bewältigung gegenwärtig anstehender Probleme liegt. Auch für europäische Erinnerung gilt, dass es sich um eine politische Instrumentalisierung sozialen Erinnerns handelt, die historisches Wissen für ihre Zwecke verwendet. Neu scheint in diesem Zusammenhang jedoch der sich aus dem Fall europäische Erinnerung ergebende Entgrenzungsaspekt zu sein. Wenn Entgrenzung Unsicherheit produziert und Entscheidung erzwingt,16 leitet sich daraus nicht nur ein notwendiger Zusammenhang von Entscheiden und Erinnern ab, sondern auch die Vermutung, dass in Zeiten zunehmender Entscheidbarkeit mit einem vermehrten Aufkommen an legitimatorischem Erinnern zu rechnen ist. Dass dann zuvor umso mehr vergessen worden sein soll, wie es die gängige Entgegensetzung von Erinnern und Vergessen nahelegt, erscheint vor diesem Hintergrund als kaum nachvollziehbar. Die wissenssoziologische Reflexion über Erinnerungspolitik – und zu dieser zählt das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Buches – ist gerade deshalb so verdienstvoll, weil sie im Modus einer kritischen Analyse der epistemischen Grundlagen imstande ist, den Hintergrund der Wahrnehmung von Fehlentwicklungen und mutmaßlichen Gefahren zu ergründen. Damit geht es nicht um die Frage, welcher Ort und welches Objekt zu Recht oder zu Unrecht als Erinnerungsstimulus eingesetzt wird. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen dieser Erzeugung von Erinnerungsstimuli im Sinne von Selektion und Relevanzsetzung – ein Problem der theoretischen Durchdringung von Formen und Funktionen sozialer Gedächtnisse.

16 Aus sozialtheoretischer Sicht hat Alfred Schütz im Rückgriff auf die Phänomenologie Husserls eine Entscheidungstheorie skizziert: Entscheidung wird dann erforderlich, wenn offene zu problematischen Möglichkeiten werden. Ders., Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen, in: Ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 1. Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 77 – 110. Es liegt aus soziologischer Sicht nahe, dies im Kontext von Individualisierung zu diskutieren, vgl. Oliver Dimbath, Entscheidungen in der individualisierten Gesellschaft, Wiesbaden 2003.

Autorenverzeichnis

PD Dr. Oliver Dimbath, Studium der Soziologie, Sozialpsychologie und Sozialund Wirtschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, dort 2002 Promotion mit einer Arbeit zur Berufswahl in der fortgeschrittenen Moderne. 2012 Habilitation mit einer Arbeit zum Oblivionismus. Seit 2013 Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Augsburg. Lehrstuhlvertretungen an der Universität Wuppertal und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gregor Feindt, M.A., Magisterstudium der Osteuropäischen und Neueren Geschichte sowie Slavistik in Bonn und Krakau, 2013 Promotion zum politischen Denken oppositioneller Bewegungen in Ostmitteleuropa an der Universität Bonn. Dr. Simon Hadler, Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Graz. Mitglied des Doktoratskollegs »Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe« an der Universität Wien (2007 – 2010). Seit 2011 Projektmitarbeiter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2012 Promotion an der Universität Wien zum Image Krakaus und dem Umgang mit dem öffentlichen Raum um 1900. F¦lix Krawatzek, Doppelstudium in Philosophy, Politics and Economics in Europe in Canterbury und Lille. Master in Russian and East European Studies in Oxford. Seit 2011 politikwissenschaftliches Promotionsvorhaben in Oxford zur politischen Mobilisierung von Jugend in Krisenmomenten in Ost- und Westeuropa, Gastaufenthalt an Sciences Po in Paris. Daniela Mehler, M.A., Magisterstudium der Politikwissenschaft, Osteuropäischen Geschichte und Friedens- und Konfliktforschung in Marburg, Gießen und Ljubljana. 2013 Promotion zur serbischen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen im Kontext transnationaler Normsozialisation. Seit 2013 Referentin für Beru-

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Autorenverzeichnis

fungs- und Bleibeangelegenheiten und Hochschulentwicklung an der Universität Frankfurt am Main. Dr. Marcin Napiûrkowski, Studium der Kulturwissenschaften und Soziologie an der Universität Warschau, 2010 Promotion in Philosophie an der Polnischen Akademie der Wissenschaften mit einer Arbeit zur ästhetischen Modalität als Anzeichen kulturellen Wandels. Seit 2010 Assistent am Institut für polnische Kultur der Universität Warschau, seit 2013 Post-Doc an der University of Virginia. PD Dr. Klaus Oschema, Studium der Mittelalterlichen Geschichte, Philosophie, Englischen Sprachwissenschaft und Mediävistik in Bamberg und Paris-Nanterre. 2004 Promotion in Paris und Dresden mit einer Arbeit zu Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. 2012 Habilitation in Heidelberg über »Bilder von Europa im Mittelalter«. Seit 2012 Lehrdozent für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg. Friedemann Pestel, Studium der Geschichte, Romanistik und Erziehungswissenschaften in Jena und Paris. 2013 Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zu französischen Revolutionsemigranten als europäischen Akteuren. Seit 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte des Romanischen Westeuropa am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Roland Scheel, M.A., Studium der Mittleren und Neueren Geschichte und der Skandinavistik in Frankfurt am Main und Kopenhagen. 2008 bis 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »›Grikkland‹ und ›Varangia‹. Die byzantinisch-skandinavischen Kulturkontakte im Hochmittelalter«. 2010 bis 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Ältere Skandinavistik am Institut für Skandinavistik der Universität Frankfurt am Main. Abgeschlossenes Promotionsvorhaben zu byzantinisch-skandinavischen Kulturkontakten im Mittelalter. Rieke TrimÅev, geb. Schäfer, Studium der Politikwissenschaft, Romanistik, Erziehungswissenschaft in Hamburg und Paris. Seit 2010 Promotionsprojekt in politischer Theorie und Ideengeschichte zur Spielsemantik im politischen Denken des 20. Jahrhunderts. Seit 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg.