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German Pages XVI, 388 [401] Year 2020
Neue Perspektiven der Medienästhetik
Irina Gradinari
Kinematografie der Erinnerung Band 1: Filme als kollektives Gedächtnis verstehen
Neue Perspektiven der Medienästhetik Reihe herausgegeben von Ivo Ritzer, Bayreuth, Deutschland
Die Reihe „Neue Perspektiven der Medienästhetik“ versteht sich als Brückenschlag zwischen Ansätzen von Medientheorie und ästhetischer Theorie. Damit sollen ästhetische Qualitäten weder als determinierende Eigenschaften einer technologisch-apparativen Medialität noch als Effekt dieses medialen Apriori begriffen sein. Stattdessen werden sowohl die Relevanz des Technologisch-Apparativen als auch die im Rahmen der apriorischen Konstellation sich entfaltende Potentialität an ästhetischen Verfahren ernst genommen. Die Frage nach medienästhetischen Qualitäten bedeutet demnach, die einem Medium zur Verfügung stehenden ästhetischen Optionen zu spezifizieren, um ihrer Rolle bei der Konstitution des jeweiligen medialen Ausdrucks nachzuspüren. Dabei projektiert die Reihe insbesondere, entweder bislang vernachlässigte Medienphänomene oder bekannte Phänomene aus einer bislang vernachlässigten Perspektive zu betrachten.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13443
Irina Gradinari
Kinematografie der Erinnerung Band 1: Filme als kollektives Gedächtnis verstehen
Irina Gradinari Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft FernUniversität Hagen Hagen, Deutschland
ISSN 2524-3209 ISSN 2524-3217 (electronic) Neue Perspektiven der Medienästhetik ISBN 978-3-658-30064-7 ISBN 978-3-658-30065-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30065-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Für Alexandra und Andreas
V
Danksagung
Diese Studie hätte ohne institutionelle Unterstützung und einen anhaltenden, freundschaftlichen theoretischen Austausch nicht entstehen können. Aus diesem Grund bedanke ich mich beim Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Trier, das mir mit Forschungsstipendien mehrere Archivrecherchen ermöglicht hat. Ein herzliches Dankeschön geht zudem an die stets hilfsbereiten und weit über das Erwartbare hinaus entgegenkommenden Mitarbeiter*innen des Bundesarchivs Berlin und der Universitätsbibliothek der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Dort wurden mir viele Materialien zur Verfügung gestellt, zum Beispiel eine umfangreiche Sammlung von Rezensionen, die die Mitarbeiter*innen der Filmuniversitäts-Bibliothek über Jahre hinweg systematisch gesammelt hatten. Mein Dank gilt weiterhin den zahlreichen Forscher*innen, in deren Kolloquien ich meine Arbeit vorstellen und diskutieren durfte, vor allem dem Slavisten Prof. Dr. Norbert Franz (Universität Potsdam) und der Kulturwissenschaftlerin und Historikerin Prof. Dr. Claudia Bruns (Humboldt-Universität zu Berlin), von denen ich wichtige theoretische Impulse bekommen habe. Ein besonderer Dank geht auch an den Film- und Medienwissenschaftler Prof. Dr. Ivo Ritzer (Universität Bayreuth) und die Teilnehmenden des DFG-Netzwerkes „Genres und Medien: Perspektiven auf Strukturen, Diskurse und Kulturen medialer Genre-Konzepte“ unter seiner Leitung, mit denen ich verschiedene Aspekte meiner Arbeit mehrfach diskutiert habe. Auch danke ich allen, die mich, da ich keine deutsche Muttersprachlerin bin, durch Lektorat und Korrekturen unterstützt und mir so die Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs in Deutschland ermöglicht haben. Hervorheben möchte ich meinen Kollegen Dr. Johannes Pause (Universität Luxemburg), der als erster mein Manuskript gelesen und mir viele gute Ratschläge gegeben hat. Weiterhin möchte ich mich bei Silvana Dorothea Schmidt für die sorgfältige Korrektur und äußerst fleißige Redaktionsarbeit von ganzem Herzen bedanken. Sie hat meine Arbeit mehrfach korrigiert und formatiert, aber auch kritisch gelesen. In den Anfängen und der Abschlussphase habe ich ferner viel Unterstützung von Silvia Pontes und VII
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Danksagung
Shirin Weigelt bekommen, denen ich ebenfalls meinen Dank aussprechen möchte. Zu guter Letzt möchte ich mich bei meinem Ehepartner, Dr. Andreas Heuer, für die Unterstützung meiner wissenschaftlichen Karriere bedanken, die mit zahlreichen Umzügen und viel Pendelei verbunden war und ist. Dass er dies auf sich genommen hat, hat mir die wissenschaftliche Arbeit ermöglicht.
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Sechs Thesen zum kollektiven Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Ein Modell des kollektiven Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.3 Methoden und Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.4 Begriffsgebrauch und Formalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Erinnerung und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der bundesdeutsche Kriegsfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der antifaschistische DEFA-Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Der sowjetische Kriegsfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 28 36 45 55 68 79 92
3 Ästhetisch-historische Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses . . . 95 3.1 Allegorien als filmisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.1.1 Kollektivität und Genresysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.1.2 Nationen und Allegorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.1.3 Allegorien im Kriegsfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.1.4 Allegorien und aktueller Geschlechterdiskurs . . . . . . . . . . . . . 119 3.1.5 De- und Reallegorisierung als Darstellungsstrategie . . . . . . . 126 3.1.6 Die Position der Zuschauenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 IX
X
Inhalt
3.2 Das Trauma als Erinnerungsmodell: Der Fall BRD . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Psychoanalyse und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Vergangenheitsverarbeitung in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Transformation des Traumas in eine Geschichtsfigur: Die Mörder sind unter uns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Funktionen des Traumas: Vom Täter- zum Opferdiskurs . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Sinngenese: Narration als Instrument der Sinnherstellung . . . . . . . . 4.1.1 Den Zweiten Weltkrieg erzählen: Zur Bedeutung der Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Narrationstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Sowjetische, ost- und westdeutsche Erinnerungskultur . . . . . 4.1.4 Narrationen in ihrer historischen Entwicklung . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Bewältigungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Bewältigungsmechanismen: Ein Definitionsversuch . . . . . . . . 4.2.2 Überleben der Hauptfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Innerkulturelle Spaltung der Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Buße für den Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Entmachtung männlicher Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Viktimisierung der Erzählperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7 Frau als Kontinuitätsgarant und -medium . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.8 (Selbst-)Ermächtigungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.9 Religiöse Wiedergeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.10 Anthropologisierung des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.11 Rache an den Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.12 Unsterbliches Kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.13 Männlicher Reproduktionsmythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.14 Infantilisierungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.15 Wehrhafte Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.16 Panzerung des Kollektivkörpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.17 Versöhnungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139 140 149 155 168 177 182 185 185 186 189 193 204 214 216 219 219 224 226 230 231 233 235 237 238 240 243 245 247 248 250 252 254 256 258
Inhalt
XI
4.3 Emotionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die Besonderheiten der Filme über den Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Das PKS-Modell für die Beschreibung von Affekten und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Tradierte Mikro-Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Perzeptionsgeleitete Strukturen: Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Konzeptionsgeleitete Strukturen: Emotionen . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Meta-Emotionen: Moralismus der Kriegsfilme . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
267 269 281 290 298 300 303
5 Narrationstypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 „Narration von oben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 „Narration von unten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Parabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Demetaphorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Geschichte als Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305 306 323 337 351 362 381 384 384
262
XI
Verzeichnis der Abbildungen Verzeichnis der Abbildungen
Verzeichnis der Abbildungen
Kap. 3.1
Allegorien als filmisches Konzept
Abb. 1
DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Mobilisierungsplakat „Mutter-Heimat ruft!“ . . . . . . . . . . . . . DIE BALLADE VOM SOLDATEN [Баллада о солдате] (UdSSR 1959, R. Grigorij Čuchraj) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DER FALL VON BERLIN [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . WENN DIE KRANICHE ZIEHEN [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LILI MARLEEN (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) . . . . . . . CANARIS (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) . . . . . . . . . . . . . DIE VIERTE HÖHE [Четвертая высота] (UdSSR 1977, R. Igor’ Voznesenskij) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DER NEUNTE TAG (D/LUX/CZE 2004, R. Volker Schlöndorff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LILI MARLEEN (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) . . . . . . . . DER FALL VON BERLIN [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11
113 115 116 119 122 124 124 125 125 127 130
Kap. 3.2
Das Trauma als Erinnerungsmodell: der Fall BRD
Abb. 1
GEHEIMNISSE EINER SEELE (D 1926, R. Georg Wilhelm Pabst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Abb. 2
XIII
XIV
Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5–6 Abb. 7 Abb. 8
Kap. 4.3 Abb. 1
Verzeichnis der Abbildungen
DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160 161 162 163 165
Emotionalisierung
WENGLER & SÖHNE – EINE LEGENDE (DDR 1986, R. Rainer Simon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2 KINDER, MÜTTER UND EIN GENERAL (BRD 1955, R. László Benedek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3 IM WESTEN NICHTS NEUES [All Quiet on the Western Front] (USA 1930, R. Lewis Milestone) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4–5 IM WESTEN NICHTS NEUES [All Quiet on the Western Front] (USA 1930, R. Lewis Milestone) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6 WOHIN JOHANNA? (Wahlwerbefilm der SED 1946, R. Peter Pewas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 7 08/15, 1. Teil (BRD 1954, R. Paul May) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 8 DIE ABENTEUER DES WERNER HOLT (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 9 DIE BRÜCKE (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) . . . . . . . . . . . . . . Abb. 10 HALBDUNKEL [Полумгла] (RF 2005, R. Artem Antonov) . . Abb. 11 CANARIS (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) . . . . . . . . . . . . . . Abb. 12 ICH WAR NEUNZEHN (DDR 1968, R. Konrad Wolf) . . . . . . . . Abb. 13 HUNDE, WOLLT IHR EWIG LEBEN? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 14 ALEXANDER DER KLEINE [Александр маленький] (UdSSR/DDR 1982, R. Vladimir Fokin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 15–16 WENN DIE KRANICHE ZIEHEN [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 17–18 DIE RUSSEN KOMMEN (DDR 1968/87, R. Heiner Carow) . . .
272 272 273 274 275 275 276 277 277 279 279 280 281 284 286
Verzeichnis der Abbildungen
XV
Abb. 19–20 DER TEUFEL SPIELTE BALALAIKA (BRD 1961, R. Leopold Lahola) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
Kap. 5 Abb. 1 Abb. 2
Narrationstypologie
DIE BUNTKARIERTEN (DDR 1949, R. Kurt Maetzig) . . . . . . DER FALL VON BERLIN [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3 DER RAT DER GÖTTER (DDR 1950, R. Kurt Maetzig) . . . . . . . Abb. 4–5 BEFREIUNG [Освобождение] (UdSSR/DDR/YU/I/P 1968–1972, R. Jurij Ozerov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6 ROTATION (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 7 EIN MENSCHENSCHICKSAL [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 8 LILI MARLEEN (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) . . . . . . . . Abb. 9 UNSERE MÜTTER, UNSERE VÄTER (D 2013, R. Philipp Kadelbach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 10 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 11 CHRONIK EINES MORDES (DDR 1965, R. Joachim Hasler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 12 DAS ZWEITE GLEIS (DDR 1962, R. Hans-Joachim Kunert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 13 IN JENEN TAGEN (1947, R. Helmut Käutner) . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 14 VERGIß DEINEN NAMEN NICHT [Помни имя своё] (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 15 BETROGEN BIS ZUM JÜNGSTEN TAG (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 16 SCHICKSAL AUS ZWEITER HAND (BRD 1949, R. Wolfgang Staudte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 17 AFFÄRE BLUM (DEFA 1948, R. Erich Engel) . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 18–19 IM WESTEN NICHTS NEUES [All Quiet on the Western Front] (USA 1930, R. Lewis Milestone) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 20 DIE BRÜCKE (BRD 1959, R. Bernhardt Wicki) . . . . . . . . . . . . . . Abb. 21 EHE IM SCHATTEN (DEFA 1947, R. Kurt Maetzig) . . . . . . . . . Abb. 22 „Aufwärts für die Heimat!“ Ein bekanntes sowjetisches (Propaganda-)Bild aus dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 23 STALINGRAD (RF 2013, R. Fedor Bondarčuk) . . . . . . . . . . . . . .
308 311 311 312 314 319 320 322 325 326 331 332 334 340 342 344 357 358 360 370 370 XV
XVI
Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb.32
Verzeichnis der Abbildungen
ICH WAR NEUNZEHN (DDR 1968, R. Konrad Wolf) . . . . . . . . DER LETZTE AKT (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) . . . . . WEIßRUSSISCHER BAHNHOF [Белорусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . NACKT UNTER WÖLFEN (DDR 1963, R. Frank Beyer) . . . . . . DER ARZT VON STALINGRAD (BRD 1958, R. Géza von Radványi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SIEBZEHN AUGENBLICKE DES FRÜHLINGS [Семнадцать мгновений весны] (UdSSR 1973, R. Tat’jana Lioznova) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DAS BOOT (BRD 1981, R. Wolfgang Petersen) . . . . . . . . . . . . . . . PROFESSOR MAMLOCK (DDR 1961, R. Konrad Wolf) . . . . . STRAßENKONTROLLE [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971/1985, R. Aleksej German sr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung 1 Einleitung
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In der Einleitung wird vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte diskutiert, was das kollektive Gedächtnis eigentlich ist. Und das ist – so die zentrale These dieser Arbeit – der Spielfilm selbst, dem es aufgrund seiner medienspezifischen Eigenschaften gelingt, in einer kurzen Zeit anschaulich und sinnhaft zu erzählen. Dadurch entsteht das komprimierte, kollektiv geteilte und gleich geformte Wissen über die Vergangenheit, das zugleich durch filmische Einfühlungs- und Identifikationsstrukturen zum Bestandteil aktueller Identitätsdiskurse wird. Ist das kollektive Gedächtnis ein filmisches Phänomen, so müssen Strukturen und Funktionen des Films analysiert werden. So wird anhand (post-)sowjetischer sowie (ost- und west-) deutscher Filme über den Zweiten Weltkrieg nach 1945 bis zur Gegenwart ein Modell entwickelt, das die Beschaffenheit des kollektiven Gedächtnisses beschreibt. Was leistet der Spielfilm als Medium des kollektiven Gedächtnisses? Der Spielfilm verleiht dem Krieg Sinn, entwickelt aufgrund seiner Dramaturgie Bewältigungsmechanismen und produziert Emotionen, die das kollektive Gedächtnis als sinn- und identitätsstiftenden Rahmen einer Kultur setzen und politisch wirksam werden.
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Sechs Thesen zum kollektiven Gedächtnis
1.1
Sechs Thesen zum kollektiven Gedächtnis
Zum kulturellen, kollektiven, kommunikativen und sozialen Gedächtnis scheint alles gesagt zu sein. Allein: Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Erinnerung und Film steht noch aus. Dabei ist der massive Einfluss des Films auf die Psyche von Individuen und zugleich auf Prozesse der Kollektivität unumstritten. Mit der Erfindung der bewegten Bilder ging eine grundsätzliche Veränderung der Geschichts- und Zeitwahrnehmung einher. Hugo Münsterberg spricht bereits vor hundert Jahren vom Film als Medium der Objektivierung individueller psychischer Prozesse: „Die massive Außenwelt hat ihr Gewicht ver© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Gradinari, Kinematografie der Erinnerung, Neue Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30065-4_1
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1 Einleitung
loren, sie wurde von Raum, Zeit und Kausalität befreit und in die Formen unseres Bewußtseins gekleidet.“ (Münsterberg 1996, S. 59). Walter Benjamin weist auf die Kraft des Kinos hin, das sowohl das Unbewusste der Massen zu vergegenwärtigen als auch das „Optisch-Unbewusste“ dieser Massen zu formen in der Lage sei (Benjamin 1991a). Siegfried Kracauer, und später aus einer anderen Perspektive auch Elisabeth Bronfen, beschreiben Filme als Orte des kollektiven Unbewussten (Kracauer 2012; Bronfen 1999). Steve Neale betrachtet sie als Aushandlungsmedien aktueller kultureller Subjektstrukturen (Neale 1980). Die Intensität der Eindrücke und die Suggestibilität der bewegten Bilder hat nach Hugo Münsterberg vor allem eine Wirkung auf das Nationale: „Jeder zuträgliche Einfluß, der vom Lichtspiel ausgeht, hat folglich eine unvergleichliche Macht, wenn es um die Formung und den Aufbau der nationalen Seele geht.“ (Münsterberg 1996, S. 100) Béla Balázs definiert das Kino 1924 daher als „Volkskunst“, wobei der Film dem „Volksgeist“ gegenüber nicht sekundär ist, ihn also nicht abbildet, sondern vielmehr erzeugt (Balázs 1982, S. 46).1 Siegfried Kracauer betrachtet das Kino als Medium, an dem „Tiefschichten der Kollektivmentalität“ (Kracauer 2012, S. 15) als Mentalität einer Nation abzulesen seien (Elsaesser 1997).2 Das Kino erweist sich dabei – im Vergleich zu anderen Kunstformen – deshalb als für kollektive Prozesse besonders anschlussfähig und erkenntnisreich, weil es selbst ein Produkt kollektiven Handelns darstellt, das an die Massen appelliert und ihre Bedürfnisse zu befriedigen sucht (Kracauer 2012, S. 16–17; Koebner 1997, S. 10–12). Kracauer hat Thomas Elsaesser zufolge dabei gerade jene Realitätseffekte des Kinos hervorgehoben, welche zum einen das Kausalitätsprinzip außer Kraft setzen und zum anderen „westliche Vorstellungen von Temporalität, Präsenz und Geschichte“ in Frage stellen (Elsaesser 1997, S. 34). Der Film eignet sich daher auf eine besondere Weise dafür, die Eigenzeitlichkeit kollektiver und individueller Erinnerungsprozesse zu erforschen, was durch das große Interesse an diesem Medium nicht nur von Filmwissenschaftler*innen oder Kulturwissenschaftler*innen, sondern auch von Philosoph*innen, Historiker*innen, Politikwissenschaftler*innen, Psycholog*innen, Ethnolog*innen oder Philolog*innen bezeugt wird. Diese Studie schließt mit großer Dankbarkeit „Denn der Film ist die Volkskunst unseres Jahrhunderts. Nicht in dem Sinn, leider, daß sie aus dem Volksgeist entsteht, sondern daß der Volksgeist aus ihr entsteht. Freilich wird eines durch das andere bedingt, denn es kann sich nichts im Volke verbreiten, was dieses nicht von vornherein haben will.“ (Balázs 1982, S. 46, Hervorhebung im Original) 2 Thomas Elsaesser macht auf Kracauers Nähe zu anderen freudianischen Marxisten wie Erich Fromm und Wilhelm Reich aufmerksam, da er die „Verschmelzung von psychischen und emotionalen Konflikten in Produkten der Massenkultur als typisch bürgerliche Verdrängung von politischen und sozialen Phänomenen und Ängsten ansieht.“ (Elsaesser 1997, S. 27) 1
1.1 Sechs Thesen zum kollektiven Gedächtnis
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an zahlreiche Arbeiten an, welche im Kapitel Forschungstand etwas differenzierter betrachtet werden. Die folgenden sechs Thesen gehen aus der Auseinandersetzung mit ihnen sowie aus der Analyse der sowjetischen, ost- und westdeutschen Filme zum Zweiten Weltkrieg hervor und bilden das gedankliche Gerüst dieser Arbeit. Die erste These besagt, dass die unterschiedlichen kommemorativen Praktiken, die in einer Kultur etabliert sind, nicht per se dem aktuellen kollektiven oder dem langfristig archivierten kulturellen Gedächtnis zuzuordnen sind. Der Begriff des kollektiven (sozialen, kommunikativen usw.) Gedächtnisses wird inflationär verwendet. Alison Landsberg verweist beispielweise auf die mittelalterliche Konsolidierung des Christentums in Europa durch die Implementierung verbindlicher ritueller Praktiken, welche die biblische Zeit zu beleben anstrebten (Landsberg 2004, S. 9). Geht es in diesem Fall zugleich um eine geteilte Erinnerung, die dann ein gemeinsames Gedächtnis bedingte? Oder ist erst die Errichtung jedes einzelnen Denkmals in einem Nationalstaat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichbedeutend mit der Entstehung eines nationalen Gedächtnisses, wie Aleida Assmann (1993) argumentiert? Die Kultur verfügt über vielfältige Strategien und Mechanismen der Regulierung von Vergangenheitsdeutung und -aufbewahrung, welche jedoch nicht zwangsläufig mit dem kollektiven Gedächtnis gleichzusetzen sind. Gerd Sebald differenziert beispielsweise unterschiedliche soziale Gedächtnisse, die in der Materialität der Dinge, welche wiederum auf bestimmte Weise medial verarbeitet werden, sowie in den sich wiederholenden Ritualen, die konventionelle Interpretationskontexte aktivieren, bestehen (Sebald 2014). In der Geschichtswissenschaft werden solche staatlich-institutionellen Maßnahmen als Erinnerungs-, Geschichts- oder Vergangenheitspolitik definiert. Diese Begriffe beschreiben solche Interventionen in die Formung der nationalen oder religiösen Vergangenheit viel treffender. Institutionelle Strategien beeinflussen mit Sicherheit auch Individuen, dennoch bedeutet die Existenz von Feiertagen oder Denkmalen noch lange nicht, dass sie unbedingt zum Bestandteil individueller oder kollektiver Erinnerungen werden müssen – dies würde ein kollektives Erleben eines Feiertages voraussetzen. Diese Maßnahmen haben keine Kontrolle über individuelle und kollektive Erinnerungsprozesse, auch wenn es Versuche des Staates und unterschiedlicher formeller und informeller Einrichtungen gibt, diese zu kanalisieren. Vor allem aber erzählen sie keine Geschichten. Und Geschichten, so eine der Kernthesen dieser Arbeit, sind die zentralen Bausteine des kollektiven Gedächtnisses. Die zweite These betrifft das Verhältnis von Medien und historischen Ereignissen. Medien im Allgemeinen und der Film im Besonderen sind gegenüber historischen Ereignissen nicht als sekundär zu betrachten. Gilles Deleuze entwickelt in seinen Überlegungen zum filmischen Denken die These, dass der Film seit seiner Entste3
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hung unsere Wahrnehmungen unwiderruflich verändert habe (z. B. Robnik 2009), während Jacques Rancières Neuaufteilung des Sinnlichen infolge der Etablierung des sogenannten ästhetischen Regimes die Kunst selbst als Quelle des Politischen zu denken ermöglicht (Rancière 2006). Wir können also nicht hinter die filmisch geprägten Strukturen zurückfallen. In der Historie gibt es dabei keine privilegierte Perspektive und keinen privilegierten Ort, aus der oder aus dem heraus der Lauf der Dinge beobachtet, erzählt und erinnert werden kann. Die meisten Debatten über Erinnerungen unterscheiden aber zwischen den authentischen Erinnerungen der Zeitzeug*innen, welche den Krieg erlebt haben, und den gewissermaßen sekundären Erinnerungen der nachfolgenden Generationen. Den ersten wird ein privilegierter Zugang zur Vergangenheit zugesprochen (z. B. Assmann, A. 1999), wobei das Problem der Teilnahme einzelner Individuen an dem historischen Geschehen, das erst nachträglich (wenn überhaupt) als solches eingestuft und angesehen wird, nicht thematisiert wird. Die meisten Subjekte haben nur sehr eingeschränkt an den heute memorierten Ereignissen der ‚Geschichte‘ bzw. am globalen Lauf der Dinge teilgenommen, und sie hatten nur einen partikularen Einblick in die größeren Zusammenhänge, die zudem aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen und der damals gültigen Diskurse anders und unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wurden. Erst nachträglich ging einiges davon in ‚Erinnerungen‘ über, wobei sich der Charakter der Ereignisse wesentlich veränderte. Die Gegenwart hat an sich keinen unmittelbaren gemeinsamen Sinn; dieser wird immer erst später in Form von Tendenzen, Diskursen und Zusammenhängen ausgemacht und heuristisch in die Form kausaler Abfolgen gebracht. Die Geschichtswissenschaft beobachtet post faktum und konstruiert den historischen Zusammenhang nachträglich, wobei sich das Narrativ mit der Bewertung der Ereignisse durch die Kultur verändert (z. B. Baberowski 2005). In Anlehnung an Louis Althusser und in polemischer Abgrenzung von der Dekonstruktion formuliert der marxistische Literatur- und Kulturtheoretiker Frederic Jameson: Geschichte ist kein Text, keine Narration, weder als Schlüsselerzählung noch sonstwie, sondern sie ist uns als abwesende Ursache unzugänglich, es sei denn in textueller Form: somit erfolgt unser Zugang zu Geschichte und zum Realen selbst notwendigerweise mittels ihrer vorherigen Textualisierung, d. h. ihrer Narrativierung im politischen Unbewußten. (Jameson 1988, S. 29–30)
Die Formen der medialen Bewertung und Darstellung verleihen dem Geschichtlichen also erst nachträglich einen Sinn. Deshalb müssen die – theoretisch zweifelsohne attraktiven – Modelle des prothetischen Gedächtnisses (Landsberg 2004), der Postmemory (Hirsch 1997) oder der Nachbildungen (Ebbrecht 2011) erweitert bzw. korrigiert werden, da sie die Medialität des kollektiven Gedächtnisses erst in den nächsten Generationen, vorwiegend in der Gegenwart, diagnostizieren und eine
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Zäsur zwischen der erlebten und der vermittelten Historie postulieren. Das Wesen des geteilten kollektiven oder nationalen Gedächtnisses ist jedoch, dass es generell, gewissermaßen ‚an sich‘ schon prothetisch ist – und nicht erst in jüngster Zeit. Gerade aufgrund der „abwesenden Ursache“ der „Geschichte“ schon im Moment ihres unmittelbaren Erlebens sowie vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Schauplätze – wenn solche überhaupt existieren –, an denen sich die Akteur*innen befanden, muss die gemeinsam erlebte Erfahrung sinnvoll geordnet werden. Und dies ist allein durch Medien möglich. Der konstitutive Wechselbezug von Kriegstechnologien, Filmtechnik und Wahrnehmung des Krieges wurde bereits von Paul Virilio überzeugend nachgewiesen (Virilio 1986). Aber nicht nur auf einer medientechnischen Ebene sind Kino und Krieg miteinander verknüpft. Die Kameramänner der Deutschen Wochenschau wussten bereits um das Problem der Darstellung bzw. Nicht-Darstellbarkeit des Krieges (Hickethier 1989), das sie mit ihren Bildern zu bewältigen versuchten.3 Denn der Krieg ließ sich nicht unmittelbar beobachten: An der Front war es in der Regel laut, die Verhältnisse waren unübersichtlich, und Entscheidendes oder gar Historisches gab es zumeist nicht zu sehen. Der Feind war zu weit entfernt, die Geschosse flogen viel zu schnell, sodass es kaum möglich war, den richtigen Moment für die Dreharbeiten zu finden. Hinzu kam, dass sich die Front über viele Kilometer hinzog und daher kein Überblick über das Geschehen herzustellen war. Informationen waren niemals zuverlässig, wurden sie doch oft aus strategischen oder ideologischen Gründen zurückgehalten oder verändert. Außerdem handelten die Filmemacher*innen im Dienste der Kriegspropaganda (Barkhausen 1982; Hoffmann 1988; Keilbach 2010, S. 38–44). Sie wollten den Krieg von seiner „Schokoladenseite“ zeigen, wie es der ehemalige Reichsfilmintendant Fritz Hippler einmal gegenüber den Filmemachern Niels Bilbrinker und Thomas Tielsch ausdrückte (vgl. dazu Voester 1990). Judith Keilbach spricht in diesem Zusammenhang von ideologischen Signaturen, die Bilder in sich tragen (Keilbach 2010, S. 44–50). Letztendlich war der Zweite Weltkrieg aufgrund der Involvierung vieler Staaten und vieler Schlacht- und Kampfplätze allerorts „ein anderer gewesen“ (François 2005, S. 14). Ein homogenes und sinnvolles Gesamtbild des Krieges besaßen somit nicht einmal diejenigen, die unmittelbar an ihm teilnahmen. Deswegen existierten die gegenwärtigen Vorstel-
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Diese Information stammt aus Interviews mit Werner Bergmann (später Kameramann von Konrad Wolf und anderen DEFA-Regisseuren), Hans-Jürgen Musehold (später in der NDR tätig), Jost Graf von Hardenberg (produzierte nach dem Krieg Dokumentarund Industriefilme) und Heinz Tödter (war u. a. für den WDR in Vietnam) aus dem Dokumentarfilm Schuss Gegenschuss (BRD 1990, R. Niels Bilbrinker/Thomas Tielsch). 5
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lungen über den Krieg oder später Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg nicht jenseits des Medialen (Frontberichte in Zeitungen und Radio, Literatur, Filme). Die Medien, in diesem Fall vor allem der Spielfilm, haben diese Erinnerungen dabei ihrer spezifisch ästhetisch-technischen Beschaffenheit gemäß geformt und Historie und Fakten im Akt der Bildgebung gewissermaßen erschaffen: Der Film setzte die „Bilder in die Welt“, die den Krieg erinnerbar machten (Bredekamp 2005, S. 30), er gab den Rahmen vor, innerhalb dessen der Krieg und die Handlungen einzelner Akteur*innen sinnvoll erscheinen. Einzelne Filme liefern Bilder, Motive, Topoi (Welzer et al. 2002), mit denen kollektive und individuelle Geschehnisse geformt und erinnert werden können. Diese Rahmen sind zum einen mit Butler als beweglich, dynamisch und pluralistisch zu denken (Butler 2010): Allein die große Anzahl von Filmen zu diesem Thema produziert einen anhaltenden Erinnerungsexzess – einen Überschuss an Sinnmustern, Bildern, Deutungsangeboten, welche intra- und intermedial zirkulieren und daher das Gedächtnis permanent weiter ausdifferenzieren und an aktuelle politische Situationen anpassen. Zum anderen wird aus diesem Grund mehr erinnert, als notwendig ist. Maurice Halbwachs (1985, S. 368) und in seiner Folge Jan Assmann (1992, S. 46) gehen von einer Erinnerungsökonomie aus, die das Überflüssige für Identitätsdiskurse vergessen lässt. Der Film als populäres Medium jedoch steht ständig unter dem Druck des Neuen, weshalb immer weiter neue Bilder produziert, alte modifiziert und rekombiniert, Sinnangebote nuanciert werden müssen. Die alten Filme blieben dabei erhalten und zirkulieren bis heute neben den neuen. Sie leben weiter durch Retrospektiven, Wiederausstrahlung im Fernsehen, durch ihre Verbreitung im Internet oder auf DVD. Außerdem stellt es ein Spezifikum des Films dar, die Geschichte nicht einfach zu erklären, sondern sie erleben zu lassen. Ständig suchen sie einen neuen affektiven Anschluss an Identitätsdiskurse, streben sie nach einer immersiven Involvierung der Zuschauenden. Das kollektive Gedächtnis ist mehrfach geschichtet, unterschiedlich adressiert und paradox gebaut, da Altes und Neues in seinem Rahmen koexistiert und zirkuliert. Die darauf aufbauende dritte These besagt deshalb, dass das kollektive Gedächtnis heutzutage ein filmisches Phänomen darstellt, wobei es als Medium verstanden werden soll, das andere Medien einschließt und sich in einer Interaktion mit kulturellen Diskursen befindet. Die Verschärfung des Gedächtnis-Problems und die Intensivierung der Erinnerungen an den Holocaust (Assmann, A. 2000, S. 42–46) mit einem zunehmenden zeitlichen Abstand zum Krieg deuten darauf hin, dass es sich eben um ein mediales Phänomen handelt: Im Laufe der Zeit wurden immer mehr Bilder akkumuliert und verschiedene Deutungsmuster ausgehandelt. Jedes historische Ereignis (sofern sich überhaupt von einem prämedialen Ereignis sprechen lässt) (Nanz und Pause 2015) wird durch die zu dieser Zeit populären Medien verarbeitet. Kollektive Erinnerungen an das konkrete historische Ereignis nehmen
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als Folge die Form dieser gegenwärtigen Medien an. Allerdings muss dabei angemerkt werden, dass es je nach Medium um eine spezifische Art der Speicherung und Memorialisierung geht, sodass es nicht immer möglich ist, über das kollektive Gedächtnis im Sinne eines geteilten, weit verbreiteten, unifizierten Wissens zu sprechen. Beispielsweise erzeugt das Fernsehen kein kollektives Gedächtnis im Sinne eines geteilten Wissens. Es ist auch kein Zufall, dass die Theorien des Fernsehgedächtnisses nicht so sehr seine Sinnangebote betrachten, sondern die Format- bzw. Systembeschaffenheit (Engell 2010, 2005; Keilbach 2005). In diesem Fall geht es aber um eine spezifische Medialität des Fernsehens und nicht mehr um das kollektive Gedächtnis. Sobald man sich mit kollektiven Erinnerungsprozessen beschäftigt, wird die Analyse der Spiel- und Dokumentarfilme wichtig (Keilbach 2010). Die Literatur, die durchaus auch ein Wissen der Epochen und deren Mentalitäten archiviert und dadurch die Grundlage des kulturellen, langfristigen Gedächtnisses bildet – Jan Assmann hat dies ausführlich beschrieben (Assmann, J. 1988) –, ist beispielsweise zu differenziert, in ihren Darstellungen zu detailliert und im individuellen Stil der Autor*innen zu spezifisch, um lebendige Erinnerung formen zu können – und so nähert sie sich eher dem Wesen der Historiografie an als jenem des Gedächtnisses (Koschorke 2012, S. 34–35). Unter Umständen kann die Literatur zumindest partiell zum Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses werden, wenn ein verbindlicher literarischer Kanon besteht und Werke beinhaltet, die auch mehr oder weniger von allen oder zumindest von vielen gelesen werden. Beispielsweise verfügte die UdSSR dank des zentralisierten Schulprogramms und der verbindlichen Schullektüre über ein solches geteiltes literarisches Wissen, das sich kollektiv vor allem in zahlreichen in der Öffentlichkeit kursierenden Witzen und Anspielungen niederschlug. Memoriert wurden nur zentrale Figuren und ganz spezifische kleine Ausschnitte oder Fakten aus den Werken, welche dann häufig anekdotisch und obszön umgedeutet wurden. Dieser Umstand weist gerade darauf hin, dass die Literatur zu umfangreich und zu mehrdeutig ist, als dass sie kollektiv in gleicher Weise wahrgenommen werden könnte. Nicht umsonst ging aus dem Gießener Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen“ trotz der Fülle der Forschungsarbeiten kein gemeinsames Erinnerungsmodell hervor – die Begründung kann in dem spezifischen Wesen literarischer Formate gesehen werden. Der Film machte hingegen ein geteiltes Wissen möglich. Der Aufstieg des Films zum Medium kollektiver Erfahrungen wurde dabei diskursiv vorbereitet und ausgehandelt. Filmkritiker*innen und -forscher*innen, Filmschaffende und die Politik haben diese Funktion des Kinos gerade in den 1930er Jahren, also kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, bestimmt: Kontrolle und Funktionalisierung der Filmindustrie im Stalinismus und im Nationalsozialismus sind bekannt. Im Zuge dessen wurde dem Kino die Aufgabe zugewiesen, als politisches Medium der Gesellschaft oder, 7
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nach Thomas Elsaesser (1999, S. 38–41), als historisches und politisches Imaginäres zu fungieren. Elsaesser konnte für das Kino der Weimarer Republik nachweisen, dass seine Experimente und seine Deutungen in der Öffentlichkeit und bei den Intellektuellen dazu geführt hatten, das Kino als das historische Imaginäre zu verstehen, an dem eine Auseinandersetzung mit Mentalität und Politik (aber auch mit der Ästhetik) dieser historischen Periode möglich wurde. Das gilt für den sowjetischen Film und später für den DEFA-Film umso mehr – die Auseinandersetzung mit der Filmästhetik in der Formalen Schule, der Staatsauftrag an das Kino, neue Menschen zu erschaffen, sowie die Aushandlung einer verbindlichen künstlerischen Methode des Sozialistischen Realismus deuten auf die politische Gewichtung des Films hin. Daraus ergibt sich die vierte These: Das Erinnerungsleitmedium des Zweiten Weltkrieges, um den die Erinnerungskonzepte zum größten Teil entwickelt worden sind, ist vorwiegend der Spielfilm, wobei es in dieser Hinsicht durchaus einem historischen Wandel unterliegt. Zum Beispiel errang in Deutschland seit der Jahrtausendwende der Dokumentarfilm in diesem Prozess immer mehr Raum, wobei dokumentarische Werke wie Du und mancher Kamerad (DDR 1956, R. Andrew und Annelie Thorndike), Gewöhnlicher Faschismus [Обыкновенный фашизм] (UdSSR 1965, R. Michail Romm), Hitler – eine Karriere (BRD 1977, R. Joachim Fest/Christian Herrendoerfer) oder die mehrteilige Dokufiktion Siegesstrategie [Стратегия победы] (UdSSR 1984, R. Viktor Rabinovič u. a.) in den jeweiligen Ländern viel rezipiert wurden und zweifellos ein Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses sind. Sie reproduzieren jedoch zum größten Teil die Narrationsstrukturen der Spielfilme über den Zweiten Weltkrieg, wobei eine Untersuchung der genauen Verhältnisse zwischen dem Spiel- und dem Dokumentarfilm, ebenso wie zwischen dem Spielfilm und dem Fernsehen leider den ohnehin schon sehr großen Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Beim Vergleich der Erinnerungen an den Ersten und Zweiten Weltkrieg stellt sich heraus, dass es kein Zufall ist, dass der Erste Weltkrieg – trotz der ausführlichen und zahlreichen historischen Untersuchungen, Ausstellungen und Dokumentationen zu Jubiläumstagen – hinter den Zweiten zurückgefallen ist. Die Geschichtswissenschaft erklärt dies durch die größere Bedeutung des Zweiten Weltkrieges, die in der Öffentlichkeit nicht zuletzt durch die mediale Verarbeitung diese Stellung erhalten hat. Mir scheint es jedoch vor allem an der filmischen Aufarbeitung zu liegen, die sich viel weniger mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt und somit das Kriegsbild in Bezug auf die Gegenwart und das gültige Identitätskonzept nicht regelmäßig und im gleichen Maße aktualisiert hat. In den 1920er Jahren war die Kinoindustrie nicht so weit ausgebildet und differenziert, dass ihr schon die Rolle der Etablierung und Verbreitung nationaler Kontexte hätte zugesprochen werden können. Obwohl einzelne Beispiele existieren, so etwa der Film The Birth of a Nation [Die Geburt
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einer Nation] (USA 1915, R. D. W. Griffith), der den amerikanischen Bürgerkrieg thematisiert, galt das Kino zunächst als kommerzielles Unterhaltungsmedium, weswegen vor allem Themen verfilmt wurden, die (möglichst international) finanziellen Erfolg versprachen. Der Zweite Weltkrieg löste hingegen eine umfassende filmästhetische Arbeit an der Vergangenheit aus, die zur Herausbildung eines geteilten Wissens über die Geschichte geführt und somit ein Phänomen geprägt hat, das in der Tat das ganze Kollektiv umfassen kann. Hierfür sind die besonderen Eigenschaften des Mediums selbst von zentraler Bedeutung: Die Einprägsamkeit und Evidenz filmischer Bilder, seine Fähigkeit, kompakte Geschichten zu erzählen, und der Bezug zur Gegenwart. Der Effekt, nach dem Anschauen einer Literaturverfilmung unabhängig von der Bewertung des Films die Figuren des Romans nur noch an dem Äußeren und dem Verhalten der jeweiligen Schauspieler*innen orientiert denken zu können, ist allseits bekannt. Diese eidetische Eigenschaft des Films okkupiert zum einen das Bewusstsein, worüber sich die meisten Forscher*innen einig sind, prägt es affektiv und bewegt die Zuschauenden zur Identifikation. Anton Kaes spricht von der Besatzung des öffentlichen Gedächtnisses mit Filmbildern (Kaes 1987, S. 208). Peter Jansen vergleicht die Wirkung des Films mit dem Staatsroman des Barock (Jansen 1979, S. 23).4 Horst Bredekamp sieht den ‚Wahrheitseindruck‘ der filmischen Bilder in der nachträglichen Suggestion der Teilhabe am Geschehen und in der Überwindung von Zeitlichkeit insgesamt begründet (Bredekamp 2005, S. 29). Hermann Kappelhoff unterstreicht die politische Wirksamkeit des Kriegsfilms in seinem affektiven Potenzial (Kappelhoff 2013, 2016). Generell entwickelt er das Konzept des Kinos als Erfahrungsraum, in dem die Zuschauenden das Filmbild imaginativ vollenden (Kappelhoff 2006). Phänomenologisch beschreiben diesen Vorgang Vivian Sobchack mit dem Konzept des cinästhetischen Köpers, der sich aus der vorreflexiven sinnlichen Prägung des Kinos und der Synästhesieerfahrung der Zuschauenden zusammensetzt (Sobchack 2004), und Christiane Voss mit dem Konzept des resonanten Leihkörpers, der an der Schnittstelle zwischen der Leinwand und den Zuschauenden entsteht (Voss 2013): Die Zuschauenden stellen einen somatischen Bedeutungsraum her, „der dem zweidimensionalen Leinwandgeschehen dadurch eine dritte Dimension verleiht, indem sich das Filmgeschehen darin sensitiv-affektiv einlagern kann.“ (Ebd., S. 117–118) Alison Landsberg spricht von einem affektiven Engagement in die Vergangenheit (Landsberg 2016, S. 10) und beschreibt die Verkoppelung oder gar Synthese zwischen medialen und individuellen Erinnerungen als prothetisches 4
Der Staatsroman stellt ein Genre dar, in dem mithilfe aktueller politischer, sozialer und wirtschaftlicher Schriften ein Staatsideal entwickelt wird. Im Barock waren vor allem utopische Darstellungen populär. 9
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Gedächtnis, wobei kollektive Bilder und Deutungen in das individuelle Gedächtnis plastisch integriert werden (Landsberg 2004, S. 20–21). Thomas Elsaesser weist auf die Medialität der individuellen Erinnerungen und auf die Ununterscheidbarkeit zwischen Medienbildern der Geschichte und individuellen Erinnerungen hin (Elsaesser 2002, S. 20), die auch Harald Welzer in seinen zahlreichen empirischen Untersuchungen bewiesen hat (Welzer 2005; Welzer et al. 2002). Daher spricht Thomas Elsaesser letztendlich von „Monumenten aus Zelluloid“ (Elsaesser 2013, S. 67). Der US-Historiker Robert A. Rosenstone geht hinsichtlich der filmischen Inszenierung der Geschichte von einer „special shared livingness“ aus (Rosenstone 1993, S. 200; auch Sobchack 1996). Auch die Popularität filmischer Inszenierungen von Geschichte lässt sich vor diesem Hintergrund besser begreifen. Prägend sind nicht nur die Bilder allein, sondern vor allem Bilder in einem sinnvollen Kontext, also die spezifisch filmische kompakte Erzählung, in die sie integriert werden. Der Film kann in kurzer Zeit komplexe historische Zusammenhänge vermitteln und somit ein allumfassendes, zugleich jedoch allen zugängliches Bild ganzer Epochen erschaffen. Was in der Forschung und der Filmkritik als Reduktion von Komplexität, Banalisierung oder gar Vulgarisierung des Historischen verdammt wurde, stellt eine der wichtigsten und produktivsten Leistungen des Kinos dar. Diese spezifisch filmische Fähigkeit basiert auf Stereotypie, Serialität und Wiederholung (Schweinitz 2006), welche zugleich auch die wirksamsten psychischen Mechanismen des individuellen Gedächtnisses darstellen. Die meisten Studien zu Erinnerungen heben die konstitutive Rolle von Wiederholungen und Serialität hervor (Esposito 2002; Keilbach 2010; Sebald 2014). Die kompakte, schnelle Sinngebung besitzt durch seine Visualität zudem einen hohen Evidenzgrad. Auch wenn die Szenen nachgestellt wurden, haben doch zumindest die Darsteller*innen sie unmittelbar erlebt und somit für die Zuschauenden die mögliche Umsetzbarkeit der Vergangenheit unter Beweis gestellt.5 Ein letzter wichtiger Aspekt besteht darin, dass die Filme die Zuschauenden kraft ihrer Sprache und ihrer Bilder ansprechen: Sie reproduzieren Perspektiven aktueller kultureller Diskurse sowie gültige Wahrnehmungsformen, politische Kontexte und Identitätskonzepte, denn jeder Film ist, wie gebrochen auch immer, auf die Zeit seiner Entstehung bezogen (Mai und Winter 2006, S. 10f.). Die Historie wird daher plastisch als Teil aktueller Identitätsangebote aufbereitet und erscheint auf die Gegenwart bezogen. Judith Keilbach hat dies für die Fernsehgeschichtsdarstellungen mit Verweis auf Walter Benjamin mit dem Begriff der dialektischen Bilder 5
Vgl. dazu die Auseinandersetzungen von Jean-Pierre Oudart mit dem Begriff des Realitätseffekts [l’effet de réalité] oder von Peter Wuss mit dem Begriff des Authentie-Effekts (Oudart 1971, S. 19; Wuss 1993, S. 249).
1.1 Sechs Thesen zum kollektiven Gedächtnis
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gefasst (Keilbach 2010, S. 251), die der Vergangenheit und der Gegenwart gleichzeitig angehören (Benjamin 1991b, S. 701). Die filmische Inszenierung der Vergangenheit verdeckt mal mehr, mal weniger diese dialektische Spannung und lässt das Gegenwärtige als bereits im Vergangenen Bestehendes erscheinen, wodurch herrschende Ideologien und Identitätskonzepte ihre aktuelle Daseinsberechtigung erhalten. Spricht man allerdings über den Film als Medium kollektiver Erinnerungen, darf eine spezifische Eigenschaft des Films nicht vergessen werden: die Abhängigkeit seiner (Erinnerungs-)Formen von den jeweiligen Genres (vgl. Augenblick 61 (2015)). Je nachdem, ob die Untersuchung des kollektiven Gedächtnisses anhand von Historienfilmen, Biopics oder Sci-Fi-Filmen durchgeführt wurde, gestaltet sich dieses Gedächtnis anders. Die fünfte These besagt daher, dass Genres eine jeweils eigene symbolische Kraft in der Kultur besitzen und somit nicht mit den Filmen über den Zweiten Weltkrieg verglichen werden können, wenn das kollektive Gedächtnis thematisiert wird. Der Zweite Weltkrieg ist und bleibt bis heute ein äußerst umkämpftes politisches Feld, das in Zusammenhang mit der Struktur aktueller europäischer Staaten und herrschender Ideologien zu denken ist, welche sich über eine entsprechende Interpretation dieses Krieges legitimieren. Ändert sich die politische Situation, wird vor allem der Zweite Weltkrieg neu verhandelt, sein Status in Bezug auf aktuelle Bedürfnisse überprüft und überdacht. Für die nationale Selbstvergewisserung neu gegründeter unabhängiger Staaten diente vor allem die Geschichte als Argument, was ebenfalls zur ständigen Revision der Deutung des Zweiten Weltkrieges beiträgt (Binder et al. 2001, S. 9). Das lässt sich etwa an den kulturellen Debatten in allen europäischen Ländern nach dem Mauerfall und dem Zerfall der UdSSR und im Zuge dessen des Warschauer Paktes (ebd.), nach der Entstehung der EU (vgl. Leggewie 2009, S. 81–93) oder in Folge des EU-Beitritts der Staaten Mittelosteuropas im Jahr 2004 nachvollziehen. Überall wurden hier Debatten über transnationale und gesamteuropäische Erinnerungen und, damit einhergehend, kontroverse Diskussion über den internationalen Abgleich von Erinnerungen ausgelöst (Troebst 2013). Daraus ergibt sich auch die kulturelle Relevanz des Films über den Zweiten Weltkrieg, ja seine besondere Stellung in der Gesellschaft: Diese Filme gehören einem besonders teuren Genre an, und ihre Anzahl deutet auf eine besondere Aufmerksamkeit hin, die der Staat diesem Genre zukommen lässt. Besonders in der UdSSR und der DDR, wo Kriegs- und Antifaschismusfilme regelmäßig unabhängig von der öffentlichen Nachfrage produziert wurden, besaßen Kriegsfilme den Status eines Staatsgenres, in dem aktuelle politische Identitäten verhandelt werden. Aber auch in der BRD wurde der Kriegsfilm
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als politisches Genre wahrgenommen und immer in Bezug auf aktuelle politische Diskussionen gelesen.6 Seine gesellschaftliche Bedeutung kann zudem an öffentlichen Debatten in allen drei Staaten abgelesen werden, welche die Werke auslösten. Kriegsfilme7 werden immer an ihrem Authentizitätsgrad und ihrer Realitätsnähe gemessen, also an der Frage, ob sie den Krieg ‚wahrheitsgetreu abgebildet‘ haben – was immer auch darunter zu verstehen ist. Aufgrund seines staats- und identitätsstiftenden Charakters steht dieses Genre unter einem enormen Druck, ‚Wahrheit‘ zu produzieren und einen authentischen Zugang zur Vergangenheit herzustellen. Die sechste und letzte These der Arbeit betrifft das Verhältnis von offiziellen und alternativen Erinnerungen. Ist es dem Film möglich, die Erinnerungen der Opfer zu memorieren? Wer überhaupt macht mit dem Film und im Film Geschichte? Walter Benjamin weist in seinen Notizen zur Geschichte darauf hin, dass in der offiziellen Historiografie in der Regel Opfer, Unterdrückte und Ausgegrenzte keinen Platz finden. Die Stimmen der Opfer der Gewalt, der Verfolgung und der Diktaturen blitzen nur „im Augenblick einer Gefahr“ auf und machen es so möglich, die von Siegern und Tätern geschriebene Historie gegen den Strich zu lesen (Benjamin 1991b).8 Diese Überlegungen scheinen vor allem das Medium der Literatur zu betreffen, in dem einzelne Autor*innen Gewaltmomente privat dokumentieren können, die in der offiziellen Selbstdarstellung des Staates verschleiert oder gänzlich ausgelassen werden. Da der Film kostspielig ist und seine Produktion oft gerade von jenen Staats- und Machtstellen abhängig ist, die die Geschichte der Täter*innen und Sieger*innen schreiben, kann er nicht auf diese Weise die Vergangenheit memorieren oder die Gegenwart zeigen, wie es Walter Benjamin für die Geschichtswissenschaft gefordert hat. Und wurde der Holocaust tatsächlich 6 Vgl. z. B. die Einschätzung des westdeutschen Kriegsfilms in der Kriegsfilmwelle der 1950er Jahre, in der Filme nur in Bezug auf die Remilitarisierung der Gesellschaft diskutiert wurden (Schmieding 1961, S. 35; Kreimeier, 1973, S. 108; Bredow 1975, S. 316; Wegmann 1980, S. 166–167). 7 Allerdings werden hier unter dem Genre Kriegsfilm alle Filme zum Zweiten Weltkrieg subsumiert bzw. wird der Begriff Genre umgekehrt eher heuristisch verwendet, nicht als eine kategoriale Definition, mit der die Zugehörigkeit der Filme zu einem Genre bestimmt werden soll. (Vgl. dazu auch Schweinitz 2002) 8 „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben.“ (Benjamin 1991b, S. 695)
1.1 Sechs Thesen zum kollektiven Gedächtnis
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von den Täter*innen so lange ‚weggeschrieben‘, bis die Geschichte der Opfer in der deutschen oder sowjetischen Kultur aufblitzte? Welchen Status nehmen dann die Bilder ein, mit denen die Nazis selbst ihre Verbrechen dokumentiert haben, welche also den Täterblick vergegenwärtigen? Ist in diesem Zusammenhang eine Geschichte der Opfer trotzdem möglich? Die Darstellung der Geschichte der Opfer im Film ist möglich, jedoch in einer anderen Form als in der Literatur. Opferdarstellungen verwenden erfolgreich eine bereits bei der Darstellung von Täter*innen entwickelte oder von Täter*innen selbst erschaffene Ikonografie. Der Film kann die ideologischen Signaturen des Bildmaterials entsemantisieren oder gar umcodieren, wie es Judith Keilbach für das Fernsehen beschrieben hat (Keilbach 2010, S. 44–45). Im Prinzip aber braucht der Spielfilm keine ‚originellen‘ Bilddokumente, um die Geschichten der Opfer zu erzählen, wie es beispielsweise gegenwärtig in Russland zu beobachten ist. In Filmen und Serien wurde in den letzten zwei Jahrzehnten ein kritisches Bild des Stalinismus erschaffen, und einige seiner Opfer wurden auf unterschiedliche Weise memoriert. Dabei konnte kein Original-Bildmaterial verwendet werden, da die stalinistischen Funktionäre ihre Verbrechen nicht bildlich dokumentiert hatten. Stattdessen wurden die Erinnerungen unter Zuhilfenahme gerade der sowjetischen Ästhetik und bestehender filmischer Holocaust-Bilder entwickelt (Gradinari 2016). Die Besonderheit des filmischen Mediums besteht darin, dass die Perspektive der Opfer und somit eine andere Perspektive auf die Historie durch Auseinandersetzungen mit bestehenden Bildern und Motiven produziert wird. Anton Kaes hat die US-amerikanische Mini-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin J. Chomsky) hervorgehoben, da sie die zuvor in der Kultur und der Geschichtswissenschaft verdrängte Judenermordung ins öffentliche Bewusstsein rückte (Kaes 1987, S. 29–30). Diese Feststellung, die dem Empfinden der Öffentlichkeit Ende der 1970er Jahre entspricht, stimmt aus filmgeschichtlicher Perspektive allerdings nicht. Die Serie verlieh einem neuen Erinnerungsparadigma internationale Gültigkeit, begründete dieses jedoch keineswegs. Ihre historische Leistung bestand darin, die Erzählperspektive der Täter*innen um diejenige der Opfer zu erweitern. Eine solche Verschiebung wurde möglich, weil zahlreiche Filme die den Opferbildern entsprechenden Narrative bereits implizit entwickelt und ausgehandelt hatten, wodurch die Zuschauenden auf das Thema vorbereitet worden waren (genauer wird dieser Punkt im Kapitel Trauma und Geschichte besprochen). Diese Entwicklung war möglich, da der Film eine spezifische Form der Konfliktgestaltung bereitstellt: Wo sich Positionen gegenüberstehen, werden diese in der filmischen Rekonstruktion in der Regel beide inkludiert, da der Konflikt zumeist antagonistisch gestaltet wird. Wenn es um die Täter*innen geht, werden in der Regel auch ihre Opfer gezeigt, wenn es um aktive Teilnehmer*innen der Geschichte geht, 13
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1 Einleitung
dann gibt es immer auch die Position der Zeug*innen. Mitläufer*innen werden mit Widerständler*innen konfrontiert usw. Deswegen geht es im Film vor allem um eine Ausdifferenzierung der Positionen und den Fokus des Erzählens: So können die neue Filmästhetik und damit auch die Subjektkonstruktionen der Opfer und der Verfolgten in Auseinandersetzung mit der Tradition Schritt für Schritt entwickelt und erprobt werden. Das kollektive Gedächtnis als filmisches Produkt zeichnet sich also durch seine eidetischen Eigenschaften, durch die Gegenwart der Vergangenheit und die Gleichzeitigkeit mehrerer Vergangenheitsversionen, durch die Abhängigkeit der Darstellung von bestimmten Genre-Konventionen, ferner durch ein Akkumulations- und Überschussprinzip, Intertextualität, Intermedialität und Selbstreflexivität, räumliche Ordnung und eine Unifikation der Deutungsmuster sowie durch Wiederholung und Stereotypie aus. Das Vergessen wird nicht nur durch De- und Resemiotisierung (Lachmann 1993, S. XVII–XXVII), Überinformation (Eco 1988) oder reine politische Funktionalisierung, sondern auch durch den Ausschluss bestimmter Kontexte produziert, der durch medienästhetische Formen bedingt sein kann – vor allem durch die in dieser Arbeit analysierten Narrationstypen.
1.2
Ein Modell des kollektiven Gedächtnisses
1.2
Ein Modell des kollektiven Gedächtnisses
Funktioniert das kollektive Gedächtnis als Film und durch den Film, so sollten dem Modell Überlegungen vorausgeschickt werden, welche die ästhetischen Bedingungen dieser filmbasierten kollektiven Erinnerung diskutieren. Zum einen erscheinen jene spezifischen Identifikationsprozesse von Bedeutung, welche individuelle Identitätskonzepte an kollektive Erfahrung binden und somit die historischen Kontexte als Bestandteile individueller Erfahrung darstellen. Vor allem spielt die generische Produktion von Allegorien eine zentrale Rolle. Zum anderen wird das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Film betrachtet, da der Film psychoanalytische Konzepte auf kollektive und vor allem historische Prozesse übertrug und somit ein kollektives Trauma möglich machte, das allein als filmisch-diskursives Konstrukt zu verstehen ist. Die Kollektivität der Identitätsangebote und die Diskursivität des filmischen Wissens bilden die Grundlage für ein Modell des kollektiven Gedächtnisses. Drei wichtige filmische Funktionen spielen für das kollektive Gedächtnis dabei eine zentrale Rolle. Erstens stiften sie den Sinn des Krieges, der sich mehr oder weniger permanent im Prozess der Aushandlung befindet und dabei immer auf die aktuellen politischen Diskurse bezogen ist, wobei die Darstellungsformen oft
1.2 Ein Modell des kollektiven Gedächtnisses
15
überdauern und mit neuen Kontexten gefüllt werden.9 Zweitens bieten die Filme Bewältigungsmechanismen an, mit denen die Gewalt des Krieges überwunden und eine Beruhigung der Zuschauenden anvisiert wird. Drittens rufen sie Emotionen hervor, laden zur Identifikation ein und produzieren ‚unvergessliche‘ Affektbilder, die im Grunde genommen als kleine Memorialobjekte fungieren und in der Kultur auch außerhalb des filmischen Kontextes zirkulieren können. Kriegsfilme sind daher immer schon ambivalent: Einerseits sollen sie das Andenken an die kollektive Gewalt bewahren, ja diese erst als solche erfahrbar machen. So setzen die Filmemacher*innen Spezialeffekte ein, bemühen sich um eine besonders tragische Handlungsentwicklung und inszenieren Schockmomente, die den gesellschaftlichen Ausnahmezustand zum Ausdruck bringen und diesen zugleich als emotionales Erlebnis darbieten. Andererseits bändigen sie die auf dem Bildschirm entfesselte Gewalt, um eine Verbindung zur Gegenwart herzustellen. Dazu dient beispielsweise die Sinngebung der inszenierten Gewalt oder auch die Verlagerung der Handlung in die Vergangenheit. Der rezeptionsästhetischen Aufteilung entsprechen zugleich etablierte filmische Mechanismen, auf die das Medium Kino von der Produktionsebene bis hin zur Rezeption ausgerichtet ist. Die Sinnkonstitution beruht hauptsächlich auf den narrativen Strukturen der Filme, die die historischen Stoffe selektieren und ihre Komplexität reduzieren, diese zugleich aber auch dramatisieren, also unter Rückgriff auf bereits vorhandene cineastische Traditionen ästhetisch gestalten. Diesen narrativen Strukturen, mit denen die Sinnkonstitution umgesetzt wird, widmet sich das größte analytische Kapitel dieser Arbeit, das die Rahmungen der Erinnerungskulturen wie ihre Tradierung und Modifizierung systematisch untersucht. So ist beispielsweise für die sowjetische Geschichtsdarstellung und die DEFA-Produktionen das Großgeschichts-Narrativ („Narration von oben“) typisch, das scheinbar allumfassend erzählt und den Sozialismus mithilfe von Traditionen legitimiert. Die BRD erfasst hingegen ihre Vergangenheit in erster Linie als Fragment – ein Ergebnis der Delegitimierung der ‚positiven‘ NS-Erfahrung vor dem Krieg und der militärischen Erfolge der Wehrmacht. Allerdings können Narrative von Land zu Land wandern, sobald die ideologischen Prämissen oder die Erinnerungspolitik sich ändern, und somit dazu beitragen, dass diese Ideologien gerade sichtbar werden. Im ersten theoretischen Kapitel soll daher ein von strukturalistischen und neoformalistischen Ansätzen unterschiedenes kulturwissenschaftliches Modell des Narrativen entwickelt werden, das die Funktionen der unterschiedlichen Erinnerungskulturen auf ihre Sinnkonstitution hin beschreibbar macht. 9
Auf die Herstellung des Sinnes im Krieg durch den Film haben viele Studien hingewiesen (vgl. z. B. Rother 2001; Paul 2003; Klein et al. 2006; Heller et al. 2007; Röwekamp 2011). 15
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1 Einleitung
Mit der Bewältigung sind innerfilmische Strategien (Gestaltung von Mise-en- Scène, Figurenkonstellation, Handlungsorte usw.) gemeint, die Gewalt zu bändigen, Normalisierungsprozesse einzuleiten und geschichtliche Kontinuität aufzubauen ermöglichen (zum Beispiel die Inszenierung eines unsterblichen Kollektivs oder die Codierung der Opfer als weiblich). Ein spezifisch bundesdeutscher Bewältigungsmechanismus besteht beispielsweise darin, Frauenfiguren zum Symbol historischer Kontinuität zu erheben. Ihre Teilnahme am Krieg wurde ‚vergessen‘, womit sie vom Nationalsozialismus abgespalten werden und einen neuen, ‚reinen‘ Anfang legitimieren können. In der UdSSR tauchen Frauenfiguren im Kriegsfilm nur selten auf, ebenfalls trotz der Tatsache, dass über eine Million Frauen unmittelbar am Krieg beteiligt waren – als Pilotinnen, Schützinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern, aber auch als Köchinnen und Wäscherinnen. Stattdessen wurde ein männlicher Adoptionsmythos als Figur der Ermächtigung von Männlichkeit etabliert, der sich gerade durch die Auslöschung des Weiblichen behauptet. Der Männermangel, der durch den Krieg entstand, wird in mehreren Filmen mit Fantasien der Selbstreproduktion des Männlichen beantwortet. Bewältigungsstrategien können auch in Erinnerungsdiskursen außerhalb des Films wirksam werden, wie etwa die Spaltung der Figuren in deutschen Kriegsfilmen in ‚gute‘ und ‚böse‘ Nazis zeigt. Die Arbeit entwickelt eine Typologie solcher Bewältigungsstrategien. Unter dem Begriff Emotionalisierung werden spezifische filmische Darstellungsmittel verstanden – etwa ikonische Bilder, besondere Perspektiven wie die subjektive Kamera, Brüche des Continuity Editings oder der Einsatz von Musik –, welche die Narration unterstützen oder auch sprengen können, indem sie Empathie erzeugen oder ‚unvergessliche‘ Bilder generieren. Während die Sinngenese horizontal produziert wird – die Zuschauenden müssen den Film in der Regel bis zum Ende gesehen haben, um ihn zu verstehen –, werden Affekte und Emotionen im Film vertikal geschichtet: Von der Identifikationsstruktur, einzelnen Szenen und Motiven bis hin zu einzelnen Bildern ergibt sich eine Ordnung größerer und kleinerer Formen. Im entsprechenden Kapitel werden sie mit Bezug auf das sogenannte PKS-Modell von Peter Wuss in dieser Weise geordnet, mit dem der Einsatz stereotyper Bilder, ästhetisch-affektive Besonderheiten und komplexe emotionale Bewegtheit beschreibbar werden.
1.3
Methoden und Material
1.3
Methoden und Material
Das Gedächtnismodell wurde aus der Untersuchung von hauptsächlich sowjetischen, ost- und westdeutschen Filmen, die zwischen 1945 und 1991 entstanden, entwickelt. In diesem Band wird vor allem das Modell vorgestellt. Am Ende finden
1.3 Methoden und Material
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sich Zusammenfassungen der Filmanalysen, die in einer narratologischen Typologie erfasst werden und die im zweiten Band ausführlicher präsentiert werden. Das Gedächtnismodell wurde dabei ausgehend vom filmischen Material entworfen, um sich wiederholende Strukturen zu beschreiben, wobei verschiedene methodische Zugänge aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, der Narrationsund Emotionsforschung zum Film sowie den Gender Studies herangezogen wurden, ohne dass sich die Filmanalysen dabei auf eine dieser Theorien beschränken würden. Das Projekt hat vor allem vom deutschen ‚Kanon‘ kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien profitiert. In Auseinandersetzung mit bestehenden Studien zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis aus der Soziologie, Geschichts-, Kultur-, Literatur- und Filmwissenschaft wurde eine eigene Fragestellung entwickelt. Bestehendes Wissen über die Erinnerungskulturen der drei Staaten diente als Folie, vor der die Filmanalysen diskursanalytisch abgeglichen wurden. Was die Filmanalyse angeht, so verfügt die Filmwissenschaft über keine einheitlichen Analysekonzepte. Die Multimedialität des Films bedingt, dass es keinen einzig möglichen und ‚richtigen‘ Zugang zum Medium gibt. In der Arbeit am Material wurde daher vor allem die Vielfalt ästhetischer Formen berücksichtigt: So wurde bei jedem ausgewählten Film die Dialektik zwischen der Wiederholung tradierter Bilder und ihrer diskursiv-ästhetischen Erneuerung beschrieben, um der filmischen Form gerecht zu werden. Die Narratologie, die eine zentrale Stellung in dieser Studie einnimmt, erlebte in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Disziplinen eine Konjunktur. Ihre transgressive Ausweitung wird im Zuge der postklassischen Narrationsforschung erfasst. Allerdings herrschen in der Filmwissenschaft weiterhin semiologische und neoformalistische Konzepte vor (vgl. Überblick bei Griem 2002; Kuhn 2011), die spezifische kulturelle Entwicklungen der Filmnarrationen nicht beschreiben können. Sie exzerpieren das Allgemeingültige und tendieren dazu, allen evidenten kulturellen Abweichungen zum Trotz die Kulturtechnik des Erzählens zu universalisieren. In dieser Studie wird hingegen eine narratologische Topologie entwickelt, mit der versucht wird, kulturell-politische Konjunkturen in den Blick zu bekommen, ohne filmische Logiken dabei ganz außer Acht zu lassen. Einen weiteren großen konzeptuellen Bereich bildet die filmische Emotionsforschung, weil filmische Sinnangebote und -bilder vor allem durch ihre besondere affektive Kraft wirksam sind. Die bestehende Forschung interessiert sich für ein breites Spektrum von Fragen – von empirischen Analysen der Filmrezeption über Untersuchung von Identifikationsstrukturen bis hin zu Affektästhetiken (vgl. Tröhler et al. 2005; Bartsch et al. 2007; Robin und Koch 2009) –, wobei die Spezifika des Kriegsfilms bisher wenig beachtet wurden (Kappelhoff 2016). Generell produziert der Kriegsfilm eine ‚unmögliche‘ Perspektive auf den Krieg (etwa Ansichten von 17
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1 Einleitung
Explosionen oder Flugzeugabstürzen usw.), mit der jedoch gerade der Eindruck von Authentizität produziert wird. So werden zum einen die Auswirkungen filmtechnischer Entwicklungen, zum anderen die Funktion von Emotionen im Film, die Narration zu unterstützen oder sie zu unterlaufen, untersucht. Diese werden entsprechend ihrer Gestaltung und Wirkung ausdifferenziert. Gender-Konstruktionen spielen bei der Inszenierung und Deutung des Krieges generell eine zentrale Rolle, hier wird die Geschlechterforschung jedoch vor allem in Fragen des Anschlusses jedes*jeder einzelnen Zuschauenden an nicht erlebte, kollektive Erfahrung eingesetzt. Dazu dient im Film die Erhebung der Figuren zu geschlechtsspezifischen Allegorien, welche seit der Französischen Revolution zur Grundausstattung aller europäischen Nationaldiskurse gehören (SchmidtLinsenhoff 1996). Allegorien sind zentrale Schnittstellen im Film, an denen aktuelle Gender-Diskurse mit den staatlichen Selbstrepräsentationen zusammenfallen. Die Geschlechteranalyse nuanciert somit die Kategorie des Selbst und des Fremden/des Feindes und ermöglicht es so zu untersuchen, wie nationale (Selbst-)Darstellungen über ein hierarchisch organisiertes, geschlechtsspezifisches Bildrepertoire inszeniert und stabilisiert werden (Wenk 1996; Wenk und Eschenbach 2002). Den Ausgangspunkt der Analyse bildet eine Überlegung von Stuart Hall, dem zufolge „die Medien überwiegend in der Sphäre der Produktion und Transformation von Ideologien operieren.“ (Hall 1989, S. 152) Ideologien sind laut Stuart Hall die durch kollektive Praxis bestimmten Artikulationsformen selbst, die die (Des-) Artikulation ausgewählter Elemente regeln und somit Diskurse transformieren. Diese ästhetischen ideologischen Strukturen werden vor allem durch den komparatistischen Vergleich aufgespürt, der in einer grenzüberschreitenden Perspektive nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen kulturellen Formen (Leskovec 2011, S. 11) sucht und daher als eine Art Metatheorie oder Metamethode fungiert. Der komparatistische Blick desautomatisiert so tradierte Ausdrucksformen (Zima 2003, S. 562). Außerdem war sowohl die Filmproduktion als auch die Filmästhetik selbst von Anfang an eine interkulturelle Arbeit/Praxis gebunden. Auch die Rezeption der Filme ist, in Analogie zur Rezeption literarischer Texte, an der Schnittstelle „sich überlagernder Bedeutungsstrukturen und Bedeutungsnetze unterschiedlich codierter kultureller Herkunft“ (Nell 2005, S. 141) angesiedelt, wobei Filme aufgrund ihrer Unmittelbarkeit zu universellen Ausdrucksformen tendieren. Der Vergleich selbst ist dabei ein wissenskonstituierendes Element, das „das Herstellen und die Erkundung der Interferenzzonen“ (ebd., S. 142) ermöglicht, wodurch die kulturellen und politischen Aspekte der nationalspezifischen identitäts- und sinnstiftenden Prozesse beschrieben werden können, deren Strukturen und Mechanismen im Film und durch den Film verhandelt werden. Analysiert werden aufgrund dieses Zugriffs vor allem jene Verflechtungen und Überlagerungen von Bedeutungsstrukturen,
1.4 Begriffsgebrauch und Formalia
19
die an der kulturellen Sinngenese in Wechselwirkung mit oder in Abgrenzung von anderen Kulturen beteiligt sind (ebd.). In diesem Zusammenhang schließt das Projekt an die interkulturellen Konzepte der Geschichtswissenschaft an: Die Ansätze der Histoire croisée antworten auf die Globalisierung und Internationalisierung des europäischen Raums und legen den Fokus auf Verflechtungsschnittstellen, womit versucht wird, Asymmetrien, Ungleichzeitigkeit und Transformationsprozesse kultureller Phänomene analytisch zu erfassen (Werner und Zimmermann 2002). Die Stärke dieses Ansatzes liegt nach Dieter Heimböckel darin, dass seine Multiperspektivität „wechselseitige Austausch- und Interaktionsprozesse“ fördert und so die Position des*der Forschenden selbst als „aktiven Teilnehmer am Verflechtungsprozess reflektiert“ (Heimböckel 2013, S. 32). Die komparatistische Perspektive ermöglicht es also zum einen, in den Relationen die Besonderheiten kultureller Erfahrungen, Codes, Symbolsysteme, also diskursive Felder auf ihre Genese und Funktionsweise hin zu untersuchen: Diese verweisen nicht nur auf kulturelle Ränder oder marginale Phänomene einer Kultur, sondern auch auf deren ‚Kernbereiche‘ (Nell 2005, S. 143), die in der Wechselwirkung, Abgrenzung oder Interkation mit anderen Kulturen herausgebildet worden sind. Zugleich entsteht eine Perspektive über die Grenzen hinweg, welche auf die Gemeinsamkeiten der Kulturen und die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den Kulturen verweist. In diesem Fall wird auf diejenigen Gemeinsamkeiten hingewiesen, die durch das Medium Film produziert und transportiert werden.
1.4
Begriffsgebrauch und Formalia
1.4
Begriffsgebrauch und Formalia
Der Begriffsgebrauch in dieser Arbeit steht in der Tradition des postmodernen dekonstruktivistischen Denkens. Begriffe wie ‚Wahrheit‘, ‚Realität‘ oder ‚Wirklichkeit‘ werden hier als komplexe diskursive Konstruktionen verstanden, auf die sich die Filme beziehen und die sie zugleich mitformen. In den meisten Fällen wurde jedoch auf deren Markierung als Konstruktionen (z. B. durch einfache Anführungszeichen) zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet. Eine gender-reflektierte Sprache wird vor allem in Bezug auf die Produktion und Rezeption verwendet, wie etwa bei „Zuschauer*innen“ und „Zuschauenden“, „Filmemacher*innen“ und „Filmschaffenden“ oder „Zeitgenoss*innen“, um die Vielfalt von geschlechtlichen Identitäten nicht auf die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit zu reduzieren. In Bezug auf die Figuren der Kriegsfilme wird jedoch eine eindeutige geschlechtliche Identifizierung verwendet: „Täter“, wenn es um Männerfiguren oder allgemein um Menschen geht, und „Täterin19
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1 Einleitung
nen“, wenn es explizit um Frauenfiguren geht. Eine genauere Untersuchung für die Formen der Geschlechterkonstruktionen ist noch ausstehend; der Kriegsfilm ist im Gebrauch der Geschlechter, so meine Beobachtung, eher konservativ. Die Behauptung uneindeutiger oder vielfältiger geschlechtlicher Identitätsformen wäre im Falle der meisten Kriegsfilme anachronistisch. Aus diesem Grund wird der Begriff „Soldatinnen“ beispielsweise nur dann verwendet, wenn es explizit um Frauenfiguren geht – das heißt, wenn sie in ihrer Rolle als Soldatinnen eine besondere narrativ-ästhetische Funktion innehaben. Das gleiche gilt für aus dem Russischen übersetzte Begriffe wie z. B. „Pioniere“ oder „Komsomolzen“, „Staat der Arbeiter und Bauern“, die Auszeichnung „Held der Sowjetunion“ usw. Für viele Berufe und Mitglieder der Organisationen gibt es im Russischen keine weibliche Form; in den Fällen, in denen eine Ableitung der weiblichen Form möglich ist, klingt sie oft pejorativ und wurde im Zusammenhang mit ideologischen Losungen, im öffentlichen Sprachgebrauch oder in der filmischen Produktion nie verwendet. Auch zusammengesetzte Begriffe wie „Autorenfilm“ oder „Täterschaft“ wurden in ihrer männlichen Form belassen, weil sie auch diskursiv-historisch mit Männlichkeiten assoziiert werden. Eine weitere formale Anmerkung bezieht sich auf die Übersetzungen und die Landeskürzel der Filmtitel. Den russischen Filmtiteln werden die im deutschen Verleih verwendeten Titel vorangestellt. Bei Filmen, die nicht ins Deutsche synchronisiert wurden, habe ich die Übersetzung der Titel selbst vorgenommen. Bei der Landeszugehörigkeit der Filmproduktionen wird die Kurzform „BRD“ nur für die Filme bis 1989 verwendet; für das vereinigte Deutschland wird jedoch das Kürzel „D“ eingesetzt. Deutsche Filme zwischen 1946 und 1949 aus den britischen, US-amerikanischen oder französischen Besatzungszonen bleiben ohne Landeskürzel, im Fall der sowjetischen Besatzungszone werden die Filme mit „DEFA“ markiert. Die Übersetzung der russischen Namen erfolgt mithilfe der in der Slavistik üblichen Transliterationsregel, weshalb sie sich etwas von der ins Deutsche oder Englische überführten Schreibweise unterscheiden. Einzelne Teile dieser Arbeit wurden bereits in erster Fassung veröffentlicht, um vorläufige Ergebnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Diskussion zur Verfügung zu stellen und die überarbeiteten Ergebnisse nun im Rahmen dieser Arbeit präsentieren zu können. Das Modell des kollektiven Gedächtnisses wurde in einer stark verkürzten Form in der Zeitschrift Augenblick publiziert (Gradinari 2015). Weiterhin wurden das Kapitel zum Verhältnis von Trauma und Geschichte (Gradinari 2014) sowie verschiedene Aspekte der Kriegsdarstellung in Aufsätzen verarbeitet, zum Beispiel die Hervorhebung von Frauenfiguren zum Zweck des Kontinuitätsaufbaus (Gradinari 2011) oder Versöhnungsstrategien mit ehemaligen
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Kriegskontrahenten im deutschen Film (Gradinari 2012). Die Beiträge wurden jeweils in überarbeiteter und erweiterter Form in die Kapitel dieser Arbeit integriert.
Literatur Literatur
Assmann, Aleida: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt am Main 1993. Assmann, Aleida: Teil 1, in: dies./Frevert, Ute (Hg.): Geschichtsversessenheit – Geschichtsvergessenheit: Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 19–147. Assmann, Aleida: Erinnerung als Erregung. Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte, in: Lepenies, Wolf (Hg.): Wissenschaftskolleg Jahrbuch 1998/99, Berlin 2000, S. 42–50. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9–19. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Augenblick 61 (2015): Kino und Erinnerung. Baberowski, Jörg: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, in: ders.: Schriften zum Film. Bd. 1: ‚Der sichtbare Mensch‘. Kritiken und Aufsätze 1922–1926, hg. von Helmuth H. Diederichs, Wolfgang Gersch und Magda Nagy, Budapest/München/Berlin (DDR) 1982, S. 45–143. Barkhausen, Hans: Filmpropaganda für Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hildesheim u. a. 1982. Bartsch, Anna/Eder, Jens/Fahlenbrach, Kathrin (Hg.): Audiovisuelle Emotionen: Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote, Köln 2007. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991a, S. 431–508. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991b, S. 691–704. Binder, Beate/Kaschuba, Wolfgang/Niedermüller, Peter: Inszenierungen des Nationalen – eine einleitende Bemerkung, in: dies. (Hg.): Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/ Wien 2001, S. 7–15. Bredekamp, Horst: Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Deutsches Historisches Museum. Begleitbände zur Ausstellung 2. Oktober 2004 bis 27. Februar 2005, Bd. 1, Berlin 2005, S. 29–66.
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1 Einleitung
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1 Einleitung
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2
Forschungsstand 2 Forschungsstand
Aufgrund der interdisziplinären Forschung zum kulturellen und kollektiven Gedächtnis bezieht diese Studie das Wissen aus fünf Bereichen ein. Der erste Teil gibt einen kurzen Überblick über kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorien. Zum Ausgangspunkt wird vor allem der Begriff des kollektiven Gedächtnisses von Astrid Erll als Interaktion dreier Dimensionen, wobei materielle Träger des Gedächtnisses – Medien – gegenüber institutionellen und mentalen Dimensionen zum Apriori kollektiver Erinnerungsprozesse aufgewertet werden. Im zweiten Teil werden wichtige Studien zum Themenbereich Erinnerung und Film diskutiert. Zentral für diese Studie ist die in der Forschung bestehende Annahme, dass der Film die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart möglich machte und dass er so als konstitutiv (und nicht repräsentierend) gegenüber der Vergangenheit zu denken ist. Diese Arbeit wendet sich dabei populären deutschen Spielfilmen zu, die auf verschiedene Weise den Zweiten Weltkrieg verarbeiten, also nicht nur im eigentlichen Sinne als Kriegsfilme zu bezeichnen sind. Der dritte Teil setzt sich mit der Forschung zum bundesdeutschen Kriegsfilm auseinander, der vor allem durch das Hollywood Cinema geprägt ist. Im vierten Teil werden die Studien zu den antifaschistischen DEFA-Filmen zusammengefasst, wobei die Filme als Mitschöpfer des Antifaschismus (und nicht etwa Propaganda der SED) und zugleich jedoch in ihrer besonderen Ästhetik betrachtet werden, die durch den Widerstand gegen den Sozialistischen Realismus sowie seine Adaptation entstanden ist. Im fünften und letzten Teil wird der sowjetische Kriegsfilm vor dem Hintergrund des Sozialistischen Realismus und seiner zentralen Rolle in der Formung der sozialistischen Identität hervorgehoben.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Gradinari, Kinematografie der Erinnerung, Neue Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30065-4_2
27
28
2 Forschungsstand
2.1
Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorien
2.1
Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorien
Eine wichtige Grundlage für meine Untersuchung bildet die deutsche kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung, die die Diskussion über das kollektive Gedächtnis produktiv in die Kulturdebatten einführte, interdisziplinär weiterentwickelte und ein Bewusstsein für die Konstruiertheit von kollektiven und individuellen Erinnerungen etablierte (Assmann, J. 1988, S. 9–19; Assmann, A. 1999a). Das an verschiedene Perspektiven angeschlossene Forschungsfeld ist bereits kaum noch zu überblicken. Im Rahmen dieser Arbeit können deshalb nur zentrale kultur- und teilweise geschichtswissenschaftliche Konzepte benannt werden, welche jedoch keineswegs den ganzen Forschungsbereich, der sich über die Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Soziologie, Kognitions- und Sozialpsychologie sowie die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung erstreckt, abdecken können. Einen aufschlussreichen systematischen und ausführlichen Überblick bieten zum Beispiel Sabine Moller (2003) aus Sicht der Geschichtswissenschaft und Astrid Erll (2005) aus der Perspektive der kultur- und vor allem literaturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung. Zu den Anfängen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung gehören die Ansätze von Maurice Halbwachs und Aby Warburg. Der Soziologe Maurice Halbwachs (1985) wandte sich bereits 1925 von essentialistischen Vorstellungen der Erinnerung ab und arbeitete die Gruppen- und Gemeinschaftsbezogenheit des individuellen Gedächtnisses heraus; diese Theorie berücksichtigte jedoch noch nicht die Medialität des kollektiven Gedächtnisses.10 Aby Warburg entwarf ungefähr zur gleichen Zeit in seinem kulturanthropologischen Bildatlas Mnemosyne (1924–1929) ein medienspezifisches Konzept der Erinnerung (Warburg 2000). Pathosformeln stellen nach Warburg die im Bild verdichteten unberechenbaren Affekte und sozialen Energien dar, welche in der Kunst in Motiven aufbewahrt, tradiert, (re-) aktualisiert, aber auch – kulturspezifischen Bedürfnissen gehorchend – umcodiert werden können. Diese Theorie kann für die Filmanalyse auch heute noch produktiv gemacht werden – zum Beispiel im Rahmen der Untersuchung der Affekte im Film und der intramedialen System- und Einzelreferenzen zwischen den Filmen (Sierek 2007; Engell und Wendler 2009, 2011). Jan und Aleida Assmann entwickeln seit den 1980er Jahren das Konzept von Maurice Halbwachs weiter, wobei sich die Debatten zum kollektiven Gedächtnis in Bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der BRD und später – post faktum – auch in Bezug auf die DDR entfalteten. Die Assmanns begannen mit 10 Astrid Erll weist jedoch nach, dass Maurice Halbwachs sich der Wichtigkeit der Medien für soziale Erinnerungsprozesse durchaus bewusst war (Erll 2004, S. 7).
2.1 Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorien
29
ihrer Forschung vor dem Hintergrund des Historikerstreits um die Singularität des Holocaust und somit in einer für die Erinnerungsforschung turbulenten Zeit (z. B. Haverkamp und Lachmann 1993). Die Wissenschaft reagierte dabei auf die Entwicklung der westlichen Gesellschaften zu Erinnerungskulturen, welche sich über eine entsprechende Vergangenheitsdeutung legitimierten (Cornelißen et al. 2003, S. 9–27). Zeitgleich formulierte auch Renate Lachmann das Konzept eines kultursemiologischen Gedächtnisses, das sie zuerst seinen Funktionen nach in zwei Gedächtnistypen differenzierte. Das informative Gedächtnis sei chronologisch, akkumulierend, kontinuierlich und prospektiv: „Es ist auf Erfinden ausgerichtet.“ (Lachmann 1993, S. XVIII) Das kreative Gedächtnis sei hingegen „panchron und raumkontinuierlich, wobei das Gesamtmassiv einer Kultur potentiell aktiv ist.“ (Ebd.) In diesem Zusammenhang unterscheidet sie vier interagierende und miteinander konkurrierende Paradigmen, die an der kulturellen Gestaltung des Umgangs mit Erinnerung und Vergessen beteiligt sind. Das antike mnemotechnische Paradigma mit seinen loci und topoi besteht in der Ikonik und Topik der Malerei und Literatur fort. Im diagrammatischen Paradigma findet die Wende zu symbolischen Zeichen und zur Kombinatorik statt, wobei für die historische Wissensproduktion nun vor allem syntaktische Ordnung und visualisierte Schemata (z. B. diagrammatische Tafeln oder Schriftfiguren) bevorzugt werden. Das diegetische Paradigma fixiert narrativ Handlungen, Erfahrungen und Ereignisse, welche dem kollektiven Gedächtnis einer Kultur zur Artikulation verhelfen. Das poetische Paradigma schließlich versucht einerseits, sich mit Memoria in einem „elementaren, vortechnischen Sinn“ zu verknüpfen, andererseits fungiert es zugleich auch als Gegenort der Memoria, an dem die „Rivalität von Mnemosyne und Imaginatio, von Museninspiration und Phantasie“ ausgetragen wird (ebd., S. XXIV). Aleida und Jan Assmann untersuchen vor allem Schriftmedien und deren Wechselwirkung mit der Kultur. Jan Assmann unterscheidet – analog zur strukturalistischen Differenz zwischen gesprochenem und geschriebenem Modus der Sprache – zwischen dem kommunikativen (oralen, ungeformten) und kulturellen (aufbewahrenden, archivierenden) Gedächtnis, das sich wiederum durch Identitätskonkretheit, Rekonstruktivität, Geformtheit, Organisiertheit, Verbindlichkeit und Reflexion auszeichnet (Assmann, J. 1988). Historische Ereignisse verdichten und verfestigen sich dabei zu „Erinnerungsfiguren“, um die sich das kulturelle Gedächtnis formiert (Assmann, A. und J. 1988). Unter Erinnerungsfiguren sind sowohl konkrete historische Figuren zu verstehen, welche zum Beispiel mit Denkmälern geehrt werden, als auch symbolische Figuren wie Gedenktage und -rituale. Der Ansatz zeichnet sich allerdings durch eine binäre Logik und scharfe Trennungen zwischen beiden Gedächtnisformen aus, die gerade im Falle filmischer Gedächtnisse nicht eingehalten werden können, bewegen sich diese doch auf der Schwelle zwi29
30
2 Forschungsstand
schen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis (Jackob und Stiglegger 2004). Außerdem ist das kommunikative Gedächtnis selbst bereits geformt, reflektierend und identitätsstiftend, wie Harald Welzer in seiner Studie Das kommunikative Gedächtnis (2005) detailliert aufzeigt. Welzer schließt mit seiner Forschung an die Ansätze zur Oral History an und interviewte für seine Studie drei Generationen ausgewählter Familien (vgl. auch Welzer et al. 2002; Moller 2003). Jan Assmann ergänzte seine Theorie des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses später durch das mimetische Gedächtnis, das sich vergleichbar mit dem prozeduralen Gedächtnis auf das Erlernen und Wiederholen von Handlungen bezieht. Ein weiterer Aspekt stellt das Gedächtnis der Dinge dar, die jene Vergangenheitsschichten, die Gegenstände oder auch Städte ablagern, zu erfassen sucht (Assmann, J. 1992, S. 20). Aleida Assmann wendet dieses Erinnerungsmodell für die Beschreibung kultureller Prozesse der BRD an und differenziert es in diesem Zuge weiter aus. Das kommunikative Gedächtnis besteht aus einem oralen, flüchtigen Gedächtnis, umfasst drei bis vier Generationen und lässt sich vor allem an der Schnittstelle zwischen einem Individuum und der ihm vorausgehenden sowie der kommenden Generation verorten. Das kommunikative Gedächtnis ist dem kollektiven Gedächtnis, zu welchem kollektive Kommemorationspraxen, Kunstwerke und Erinnerungspolitik zählen, untergeordnet. Das kommunikative Gedächtnis ist widersprüchlich, vielfältig und ungeordnet; das kollektive Gedächtnis wird auf Symbole reduziert und politisch instrumentalisiert: Es zeigt sich in der Entwicklung von Kategorien wie Sieger und Verlierer, Täter und Opfer (Assmann, A. 1999b, S. 36–48), später wird von Aleida Assmann auch eine weitere Kategorie der Zeugenschaft eingeführt (Assmann, A. 2006). Deutschland zeichnet sich durch einen Mangel des Tätergedächtnisses aus, das vorherrschende Verlierergedächtnis geht dabei in ein Opfergedächtnis über. Beide liegen nah beieinander, sind aber nicht identisch. Das Verlierergedächtnis hat einen revanchistischen Kern und geht in Verschweigen und Verdrängen über, während die Opferperspektive durch Angstzustände und Schuldgefühle gekennzeichnet ist (Assmann, A. 1999b, S. 46–47). Abgetrennt davon existiert das kulturelle Gedächtnis, das auf Medien und Institutionen angewiesen und im Archiv zu verorten ist. In ihm geht es um eine langfristige historische Perspektive, die dann Bürger*innen als identitätsstiftende Grundlage vermittelt wird: Das Gedächtnis […] wird durch ein Lernen erworben, das vor allem durch die Bildungsinstitutionen abgestützt wird. Während das kollektive Gedächtnis eine gemeinsame Erfahrung und einen gemeinsamen Willen auf Dauer stellt, dient das kulturelle Gedächtnis den Bürgern einer Gesellschaft dazu, in langfristiger historischer Perspektive überlebenszeitlich zu kommunizieren und sich damit einer Identität zu vergewissern, die durch Zugehörigkeit zu einer generationsübergreifenden Über-
2.1 Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorien
31
lieferung und weitgespannten historischen Erfahrungen entsteht. Aufgrund seiner medialen und materiellen Beschaffenheit widersetzt sich das kulturelle Gedächtnis den Engführungen, wie sie für das kollektive Gedächtnis typisch sind. Seine Bestände lassen sich niemals rigoros vereinheitlichen und politisch instrumentalisieren, denn diese stehen grundsätzlich einer Vielzahl von Deutungen offen. (Ebd., S. 50)
Auf dieser Topologie aufbauend, entwickelt Aleida Assmann das Erinnerungsmodell zu einem integrierten Ansatz weiter, in dem alle verfügbaren (schriftlichen und mündlichen) Inhalte des kollektiven Gedächtnisses als Einheit betrachtet werden. Sie unterscheidet noch einmal zwei Modi des kollektiven Gedächtnisses, nämlich das Funktions- und das Speichergedächtnis (Assmann, A. 1995, 1999a). Mit dem Speichergedächtnis wird vor allem das Archiv problematisiert, das mittlerweile ein einschlägiges medienwissenschaftliches Forschungsfeld bildet (vgl. Ernst 2002, 2003 und 2007), das Funktionsgedächtnis erfasst hingegen die durch die Kultur aktiv verwendeten und in ihr zirkulierenden Bestände aus dem Archiv. Eine weitere Ausdifferenzierung ermöglicht es, verschiedene Abstufungen eines Gedächtnisses je nach Breite des sozialen Kontextes und Tradierbarkeit kultureller Inhalte zu beschreiben. Aleida Assmann unterscheidet zwischen dem individuellen, sozialen, kollektiven und kulturellen Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis ist eine allumfassende Organisation des historischen Wissens einer Kultur, welches institutionell archiviert und verwaltet wird. Es reicht über Jahrhunderte hinweg und trägt entscheidend zur Definition einer Kultur bei. Das kollektive Gedächtnis ist hingegen etwas kürzer angelegt, umreißt kulturelle Ausformungen des Gedächtnisses für einige Generationen, jedoch nicht für die ganze Kultur. Für das soziale Gedächtnis sind körperliche Erinnerungspraktiken oder die Teilnahme der Individuen einer Gesellschaft an kollektiven Erinnerungsritualen charakteristisch. Am Ende bildet sich das individuelle Gedächtnis heraus, das durch alle zuvor genannten Gedächtnisarten mitgeformt wird (Assmann, A. 2000b; auch ihr Vortrag zum sozialen und kollektiven Gedächtnis). Zuletzt setzt sich Aleida Assmann auch mit Gedächtnismedien auseinander, zu denen sie vor allem Schrift, Bild, Körper und Orte zählt und zu welchen sie eine kulturgeschichtliche Reflexion in Bezug auf ihr über Jahrhunderte verändertes Gedächtnis- und Erinnerungspotenzial ausgearbeitet hat (Assmann, A. 1999a). Bilder wurden bereits vor der Erfindung der Fotografie als Medien des Affekts und des Unbewussten verstanden (ebd., S. 220–221); sie unterschieden sich von der mittelbaren Kontinuität der Texte durch die Kontiguität des Bildlichen (ebd., S. 225). Hier geht es vor allem um die Rolle der Phantasie in der Erinnerung. Filme sind für Assmann hingegen gar keine Erinnerungsträger, sondern vielmehr Formen von Auslösereizen (Assmann, A. 2006). Der Verdienst von Aleida Assmanns Habilitationsschrift besteht vor allem darin, quer zu historischen Zeitkonzepten ein Modell jener „bewohnten Erinnerungsräume“ 31
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2 Forschungsstand
entworfen zu haben, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einander wechselseitig konstituieren und je nach individuellen und kollektiven Bedürfnissen und Medientechniken entsprechend perspektiviert und geformt werden können (ebd., S. 408–409). In der Geschichts- und teilweise auch in der Politikwissenschaft werden mit den Modellen des kollektiven Gedächtnisses der Umgang mit der Vergangenheit in der Gegenwart und der Zugang zur Zeitgeschichte erfasst. Der Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur (Reichel 1995, S. 19–25) wird zudem in verschiedenen Disziplinen stark diskutiert, zum Beispiel in der Philosophie (Ricœur 1998, S. 26, 116), der Soziologie (Halbwachs 1985, S. 46) oder der Ägyptologie (Assmann, J. 1992, S. 42–45). Für historische Zeugnisse ist eine Primärerfahrung von Bedeutung, die historische Ereignisse in Bezug auf ihre aktuelle soziale Relevanz und kulturelle Wahrnehmung selektiert (Hockerts 2001, S. 17). Die kommunikativen, kollektiven und kulturellen Erinnerungen werden mit Bezug auf Maurice Halbwachs (1985) sowie Jan und Aleida Assmann in Familien- und Generationsgedächtnis (Assmann, J. 1995, S. 54) differenziert, da sie durch verschiedene Erinnerungsmilieus gekennzeichnet sind und sich eher in der Alltagskommunikation herausbilden. Gedächtnisgemeinschaften konstituieren sich hingegen über politische Handlungen und Entscheidungen und zielen auf diese Weise unmittelbar auf die Regelung von Identitäten ab (Assmann, J. 1992, S. 30; vgl. auch Nora 2005). Sie unterscheiden sich durch ihre Nähe oder Ferne zum historischen Ereignis sowie durch die Breite ihrer Zirkulation. Als Geschichtsbewusstsein wird dabei die individuelle Aneignung der Vergangenheit definiert, welche auch das Gegenwartsverständnis und die Zukunftsperspektive umfasst, sich also wie die Erinnerung als identitätsstiftend erweist (Jeismann 1997, S. 42). In der Auseinandersetzung mit der DDR und in Anlehnung an Schriften von Aleida Assmann entwickelt die Historikerin Sabine R. Arnold den Begriff des okkupierten Gedächtnisses, welches einen Zustand bezeichnet, in dem der Zugang zu Archiven und so zum Speichergedächtnis eingeschränkt und die Geschichte auf diese Weise ‚lahmgelegt‘ wird (Arnold 1998, S. 18). Das inoffizielle Gedächtnis ist die Zirkulation der aus den offiziellen Erinnerungen ausgeschlossenen Ereignisse im kommunikativen Gedächtnis. Solche inoffiziellen Erinnerungen können vor allem in Nischen weiter bestehen, wie es in der DDR oftmals bei der Familie und Kirche der Fall war (Bessel und Jessen 1996, S. 13). Der Politologe Peter Reichel führt den Begriff der Erinnerungspolitik ein, um in Anlehnung an Pierre Nora „Medien und Manifestationen“ kollektiver Erinnerungen in Bezug auf Gegenwartskonflikte sowie politische Interessen und Strategien verschiedener Akteur*innen zu beschreiben (Reichel 1995, S. 15). Nach Reichel (2004, S. 13) sind Filme nicht nur geschichtsreflexiv und identitätsstiftend, sondern haben
2.1 Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorien
33
womöglich eine strukturierende Funktion für das kollektive Gedächtnis, wobei er diese Funktion nicht weiter konzeptualisiert. Der Historiker Edgar Wolfrum präzisiert den Begriff Geschichtspolitik in einer Analyse von westdeutschen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit und fasst darunter die Funktionalisierung der Geschichte durch politische Eliten (Wolfrum 1998; 1999). Dazu gehören auch die Einrichtung von Gedächtnisorten und -ritualen sowie die Gestaltung von Bildungsangeboten. Zuletzt beschreibt Norbert Frei politisch-juridische Regelungen der Erinnerungskultur wie Bestrafung, Amnestien oder Entschädigungen gegenüber den Opfern mit dem Begriff der Vergangenheitspolitik (Frei 1996, S. 14). Unter Erinnerungskultur selbst werden auch „politische Prozesse, rituelle Akte, kommunikativer Austausch und Formen der Aneignung“ verstanden (Knoch 2001, S. 23; dazu auch Assmann, A. 2006). Die Historiker*innen sind sich allerdings der Bedeutung bewusst, die Literatur und Massenmedien, besonders aber Bilder, Bilddokumentationen und Spielfilme für kollektive Erinnerungskulturen einnehmen. In letzter Zeit erfährt die Forschung zu Fotografie und Film eine Konjunktur, da nun auch ästhetische Artefakte als eine produktive Quelle des Historischen verstanden werden (Sorlin 1980; Welzer 1995; Brink 1998; Hockerts 2001; aus filmtheoretischer Sicht vgl. Koch 2003). Cornelia Brink spricht in ihrer kulturwissenschaftlichen Untersuchung der Verwendung von Schreckensbildern der NS-Vernichtung über das soziale Bildgedächtnis, das sich entlang ausgewählter Bildmotive geformt hat und von der westlichen Kultur in einer nicht unproblematischen Weise funktionalisiert wird (Brink 1998; Knoch 2001). Im Zuge der Kritik an der medialen Blindheit kulturwissenschaftlicher Ansätze erschienen zahlreiche medienbewusste und -orientierte Theorien des Gedächtnisses (siehe Erll und Nünning 2004). Das Konzept der Erinnerungsorte des französischen Historikers Pierre Nora (2005), welches er in Anlehnung an Maurice Halbwachs entwarf, befindet sich im Übergang zu einer medienspezifischen Theorie. Einerseits schließen lieux de mémoire laut Lutz Niethammer „Erinnerungssymbole, -räume und -medien“ (Niethammer 2000, S. 364) ein oder können mit Aleida Assmann in Topoi und Erinnerungsmedien (Assmann, A. 1996) differenziert werden. Allerdings hat Nora keinen Medienbegriff in Bezug auf das Gedächtnis und versteht die Dominanz der Bilder und Filme eher als Bedrohung für die Erinnerungskultur (Schmidt 2004). Die medientheoretische Auseinandersetzung mit dem kollektiven Gedächtnis macht auf die technische und medienspezifische Beschaffenheit von Erinnerungsformen aufmerksam. Medien erscheinen dabei nicht als neutrale Träger oder Speicher von Informationen, schreiben sich doch ihre Eigenlogiken in den Inhalt ein. Vittoria Borsó beschreibt Erinnerungsmedien vor allem als Ausdrucksformen der Alterität (Borsó 2001). Elena Esposito entwirft das Gedächtnis der Gesellschaft auf 33
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2 Forschungsstand
Basis der Systemtheorie aus der Kommunikation heraus. Erinnern und Vergessen sind dabei jene operationalen Unterscheidungen von Bekanntem und Neuem, die es ermöglichen, das System der Massenmedien auszudifferenzieren (Esposito 2002). Für Hartmut Winkler (1994) ist die Sprache selbst ein Gedächtnismodell, das sich vor allem durch paradigmatische Assoziationen und Akkumulationen auszeichnet. Jens Ruchatz (2004) schlägt anhand des Beispiels der Fotografie vor, Externalisierung und Spur als die Spezifika des medialen Gedächtnisses zu definieren. Lorenz Engell sieht die Besonderheit des Fernsehgedächtnisses einerseits in der inszenierten Anteilnahme am Geschehen historischer Evokationen: in der „Anwesenheit der bildenden Apparatur und Operateure“ („So ist es, dabei gewesen zu sein“) (Engell 2005, S. 68). Andererseits unterteilen sich die Erinnerungen des Fernsehens in Fremd- und Selbstreferenz, welche die Außenwelt und die eigene Geschichte zu memorieren anstreben (ebd., S. 67). Generell koppelt die Medialität das Gedächtnis vom individuellen Erinnerungsvermögen ab, übersteigt es und konstituiert Erinnerungsgemeinschaften nach Spezifität und Verbreitungsausmaß der Medien (Erll 2004, S. 6, 11). Es muss also nicht spezifisch national- oder staatsbezogen erscheinen. Letztendlich operiert die medienwissenschaftliche Forschungsrichtung mit einem weiten Begriff des Mediums – so kann quasi alles zu einem Gedächtnismedium werden (ebd.). Eine großmaßstäbliche systematische Untersuchung verschiedener Aspekte kollektiver und kultureller Gedächtnisse sowie ihrer Historizität und Medialität wurde vor allem durch den interdisziplinären Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen“ an der Universität Gießen durchgeführt. An diesem Forschungsprojekt waren Wissenschaftler*innen verschiedener Philologien, der Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Medizingeschichte, Philosophie, Orientalistik, Politikwissenschaft und Soziologie beteiligt. Die Idee bestand darin, Erinnerungskulturen als plurale, lokale und historisch wandelbare Konstrukte zu betrachten, wobei ästhetische Formen auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen bezogen wurden (Erll 2005). Allerdings waren keine Film- und Medienwissenschaftler*innen an diesem Projekt beteiligt, der Film spielte als Untersuchungsgegenstand keine große Rolle. Die Auseinandersetzungen mit dem kollektiven Gedächtnis zeigen dabei generell, dass seine Untersuchung notwendigerweise ein interdisziplinäres und womöglich intermediales Anliegen darstellt: Seine Regulierungen sind in verschiedenen kulturellen Bereichen verankert; seine Gestaltung umfasst verschiedene kulturelle Sphären und Medien. Filme als Speicher- und Vermittlungsmedien sind in dieser Arbeit vor allem als Medien des kollektiven Gedächtnisses zu verstehen. Allerdings stellt der Film ein relativ junges Medium dar. Seine Wirkungen auf die Entwicklung aller Arten des Gedächtnisses sind daher noch nicht absehbar und müssen erforscht werden. Die Bedeutung des Films für das langfristige kulturelle
2.1 Kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorien
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Gedächtnis lässt sich aus unserer Position ebenfalls noch nicht vorhersagen, besonders, da die rasante technische Entwicklung zum Datenverlust und zu einer andauernden Umformatierung des medialen Archivs und des filmischen Kanons führt. Nicht alle gespeicherten und aufgenommenen Daten werden auf neue Datenträger überspielt – der technologisch bedingte Speicherwechsel geht mit einem starken Selektionsprozess einher. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion wurde in dieser Arbeit vor allem der Begriff des kollektiven Gedächtnisses verwendet, der von Astrid Erll als Interaktion dreier Dimensionen einer Kultur beschrieben wurde: Zur sozialen Dimension gehören die individuellen und institutionellen Träger des Gedächtnisses, die materielle Dimension umfasst die Medien und ihre Produkte, während zur mentalen Dimension kulturspezifische Schemata und Codes, also die „vorherrschende mentale Disposition“ einer Gesellschaft – ihre Normen, Werte, Denkmuster, Selbst- und Fremdbilder usw. – zählen (Erll 2005, S. 102). Im Zuge der Untersuchung wurde jedoch deutlich, dass eine solche Erfassung des kollektiven Gedächtnisses weder möglich noch sinnvoll ist. Unter sozialen Dimensionen werden bei Erll sehr heterogene sozialpolitische Praktiken subsumiert, die in der Geschichtswissenschaft bereits beschrieben wurden. Vor allem scheint diese Dimension als eigene Gedächtnissphäre zu funktionieren, wie sie beispielsweise Gerd Sebald mit dem Begriff der sozialen Gedächtnisse beschrieben hat (Sebald 2014). Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass ein kollektives Gedächtnisphänomen ohne Medien gar nicht denkbar ist, sodass die Medialität nicht nur eine der Dimensionen darstellt, sondern allen anderen vorausgeht. Laut Christoph Vatter ist das Gedächtnis als Forschungsgegenstand ohne Medien nicht zugänglich (Vatter 2009, S. 41), weshalb stets eine verborgene ‚realere Realität‘ (Boltanski 2013) hinter dem Medialen vermutet wird. Das kollektive Gedächtnis verfügt aber ohne Medien über kein kollektiv geteiltes Wissen, ist also genau genommen überhaupt kein kollektives Gedächtnis mehr. Jene Schemata und Codes sind daher nicht so sehr kulturspezifisch, sondern vor allem medienspezifisch und werden in verschiedenen kulturellen Kontexten entsprechend eingesetzt. Medien verarbeiten nicht nur die „mentale Disposition“ der Gesellschaft, sondern erschaffen diese auch mit. Das kollektive Gedächtnis wird hier also als ein tradiertes filmisches Repertoire an Bildern, Motiven und Narrativen verstanden, welche mit jedem einzelnen Film als einem Erinnerungsakt aktiviert und zugleich umgeschrieben werden. Es ist zugleich Teil und Produkt des gesellschaftlichen Mediendispositivs, befindet sich also in Interaktion mit anderen Medien und hängt von Produktions- und Distributionslogiken ab, welche durch verschiedene politische Interventionen kanalisiert werden. Der Staat hat nicht einfach Kontrolle über den Film – Staat und Film befinden sich immer in Interaktion miteinander: Der Film hilft erst die Ideologie auszuformulieren, diese an 35
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2 Forschungsstand
aktuelle Diskurse anzuknüpfen und sie durch die Genrelogiken identitätsstiftend zu machen, bevor die Staatsideologie den Film zu beherrschen beginnt. Zugleich ist der Film aufgrund seiner medialen Logik immer mehr als Gedächtnis- und Erinnerungspolitik, immer mehr als eine konkrete Ideologie, hat also seine eigene medienästhetische Existenz und Dynamik.
2.2
Erinnerung und Film
2.2
Erinnerung und Film
Zum Thema Erinnerung und Film sind mittlerweile viele Studien erschienen (z. B. Sorlin 1980; Sobchack 1996a; Landy 2000; Hohenberger und Keilbach 2003; Landsberg 2004; Stern et al. 2007; Kappelhoff 2008; Burgoyne 2008; Keilbach 2010; Holl und Wittmann 2014; Landsberg 2015; González de Reufels et al. 2015), wenngleich es aufgrund ihrer Heterogenität in Zugängen und Forschungsgegenständen nicht leichtfällt, sie zu systematisieren. Die Mannigfaltigkeit der Forschung ist nicht nur der Vielfalt analytischer Zugänge geschuldet, sondern vor allem dem Wesen des Films selbst. Seine multimediale Beschaffenheit ermöglicht verschiedene Perspektiven auf Erinnerung und Gedächtnis. Durch seine technisch-apparative Entwicklung wandelt sich über die Jahre die Form der Repräsentationen. Je nach Thema ist die Form der Erinnerungen im Film von den zum Einsatz gebrachten Genres abhängig (vgl. zum Beispiel die Beträge in Augenblick 61). Letztendlich haben Filme je nach dem Land, in dem sie gedreht werden, ihre besonderen Formen herausgebildet, die sich der entsprechenden nationalspezifischen Mentalitäten, Geschichten und Politiken bedienen und dadurch die Zuschauenden ansprechen können. Die meisten Studien sind sich nur darin einig, dass (filmische) Bilder eine zentrale Bedeutung bei der Entwicklung von kollektiven Erinnerungen einnehmen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts heben viele Theoretiker*innen die vorsymbolische (Bergson 2001) und visuelle Qualität von Erinnerungen (Kracauer 1990; Benjamin 1991a, S. 445) sowie ihre Bildhaftigkeit hervor, wie beispielsweise Sigmund Freud (1999a), Aby Warburg (2000), Maurice Halbwachs (1985)11 und Walter Benjamin (1991b),12 welche jeweils mit dem Begriff ‚Bild‘ operieren, um den 11 Hier sei im Zusammenhang mit den rekonstruierten Erinnerungen nur ein Beispiel genannt: „Aber hier ist der Rahmen mit persönlichen Überlegungen, mit Familienerinnerungen gefüllt, und die Erinnerung ist ein in anderen Bildern enthaltenes Bild, ein in die Vergangenheit zurückversetztes Familienbild.“ (Halbwachs 1985, S. 58) 12 „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. ‚Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen‘ – dieses Wort, das von Gottfried Keller stammt,
2.2 Erinnerung und Film
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unbewussten Charakter der Vergangenheitsprägung zu betonen. Ihre Ansätze stehen auch in einer bewussten oder unbewussten Wechselwirkung zu den damals noch relativ neuen Medienformen Fotografie und Film, mit deren Verbreitung intensive Theoretisierungen des kollektiven Gedächtnisses initiiert wurden. Heike Klippel weist nach, dass das Kino in seiner Ästhetik und apparativen Beschaffenheit diskursiv zur Grundlage von Gedächtnistheorien um 1900 wurde, ohne dass darauf explizit Bezug genommen wurde (Klippel 1997, 2014, S. 21–36). Auch die aktuell in der Kulturwissenschaft diskutierte neurowissenschaftliche Erinnerungstheorie (z. B. Welzer 2005) weist Parallelen zu filmischen Repräsentationslogiken auf. Vor allem entsprechen Gedächtniskategorien wie Wissenssystem (allgemeines schulisches, enzyklopädisches Wissen sowie generell Wissen über die Welt), autobiografisches Gedächtnis (fragmentarisches Wissen über sich selbst) und perzeptuelles Gedächtnis (Wiedererkennen von Objekten, Vorgängen und Sachverhalten) der filmischen Gestaltung der Vergangenheit. Im Film werden individuelle Schicksale als eine Art Biografie in einem sozial breiten, allgemein bekannten Kontext des historischen Wissens situiert und mithilfe tradierter Bilder, Motive und Narrative als wiederkehrende Objekte dramaturgisch entwickelt (Siegel 2006; Tulving 2006). Filme bilden daher nicht einfach die Erinnerungsdebatten ab, verfälschen oder verändern diese, sondern haben die Diskussion über das kollektive Gedächtnis bedingt und so letztlich notwendig gemacht, verbreitet und intensiviert. Zum einen beeinflusst das Medium Film bestehende Wahrnehmungsformen (Münsterberg 1996). Aufgrund seiner angeblich mimetischen Darstellungsmöglichkeiten und seiner Qualität als medialer Speicher wurden andererseits Fragen zur Tradierung der im Bild festgehaltenen Geschichte und zur neuen Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart aufgeworfen (Koch 1999). In diesem Zusammenhang wuchs zunächst das Interesse der Geschichtswissenschaft an Fotografie (Brink 1998; Paul 2008) und Film als historischen Quellen (Ferro 1977; Rother 1991; Rosenstone 1995; Greffrath 1995; Riederer 2003; Didi-Huberman 2007), das schließlich in der Entwicklung der Visual History mündete (Paul 2006), wobei in den historischen Studien immer mehr ästhetische Logiken dieser Medien in Anbetracht inszenierter oder festgehaltener Momente berücksichtigt werden. Die Geschichtswissenschaft, die schon seit den 1920er Jahren um den Film als Dokument Debatten führt, hat auch die Filmwissenschaft auf das historische Potenzial der Filme aufmerksam gemacht (Hohenberger und Keilbach 2003). Bis heute sind es weiterhin vor allem bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, das sich nicht als in ihm gemeint erkannt.“ (Benjamin 1991b, S. 695, Hervorhebung im Original) 37
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2 Forschungsstand
Historiker*innen, die sich im öffentlichen Raum als Expert*innen zum Film über den Nationalsozialismus äußern. In der Filmwissenschaft wurde die zentrale Rolle des Spielfilms in Erinnerungs- und Geschichtsdebatten also nicht sofort gesehen oder zumindest nicht sofort ernst genommen. Erst mit den Anfang der 1980er Jahre in Deutschland einsetzenden öffentlichen Debatten um die Geschichte, die nicht zuletzt im Zuge des zweiten Generationswechsels wieder Fragen nach dem Umgang mit dem Nationalsozialismus aufwarfen, rückte auch der Film langsam in den Fokus wissenschaftlicher Debatten. In diesem Zusammenhang galten vor allem Autorenfilme als „geschichtsfähig“, denen zugetraut wurde, sich kritisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Zu früheren Reflexionen der Geschichte als Film gehören daher vor allem Analysen des Neuen deutschen Films der 1970er Jahre, welche selbst Fragen nach der Verarbeitung des Nationalsozialismus in der Gegenwart stellten und möglicherweise auch dazu beigetragen haben, das filmische Medium bei Fragen zur Vergangenheit ernst zu nehmen. Eine grundlegende Studie von Anton Kaes (1987) machte auf die Formierung der Vergangenheitsdebatten im Medium Film aufmerksam, also auf den Gebrauch ästhetischer Bilder für die Legitimation eines Geschichtsverständnisses. Im Gegensatz zum Historiker Saul Friedländer (1982), der die aktuellen Filme über den Nationalsozialismus als wiederbelebte Faszination an diesem Regime kritisierte und daher filmische Bilder als Kitsch verdammte, weist Kaes zum einen auf die Wirksamkeit dieser Bilder für das öffentliche Gedächtnis hin, welche nicht mehr zu ignorieren sei. Zum anderen aber zeigt er Ambivalenzen der ästhetischen Vergangenheitsdarstellungen und ihren Bezug auf aktuelle Diskurse auf. Kaes entwickelt kein Erinnerungsmodell, sondern beschreibt den unterschiedlichen Umgang mit der Geschichte und ihre mögliche ästhetische Verarbeitung im Film: So üben Werke von Rainer W. Fassbinder über die Thematisierung der Vergangenheit Systemkritik; Alexander Kluge vermischt in der Suche nach einem neuen Deutschland Phantasie und Historie; Edgar Reitz arbeitet sich am Alltag der Erinnerungen ab und entwirft somit eine neue, bisher nicht beachtete Geschichte; Helma Sanders-Brahms bringt Autobiographie und Allegorie zusammen, verschiebt dabei die Perspektive auf die Historie und übt eine feministisch informierte Kritik an filmischen Traditionen, und Hans Jürgen Syberberg verabschiedet letztendlich die Geschichte an sich. Allerdings glaubte Anton Kaes, dass die kulturelle wie filmische Verarbeitung der Judenermordung einen US-amerikanischen Export in die BRD durch die Mini-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin J. Chomsky) darstelle und daher erst Ende der 1970er Jahre begonnen habe. Diese Aufwertung des Films als Forschungsgegenstand der Geschichtsschreibung und -darstellung war in den 1980er Jahren nicht selbstverständlich. Der
2.2 Erinnerung und Film
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US-amerikanische Germanist Eric L. Santner wirft zum Beispiel der Filmreihe Heimat (BRD 1982–2004, R. Edgar Reitz) unterschwelligen Antisemitismus und eine Verdrängung des Holocaust vor und parallelisiert die Serie mit der rechten Position im Historikerstreit der 1980er Jahre. Die Literatur sei daher, so Santner, das einzige angemessene Erinnerungsmedium (Santner 1990).13 Das Problem solch interpretativer, diffamierender Pauschalisierungen sei, so Eike Wenzel (2000), die Analyse des Inhalts ohne gleichzeitige Berücksichtigung kultureller Kontexte, und speziell im Falle von Eric L. Santner die Anwendung der Psychoanalyse, mit der das ästhetische und kritische Potenzial der Bilder verloren gehe. Deswegen müsse der Film, wolle man ihn als Geschichtsraum in Anlehnung an das Konzept des filmischen Raums von Hartmut Winkler (1992) verstehen, als diskursiver Effekt von Produktion, Ästhetik und Rezeption, ja als Filmdispositiv behandelt werden, um ihn in kulturelle Sinnstiftungsprozesse einzubinden. Untersucht man das deutsche Filmdispositiv der 1960er bis 1970er Jahre, so reagieren die Filme auf bestimmte kulturelle Geschichtsvorstellungen dieser Zeit. Damit geht Wenzel zum einen ein Stück in der Filmgeschichte zurück und zeigt, dass bereits in den 1960er Jahren eine filmische Auseinandersetzung mit der Geschichte bestand (und diese nicht erst mit der Ausstrahlung der US-Serie begonnen hat). Zum anderen kontextualisiert er Filme in aktuellen Diskursen. Der Modus der Geschichtsdarstellung ist nach Wenzel vor allem der Realismus, der deswegen ideologisch sei, weil er seine Blickeinengung der Subjekte sowie Selektivität und Manipulation der Bilder verschleiere. Die Vertreter*innen des deutschen Autorenfilms (Alexander Kluge, Harun Farocki, Jean-Marie Straub und Danièle Huillet) deautomatisierten durch verschiedene ästhetische Verfahren bestehende Wahrnehmungsmuster und sensibilisierten Zuschauende gegenüber der gängigen ‚realistischen‘ Beschaffenheit der Geschichte und deren ideologischen Vereinnahmung durch Diskurse: „Diese Filme laden uns ein zur Entdeckung der eigenen kollektiven Geschichtlichkeit. Im Film, in der ästhetischen Konfigurierung, wird eine Reflexion über deutsche Geschichte möglich.“ (Wenzel 2000, S. 436) Der Autorenfilm, den Wenzel in Bezug auf das Konzept von Aleida Assmann zum Speichergedächtnis zählt, erscheint als Korrektiv zum Funktionsgedächtnis einer Kultur, und erst in dieser Funktion als Ort der Gesellschaftserfahrung und Gedächtnisbildung. Dem Vorwurf der Verdrängung des Holocaust im Neuen deutschen Film der 1970er Jahre, auch vonseiten der deutschen Historiker*innen, begegnet er mit der Aufwertung des Störungspotenzials der Filmbilder und dadurch ihrer Reflexionsmöglichkeit über die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart (ebd., S. 439–440). 13 Eine andere Lesart bietet: Kahlenberg et al. 1985. Für eine ausführliche Analyse dazu siehe Wenzel 2000, S. 424–427. 39
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2 Forschungsstand
Thomas Elsaesser wendet sich ebenfalls den Autorenfilmmacher*innen zu, wodurch er in der bestehenden analytischen Tradition verbleibt, nach welcher vor allem die Autorenfilme Geschichte ‚machen‘. Anhand der Filme von Alexander Kluge stellt er das dekonstruktivistische Modell der Fehlleistung als Trauerarbeit auf, bei welcher Fehler produktiv werden und der fehlende Mangel erst sichtbar gemacht wird, wie beispielsweise das Fehlen von Trauerarbeit über die ermordeten Juden (Elsaesser 2006, 2007). Elsaesser erweitert jedoch die Autorenliste, wenn er sich mit dem DEFA-Filmemacher Konrad Wolf beschäftigt. Mit dem Wechsel in die DDR, die seit jeher im Verdacht der Verdrängung der Judenermordung steht, bewegt er sich auch noch ein Stück in der Filmgeschichte zurück. Anhand des Films Sterne (DDR/BUL 1959, R. Konrad Wolf), der vor allem Zeitlichkeit – ein „zu spät sein“ – thematisiert, formuliert Elsaesser eine allgemeine These über ein Mediengedächtnis (Elsaesser 2009, S. 74), das er an einer Stelle als „diagonale Erinnerung“ bezeichnet (Elsaesser 2010, S. 114). Sie funktioniere zum einen als eine Art Unbewusstes, weil die Bilder in der Kultur zirkulieren und immer neu eingesetzt werden, sodass sie kein zeitliches Vorher und Nachher mehr kennen und „keiner auf immer festgelegten Kausalität verpflichtet“ sind (ebd., S. 107). Gerade aufgrund des unerschöpflichen Einsatzes der Bilder sei die Geschichte immer schon ein Palimpsest, „eine ganz spezifische Schichtung“ von „Zeitlichkeiten“ und „Sedimentierung bekannter Bilder und historischer Verweise“, die im Rückblick immer neu zu lesen sei (ebd., S. 95). Das Mediengedächtnis, das zugleich als Ersatz für Geschichte fungiert, produziert somit selbst eine spezifische Zeitlichkeit, die Elsaesser als retroaktive Antizipation bezeichnet (Elsaesser 2013, S. 81). In der Fußnote merkt er an, dass diese einzigartige Zeitlichkeit des Mediengedächtnisses zur Retraumatisierung führt, weil das Ereignis nicht ins Gedächtnis gerufen wird, sondern der Sinneseindruck aufgefrischt wird (ebd.). Die Bilder schreiben dabei immer weiter das kulturelle Gedächtnis um, dadurch werden die Ungleichzeitigkeit wie Nachträglichkeit des historischen Imaginären (etwa das Bildgedächtnis des Kinos) (Elsaesser 1999, S. 32–41)14 sichtbar und die multiple Singularität der Medienbilder produziert (Elsaesser 2010, S. 107). Letztendlich weist Elsaesser (2002) zum einen auf die Polysemie und semantische Offenheit der Bilder 14 Mit dem historischen Imaginären beschreibt Elsaesser einerseits ästhetische Strategien des Weimarer Kinos, welche dann in Hollywood Melodramas, im Film Noir und im Neuen Deutschen Film der 1970er Jahre produktiv aufgenommen wurden. Durch Zitate stellen spätere Filme die vergangenen Epochen mit Bildern aus jener Epoche dar. Andererseits ist es zugleich ein Verarbeitungsdiskurs der Nachkriegszeit, in der das Weimarer Kino zum Beispiel von Siegfried Kracauer in einer Kontinuität mit der nationalsozialistischen Ästhetik gesetzt wird. Das Kino wird somit zum Medium, an dem, wie verzerrt und versteckt auch immer, Mentalitäten der historischen Epoche verhandelbar und ablesbar werden (Elsaesser 1999, S. 32–41).
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hin, die die Erinnerung an mehrere Ereignisse gleichzeitig auslösen können, zum anderen auf verschiedene filmische Strategien (der Autorenfilmmacher*innen), die Lücken im kulturellen Wissen der Vergangenheit wie ihre generische und narrative Einengung freilegen (Elsaesser 2015). Aus der Arbeitsgruppe „Zeit – Medien – Identität“ des Gießener Sonderforschungsbereichs „Erinnerungskulturen“ ging vor allem das Konzept des Erinnerungsfilms hervor, das den Blick vom Film ab- und kulturellen Diskursen zuwendet. Astrid Erll und Stephanie Wodianka betrachten Filme in Anlehnung an Paul Ricœur im Kontext der kulturellen Sinnzirkulation der Diskurse als Bewegung der Sinnproduktion im „Kreis der Mimesis“ (Ricœur 1988, S. 87) von Präfiguration (Filme nehmen kulturelle Diskurse auf), Konfiguration (verändern bzw. aktualisieren diese) und Refiguration (prägen dadurch kulturelle Diskurse) (Erll und Wodianka 2008, S. 13). Die Herausgeberinnen übernehmen allerdings die skeptische Einschätzung Aleida Assmanns, dass Filme nur Verbreitungs- und keine Erinnerungsmedien mehr seien. Deshalb seien filmische Formen nicht relevant (häufig eher problematisch) für die Herausbildung von Erinnerungsdiskursen. Ein „Erinnerungsfilm“ sei jedoch möglich, wenn ein Werk durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und plurimediale Konstellationen zu einem solchen gemacht werde. Die Autorinnen haben sicher recht damit, dass die Rezeption eine enorme Rolle dabei spielt, ob die Filme im kulturellen Gedächtniskanon aufgenommen oder überhaupt im Zusammenhang mit der Erinnerung wahrgenommen werden, allerdings bleibt diese Deutung etwas unbefriedigend. Der „Erinnerungsfilm“ scheint kultureller Kontingenz ausgesetzt zu sein und hängt allein von außerfilmischen Diskursen ab; er ist in dieser Sichtweise daher nicht Teil der Prozesse, die Erinnerungseffekte und -konjunkturen hervorbringen. Das Konzept „Erinnerungsfilm“ könnte beispielsweise durch das früher entwickelte Modell des kommunikativen Gedächtnisses von Harald Welzer erweitert werden. Er weist in seiner empirischen Studie nach, dass individuelle autobiographische Erinnerungen auf Filmen basieren – sie sind durchaus als Erinnerungsmedien zu verstehen, weil sie es ermöglichen, Sinn und Kohärenz herzustellen (Welzer 2005). Interviewte Kriegsveteranen und -teilnehmer*innen und ihre Kinder gaben Film szenen aus bekannten Kriegsfilmen wie Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte), Des Teufels General (BRD 1955, R. Helmut Käutner), Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) und Im Westen nichts Neues (USA 1930, R. Lewis Milestones) als persönliche Erlebnisse wieder. Die Filme prägen und füllen also aufgrund ihrer Emotionalisierungs- und Dramatisierungsstrategien individuelle Erinnerungen. Welzer interessiert sich dabei vor allem für die Aneignungsdynamiken und ihre intergenerationelle Tradierung – beide funktionieren ebenfalls nach einem (quasi-filmischen) Montageprinzip (Welzer 2005, S. 39). 41
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2 Forschungsstand
Diese Integration medialer Erinnerungen in individuelle (dazu auch Sobchack 1996b) theoretisiert der Historiker Stefan Zahlmann (2001) mit der mnemistischen Erfahrung und der somatischen Erinnerung. In Bezug auf Aleida und Jan Assmann definiert er filmische Deutungsangebote generell als filmisches kulturelles Gedächtnis, dessen Inhalte individuell angenommen oder eben verworfen werden können. Mnemistische Erfahrung ist daher doppelt gedacht: zum einen als „Appräsentation der Erinnerungsinhalte“, die Filme anbieten, zum anderen zugleich als „das reflexive Erleben dieser Erinnerungssituation durch das Individuum“ (ebd., S. 51). Spielfilme sind dabei „Erscheinungsformen kollektiven Wissens“ (ebd., S. 58), das vor allem in filmischen Körpern verdichtet und vergegenwärtigt wird. Diese filmisch konstruierten Körper sind Voraussetzung für eine individuelle Rezeption des Films, da Zuschauende in ihrer eigenen psychologischen, neurologischen – kurz: somatischen – Erfahrung angesprochen werden (ebd., S. 69). Somatische Erinnerung ist daher keine Übernahme der Filminhalte, sondern die ästhetische und reflexive Reaktion auf diese, welche zusammen mit der subjektiven Erfahrung und Aneignungssituation gedacht wird. Ähnlich theoretisiert die US-amerikanische Forscherin Alison Landsberg einige Jahre später die individuelle Aneignung der medialen Bilder mit dem Begriff des prothetischen Gedächtnisses (prothetic memory), wobei der Film keine privilegierte Rolle mehr spielt. Ohne weitere Differenzierungen spricht sie allen Medien wie Museen, Comics, Filmen, Serien oder Internet gleichermaßen die Fähigkeit zu, die Vergangenheit als individuelles Erlebnis zu implementieren. Mit Bezug auf filmische Theorien erklärt Landsberg diese Eigenschaft der Medien ebenfalls durch eine mimetisch-körperliche Wirkung auf Individuen. Die Individuen integrieren mediale Eindrücke je nach individuellen Erfahrungen auf eigene Art und Weise in eigene Erinnerungen. Das prothetische Gedächtnis ist daher kein kollektives Gedächtnis, weil einzelne Individuen ihre eigenen, einzigartigen Erinnerungen durch die Medien herausbilden, welche sich deshalb echt anfühlen (Landsberg 2004, S. 20–21). In der nächsten Studie erarbeitet sie ein Konzept des affektiven Engagements, das die Medien einleiten und kanalisieren. In Bezug auf das Genre Historienfilm bedeutet es zu bestimmten Momenten eine Art Verfremdung der Identifikation mit den Figuren, um die Zuschauenden in Distanz zur Historie zu setzen und sie durch die aktivierte Beobachterposition zur Reflexion zu provozieren (Landsberg 2015, S. 21). Zu den Merkmalen des prothetischen Gedächtnisses gehört erstens sein künstlicher, medial vermittelter Charakter, wenn ein Individuum von einem nicht ge- und erlebten Ereignis eine Erinnerung hat. Zweitens verweist es als Prothese auf die Erweiterung des individuellen Wissens, das durch neue Medientechnologien die Erlebnishaftigkeit der Vergangenheit sichert. Zugleich ist die Prothese eine Marke für einen Mangel, fungiert also zugleich auch als Zeichen des Traumas. Drittens
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zeichnet sich das prothetische Gedächtnis gerade aufgrund der medialen Vielfalt durch Aus- und Umtauschbarkeit seiner Formen, also durch Vielfalt und Flexibilität der Bilder, Strategien und Motive aus (Landsberg 2004, S. 20–21). Die Form der ‚Prothesierung‘ des Holocaust unterscheidet sich allerdings von der des Gedächtnisses der Immigrant*innen oder der Afroamerikaner*innen. Die prothetischen Erinnerungen an die Judenermordung in den USA werden zum Beispiel durch einen medial geschaffenen Übertragungsraum im Freud’schen Sinne möglich, in dem die Erinnerungen von Überlebenden auf andere projiziert werden, zugleich auch mit den Toten eine anamnesische Solidarität gefördert wird, indem eine prozessuale und sensuelle (nicht kognitive) Aneignung von Wissen über den Holocaust möglich wird (ebd., S. 111–113). Landsberg verteidigt die Produkte der populären Massenkultur und schließt damit an die Cultural Studies an. Sie plädiert dafür, die Massenkultur in ihrer politischen Kraft nicht zu unterschätzen und die durch sie entwickelten Empathiestrategien zu nutzen, um ethische Haltungen in der Gegenwart zu fördern. Im letzten Jahrzehnt zeichnet sich also auch in der deutschsprachigen Forschung die Tendenz ab, das Populärkino als Medium geschichtlicher Reflexion aufzuwerten. Vor allem geraten die Trümmerfilme aus verschiedenen Blickwinkeln in den Fokus. Eine Studie von Robert R. Shandley etwa wertet die Nachkriegsfilme mit Verweis auf Maurice Halbwachs auf, indem angeführt wird, dass vor allem die Formen der Filme als Modelle dafür dienten, „wie die Vergangenheit erinnert wird.“ (Shandley 2010, S. 17) Allerdings schätzt er dies aus dem gleichen Grund als problematisch ein, weil hier bereits die Verdrängung der Vergangenheit beginne. Die Studie von Martina Moeller (2013) setzt sich mit der Rekonstruktion des romantischen Diskurses in Trümmerfilmen als einer (übersehenen) oppositionellen Ästhetik auseinander, welche die Darstellungsformen des NS-Regimes konterkariere. Die Nachkriegsfilme werden bekanntlich einer Kontinuität mit den Filmen des Nationalsozialismus beschuldigt. Allerdings bespricht Moeller nicht die Bedeutung der Trümmerfilme im Erinnerungsdiskurs. Maja Figge hingegen untersucht bundesdeutsche Heimatfilme der 1950er Jahre aus intersektionaler Perspektive, wobei der Fokus auf Männlichkeit und ‚Whiteness‘ liegt. Im Zuge dessen beschreibt sie das Kino als audiovisuelles Archiv, das kulturelle Imaginationen der 1950er Jahre sowie Elemente der nationalistischen und kolonialen Vergangenheit in Form eines medialen und historischen Palimpsestes der Politik verdichtet (Figge 2015). Zuletzt untersucht Bernhard Groß die Trümmerfilme, die er eher dadurch aufzuwerten sucht, dass er sie selbst proavantgardistisch erklärt und ihnen somit eine differenzierte Geschichtsreflexion zugesteht, weil der Film „die Konstruktion von Wirklichkeit selbst reflektiert und die Realität dieser Konstruktion erfahrbar macht“ (Groß 2015b, S. 54) sowie „Film und Fotografie eine inkommensurable Erfahrung ermöglichen, die anders nicht zu haben ist.“ (Ebd., S. 60) Dieser Reflexionsgrad wurde früher nur Autorenfilmen zugeschrieben. 43
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2 Forschungsstand
Sein Ansatz gehört dabei einer Forschungsrichtung an, die durch den von Jacques Rancière verfassten Aufsatz über eine neue Aufteilung der Sinnlichkeit durch das Kino (Rancière 2006) und die Geschichtlichkeit des Films (Rancière 2003) inspiriert wurde. Infolgedessen ist eine Reihe von Studien erschienen, welche Filme nicht mehr als Repräsentation, sondern als geschichtsbildend und -formend verstehen (vgl. Groß 2015a, S. 41–92). Dazu gehören die Arbeiten zum Realismus von Hermann Kappelhoff (2008) und zum italienischen Neorealismus von Daniel Illger (2009), allerdings nähert sich die Studie von Bernhard Groß (2015a) meiner Fragestellung am ehesten an. Er beschreibt durch eine Bildraumanalyse (dazu Kappelhoff 2006) des deutschen Nachkriegskinos die ästhetische Erfahrung, die die Trümmerfilme nach Kriegsende dokumentieren, als Geschichtlichkeit, die sich durch eine Spannung zwischen historischen Prozessen und individueller Wahrnehmung auszeichnet und die zwar die „Grundlage des Erinnerns bildet“, allerdings doch nicht Erinnerung oder Gedächtnis, sondern Stimmungen und Erfahrungen, ja affektive Adressierung von Zuschauenden darstellt (Groß 2015a, S. 14). Der spezifische historische Darstellungsmodus, welcher die Historizität in ihren Ambivalenzen im Übergang von der NS-Diktatur zur demokratischen Gesellschaftsform erfahrbar macht, wird durch den als demokratisch zu definierenden Genre- und Stileklektizismus der Trümmerfilme konstituiert. Dieser Stileklektizismus harmonisiert im Gegensatz zu eklektizistischen NS-Bildern Widersprüche nicht. In diesem Zusammenhang ist die Entheroisierung der Figuren gegenüber der NS-Heroendarstellung von Bedeutung. Letztendlich machen die Trümmerfilme mit der Raumzeitallegorie Ruinen/Trümmer – als Figur von nicht mehr (Ruine) und noch nicht (Trümmer) – die Erfahrung der Nachkriegszeit sichtbar. Das frühe deutsche Nachkriegskino ist dann auch „Bildner von Geschichte, indem es die grundlegende Ambivalenz der Zeit erfahrbar macht und ihr eine Form gibt.“ (Ebd., S. 47) Bernhard Groß vermeidet dabei leider ausdrücklich die Terminologie der Erinnerungstheorien, weil diese angeblich dazu geführt haben, Filme allein im Modus der Bewältigung oder Verdrängung zu betrachten (ebd., S. 412–413). Mit meiner Studie schließe ich somit an die Überlegungen meiner Vorgänger*innen an, die aufschlussreiche, informative und konstruktive Arbeit zum Komplex Film und Geschichte oder Film und Erinnerung geleistet und eine große Anzahl filmischer Werke verschiedener historischer Perioden aufgearbeitet haben. Ich möchte in Anlehnung an ihre Überlegungen diesen vorhandenen Forschungsdiskurs weiter vorantreiben. Als Gegenstand dieser Untersuchung werden vor allem Mainstreamfilme analysiert: Filme über den Zweiten Weltkrieg, wobei darunter die meisten als Kriegsfilme zu bezeichnen sind. Doch auch Trümmer-, Heimkehrer- oder Detektivfilme sind vertreten. Sie sind für kollektive Erinnerungen an den Krieg, so meine These, konstitutiv; die Autorenfilme machen ihre Strukturen sichtbar,
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hinterfragen diese oder verweisen auch auf die Möglichkeiten ihrer Modifizierung, welche durch das Populärkino durchaus aufgenommen wird. Allerdings erscheint das Autorenkino weder bildend noch repräsentativ für kollektive Erinnerungen. Eine weitere Hypothese radikalisiert auch das Verhältnis zwischen Film und Erinnerung. Allem voran gestaltet das Kino keine Geschichte, sondern bildet einen Rahmen dafür und ist selbst Gegenstand kollektiver Erinnerungen. Die somatische Erinnerung nach Stefan Zahlmann und das prothetische Gedächtnis nach Alison Landsberg bilden attraktive Begriffe, um mediale Wirkungen zu beschreiben, es bedarf jedoch einer Erweiterung. Beide suggerieren zum einen, es gäbe Erinnerungen jenseits medialer Einwirkungen, auf die die Medien Einfluss nehmen; zum anderen glaubt vor allem Landsberg, damit jene Änderungen fassen zu können, welche erst in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. Das Phänomen kollektiver Erinnerungen ist, so glaube ich, vor allem ein cineastisches Produkt. Die Wirksamkeit des Kinos haben schon einige Forscher*innen und Denker*innen beschrieben, das Kino überflutet wissenschaftliche Geschichtskonzepte und okkupiert das öffentliche Bewusstsein mit eigenen Bildern (Jansen 1979, S. 23; Kaes 1987, S. 208). Filme müssen natürlich in einem großen sozialen und politischen Kontext gesehen werden, etwa im Zusammenhang der Nationsbildung und der Notwendigkeit sozialer Konsolidierung, der Entwicklung anderer Medien und des Kapitalismus. Kollektive Erinnerungen folgen jedoch in signifikanter Häufigkeit der kinematografischen Logik. Wenn wir über kollektive Erinnerungen sprechen wollen, müssen wir also zwangsläufig auch über filmische Strukturen nachdenken.
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Der bundesdeutsche Kriegsfilm
2.3
Der bundesdeutsche Kriegsfilm
Der bundesdeutsche Kriegsfilm wird in der Regel im Hinblick auf das (US-amerikanische) Genresystem analysiert, da exportierte Kriegsfilme aus den USA Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre für die Entwicklung des Genres in Deutschland konstitutiv werden (Wegmann 1980).15 Das Genre Kriegsfilm ist weltweit populär16 und verbindet existentielle Erfahrungen und Darstellungen historischen Geschehens mit staatlichen Machtinteressen, der modernen (Militär-)Technik und nicht zuletzt 15 Nach Wegmann machten gerade die US-amerikanischen Kriegsfilme in der Nachkriegszeit den Zweiten Weltkrieg in der BRD als Unterhaltung möglich – sie verlagerten den Krieg an ‚exotische‘ Orte (Wegmann 1980, S. 109). 16 Zum US-amerikanischen Kriegsfilm vgl. Basinger 1986; Schatz 1998; Bronfen 2014. Für einen genrespezifischen Forschungsüberblick siehe bei Robnik 2007; Kappelhoff 2016. 45
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2 Forschungsstand
auch den Möglichkeiten filmischer Technologien. Die Anzahl der Kriegsfilme und die bestehende Forschung dazu als unübersichtlich zu beschreiben, kann getrost als Untertreibung bezeichnet werden. Heute, etwa siebzig Jahre nach Kriegsende, blickt die Filmgeschichte auf reichlich Material zurück. Zudem wurden zahlreiche Filme zu den Kriegen nach 1945 gedreht, die sich der Ikonografie des Zweiten Weltkrieges bedient haben. Im Zuge dessen wurde wiederum das Bild des Zweiten Weltkrieges im Film ständig weiter aktualisiert und modifiziert. Einig sind die meisten Forscher*innen sich darin, dass der Zweite Weltkrieg den Kernbestand des Genres Kriegsfilm bildet (siehe zum Überblick auch Röwekamp 2011, S. 19–26). Der Kriegsfilm wird dabei ästhetisch wie politisch in verschiedenen kulturellen Rahmungen unterschiedlich fokussiert und bewertet, was die Abhängigkeit der Genres von der nationalen Kontextualisierung sichtbar macht. Steve Neale hebt zum Beispiel den Hollywood-Kriegsfilm als ein besonderes Genre hervor, weil er das Individualistische zugunsten des Kollektiven auflöst und somit der Hollywood-Ideologie diametral gegenübersteht. Außerdem zeigt der Kriegsfilm Verletzbarkeit, Kontrollverlust und Desorientierung, was ebenfalls untypisch für Hollywood-Inszenierungen erscheint (Neale 1999, S. 133). Knut Hickethier grenzt den westdeutschen Kriegsfilm von den Werken anderer Länder ab, da er nicht nur das historische Kriegsgeschehen, sondern vor allem das „NS-Regime und dessen Verbrechen bis hin zu den Massenmorden an den europäischen Juden“ thematisiert (Hickethier 2007, S. 43). Nicht zufällig betrachtet Burkhard Röwekamp dieses Genre vor allem aus der Perspektive des Anti-Kriegsfilms, welcher in der US-amerikanischen Forschung eine marginale Rolle spielt. Das Interesse der deutschen Forschung am so genannten Antikriegsfilm verrät Erwartungen, welche an dieses Genre herangetragen werden: Es soll mit filmischen Mitteln Kritik am Krieg üben und ihn somit explizit verurteilen (Röwenkamp 2011, S. 11). Der Kriegsfilm wird dabei in mehreren Studien als ein besonderes Genre definiert, das sich – wie fiktional und gebrochen auch immer – auf ‚reale‘ Ereignisse bezieht und so etwas wie ein „Set an Erfahrungen“ ausgebildet hat (Hickethier 2007, S. 43). Er scheint also, verglichen mit anderen Genres, ein näheres Verhältnis zur ‚Realität‘ zu pflegen. Dabei ist er schon allein deshalb politisch, weil er Staatswesen und Formen der Gemeinschaft inszeniert und diskutiert (Koch 2012).17 Laut der Zusammenfassung der Forschung zum US-Kriegsfilm von Drehli Robnik lassen sich die meisten Studien einem von zwei Lagern zuordnen: Auf der einen Seite blenden die Beschäftigungen mit dem Genre, trotz ihrer allumfassenden Produktions-, Re17 „Wenn man über den Zusammenhang von Film- mit der politischen Geschichte redet, muss man über Genres reden und ob Genres sich unterschiedlichen Typologien von Staatswesen und Gemeinwesen zuordnen lassen.“ (Koch 2012, S. 175)
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zeptions- oder ästhetischen Reflexion, doch dessen Einfluss auf kulturelle Prozesse aus. Auf der anderen Seite sind etwa die ideologiekritischen Studien zu erwähnen, die wiederum die bildliche Eigenlogik außer Acht lassen (Robnik 2007, S. 9). Generell wird der deutsche Film über den Zweiten Weltkrieg verdächtigt, die NaziParolen heimlich fortzuschreiben und den Krieg zu glorifizieren. Erinnerungsfähig und daher gut beforschbar sind vor allem Filme, die die Verfolgung und Ermordung von europäischen Juden zum Thema haben. Die meisten deutschen Kriegsfilme der Gegenwart bewegen sich selbst im Rahmen der Holocaust-Narrative (ebd., S. 78). Zu diesem Untersuchungsfeld erscheinen seit den 1990er Jahren regelmäßig Studien;18 die meisten deutschen Filmwissenschaftler*innen beschäftigen sich jedoch mit dem US-amerikanischen Film19 oder auch mit Werken anderer Länder. 20 Während die deutsche Filmwissenschaft mit wenigen Ausnahmen eine gewisse Abscheu gegenüber dem deutschen Kriegsfilm zeigt, beschäftigen sich Vertreter*innen des professionellen Journalismus (Kuhlbrodt 2006), der Geschichtswissenschaft (Chiari et al. 2003), der Politikwissenschaft (Reichel 2004), der Kulturwissenschaft (Schultz 2012) oder sogar der Psychologie (Bliersbach 2014) mit großer Vorliebe mit diesem Genre. In der Filmwissenschaft findet sich die Beschäftigung mit dem deutschen Kriegsfilm eher im Rahmen einer breiten interdisziplinär aufgefächerten (Petersen und Jaeger 2004, 2006; Wende 2005) oder interkulturellen Perspektivierung (Klein et al. 2006; Robnik 2007, 2009; Vatter 2009), was durchaus sinnvoll und produktiv erscheint. Der Krieg als ein komplexes internationales Phänomen bietet sich geradezu an, um komparatistische oder medieninterdisziplinäre Studien durchzuführen. Allerdings gerät die Beschäftigung mit dem deutschen Kriegsfilm zuweilen etwas in den Hintergrund, oder andersherum: Erst die Demonstration der Wichtigkeit dieses Genres in anderen Ländern legitimiert die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem deutschen Kriegsfilm. Auch diese Studie stellt keine Ausnahme dar; die Beschäftigung mit den bundesdeutschen Kriegsfilmen wird in einen großen internationalen Kontext gesetzt, der den politischen Wert und die ästhetische Qualität der bundesdeutschen Kriegsfilme verdeutlicht. Vor diesem Hintergrund ist eine filmhistorisch angelegte Untersuchung zum Nationalsozialismus von Sonja M. Schultz (2012) zu honorieren, die eine der wenigen aktuellen Studien darstellt, welche das Thema allumfassend betrachten und dabei zahlreiche Werke analysiert. 18 Um hier nur einige zu nennen: Koch 1992; Augenblick 17/1994; Wende 2002; Augenblick 36/2004; Köppen und Scherpe 1997; Fröhlich et al. 2003; Frölich et al. 2007; Stephan und Tacke 2007; Ebbrecht 2011; Bruns et al. 2012; Keitz und Weber 2013; Stiglegger 2014. 19 Vgl. Nach dem Film 7 (2005): Kamera-Kriege; Heller et al. 2007; Röwekamp 2011; Greiner 2012; Kappelhoff et al. 2013; Ritzer 2014; Kappelhoff 2016; Elsaesser und Wedel 2016. 20 Z. B. Stiglegger 1999; Karl 2003. 47
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2 Forschungsstand
Insgesamt folgt die Forschung der etablierten bundesdeutschen Erinnerungsgeschichte, welche Aleida Assmann (1999b, S. 143) in drei Phasen unterteilt. Ähnlich unterscheidet Detlef Hoffmann zwischen drei Generationen: die Erinnerungen der „Kriegsteilnehmer, die ihrer Kinder und die der Kindeskinder.“ (Hoffmann 2005, S. 154) Christoph Vatter geht etwas differenzierter vor und unterscheidet insgesamt sechs Phasen der bundesdeutschen Erinnerungskultur (Vatter 2009), wobei er sich auch an den Studien von Aleida Assmann orientiert. Die erste Phase ist nach Aleida Assmann als Vergangenheitspolitik zu verstehen, die von 1945 bis 1957 dauert und durch das sogenannte Ordensgesetz, das die NS-Auszeichnungen verbietet, zu Ende geht. Sie charakterisiert diese Phase durch das von den Alliierten aufgezwungene Reeducation-Programm, das jedoch bei der Bevölkerung auf eine massive Abwehr stieß. Die wichtigen Themen sind die „Politik der Wiedergutmachung“, die anstrebte, die Opfer zu entschädigen, und die „Politik der Amnestie“, die dann die NS-Täter*innen in die neue Gesellschaft reintegrierte (Assmann, A. 1999b, S. 144). Die Amnestien waren in dieser Phase vor allem durch den Kalten Krieg und die dadurch angestoßene Remilitarisierung der BRD bedingt. Nach Vatter zeichnet sich die Aufarbeitung des Nationalsozialismus unter den Alliierten bis 1949 durch Prozesse zu Kriegsverbrechen und Entnazifizierung aus; die Zeitspanne von 1949 bis 1959 sei jedoch durch Verschweigen und Verdrängen des Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Abgrenzung von ihm geprägt (Vatter 2009, S. 47). Die Beschreibung dieser Phase oder dieser Phasen als Konjunkturen des Beschweigens und Verdrängens hat dabei einen problematischen Charakter und scheint ein Topos zu sein, wie ich im Kapitel Vergangenheitsverarbeitung in der BRD zeigen werde. Für die Zeitgenossen*innen ist das NS-Regime noch keine richtige Vergangenheit, daher gibt es noch keine Erinnerungen im eigentlichen Sinne, da sich die Bilder und Sinnmuster noch in Aushandlungsprozessen befinden. Gerade aus diesem Grund zeichnet sich die BRD-Gesellschaft durch komplexe kulturell-politische Prozesse aus, die nicht allein als Abwehr der Vergangenheit verstanden werden können, wodurch alle unter den Pauschalverdacht gestellt werden, heimliche NS-Anhänger*innen zu sein. Detlef Hoffmann hält verschiedene Phänomene dieser Zeit fest: Einerseits verweist er auf die Kontinuität der Erinnerungen der ersten Generation bis in die Gegenwart hinein, andererseits erwähnt er jedoch den Wettstreit verschiedener Erinnerungen in dieser Generation (Bombenkrieg, Attentat auf Hitler, SS als Kriegsverbrechen, Flüchtlinge aus Ostgebieten usw.) (Hoffmann 2005, S. 156–163). Die zweite Phase nach Assmann, die Hoffmann als jene der Kindergeneration bezeichnet, kennzeichnet sich durch die Kritik und eine Krise der Vergangenheitsbewältigung von 1958 bis 1984, in der die Verfolgung von NS-Täter*innen verschärft und in Abgrenzung zur Elterngeneration die Studentenrevolte ange-
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stoßen wird. Der Eichmann-Prozess in Jerusalem und der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main finden statt. Die Kritik wird einerseits durch die Frankfurter Schule formuliert, der sich insbesondere zurückgekehrte jüdische Emigrant*innen anschließen, und andererseits durch die Nachkriegsgeneration, die so genannte „skeptische Generation“ (ebd., S. 163–166, auch Assmann, A. 1999b, S. 144). In dieser Phase wird das Schweigen gebrochen. Vatter unterscheidet in ihr zwischen drei Perioden: Die Zeit von 1959 bis 1965 versteht er als eine zunehmende Pluralisierung des Diskurses über den Nationalsozialismus durch Prozesse zur Verurteilung von NS-Verbrecher*innen, mit der er vor allem die Verschiebung des kollektiven Gedächtnisses zur Erinnerung an den Judenmord anspricht. Von 1965 bis 1979 findet durch den Generationswechsel und die Studentenrevolte eine Verschiebung von Trauer und Scham zur Schuldkultur statt. Als paradigmatisch beschreibt er insbesondere den Kniefall Willi Brandts im Warschauer Ghetto 1970. Vatter beschreibt, wie von 1979 bis 1985 infolge der Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin Chomsky) in der BRD eine Individualisierung und Emotionalisierung der westdeutschen Erinnerungskultur angestoßen wird (Vatter 2009, S. 51–55). Diese Differenzierung mag hinsichtlich der historisch-politischen Ereignisse auf jeden Fall notwendig sein, entspricht jedoch nicht dem ‚Wesen‘ des kollektiven Gedächtnisses, das nur über Individualisierung und Emotionalisierung überhaupt zustande kommt. Auch die (kollektive) Schuldfrage wird von Anfang an diskutiert (Jaspers 1987 [1946]). Die dritte Phase ab 1985, die Detlef Hoffmann als Phase der Enkelgeneration definiert, zählt Assmann zur eigentlichen Erinnerung, da in den 1980er Jahren kollektive Symbole und Praxen festgelegt werden und die Medien deutlich in den Vordergrund rücken. Hier sind zwei Richtungen der Erinnerungspolitik voneinander zu unterscheiden. Die Vergangenheitsbewältigung wird mit dem Namen von Helmut Kohl verbunden, der die Versöhnung mit den Alliierten und die Überwindung der NS-Vergangenheit anstrebte. Nach Assmann sind diese Maßnahmen insofern problematisch, als dass sie allein auf das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten abzielen und Opfer, die keine politische Gruppe bilden, außer Acht lassen. Die Vergangenheitsbewahrung steht jedoch mit dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zur Disposition. Dieser plädiert für eine radikale Form von Erinnerung als einzige Lösung: Das NS-Regime habe Schäden hinterlassen, welche in keiner Form wiedergutgemacht werden können (Assmann, A. 1999b, S. 145–146). Nach Detlef Hoffmann sind in dieser Phase der Enkelgeneration verschiedene Tendenzen auszumachen: Einerseits werden die Erinnerungen versachlicht, wenn man beispielsweise an die Wehrmacht-Ausstellung des Hamburger Instituts für 49
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2 Forschungsstand
Sozialforschung denkt. Andererseits werden sie mythisiert – hier werden Beispiele aus der Populärkultur angeführt. Generell bleibt die Erinnerungskultur der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland von der DDR-Diskussion unbeeinflusst (Hoffmann 2005, S. 167). Vatter beobachtet ab 1985 die Koexistenz verschiedener Erinnerungsdiskurse, beispielsweise die Internationalisierung des nationalen Gedächtnisses und die Verlagerung vom historischen Geschehen auf verschiedene „Modi der kollektiven Erinnerung“ (Vatter 2009, S. 56). Dieser Aufteilung von Aleida Assmann und Detlef Hoffmann folgend, unterscheidet der Filmwissenschaftler Knut Hickethier drei zentrale Phasen der Entwicklung des bundesdeutschen Kriegsfilms: Mitte der 1950er Jahre setzt dieser sich vor allem mit der bundesdeutschen Wiederbewaffnung auseinander. Die Filme zeichnen sich durch eine ambivalente Haltung aus, wobei sie einerseits die NS-Verbrechen verurteilen, anderseits ein Vorbild einer neuen Armee und neuer Soldaten mit innerer Führung zu etablieren versuchen. In der zweiten Phase bilden die Ausschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren eine Folie für den Kriegsfilm, wobei sich die filmischen Beschäftigungen mit dem Holocaust zu einem eigenen Genre verselbstständigen. In den 1990er Jahren wird vor allem der Widerstand als Topos aufgewertet (Hickethier 2007, S. 44–45). Die wichtigen Themen, die sich durch Erinnerungsdebatten, Filme und Forschung ziehen, sind kollektives Trauma, kollektive Schuld und die (Selbst-)Darstellung der Nation. In Bezug auf den Nationalismus unterscheidet man drei Diskussionsfragen: den positiven Nationalismus (Nicht-Beachtung der NS-Vergangenheit), den negativen Nationalismus (Fixierung auf den Holocaust) und den Verfassungspatriotismus (Transnationalismus) (Assmann, A. 1999b, S. 63–67). Auch das Trauma wird unterschiedlich gedeutet. Nach Assmann ist das deutsche Trauma nicht aus den begangenen Verbrechen entstanden, sondern aus dem Zwang ihrer Anerkennung durch die Alliierten. Sie analysiert verschiedene Aussagen von Zeitgenoss*innen über die Plakate, die getötete KZ-Häftlinge zeigten und die Schuld so den Deutschen zuwiesen. Daraus leitet sie die Entstehung eines Traumas der Scham, aber nicht des Schuldgefühls ab (ebd., S. 139). Die kollektive Schuldthese bleibt umstritten, viele der Zeitgenoss*innen und Involvierten im Krieg weisen sie deutlich zurück. Auch in den Nürnberger Prozessen wurde das deutsche Volk niemals als Ganzes für schuldig befunden (ebd., S. 80–96, 112–117). Für die Abwehr der Schuld entstanden in der Nachkriegszeit drei Entlastungsmechanismen, welche nach Aleida Assmann die Erinnerungen einfroren (was auch immer das bedeuten soll): das Schweigen, das Opfer-Syndrom und der Antikommunismus. Diese Entlastungsmechanismen haben inzwischen zum größten Teil an Geltung verloren (ebd., S. 140–141, auch Assmann, A. 2000a, S. 42–43). Die Bewältigungsmechanismen wurden ebenfalls ausdifferenziert. Als externalisierte Vergangenheitsbewältigung wird die Überwin-
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dung des Nationalsozialismus durch Institutionen verstanden (ein Beispiel dafür wäre das Grundgesetz); die internalisierte Vergangenheitsbewältigung umfasst die Überwindung durch humanistische Werte und Ideen sowie durch die intellektuelle Auseinandersetzung, die auch als sozialpsychologische Überwindung bezeichnet wird (zum Beispiel durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule) (ebd., S. 43–44). Russland spielt in den bundesdeutschen Kriegsfilmen so gut wie keine Rolle; der Feind des Zweiten Weltkrieges ging laut Wolfgang Becker in das Feindbild des Kalten Krieges über (Becker 2001, S. 84, auch Wegmann 1980, S. 151–154). Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat jedoch im Film keinen Platz mehr für andere Feinde übriggelassen. In aktuellen Filmen wird jedoch häufig eine Russland- oder Polenphobie deutlich (dazu Schmid 2019). In bundesdeutschen Filmen geht es dabei vor allem um Niederlage, Schuld und Verantwortung, ganz im Unterschied zum Befreiungspathos und Widerstandsheroismus der DEFA (Becker 2001, S. 84). Frühere Studien beschäftigen sich zunächst mit der historischen Kontextualisierung und filmgeschichtlichen Anordnung der Filme (Pleyer 1965; Wegmann 1980; Überblick dazu bei Greffrath 1995, S. 19–35). Der Kriegsfilm gilt als Musterbeispiel einer „militaristischen und revanchistischen Propaganda“ (Kreimeier 1973, S. 108, auch Schmieding 1961, S. 35), die den Krieg in apolitischer und entlastender Weise zum Szenario bloßer Unterhaltung degenerieren lässt (Wegmann 1980, S. 136–150). Die späteren Studien revidieren einige frühere Vorurteile gegenüber dem westdeutschen Kriegsfilm durchaus, untersuchen also auch ihre ästhetisch-politische Qualität (Becker und Schöll 1995). Die meisten aktuellen Studien beschäftigen sich mit der ästhetischen und medialen Verfassung des Krieges, weisen jedoch auf die Transformation des kollektiven Gedächtnisses durch Medien hin (Wende 2002; Elsaesser 2002; Ebbrecht 2011; Keitz und Weber 2013). Das Genre an sich erscheint als eine viel diskutierte und umstrittene Kategorie, mit der verschiedene Klassifizierungsversuche vorgenommen werden: aufgrund der thematischen Ausrichtung der Filme, ihrer spezifischen Figurenkonstellationen und deren Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus, ihrer geografischen Situierung sowie ihrer spezifischen emotionalen oder affektiven Gestaltung (vgl. dazu Hickethier 2003, 2007; Klein et al. 2006). In diesem Sinne existiert der Kriegsfilm an sich nicht, sondern muss in Bezug auf den konkreten Krieg sowie das konkrete Land und die konkrete Zeit der Filmproduktion jeweils anders definiert werden. Einen Versuch einer allgemeinen Definition des Kriegsgenres haben jedoch die Herausgeber Thomas Klein, Marcus Stiglegger und Bodo Traber (2006) unternommen und so darauf aufmerksam gemacht, dass einige Genrestrukturen international übereinstimmend sind (vgl. auch Heller et al. 2007). In ihrem international ausge51
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2 Forschungsstand
richteten Sammelband sind auch Analysen zu einigen bundesdeutschen Produktionen zu finden. Zu den allgemeinen Kategorien gehören nach Klein, Stiglegger und Traber vor allem die historischen Schauplätze des Krieges, spezifische Figuren- und Geschlechterkonstellationen sowie eine bestimmte narrative Entwicklung (Klein et al. 2006, S. 13–14). Jeder Krieg wird über Schauplätze definiert, die wiederum die Spezifik des Films ausmachen: Für den Ersten Weltkrieg sind beispielsweise Schützengräben und für den Vietnam-Krieg Dschungellandschaften charakteristisch. Im Zweiten Weltkrieg unterscheiden sich die Schauplätze je nach technischer Ausstattung und geographischer Lokalisierung. Die Brücke und der Hügel scheinen als Schlachtfelder international verbreitet zu sein. Luft, Felder und Meer sind in Luft- und Atlantikkriegen sowie bei den Panzerschlachten häufig zu sehen. Sie erscheinen als Kampforte der regulären Armee. Die Wälder fungieren hingegen als prominente Orte der Partisanen- und Guerillakriege; einige von ihnen sind sogar zum Spezifikum eines Subgenres geworden: Die Schlacht von Stalingrad und der Fall von Berlin sind beispielsweise beliebte Kriegsorte der Russen und der Deutschen. Hingegen gehört die Landung der Alliierten in der Normandie zur deutschen und zur US-amerikanischen Kriegsikonografie. Der Angriff auf Pearl Harbor wird eher in Hollywood-Produktionen thematisiert. Die Zerstörung von Hiroshima wird hingegen weder in Deutschland (BRD/DDR) noch in der Sowjetunion behandelt. Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass sich die Filme über den Zweiten Weltkrieg (sei es aufgrund technischer Möglichkeiten oder aufgrund ethischer Überlegungen) im Vergleich stärker an historischen Rekonstruktionen orientieren als andere Kriegsfilme (ebd.). Zugleich haben die Soldaten im westlichen Kriegsfilm keinen konkreten Auftrag; dieser wird erst durch den Antagonisten ausgelöst. Das Kriegsfilmgenre präsentiert sich als ein männerfixiertes Genre: Die meisten Filme handeln von Männern und spezifischen männlichen Konflikten wie zum Beispiel unterschiedlichen Hierarchieaushandlungen, Vater-Sohn-Beziehungen oder der Objektivierung der Frau. Die Protagonisten sind selten Einzelgänger, sondern agieren vorwiegend innerhalb der Gruppe. Diese Tradition wurde bereits in den Filmen zum Ersten Weltkrieg etabliert und für die Darstellung des Zweiten Weltkrieges übernommen – das Vorgehen ist auch heute noch üblich (Basinger 1986). Frauen werden unmittelbar mit der Heimat oder der ‚Heimatfront‘ assoziiert; ihr Auftritt impliziert melodramatische Elemente bzw. es wird umgekehrt durch die Melodramatisierung eines Kriegsfilms „die dramaturgische Relevanz der Frauenfigur“ erhöht (Klein et al. 2006, S. 17). Die filmische Narration enthält narrative Stationen: Heimat – (evtl. Ausbildung) – Front – Rückkehr oder Tod (vgl. weitere Erzähltypologien bei Thiel 1961; Schmidt 1964). Innerhalb dieser Phasen erfährt der männliche Held eine Entwicklung bzw. Neugeburt als Kind des Krieges. In der Heimat löst der Kriegsanfang
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große Euphorie aus, die bereits in der Ausbildung durch den militärischen Drill drastisch zurückgeht. An der Front werden die Soldaten durch den Schock und schmerzhafte Verluste völlig desillusioniert. Je nach Ausrichtung des Films werden Verluste als Opfer für eine Nation aufgewertet oder als sinnlos dargestellt; letzteres ist ein typisches Charakteristikum des Anti-Kriegsfilms. Die Rückkehr der Soldaten kann den Sinn des Krieges herstellen oder entziehen, wenn sie mit dauerhaften Verletzungen heimkehren oder zu Hause auf Respektlosigkeit und Gewalt stoßen (Klein et al. 2006, S. 17–20). Knut Hickethier unterscheidet dabei mehrere narrative Typen des Kriegsfilms, mit denen eine thematisch-motivische wie historische Orientierung in der Genreentwicklung geboten wird: der Militärschwank, die Geschichte des soldatischen Helden, der Krieg als Rahmen für Widerstand, die Kapitulationsgeschichte, die Kasernengeschichte, die Lagergeschichte, die Geschichte der Entscheidungsnot junger Soldaten, die Geschichte der verblendeten Jugend, die Geschichte des Deserteurs sowie Krieg und Nachkriegszeit als Szenario eines Coming of Age (Hickethier 2007, S. 51–55). Es liegt auf der Hand, dass sich diese Liste bis ins Unendliche fortsetzen ließe. Mehrere Studien thematisieren den Einfluss des Kriegsfilms auf die Erinnerungskultur. Zum Beispiel beschreibt Hermann Kappelhoff mithilfe von Aby Warburgs Pathosformen den Krieg als Erfahrungsraum, der in der Interaktion und Mobilisierung der Zuschauenden verschiedene Affekte (Trauer, Trauma, Leiden der Soldaten) verdichtet, vor allem jedoch ein Ohnmachtsgefühl erleben lässt: [D]er Film [entfaltet sich] im Prozess der ästhetischen Wahrnehmung als eine affektive Bewegung, die der Zuschauer als seine eigene Emotionalität realisiert. Ihm wird der Film in der Zeit seiner Entfaltung zu einem ‚inneren Objekt‘, vergleichbar dem Bild eines Erinnerungskomplexes. Darin unterscheidet sich der Kriegsfilm als Pathosform vom klassischen Erzählkino. Er zielt auf ein Sentiment, das sich in den Erfahrungsformen des Erinnerns zwischen Trauma und Trauer bewegt. (Kappelhoff 2005)
Weiter führt Kappelhoff aus: „Er ist ‚Erinnerungsdichtung‘ am männlich-militärischen Selbstbild einer Nation.“ (Ebd.) Unter dem von Sigmund Freud entlehnten Begriff Erinnerungsdichtung versteht er dabei die „Umwandlung des fotografischen Dokuments realer Individuen in eine Pathosform“ (ebd.), die unterschiedlich im Film funktionalisiert werden könne. Zunächst, ähnlich wie bei Klein, Stiglegger und Traber, als ein narratives drei-Phasen-Modell beschrieben, entwickelt Kappelhoff in späteren Studien nach Genremotiven weitere Pathosformen des Kriegsfilms, die vor allem einer nationalen Gemeinschaftsbildung dienen (Kappelhoff 2014, 2016). Knut Hickethier hebt ebenfalls die erinnerungspolitische Funktion des bundesdeutschen Kriegsfilms hervor, da er vor allem „das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft mit beeinflusst hat.“ (Hickethier 2007, S. 48) 53
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In Bezug auf die Gedächtnispolitik dekonstruiert Drehli Robnik US-amerikanische und deutsche Kriegsfilme der Gegenwart und stellt dabei fest, dass die Hollywood-Produktionen den Krieg aus der Diversity-Perspektive zu entfalten versuchen und somit Abweichungsmomente privilegieren, die von der nationalen Ästhetik differieren (Robnik 2007, S. 86). Sie orientieren sich am postfordistischen, „postheroische[n] konsumkulturelle[n] Subjekt“ (ebd., S. 73). Die deutschen Kriegsfilme bedienen sich hingegen der Holocaust-Narrative als Rahmen, weshalb eine Verschiebung von der Täter- zur Opferperspektive stattfindet, welche ein „Bild der Deutschen als paradigmatische Opfer des Nationalsozialismus“ durch die „Appropriierung und Neubespielung konventionalisierter filmischer Ikonografien und Erzählformen der Judenvernichtung“ entwirft (ebd., S. 78). Vor diesem recht kurz gehaltenen Überblick versucht diese Arbeit die vorhandene Forschung fortzusetzen und die Forschungslücke zum bundesdeutschen Kriegsfilm ein Stück weiter zu schließen, wobei es auch im hier vorausgesetzten komparatistischen Rahmen nicht möglich ist, ihn allumfassend zu betrachten. In dieser Untersuchung berühren die meisten Analysen auch die Genrefragen, welche durchaus für die Genreforschung von Interesse sein können, wie etwa eine narrative Entfaltung des Kriegsfilms, Fragen nach seiner gesellschaftlichen Funktion oder seiner affektiven Wirkung. Das Genre an sich wird jedoch nicht direkt zum Gegenstand der Reflexion. Mir erschien es einengend, in einer komparatistischen Studie allein die Genrefragen zu fokussieren. In der BRD, DDR und UdSSR herrschten drei verschiedene Genresysteme vor. Außerdem werden in dieser Arbeit darüber hinaus Filme behandelt, die den Krieg nicht zeigen und streng genommen nicht zum Genre des Kriegsfilms gehören. Die hier durchgeführte Untersuchung konzentriert sich daher auf Filme, die sich im weiteren Sinne mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Im Rahmen dieser Arbeit ist es mir außerdem wichtig, den Kriegsfilm nicht allein zu bewerten, sondern in umfassenderer Weise nach seinen Funktionen und Leistungen zu fragen. Die Dekonstruktion, oder in Worten von Thomas Elsaesser (2006), die analytische Hervorhebung von Fehlleistungen, schien mir in Bezug auf Erinnerungskulturen als unproduktiv. Filme können trotzdem wirken, auch wenn sie in sich Widersprüche enthalten und ästhetisch scheitern. Zentral ist jedoch die Annahme, dass der Kriegsfilm spätere Holocaust-Debatten überhaupt erst möglich machte. Frühere Filme über den Zweiten Weltkrieg entwickelten eine bestimmte, einflussreiche Bildlichkeit und lieferten entsprechende Motive und Strukturen für die politisch-ästhetische Auseinandersetzung mit dem Holocaust.
2.4 Der antifaschistische DEFA-Film
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Der antifaschistische DEFA-Film
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Der antifaschistische DEFA-Film
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Zur Filmgeschichte der DDR sind bereits zahlreiche erkenntnisreiche Studien erschienen, die die Entwicklung der DEFA, der Deutschen Film AG, in ihren historischen, sozialpolitischen und ästhetischen Dimensionen,21 im Vergleich zu westdeutschen Produktionen (Hake 2004; Kannapin 2005) wie auch in Anbetracht der Erinnerungskultur (Zahlmann 2001; Barnert 2008) analysiert haben. Der DEFAFilm wurde durch die SED unter sowjetischem Einfluss als Parteiinstrument der Massenerziehung und -propaganda verstanden (Mühl-Benninghaus 2012, S. 92; Deltl 2001). Der antifaschistische Kampf im Zweiten Weltkrieg fungierte dabei als zentraler Legitimationsmythos für die sozialistische Staatlichkeit. Die Antifaschismusfilme, die die Zeit des Nationalsozialismus und dessen Folgen für die DDR behandeln,22 machen daher einen hohen Anteil der Gesamtproduktion der DEFA aus. Wie wichtig dieses Genre für die DDR war, beweist die Tatsache, dass der Antifaschismusfilm unabhängig von der Nachfrage des Publikums produziert wurde. Das Kriegsthema garantierte, ähnlich wie in der UdSSR, ein ausreichendes Budget, die notwendige Ausstattung und zahlreiche Vergünstigungen. Insgesamt wurden von jeweils etwa 800 Spielfilmen in unterschiedlichen Jahren 60 (Becker 2001, S. 75), 68 (Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR 1985) oder sogar 106 (Kannapin 2005)23 Filme produziert, die den Nationalsozialismus thematisierten. Die Zahlen variieren allerdings je nach Definition des antifaschistischen Films stark (dazu kritisch ebd., S. 46–53). Mit meiner Studie möchte ich die Arbeit, die in den bereits bestehenden Untersuchungen geleistet wurde, fortsetzen. Dabei baue ich auf der Ausarbeitung des historischen Kontextes, der Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen Film und Politik und einigen Interpretationsansätzen, die das historische und filmische Material vertiefend erfasst haben, auf. Ohne diese bestehende Forschung wäre meine Arbeit gar nicht denkbar. Die anschließend folgende Kritik zielt daher nicht auf einzelne Autor*innen ab, deren Leistung ich hoch schätze und auf deren Erkenntnisse ich diese Arbeit unter anderem aufgebaut habe. Es geht mir vielmehr darum, 21 Frühere Studien aus der BRD von Kersten 1963; Jansen und Schütte 1977. Aus der DDR: Richter 1981/1982. Und die Studien nach der Wende von Mühl-Benninghaus 1993, 2001, S. 743–758; Schenk 1994, 2006; Mückenberger und Jordan 1994; Pflügl und Fritz 2001; Finke 2001; Schittly 2002; Poss und Warnecke 2006. 22 Anne Barnert zählt auch die Gegenwartsfilme dazu, die die Ergebnisse des antifaschistischen Kampfes im aktuellen Nachkriegskontext aktualisieren (Barnert 2008, S. 14). 23 Kannapin weist darauf hin, dass viele Gegenwartsfilme, Kinderfilme oder auch Filme, die auf die NS-Zeit anspielen, bei der Erfassung nicht als antifaschistische Werke verstanden wurden. 55
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auf Defizite und epistemologische Probleme der bestehenden Filmhistoriografie, Filmanalyse sowie Untersuchung der Erinnerungskultur hinzuweisen, ohne jedoch den Wert dieser Studien negieren zu wollen. Die meisten Arbeiten gehen in ihrer Erfassung der DEFA-Geschichte und der DDR-Erinnerungskultur chronologisch vor. Die geschichtliche Forschung zur Erinnerungskultur in der DDR unterteilt diese Sabine Moller zufolge beispielsweise anhand der historischen Entwicklung des jungen Staates in drei Phasen. Insgesamt wird die Erinnerungskultur unter dem Motto der „Sieger der Geschichte“ beschrieben, da der Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit der erfolgreichen Gründung eines sozialistischen Staates verbunden wird (Danyel 1995, S. 32). Außerdem beansprucht der Staat ein Monopol auf die Geschichtsdeutung. Die frühere Nachkriegszeit (1945–1949) wird als spontane und weitgefächerte Erinnerungskultur charakterisiert, weil noch kein eindeutiger Konsens besteht (Moller 2003, S. 44–45). Hier wird auch die Judenermordung durchaus thematisiert und problematisiert. Die zweite Phase beginnt mit der Staatsgründung und bildet parallel zu den ersten Konfrontationen im Kalten Krieg (1948/49–1955) ihre zentralen Charakteristika aus. Die Zeit ist durch stalinistische Verfolgungen und Antisemitismus geprägt (Herf 1998, S. 224), mit denen ein Verlust der inneren Differenzierung von Opfern und Verfolgten (Danyel 1995, S. 32) einhergeht. Der Antifaschismus nimmt nun eine ahistorische Gestalt an (Moller 2003, S. 47). Generell wird die Bevölkerung mit dem Antifaschismus assoziiert, während die Schuld auf die NS-Elite verlagert wird. Die Zeitspanne von 1955 bis 1989 wird auch als Epoche des „versteinerten Gedenkens“ bezeichnet, weil der Antifaschismus in einer dogmatischen Form erstarrt, welche Erinnerungen an die Ermordung der europäischen Juden oder den bürgerlichen Widerstand nicht mehr zulässt (ebd., S. 50–53), wobei das Thema der Judenverfolgung nie ganz verschwindet und seit Ende der 1960er Jahre als eine Gegen-Erinnerung in der ostdeutschen Literatur auftritt (Danyel 1992, S. 926). In diesem Zusammenhang werden immer wieder die Romane Jakob der Lügner (1968) von Jurek Becker und Kindheitsmuster (1976) von Christa Wolf hervorgehoben (Moller 2003, S. 55). Diese Zusammenfassung der Erinnerungskultur erweist sich im Rahmen einer Analyse von DEFA-Filmen allerdings nicht als ganz unproblematisch. Die Erinnerungskultur selbst steht in der Nachkriegszeit noch ganz am Anfang. In den meisten Studien wird die kulturpolitische Situation auf die Erinnerungskultur projiziert; der Krieg gehört jedoch im Prinzip noch der Gegenwart an – daher ist zu fragen, welcher historische Abstand vorausgesetzt werden muss, um überhaupt von so etwas wie Erinnerungskultur sprechen zu können. Die Ergebnisse des Krieges sind in den späten 40er Jahren noch nicht ganz ausgewertet. Vor allem Bilder und Narrative der Erinnerung befinden sich noch im Entstehungsprozess. Weiterhin
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stellt die Aussage über eine spätere Entdifferenzierung von Opfern eine umgekehrte Schlussfolgerung dar. Erst im Laufe der Jahrzehnte werden die Opfergruppen und ihre jeweilige Bedeutung politisch ausdifferenziert. Die Judenverfolgung und -ermordung wird bereits unmittelbar nach dem Krieg im Film thematisiert; allerdings ist hier noch unklar, welchen Stellenwert diese NS-Verbrechen im Verhältnis zum gesamten Krieg einnehmen werden. In den Nürnberger Prozessen bildet die Judenverfolgung einen Punkt der Anklage, wird gegenüber anderen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit allerdings nicht hervorgehoben (Reichel 2001, S. 30–41). Das Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes 1953 und daraufhin die Errichtung des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, mit der die Entdifferenzierung der Opfer in der Geschichtswissenschaft begründet wird, sagt etwas über die Geschichts- und Erinnerungspolitik in der DDR, jedoch nicht über kollektive Erinnerungen aus, die nicht allein durch institutionelle Veränderungen erfasst werden können. Auch die Vorstellung eines „versteinerten Gedenken[s]“ (Moller 2003, S. 50–53) widerspricht grundsätzlich der Dynamik und Prozesshaftigkeit der Erinnerungskultur, in welcher die Vergangenheit ständig in Bezug auf aktuelle politische Bedürfnisse aktualisiert und funktionalisiert wird. Auch finden sich bezüglich der Vernachlässigung der Judenermordung, die der DDR häufig vorgeworfen wurde, in der Forschung unterschiedliche Meinungen. Wolfgang Becker hebt einen Schwerpunkt der DEFA-Filme hervor, der in einer „Heroisierung des kommunistischen Widerstandes bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Ausmaßes des Massenmords am europäischen Judentum“ bestehe (Becker 2001, S. 75). Der US-amerikanische Germanist und Kulturwissenschaftler Sander L. Gilman kritisiert die DDR ebenfalls für die Marginalisierung der Shoah. Er zählt zugleich jedoch zahlreiche DEFA-Filme über den Antisemitismus und die Judenermordung auf und zitiert Jurek Becker, den Autor des Romans Jakob der Lügner sowie des Drehbuchs zum gleichnamigen Film, welcher zugibt, auf eine lange Tradition zu diesem Thema zurückblicken zu können: Unmittelbar nach dem Krieg hätte der Beobachter solch eine Behandlung dieses Themas als Blasphemie betrachtet. Ich glaube, daß unsere Geschichte einen hohen Wissensgrad erfordert. Ich kann mit einer Geschichte wie dieser nur an Leute herangehen, nachdem sie zwanzig oder dreißig Jahre lang mit Informationen über diese Zeit bombardiert worden sind. Mit anderen Worten ist dies ein unpassender Text für jemanden, der nichts davon weiß, was damals geschehen ist. (Becker nach Gilman 2002, S. 175)
Die Situation der Juden nach dem Zweiten Weltkrieg in der SBZ und später in der DDR war nicht einfach und zeichnete sich vor allem durch Paradoxien aus. Einerseits identifizierten sich viele jüdische Remigrant*innen und KZ-Überle57
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bende mit der linken Idee, bekamen hohe politische Posten und gehörten nun zur kulturellen, politischen und intellektuellen Avantgarde und Elite der DDR (auch wenn der Realsozialismus sein Versprechen ihnen gegenüber doch nicht zur Gänze einlöste). Dabei fühlten sie sich primär eher als Kommunist*innen und deutsche Bürger*innen, denn als Juden (Herzberg 2002). Nach Frank Stern war der Antifaschismus eine Art Synonym für die deutsch-jüdische Identität in der DDR (Stern 2009, S. 51), weil er auch als Aktualisierung der humanistischen Tradition verstanden wurde (ebd., S. 56). Andererseits wurde diese Tradition durch den stalinistischen Antisemitismus Anfang der 1950er Jahre und den im Verlauf des Kalten Krieges verschärften Kampf gegen den Zionismus bedroht. Für die Abgrenzung und Diffamierung gegenüber dem Staat Israel bedienten sich Politik und Medien antisemitischer Parolen (ein Beispiel dafür ist der Begriff des ‚jüdischen‘ Kapitals) und parallelisierten den Zionismus mit dem Nationalsozialismus, was zu Recht als Skandal identifiziert wurde (Timm 2002). Sicher ist, dass die remigrierten und überlebenden jüdischen Autor*innen und Filmemacher*innen zu einer Blüte linker, jüdisch-deutscher Nachkriegskunst in der DDR beigetragen und das Thema der Judenverfolgung im kollektiven Gedächtnis entwickelt und etabliert haben, auch wenn dieses Anliegen nicht im Vordergrund ihrer Tätigkeit stand.24 Die Antifaschismusfilme thematisieren daher auch regelmäßig und während aller Phasen der DDR-Geschichte den Antisemitismus und die Judenermordung. Der Antifaschismus wurde nicht deswegen zentral in der Staatslegitimation und -selbstdefinition, weil die DDR die Judenverfolgung nicht thematisieren wollte, sondern weil kollektive Erinnerungen immer auf die aktuelle politische Situation bezogen sind, welche sie zu legitimieren berufen sind. Die sozialistische Staatsgründung, der Realsozialismus und der politische Einfluss der UdSSR erforderten eine entsprechende Vergangenheit, welche die antifaschistischen Filme regelmäßig aktualisierten. Eine frühe westdeutsche Studie von Heinz Kersten (1977) sortiert die DEFA-Filme vorwiegend nach Themen, wobei ihnen generell jede politische Sensibilität abgesprochen wird. Außerdem übersieht der Autor die Konjunktur bestimmter Themen. Daher ist die Differenzierung nicht immer geglückt – ein Film kann schließlich mehrere Themen gleichzeitig behandeln. In den ersten Jahren erfolgt nach Kersten zunächst eine kritische Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, die in der Tradition des bürgerlichen kritischen Realismus zu verorten sei. Genannt wird hier vor allem Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte). Der Antisemitismusthematik widmen sich besonders Ehe im Schatten (DEFA 24 Spiel- und Dokumentarfilme, Fernsehbeiträge, Theaterstücke wie auch internationale Produktionen über die Judenverfolgung und -ermordung wurden im Kino und im Fernsehen regelmäßig gezeigt (Schieber 2009, S. 65).
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1947, R. Kurt Maetzig) und Affäre Blum (DEFA 1947, R. Erich Engel). Kritik an den Arbeiter*innen selbst und am Bürgertum wird in Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) und Die Sonnenbrucks (DDR 1951, R. Georg C. Klaren) geübt. Politischer Widerstand kommt in Stärker als die Nacht (DDR 1954, R. Slatan Dudow), Der Teufelskreis (DDR 1956 R. Carl Balhaus) und KLK an PTX – Die rote Kapelle (DDR 1971, R. Horst E. Brandt) zum Ausdruck. Die Internationalisierung des Widerstands behandelt Die gefrorenen Blitze (DDR 1967, R. János Veiczi), die moralische Pervertierung durch das NS-Regime analysieren die Filme Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) und Der verlorene Engel (DDR 1966, R. Ralf Kirsten). Ein Missbrauch jugendlicher Ideale wie auch eine Hinführung des Publikums zur Entscheidung gegen den Nationalsozialismus vollziehen Sterne (DDR 1959, R. Konrad Wolf), Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1965, R. Joachim Kunert), Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf) und Mama, ich lebe (DDR 1977, R. Konrad Wolf). Der Historiker Stefan Zahlmann spricht mit Verweis auf Aleida und Jan A ssmann von einem filmischen kulturellen Gedächtnis (Zahlmann 2001), wobei er jedoch die Filme als „Spiegel einer Erinnerungskultur“ (2001, S. 53) definiert, denen somit keine Gestaltungskraft zugesprochen wird. Jeder einzelne Film bringe mit seinem Inhalt, seiner Darstellung (gemeint ist wahrscheinlich die Form) und seiner Bedeutung eine Erinnerungsfigur hervor, die zitiert und tradiert werden könne (Zahlmann 2002, S. 68, auch Zahlmann 2001). Die Erinnerungsfiguren oder -komplexe erscheinen erneut als Topoi: Antifaschismus, SED-Thematik, Arbeit usw. Anhand des Umgangs mit solchen Erinnerungsfiguren im Film kann Zahlmann drei Phasen im filmischen kulturellen Gedächtnis ausmachen (Zahlmann 2002, S. 79–82). In der Nachkriegszeit bis in die späten sechziger Jahre hinein werden solche Erinnerungsfiguren definiert, die vor allem eine antifaschistische Haltung der Protagonist*innen performativ herstellen und somit auch beim Publikum einüben. Der Antifaschismus wird zum offiziellen Geschichtsbild der DDR. In der zweiten Phase der siebziger und achtziger Jahre findet eine Redefinition des Antifaschismus in Bezug auf ästhetische Form und gesellschaftliche Legitimation statt. Nun dominieren Vergleiche mit und Gegenbilder der DDR zur BRD. Trotz ihrer kritischen Haltung entwerfen die antifaschistischen Filme und die Gegenwartsfilme jedoch keine „Gegenentwürfe oder glaubwürdige[n] Alternativen“ (ebd., S. 80). Gegen Ende der DDR werden diese Erinnerungsfiguren ganz dekonstruiert oder gar destruiert, was nicht mit dem Versuch verwechselt werden sollte, den Nationalsozialismus zu vergessen. Dieses Spiel mit Erinnerungsfiguren richtet sich zum einen gegen die offizielle Erinnerungskultur und reflektiert somit die frühe Geschichte der DEFA, in der diese Erinnerungsfiguren konstituiert wurden. Zum anderen wechselt in 59
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den letzten Filmen die Perspektive auf die Vergangenheit von einer kollektiven zu einer stärker individuell geprägten. Dorothea Becker analysiert die DDR-Filmwissenschaft, die sie dann ebenfalls in drei Phasen einteilt: In der ersten Phase von 1950 bis 1965 finden die Konstituierung und der strukturelle Aufbau der Filmwissenschaft statt. In dieser Periode wird die DEFA-Kunst in Abgrenzung vom Kino der Weimarer Republik (als reaktionärer Kunst), dem Nationalsozialismus (als Propaganda) und Westdeutschland (als bürgerlicher Unterhaltungskunst) als „Höhenpunkt“ der deutschen Filmgeschichte definiert (Becker 1999, S. 129). Hervorgehoben werden einerseits realistische Darstellungsmodi als kritische Ausdrucksformen und andererseits die sozialpolitische Funktion der Filme. Die zweite Phase von 1965 bis 1980 beschreibt Becker als Krisenzeit, die mit dem Kahlschlag am XI. ZK-Plenum beginnt. In dieser Zeit wird die Filmindustrie verstärkt zensiert und kontrolliert. Vor allem wissenschaftliche Tätigkeiten und Finanzierungsprogramme werden stark reduziert. Die wissenschaftliche Diskussion geht daher zurück und zerrinnt in ideologischen Legitimationen (ebd., S. 196). Die dritte Phase von 1980 bis 1989 wird als Neubeginn definiert, in dem sich ein Ausbau der film- und fernsehwissenschaftlichen Forschung vollzieht. Seit den 1960er Jahren wird zunehmend Interesse an Theorie und Methodenbildung gezeigt, wenn auch nur im kleinen Maßstab (ebd., S. 259). Insgesamt wurden die meisten Ansätze für die Legitimation der sozialistischen Ideologie funktionalisiert. Die komparatistische, chronologisch aufgebaute und etwas unübersichtliche Ost-West-Studie von Detlef Kannapin zum Thema des Nationalsozialismus hebt verschiedene Aspekte der politischen Interaktion zwischen beiden Staaten hervor, um der Komplexität der filmischen Aushandlung von Erinnerungen in beiden Staaten gerecht zu werden und eine Dialektik der Bilder sowie ihre Unabgeschlossenheit und Ambivalenz beschreibbar zu machen (Kannapin 2005, S. 288–289). Die Filme aus BRD und DDR sind, so die Schlussfolgerung von Kannapin, aufeinander bezogen, sie stehen in einem (kontroversen) Dialog miteinander, liefern daher in der Regel gegenläufige Ansätze und komplementieren einander auf diese Weise, zumindest in Bezug auf die Vergangenheit: „Beide Seiten zusammengenommen ergeben im Gesamtüberblick eine Arbeitsteilung in der Aufarbeitung der NS-Zeit.“ (Ebd., S. 53) Kannapin ordnet die Filme von 1945 bis 1955 der Phase zu, in der sich die Moralität der früheren Produktionen hin zur Abwehr historischer Verantwortung verschiebt. Ab Mitte der 1950er Jahre diagnostiziert Kannapin anhand von Der 20. Juli (BRD 1955, R. Falk Harnack) und Der Hauptmann von Köln (DDR 1956, R. Slatan Dudow) allen Unterschieden der Werke zum Trotz einen Wunsch nach Integration der Vergangenheit in die Gegenwart und eine Hervorhebung des soldatischen Handelns als politisch. Mit einem Vergleich von Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) und Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1965,
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R. Joachim Kunert) macht der Autor einerseits auf das Thema des Schuldig-Werdens der Soldaten, andererseits auf die eine spezifische Ästhetik aufmerksam, die von einer durch Psychologisierung und naturalistische Effekte hervorgerufenen Erschütterung und existentiellen Grunderfahrung hervorgebracht wird. Nacht fiel über Gotenhafen (BRD 1960, R. Frank Wisbar) und Geschichte jener Nacht (DDR 1967, R. Karlheinz Carpentier) sind Beispiele der ideologischen Projektion aktueller Gesellschaftsvorstellungen auf die des Gegners, wobei kritisch anzumerken ist, dass die Filme immer als Verhandlungsmedium aktueller Diskurse erscheinen (Zahlmann 2001). Mit Jakob der Lügner (DDR 1975, R. Frank Beyer) und Die Blechtrommel (BRD 1979, R. Volker Schlöndorff) wird eine Rückkehr der historischen Verantwortung verzeichnet, wodurch Kannapin die in der Geschichtswissenschaft etablierte Vorstellung der Nicht-Thematisierung der Judenverfolgung wiederholt. Dein unbekannter Bruder (DDR 1982, R. Ulrich Weiß) und Die weisse Rose (BRD 1982, R. Michael Verhoeven) artikulieren das Versagen des Widerstands. Bei aller aufschlussreichen kultur- und filmpolitischen Reflexion scheint als Grundlage für den Vergleich hier stets die zeitliche Nähe der Filme zu fungieren. Natürlich reagieren die Filmschaffenden aufeinander und greifen ähnliche Themen auf, allerdings mit vollkommen unterschiedlichen Ästhetiken. Die Herausbildung der Erinnerungskultur wird somit in eine chronologische Stringenz eingeschrieben, die keine historische Kontingenz und kein Überdauern ästhetischer Formen zulässt. Die Studie von Anne Barnert, ein weiteres aktuelleres Beispiel, nimmt ebenfalls eine chronologische Erfassung der DEFA-Filme in Bezug auf ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor. Sie lässt die erste DEFA-Phase nun bis 1960 andauern; besonders wichtig ist dabei die Zeit von 1953 bis 1958, also jene Initiations- und Herausbildungsperiode, in der ein standardisierter Darstellungstypus des Antifaschismus unter dem Einfluss des Sozialistischen Realismus entwickelt wird, der mehr oder weniger bis 1989 fortbesteht. In diese Zeit fallen auch die Öffnung der Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen, wie auch die Veröffentlichung des Romans Nackt unter Wölfen (1958) von Bruno Apitz (Barnert 2008, S. 38). Filmische Formen des Antifaschismus erscheinen nach Barnert stereotyp und hohl (ebd., S. 37–38). Aus dieser Darstellung fallen jedoch beispielsweise die Filme der Nachkriegszeit heraus, die bereits vor 1953 verschiedene Ästhetiken ausprobierten, welche für die antifaschistische Erinnerungskultur später wichtig werden. Ab dem Jahr 1960 wird einerseits die Abschottung gegenüber dem Westen und Westdeutschland radikalisiert. 1961 wird die Mauer gebaut, die vor allem als antifaschistischer Schutzwall definiert wird. Andererseits wird unter dem Einfluss der Tauwetter-Periode und der internationalen Liberalisierungswelle die Arbeitsweise in der DEFA durch die neu gegründeten Arbeitsgruppen etwas dezentralisiert, 61
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wodurch die Filmschaffenden mehr künstlerische Freiheit gewinnen. Außerdem rezipieren sie Filme aus der Tschechoslowakei (Milos Forman) und der Polnischen Schule, dem italienischen Neorealismus, der französischen Nouvelle Vague wie auch avantgardistische sowjetische Filme (Hake 2002, S. 119, 122; Wolf 2000, S. 57). Diese Phase findet mit dem Kahlschlagplenum, dem XI. Plenum im Dezember 1965, ein Ende, auf dem zwölf DEFA-Filme und somit zwei Drittel der Gesamtproduktion des Jahres verboten wurden (Richter 1994). Ähnlich wie in der UdSSR beginnt nun eine Phase der Re-Stalinisierung, die ihr Bild in der Niederschlagung des Prager Frühlings findet. Allerdings fängt in der DDR bereits ab 1971 mit der Ernennung von Erich Honecker zum SED-Vorsitzenden eine Phase der sanften politischen Öffnung gegenüber dem Westen an, während in der UdSSR bis zur Perestroika Mitte der 1980er Jahre Re-Stalinisierung und Stagnation herrschen. Nach Anne Barnert werden in DEFA-Filmen die früher nicht thematisierten Opfer ein zentrales Thema, wie zum Beispiel im Film Jakob der Lügner (1974). Außerdem findet eine Verschiebung von kommunistischem zu nicht-kommunistischem Widerstand statt, zum Beispiel in KLK an PTX – Die rote Kapelle (1971, R. Horst E. Brandt) (Barnert 2008, S. 42). Die Autorin identifiziert hier eine Krise des antifaschistischen Films, der zum einen neue Ästhetiken suchen muss, um eine neue Generation anzusprechen, zum anderen auf die Resignation am Realsozialismus reagieren muss, was allerdings an der Popularität der Filme nichts änderte. Viele Antifaschismusfilme der 1970er und 1980er Jahre, die durchaus die Tradition des DEFA-Antifaschismus fortführen, erfreuten sich großer Beliebtheit, wie zum Beispiel Jakob der Lügner, Mama, ich lebe, Die Verlobte (DDR 1980, R. Günter Reisch/Günther Rücker), die Miniserie Hotel Polan und seine Gäste (DDR 1982, R. Horst Seeman), Die Schauspielerin (DDR 1988, R. Siegfried Kühn) und Wengeler & Söhne – eine Legende (DDR 1987, R. Rainer Simon). Sowohl die hier beispielhaft betrachteten, als auch die meisten nicht erwähnten Studien zur DEFA sind sich darin einig, dass die Filmkunst im Dienste der Politik stand. Die DEFA war das einzige, ‚volkseigene‘ Filmstudio. Das Filmwesen wurde also zentralisiert und durch die Hauptverwaltung Film im Ministerium für Kultur kontrolliert. Daher stellte der DEFA-Film eine „hyper-politisierte Kunst“ dar (Finke 2001, S. 95); die Kontrolle des Staates durchdrang die Filmproduktion, schränkte die Filmkunst ein, zwang sie deswegen zu Ästhetiken, mit denen sich die Zensur umgehen ließ, wertete sie zugleich politisch auf und erweiterte dadurch ihre Wirkungsbreite. Diese Schnittstelle, an der sich Staatsideologie, DEFA-Produktionsbedingungen und -ästhetik treffen, ist zentraler Einsatzpunkt der Forschung, die sich vor allem auf Fragen der Wechselwirkung von Politik und Kunst konzentriert. Waren die DEFA-Filme rein ideologisch, oder enthielten sie subversive Momente? Handelten die Filmemacher*innen mit einer „Schere im Kopf“ oder förderten sie
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alternative Lesarten durch die Methode des „Zwischen-den-Bildern Lesens“?25 Einige Studien tendieren eher zum ideologiekritischen Blick (Kersten 1977; Becker 2001, S. 75; Mühl-Benninghaus 1993, 2001), die anderen eher zu einem differenzierten Blick auf den Wechselbezug von Affirmation und Subversion (Mückenberger und Jordan 1994; Eichinger und Stern 2009), wobei die meisten analytischen Arbeiten die Antifaschismusfilme der DEFA letztlich für propagandistisch und stereotyp halten. Als kritisch werden in der Regel die stark zensierten oder verbotenen Filme angesehen, wobei der Antifaschismusfilm als zentrales Staatsgenre und somit wegen seines hohen Politisierungsgrades vorwiegend als affirmativ gilt. So schlussfolgert Anne Barnert in ihrer Dissertation aus dem Jahr 2008, dass „Mehrdeutigkeitsstellen im Antifaschismusfilm selten sind“, womit diese als rein ideologisch und propagandistisch zu verstehen seien (Barnert 2008, S. 335). Die Autorin vertritt die Ansicht, dass im Falle der DEFA weder der Inhalt noch die Form politisch subversiv wirken können: „Eine inhärent subversive Ästhetik mit grundsätzlichen Potentialen zu einem unabhängigen filmischen NS-Gedächtnis ließ sich nicht feststellen, so dass die These, in filmischer Mehrdeutigkeit selbst sei schon ein subversives Mittel zu sehen, verneint werden muss.“ (Ebd., S. 336) Das sei deswegen der Fall, weil im DEFA-Antifaschismusfilm bis auf wenige Ausnahmefilme ein abstraktes Erzählsystem wirksam ist, das für die Irritationen und Brüche der individuellen historischen Erfahrung in hohem Maße geschlossen bleibt: Die Geschichte des Nationalsozialismus erscheint in selbstverständlicher Weise erzähl- und erklärbar. (Ebd.)
Diese Aussagen weisen darauf hin, dass kollektives und individuelles Gedächtnis als oppositionell betrachtet werden. Außerdem wird deutlich, dass die Repräsentationsformen selbst von der Forscherin, wahrscheinlich aufgrund ihrer allumfassenden Erzählrahmen sowie Typisierungs- und Allegorisierungsstrategien, abgelehnt werden. Im Zuge dessen betrachtet Barnert die meisten Antifaschismus- und Gegenwartsfilme, die sich in irgendeiner Form auf das Thema des Zweiten Weltkrieges beziehen, als Exempel des kulturellen offiziellen Gedächtnisses, während der Film Professor Mamlock (DDR 1961, R. Konrad Wolf) in Anlehnung an Harald Welzer als Beispiel eines möglichen Familiengedächtnisses dient. Filmische Individuierungsmittel, die hier als Alternativen zum abstrakten Erzählsystem gesehen werden, werden jedoch in der Forschung zum westdeutschen Kriegsfilm stark kritisiert (z. B. Hugo 2003). Die Studie von Anne Barnert, die übrigens eine hervorragende Recherchearbeit besonders hinsichtlich der Produktions- und Rezeptionsgeschichte der Antifaschis25 Zur Problematik des Umgangs mit der Zensur vgl. Mühl-Benninghaus 1993, Becker 2001, Barnert 2008. 63
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musfilme leistet, ist symptomatisch. Die Analyse läuft wie in den meisten Studien vor allem auf eine Wertung der Werke hinaus. Mehrere Forschungsarbeiten tendieren generell dazu, die westdeutsche Politik gegenüber der DDR-Erinnerungspolitik positiv hervorzuheben. Beispielsweise stellt Ute Frevert bei aller Kritik an der Erinnerungskultur der BRD diese als demokratisch und daher positiv dar: War die Geschichtspolitik der DDR gleichsam aus einem Guß und gehorchte den Direktiven des SED-Zentralkomitees, stellte sie sich in der Bundesrepublik sehr viel pluraler und damit auch widersprüchlicher dar. Hier wurde kaum etwas ‚von oben‘ verordnet, und eine autoritative, allseits verbindliche Lesart der Geschichte setzte sich nicht durch. (Frevert 1999, S. 204)
Wolfgang Becker äußert sich dazu: „Die Botschaften der Filme, auch derjenigen, in denen das Ende formal offen bleibt, sind eindeutig: Der historisch richtige und einzige Weg ist der des kommunistischen Widerstands.“ (Becker 2001, S. 88, Hervorhebung im Original) Bei Anne Barnert heißt es, dass „die unablässige Propagierung dieses starren und ideologisch verengten Geschichtsbildes [die des Antifaschismus – IG] beim Publikum über die Jahrzehnte hinweg kontraproduktiv wirkte.“ (Barnert 2008, S. 12) Weiter stellt Barnert fest: „Thematisch stellt der Antifaschismusfilm daher meist eindeutige Illustrationen des antifaschistischen Welt- und Geschichtsbildes dar.“ (Ebd., S. 37) In Bezug auf die Erinnerungskultur hält Detlef Kannapin abschließend fest, dass die westdeutschen Erinnerungen aus der Opfer-, und die ostdeutschen aus der Siegerposition geformt wurden, was vor allem in der DDR dazu führte, dass die „deutschen Verluste als eine Folge der verbrecherischen Kriegsführung“ kaum thematisiert wurden (Kannapin 2005, S. 134). Offensichtlich memoriert nur die BRD diese Verluste. Die Bundesrepublik, heißt es bei Kannapin weiter, koppelte die Schuld für die NS-Verbrechen an Hitler und die NS-Elite und somit von Volk und Wehrmacht ab (aber immerhin wird hier die Schuld verhandelt), die DDR richtet ihre Aufmerksamkeit jedoch „ausschließlich auf den Gegner des Krieges“ (Kommunisten, Partisanen usw.) (ebd.). Wolfgang Becker parallelisiert hingegen die ost- und westdeutsche Filmgeschichte: In den 1950er Jahren wurde in beiden Republiken ein „guter Mensch“ im Widerstand (DDR) und im Militär (BRD) gefunden (Becker 2001, S. 79). Gemeinsam ist den beiden Filmtraditionen zudem die Unterscheidung zwischen Hitler und den Nazis auf der einen Seite und den übrigen Deutschen auf der anderen Seite (ebd., S. 83). Diese Aussagen werten nicht nur die DEFA-Filme ab und verstricken sich in Widersprüchen, sondern deuten die ostdeutsche Filmproduktion als sekundär gegenüber der Politik, als eine Art Folge der Zensur- und Repressionsmechanismen, und erheben die SED so zum alleinigen Schöpfer des antifaschistischen Diskurses, als ob die SED-Funktionäre wüssten, wie der Antifaschismus als kulturelles
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und politisches Legitimationssystem aussehen sollte und ihn einfach der Kunst aufgezwungen hätten (Allan 1999).26 Deswegen stehen alle Filmschaffenden im Verdacht ideologischer (Selbst-)Verklärung und Selbstzensur. Eine solche Vor- und Darstellung negiert diskursive Entwicklungen von Herrschaftsmechanismen, die jedoch in einem wechselseitigen Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen kulturellen Bereichen entstehen, auch wenn der Sozialismus nicht freiwillig ausgewählt wurde und sich die DDR im Zuge dessen zu einer Diktatur entwickelt hat. Es wird ein früherer und ein späterer, ein individueller und ein staatlicher, ein bürgerlich-liberaler und ein kommunistischer Antifaschismus unterschieden (Barnert 2008, S. 46–47), was gerade die Existenz diskursiver Aushandlungen dieses Themas und seine kulturpolitische Entwicklung (und nicht die Erstarrung und Universalisierung) bezeugt (vgl. ebd. S. 45–46). Vor allem die individuelle Überzeugung von der Wahrheit des antifaschistischen Kampfes deutet auf den Erfolg der ostdeutschen Kulturarbeit am Antifaschismus als staatlicher Erinnerung hin. Die in der DDR entwickelten ideologischen Strategien waren wirksam und sind als identitätsstiftende Grundlage von den ostdeutschen Bürger*innen verinnerlicht worden. Die Wirkung des Films war in diesem Prozess massiv, vor allem hat schließlich die Filmkunst Strategien der Individualisierung und Psychologisierung eingesetzt und in vielen Werken eine Abgrenzung gegenüber dem offiziellen Antifaschismus vollzogen. So heißt es bei Kannapin in Bezug auf die Filme von Konrad Wolf Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre, dass sie „nachdrücklich auf individuelle Fehlleistungen während der Nazizeit hinwiesen und den Zuschauern damit einen nicht geringen Spielraum zur eigenen Reflexion von Schuld boten“. (Kannapin 2005, S. 18.) Die geschichtswissenschaftliche Forschung zur DDR hat sich in den letzten Jahrzehnten ebenfalls von einem schematischen Verständnis der Indoktrination und Manipulation verabschiedet (Reich 1997, S. 4) und wendet sich inzwischen einer diskursiven Vorstellung von Geschichtsdeutung und -schreibung zu (Sabrow 1997). Im Zuge dessen werden auch Literatur, Kino, Kunst und Publizistik als Medien der Verhandlung eines divergenten Geschichtsverständnisses aufgewertet (ebd., S. 9). Der Antifaschismus, so Frank Stern, ist als ein Verarbeitungsmedium gruppenkollektiver Erinnerungen und daher als dynamisch und vielfältig zu verstehen (Stern 2009, S. 59). Einige Arbeiten heben also die Mehrdeutigkeit der Öffentlichkeit und der Kunst in der DDR hervor, die 26 Besonders deutlich wird dies nach der Entscheidung im Jahr 1950, dass die Filme nicht nur durch die DEFA-Kommission, sondern auch vom Zentralkomitee der SED genehmigt werden müssen, was eine drastische Reduktion der Filmproduktionen zur Folge hatte: „As a result there was often a striking discrepancy between what the board of directors wanted and what the freelance writers [for the DEFA-Studio – IG] they engaged supplied.“ (Allan 1999, S. 7) 65
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sich entsprechend auch auf die Rezeption auswirkte (Lindenberger 1999, S. 25), und differenzieren das eindeutig ablehnende Bild der DDR aus (Flacke 1995, S. 37; Moller 2003). Diese Arbeit baut auf der These auf, dass die Filmkunst den antifaschistischen Staatsmythos durch ein Experimentieren mit verschiedenen Motiven und die Suche nach neuen Perspektiven miterschaffen hat, indem sie Bilder, Motive, Narrative, Argumentationsstrukturen und entsprechende Identitätskonzepte entwickelte und damit eine kulturelle und institutionelle Aushandlung ermöglichte. Die Filme waren gegenüber der SED-Politik nicht sekundär. Sie bildeten den politischen Antifaschismus nicht ab, sondern formten ihn mit, sodass erst aus der Summe der Filme und anderer kultureller Artefakte Schritt für Schritt das entstand, was später als der Antifaschismus in der DDR identifiziert werden konnte. Der Antifaschismus wird in der Regel als universell beschrieben, weil etwa durch die bekannte These von Georgi Dimitroff (1976) vom Faschismus als kapitalistischem Exzess jede historische Differenzierung verloren geht. Dieser Begriff war allerdings zum einen dank der Dimitroff-These dazu geeignet, sich im Kalten Krieg systemisch gegenüber dem Westen als kapitalistischem System abzugrenzen. Zum anderen hat er sich in der DDR und der UdSSR im Sprachgebrauch eingebürgert, weil der Nationalsozialismus in der Aussprache wahrscheinlich als Begriff dem Sozialismus zu ähnlich war bzw. fast gleich klang. Mit dem Begriff Faschismus wurde jedoch nach 1945 vor allem der deutsche Nationalsozialismus bezeichnet. Diskurse des Kalten Krieges und der Einfluss der UdSSR waren also für die Ausformung und Modifikation des Antifaschismus von Bedeutung. Die Entstehung der DEFA und ihrer ersten Werke werden durch sowjetische Kulturoffiziere gefördert und überwacht. 1950 und 1952 erscheinen Stalins Schriften Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft und Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, die als parteiliche Direktive verstanden wurden, in deutscher Übersetzung (Mühl-Benninghaus 2012, S. 112–113). 1952 wird der Sozialistische Realismus analog zur UdSSR als eine verbindliche Kunstmethode übernommen. Der Einfluss der sowjetischen Ideologie auf die DEFA bleibt bis zum Ende der DDR bestehen. Der Sozialistische Realismus wird dabei nicht einfach appliziert. Die Filmschaffenden leisten eine ideologisch-ästhetische Übersetzungsarbeit, die zu Transformationen und Innovationen ästhetischer Formen führt. Die zum größten Teil von außen aufgezwungene Ideologie wird zum einen an die historische Situation in Deutschland angepasst. Vergleicht man sowjetische und ostdeutsche Filme der gleichen politischen Periode oder zum gleichen Thema, fallen sofort die
2.4 Der antifaschistische DEFA-Film
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massiven Unterschiede auf.27 Außerdem sind in der Anfangszeit der DEFA noch die deutschen Filmemacher*innen der Weimarer Republik tätig, die teilweise auch in der NS-Zeit aktiv waren, und die auch die in Deutschland entwickelte Bildlichkeit in die DEFA-Darstellungen integrieren, wie es zum Beispiel Wolfgang Staudte in seinem expressionistisch geprägten Initiationsfilm der DEFA, Die Mörder sind unter uns, aus dem Jahr 1946 getan hat. Dieser Film wird in der Regel als Gründungswerk der neuen sozialistischen Ästhetik beschrieben, was er aber nicht ist. Er bedient sich überhaupt nicht jener Motive, die später für den DEFA-Antifaschismus bedeutend werden. Man könnte also sagen, dass die Filme eine neue Ästhetik aus der bereits vorhandenen entwickeln, und da sie nicht sofort den ideologischen Anforderungen nachkommen können, brauchen die Filmschaffenden Zeit, entsprechende Formen auszubilden. Der filmische Antifaschismus war daher immer etwas mehr und zugleich etwas weniger als reine Ideologie. Die Ästhetik trug dazu bei, andere Formen und Motive in den Antifaschismus zu intergieren, was seinen ideologischen Gehalt zum einen etwas zerstreute und verschob. Zum anderen wird der Antifaschismus aus der Summe verschiedener Repräsentationen abgeleitet, sodass kein einzelnes Werk das Ideal erfüllen kann. Gerade aufgrund der staatslegitimierenden Funktion der antifaschistischen DEFA-Filme erscheint außerdem der Übergang zur Gegenwart von großer Bedeutung: Aber die Filme der DEFA bedeuteten nicht nur Abrechnung mit der Vergangenheit, Anklage der faschistischen Verbrechen, Auseinandersetzung mit dem Problem der Schuld der Deutschen, sondern führten zu Vorstellungen von einem neuen, sozial gerechten moralisch verantwortlichen Leben, das sich der Veränderung der Gesellschaft stellt. (Gersch 1979, S. 90)
Der Antifaschismus wird daher stets in Bezug auf die jeweils aktuellen politischen Situationen weiterentwickelt und modifiziert; das Antifaschismusideal wird dabei immer erst nachträglich formuliert. Letztendlich wird im Fortgang der DDR-Geschichte zunehmend die Enttäuschung über den Realsozialismus spürbar, was gerade in der Thematisierung der Vergangenheit ausgehandelt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, so das Ergebnis meiner Analysen, ist zugleich eine mit dem Realsozialismus (gerade aufgrund der Gründungsfunktion des Antifaschismus), sodass die DEFA-Filme im Lauf der Zeit eine starke Allegorisierungstendenz aufweisen. Sie können somit in der Regel doppelt gelesen 27 Zum Beispiel Barnerts Vergleich zwischen der sowjetischen und ostdeutschen Verfilmung des Theaterstückes Professor Mamlock von Friedrich Wolf (Barnert 2008, S. 209–290). 67
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2 Forschungsstand
werden, als Kritik am vergangenen Nationalsozialismus und zugleich als Kritik am bestehenden Realsozialismus. Was bedeuten diese ideologischen Implikationen? Verhielten sich die antifaschistischen Filme zur offiziellen Erinnerungskultur oppositionell? Keineswegs: Die Paradoxie ideologischer Wirkung besteht darin, dass gerade in dieser Form der filmische Antifaschismus besonders wirksam war. Nach Slavoj Žižek braucht jede Ideologie, um „arbeitsfähig“ zu werden, einen Abstand zu sich selbst, zum Beispiel einen ironischen Bruch oder eine Verfremdung (Žižek 1997, S. 45). Eine völlige Identifikation mit der Ideologie droht ihren gewaltsamen Kern sichtbar zu machen. In ihrer allegorischen, zum Teil auch oppositionellen Haltung, von der viele Forschungsarbeiten berichten, halten die antifaschistischen DEFA-Filme gegenüber dem Realsozialismus diesen Abstand ein. Die Zuschauenden nehmen den Antifaschismus offensichtlich in dieser Form an und verinnerlichen ihn sogar später unter der Bedingung, dass sie scheinbar nicht völlig durch die erzwungene Ideologie vereinnahmt worden sind.
2.5
Der sowjetische Kriegsfilm
2.5
Der sowjetische Kriegsfilm
Dass die Erinnerungskultur der UdSSR stets im Dienste der sozialistischen Ideologie stand, ist ein allgemein bekannter Sachverhalt, der gleichwohl im Nachhinein stark kritisiert wurde. Die Historikerin Jutta Scherrer moniert, in der UdSSR gäbe es aufgrund der Hervorhebung des Sieges über Nazi-Deutschland keine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde außerdem die „russische Idee“, auf Russisch ruskost’ (Russischkeit), zunehmend populär, die auf Versatzstücken der russischen Geschichte aufbaut, welche vorwiegend vor der Oktoberrevolution 1917 liegen. Jutta Scherer beschreibt diese Entwicklungen als Teil einer Vergangenheitspolitik, die statt der Vergangenheitsaufarbeitung eine kollektive Verdrängung zum Ziel habe: „Kollektive Erinnerung wie kollektive Schuld ist (sic!) unbekannt.“ (Scherrer 1999, S. 49) Nicht einmal den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ gäbe es im Russischen (ebd.). Erst mit dem Zerfall des Ostblocks führte der angebliche Aufholbedarf zu einer „Überflutung an Erinnerungen“ (François 2004, S. 18). In den Vorstellungen der meisten westlichen Forscher*innen braucht die Siegeserzählung keine Erinnerungsarbeit; diese beginne erst mit der Kritik an den sozialistischen Deutungsmustern. So wiederholt auch der deutsche Filmwissenschaftler Knut Hickethier die Aussage eines deutschen Filmkritikers aus dem Jahr 1958, „[f]ür eine Siegernation seien Kriegsfilme kein Problem“ (Hickethier 2007, S. 43, siehe auch François 2004, S. 15, 22). Die Unzu-
2.5 Der sowjetische Kriegsfilm
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friedenheit mit der Erinnerungskultur wird auch im Russland der Gegenwart laut: Das kollektive Gedächtnis ist dem Soziologen Lev Gudkov zufolge „Ausdruck von Passivität und Ergebenheit gegenüber der offiziellen Auslegung [der Vergangenheit – IG] bei einem tiefsitzenden Argwohn ihr gegenüber“ (Gudkov 2005a, S. 71). Solche diffamierenden Aussagen sind schon deswegen unzutreffend, weil sie nicht nur zahlreiche Kriegsfilme, künstlerische und literarische Werke, Museen, Denkmäler und Feiertage nicht berücksichtigen, welche auf eine intensive Erinnerungsarbeit hindeuten, sondern auch die dynamische Prozessualität kollektiver Erinnerungsdiskurse außer Acht lassen. Die Inkompatibilität von offiziellen Geschichtsdeutungen und Erinnerungsdiskursen nach dem Zerfall der UdSSR war vor allem durch eine politische Situation bedingt, die eine neue Perspektive auf die Vergangenheit notwendig machte. Aber auch in der UdSSR dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg fast zwanzig Jahre, bis so etwas wie eine gemeinsame Erinnerungskultur entstand, die sich dann immer weiter ausdifferenzierte. Das erfolgreiche und machtvolle Großgeschichtsnarrativ („Narration von oben“) des Krieges hat sich beispielsweise erst nach seiner Dekonstruktion in der Tauwetter-Periode etabliert (François 2004, S. 23). Der Kriegsfilm war dabei in der UdSSR und bleibt bis heute in Russland ein höchst politisches und umkämpftes Genre. Sobald kritische Themen angesprochen werden oder eine andere Perspektive auf den Krieg erfolgt, droht dem entsprechenden Film ein Verbot oder eine durch Verleihstrategien herbeigeführte Marginalisierung in der Öffentlichkeit. Der sowjetische Kriegsfilm über den Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg bis heute in Anlehnung an den Vaterländischen Krieg 1812 mit Napoleon in der Russländischen Föderation bezeichnet wird, stellt ein Staatsgenre dar, welches auf den historisch-revolutionären Film über die Oktoberrevolution folgte und ihn allmählich verdrängte. Der Revolutionsfilm war vor dem Krieg eine der führenden Filmgattungen und behandelte die sowjetische Staatsgründung und -werdung, wobei sowjetische Politiker als Helden dargestellt wurden (Margolit 1999a, 1999b). Nach dem Ende des Krieges übernahm allmählich der Kriegsfilm diese Funktion des Staatsgenres, da er den Sozialismus und die sowjetische Identität durch den Sieg im Krieg legitimieren konnte (vgl. Osteuropa, Jg. 55 (2005), insbesondere Dubin 2005; vgl. auch Dubin 2008). Der Staat unterstütze daher bereitwillig die Produktion von Kriegsfilmen. Aus diesem Grund hat sich unter Filmschaffenden mit der Zeit eine Art Brauch etabliert, dem zufolge nahezu jede*r Regisseur*in mindestens einen Kriegsfilm drehen sollte (Prokhorov 2007). Das sicherte einerseits die Finanzierung und stellte die Künstler*innen zudem vor die Herausforderung, das tradierte, beliebte, aber sehr ernste und politisch wichtige Thema zu bearbeiten. Aus diesem Grund wurden zahlreiche Werke zum Thema 69
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2 Forschungsstand
des Zweiten Weltkrieges produziert – insgesamt waren es mehr als in der DDR und der BRD zusammen. Das Kriegsgenre wurde dem Publikum jedoch trotz seiner ideologischen und funktionalistischen Ausrichtung vom Staat nicht aufgezwungen: In der Kriegsgeneration gab es in der UdSSR kaum eine Familie, die nicht auf irgendeine Weise vom Krieg betroffen war, sei es durch eine aktive Teilnahme an der Front, die zu beklagenden Opfer in der Familie, die Arbeit für die Front, das hautnahe Erleben der Besatzung, die Evakuation nach Asien oder die Hungerjahre nach dem Krieg – zumindest lauten so gängige Erklärungen für die Popularität des Themas. Die Relevanz des Krieges für die Selbstvergewisserung des Staates zeichnete sich zudem erst im Laufe der Jahre ab. Mit der gestiegenen Anzahl der Kriegsfilme trug vor allem das Kino dazu bei, diese Erfahrungen einzufangen, sie zu uniformieren und zugleich affektiv und identitätsstiftend zu formen und zu tradieren. Zahlreiche Produktionen und deren politischer Wert machten das Kriegsgenre für Zuschauende, unabhängig von ihrer Genderzugehörigkeit, sehr attraktiv – bis heute ermöglichen Kriegsfilme es dem Publikum, sich einer Großmacht zugehörig zu fühlen und Teil einer glorreichen Vergangenheit zu werden, ja kollektive Verbundenheit zu erleben und Stolz hinsichtlich der sowjetischen Identität zu verspüren, aber auch kollektive Trauerarbeit zu gestalten und diese bis zur Erhabenheit zu steigern. In der UdSSR wie im heutigen Russland wird an dieses Genre daher der Anspruch herangetragen, den Krieg realistisch und ‚wahrheitsgetreu‘ wiederzugeben. Die sowjetischen Produktionen wurden von Militärexperten und Kriegsveteranen (in der Regel Männern) begleitet, welche Filmschaffende bezüglich der Kriegsinszenierung und der historischen Begebenheiten berieten. Außerhalb der UdSSR waren sowjetische Kriegsfilme vor allem in Staaten des Warschauer Paktes bekannt. Besonders viele Werke wurden in die DDR exportiert, nicht zuletzt aus den edukativen und politischen Überlegungen heraus, die ostdeutsche Bevölkerung vom Nationalsozialismus abzuschrecken und die DDR durch sowjetische Kriegsopfer in die Schuld der UdSSR zu stellen. Dadurch wurde auch die sowjetische Kontrolle über die junge Republik legitimiert. In der BRD und heute in Deutschland sind jedoch nur einige wenige sowjetische Werke, vorwiegend Autorenfilme, zu diesem Thema bekannt, etwa Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) und Komm und sieh [Иди и смотри] (UdSSR 1985, R. Ėlem Klimov) (Klein et al. 2006), sowie, mit Einschränkungen, Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov). Diese Filme sind jedoch keinesfalls repräsentativ für die sowjetische Erinnerungspolitik, auch wenn es sich bei ihnen zweifellos um international anerkannte Produktionen handelt. Autorenfilme legen in ihrer Andersheit ästhetisch-ideologische Mechanismen der gültigen Vergangenheitsdarstellung frei und versuchen, neue Impulse
2.5 Der sowjetische Kriegsfilm
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für die bestehende Kinematographie zu liefern, sind jedoch in aller Regel nicht entscheidend für die Etablierung allgemeingültiger Erinnerungsbilder und -motive. Außerdem sind Autorenfilme gar nicht ohne Bezugnahme auf einen Mainstream möglich. In der Regel sind sie vor allem dann wirksam, wenn sie ein etabliertes Bildrepertoire angreifen und gängige Erzählstrukturen in Frage stellen. Aus diesem Grund sind sie eher als Zäsuren zu verstehen, anhand derer sich die Notwendigkeit zeigt, das bestehende Repräsentationssystem einer Revision zu unterziehen. In vielen Fällen weisen sie auf eine motivische oder thematische Erschöpfung, eine zunehmende Stereotypisierung oder Nicht-Adäquatheit ästhetischer Formen hin. Die Erinnerungskultur der UdSSR wird, ähnlich wie in der BRD und der DDR, in einige wenige historische Entwicklungsstufen unterteilt. In ihrem Beitrag zur Ausstellung über Erinnerungskulturen im Deutschen Historischen Museum hebt Jutta Scherrer zentrale politische Stationen der sowjetischen Geschichte der Nachkriegszeit hervor, an denen sie verschiedene Phasen des Umgangs mit der Vergangenheit festmacht: Auf den Stalinismus bis 1953 folgte die Tauwetter-Periode bis 1964, die Stagnationszeit bis 1985 und die Perestroika-Zeit bis heute (Scherrer 2004). Der Stalinismus wird durch die nach dem Krieg verschärfte repressive Politik und den Staatsantisemitismus charakterisiert, welche ungefähr bis zum Tod Stalins 1953 andauerten. In dieser Periode werden die Schäden des Krieges beseitigt und verdrängt. Beispielsweise werden alle Kriegsinvaliden aus Moskau ausgesiedelt, damit sie niemanden an den Krieg erinnern (Tumarkin 1994, S. 103; Fieseler 2003). Mit der Betonung des Sieges wird vor allem die zentrale Rolle Stalins im Krieg und in der Weltpolitik hervorgehoben. Die Kriegsopfer werden jedoch nicht thematisiert. In der darauffolgenden Tauwetter-Periode von 1956 bis zur Absetzung des Vorsitzenden des KPdSU, Nikita Chruščev, im Jahr 1964 werden erste Entstalinisierungsprozesse in Gang gesetzt, wobei vom Sozialismus nicht abgerückt wird. Es wird nun jedoch von der stalinistischen Härte abgesehen und die Lenin’sche Auffassung des Sozialismus angestrebt, die als Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz bezeichnet wird. Diese Periode ist als ästhetisch-politische Öffnungs- und Liberalisierungszeit der UdSSR bekannt. Wichtig ist dabei die Geheimrede von Nikita Chruščev auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, in der er die politischen Säuberungen des Stalinismus verurteilte und sich somit von der stalinistischen Politik distanzierte. Erst in den 1960er Jahren beginnt die Erinnerungspolitik: Zahlreiche Denkmäler, Memorialstätten und Museen werden errichtet, wobei der Siegestag erst 1965 zum Feiertag erhoben wird. Dies geschieht durch den nächsten Vorsitzenden, Leonid Brežnev, der selbst ein Kriegsveteran ist. In der Tauwetter-Periode wird das Heroische des Stalinismus hinterfragt; das individuelle Leiden rückt in den Vordergrund der Filme, und einige Tabuthemen, wie zum Beispiel die Verluste der Roten Armee oder strategische Fehler und die daraus hervorgegangene große Zahl 71
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2 Forschungsstand
sowjetischer Kriegsgefangener werden aufgegriffen. Die Vorstellung von Etienne François (2004, S. 15). oder Knut Hickethier, in osteuropäischen Staaten habe sich innerhalb weniger Jahre nach Kriegsende problemlos eine Mastererzählung über den Sieg und die Befreiung etabliert, hält einer genauen Überprüfung folglich nicht stand. Die verspätete staatliche Erinnerungspolitik der UdSSR weist umgekehrt gerade darauf hin, dass jegliche Art der Vergangenheit erst über jeweils noch zu entwickelnde Bilder und Deutungsmuster ausgehandelt werden muss, um in die Gegenwart integriert werden zu können. Mit der Brežnev-Regierung beginnt die Stagnationszeit, die sich durch verschärfte Aufrüstung, eine Planwirtschaftskrise und Re-Stalinisierungsprozesse kennzeichnet. Aus diesen Gründen wird diese Periode auch als „Stalinismus ohne Stalin“ bezeichnet (Scherrer 2004, S. 640). In ihr wird die Erinnerungskultur monumentalisiert, wobei sich die Brežnev-Ära durch ihre Gigantomanie auszeichnet: So werden in Volgograd (ehemals Stalingrad) und Kiev riesige Statuen errichtet. Bis heute wird die Judenverfolgung in der russländischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht gesondert hervorgehoben. Zum Teil ist dies durch den sowjetischen Antisemitismus zu erklären, der im Lauf der Zeit staatlichen Charakter annahm (Jakovlev und Kostyrčenko 2005). Als Grund kann aber auch der Fakt angeführt werden, dass Juden als sowjetische Bürgerinnen und Bürger angesehen und somit schon in andere Opfergruppen inkludiert worden waren. Zu den Millionen Opfern gehören sowjetische Kriegsgefangene, Kommunist*innen und ein hoher Anteil der Zivilbevölkerung mit und ohne jüdischen Hintergrund (zum Beispiel in Weißrussland) (dazu auch Koenen 1991; Hausleitner und Katz 1995; Franz und Jilge 2001). In der Perestroika beginnt eine intensive Aufarbeitung der Tabus der sowjetischen Historiografie und mithin der „weißen Flecken der Geschichte“, die der letzte Parteiführer der UdSSR, Michail Gorbačev, direkt einforderte (Altrichter 2006, S. IX; Hösler 2006, S. 6). Die Öffnung der Archive markiert den Beginn der zweiten kritischen Revision des Stalinismus nach dem Tauwetter und im Zuge dessen auch des Zweiten Weltkrieges. Da im Stalinismus nach dem Kriegsende der Sieg für die Verstärkung des Personenkultes um Stalin funktionalisiert wurde, bestand bis zum Ende der UdSSR ein diskursiver Konnex zwischen der Diktatur und dem Sieg (Ferretti 2005), welcher die Verbrechen des Stalinismus zu bagatellisieren half (Gudkov 2005a, S. 56): Der Kampf gegen den nationalsozialistischen Feind führte zur Unterdrückung der Freiheit im eigenen Land. Befreiung und Unfreiheit sind unauflöslich verbunden. Die Reduktion der Kriegserinnerungen auf die nationalistische, patriotische Komponente wurde unter Stalin kanonisiert. (Ferretti 2005, S. 45)
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Im Zuge der Entstalinisierungsprozesse kam daher erstmals die Forderung nach einer kritischen Revision des Kriegsverlaufs auf. Zentrale Themen des Kriegsfilms seit der Perestroika waren die Entheroisierung sowjetischer Kriegshelden, die Verbrechen der stalinistischen Funktionäre während des Krieges, Deserteure, militärische Fehler und die drakonischen Strafen und Lagerarbeiten für die eigenen Soldaten, die aus der deutschen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren. Laut Boris Dubin (2008) wird die diskursive Verknüpfung zwischen dem Stalinkult und der Siegeserzählung spätestens seit der ersten Präsidentschaft Vladimir Putins28 jedoch wieder fortgeschrieben: „Vor allem der Große Terror und der GULag, die Folgen der Kollektivierung wie der Holodomor sollten hinter dem triumphalen Antlitz des Krieges verschwinden, dessen siegreiches Ende alle versöhnt.“ (Dubin 2008, S. 65) Dabei ist die Popularität des Sieges trotz aller Kritik am Kriegsverlauf nie gesunken, wenn man Dubins statistischen Auswertungen folgt (Dubin 2005): 198929 zählten 73 % der Befragten30 den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg zu den wichtigsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts für Russland; 1994 sind es ebenso viele, 1999 hingegen 85 % und 2003 wieder 78 %. Das bedeutet zugleich, dass Putin, dem Gedenkrituale und die Re-Etablierung von siegreichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg zugeschrieben werden, sich tatsächlich bereits bestehender, in der UdSSR entwickelter Kommemorationstraditionen bedient, um ein stolzes Bild Russlands als Sieges- und Weltmacht (Scherrer 2004, S. 651–652) wiederzubeleben. 28 Putin verurteilt die Verbrechen des Stalinismus und hebt zugleich als bedeutende Errungenschaften dieser Epoche die Industrialisierung und den Sieg im Zweiten Weltkrieg hervor, die allein Stalin zugeschrieben werden, ohne dass die Opfer erwähnt würden. Allen Seiten (für und gegen Stalin) soll so Genüge getan werden. Jedoch will er auf keinen Fall in Verbindung mit den Verbrechen des Stalinismus gebracht werden, von denen er sich dezidiert abgrenzt. Vgl. den Ausschnitt aus dem Interview mit Putin auf YouTube, der von über 200.000 Usern angesehen wurde: http://www.youtube.com/ watch?v=B5W3TYEx-og (31.07.2012). 29 Sein Kollege Lev Gudkov gibt für das Jahr 1989 77 % an (Gudkov 2004, S. 21). Im erwähnten Aufsatz in Osteuropa 2005 spricht Gudkov von 44 % der Befragten, die 1996 stolz auf den Sieg waren. 2003 stieg die Popularität des Krieges auf 87 % (Gudkov 2005a, S. 61). Diese Differenz in den Angaben liegt entweder an der Art der Fragen (es handelt sich offensichtlich um unterschiedliche Umfragen) oder an einem Fehler, der bei einem der Autoren aufgetreten sein könnte. 30 Die Anzahl der Befragten, die aus verschiedenen Regionen Russlands stammen, beträgt in der Regel 1.600. Dabei ist kritisch anzumerken, dass weder Dubin noch Gudkov die Auswahl der Befragten nach sozialem Status, Gender, Ethnizität, Alter, politischer Zugehörigkeit oder Ort differenzieren oder die Art der Fragen, Umstände der Umfragen, Bedingungen usw. definieren. Deswegen sind die Ergebnisse ihrer Umfragen nur mit Vorsicht zu genießen. Was ihre Daten dennoch deutlich zeigen, ist die herrschende Widersprüchlichkeit in der Vergangenheitsdeutung. 73
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2 Forschungsstand Doch auch nach der Auflösung der Sowjetunion und ungeachtet der Dekonstruktion ihres zentralen Mythos, der Oktoberrevolution, nimmt der Zweite Weltkrieg in der Darstellung der Geschichte des starken, unbesiegbaren russischen Staates und seiner Kontinuität, dessen Machstruktur Vladimir Putin in jeder Hinsicht wieder zu konsolidieren sucht, einen nach wie vor unbestrittenen Platz ein. […] Er gilt als Symbol der positiven kollektiven Identität, als Symbol für das „ganze Volk“, d. h. für alle sozialen Schichten und Gruppen […]. (Ebd., S. 625)
Dieses Weiterleben des Erinnerungsrahmens der sowjetischen Kultur in einem Russland ohne Sozialismus spricht gerade für dessen visuell-ästhetischen Charakter, der nie völlig in einer Ideologie aufgeht, sondern über eine eigene Logik verfügt. Außerdem sind die zahlreichen politisch-ästhetischen Investitionen der (sowjetischen) Kultur nicht einfach zu löschen – Filme, Bilder und Texte wirken dank Fernsehen und Internet weiter, wo sie frei verfügbar sind und sich großer Popularität erfreuen. Eine politische Beschreibung der Erinnerungskultur bleibt daher unvollständig, sofern sie ästhetisch- und medienbedingte Formierungen von Erinnerungsbildern, -topoi und -motiven außer Acht lässt. Die Auseinandersetzung mit dem Krieg verlief vor allem auf Basis der Umsetzung oder der Modifikation des Sozialistischen Realismus, welcher nach dem Zweiten Weltkrieg je nach politischer Situation konkrete Ausgestaltungen erfuhr oder kritisch reflektiert wurde. Mit der Auflösung der UdSSR verlor er seine Verbindlichkeit. Im postsowjetischen Raum klang die sowjetische Ästhetik gleichwohl noch einige Zeit nach, was um die Jahrtausendwende als eine ästhetische Aphasie empfunden wurde: Die sowjetischen ästhetischen Formen wurden als für die Inhalte und vor allem die politischen Kontexte der Gegenwart als nicht mehr adäquat empfunden (Oushakine 2009). Im Verlauf der letzten Jahrzehnte wurden jedoch neue Bilder des Krieges unter anderem auch in neuen, in der UdSSR noch undenkbaren Genres wie Parodie oder Sci-Fi entwickelt, etwa in Hitler geht kaputt! [Гитлер капут!] (RF 2008, R. Marius Vaisbergas), Wir sind aus der Zukunft [Мы из будущего] (RF 2008, R. Andrej Maljukov), Wir sind aus der Zukunft 2 [Мы из будущего 2] (RF 2010, R. Aleksandr Ševcov) und Nebel [Туман] (RF 2010, R. Ivan Šurchoveckij /Artem Aksenenko). Sie stellen allerdings auf keinen Fall die bestehende Erinnerungskultur in Frage, sondern entwerfen neue Bilder für sie, welche die ursprünglich linke Sowjetkultur an die neonationalistische, rechtsorientierte Politik der Gegenwart anpassen. Auch in Bezug auf den Stalinismus wurde eine neue Erinnerungsfigur etabliert: der stalinistische Sträfling, zum Beispiel in der Fernsehserie Strafbataillon [Штрафбат] (RF 2004, R. Nikolaj Dostal’), dem Vierteiler Die letzte Schlacht des Majors Pugačev [Последний бой майора Пугачева] (RF 2005, R. Vladimir Fat’janov) und Die Sonne, die uns täuscht 2: Exodus / Die Sonne, die uns täuscht 2: Zitadelle [Утомленные солнцем
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2: Предстояние/Утомленные солнцем 2: Цитадель] (RF/F/CZE 2010/2011, R. Nikita Michalkov). Mit ihm kann der Sieg über den Faschismus weiter glorifiziert werden, ohne die Verbrechen des Stalinismus zu bagatellisieren: Denn der Sträfling kämpft gegen beide Diktaturen gleichermaßen (Gradinari 2016). Die sowjetischen Bilder und Motive koexistieren also dank Fernsehen und Internet friedlich mit neuen Denkmustern des Krieges. Die Ästhetik des Sozialistischen Realismus wurde durch verschiedene künstlerische, auch avantgardistische Gruppierungen ausgehandelt und vorbereitet, bis sie 1934 in Moskau im Rahmen des ersten Allunionskongresses des neu begründeten Verbandes der sowjetischen Schriftsteller als eine für alle verbindliche Schöpfungsmethode festgelegt wurde. Nach dem Statut (Dok. Nr 32) wird er wie folgt definiert: Als eine grundlegende Methode der sowjetischen schönen Literatur und der Kritik fordert der Sozialistische Realismus vom Künstler eine wahrheitsgetreue, historisch korrekte Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung muß mit den Aufgaben der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus verbunden werden. (Statut des Verbandes der Sowjetschriftsteller (Dok., Nr. 32) 1934, S. 390)
Der Slavist Hans Günther zählt zu den tragenden Merkmalen des Sozialistischen Realismus, die er „ideologische Postulate“ nennt, Parteilichkeit, die Widerspiegelung der Realität, das Typische, die revolutionäre Romantik, den positiven Helden und Volkstümlichkeit (Günther 1984). Unter ‚Widerspiegelung‘ wird dabei in Anlehnung an Lenin das Aufzeigen des dialektischen Geschichtsverlaufs verstanden. Das Typische umfasst die Darstellung von Klassen, symbolischen Prinzipien und ideologischen Haltungen mit Figuren, um ein gesellschaftliches und geschichtliches Panorama zu entwerfen. Die Handlung wird um einen Helden herum konzipiert, der in der Regel aus dem Volk stammt. Der positive Held ist Prototyp eines neuen sowjetischen Menschen, der einerseits als Schöpfer des Sozialismus auftritt und für sozialistische Ideale kämpft, andererseits aber einen einfachen und durchschnittlichen Menschen darstellt, um Nähe zum Volk zu inszenieren. Er macht eine Entwicklung vom individuellen zum kollektiven Bewusstsein durch, welche durch die Überwältigung der Feinde möglich wird. Diese (Klassen-)Feinde ermöglichen es, den Klassenkonflikt antagonistisch in Szene zu setzen (ebd., S. 198–203).31 Deswegen 31 Generell beruht seine Konzeption des Sozialistischen Realismus auf der Theorie der Archetypen von Carl Gustav Jung, wodurch Hans Günther sowohl das individuelle mit dem kollektiven Bewusstsein, als auch den Sozialistischen Realismus mit den russischen Traditionen des 19. Jh. verbindet. Der Sozialistische Realismus stellt daher keinen narrativ-ästhetischen Bruch dar, sondern wurzelt in bereits vorhandenen Motiven und 75
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kommt die Parteilichkeit sowohl durch eine konkrete Darstellung der KPdSU- Mitglieder und deren Ideale, als auch durch die Bedeutung des Kollektivs zustande. Der positive Held wird zu einem der dynamischsten Elemente der sozialistischen Ästhetik (Günther 2010, S. 192–198). Die Funktion des Helden nach Hans Günther besteht in der Mobilisierung der Massen zu den Taten und in der Infantilisierung des Heroismus (ebd., S. 197–198). Der Held bleibt immer jung und unreif; ihm gegenüber befindet sich der reife, statische Vater als Inkarnation eines höheren Ordnungs- und Gesetzesprinzips. Im Kriegsfilm kann am Ende durchaus ein heroischer Tod der Hauptfigur stehen; die geschichtliche Kontinuität wird dadurch nicht unterbrochen. Das Kollektiv und die Fortexistenz der Familie begründen eine fortschrittliche Geschichtsentwicklung zum klassenlosen Kommunismus. Zusammen mit dem Vater und dem Kollektiv bildet der Held den Mythos der großen patriarchalischen Familie, wie ihn die US-amerikanische Slavistin Katerina Clark für den Roman des Sozialistischen Realismus ausgearbeitet hat (Clark 2000, auch o. A. 1996, S. 103–108). Seit den 1930er Jahren erhält die Figur der Mutter größere Bedeutung, die als Heimat-Allegorie zugleich als Fruchtbarkeits- und Überschusssymbol fungiert (Günther 2010, S. 210–222).32 Eine solche Semantik entsteht im Zuge der verstärkten nationalistischen Tendenzen in der UdSSR und dem propagandistischen Internationalismus zum Trotz. Da Kunst, Literatur und Film im Rahmen des Sozialistischen Realismus didaktische Ziele verfolgten, wurde angestrebt, das Schöne zu zeigen und die Lebensfreude in Szene zu setzen (Ovsjannikov und Razumnyi 1964) – Ziele, welche zum Teil durch die Orientierung auf politische und ästhetische Ideale bedingt waren. Die Werke des Sozialistischen Realismus zeichnen sich daher durch eine positive Haltung und vor allem durch eine etwas utopische Darstellung aus, die das Gewünschte und Angestrebte als bereits Geschehenes im realistischen Modus zeigt. Bei Bildern und Filmen wurden helle und bunte Farben bevorzugt, welche eine optimistische bis verklärende Darstellung hervorbrachten. Deswegen drehten die Topoi, worauf auch Katerina Clark hingewiesen hat. Die Gestaltung des Helden und des Vaters drückt das hierarchische Machtsystem der UdSSR aus, die Gestalt des Feindes liest Günther als Externalisierung der inneren Konflikte, die unter dem Druck der Diktatur entstehen. Der Feind ist somit Projektions- und Abspaltungsfläche, vor der sich das System stabilisiert. Die Strategien der Projektion und der Abspaltung der inneren Konflikte beschrieb Freud bereits in seiner berühmten Schrift Jenseits des Lustprinzips (1999b). 32 Hans Günther stellt das Aufkommen des Weiblichen als Fruchtbarkeitssymbol in einen Zusammenhang mit der Kollektivierung des Dorfes, wobei das Motiv auf den bereits bestehenden Kult des unbestellten Bodens und der christlichen Gottesmutter zurückgeht. Das Mutter-Prinzip steht der technischen und hierarchisch inszenierten Vaterfigur gegenüber.
2.5 Der sowjetische Kriegsfilm
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sowjetischen Autorenfilmemacher*innen oftmals dann in Schwarz-Weiß, wenn sie eine Distanz zu der optimistischen Farbigkeit der sozialistischen Kunstmethode herzustellen suchten. Dieses künstlerische Programm wurde schon Ende der 1950er Jahre in Frage gestellt. Nach dem Bekanntwerden der politischen Säuberungen war es unmöglich, das bestehende Bild Stalins und der Kommunistischen Partei ohne weiteres aufrechtzuerhalten. Die Tauwetter-Periode brachte eine Psychologisierung des sowjetischen Films und eine Ausdifferenzierung von Genres wie dem Melodram, dem sozialen Drama, der kritischen Komödie/sozialen Satire und dem Abenteuer film mit sich, die zuvor lange als bürgerliche und „niedrige Genres“ verstanden wurden, welche das Leben des Kollektivs nicht „abzubilden“ vermochten (Frejlich 2009, S. 114–145). Diese Entwicklung ist jedoch an der Schnittstelle des Kollektiven und Individuellen zu situieren: Die sowjetische Kinematographie hat den Sozialistischen Realismus nicht verworfen, sondern sich langsam von ihm entfernt, einige der entwickelten Mittel wurden jedoch auch über die Existenz der UdSSR hinaus tradiert und modifiziert. Die Modifikation des Sozialistischen Realismus kann auch durch die realen Produktionsbedingungen erklärt werden: Aufgrund der massiven Zensur (Hennig 2010), die die Umsetzung der aufgezählten Postulate kontrollieren musste, ging die Filmproduktion nach dem Krieg stark zurück. Die sogenannte Periode des Filmmangels (malokartin’je) dauerte bis zum Tod Stalins: von 1947 bis 1950 wurden jeweils 16 Spielfilme, 1951 nur noch 6 Filme fertiggestellt. Einige der Forscher*innen führen den starken Einfluss einzelner Werke auf diesen andauernden Filmmangel zurück, da die Zuschauenden Filme im Durchschnitt bis zu viermal sahen (Zezina 2004). Nach der Reform des Filmministeriums im Jahr 1953 wurden Änderungen (auch im Zensurwesen) vorgenommen, welche die Filmproduktion erleichtern und beschleunigen sollten (ebd., S. 390f.). Bis zur Mitte der 1960er Jahre erreichte die Produktion etwa 160 Filme pro Jahr, darunter 130 Spielfilme. Die Produktionen der sowjetischen Kinoindustrie waren dabei aufgrund der relativ niedrigen Produktionskosten immer rentabel: Im Durchschnitt kostete ein Film ca. 320–340 Tausend Rubel (das entsprach 2 bis 5 Mio. Dollar) (ebd., S. 395). Zur sowjetischen Filmindustrie wird international viel geforscht, und auch zum Kriegsfilm sind zahlreiche Untersuchungen erschienen, welche vor allem eine filmhistorische Aufarbeitung33 anstreben und einzelne politische Perioden (wie etwa den Stalinismus, das Tauwetter oder die Perestroika) (Karl 2003, 2006; Zorkaja 2010; Engel 2010), einzelne Kriegsepisoden (Binder 2011) oder den Wan33 Protokoll eines künstlerischen Workshops 1944; Bolšakov 1950; Donskoj 1973; Zak 1975; Utilov 2005. 77
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del des Feindbildes (Gorjaeva 2002; Bagdasarjan 2003; Gudkov 2005b; Nazarov 2005; Senjavskaja 2006), der in der UdSSR stark präsent war, beschreiben, wobei manche Autor*innen sich durchaus über die Veränderung der Kriegsfilme beschweren und den Mangel an Patriotismus und Pathos monieren (Leonova 2006). In Deutschland sind ebenfalls einige Studien erschienen, die auf den Unterschied beider Erinnerungskulturen hinweisen (Fieseler und Ganzenmüller 2010; vgl. Engel und Menzel 2011). Komparatistische Perspektiven werden zudem von vielen Geschichtswissenschaftler*innen eingenommen. Zum 60. Jubiläum des Kriegsendes, in Russland als Siegestag gefeiert, publizierten russische und deutsche Historiker*innen, Kulturwissenschaftler*innen und Slavist*innen in deutscher und russischer Sprache gemeinsam in den Zeitschriften Osteuropa und Neprikosnovennyj Zapas [Unberührbare Reserve] (dt. Osteuropa, 55. Jg. 4–6/2005), wobei jedoch keine einzige der Studien einen direkten Vergleich zwischen sowjetischen und deutschen Filmen unternahm. Auch besteht in Russland ein großes Interesse an der Schnittstelle zwischen der Historiografie und der Filmgeschichte (Chanjutin 1968; Ognev 2003; Budnjak 2003), wobei die meisten Studien sich nicht mit dem Kriegsfilm beschäftigen. Sergej Sekirinskij sieht beispielsweise den Unterschied zwischen der Kinematografie und der Historiografie bei dem jeweiligen Umgang mit Zeitdokumenten. Historiker*innen wie Filmschaffende lassen in ihren Werken durch symbolisch-ästhetische Verkettungen der Ereignisse die historische Realität erkennen, wobei auch die Geschichte nicht frei von künstlerischen Inszenierungen und Mythenbildungen wie beispielsweise der Erschaffung oder Entstehung einer Legende ist (Sekirinskij 2004, S. 4, 6). Der Film, der über Stereotype und ideologische Funktionalisierungen hinausgeht, zeugt daher vor allem von der Zeit seiner Erschaffung; man kann von einem künstlerischen Code der Zeit sprechen, mit dessen Dechiffrierung eine Epoche erst verständlich wird (ebd., S. 9). Das Kino kann somit über mentale und sozial-psychologische Disposition jener Zeit Aufschluss geben, in der die Filme produziert worden sind (Listov 2004). Der Film zeigt in Analogie zur Literatur vor allem das Gewebe des Alltagslebens (Razlogov 2004). Irina Lapšina versteht den Film als Antwort auf die Erwartungen der Gesellschaft, in der er produziert worden ist (Lapšina 2004). Vasilij Zverev führt Statistiken einer breiten soziologischen Umfrage in der Russischen Föderation im Jahr 2001 an, die zeigen, dass über 60 % der Interviewten ihre Vorstellung von der Geschichte Russlands aus Filmen erlangt haben (Zverev 2004, S. 14). Er problematisiert dabei Schwierigkeiten der Filmanalyse, da historische Bilder der früheren Epochen, mit denen die Bevölkerung angesprochen werden soll, eine Bedeutungsverschiebung bzw. einen Bedeutungsverlust erleben. Das Kino bedinge durch seine Genres eine
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Mythologisierung der Geschichte, deren historische und faktische Ungenauigkeit durch die ästhetische Form kaschiert werde (Bagdasarjan 2004, S. 118). Andrej Gorskich setzt in seiner Monografie Medien und Gesellschaft (2013) symptomatischerweise die Kriegsfilme ins Zentrum der medial-politischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion: Obwohl er nicht mit Genre-Begriffen arbeitet, sondern Filme als Teil psychologisch-anthropologischer Prozesse einer Gesellschaft beschreibt, stellt er eine Genre-Typologie des Kriegsfilms auf, mit der eine Verschiebungen von den erstarrten Repräsentationen des Stalinismus zu den individualisierten der Tauwetter-Periode nachvollziehbar werden. Dazu gehören die Kategorien Held, Feind, Ereignis und Dasein (Alltag). So werden im Stalinismus Stalin- und Heroenkult betrieben; Massen sind ein konstitutiver Bestandteil der Darstellung; der Feind wird als Gegenpol zum eigenen heroischen Selbst konstruiert; die Heldentat steht im Mittelpunkt; der Alltag des Krieges wird hingegen ausgelassen. In der Tauwetter-Periode wird der typische Held zum Individuum und die Masse zur (kleineren, intimeren) Gruppe, die sich in ihrer Inszenierung auf ein Zusammenleben in Kommunalwohnungen bezieht; die Heldentaten werden durch Zufall begangen; der Beginn des Krieges wird jetzt zum Thema (früher eher das siegesreiche Ende); der Alltag des Krieges wird sichtbar (Gorskich 2013). Meine Arbeit schließt daher auch durch die Fragen nach Modifikation und Fortleben des Sozialistischen Realismus und der Wechselwirkung von Geschichte und Film an bestehende Studien an, wirft zugleich jedoch durch die komparatistische Perspektive einen neuen Blick auf sowjetische und russische Filme: Sie sind nicht allein als Instrumente der Partei zu beschreiben, sondern als Grundlage der über die UdSSR hinausgehende Erinnerungskultur Russlands anzusehen.
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2 Forschungsstand
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Filme Filme
Affäre Blum (DEFA 1947, R. Erich Engel) Betrogen bis zum Jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) Dein Unbekannter Bruder (DDR 1982, R. Ulrich Weiß) Der Hauptmann von Köln (DDR 1956, R. Slatan Dudow) Der Teufelskreis (DDR 1956, R. Carl Balhaus) Der verlorene Engel (DDR 1966, R. Ralf Kirsten) Der 20. Juli (BRD 1955, R. Falk Harnack) Des Teufels General (BRD 1955, R. Helmut Käutner) Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1965, R. Joachim Kunert) Die Blechtrommel (BRD 1979, R. Volker Schlöndorff) Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) Die gefrorenen Blitze (DDR 1967, R. János Veiczi) Die letzte Schlacht des Majors Pugačev [Последний бой майора Пугачева] (RF 2005, R. Vladimir Fat’janov) Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) Die Schauspielerin (DDR 1988, R. Siegfried Kühn) Die Sonne, die uns täuscht 2: Exodus [Утомленные солнцем 2: Предстояние] (RF/F/ CZE 2010, R. Nikita Michalkov) Die Sonne, die uns täuscht 2: Zitadelle [Утомленные солнцем 2: Цитадель] (RF/F/ CZE 2011, R. Nikita Michalkov) Die Sonnenbrucks (DDR 1951, R. Georg C. Klaren) Die Verlobte (DDR 1980, R. Günter Reisch/Günther Rücker) Die weisse Rose (BRD 1982, R. Michael Verhoeven) Ehe im Schatten (DEFA 1947, R. Kurt Maetzig) Geschichte jener Nacht (DDR 1967, R. Karlheinz Carpentier) Heimat (BRD 1982–2004, R. Edgar Reitz)
Filme
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Hitler geht kaputt! [Гитлер капут!] (RF 2008, R. Marius Vaisbergas) Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin J. Chomsky) Hotel Polan und seine Gäste (DDR 1982, R. Horst Seemann) Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf) Im Westen nichts Neues (USA 1930, R. Lewis Milestones) Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) Jakob der Lügner (DDR 1975, R. Frank Beyer) KLK an PTX – Die rote Kapelle (DDR 1971, R. Horst E. Brandt) Komm und sieh [Иди и смотри] (UdSSR 1985, R. Ėlem Klimov) Professor Mamlock (DDR 1961, R. Konrad Wolf) Mama, ich lebe (DDR 1977, R. Konrad Wolf) Nacht fiel über Gotenhafen (BRD 1960, R. Frank Wisbar) Nebel [Туман] (RF 2010, R. Ivan Šurchoveckij/Artem Aksenenko) Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) Stärker als die Nacht (DDR 1954, R. Slatan Dudow) Sterne (DDR/BUL 1959, R. Konrad Wolf) Strafbataillon [Штрафбат] (RF 2004, R. Nikolaj Dostal’) Wengeler & Söhne – Eine Legende (DDR 1987, R. Rainer Simon) Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) Wir sind aus der Zukunft [Мы из будущего] (RF 2008, R. Andrej Maljukov) Wir sind aus der Zukunft 2 [Мы из будущего 2] (RF 2010, R. Aleksandr Ševcov)
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Ästhetisch-historische Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses
3 Ästhetisch-historische Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses
3.1
Allegorien als filmisches Konzept
3.1
Allegorien als filmisches Konzept
Ausgehend einerseits von der sowjetischen Genretheorie, die verschiedene Abstraktionsebenen der Bilder erfasst, und andererseits von den in der Kunstgeschichte bereits bestehenden zahlreichen Analysen der (weiblichen) Allegorien wird die Allegorie als eine zentrale Kategorie aufgewertet, mit der die Position der Zuschauenden bei der Rezeption der Kriegsfilme ausgearbeitet wird. Allegorien sind nicht mehr (nur) die Anderen im Bild, sondern die Hauptfigur, daher können sie auch durch Männerfiguren inszeniert werden, wobei die Filme über den Zweiten Weltkrieg konservative Geschlechterbilder bevorzugen. Mit der Hauptfigur vollziehen die Zuschauenden bei der Rezeption des Films die Verwandlung zum Allegorischen performativ mit. Auf diese Weise ermöglichen die Allegorien es dem Publikum, an einer im Film inszenierten kollektiven Erfahrung und daher an der Macht der Geschichte teilzuhaben und diese als Bestandteil der eigenen Vergangenheit zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund wird auch diskutiert, wie eine Cross-Gender-Identifizierung möglich ist und wie die Filme ihre Figuren je nach Bedarf de- und re-allegorisieren.
3.1.1
Kollektivität und Genresysteme
Eines der wichtigsten ästhetischen und ideologischen Gestaltungsprinzipien der Filme über den Zweiten Weltkrieg ist ihre Adressierung der Massen bzw. die Erschaffung einer Kollektivität, welche die verhandelten Identitätsformen in einem zwar spezifischen, aber zugleich breiten nationalen und politischen Kontext einsetzt, mit welchem das Publikum sich über geschlechtliche und ethnische Differenzen hinweg imaginär verknüpfen kann. Möglicherweise ist es gerade diese Strategie, die die Rezeption der Werke außerhalb ihres Herkunftslandes so schwierig macht. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Gradinari, Kinematografie der Erinnerung, Neue Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30065-4_3
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3 Ästhetisch-historische Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses
Der Kriegsfilm bedient sich national verständlicher Codes und schreibt sich in eine bestehende Tradition der Sinnherstellung ein. Obgleich sich der Zweite Weltkrieg über viele Länder erstreckte – oder vermutlich auch gerade deswegen –, gibt es mit Ausnahme von einigen wenigen Beispielen keinen internationalen Konsens über zentrale erinnerungsfähige Ereignisse. In jedem Land wurden aus dem Krieg in erster Linie diejenigen Ereignisse herausgebildet und zur Grundlage von Memorialpraxen entwickelt, welche einen unmittelbaren Bezug zum Staat aufweisen, sei es topographisch oder politisch. Sie wurden dabei entsprechend mentalitätsgeschichtlicher und tradierter ästhetischer Wahrnehmungsformen gestaltet, um aktuelle identitätspolitische Funktionen anzubieten. Nur wenige sowjetische Filme über den Zweiten Weltkrieg wurden oder sind daher in der BRD und im heutigen Deutschland bekannt, wie auch umgekehrt das russische Publikum bis auf wenige Ausnahmen kaum mit westdeutschen Produktionen in Berührung kam. Gezeigt wurde in den westdeutschen Kinos zum Beispiel eine fünfteilige internationale Koproduktion vorwiegend osteuropäischer Staaten unter Leitung der UdSSR mit dem Titel Befreiung [Освобождение] (UdSSR/YU/I/P/DDR 1968–1972, R. Jurij Ozerov), welche allerdings bei Filmkritiker*innen auf große Ablehnung stieß. Als ideologisch wurden (zu Recht) vor allem die Darstellungen von Stalin und der Roten Armee wahrgenommen. Einen großen Erfolg feierte umgekehrt Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) in Moskau. Der Austausch zwischen der UdSSR und der DDR war hingegen viel intensiver. Aus ihm entstanden zahlreiche Koproduktionen, wobei vor allem die UdSSR die ostdeutsche Erinnerungskultur symbolisch und politisch dominierte. Diese Situierung in einem spezifischen kollektiven Kontext ist notwendig, damit die Zuschauenden an vertraute spezifische Nationaldiskurse anknüpfen und die gezeigte Geschichte als Teil der eigenen Vorgeschichte akzeptieren können. Der Krieg ist nur dann verständlich und sinnstiftend, wenn er auf die Geschichte eines Kollektivs bezogen wird und mit im Kollektiv etablierten Denkmustern arbeitet (Kappelhoff 2016),34 welche wiederum eine kollektive Vergegenwärtigung durch den Krieg ermöglichen. 34 Die Kollektivität schöpft ihre Überzeugung laut Hermann Kappelhoff aus dem Gemeinsinn, an dem der Kriegsfilm als kollektives Genre beteiligt ist und ihn somit erfahrbar macht. Die Filme fügen ihre Ereignisse in die für die Zuschauenden geteilte Welt ein, wo der Gemeinsinn herrscht bzw. prozessiert und verhandelt wird. Tradierte Pathosszenen des Kriegsfilms, welche durch eine entsprechende Affektdramaturgie aufgerufen werden, bedienen sich etablierter genrepoetischer und erinnerungspolitischer Elemente und lassen das Publikum auf diese Weise am Gemeinsinn teilhaben. Der Film greift einerseits zentrale Erinnerungsereignisse, -motive oder -symbole auf und kann beispielsweise die Funktion übernehmen, den Totenkult zu inszenieren und so
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Die filmische Gestaltung der Kollektivität wurde insbesondere durch die sowjetische Genre-Theorie in den Fokus gerückt, welche Filmtypen hierarchisch je nach sozialpolitischer Bedeutsamkeit der Inszenierung sortierte (vgl. Šklovskij 2012; Vlasov 1976; Fomin 1979; Frejlich 2009). Wenn die Massen in einem Film als politisches Subjekt in einem breiten sozialen Kontext auftreten und in ihrer historischen dialektischen Entwicklung gezeigt werden, handelt es sich um eine Kinoepopöe und somit um das ‚höchste‘ Genre. In der Regel geht es dabei um einen gesellschaftspolitischen Umbruch, wie zum Beispiel die Oktoberrevolution. Die Filme von Sergei Eisenstein (Vlasov 1976, S. 49), die sich vom Individuell-Bürgerlichen abwenden, das Typische zeigen und Dinge metaphorisch verallgemeinern (Frejlich 2009, S. 68), können hier als Prototypen gelten. Kinoepopöen erzeugen dokumentarische Glaubwürdigkeit und epische Verallgemeinerungen; sie arbeiten mit Metaphern und Hyperbeln (Vlasov 1976, S. 47). Als weniger bedeutsam gilt bereits der Kinoroman, der das Individuum als Teil des Kollektivs in einem breiten sozialen Kontext verortet. Das Individuelle und das Kollektive stehen hier nebeneinander, ergänzen und nuancieren sich gegenseitig. Die epische Erzählweise wird mit einem sozialpsychologischen Kontext versehen; das Allgemein-Soziale beruht auf dem Individuell-Spezifischen (ebd., S. 52). Der Kinoroman bietet daher Raum für eine detailreiche, tiefe und breite Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit (ebd., S. 64). Als Kinoromane fasst der sowjetische Filmwissenschaftler Vlasov neben Citizen Cane (USA 1941, R. Orson Welles) und Der stille Don [Тихий Дон] (UdSSR 1957, R. Sergej Gerasimov) auch die Kriegsfilme Die junge Garde [Молодая гвардия] (UdSSR 1948, R. Sergej Gerasimov) und Befreiung [Освобождение] (UdSSR/YU/I/P/DDR 1968–1972, R. Jurij Ozerov), wobei die letztgenannte fünfteilige Produktion heutzutage als Kinoepopöe angesehen wird. Den Film Es war im Mai [Был месяц май] (UdSSR 1970, R. Marlen Chuziev), der die Vernichtung im Krieg durch Bilder und Musik affektiv erfahren lässt, zählt Vlasov zum sozialpsychologischen Roman unter einer lyrisch-epischen Individuen durch Erinnerungen an erbrachte Opfer affektiv zu mobilisieren. US-Kriegsfilme aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges übertragen andererseits den Krieg in das Western-Genre, das in der Kriegszeit zugleich verdrängt wird. So wird der Krieg in die Logiken der Geschichtspoetik und der Ursprungsfantasie der USA eingebunden und auf diese Weise emotional wirksam. Als generisches Prinzip des Kriegsfilms definiert Kappelhoff dabei in Anlehnung an Sigmund Freud die Erinnerungsdichtung, die vor allem auf das Verhältnis von Gemeinschaft und Geschichte abzielt, indem ein Erfahrungsraum hergestellt wird, in dem sich ein „Gemeinwesen“ in einer „experimentellen historischen Konfiguration“ erlebt: „Die Filme etablieren in ihrer Erinnerungsdichtung ein affektives Verhältnis zur Geschichte der Gemeinschaft.“ (Kappelhoff 2016, S. 289) Mit Erinnerungsdichtung meint Kappelhoff die Verwendung des dokumentarischen Materials und die Verarbeitung realer Erlebnisse im Kriegsfilm. 97
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Bearbeitung. Eine radikale Auflösung der inhaltlichen Strukturen im Film Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) macht ihn zu einem Kinopoem (ebd., S. 78). Nach dem Kinoroman kommt in absteigender Folge das Kinodrama, das sich durch einen zugespitzten Konflikt zwischen dem Individuum und dem Kollektiv auszeichnet, der eigentlich eine Ausnahme darstellt und nicht mehr repräsentativ für das ganze Kollektiv erscheint, wie zum Beispiel in der Theaterstückverfilmung Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov). Eine Kinoerzählung (kinopovest’)35 hat keine epische Darstellung mehr, zeigt nur einen Ausschnitt aus der Geschichte oder dem gesellschaftlichen Leben, beinhaltet wenige Figuren und interessiert sich vorwiegend für Details und Besonderheiten. Die Kinoerzählung zeichnet sich durch eine Aufmerksamkeit hinsichtlich des Daseins der Figuren und deren psychologischer Tiefe aus. Ihr fehlt jedoch die soziale Breite, um im gleichen Maße wie die Kinoromane politische Relevanz herzustellen. Zu diesem Genre zählen mit Im Morgengrauen ist es noch still [А зори здесь тихие] (UdSSR 1972, R. Stanislav Rostockij), Weissrussischer Bahnhof [Беларусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov) und Sie kämpften für die Heimat [Они сражались за Родину] (UdSSR 1975, R. Sergej Bondarčuk) Filme, die hinsichtlich ihrer Ästhetik und ihres Inhalts sehr unterschiedlich ausfallen. In Im Morgengrauen ist es noch still geht es um einen Vorfall mit Flaksoldatinnen an der Heimatfront, Weissrussischer Bahnhof erzählt von der sozialen Desintegration der Kriegsveteranen zwanzig Jahre nach Kriegsende, und Sie kämpften für die Heimat handelt von der Schlacht am Dnepr und dem Beginn der Stalingrader Schlacht. Unter der Bezeichnung Kinonovelle subsumiert Vlasov filmische Momentaufnahmen, kurze abgeschlossene Geschichten mit einer oder einigen wenigen Figuren, die keine Entwicklung erfahren (Vlasov 1976, S. 71). Hier werden keine Beispiele für Kriegsfilme mehr genannt. Den Novellen folgen der sowjetische Detektivfilm und die sowjetische Komödie, welche sich nicht allein auf das Motiv der Ermittlung und ihre Unterhaltungsfunktion konzentrieren, sondern auch soziale Konflikte verhandeln können. Der sowjetische Detektivfilm verschmilzt die epische Verallgemeinerung mit dem Abenteuergenre, wie zum Beispiel am Lieblingskriegsfilm von Vladimir Putin Die Heldentat eines Kundschafters [Подвиг разведчика]
35 In der deutschen Literatur gibt es kein analoges Genre zu Kinopovest’. Es handelt sich um eine offene Erzählform, die größer als die Erzählung und kleiner als der Roman ist, in der Regel erfolgt der Aufbau der Handlung chronologisch. Povest’ gibt oft Beobachtungen aus dem alltäglichen Leben wieder und hat (anders als der Roman) eine begrenzte Figurenzahl.
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(UdSSR 1947, R. Boris Barnet) (ebd., S. 82) zu untersuchen wäre, der von einem Spion im Zweiten Weltkrieg erzählt. Melodramen finden im sowjetischen Kino keine Verbreitung, da hier der soziale Konflikt privatisiert wird. Generell gehören Melodramen, Kriminal- und Abenteuerfilme eher zu den niederen Genres, während sowjetische Filme über die Geschichte der Entwicklung des Kollektivs und seine Einwirkung auf das Individuum zu den höheren Genres gezählt werden. In Anlehnung an diese Überlegungen können im Film drei genrespezifische Identitätsangebote unterschieden werden, die das Verhältnis der Individuen zur sozialen Welt auf verschiedene Weise regeln und dazu entsprechende Genrepoetiken entwickelt haben, wobei verschiedene Typen in einem Werk kombiniert werden können. Das Individuum als Identitätsangebot taucht in einem privaten oder eng umrissenen psychologischen Kontext auf, den beispielsweise das Melodrama oder die Romanze bieten. Diese Genres können durchaus den sozialen Kontext einbeziehen, jedoch eher als identitätsstiftende symbolische oder psychologische Dimension (dazu auch Dyer 1977, 1993, S. 11–18; Neale 1993; Eco 1986, S. 169–177). Die Individualisierung entfaltet sich durch einen Konflikt mit der Ordnung, in der die Hauptfigur eher eine Ausnahme darstellt. Die Ausbildung von Typen erfordert in der Regel einen breiten gesellschaftlichen Kontext sowie Schicht- oder Klassendifferenzierung (vgl. auch Schweinitz 2006, S. 43–53), wie es in sozialen Dramen, Kriminalfilmen oder sowjetischen Produktions- und Kolchosfilmen zu sehen ist. Ähnlich beschreibt Stanley Cavell die Figur in Hollywood-Genres: Das Stereotyp sorgt für eine gesellschaftliche Zuordnung der Figur über den sozialen Kontext, wobei der Typus die Individualität der Figur hervorbringt (Cavell 1999, vgl. auch Groß 2015, S. 221–227). Der Begriff Typ oder Typus wird hier jedoch in Gegensatz zu Cavells Definition aus der Diskussion um den Sozialistischen Realismus heraus als jenes Verfahren verstanden, das über die Verallgemeinerung bestimmter Merkmale die Figur als Teil einer sozialen Gruppe erkennbar macht. Das Typische war im Sozialistischen Realismus ein wichtiges ideologisches Regulativ, mit dem das Bild der Gesellschaft gestaltet wurde (Günther 1984, S. 32–35), zugleich bietet es Material zur Reflexion über das Potenzial des Kinos, das Soziale zu entwerfen. Von besonderer Bedeutung erscheint hierbei die Definition des Typisierungsprozesses von Maksim Gor’kij, der den Typus einerseits als „Extrakt aus einer Reihe von gleichartigen Fakten“ beschreibt, der eben das Durchschnittliche repräsentiert, das auf eine bestimmte Gesetzmäßigkeit der Gesellschaft hinweisen sollte. Das Durchschnittliche wird andererseits jedoch durch Übertreibung stilisiert und mit dem Möglichen/Gewünschten ergänzt (Gor’kij 1949–1956, S. 133; 1974, S. 64). Die Typisierung ist daher durchaus ein ideologischer Prozess, schon deshalb, weil sie bestimmte Klassen- und Milieuvorstellungen einer Epoche (verklärend oder nicht) fixiert. 99
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Gerade deswegen ist es anhand von Typen möglich, innergesellschaftliche, sozial wirksame Differenzen zu verhandeln, aber auch abzulesen (siehe auch Eder 2008, S. 375–381). Der Bösewicht und der Detektiv spielen zum Beispiel ritualisiert den Konflikt zwischen Begehren und Ordnung sowie zwischen dem Individuum und dem Kollektiv durch. Die früheren sowjetischen Filme, die zum Sozialistischen Realismus gezählt werden, entwerfen Vertreter*innen der Arbeiterund Bauernklasse. Je später nach Kriegsende der Film produziert wurde, desto mehr wird die Klassentypologie durch eine Typologie der Erinnerungskultur dominiert, die auf Figuren neben ihrer sozialen Zugehörigkeit appliziert wird: Sieger*innen, Besiegte, Opfer, Täter*innen oder Zeug*innen (Assmann, A. 2006). Zugleich ist dieses Durchschnittliche selbst eine (film-)ästhetische Erfindung, ist nicht unmittelbar im Sozialen vorhanden und beobachtbar und wird somit vom Film konstruiert, bei dem cineastische Bildtraditionen und gesellschaftliche Diskurse aufeinandertreffen. Die Allegorie als Identitätsangebot schließlich kommt vor allem dann vor, wenn die Werke das nationale Schicksal verhandeln und das Kollektiv in einen nationalen und internationalen Kontext stellen, wie es in Kriegs- oder Historienfilmen der Fall ist. Das Schicksal der ganzen Nation steht auf dem Spiel; die Filme erschaffen dabei eine erhabene Bildlichkeit, Figuren werden zu Vertreter*innen der großen Nationalgruppen und es geht um die Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinreicht und somit die nationale Politik der Gegenwart bestimmt. Auch wenn die unterschiedlichen Identitätsbildungsprozesse – über das Individuum, den Typus und die Allegorie – mit bestimmten Genres verbunden zu sein scheinen, können sie sich in einem Film durchaus überlagern. Die Individualität der Figur, die durch die*den Schauspieler*in und die Besonderheit der Dramatisierung zustande kommt, ist in jedem einzelnen Werk zu finden. Das Typische ist hingegen Resultat jener Prozedur, die die Figur als Teil der Gruppe ausweist und sie in einem sozialen Kontext verortet, was nicht nur die Konzeption der Figur betrifft, sondern auch eine entsprechende Handlungsentwicklung, aber auch ein entsprechendes Schauspiel sowie bestimmte Bild- und Klangkonstruktionen erfordert (Schweinitz 2006, S. 43). Geschlechts- und klassenspezifische oder ethnische Zugehörigkeit sind hierfür typisch, müssen aber nicht notwendigerweise im Vordergrund stehen, sondern unterliegen einer dramaturgischen Gewichtung. Die individuelle Figur muss in einem gewissen Ausmaß stereotypisiert werden, wobei auch Stereotype sozialen und politischen Veränderungen, ästhetisch-technischen Entwicklungen und der Wandelbarkeit des Erinnerungsdiskurses ausgesetzt sind. Laut Jörg Schweinitz fungieren Stereotype so als „funktionale Größen, die als unverzichtbare Momente letzthin jede Form von Kognition und Kommunikation kennzeichnen.“ (Ebd., S. 98) In diesem Kontext muss die Stereotypie als ein notwendiges filmisches
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Mittel verstanden werden, komplexe soziale Zusammenhänge mit einigen wenigen Bildern zu vermitteln und erkennbare Bezugsgrößen für das Publikum anzubieten (ebd., S. 44–45). In der Allegorie wird das Bild letztlich unwandelbar, es erstarrt und wird zu einer Ikone, die auf eine längere Tradition in der Kunst und Politik verweist. Hier spielen vor allem jene erhabenen Momente des Genres eine Rolle, in denen die Figur audio-visuell entrückt wird. Im Kriegsfilm können die Figuren also drei symbolische Ebenen sukzessiv erreichen oder gleichzeitig alle drei Zustände verdichten. Hinsichtlich dieser Typologie sind vor allem DEFA-Kriegsfilme mehrschichtig gestaltet: Ihre Figuren sind sowohl psychologisch als Individuen, als auch typologisch als Vertreter*innen der Arbeiterklasse oder der Bourgeoisie sowie als Allegorien der vergangenen Nazi- Ordnung und des neuen sozialistischen Staates zu verstehen. Außerdem können sie die Erinnerungstypologie wechseln, die Täterposition beispielsweise dezidiert ablehnen, sich mit Opfern solidarisieren oder sich selbst ermächtigen und auf die Seite der Sieger überwechseln. Diese identitäre Mehrschichtigkeit kann intendiert sein, versuchten die Filmschaffenden doch eine breite Resonanz in verschiedenen Gruppen der Zuschauenden zu erzielen. Denkbar ist aber auch, dass diese Gestaltungsstrategie als Effekt der Zusammenführung von westdeutscher individual-psychologischer Tradition, aus der die erste Generation der DEFA-Filmschaffenden hervorgeht, und sowjetischer Methode des Sozialistischen Realismus, die auf das Typische und Allegorische zielt, um kollektive Mentalitäten herauszubilden, zustande gekommen ist. In westdeutschen Kriegsfilmen fehlt oft die soziale Typisierung. Die Figuren werden in ihrer Klassenzugehörigkeit nur selten erkennbar, daher treten gesellschaftliche Konflikte im Kriegsfilm in den Hintergrund. Die Figuren erscheinen vor allem als ‚Menschen‘ an sich, universell und ahistorisch, welche eine individuelle Ausnahme in der NS-Ordnung darstellen und sich somit von ihr abheben. Ausgeprägt ist hingegen die Täter-Opfer-Typologie, welche in der Regel nicht abgelegt oder abgebüßt werden kann. Allegorien (z. B. der NS-Ordnung oder der Nachkriegszeit) werden daher oft nicht erkannt. In sowjetischen Kriegsfilmen wird die individuelle Ebene nur minimal ausgestaltet und vor allem durch die Darsteller*innen zum Ausdruck gebracht, aber die Inszenierung verwischt ihre Individualität, soweit ihr dies möglich ist. Die Tauwetter-Periode zeichnet sich durch eine Tendenz zur Individualisierung und Psychologisierung der Figuren aus, sie treten im Kriegsfilm jedoch auch als mehr oder weniger typische Vertreter*innen ihrer Klasse, als Sieger*innen und zugleich als Allegorien der UdSSR auf, weswegen Typen und Allegorien oft kaum voneinander zu unterscheiden sind. 101
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3.1.2 Nationen und Allegorien Kollektivität im Film und besonders im Kriegsfilm berührt vor allem Fragen des Nationalen (vgl. Williams, A. 2002b), wie es auch Hermann Kappelhoff in Bezug auf den US-amerikanischen Kriegsfilm festhält: „Die Erinnerungsdichtung des Kriegsfilms, die Umwandlung des fotografischen Dokuments realer Individuen in eine Pathosform, kann als heroische Verklärung die Identität der Nation, der Rasse, der Kultur beglaubigen.“ (Kappelhoff 2005) Später schreibt er: Das Kriegsfilmgenre Hollywoods zielt – so unsere grundlegende Hypothese – auf die Mobilisierung eines von vielen Einzelnen geteilten Gefühls der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft. Und dieses Gefühl strukturiert die emotionale Bewertung und Haltungen gegenüber moralisch-politischen Sachverhalten. (Kappelhoff 2014, S. 248)
Die meisten Konzepte des Nationalen im Film entstehen in oder mit Bezug auf Hollywood:36 Alan Williams unterscheidet beispielsweise zwischen den globalen, in der Regel mit großem Budget versehenen (Action-, Sci-Fi-Filmen usw.) und mittel-budgetierten nationalen Genres (US-Comedy, Bombay Musical, Hong Kong Martial Arts Film usw.) (Williams, A. 2002b, S. 18), wobei diese Unterscheidung mit Vorsicht zu genießen ist. Die auditive Gestaltung (Chion 1999), Schnitt oder Rhythmus (Williams, A. 2002b, S. 20) können dem Film einen spezifischen nationalen Charakter verleihen; zugleich sind nicht alle Formen von Visualität ihres scheinbar mimetischen Charakters zum Trotz überall zugänglich. Der Film über den Zweiten Weltkrieg kann daher auch je nach Inszenierung und Perspektivierung mehr trans- oder mononational wirken. Je allgemeiner und universeller die Darstellung des Films inhaltlich ausfällt und je stärker der Film auf die Inszenierungsstrategien Hollywoods zurückgreift, desto mehr taugt er für das internationale Publikum. Ein stark national-politischer oder kulturspezifischer Fokus – ein extremes Beispiel stellt hier der Propagandafilm dar – führt hingegen dazu, dass der Film außerhalb eines Staates weniger rezipiert werden kann. In Bezug auf ästhetische Strategien und Mittel, die der Inszenierung und Stabilisierung einer Nation dienen, sind nach Reiner Rother vor allem die Darstellung der Gründung der Nation und die Legitimation des Neuanfangs von Bedeutung, ferner die Hervorhebung einzelner Individuen (hauptsächlich Männer) und großartiger Ereignisse, die Parallelisierung biographischer und nationaler Entwicklungen, mit der eine Anthropomorphisierung der Nation einhergeht, die Glorifizierung der 36 Vgl. die theoretischen Beiträge von Stephen Crofts, Andrew Higson und Martha Wolfen stein in Williams, A. 2002a. Dazu auch Sobchack 1996; Burgoyne 1997.
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Helden der Nation und der Opfer (Rother 1998a, S. 14–16), der Aufbau geschichtlicher Kontinuität sowie die Abgrenzung von „wir“ und anderen (Rother 1998b). Obwohl der Film nicht der geschichtlichen Faktizität verpflichtet ist, wird er nach Rother zu einem der leitenden Medien der Erfindung und Aufrechterhaltung von Nationalmythen (Rother 1998a, S. 12). Der Ort, an dem die meisten der aufgezählten Motive sich überschneiden und an dem die Nation verkörpert sichtbar wird, ist die Allegorie. Trotz der differenten nationalen und politischen Entwicklung in UdSSR, DDR und BRD37 sowie der jeweils unterschiedlichen Nationsbegriffe bedienen sich die Kriegsfilme ähnlicher Allegorien, die verschiedene historische Phasen der Deund Renationalisierung überdauern und bis heute tradiert werden. Die Allegorie ist allein schon deswegen für das Bildmedium Film von zentraler Bedeutung, weil der Begriff bereits dort, wo er eine rhetorische Trope bezeichnet, „in Bildern reden“ bedeutet. Das Bildhafte entsteht dadurch, dass mit der Allegorie ein Anders-Sagen (gr. allos-agoreuein) zustande kommt. Es handelt sich um eine Stilfigur der uneigentlichen, metaphorischen Rede: „Die Allegorie gilt in der klassischen Rhetorik Ciceros und Quintilians als eine durchgeführte übertragene Rede, als translatio continuata.“ (Schneider 1994, S. 138, Hervorhebung im Original; auch Weigel 1994a, S. 160–161) In diesem Zusammenhang wird die Allegorie in der Literaturwissenschaft sowohl als Personifikation eines abstrakten Bildes als auch als eine Erzählweise der uneigentlichen Rede beschrieben (Braak 2007, S. 47). Beide Strategien sind im Film vorhanden, wobei das allegorische Erzählverfahren in den Kapiteln Parabel und Synekdoche ausführlich besprochen wird. Hier geht es um die Allegorisierung der Figuren und somit die Erfassung eines besonderen Identitätsangebots für die Zuschauenden, wodurch vor allem der Anschluss des Individuums an das Kollektive vollzogen wird. Allegorien tauchen an jener Schnittstelle auf, an der Bildlichkeit einerseits auf einen breiten nationalen Kontext, andererseits auf eine Tradition außerhalb des Films hinweist, zum Beispiel auf tradierte Symbole der Staatsdarstellung. So wird das Identifizierungsangebot mit dem Überindivi-
37 Man könnte hier vielleicht schlussfolgern, dass in der UdSSR und der DDR ein eher politisch definierter Nationsbegriff vorherrscht, der zur innerkulturellen Entdifferenzierung neigt, allerdings nach außen als nationalspezifisch bzw. nationalistisch kommuniziert wird, selbst wenn seine Legitimation unter Umständen der atomaren Bedrohung des Kalten Krieges und der systemischen Konkurrenz ebenfalls politisch ist. Denn die UdSSR und die DDR bewahren ihre geschlossenen Grenzen, schirmen sich von anderen Staaten ab und formieren somit ein nationales Staatskollektiv. In der BRD wird hingegen ein religiös geprägter und zunehmend essentialisierter Nationsbegriff bevorzugt, der durch Sprache, Geburtsrecht, Topographie und Abstammung gesichert wird (Baberowski 2012; Jakovlev und Kostyrčenko 2005; Franz und Jilge 2001; Schoeps und Schlör 1995; Plessner 1992; Andersen und Woyke 2003; Kosing 1975). 103
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duellen und Historischen angereichert. Filmische Allegorien ähneln dabei den Personifikationen der bildenden Kunst, mit denen bereits in der Antike abstrakte Vorstellungen inszeniert wurden: Tugenden, Laster, Wissenschaft, Kunst, Musen, Gerechtigkeit, Weisheit, Natur, Jahreszeiten usw. (Wenk 1996a, S. 8) Aus der großen, kaum überblickbaren kunsthistorischen Diskussion zu Allegorien ist für den Kriegsfilm vor allem die Analyse ihrer geschlechtlichen Codierung von Bedeutung. Obwohl es auch männlich gekennzeichnete Personifikationen des Krieges, des Mutes, der Stärke usw. gibt, sind die meisten Allegorien in der Kunst weiblich.38 Seit etwa der Frühneuzeit deutet sich ein neues Paradigma an, werden weibliche Allegorien nun doch immer häufiger für die Darstellung moralischer Werte eingesetzt (Wenk 1996a, S. 9). Diese Entwicklung mündet im 18. Jahrhundert in eine neue geschlechtsspezifische Differenzierung der Allegorien. Augenscheinlich passiert dies gerade in der Zeit der rasanten Entwicklung des nationalen Bewusstseins, in der Allegorien zudem eine tendenziell politische Verwendung erfahren (dazu auch Wappenschmidt 1984). So etablieren sich in der bildenden Kunst – wie die Kunsthistorikerin Viktoria Schmidt-Linsenhoff herausarbeitet – spätestens seit der Französischen Revolution weibliche Allegorien für die Darstellung der Nationen, die später für den Nationaldiskurs der deutschen Rechten (Frietsch 2006),39 der deutschen Linken und für die Sowjetunion der 1950er bis 1960er Jahre gleichermaßen symptomatisch werden (Schmidt-Linsenhoff 1996). Während Frauenfiguren zu abstrakten und mythischen Ideen wie Germania oder Mutter-Heimat erhoben werden und somit abstrakte Begriffe veranschaulichen, präsentieren die Männerfiguren konkrete Helden und Herrscher, die durchaus auf den Staat verweisen können, jedoch zugleich auf reale, historische Personen referieren. Mit Weiblichkeit wird eine nicht darstellbare Idee vergegenwärtigt, Männlichkeit tritt eher in Form eines historisch-politischen und handlungsfähigen Subjektes auf. In diesem Zusammenhang zeichnen sich weibliche Allegorien nach Aleida Assmann durch Unmarkiertheit (keine Individualität, kein Charakter, 38 Zum mittlerweile umfassend erforschten Thema vgl. die germanistischen Studien von Rentmeister 1976; Wartmann 1985; Pollig 1986; Weigel 1987; Struchtemeier 1987, 1989; Rössler 1989. Dazu auch die kunsthistorischen Studien von Wenk 1986, 1987a; 1987b, 1988, 1990, 1991a, 1991b, 1992, 1996b; Wagner 1989a, 1989b; Siebe 1989; Schmidt- Linsenhoff 1990; Hoffman-Curtius 1989, 1991; Möbius 1989, 1991; Falkenhausen 1993; Kreis 1991. 39 In ihren Studien zeigt Frietsch (2006) deutlich, dass auch die Propaganda der NS-Diktatur für die Gleichsetzung von Weiblichkeit und Volkskörper gesorgt hat. Am Bild der Frau, so referiert Frietsch anhand einer Aussage aus der NS-Zeit, wird der Zustand der Nation abgelesen. Gemeint ist hier die Rückkehr der Frauen zu ihren „natürlichen Obliegenheit“ wie Reproduktion und Fürsorge.
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keine Geschichte), Idealität (Schönheit) und Differenz aus (Assmann, A. 1994, S. 25). Marina Warner sieht darin die Tradierung platonischer Vorstellungen eines Schönheitsideals, das vor allem durch den weiblichen Körper ausgedrückt werden kann (Warner 1989, S. 101). Der Einsatz weiblicher Allegorien für die Darstellung der Nation wird zugleich auch im Zusammenhang mit emanzipatorischen Ansätzen der Aufklärung gelesen (z. B. Siebe 1991). Die Entrücktheit der Figuren entsteht durch die Inszenierung von Reinheit und Jungfräulichkeit sowie durch den Bezug zu mythologischen Motiven (Kraut 1989), aber auch in der Referenz auf christliche Symbolik, etwa die Gottesmutter oder die Pietá. Die geschlechtsspezifische Aufteilung zwischen Abstraktem und Konkretem führt dazu, dass die durch weibliche Allegorien präsentierten Ideen diese entpolitisieren, während männliche Figuren als Bilder realer Herrscher und Helden eine Referenz zum politisch-historischen Feld beibehalten (dazu z. B. Wenk 1996a). Sigrid Schade, Monika Wagner und Sigrid Weigel halten in ihrer Einleitung zu dieser Differenz fest: Durch die verbreitete Assoziierung von Weiblichkeit und Natur aber kann man davon ausgehen, daß die Repräsentationen von Kunst-, Staats-, oder Gemeinschaftsidealen durch vorwiegend weibliche Körperbilder die Naturalisierung der jeweiligen Konstruktionen dient, sie also als natur- und gottgegeben legitimiert. (Schade et al. 1994, S. 2)
So wird die Nation durch weibliche Allegorien als naturgegeben, zeitlos, aber auch fruchtbar und durch die vor allem der Weiblichkeit zugeschriebene Reproduktionsfunktion als zukunftsversprechend gekennzeichnet (Wenk 1996a, S. 49). Diese Entwicklung betrifft vor allem eine besondere Zeichenstruktur der Allegorie, die durch einen Abstand zwischen der Bedeutung und dem Zeichen/Bild gekennzeichnet ist. Es geht bei der Allegorie darum, eine andere Bedeutung zu veranschaulichen, die nicht sichtbar ist: „Signifikant und Signifikat gehen nicht in einem Verhältnis wechselseitiger Entsprechung auf.“ (Assmann, A. 1994, S. 12) Nach Sigrid Weigel ist der allegorische Signifikant noch mit einem anderen Signifikat verbunden: In semiotischer Hinsicht könnte man also davon ausgehen, daß einmal die Signifikanten als anders bezeichnet werden und das Signifikat eindeutig oder eigentlich zu sein bzw. am Ursprung zu stehen scheint, während andererseits die Signifikanten als Ausgangspunkt genommen werden, die neben ihrem eigentlichen Sinn noch auf ein anderes Signifikat verweisen. (Weigel 1994a, S. 161)
Nach Paul de Man ist dieser Abstand auch zeitlich zu verstehen. Die Allegorie rückt die Figur durch die Aktivierung eines tradierten Bildrepertoires und im Zuge ihrer 105
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symbolischen Aufladung aus dem bestehenden Kontext heraus, wodurch ein zeitliches Intervall entsteht. Die Allegorie existiert allein in einer idealen Zeit, die niemals das Hier und Jetzt ist, sondern stets Vergangenheit oder endlose Zukunft. Die Ironie ist eine synchrone Struktur, während die Allegorie als Modus des Nacheinanders auftritt, aus dem eine Form der Dauer hervorgeht, die eine um ihren illusionären Charakter wissende Illusion von Kontinuität ist (de Man 1993, S. 124). Allegorien verweisen also auf eine tradierte, über den Kontext hinausgehende Bedeutung, wodurch sie selbst einem anderen Zeitregister angehören (Liebrand und Kohns, S. 9). Die Beziehung des Signifikanten zu einem anderen Signifikat ist offensichtlich relativ stabil, was eine sinnstiftende Kontinuität suggeriert und besonders für die Darstellung der Nation wichtig erscheint, die sich in scheinbar unvergänglichen und dauerhaften Zeichen vergegenwärtigt. Das bedeutet einerseits mit Verweis auf Walter Benjamin (2007, S. 176) die Entwertung der bestehenden Dingwelt, über die sich die Allegorie erhebt, und andererseits mit Aleida Assmann die Semiotisierung des weiblichen Körpers: „Jeder allegorische Körper […] ist ein synthetisierter Körper“, der sich durch Zeichenhaftigkeit auszeichnet (Assmann, A. 1994, S. 12). Seit der Epoche der Renaissance, vor allem seit der Verbreitung des Aktbildes, wurden weibliche Allegorien im Vergleich zum Mittelalter allmählich immer leiblicher. Vor dem Hintergrund der Debatten um Symbol und Allegorie im 18. Jahrhundert, die zugleich auch einen Streit um die „Darstellbarkeit der Geschichte“ und um individuelle künstlerische Verwirklichung mittragen (Wenk 1996a, S. 15–27; auch Wagner 1989a), nähern sich weibliche Allegorien dem Symbolischen an, da die individuell gestaltete Körperlichkeit eine natürliche Beziehung zwischen der Bedeutung und dem Zeichen/Bild suggeriert: Feststellbar ist die Entnennung des allegorischen Charakters weiblicher Personifikationen. Tradierte Personifikationen werden sukzessive von konventionell verweisenden Elementen, Attributen und sprachlichen Zusätzen, „entkleidet“. Das plastische Bild des Weiblichen wird schließlich wie Natur, als daseiend und für-sich-sprechend […]. Es suggeriert und unterstellt eine ursprüngliche Einheit mit dem Bezeichneten, erscheint als „tastbare Wahrheit“. (Wenk 1996a, S. 45)
Diese Entwicklung deutet Silke Wenk in Anlehnung an Sigmund Freud als „feststehende Übersetzung“, „deren Charakter einer ‚Übersetzung‘ aber kaum mehr zugänglich ist und die von der individuellen Rede des Subjektes unabhängig funktioniert – wie ein Element eines unbewußten Traumgedankens.“ (Ebd., S. 46) Die semiologische Beziehung zwischen dem Bild und dem Körper wird im Zuge der Naturalisierung verschleiert und ist daher nicht mehr zugänglich, was an das Konzept der alltäglichen bürgerlichen Mythologie von Roland Barthes erinnert: Die
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Mythen verschieben die Beziehungen zwischen den Signifikanten und Signifikaten und legitimieren Ideologien gerade durch die Naturalisierung und Enthistorisierung der Bedeutung. Diese Tradition wurde auch bei der Darstellung des Nationalsozialismus in der Literatur und der Kunst konstatiert und als „Verdichtung von Bildern des Volkskörpers und der Nation mit Weiblichkeitsbildern“ beschrieben, denn die ‚verweiblichte‘ Nation ermöglicht es, die ‚natürliche‘ Bevölkerung zu viktimisieren (Weigel 1994b, S. 187, siehe auch Kapczynski 2008) und diese zudem als Opfer der Verführung durch Hitler darzustellen: Ist ‚das deutsche Volk‘, das die Nazis an die Macht brachte, erst einmal über die Zuordnung zum ‚Weiblichen‘ auf der Seite des Schwachen (als der Opposition ‚des Männlichen‘), so lässt es sich als ‚Opfer‘ (im Sinne von victim) beschreiben: verführt und/oder vergewaltigt. (Wenk und Eschenbach 2002, S. 26)
Der Kriegsfilm taucht also zu einem Zeitpunkt auf, zu dem diese Darstellungsform bereits eine lange Tradition in der Kunst und der Literatur besitzt und auch im Kontext von Kriegen verwendet wurde. Die Allegorien des Kriegsfilms sind ebenfalls leibhaft und somit naturalisiert. Vor allem die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts könnte als Vorläuferin der filmischen Personifizierung verstanden werden, da sie mit Allegorien eine empathische Involvierung der Zuschauenden z. B. in einigen Ratssälen in das historische Geschehen zu erzielen sucht, die sich dadurch als kontinuierlich mit der Gegenwart verbunden wahrnehmen. Nach Heinz-Toni Wappenschmidt zielte die ganze Struktur des Raums, des Gestühls und der Bildkomposition auf eine Verbindung zwischen den Bildinhalten und den realen Akteuren der Versammlung (Wappenschmidt 1984, S. 60–61). Der Vorsitzende saß optisch an der Grenze zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart und gehörte daher beiden Wirklichkeiten an, wodurch die Gegenwart als Fortsetzung der historisch-mythischen Tradition inszeniert wurde, in deren Recht und in deren Namen der Vorsitzende die Versammlung leitete. Der Vorsitzende wurde dadurch wiederum zugleich in das Gemälde integriert und könnte vor diesem allegorischen Hintergrund selbst als Allegorie der Gegenwart gelesen werden. Zusammen als eine visuelle Einheit appellieren sie, so Wappenschmidt, an „Traditionsbewußtsein und moralisches Handeln“ (ebd., S. 61) als eine vorbildliche Maxime für die Politiker. Die allegorische Darstellung kann damit als politische Praxis identifiziert werden (ebd., S. 71–75). Nichtsdestotrotz müssen Allegorien im filmischen Medium gerade aufgrund der angeblich mimetischen Darstellungsspezifik des Kinos und der Dynamik der bewegten Bilder nach ihren Funktionen neu bestimmt und differenziert werden. Allegorien werden hier als komplexe Bildkonstruktionen verstanden, die im Film in Korrespondenz zur tradierten Bildlichkeit und unter anderem auch zur 107
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kunsthistorischen Tradition, zur aktuellen Geschlechterordnung und zu Fragen nach dem Anderen der Nation stehen.
3.1.3 Allegorien im Kriegsfilm Spezifisch für den Film ist zum einen die Unvermeidbarkeit allegorischer Bedeutung, kommt diese doch unweigerlich zum Tragen, sobald der Spielfilm historische Ereignisse breit in Szene setzt. Die Identitäten der Figuren inkludieren, sofern sie in einem historisch-sozialen Zusammenhang erscheinen, diesen gesellschaftlichen Kontext als eigenen Bestandteil. Das geschieht, weil die Figuren im Bild immer durch das Mise-en-scène hervorgebracht werden, sie stehen also mit ihrer Umgebung in einer je nach Inszenierung mehr oder minder spannungsreichen Beziehung.40 Besonders die Kriegs- und Historienfilme neigen zur Bildung von Allegorien, geht es hier doch um Schicksale großer Gruppen und Kollektive. Gerade wegen der Unwillkürlichkeit und Unvermeidbarkeit des allegorischen Kontexts können im Kriegsfilm alle Figuren unabhängig von Geschlecht, Alter, Ethnizität, Klasse und anderen sozial wirksamen Differenzen zu Allegorien werden, wobei die Filmschaffenden sich dieser Tatsache bewusst sind und diese Differenzen entsprechend in Szene setzen: Der Kriegsfilm ist konservativ-patriarchalisch, versucht gegenüber Kriegschaos und -zerstörung die Ordnung vor allem durch die Kontrolle über die verwendeten Zeichen und die Eindeutigkeit der Bilder herzustellen. Zum anderen werden aufgrund der Blicklenkung und der narrativen und ästhetischen Strukturen, die die Zuschauenden dazu einladen, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, Allegorien im Film nicht über das Andere, oder zumindest nicht nur über das Andere produziert, sondern über die Hauptfigur. Die Produktion von Allegorien im Film ist also stärker an die Rezeption gebunden – die Zuschauenden, wenn sie sich auf einen Film einlassen, werden zusammen mit der Hauptfigur performativ zur Allegorie. Im Gegensatz zur Kunstgeschichte besteht daher keine Prävalenz von weiblichen Allegorien, es gibt genauso viele männliche Allegorien: Der Kriegsfilm ist insgesamt eher ein ‚männliches‘ Genre. Die Männerfiguren verkörpern 40 Vgl. dazu auch die umfangreiche Studie von Ritzer 2017, insbesondere S. 745–858. „Durch die Mise-en-scène werden Körper und Räume in Bildern zu einer Signifikation gebracht, die den Signifikanten unmöglich im Signifikat verschwinden lassen kann. Ihre Sprengkraft lässt das Sichtbare niemals zur Ruhe kommen, sie lässt es stets über die Geschichte hinausweisen.“ (S. 750) Allerdings gilt auch: „Mise-en-scène meint dann die Signifikation einer Simultaneität von Innen und Außen, die zugleich zeigt und kontextualisiert […].[…] Reflexion und Kommentar koinzidieren mithin im Effekt der Mis-en-scène.“ (S. 751)
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jedoch das Allgemeingültige, in diesem Zusammenhang etwa die militarisierte und wehrhafte Nation, die mobil und dynamisch bleibt. Die Frauen, insbesondere Mutterfiguren, stehen hingegen für einen anderen Zustand des Staates oder für die Heimat als konkretes Territorium – sie sind an den Ort des Staates gebunden. Jegliche Art der Sexualisierung des weiblichen Körpers wird in der Regel vermieden. Nur im Falle einer Auseinandersetzung mit den eigenen Verlusten wird die Penetration des weiblichen Körpers oftmals allegorisch als Zeichen für die besetzte Heimat und die Invasion eingesetzt – wie es zum Beispiel in den Filmen Komm und sieh [Иди и смотри] (UdSSR 1985, R. Ėlem Klimov) oder Anonyma – Eine Frau in Berlin (D/P 2008, R. Max Fäberböck) zu sehen ist –, was durchaus eine Aussage über den Status des Weiblichen in der Kultur trifft. Weiblichkeit markiert die Ränder der Nation, mit ihr werden verwundbare Stellen des Staates inszeniert, und sie wird daher oft für die Verkörperung von Opfergruppen verwendet. Kinder treten hingegen als Allegorien der Zukunft auf, wobei Mädchen für gewöhnlich eine friedliche Haltung, Jungen hingegen eine wehrhafte und militaristische Position der Nation in der Zukunft signalisieren. In Anlehnung an eine aufschlussreiche kunsthistorische Untersuchung von Silke Wenk werden die Allegorien im Film im Folgenden ebenfalls als „strukturierte Zeichen(systeme)“ (Wenk 1996a, S. 66) verstanden, die durch tradierte kulturelle Attribuierung, also durch den Kontext und andere in den Signifikationsprozess einbezogene Zeichen produziert werden. Aufgrund der Dynamik der Bilder zeichnen sich die filmischen Allegorien vor allem durch Prozesshaftigkeit aus, da sie in jedem einzelnen Werk, in der Regel mit Bezug auf kulturelles Wissen, neu hergestellt werden. Figuren erfahren verschiedene Entwicklungsstadien und werden im Gegensatz zum gemalten statischen Bild oder zur Fotografie im Laufe der Handlung mit diversen Bedeutungen aufgeladen, wobei sie im Moment der Allegorisierung visuell erstarren können. In solchen Momenten wird ihre Monumentalisierung hervorgehoben und die Entrücktheit aus dem gegenwärtigen Kontext performativ umgesetzt. Sie werden daher nur in einzelnen Szenen oder Momenten der Filme zu Allegorien, die vorab narrativ, bild-ästhetisch und emotional vorbereitet werden. Die Allegorisierung ist kein Dauerzustand der Figur, sie vollzieht sich in einzelnen Momenten der Entrücktheit und Ikonizität, welche die Handlung zuvor vorbereitet. Aufgrund der Staffelung der Bedeutungsebenen in einer Figur sind die Allegorien im Film zum einen vor allem Metonymien – die Figuren sind Teil der Gruppe, die sie repräsentieren. Zum anderen nähern sie sich ebenfalls insofern dem Symbol, als dass durch individuelles Aussehen und die Körper der Darsteller*innen eine natürliche Verbindung zwischen der Figur und der kollektiven Symbolik suggeriert wird. Deswegen wird die allegorische Bedeutung im Film oft übersehen. Das sowjetische und später auch das ostdeutsche Publikum hat sich selbst auch außerhalb des 109
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Films als Teil des Kollektivs erlebt, so verstand es den typischen und allegorischen Charakter der Figur besser. Darauf deutet auch die Popularität der Lehrstücke von Bertolt Brecht in der DDR hin, welche die Zuschauenden vorwiegend mit Typen und Allegorien anzusprechen suchten. Die westdeutsche Rezeption zeichnet sich hingegen durch eine gewisse Allegorie-Blindheit aus (was beispielsweise anhand der Sekundärliteratur und an Filmbesprechungen deutlich wird), da die Sehgewohnheiten und Subjektivierungsstrategien hier auf Individualisierung geschult wurden. Außerdem wurden gerade die sozialen Typen kaum entwickelt, die Figuren sind im Kriegsfilm nur selten als Angehörige bestimmter Klassen oder Schichten markiert. Im Zuge der aktuellen Internationalisierung der Filmproduktion und des erneuten Versuchs, eine historische Kontinuität durch eine episch breit angelegte Narration zu bilden, wird auch dem deutschen Publikum nahegelegt, stärker auf Typen und Allegorien zu achten. Zum Beispiel begleitet die Fernsehausstrahlung Unsere Mütter, unsere Väter (D 2013, R. Philipp Kadelbach) eine Making Off-Dokumentation, die erklärt, dass die Figuren als Typen zu verstehen sind: Sie referieren zwar auf ‚reale‘ historische Ereignisse, verdichten allerdings zugleich mehrere verschiedene reale Biografien und werden dadurch repräsentativ. Im Kriegsfilm wurden verschiedene Strategien entwickelt, um Personifizierungen herzustellen. Allegorien werden in Analogie zu Typisierung (Schweinitz 2006, S. 45–47)41 hier narrativ, bildlich, durch eine Verknüpfung zum außerfilmischen Kontext und letztendlich durch bestimmte Strategien der Entrücktheit hervorgebracht. Diese Strategien werden im Film in der Regel kombiniert. Das Allegorische wird vor allem dann sichtbar, wenn die Figur einerseits repräsentativ für das Kollektiv und andererseits – mit Referenz auf kulturelle Symboliken – zur Ikone, also in ihrer repräsentativen Funktion zum Ideal erhoben wird. Allegorisierung durch Narrationen: Allegorisierungen werden durch bestimmte Narrationstypen privilegiert. Je breiter und allumfassender die Inszenierung ausfällt, desto ausgeprägter ist die allegorische Bedeutung der Figuren. Vor allem die epische Narration, die in dieser Arbeit als „Narration von oben“ definiert wird, reduziert die Figuren auf wenige wesentliche Merkmale, welche für die aufgezeigte historische Entwicklung relevant sind. Die Breite der historischen Darstellung zwingt dazu, das Spezifisch-Individuelle auf stereotype, leicht und schnell erkennbare Eigenschaften festzulegen, sodass die Figur für einen historischen Kontext und ein Kollektiv repräsentativ wird. Das Schicksal der Figur, unabhängig von der Breite der Reprä41 In Anlehnung an die umfangreiche Forschung weist Schweinitz vor allem auf die Bedeutung der Narration und der Topoi für die Bildung von figurativen Typen und Stereotypen hin.
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sentation, wird im Kriegsfilm diegetisch mit den zentralen historischen Ereignissen verwoben – unabhängig davon, ob die Figur nun als Zeuge/Zeugin beobachtet, als Teilnehmer/Teilnehmerin die Historie vorantreibt oder ihr Widerstand leistet und/ oder als Opfer unter dem Geschehen leidet, wird sie zum konstitutiven Bestandteil historischer Prozesse. Sie wird an einem eigentlich mythischen Ort situiert, an dem die sonst nicht greifbare Geschichte passiert oder gemacht wird, wenn zum Beispiel die Figuren an einer wichtigen historischen Entscheidung beteiligt sind, sich mit historisch einflussreichen Personen treffen, also unmittelbar mit der Macht verknüpft werden, oder mit ihrem typischen Schicksal exemplarisch das Schicksal des ganzen Kollektivs vorführen. Das bedeutet nicht, dass die Figuren vollkommen entpsychologisiert werden, wobei das sowjetische Kino das Typische aufwertet und daran sogar schon vor der Herausbildung des Sozialistischen Realismus arbeitet, um einzelne Figuren als Verkörperungen sozialer Gruppen und Ideen im Kino einzusetzen. Zum Beispiel hat Sergei Eisenstein diese Ästhetik theoretisch fundiert. Im Falle der Typisierung der Figuren werden psychologische Prozesse mit sozialer Bedeutung aufgeladen. Allegorisierung und Psychologisierung stehen sich im Film also nicht im Wege, da sie sukzessiv oder in verschiedenen Szenen entwickelt werden können. Im Fall der Psychologisierung einer Figur wird das individuelle, ungewöhnliche Schicksal hervorgehoben; dieses wird jedoch zugleich durch den breiten historischen Kontext als exemplarisch für die Epoche oder für die in der Figur erkennbare soziale Gruppe signifiziert. Die DEFA-Produktionen Königskinder (DDR 1962, R. Frank Beyer) und Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/1965, R. Joachim Kunert) machen dieses Verfahren besonders deutlich. Die historische Entwicklung fällt mit der individuellen Evolution der Figur vom Täter zum Antifaschisten oder zumindest zum Bewusstsein des verbrecherischen Wesens der NS-Diktatur und ihrer aktiven Ablehnung zusammen. Die Entwicklung des Bewusstseins verleiht einer Figur eine psychologische Dimension, die durch eine besondere Bildlichkeit, aber auch durch Familienkonstellationen und über das Gender-Verhältnis geschaffen wird. Auch der erste deutsche Nachkriegsfilm Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) zeigt die Traumatisierung eines Heimkehrers, die durch die Verbindung dieser Figur mit dem Schicksal des ganzen Kollektivs einen exemplarischen Charakter erhält und somit den Zustand der ganzen Nation in der Nachkriegszeit diagnostiziert. Der sowjetische Film Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя свое] (UdSSR 1974, R. Sergej Kolosov) ist ein Beispiel für eine Psychologisierung über Trauma und familiäre Verluste; die weibliche Hauptfigur wird jedoch als Typus zur Vertreterin der Kriegsopfer erhoben, weil ihr individuelles Leiden durch die Narration in die Geschichte der Millionen eingeschrieben wird. 111
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Gegen Ende des Films wird sie zur Allegorie der Heimat, die sich auch mehrere Jahre nach dem Krieg vom Leid und von den Verlusten noch nicht erholt hat. Kollektive Räume: Als Teil der narrativen Strategie erscheint vor allem der Ort der Handlung, mit der und anhand derer das Exemplarische oder Typische der Figur erzeugt wird. Das zweidimensionale Bild verknüpft die Figur visuell mit der Umgebung. An dieser Stelle wird der Signifikant mit einem weiteren Signifikat verbunden, der nun indexikalisch zur Figur gehört, ohne dass sie die eigene Bedeutung verliert. Vor allem öffentliche und mithin kollektive Räume, an denen die Figur am kollektiven Geschehen teilnimmt und somit Teil der kollektiven Geschichte wird, produzieren je nach ihrer symbolischen Aufladung eine Typisierung und/ oder Allegorisierung der Figur. Der Militärarzt Mertens (E. W. Borchert) bewegt sich bei Staudte in Die Mörder sind unter uns zwischen den Ruinen Berlins, und so präsentiert er eine zerstörte, in Ruinen liegende Nation, wie umgekehrt die Ruinen der Ausdruck des inneren Zustandes der Kriegsteilnehmer sind. An dieser Stelle muss jedoch angemerkt werden, dass männliche Allegorien in der Regel in Verbindung mit dem öffentlichen Raum der Macht entstehen. Die Zurückweisung in einen geschlossenen Raum signalisiert die Ohnmacht der männlichen Figur bis hin zur ihrer De-Allegorisierung. Weibliche Figuren können sich neben öffentlichen Orten in verschiedenen Räumen bewegen und werden trotzdem allegorisiert, wenn sie mit der kollektiven außerfilmischen Symbolik verknüpft werden: an der ‚Heimatfront‘, in privaten sowie in inoffiziellen männlichen Räumen (im sowjetischen Film zum Beispiel in den Partisaneneinheiten). Das Betreten des öffentlichen Raums durch die Frauenfigur geht dabei oft mit ihrer Gefährdung einher, weil sie in der Regel verschiedene Opfergruppen repräsentiert. Ihre Entwurzelung oder Abkoppelung vom Ort ist mit Zwang und Gewalt verbunden. So hält sich Susanne Wallner (Hildegard Knef) in Die Mörder sind unter uns zwar in einem geschlossenen Raum auf, wird aber gleichwohl zur Allegorie einer friedlichen Heimat, wobei sie aufgrund ihres Geschlechts die Zivilbevölkerung, aufgrund ihrer Rolle als ehemaliger KZ-Häftling eine Opfergruppe und letztendlich aufgrund ihres ständigen Aufräumens motivisch die Trümmerfrauen verdichtet, die der Film auch explizit zeigt (Abb. 1). Alle drei Bedeutungen gehen dabei ineinander über.
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Abb. 1 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte)
Massenszenen: Am Beispiel Susannes sind die bildlichen Bezüge der allegorischen Figur zur Masse bereits hervorgehoben worden. Erneut wird der Signifikant mit einem weiteren Signifikat verbunden: Die Figur, die selbst in diesem Moment als exponiert erscheint, wird in der Regel zur Vertreterin des Kollektivs, selbst wenn sie zur Masse in Widerspruch gesetzt wird. Sie wird ihrem individuellen Kontext enthoben. Diese Wechselwirkung zwischen Kontext und Figur funktioniert jedoch anders als im literarischen Text, in dem die Figuren vor allem durch das kulturelle Wissen dechiffriert werden können, welches durch Andeutungen oder Hinweise aufgerufen wird. Je nach Bildungsstand der Lesenden können die Anspielungen dabei auch unerkannt bleiben. Im Bild wird dieses Wissen ausgestellt und so an die Figur gebunden, weshalb die allegorische Bedeutung der Figur oft unmittelbar, dafür aber instabil ist, da die Figur verschiedene Räume und Kontexte durchschreitet. Wenn der kollektive Kontext nicht mehr zu sehen ist, verliert sie ihre allegorische Bedeutung, wobei diese oft erst gegen Ende des Films erzeugt wird. In Der Fall von Berlin [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli) tritt zum Beispiel die Hauptfigur, der Stahlgießer Aleša (Boris Andrejev), in der Regel in der Stahlgießerei in Gesellschaft seiner Arbeitskollegen auf, was ihn zum Vertreter der Arbeiterklasse macht. So wird die Figur typisiert. Ihr Erscheinen, ihre Handlungen und Leistungen charakterisieren die Arbeiterklasse an sich. Die Gruppe der Soldaten 113
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allegorisiert hingegen die Figuren, weil der thematisierte Kontext größer wird: An der Front kämpfen neben dem Russen Aleša auch ein Ukrainer, ein Georgier und ein Usbeke. Sie werden zu Allegorien der sowjetischen Republiken, die im Angesicht der Gefahr ihre Solidarität demonstrieren. Referenzen auf kulturelle außerfilmische Symbole: Wie bereits mit dem Beispiel der Trümmerfrauen in Die Mörder sind unter uns angesprochen wurde, erhebt der Bezug zu kulturellen außerfilmischen Symbolen, Handlungen, Werten oder Idealen die Figur zum Typus oder zur Allegorie. Hier geht es um eine bildliche Attribuierung der Figur, die auch in der Kunstgeschichte verbreitet ist. In diesem Fall verweist die Figur auf eine lange tradierte und von den Zuschauenden erkennbare kulturelle Tradition, die in der Regel auch vor oder außerhalb des Films bestand oder besteht. In der UdSSR war beispielsweise das Bild der Mutter-Heimat verbreitet. Eine Reihe von sowjetischen Filmen bezieht sich auf das Plakat der wehrhaften Mutter-Heimat (Abb. 2), die für die Mobilisierung der Massen im Zweiten Weltkrieg entworfen wurde: Sie ruft jede*n zum Kampf auf. In der Nachkriegszeit werden solche Frauenfiguren eher als friedvolle und trauernde Mütter dargestellt und mithin umcodiert, wobei sie zugleich die Pietá-Tradition aufrufen. Auf dem Plakat trägt die Mutter-Heimat ein Kopftuch: Im Film treten Frauenfiguren mit Kopftuch oftmals anlässlich eines besonders traurigen oder gehobenen Anlasses auf und werden im Zuge dessen allegorisiert, weil ihnen durch den Verweis auf das bekannte Plakat eine besondere und zugleich kollektiv wichtige Bedeutung zugeschrieben wird. Auch in Die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1958, R. Michail Kalatozov) oder Die Ballade vom Soldaten [Баллада о солдате] (UdSSR 1959, R. Grigorij Čuchraj) sind Frauen mit Kopftüchern im Sinne dieser Tradition zu sehen (Abb. 3).
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Abb. 2
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Das Mobilisierungsplakat „Mutter-Heimat ruft!“
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Abb. 3 DIE BALLADE VOM SOLDATEN [Баллада о солдате] (UdSSR 1959, R. Grigorij Čuchraj)
Betrachtung des Todes: Die allegorische Verwandlung gelingt vor allem dann, wenn die Figuren den Krieg überleben bzw. wie die Nation selbst über dem Tod stehen. Mit dem Ende des individuellen Lebens endet nicht das Leben der Nation. Der Moment des Überlebens und Erblickens der Toten wird auch oft auditiv-visuell hervorgehoben, sodass hier eine Art Unterbrechung der Diegese stattfindet, weil die Figur aus dem Kontext herausgenommen wird – sie hört auf, Vertreterin der Soldaten oder Opfer zu sein, und wechselt als Überlebende in unsere Zeit und auf die Seite der Zuschauenden. Eine weitere symbolische Vertretung wäre nur dann möglich, wenn die Figur, wie Millionen von Menschen, gefallen wäre. Das Überleben der Figur erscheint daher als jene Naht- und Identifikationsstelle für die Zuschauenden, an der die Figur in die Gegenwart der Zuschauenden rückt. Auch die Zuschauenden blicken auf den Tod und die Geschichte aus der Zukunft, sind in der Haltung der überlebenden Figur und gehören nicht zur Diegese, die in diesem Moment transzendiert wird. So fällt die Position der Zuschauer*innen mit jener der Figur und somit jener der Nation zusammen, die von der Figur dabei zugleich allegorisiert wird. Symbolisierung des Ortes/der Handlung: Die Figur wird zur Allegorie der Nation, wenn sie im Moment des Überlebens auf verschiedene Weise dekontextualisiert wird. Eine der verbreiteteren ästhetischen Strategien ist hierbei die Untersicht, welche
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die Figur im Moment der Betrachtung oder Ehrung der Toten bildlich entrückt und in den Himmel aufsteigen lässt. In Wenn die Kraniche ziehen erfährt die weibliche Figur, dass ihr Bräutigam gefallen ist. Daraufhin schaut sie in den Himmel, in dem die Kraniche ziehen und u. a. Assoziationen mit unsterblichen Seelen hervorrufen, die jetzt mit der Figur bildlich verbunden werden. Der Himmel stellt nicht nur einen Bezug zum religiös-göttlichen Kontext her, sondern ist zugleich auch semantisch leer. Die Figur wird dadurch aus dem historischen und leiblichen Geschehen herausgenommen, monumentalisiert und so zur Verkörperung der Nation, welche wiederum dadurch als ahistorisch und ewig, außerhalb der Semantik und Zeit inszeniert wird. Eine andere Strategie besteht darin, den Raum selbst zu symbolisieren. In Die Mörder sind unter uns bewirkt die Symbolisierung des Raums die Allegorisierung der Figuren. So werden beide Figuren gegen Ende des Films – Susanne hält Mertens von einem Mord ab – zur Allegorie eines neuen, gerechten Deutschlands: Die Szene der Verhaftung eines NS-Verbrechers wird durch ihre expressionistische Gestaltung symbolisch, wird die verhaftete Figur hier doch immer kleiner. Es geht zwar um den konkreten Verbrecher, dessen Kriegsverbrechen aufgezählt werden, diese werden jedoch exemplarisch, wenn der Angeklagte zu schrumpfen scheint und der Schatten, der ihn überdeckt und der sowohl seine Schuld als auch die Gerechtigkeit über ihn symbolisiert, gleichzeitig wächst. An ihm wird generell die rechtliche Haltung gegenüber den Kriegsverbrecher*innen, die aus der Gesellschaft entfernt werden sollen, vorgeführt. So bewirkt die Symbolisierung des Raums auch eine Allegorisierung der Figuren. Als Paar werden sie zugleich zur Allegorie des neuen, gewünschten Deutschlands, das die versöhnten Bevölkerungsgruppen (Opfer und Täter/Zivilbevölkerung, Kriegsveteranen und Heimkehrer) und beide Geschlechter inkludieren kann und dabei ordnungs- und rechtsbindend, bürgerlich und heteronormativ erscheint. Die Heteronormativität ist durch die mitzudenkende Reproduktivität des Paares ein Versprechen für die Zukunft. Eine andere Variante stellt die Symbolisierung der Handlung dar. Diese wird dadurch möglich, dass eine für das historische Geschehen ungewöhnliche Szene eingebaut wird, die dann eine besondere, eben symbolische Bedeutung bekommt und somit je nach Kontext Figuren typisiert oder allegorisiert. In Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) vertritt der Kriegsgefangene Sokolov (Sergej Bondarčuk) die UdSSR gegenüber den am Tisch versammelten Wehrmachtsoffizieren in einem KZ-Lager, die das Einrücken in Stalingrad feiern. Der vor seiner Hinrichtung zum Besäufnis eingeladene sowjetische Soldat möchte nicht mit ihnen essen, wodurch er sich vom fremden Kollektiv abhebt. Stattdessen aber trinkt er drei volle Gläser Vodka hintereinander, wodurch er den Respekt des Kommandanten gewinnt und sein Leben rettet. Im Hintergrund 117
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der stereotypen Bilder, die etwa auf die Trunksucht der Russen und die deutsche Männerbündelei anspielen, sowie der Schlacht um Stalingrad (für das Publikum ein bekanntes historisches Ereignis) können die Figuren in dieser völlig irrealen Szene zugleich als Allegorien Deutschlands und der UdSSR auftreten, die hier die Stalingrad-Schlacht symbolisch durchspielen. Sokolov gewinnt die Schlacht nicht, sondern überlebt diese und symbolisiert somit die russische Stärke, die in Standhaftigkeit und Mut besteht. Machtworte und/oder Machtfiguren: Die Erhabenheit wird dabei auch durch die verbal hergestellte Beziehung zu sakralen Symbolen unterstützt, sei es in Form allgemein bekannter Worte eines Kriegsveteranen oder des Parteisekretärs, oder durch einen Kommentar aus dem Off, der die Bedeutung der Opfer für das Bestehen der Nation hervorhebt und so die Figur auf die Ebene des Nationalen hebt. Als exemplarisch hierfür können etwa Mertens Worte in Die Mörder sind unter uns in der Schlussszene gelten, nachdem Susanne sagt, die Deutschen hätten nicht das Recht zu richten: „Aber wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern im Auftrage von Millionen unschuldig hingemordeten Menschen.“ Da der Kriegsverbrecher im Gefängnis bleibt und Mertens durch das „wir“ im Namen des Kollektivs das Recht ausspricht und dadurch dessen Wille repräsentiert, wird er zum Gesetz, das Individuelle zum Kollektiven erhoben. Eine andere Variante bietet der Film Der Fall von Berlin: Am Ende ist eine große Massenszene zu sehen, in der Aleša und seine aus dem KZ befreite Geliebte Nataša vor dem Hintergrund zahlreicher befreiter KZ-Häftlinge aus verschiedenen Ländern zusammenkommen, um dem in Berlin gelandeten Stalin entgegenzugehen. Die Szene allegorisiert die Figuren: Sie werden visuell zu Vertreterinnen/Vertretern der versammelten Massen bzw. des internationalen Proletariats, vereinigen sich als Arbeiter und Intelligenzia, und werden durch die Erscheinung Stalins in einen nationalen oder gar internationalen Kontext erhoben. Der Flugplatz ist semantisch leer, wird jedoch zum symbolischen Ort jener internationalen Proletariatsvereinigung, zu der einst Karl Marx im Kommunistischen Manifest aufgerufen hatte. Die Figur Stalins, zuvor bereits als eine göttliche und gesetzliche Instanz eingeführt, steigt buchstäblich vom Himmel herab, indem sie aus dem Flugzeug aussteigt, und verleiht dem Kontext so einen allegorischen Charakter (Abb. 4). Stalins erstarrte Haltung hebt seine Monumentalität hervor, betont seine Nicht-Zugehörigkeit zum historischen Kontext. Aus einem anderen Zeitregister stammend, verwandelt er die Szene in eine Vision des künftigen Sieges des Proletariats weltweit. Außerdem fungiert Stalin als jene Machtinstanz, welche in diesem Film die Geschichte des Krieges zum ruhmreichen Sieg geführt bzw. den Lauf der Geschichte und das
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Schicksal bezwungen hat. Die Figuren werden somit am Ort des Geschichtlichen situiert und dadurch allegorisiert.
Abb. 4
DER FALL VON BERLIN [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli)
3.1.4
Allegorien und aktueller Geschlechterdiskurs
Die bildlichen Traditionen oder Stereotype der Geschlechter, die der Film aufruft, können eine Spannung innerhalb einer allegorischen Figur produzieren, welche zwischen den tradierten Nations- und aktuellen Gender-Bildern entsteht. Die Allegorie wird zwar im Film aktiv hergestellt, und zwar in jenem Moment, in dem eine Figur aus dem Kontext herausgehoben wird und zur Ikone erstarrt, welche an die tradierte Ikonografie des Nationalen anschließt. Bekannte kulturelle Symbole weben Allegorien in ein komplexes Bedeutungsnetzwerk ein, weshalb die Nationsfiguren durch die Zusammenführung von tradierten allegorischen Bildern und aktueller Geschlechterordnung paradox erscheinen können. Allegorien sind hinsichtlich der präsentierten Geschlechterordnung in der Regel konservativ und anachronistisch. Die Queer-Forscherin Gayatri Gopinath (2005) hat etwa gezeigt, dass sowohl die Nation als auch die Diaspora ihre Integrität durch den Ausschluss jeglichen queeren Begehrens von Frauen herstellen. Mithilfe heterosexueller Weiblichkeitskonzepte 119
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wird ein ‚reiner‘, unschuldiger, unverletzbarer und zugleich reproduktiver Körper der Nation imaginiert, wobei im Kriegsfilm auch Männlichkeiten durch konservative, nämlich hierarchisch angeordnete, abstinente und auf der Abgrenzung vom Anderen basierende Bilder zur Imagination der wehrhaften Nation werden.42 Die Gemeinschaftskonzepte basieren also auf patriarchalen, heteronormativen Strukturen der Verwandtschaft (Gopinath 2005). Die Spannung entsteht daher zwischen der tradierten Bildlichkeit auf der einen Seite, welche die Nation als stark, wehrhaft, geschützt, rein und reproduktiv entwirft und die im Kriegsfilm je nach Bedarf aktiv oder passiv in Szene gesetzt wird, und dem aktuellen herrschenden Genderdiskurs zur Zeit der Filmproduktion auf der anderen Seite. An dieser Stelle offenbart sich die Allegorisierung der Figuren als Gewalt der Bilder, werden doch alle Nuancierungen zugunsten nationaler Eindeutigkeit gelöscht. Denn Sexualisierung oder ‚Abweichung‘ von der Norm gefährden die Vorstellung der nationalen Reinheit und machen die verletzbaren Ränder der Nation in Zeiten der Bedrohung sichtbar. Physiologie und Körperlichkeit werden daher im sowjetischen Kriegsfilm oftmals aufgehoben. Die Körperöffnungen verweisen in Anlehnung an Mary Douglas symbolisch auf die Ränder der Nation und ihre verletzbaren Stellen, die Physiologie – auf die Vergänglichkeit des Körperlichen (Douglas 1998).43 Die Allegorie einer starken, geschützten Nation erfordert also eine klare Grenzziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen. Die Schließung der Ränder verschafft einen Schutz nach Außen und eine Ordnung im Inneren des Systems.44 Die heterosexuelle Geschlechterordnung 42 Eine Reihe von Forscher*innen beobachten eine Manifestation des homosexuellen Begehrens im Kriegsfilm, das beispielsweise über die Nähe zum Tod legitimiert werden kann. Im Angesicht der Todesgefahr wird eine bestimmte Überschreitung der heterosexuellen Gender-Norm erlaubt (Easthrope), Homosexualität wird mit dem Tod „verheiratet“ (Simpson). Zu Recht kritisiert Robert Eberwein diese optimistische Leseart und weist auf den historischen Rezeptionskontext und auf die jeweiligen Legitimationsstrategien hin, welche Soldaten eher als kindisch/unschuldig und somit asexuell darstellen. In seinen aufschlussreichen Analysen kommt er zu der Schlussfolgerung, dass die meisten Repräsentationen letztlich doch Heterosexualität stabilisieren (Easthrope 1990, S. 66; Simpson 1994, S. 214–215). Zu Fragen der Reaffirmation der heterosexuellen Männlichkeitskonzepte im US-amerikanischen Kriegsfilm siehe Eberwein 1999, 2001, S. 149–166. 43 Der Körper erscheint als ein Ausdrucksmedium des seinen Gebrauch reglementierenden, restringierenden Sozialsystems: „Der menschliche Körper ist das mikrokosmische Abbild der Gesellschaft, ihrem Machtzentrum zugewandt und in direkter Proportion zum zu- bzw. abnehmenden gesellschaftlichen Druck ‚sich zusammennehmend‘ bzw. ‚gehenlassend‘. Seine Gliedmaßen […] repräsentieren die Glieder der Gesellschaft und ihre Verpflichtungen gegenüber dem Ganzen […].“ (Douglas 1998, S. 109–110) 44 „Nur dadurch, daß man den Unterschied zwischen Innen und Außen, Oben und Unten, Männlich und Weiblich, Dafür und Dagegen scharf pointiert, kann ein Anschein von Ordnung geschaffen werden.“ (Douglas 1998, S. 16)
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fungiert hier als Ordnung gegenüber dem Kriegschaos. Die sowjetischen Soldaten sind daher völlig bedeckt; Mahlzeiten oder sexuelle Aktivitäten werden nie gezeigt. Die Entblößung der Figur markiert ihren Opferstatus. Im bundesdeutschen Film wird die Körperlichkeit im Zusammenhang mit der Gefährdung der Nation gerade thematisiert. Deswegen existieren bis heute kaum Filme mit Lesben oder Schwulen als Held*innen des Zweiten Weltkrieges, die eine Gefahr für die tradierten Vorstellungen von Nationen darstellen würden. Die Nation wird im Kriegsfilm immer noch als homogen inszeniert. Die deutsche Produktion Aimée und Jaguar (D 1999, R. Max Färberböck) stellt hier eine der wenigen Ausnahmen dar, welche gerade deutlich macht, dass in Filmen über die Zeit des Zweiten Weltkrieges auch queere Figuren unvermeidbar zu Allegorien werden: Der Film erzählt von einem lesbischen Paar, strebt ein egalitäres Verhältnis zum Anderen an und versucht somit, einen neuen Nationsbegriff zu entwerfen, auch wenn die Frauenfiguren für den Verlauf der Historie keine Rolle spielen. Als Hauptfiguren sind sie mit Passivität versehen und spiegeln so auch aktuelle Vorstellung der Rolle der Frauen in der Geschichte, denen im Rückblick keine historisch entscheidenden Aktivitäten zugestanden werden. Beide Protagonistinnen verstecken sich vor der Geschichte und werden ihr gegen Ende des Films als Opfer ausgeliefert. Trotz allem können beide zugleich als Allegorien Deutschlands und des Judentums gelesen werden. In einigen Autorenfilmen wird selbstreflexiv an weiblichen Figuren exemplifiziert, wie der Allegorisierungsprozess seine symbolische Gewalt ausübt. Beispielsweise führt Michail Kalatozov in seinem berühmten, preisgekrönten Film Wenn die Kraniche ziehen (1958) vor, wie individuelle Interessen im Dienste des Kollektivs ausgelöscht werden. Die Hauptfigur Veronika wird für ihr Streben nach privatem Glück ‚bestraft‘ – sie wird vergewaltigt und aus der Familie verstoßen –, bis sie sich in eine ‚weiße‘, asexualisierte Krankenschwester verwandelt und aufopferungsvoll dem Kollektiv dient: Sie wird für Soldaten im Hospital sorgen, sich scheiden lassen, ein Kind adoptieren und ihrem gefallenen Bräutigam die Treue bewahren. Mit dieser Verwandlung wird sie nicht nur die männliche Vorstellung von fürsorglicher und hingebender Weiblichkeit erfüllen, sondern auch in die bereits angesprochene ikonographische Darstellung der Mutter-Heimat (Abb. 5) transformiert. Die Auslöschung ihrer Sexualität und ihrer Körperlichkeit, eine motivische und ikonographische Anpassung an das patriarchale Ideal von Weiblichkeit, macht sie so zur Allegorie der nicht mehr verletzbaren Heimat, deren Ränder verschlossen werden. Man kann in diesem Fall den Konflikt zwischen den kollektiven, ja propagandistisch-ideologischen Bildern und der Emanzipation der Frauen an der Heimatfront beobachten, welche die Männer in vielen Bereichen erfolgreich ersetzt haben. In der Nachkriegszeit herrscht offensichtlich Angst vor weiblicher Sexualität und damit vor der möglichen Macht der Frauen, entstand doch nach dem Zweiten Weltkrieg 121
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in der UdSSR ein massiver Mangel an Männern. Diese Angst wird auch in der Diffamierung des Films durch den Parteisekretär Nikita Chruščev sichtbar, der die Protagonistin als Nutte beschimpfte. Der Film bündelt gewaltsam die weibliche Sexualität, um patriarchale Macht als Norm zu reinstallieren.
Abb. 5 WENN DIE KRANICHE ZIEHEN [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov)
Diese Gewalt der Bilder wird in der Regel an weiblichen Figuren vorgeführt, weil das Kriegsgenre an sich ein auf Männer fixiertes Genre darstellt – so koinzidieren die männlichen Allegorien in der Regel mit konservativen Männlichkeitsidealen. Mit heroischer Männlichkeit werden hegemoniale Diskurse inszeniert und legitimiert. Seine konservativen Gender-Bilder und somit das Kollektive legitimiert der Kriegsfilm durch den Ausnahmezustand. Der Krieg inszeniert die Handlung der Figuren als existentialistisch, und so werden die infantilen oder hysterischen Männer (Schneider 1994), die asexuellen Frauen und generell die sexuelle Abstinenz, die dieses Genre in der Regel auszeichnet, als Reaktionen auf die Bedrohung und daher als provisorisch legitimiert, worin seine ideologische Stärke besteht. Konservative Gender-Bilder werden so weitertradiert und als ‚natürliche‘ Ordnung verankert, die angeblich im Angesicht der Gefahr als Grundgerüst des Kollektiven sichtbar wird. Für die Akzeptanz der Zuschauenden für die Verwandlung in die Allegorie sorgen
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weiterhin jene Momente der Entrücktheit, welche Figuren derealisieren, in eine Idee verwandeln und somit zum Teil entkörperlichen. Die Figuren werden vorwiegend in Nah- und Großaufnahmen gezeigt, sind also etwa nur bis zur Brust zu sehen, wodurch sie in diesem Moment keinen geschlechtsspezifischen Körper mehr haben (Abb. 6–9). Die Genderposition wird daher teilweise transzendiert; die Allegorien rücken die Zuschauenden in eine a-geschlechtliche oder geschlechterirrelevante Position. Nah- und Großaufnahmen haben auch an sich schon eine besondere Wirkung: Sie lassen nach Béla Balázs den Raum verschwinden (Balàzs 2001, S. 16), destabilisieren nach Pascal Bonitzer (1990, S. 250) die narrative Bedeutung und eröffnen laut Ivo Ritzer einen „zweiten Raum jenseits der Geschichte“ (Ritzer 2017, S. 626). So wird deutlich, dass die Männer- und Frauenfiguren für etwas Höheres stehen, das über das individuelle Leben und die Subjektivierung und daher Genderund Klassenspezifität weit hinausreicht. Es geht nicht mehr darum, sich mit einem Mann oder einer Frau zu identifizieren; das Geschlecht verliert seine Signifikanz, und so identifizieren sich die Zuschauenden mit Ideen von Staatlichkeit, Gerechtigkeit oder Kollektivität, die in dieser Form nur im Kino möglich sind. Auf diese Weise können die Zuschauenden ihre eigene Gender-Position überschreiten oder sich davon lösen, geht es doch nicht mehr um lebende Personen in einer konkreten Lebenssituation, sondern um die Erhöhung der Figuren zu Ideen und Mediationen der Macht. Bildliche und semantische Prozesse des Films unterstützen die Gender-Transzendenz teilweise im Moment der Entrücktheit.45 In der UdSSR und im Russland der Gegenwart gilt der Kriegsfilm daher keineswegs als ein Genre für Männer und ist auch bei Zuschauerinnen beliebt. Die Verwandlung in die Allegorie bereitet Lust, Teil von etwas Größerem zu sein. Allegorien erzeugen Pathos und ein Erhabenheitsgefühl, welches die Zuschauenden an der Macht der Geschichte und der Macht der Nation teilhaben lässt. Es geht um den Anschluss des Publikums an die Tradition, die so etwas wie Kontinuität und Unsterblichkeit verspricht, und zugleich an die Macht, indem die Zuschauenden mithilfe der Figuren Teil sozial und historisch bedeutender Ereignisse werden. Die Schaulust wird daher nicht so sehr durch den Voyeurismus, sondern vor allem durch die Macht produziert, eine höhere, kollektive Bedeutung zu erringen, die Geschichte zu beeinflussen und sich somit in globale politische und staatliche Strukturen einzuschreiben. Da der bundesdeutsche Film vor allem an der Verurteilung dieser Macht und der 45 Angela Krewani argumentiert unter Bezugnahme auf psychoanalytische Theoreme (Theweleits Körperpanzer, Kristevas Konzept des Abjektion und Freuds Fetischobjekt), weist jedoch auch darauf hin, dass das Weibliche im Kriegsfilm nicht ausgeschlossen, sondern durch den Kontrollgewinn gerade an die staatliche Macht angeschlossen wird, indem Frauenfiguren in Symbole des Staates verwandelt werden (Krewani 2007, S. 110–111). 123
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Abkoppelung der Subjekte von der Kraft der Geschichte arbeitet, untergräbt er die Skopophilie: Er verschleiert die Allegorisierung und verwandelt auch die Schaulust in Jouissance – in ein Genießen, das sich in Schmerzen und Unlust verkehrt.
Abb. 6 LILI MARLEEN (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder)
Abb. 7 CANARIS (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann)
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Abb. 8 DIE VIERTE HÖHE [Четвертая высота] (UdSSR 1977, R. Igor’ Voznesenskij)
Abb. 9 DER NEUNTE TAG (D/LUX/CZE 2004, R. Volker Schlöndorff)
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3.1.5 De- und Reallegorisierung als Darstellungsstrategie Je nach Ausgang des Krieges für eine bestimmte Nation werden Figuren in den Filmen entweder allegorisiert oder de-allegorisiert. Drehli Robnik hält unter Verweis auf die US-Forschung fest, dass der bundesdeutsche Kriegsfilm das Publikum generell vom „Ethos und Telos der Nation“ abzukoppeln versucht (Robnik 2007, S. 23). Die Mörder sind unter uns ist ein Beispiel der De-Allegorisierung der männlichen Hauptfigur im Film. Ihr mit der ganzen Generation geteiltes Schicksal wird gegen Ende des Films individuiert. Die Figur wird in den privaten Raum verwiesen, der für Männlichkeitsbilder bildästhetisch als einschränkend erscheint und sie visuell vom Kollektiv abtrennt. Die De-Allegorisierung koinzidiert mit dem ganzen Filmplot, der den Militarismus in jeglicher Form (auch als Selbstjustiz) verurteilt und dafür plädiert, dass jede*r sich darauf konzentrieren soll, das zu tun, was er*sie am besten kann: Alle werden zum Arbeiten – wobei der Beruf als eine individuelle Verwirklichung inszeniert wird – und zum Gründen einer Familie angehalten, welche einzelne Subjekte räumlich separiert und vom kollektiven Anliegen abhalten sollte. Die De-Allegorisierung ist daher eine Entmachtungsstrategie, die Verwandlung eines historischen Handlungssubjektes in eine private Person, deren Wirkung sich nur noch auf einen kleinen Raum ausbreiten kann. Diese Strategie ist beispielweise auch für den Film Canaris (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) charakteristisch, der den Admiral vorwiegend in einem privaten Raum beim Kochen oder Musikhören und somit als Individuum zeigt, dessen Einschließung in das Private seine historische Ohnmacht und De-Allegorisierung signalisiert. Als Identifikationsfigur wird er von der NS-Macht, aber auch von der Macht der Geschichte de-assoziiert. Gerade umgekehrt macht Michail Kalatozov die Produktion der Allegorie in Die Kraniche ziehen zum Gegenstand der Handlung (ausführlicher im Kapitel „Narration von oben“ behandelt). Am Anfang des Films werden verschiedene Hinweise gegeben, welche die Hauptfigur Veronika als eine egoistische und damit stark individualisierte Figur zeichnen, die weder zur Gesellschaft passt noch irgendeine Funktion darin erfüllt. Sie bewegt sich hauptsächlich im Kreis der Familie und topographisch in geschlossen Räumen. Am Anfang des Films ist sie mit ihrem Geliebten ganz allein in der Stadt. Als der Krieg anfängt, arbeitet sie nicht. Wenn sie in der Masse zu sehen ist, läuft sie gegen den Strom. Letztendlich heiratet sie den Cousin ihres Bräutigams, der zeitgleich an der Front fällt. Mit der Platzierung der Figur in einem öffentlichen Raum (kommunales Zusammenwohnen), ihrem Anschluss an die kollektive Arbeit im Krankenhaus und ihrer Erfüllung männlicher Wunschvorstellungen bezüglich Weiblichkeit (keine Eigeninitiative, Treue, asexuelle Mutter) verwandelt sie sich in eine Figur ohne individuelle Züge, sodass sie zugleich wie alle und als Idealbild erscheint. In diesem Film führt die Allegorisierung der
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Frauenfigur also nicht zu ihrer Ermächtigung, sondern deckt Ambivalenzen auf: Ihre Integration in die Gesellschaft verleiht der Figur soziale Bedeutung und lässt sie bildlich zur Allegorie der Nation aufsteigen, ist jedoch allein durch den Verzicht auf individuelle Züge sowie durch die Bändigung der Sexualität erreichbar. Der Film Lili Marleen (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) stellt ebenfalls eine Ambivalenz her, wodurch die Produktion der Allegorie medienreflexiv sichtbar wird: Die Hauptfigur, Sängerin Willie (Hanna Schygulla), wird sozial aufsteigen, also durch ihre Allegorisierung Bedeutung in der NS-Diktatur erlangen, allerdings auf Kosten ihres privaten Glücks. Mediale Ikone und Person werden nie zusammenfallen. Ihre Macht begrenzt sich auf die mediale Präsenz und einige materielle Güter, jedoch erstreckt sie sich nicht auf die Handlungsfähigkeit der Figur und ihren Einfluss auf die Geschichte. Der Film trennt durch die selbstreflexive Strategie die bildliche Allegorie von der Figur der Sängerin, wodurch Fassbinder die Produktion kollektiver Bilder direkt kritisiert. Bei ihren Auftritten auf der Bühne führt Fassbinder vor, wie die Allegorien der Nation produziert werden: Die Sängerin tritt vor mit Staatlichkeitssymbolen ausgestatteten Kulissen auf – eine Situierung der Figur an einem symbolischen Ort (Abb. 10). Sie singt das Lieblingslied des ganzen Volkes über Krieg und Tod, wodurch Referenzen zu wichtigen außerfilmischen Symbolen hergestellt werden. Der Song Lili Marleen erfreute sich ab 1943 großer Popularität. Letztendlich wird die Protagonistin durch Totalen mit dem soldatischen Publikum zu einer Einheit verschmolzen, was die Allegorisierung der Figur durch ihren Anschluss an die Massen bedeutet. Fassbinder zerstört zugleich diese Illusion, indem er die Prozesse der Herstellung der Allegorie ausstellt und diese so als mediales Produkt kenntlich macht. Die Trennung zwischen der Bühne und dem Publikum wird betont.
Abb. 10 LILI MARLEEN (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) 127
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Die Sängerin leuchtet auf der Bühne – eine fetischartige Erscheinung, also ein begehrtes Bild, das im Kontrast zum verdunkelten Zuschauerraum steht. Die Auftritte werden dabei mit Szenen aus anderen bekannten Filmen montiert, außerdem kommen Aufnahmen eines KZs vor, welche die glänzende Show auf der Bühne unterbrechen und auf das Jenseits dieser fetischartigen Selbstinszenierung der NS-Diktatur hinweisen. Durch die fragmentierende, heterogene Montage macht Fassbinder deutlich, dass die Nation als Einheit ein Produkt des Mediums Film ist, das etwa durch Totalen und eine homogenisierende Montage solche Wirkungen zu erzeugen vermag. Auch hier wird der aktuelle Gender-Diskurs in der BRD verhandelt bzw. sichtbar gemacht. Fassbinder stellt die Unvergänglichkeit der patriarchalen Ordnung aus, welche Frauen den Zugang zur Macht versperrt. Im sowjetischen Film erscheint weibliche Sexualität, die oftmals durch Bezugnahmen auf Figuren des Anderen pathologisiert wird, wie das Andere selbst als Bedrohung der väterlichen Ordnung. Die weibliche Sexualität wird deswegen bei der Herstellung der Heimatallegorie ausgelöscht. Die sowjetische Bilder-Ideologie basiert, mit Freud gesprochen, auf Triebverzicht und Unterwerfung unter den Vater. Fassbinders Stil ist hingegen Teil des emanzipatorischen westlichen Diskurses Ende der 1960er-Jahre, der nicht nur die zweite Bedeutung der Allegorie beibehält, sondern diese zugleich als ambivalent darstellt. Das Patriarchat wird als eine unterdrückende und hierarchisierende Norm freigelegt, die gerade solche Diktaturen ermöglicht, weil sie die Auflösung jeglicher im Patriarchat bestehender Differenzen verspricht. Sein Film ist insofern eine Allegorie der Allegorie bzw. eine Allegorie als Gattung auf die Genese der bildlichen Allegorie als Figur, die als Triebentfesselung, die traditionell mit Weiblichkeit codiert ist, inszeniert wird. In diesen beiden Filmen wird letztendlich deutlich, dass die Allegorie der Nation über die Entfernung des Anderen aus dem Diskurs entsteht. Die Nation kann sich als solche über das Verfahren der Homogenisierung behaupten. Die Filme des Stalinismus schließen noch verschiedene Nationalitäten ein, diese sind jedoch durch die Handlung marginalisiert und durch ihre Erscheinung im Film ebenfalls homogenisiert. Die Republiken weisen abgesehen vom visuellen Erscheinungsbild der Schauspieler*innen keine weiteren Differenzen auf. Bei Fassbinder wird Robert (Giancarlo Giannini), der Geliebte von Willie, aus dem Studio vertrieben, in dem sie ihr erstes und einzig bekanntes Lied aufnimmt, welches ihren Aufstieg zur medialen Ikone auslöst. Das Andere stört somit die Produktion fetischartiger Nationsbilder. Mark (Aleksandr Švorin) wird bei Kalatozov aus der Familie ausgegrenzt, als sich Veronika auf den Weg der Entindividuierung begibt und Anschluss an das Kollektiv sucht. Denn in beiden Fällen sind es die ethnisch markierten Männerfiguren, die zugleich im Kontrast zum Kriegsgeschehen die Normalität verkörpern. Mark,
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der Ehemann Veronikas, ist – wie Robert auch – Jude. Beide sind Künstler, beide verkörpern die bürgerliche Normalität, die durch ihre ethnische Markierung als fremdartig erscheint. Der Film Kalatozovs wertet das private Glück durch die Gewalt ab, wodurch er Juden und Künstlertum als Fremdkörper im Kollektiv stigmatisiert. Mit Mark wird auch die Korruption im Krieg zum Ausdruck gebracht – er hat sich die Freistellung von der Front erkauft – und letztendlich wird er als untreuer, sexualisierter Mann aus der Familie vertrieben – ein Sammelsurium von antisemitischen Stereotypen. Fassbinder zeigt eine strukturelle, ja fundamentale Abhängigkeit vom Anderen, dessen Verlust keine existenzfähige soziale Ordnung zulässt. Der Ausschluss des Ungewünschten oder des Anderen wird durch seine Stigmatisierung oder negative Darstellung bewilligt. Die Ausschlussmaßnahmen sind zugleich auch stratifikatorische Abschreckungsmechanismen, die den Zuschauenden vorführen, wo sie sich zu situieren haben: an der Seite des Anderen/des Todes/des Verfalls oder eben an der Seite der Macht/der Unsterblichkeit/der Lust.
3.1.6 Die Position der Zuschauenden Die beschriebenen Strategien beziehen sich auf ästhetische Mittel, mit denen ein Identitätsangebot gestaltet wird, das es Zuschauenden ermöglicht, sich an bestimmten Stellen mit dem Kollektiv zu identifizieren und so die Geschichte als Teil der eigenen Identität zu akzeptieren. Was bedeutet es jedoch für die Rezeptionshaltung der Zuschauenden? Die US-amerikanische und angelsächsische Filmforschung hat vor allem individuelle Identifizierungsstrukturen beschrieben, die unter anderem über die Bedienung/Produktion der Schaulust (Boudry 1994; Metz 2000), Blicklenkung (Mulvey 1994, 2011; Doane 1985; Neale 1993), Erzielung mimetischer Körper-Reaktionen (Williams, L. 1991) und Einnähen des Subjektes (Heath 1978; Oudart 1978) durch verschiedene Schnittstrategien hervorgebracht werden. Sicher gelten einige von diesen Strategien auch für den Kriegsfilm, wie zum Beispiel die Lesart der gegenwärtigen US-Kriegsfilme als body genre (siehe Wedel 2013). Auch für den sowjetischen Film des Stalinismus wurden einige dieser Ideen angewandt, um den Pathos und die Depsychologisierung der Figuren zu beschreiben, welche Typisierung und Allegorisierung besonders fördern. Andrej Ščerbenok (2013) hebt in Anlehnung an Christian Metz und Vivian Sobchak die Produktion eines abstrakten Subjektes im sowjetischen Film hervor, der die Identifikation der Zuschauenden an einen intradiegetischen transzendenten Raum bindet. Die sogenannte Nahtstelle, die suture, bricht in stalinistischen Filmen auseinander, wenn die Figur aus dem Bild herausschaut – in der Regel nach oben, rechts oder links – und einen Blick auf eine Figur oder in die helle Zukunft wirft (Abb. 11). Da wir nicht sehen, worauf die 129
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Abb. 11 DER FALL VON BERLIN [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli)
Figuren schauen, wird der fi lmische Raum transzendiert. Am Ende des Films wird jedoch dieses transzendentale Objekt direkt ins Bild gesetzt, wodurch die Diegese wieder geschlossen wird, wie zum Beispiel in Der Fall von Berlin, in dem Stalin gegen Ende des Films zusammen mit den handelnden Figuren im Bild erscheint. Der künft ige Kommunismus ist jenes transzendentale ideologische Objekt, mit dem die Zuschauenden jetzt, so Ščerbenok, verbunden werden, indem sie durch die Öff nung und den Verschluss der Nahtstelle zur Identifi kation mit der Kamera und nicht mit den Figuren gezwungen sind. Durch das Wechseln der Identifi kationsebenen entwickelt das Publikum einen abstrahierenden Blick und abstrahiert dadurch seine eigene individuell-psychologische Position. Diese durchaus reizvolle Erklärung berücksichtigt jedoch nicht das Verhältnis zwischen dem Individuum auf der einen Seite und der Klassentypologie sowie dem Verfahren nationaler Allegorisierung auf der anderen Seite. Kritik an ‚individualistisch-narzisstischen‘ Identifizierungsstrategien übte bereits in den 1990er Jahren die Critical Race Theory (hooks 1994), die auf die Universalisierung, welche zum Beispiel rassistische Differenzen unberücksichtigt lässt, der oben genannten Strategien aufmerksam gemacht hat. Der transzendentale Filmraum des stalinistischen Kinos dient daher nicht so sehr der Dezentrierung der Subjekte, sondern bedeutet ihren Anschluss an höhere Machstrukturen und -ideen. Eine besondere Bedeutung und Wirksamkeit des Kriegsfi lms liegt dabei in dieser besonderen bild-ästhetischen
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Gestaltung des Kriegsfilms begründet, die Zuschauende in ihrer Position als Individuen zugleich auch als soziale und historische Subjekte adressiert, indem – wie bereits dargelegt – kulturelles Wissen und bestehende Erinnerungsdiskurse filmisch aktiviert und durch narrative und emotionale Individualisierungsstrategien als Identitätsgrundlage angeboten werden. Individuen werden also auf der einen Seite durch die Bildästhetik an die Macht des Kollektivs geknüpft, auf der anderen Seite hebt diese Bildästhetik die politische Bedeutung des Zweiten Weltkrieges hervor und führt alle Bewusstseinszustände zusammen, welche der belgische Phänomenologe Jean-Pierre Meunier (1969) beschrieben und die US-amerikanische Filmwissenschaftlerin Vivian Sobchack (1993) referiert haben. Beide Forscher*innen betonen die Fluidität verschiedener Bewusstseinsmodi: Nach Vivian Sobchack sollen Zuschauende nicht als in die Passivität gedrängte oder verführte Individuen verstanden werden, sondern als durch Bilder mobilisierte Akteur*innen, welche sich mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung innerhalb der filmischen Handlung engagieren (Sobchack 1993, Endnote auf S. 253). Ein ähnliches Konzept hat später Hermann Kappelhoff (2006) mit dem Erfahrungsraum entwickelt, bei dem die Zuschauenden die filmischen Bilder im Kopf vollenden. Der Kriegsfilm erzielt ein allumfassendes Engagement aufgrund des diskursiven Zwangs zur Authentizität, des sozial-politischen Auftrags der Aufklärung und des Erinnerungsgebots, welches auf verschiedene Weise (sei es durch die Partei oder durch die kritische Öffentlichkeit) an dieses Genre herangetragen wird. Meunier unterscheidet mit Bezug auf ihren Fiktionalisierungsgrad drei filmische Darstellungsmodi: die Alltagsdokumentation durch Amateur*innen, die professionelle Dokumentation und die Fiktion. Diese Darstellungsmodi evozieren drei verschiedene Bewusstseinsmodi, welche wiederum jeweils eine eigene Temporalität vorrausetzen: Der Spielfilm über den Krieg ist eine Fiktion, die die ganze Aufmerksamkeit auf das Universum auf der Leinwand, auf seine unbekannte spezifische Story zieht. Einzelne referentielle Objekte, wie zum Beispiel die Militärtechnik, stehen im Dienste der Kohärenz; der Sinn wird daher durch eine Progression aus der Vergangenheit in die Zukunft produziert. Aufgrund der Kohärenz und der teleologischen Ausrichtung des Spielfilms auf die Zukunft herrscht ein lateraler Bewusstseinszustand vor, welcher durch die Fetischisierung des Bildes und die (emotionale und symbolische) Involvierung in die Diegese entsteht. Aus der syntagmatischen Verkettung von Elementen resultiert dabei ein Zwang zur Meinungsbildung. Zugleich jedoch erfüllt jeder Kriegsfilm auch Kriterien des dokumentarischen Bewusstseins. Daher wird die historische ‚Wahrhaftigkeit‘ und die Authentizität seiner Darstellung zur Bewertungsgrundlage des Kriegsfilms. In diesem Drang nach ‚Realität‘ und historischer ‚Wahrheit‘ setzen viele Kriegsfilme dokumentarische Aufnahmen ein, die im Krieg selbst entstanden sind. Als Dokumentation bezieht 131
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sich der Kriegsfilm dabei immer auf die Welt außerhalb der Leinwand; er generalisiert, verweist auf größere Zusammenhänge und macht so auf die Wissenslücke des Publikums aufmerksam. Das Genre ist somit immer zugleich informativ und aufklärerisch, bezieht es sich doch sowohl auf das historische Wissen (wissenschaftliche Quellen, historische Dokumente) als auch auf den aktuellen Erinnerungsdiskurs, dessen Figuren, Motive und Topoi aufgenommen und verhandelt werden. Das Tempus der Dokumentation ist das Präsens, in dem die historische Vergangenheit wiederbelebt wird. Private Videos evozieren drittens die Authentizität eigens erlebter Bilder und fördern daher eine leere Sympathie mit den Aufnahmen, da die Zuschauenden, die in der Regel auch selbst Home-Videos produziert haben, durch die Bilder hindurch in ihre eigene Vergangenheit zu blicken meinen. Deswegen ist die Zeitlichkeit der Home-Videos fragmentarisch: Sie fungieren als Marker der Vergangenheit. Das Bewusstsein der Zuschauenden wird längsseitig (longitudinal) ausgerichtet, indem es sich in die eigene Vergangenheit zurückbewegt und einen stärkeren Bezug auf die eigene existentielle Erfahrung nimmt. Kriegsfilme zwingen die Zuschauenden auch zu diesem Selbstbezug und zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, und zwar unabhängig davon, ob die Zuschauenden unmittelbare Teilnehmer*innen des Krieges waren oder zu einer der folgenden Generationen gehören. Der Selbstbezug wird vor allem dadurch evoziert, dass der Kriegsfilm sich immer auf den politischen Diskurs seiner Zeit bezieht (Fragen der Staatlichkeit, der Grenzen, der gegenwärtigen Politik, Identitätsfragen usw.). Die Aufarbeitung des Krieges umfasst die ganze Gesellschaft, und so appelliert der Film nicht nur an die historische intergenerationelle Erfahrung, vielmehr wird er in ein dichtes, interaktives und dynamisches Diskursgeflecht hinein produziert, in dem Werte, Erwartungen, kulturelles historisches Wissen und politische Haltung bereits existieren. Diese werden durch die Filme sowohl aufgerufen als auch überformt. Die Zuschauenden werden daher durch den Kriegsfilm mit dem politischen Diskurs der Gegenwart in Verbindung gebracht und zugleich aufgefordert, an die Geschichte ihrer eigenen Familie zu denken und ihre eigene Haltung dazu (wiederholt) zu reformulieren und dadurch zu aktualisieren.
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Die Heldentat eines Kundschafters [Подвиг разведчика] (UdSSR 1947, R. Boris Barnet) Im Morgengrauen ist es noch still [А зори здесь тихие] (UdSSR 1972, R. Stanislav Rostockij) Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) Komm und sieh [Иди и смотри] (UdSSR 1985, R. Ėlem Klimov) Königskinder (DDR 1962, R. Frank Beyer) Lili Marleen (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) Sie kämpften für die Heimat [Они сражались за Родину] (UdSSR 1975, R. Sergej Bondarčuk) Unsere Mütter, unsere Väter (D 2013, R. Philipp Kadelbach) Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя свое] (UdSSR 1974, R. Sergej Kolosov) Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) Weissrussischer Bahnhof [Беларусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov)
3.2
Das Trauma als Erinnerungsmodell: Der Fall BRD
3.2
Das Trauma als Erinnerungsmodell: Der Fall BRD
Die Form des filmischen Traumas wurde durch eine ästhetische Engführung von Psychoanalyse und Film bereits im früheren Kino vorbereitet, wobei es keinesfalls um die Vulgarisierung der Psychoanalyse geht. Durch die Adaptation psychoanalytischer Konzepte im Film entwickelte das Kino bestimmte Formen wirksamer Subjektivierungs- und Affizierungsverfahren. Zugleich macht es die Psychoanalyse nicht nur als Kulturtheorie wirksam. Das Kino übertrug letztendlich psychoanalytische Konzepte auf die Deutung der Geschichte, was an Die Mörder sind unter uns (1946, R. Wolfgang Staudte), dem ersten DEFA-Film und dem ersten deutschen Nachkriegsfilm überhaupt, gezeigt wird. So wird das Trauma als eine bestimmte Form der Inszenierung beschrieben, die keine geschichtliche Kontinuität ermöglicht und so die Zuschauenden in eine Ohnmachtsposition versetzt. Weiterhin ist das Trauma dort zu verzeichnen, wo die Täterschaft depotenziert wird. Da das Kino das Identifikations- und Einfühlungsmedium darstellt, konnte es die Täter nicht als Hauptfiguren darstellen. Die Abspaltung der Täterschaft von aktuellen Identifikationsdiskursen wurde dann später als Verdrängung diskursiviert. Letztendlich ist das Trauma auch als ein spezifischer Rezeptionsdiskurs in der BRD zu verstehen, in der diese Abspaltung der Täterschaft und die generationsbedingten Verschiebungen in der Vergangenheitsaufarbeitung nachträglich als Lücken und 139
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Schweigen signifiziert wurden. Der Film ist jedoch das Medium der Kontinuität, d. h. die kritischen Bilder und Narrative der 1970er und 1980er Jahre hätten nicht entwickelt werden können, wenn Ende der 1940er und in den 1950er Jahren keine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattgefunden hätte.
3.2.1 Psychoanalyse und Film Zur Bedingung kollektiver Erinnerungsprozesse bzw. der besonderen Form, die heutzutage in Deutschland vorliegt, trug vor allem der gegenseitige, einander produktiv anreichernde Wechselbezug zwischen Psychoanalyse und Film bei. Diese Wechselwirkung geht aus der medienhistorischen Entwicklung der Kinoindustrie hervor. Filme gehen wiederum der Popularisierung der Psychoanalyse für die Kulturanalyse etwa seit den 1970er Jahren voraus und bedingen diese eventuell auch (vgl. Hediger 2002). Denn der Film nimmt bereits seit den 1910er Jahren psychoanalytische Modelle auf, transformiert sie ästhetisch und verknüpft sie im Laufe der Jahrzehnte zunehmend mit sozial-politischen Themen – schon weil er aufgrund seiner Visualität und Gegenständlichkeit gar nicht anders kann. Vor dem Zweiten Weltkrieg wird die Psychoanalyse im Kriminalgenre verarbeitet, nach dem Krieg zusätzlich im Kriegsfilm. So ist es kein Wunder, dass die Psychoanalyse in den 1970er Jahren als Kulturtheorie wiederentdeckt und für die Analyse der Vergangenheit nutzbar gemacht wird. Dieser diskursiv-ästhetische Austausch zwischen dem Kino und der Psychoanalyse war auch für die Filmästhetik im 20. Jahrhundert konstitutiv, darauf weisen sowohl frühere (Münsterberg 1996) als auch in jüngerer Zeit unternommene Parallelisierungen (Kuntzel 2000) von psychischen Prozessen und kinematographischen Apparaten hin. Es ist sowohl bemerkenswert als auch symptomatisch, dass eine der ersten Filmtheorien eine psychologische Studie von Hugo Münsterberg darstellt, der die medienspezifischen Besonderheiten des Kinos in der Transformation der äußeren Wirklichkeit in individuelle innere psychische Prozesse beschreibt (Münsterberg 1996, S. 84). Es bietet sich deswegen auch an, eine psychologische Geschichte des Kinos zu schreiben, wie es Siegfried Kracauer in den 1940er Jahren unternommen hat (Kracauer 2012). Ungefähr seit den 1970er Jahren (Hediger 2002, S. 43),46 in denen Debatten zur psychoanalytischen Filmtheorie im Umfeld der Zeitschriften Screen und Cahiers du Cinéma entstanden, gehört die Psychoanalyse zu den erfolgs- und erkenntnisreichsten analytischen Methoden 46 Vinzenz Hediger weist darauf hin, dass die ersten psychoanalytischen Theoretisierungen des Kinos bereits in den 1950er Jahren in Italien durch einen Psychoanalytiker, Cesare Musatti, stattfinden, welcher die Debatten der 1970er Jahre vorwegnimmt.
3.2 Das Trauma als Erinnerungsmodell: Der Fall BRD
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des Filmverstehens, was ihre strukturelle wie epistemologische Nähe zum Film und die Bedeutung des Kinos für Subjektivierungsprozesse vor dem Hintergrund kinematografischer Wahrnehmung – Apparatus-Theorie (vgl. Riesinger 2003), Blicktheorien (z. B. Mulvey 1994) usw. – noch einmal unterstreicht (zum Überblick vgl. Sierek 2000; Heath 2000; Kappelhoff 2003.) Die Psychoanalyse lieferte verschiedene Modelle für die Gestaltung psychischer Subjektivierungsprozesse, deren Übersetzung in die cineastische Ästhetik filmische Identifizierungsstrategien verfeinerte. Unabhängig davon, ob sich nun die Psychoanalytiker*innen selbst für das Kino interessierten – Freud lehnte filmische Projekte über die Psychoanalyse bekanntlich ab (Ries 2000) –, übte die Psychoanalyse seit ihrer Entstehung eine starke Faszination auf Künstler*innen und besonders Filmschaffende aus. Im Kino konnte die durch die Psychoanalyse entwickelte Subjekttheorie nicht nur popularisiert, sondern auch affektiv-emotional erfahrbar und somit zu einer Identifikationsvorlage werden. Das Kino behauptet sich in diesem Zuge als therapeutischer Raum, der eine heilsame Wirkung auf Subjekte haben kann. Dieser Topos, der bis heute im Film verbreitet ist, entsteht bereits in der Periode des Stummfilms, wenn das Trauma durch dessen Visualisierung kuriert wird. Im Film La mystère des Roches de Kador (F 1912, R. Léonce Perret) etwa ermöglicht gerade das filmische Re-Enactment des Geschehens, die verdrängte Erinnerung einer traumatisierten Frau wiederherzustellen und sie auf diese Weise zugleich vom Trauma zu heilen (Klippel 2014). Das Kino entfaltete wiederum das sinnstiftende Potenzial der Psychoanalyse, indem es ihre Konzepte für die Erklärung individueller Prozesse heranzog und veranschaulichte. Durch den Film etablierte sich die Psychoanalyse darüber hinaus als Gesellschaftstheorie. Das Kino scheint im Zuge der Anwendung der Psychoanalyse deren Konzepte derart zu transformieren, zu abstrahieren und zu reflektieren (Heath 2000, S. 233), dass sie auch auf andere Disziplinen und die Analyse verschiedener kultureller Phänomene übertragbar werden. So wurde es letztendlich auch möglich, das Trauma als eine Denkfigur zu etablieren, welche die prolongierte Nachwirkung historischer Ereignisse beschreiben kann. Die konstitutive Wechselwirkung zwischen Psychoanalyse und Kino liegt besonders in ihrer historischen Gleichzeitigkeit begründet (Wahlert 1990),47 welche analoge epistemologische Prozesse in beiden auslöst und so ihre Interessen zu-
47 „Wir haben es also mit einer Theorie zu tun, der es gelingt, Unvereinbarkeiten im Menschen zu denken, und wir haben es mit einer Kunst zu tun, der es gelingt, Unvereinbarkeiten zu zeigen.“ (Wahlert 1990, S. 12) 141
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sammenführt.48 Die Erfindung der Fotografie, so macht beispielsweise eine Studie von Susanne Regener deutlich, hatte unwiderrufliche epistemologische Folgen: die Etablierung einer neuen Wahrnehmung, die den Blick schärfte (Regener 1999),49 das Betrachten in ein wissenschaftliches Erkenntnisinstrument verwandelte und durch die Sichtbarmachung auch neue Wissensobjekte hervorbrachte (Virilio 1994). Das Motiv der verborgenen, noch aufzudeckenden Wahrheit zieht sich auch durch die Literatur um 1900. In der Forschung wurde dieses Motiv vor allem durch die krisenhafte Zeit der Moderne erklärt, in der die Welt aufgrund der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen und der Pluralisierung von Denkmustern, durch Industrialisierung und Mobilisierung unübersichtlich geworden war (Thomé 2000). In dieser Zeit etabliert sich das Spurenparadigma als Verfahren der Wahrheitsfindung in der Kriminologie, Psychoanalyse und Kunstgeschichte, welche die Wahrheit aus Versatzstücken einer entzogenen Realität zu rekonstruieren suchen und das Sichtbare gerade als oberflächliches Phänomen reflektieren (Ginzburg 1995). Die Psychoanalyse ist in eben diesem Sichtbarkeitsparadigma zu verorten; sie strebt nach der Aufdeckung der verborgenen psychischen Strukturen eines Individuums und basiert nicht nur auf der Spuren- bzw. Symptomdeutung; die Visualisierung gehört bei Freud vielmehr zu den wichtigsten psychischen Mechanismen des Unbewussten (vgl. auch Quindeau 2004a). Freud benutzte selbst Begriffe aus dem Bereich der photographisch-filmischen Technologien, wenn er den psychischen Apparat beschrieb (Vogl 1999, S. 373). Beispielsweise bezeichnet er die seelische Struktur in der Traumdeutung als Mikroskop und fotografischen Apparat (Freud 1999b, S. 527). Neben dieser historischen Gleichzeitigkeit und den Analogien in ihrer Funktionsweise weist die Psychoanalyse in ihren Modellen eine strukturell-ästhetische Nähe zum Kino auf (Kappelhoff 2003).50 Die Sichtbarmachung des Verborgenen
48 Allerdings ist der Anfang nicht so einfach auszumachen. Hugo Münsterberg datiert beispielsweise den Beginn des Kinos auf die Anfänge des wissenschaftlichen Interesses an der optischen Bewegungsillusion im Jahr 1825, also in die Zeit der Spätromantik, was die These begünstigt, dass die neue mediale Visualität und die Psychoanalyse zusammengehören bzw. einander bedingt haben (Münsterberg 1996, S. 30). 49 Die Fotografie wird besonders für eine taxierende und identifizierende Erfassung der Kriminellen eingesetzt und bedingt letztendlich die Konstitution einer neuen Wahrnehmung, wie zum Beispiel die Aufwertung des Anschauens, die auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den wissenschaftlichen Betrieb modifizierte: „Berufsspezifische Schärfung [des Blickes – IG] hieß das Mittel zur Erkundung des Unsichtbaren.“ (Regener 1999, S. 185) 50 So heißt es bei Hermann Kappelhoff: „Die Bedeutung des Sexuellen, die Dominanz affektiver Prozesse, die Betonung visueller Phantasie: das Kino scheint von einer Matrix
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in der Psyche bewältigte Freud unter anderem durch den Transfer tradierter ästhetischer Motive, um abstrakten psychischen Prozessen eine vorstellbare Form zu verleihen. Er griff dafür bekanntlich auf die biblische und antike Mythologie sowie auf literarische und bildkünstlerische Werke zurück, die für ihn als Ausdruck des Psychischen galten, und übernahm rhetorisch-literarische Sprachstrategien wie Metapher, Metonymie, Symbolisierung, Dramatisierung, Spaltung usw., um psychische Prozesse zu beschreiben (Freud 1999d).51 Bereits in früheren psychoanalytischen Filmtheorien, die in der schweizerischen Filmzeitschrift Close Up (1927–1933) diskutiert werden, wurden die Verdichtung und Verschiebung mit Montageverfahren und Strukturen von Mise-en-Scène gleichgesetzt (Blümlinger 2000, S. 149–150). Weiterhin, auch im Zuge der Handhabung der abstrakten, unsichtbaren Phänomene, gestaltete Freud das Modell des psychischen Apparates topologisch (in Form der so genannten zweiten Topik als Ich, Über-Ich und Es) (Freud 1999f), was der filmischen Darstellung ebenfalls entgegenkommt. Jede filmische Darstellung zeichnet sich durch eine topologisch-topographische Beschaffenheit aus (Frahm 2010). Vielleicht hat sich aus diesem Grund die filmische Psyche vor allem in Form räumlicher Dispositionen, zum Beispiel in der Metapher eines Gebäudes, etabliert – etwa die bekannten Serienmörderfiguren des Kinos wie Norman Bates in Psycho (USA 1960, R. Alfred Hitchcock) (vgl. dazu Žižek 1998), Buffalo Bill in The Silence of the Lambs (USA 1991, R. Jonathan Demme) oder Fred Madison in Lost Highway (USA 1997, R. David Lynch) können dies veranschaulichen. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, dass sich das Unbewusste im sprachlichen Gebrauch als Unterbewusstes eingebürgert hat: Im Film wird das Unbewusste häufig als Kellerraum inszeniert, in dem die Geheimnisse der Figuren, die auf die Ätiologie der psychischen Pathologie zurückführen, aufbewahrt werden. Die Wiederholung, die nach Freud (als Wiederholungszwang) einen grundlegenden Mechanismus des psychischen Apparates bzw. des Unbewussten darstellt (Freud 1999e, S. 16–22), ist ebenfalls ein ästhetisches Prinzip und im Kino vor allem aufgrund dessen medienspezifischer Zeitökonomie sichtbar. Die Filmnarration ist auf Wiederholung angewiesen, um eine Wiedererkennbarkeit der Dinge zu gewährleisten, dadurch Kognition zu ermöglichen und so die Darstellung in kurzer Zeit
psychischer Aktivitäten bestimmt, die dem Gegenstand psychoanalytischer Theorie entspricht.“ (2003, S. 130) 51 Diese Affinität zwischen dem ästhetischen Repräsentationssystem und der Psychoanalyse wurde bereits von poststrukturalistischen Denker*innen produktiv für die Analyse kultureller Phänomene wie Subjektwerdung, Identität, Begehren, Kulturproduktion und Analyse der Machtstrukturen eingesetzt. 143
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sinnhaft gestalten zu können. Letztendlich manifestiert sich laut Freud das Trauma im Handeln, weil sich die Traumatisierten nicht an das traumatische Ereignis erinnern, sondern in ihm agieren: Der Analysierte „reproduziert es [das Vergessene und das Verdrängte – IG] nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt.“ (Freud 1999c, S. 129, Hervorhebung im Original). Damit wird auch die genuin filmische Eigenschaft angesprochen, Reflexionsprozesse als Figurenkonstellationen und Handlungsstruktur zu gestalten (Engell 2010).52 Abstrakte Sachverhalte werden im Film dramatisiert, das heißt in eine konfliktvolle Situation überführt, die durch vorbereitende Entwicklung, Zuspitzung und Auflösung strukturiert wird. Diese strukturell-ästhetische Nähe der Psychoanalyse zum Kino einerseits und der Reiz, innere Prozesse auf der medialen Oberfläche des Films zu visualisieren, andererseits inspirierten Filmemacher*innen früh dazu, psychoanalytische Ansätze cineastisch umzusetzen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zur Zeit der größten Popularität der Psychoanalyse, gibt es zahlreiche Versuche, diese in das Bildregister des Kinos aufzunehmen. Zum Beispiel inszenieren Das Kabinett des Dr. Caligari (D 1920, R. Robert Wiene) und Das Wachsfigurenkabinett (D 1924, R. Paul Leni) die Nähe des psychischen Inneren (Traum) und Verbrechen. Die Literatur bereitete diesen Weg, etwa die Werke E. T. A. Hoffmanns mit ihren psychoanalytischen Modellen avant la lettre und einer auf Visualität zielenden Ästhetik. Sie experimentierten und entwickelten also teilweise schon vor der Formulierung psychoanalytischer Ansätze Strukturen (vgl. dazu Prokič 2016), die post factum der Psychoanalyse zugeschrieben oder psychoanalytisch gelesen wurden – nicht zuletzt dank der analytischen Vorgehensweise Freuds, der in seinen Beispielen immer wieder auf die Literatur zurückgriff (Weigel 1999, S. 61). Jedoch trug vor allem der Film dazu bei, die Psychoanalyse sowohl für die Kulturanalyse als auch später für die Vergangenheitsdeutung anschlussfähig zu machen und über die Figur des Traumas zu popularisieren. Denn psychische Prozesse und Zustände im Film werden verräumlicht, verkörpert und verdinglicht, wodurch die Psyche nach Außen verlagert wird und sich in den Mise-en-Scènes und der Inszenierung zwischenmenschlicher Beziehungen, die das Soziale immer mit einbeziehen, konkretisiert. Die Leistung des Kinos, die auch seine Attraktivität begründet, besteht somit vor allem in einer Reduktion von Abstraktheit. Diese ermöglicht eine
52 „Auch die Annahme, dass im Film alle Denkgesten einer Verkörperung in Handlungen oder Handlungsansätzen bedürfen, Handlungen in der diegetischen und repräsentierten Welt oder Handlungen des Bildes selbst, wie Kamerabewegung oder Montage, ist einer fester Bestandteil des filmtheoretischen Diskurses.“ (Engell 2010, S. 140; siehe auch Fahle 2001).
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dinghafte Erfahrung und Wahrnehmung, die Subjektpsychen unmittelbar an die bestehende Realität (wie verschoben und unrealistisch dies auch geschehen mag) und dadurch an die politischen Diskurse bindet. So werden die Subjekte in der Welt situiert bzw. als Teile der Realität vorgeführt, in der sich wiederum verschiedene Zeiten verdichten. Bei aller Kritik an der Auflösung der Grenzen zwischen Innen und Außen füllt das Kino das Innere mit dem mehr oder weniger sozialen Außen aus (Kappelhoff 2000, S. 318). So werden die Erinnerungen eines einzelnen Individuums im Film konkret, d. h. sie werden dramaturgisch materialisiert, vor allem aber stellen sie durch diese Verwischung der Grenzen ein kollektives Gut dar, indem sie in die Staatsgeschichte und die aktuelle Politik eingefügt werden und so zu einer Erneuerung der Gesellschaft beitragen können. Dadurch werden individuelle psychische Prozesse nicht nur sozial relevant, der Film konstituiert vielmehr – im Sinne von Siegfried Kracauer – eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit: „Indem der Film die physische Realität wiedergibt und durchforscht, legt er eine Welt frei, die niemals zuvor zu sehen war, eine Welt, die sich dem Blick so entzieht wie Poes gestohlener Brief, der nicht gefunden werden kann, weil er in jedermanns Reichweite liegt.“ (Kracauer 2005, S. 459) Nach Münsterberg (1996, S. 99) ist es die Verwandlung der Gegenstände der äußeren Welt in die psychische Aktivität, deren Inhalt und Prozesse dinglich vorstellbar und erfahrbar werden. Laut Kappelhoff ist diese Erfahrung in der spezifischen „Raumbildung“ und Vergegenständlichung des Abstrakten zu fassen, die das Denken in Bildern auszeichnet und die alle theoretischen Überlegungen der Weimarer Republik durchzieht: „Der Raum, die Gegenständlichkeit rückte in die Funktionale einer je spezifischen Bewusstseinsverfassung.“ (Kappelhoff 2000, S. 308) Siegfried Kracauer beschreibt den Raum im deutschen Film als psychische Landschaft (Kracauer 2012, S. 83–85; Hediger 2014, S. 72). Als Beispiel dient der psychoanalytische Film Die Geheimnisse einer Seele (D 1926, R. Georg Wilhelm Pabst), der aufgrund der Verbreitung der Psychoanalyse im Film als Diskursprodukt jener Epoche zu sehen ist. Zu dieser Zeit erfreuen sich filmische Veranschaulichungen wissenschaftlicher Erkenntnisse generell einer großen Popularität (Eppensteiner und Sierek 2000, S. 16). So musste es früher oder später auch zu einer filmischen Inszenierung psychoanalytischer Konzepte kommen, denn das Kino beschäftigt sich von Anfang an mit psychischen Prozessen und psychosexuellen Problemen. Beispielhaft genannt werden können Filme wie Anders als die Anderen (D 1919, R. Richard Oswald) und Ssanin (A 1924, R. Friedrich Feher) sowie Filme, die das Motiv der Hypnose ins Zentrum stellen, etwa Das Kabinett des Dr. Caligari (D 1920, R. Robert Wiene) und Dr. Mabuse, Der Spieler (D 1922, R. Fritz Lang). Halluzinationen werden in Schatten (D 1923, R. Arthur Robinson), Träume in Das Wachsfigurenkabinett (D 1924, R. Paul Leni) thematisiert, um 145
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nur einige bekannte Werke zu nennen. Außerdem wird zunehmend die Figur des Psychiaters populär, die in zahlreichen Filmen die Ätiologie des Verbrechens auf die psychologischen Störungen des Verbrechers zurückführt (für einen Überblick vgl. Höltgen 2010). Dem Film Geheimnisse einer Seele geht darüber hinaus der dokumentarische Aufklärungsfilm über die Psychoanalyse, Ein Blick in die Tiefe der Seele (D 1923, R. Curt Thomalla), voraus. Ungefähr gleichzeitig mit Pabsts Werk, der bei den Dreharbeiten von dem bedeutenden Psychoanalytiker Karl Abraham und dem Freud-Schüler Hans Sachs beraten wurde, entsteht der nie realisierte Entwurf zu einer filmischen Darstellung der Freudschen Psychoanalyse (1925) des österreichischen Psychoanalytikers Siegfried Bernfeld (vgl. Sierek und Eppensteiner 2000). Diese filmhistorische Verortung macht die Dringlichkeit deutlich, einen psychoanalytischen Film zu erschaffen. Geheimnisse einer Seele wendet sich vom Expressionismus ab und der neuen Sachlichkeit zu, bewegt sich also in einem realistischen Darstellungsparadigma (Kappelhoff 1994, S. 51–74). Kraft seiner filmischen Ästhetik überführt er psychoanalytische Konzepte in Strukturen, die auch eine soziale Bedeutung haben. Der Regisseur wählt beispielsweise als Handlungsort das bürgerliche Haus des Protagonisten, wodurch dessen psychischer Apparat in räumliche Strukturen übersetzt wird (Kappelhoff 2000, S. 317): Das Wohnzimmer wird zum Raum des Ichs, das Schlafzimmer zu dem des Unbewussten. Hier wird eine Nähe von Traum und Trauma etabliert. Das bürgerliche Haus bindet in seiner visuellen Unmittelbarkeit diese psychische Verortung an das Bürgertum. Als der Vetter der Ehefrau zu Besuch kommt, bricht die psychische Krise des Protagonisten aus: Er ist nicht mehr der „Herr in seinem Hause“ – das berühmte Zitat Freuds wird wörtlich genommen, wie Elisabeth Bronfen (1999a, S. 39–94) in ihrer Analyse des Films aufschlussreich gezeigt hat. Nach der Forscherin deckt der Film das homosexuelle Begehren so weit ab, bis es hinter dem Schein der bürgerlichen Familienideale zurücktritt und die Aufrechterhaltung der herrschenden heterosexuellen Norm möglich macht. Ehefrau und Vetter verkörpern so in ihrer Analyse die psychischen Prozesse des Protagonisten, die mit ihnen dann abgespaltet werden, um das bürgerliche Subjekt entsprechend den bürgerlichen Idealen zu konstituieren: Weiblichkeit, Homosexualität und Kolonialdiskurse werden aus der Struktur eines weißen Subjektes der Mittelklasse ausgeschlossen. Die Psyche wird also visuell an bestimmte klassen-, gender- und ethnienspezifische Ideale des Bürgertums dieser Zeit gebunden. Der Film Pabsts inszeniert dabei die psychische Pathologie als eine soziale Störung. Das Trauma des Protagonisten weist Parallelen zu einem Mord in der Nachbarschaft auf, wodurch Spannung erzeugt wird. Durch diese Analogie wird auch der epistemologische Charakter des Traumas in diesem Ausmaß konstituiert. Die Analysen von Sigmund Freud handeln vorwiegend von privaten, oft banalen Angelegenheiten
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einzelner Individuen, die keinesfalls eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Pabst will durch diese Parallele die Nützlichkeit der Psychoanalyse für die Gesellschaft hervorheben. Die Identität des Mörders wird trotz seiner Verhaftung im Film nicht preisgegeben, sodass das Trauma der Hauptfigur substitutiv als Erklärung für das Verbrechen fungiert. Der soziale Wert der Psychoanalyse, diese Schlussfolgerung liegt nahe, besteht allem voran darin, durch eine rechtzeitige Entdeckung und Therapie der zugrundeliegenden psychischen Pathologien solchen Verbrechen vorzubeugen. Weiterhin verdinglicht der Film abstrakte Prozesse mithilfe von Gegenständen wie dem Messer, einem Brief, dem Zug oder Gitter, welche darüber hinaus eine Reihe kultureller metaphorischer Codierungen besitzen: Der Zaun versinnbildlicht zum Beispiel das Eingesperrtsein; der Zug ist bekanntlich das zentrale Symbol der Modernisierung. Daher kann der Film auch das Messer nicht allein im Sinne einer erotischen Fantasie zum Einsatz bringen; seine soziale Verwendung, nämlich als Werkzeug, Teil des Bestecks oder Waffe, ist visuell nicht eliminierbar. Der Film lotet sogar selbst diese Bedeutungen aus, die an soziale Praktiken gebunden sind: Die Angst des Protagonisten, beim Essen das Messer zu berühren, wird zum Symptom des Traumas. Das Messer hilft auch dabei, die Hauptfigur als gefährlich zu inszenieren und eine Analogie zum Verbrechen herzustellen. Die Mehrfachcodierung der Dinge und der Räume verortet diese somit an der Schnittstelle zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven; sie füllt das Innere mit sozialem Kontext und funktionalisiert umgekehrt die gesellschaftliche Umgebung als psychische Landschaft sowie als filmästhetisches Element. Pabst inszeniert somit die Wiederkehr der Dinge und der Szenen, die dadurch allerdings eher eine ästhetische und kognitive als eine traumatische Dimension erhalten. Während bei Freud die Wiederholung eines traumatischen Erlebnisses unwillkürlich passiert und in der Regel der Herausbildung von psychischen Schutzmechanismen dient (Freud 1999e, S. 32), geht es bei Pabst um die Umcodierung der Dinge in psychische Symbole, die zugleich selbstreflexiv auf die Filmökonomie hinweisen. Die zuvor scheinbar unwichtigen Gegenstände und alltäglichen Szenen werden während des Therapievorgangs noch einmal vereinzelt in einem leeren Raum wie auf einer Bühne vorgeführt, um ihre Wichtigkeit für die Hauptfigur hervorzuheben und sie zugleich vom sozialen Kontext zu isolieren und davon zu ‚befreien‘ (Abb. 1). Diese Art der Darstellung produziert durch einen Déjà-vu-Moment nicht nur Verfremdungseffekte (also eine ästhetische Wirkung), sondern bringt den Zuschauer*innen regelrecht bei, die Polysemie der Dinge und somit ihre Relevanz für die psychische Welt der Hauptfigur trotz der Unmittelbarkeit des visuellen Mediums zu erkennen. Die Wiederholung demonstriert auch, dass es keine ‚unnützen‘ oder kontingenten Dinge in der Diegese gibt: Alle sind bedeutungstragend – ein Umstand, den Alfred Hitchcock in seinen Filmen vervollkommnen wird. Außerdem 147
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Abb. 1 GEHEIMNISSE EINER SEELE (D 1926, R. Georg Wilhelm Pabst)
aktiviert der Film durch die Wiederholung Erinnerungen der Zuschauer*innen und ermöglicht es ihnen so, diese zu entschlüsseln. Im Film kann die Psyche, so wird an Pabsts Werk deutlich, nur innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes verortet werden: Das Innere muss im Äußeren seinen Ausdruck finden, sei es in einer familiären oder einer intergeschlechtlichen Konfiguration, welche die inneren Konflikte in Beziehungen und Interaktionen der Figuren zu veräußern ermöglicht; sei es in einem Verbrechen, das die psychische Pathologie zum Ausdruck bringt; sei es in Gegenständen, die mit ‚traumatischen‘ Bedeutungen aufgeladen werden, um abstrakte Prozesse zu visualisieren und zugleich eine Darstellungsökonomie herzustellen. Diese Prozesse sind aufgrund der medienspezifischen Unmittelbarkeit des Films immer mit Raumkonstruktionen verbunden und verorten somit die Psyche an einem klassenspezifischen historischen Ort. Umgekehrt erscheint die Inszenierung des Traumas für den Film insofern als attraktiv, als dass sie ihm ermöglicht, ein Rätsel zu installieren und die Handlung analytisch als eine Rekonstruktion aus heterogenen Fragmenten zu entwickeln. Beide dienen als eine Spannungsquelle und als ästhetische Darstellungsstrategie, die nicht mehr der narrativen Vollständigkeit verpflichtet ist, sondern sich vielmehr dafür eignet, bestimmte Phänomene besonders hervorzuheben. Jene frühen Filme, welche psychologische Prozesse in Szene setzten, haben demzufolge den Weg dafür bereitet, dass gesellschaftliche und somit auch historische Sachverhalte heute oftmals
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mit der Psychoanalyse verbunden und erklärt werden. Allerdings gilt dies vor allem für das westdeutsche und teilweise ostdeutsche Kino – DEFA-Produktionen haben nie ganz auf psychologische Strategien verzichtet –, nicht aber für den sowjetischen Film. Psychoanalytische Symbole werden in DEFA-Produktionen dabei als Medium der Überschreitung des Sozialistischen Realismus verwendet, wie es beispielsweise in Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) oder Die Russen kommen (DDR 1968/1987, R. Heiner Carow) zu sehen ist. In der UdSSR wird hingegen seit den 1920er Jahren zunehmend eine eigene kollektive Filmästhetik entwickelt, die von psychoanalytischen Konzepten weitgehend absieht und die im Sozialistischen Realismus ihren Höhenpunkt findet. Sie sucht Identifikationsstrategien zu entwickeln, die Individuen an die Macht des Staates und die Geschichte anknüpfen. Die Erzählfigur des Traumas erweist sich für die Konzeptualisierung der sowjetischen Erinnerungskultur daher als unpassend, auch wenn im Zweiten Weltkrieg viele tragische und barbarische Ereignisse stattgefunden haben, welche von den Überlebenden mit Sicherheit als traumatisch erfahren wurden. In der Tauwetter-Periode wenden sich die Filmschaffenden wieder der Psychologie zu, die allerdings hier nicht aus familiären Umständen, Begehren und Sexualität, sondern aus dem Konflikt zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven entwickelt wird.
3.2.2 Vergangenheitsverarbeitung in der BRD Als Beschreibungs- und Darstellungsformel der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung ist das Trauma mittlerweile Bestandteil eines common sense, der längst auch in wissenschaftlichen Bereichen Gültigkeit besitzt. Termini wie „Verdrängung“ oder „Trauma“ werden heute daher mit großer Selbstverständlichkeit benutzt, um den deutschen Umgang mit der Vergangenheit zu beschreiben. Auch in den wissenschaftlichen Diskussionen zur Geschichte oder zu Erinnerungskulturen sowie im Rahmen von Memoria-Theorien kommen sie zum Einsatz, obwohl diese ansonsten nicht psychoanalytisch arbeiten (Assmann, A. 2006, S. 95–98).53 Mit dem Begriff des Traumas wird der westdeutsche Umgang mit der Geschichte in der Regel kritisiert: So beschreibt Klaus Kreimeier beispielweise 1989 die historische Situation in der Nachkriegszeit mit Begriffen der Psychoanalyse, wenn er die Alliierten als Über-Ich und die deutsche Bevölkerung als Ich bezeichnet (Kreimeier 53 Assmann entwickelt einen ethischen Begriff des Traumas, der den psychischen Zustand der Opfer nach der Gewalteinwirkung bezeichnet. Die Täter können laut Assmann hingegen nur Scham für ihre Handlungen empfinden. 149
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1989, S. 10). Thomas Brandlmeier diagnostiziert das „bundesdeutsche Seelenleben der Fünfziger“ mit dem Dreiklang „Vergeben, Vergessen, Verdrängen“ (Brandlmeier 1989, S. 47).54 Anton Kaes stellt in den Debatten über die Vergangenheit in der BRD Ende der 1970er eine „Wiederkehr des Verdrängten“ (Kaes 1987, S. 30–42) fest. In Bezug auf die aktuelle Geschichtsdarstellung übt Drehli Robnik Kritik an der Funktionalisierung des Traumas für Opferstilisierungen der nationalsozialistischen Subjekte in medialen Inszenierungen (Robnik 2013). Es geht also um einen weiten Trauma-Begriff, der längst den Rahmen individueller Psychogramme – als Dissoziation und Fragmentarisierung von Gedächtnisabläufen (siehe Möller et al. 2005; Quindeau 2004b) – verlassen hat. Das Trauma ist zu einem „popular cultural script“ (Radstone 2001, S. 189) avanciert, mit dem eine ganze Breite von filmischen Affekten bezeichnet wird – vom Schock (Elsaesser 2005, S. 435) über den „phantasmatischen Schutzschirm“ (Žižek 2000, S. 26) bis hin zur „Ästhetik der Dissoziation“ (Evers 2011, S. 23). Wie konnte das Trauma zur Grundlage der Geschichtsdeutung werden? Cathy Caruth geht in ihrer grundlegenden Studie von der Unzugänglichkeit der historischen Realität und einer Referenzlosigkeit der Geschichtsschreibung gegenüber dem wirklichen Geschehen aus (Caruth 1996, S. 10–18). Diese theoretische Auffassung der Geschichte als grundsätzlich traumatische Konstellation erfuhr eine aufschlussreiche Kritik durch Sigrid Weigel, die Caruth vorwarf, dass gerade kollektive Gewalterfahrungen in dieser Sichtweise unberücksichtigt blieben (Weigel 1999, S. 55f.). Die Weitergabe der Traumatisierung an die nächsten Generationen löste Weigel zufolge eine Auslöschung der Geschichte selbst aus (ebd., S. 67, 76). Außerdem ist die Analyse von Cathy Caruth eine poststrukturalistische Deutung von Auseinandersetzungen Sigmund Freuds mit der jüdischen Religion, welche aufgrund seines durch den Nationalsozialismus erzwungenen Exils in London selbst als traumatisch gelesen werden können. Die Verbindung von Geschichte und Trauma entsteht hier in einem komplexen analytisch-intellektuellen Dekonstruktionsvorgang eines historischen Vorfalls, den Caruth im Zusammenhang mit der Struktur und dem Thema des dreiteiligen Aufsatzes Freuds, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), entwickelt. Können aber die Freud’schen Überlegungen, die zweifellos zu den einflussreichsten Dokumenten der jüngeren kritischen Kulturanalyse gehören, als repräsentativ oder aussagekräftig für die Historiographie insgesamt angesehen werden? Die Abkoppelung der Referenz vom Zeichen hebt auch Thomas Elsaesser in seiner medienspezifischen Begründung des Traumas hervor (vgl. dazu Robnik 54 Eine kritische Analyse der westdeutschen Nachkriegsfilme, darunter auch die von Die Mörder sind unter uns, siehe Brandlmeier 1993, S. 139–141.
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2007, S. 57–67). Vor allem betont er, dass im Trauma eine mediale Zeiterfahrung zum Tragen komme, bei der es um eine „Kluft […] zwischen dem (visuellen, somatischen) Eindruck eines Ereignisses oder Bildes und der Fähigkeit (einer Kultur oder der Medien), es mit Bedeutung zu füllen“ (Elsaesser 2007, S. 199), gehe. Diese Kluft implantiere – mit Verweis auf Alison Landsbergs Konzept des „prothetischen Gedächtnisses“ – der Gesellschaft ein „prothetisches Trauma“ (ebd.). Das Fernsehen produziert beispielsweise durch seinen Flow ein Vergessen, das zugleich die Wiederkehr referenzloser Bilder – eine traumatische Struktur – bedingt: Solche Bilder gehören einer anderen Art von Realität an: der Obsession oder dem Trauma, wozu eine andere Art von Aktivität und Verortung des Selbst gehört, basierend auf dem Wieder-Erzählen, dem Wiederholen, nicht dem Daran-Arbeiten, wie Reitz es forderte, sondern dem Durch-Arbeiten, wie Freud es analysierte. Dafür ist das Fernsehen in der Tat prädestiniert, denn wie sonst soll man das augenscheinlichste Kennzeichen des Fernsehens erklären, der zwanghafte Wiederholungsdrang? (Elsaesser 2002, S. 20)
Die Film- und Fernsehkultur hat laut Elsaesser die Geschichte als solche aufgelöst (ebd., S. 16). An ihrer Stelle florieren audio-visuelle Erinnerungsbilder, deren Suggestionskraft eventuell in ihrer ‚Authentizität‘ oder, dank langer Einstellungen, in einer neuen Zeiterfahrung – also in genuin filmspezifischen Verfahren – zu suchen sind. Im Zuge der Aufarbeitung des Traumatischen verleihen visuelle MainstreamWerke der „‚Geschichte von unten‘ Form, Textur und Stimme“ (Elsaesser 2007, S. 198). Zahlreiche Reportagen, Dokus, Interviews und Filme, die mit Zeug*innen, Rekonstruktionen und/oder einer Nachstellung des Geschehens arbeiten, seien Beispiele dafür, wobei Elsaesser gegenüber dieser Entwicklung skeptisch ist und ein Versagen der Massenmedien in der „Vermittlung zwischen der Subjektivität und Geschichte“ diagnostiziert (ebd.). Medialisierung und Zirkulation der Bilder haben sicherlich diese Art der ‚Traumatisierung‘ der Wahrnehmung vorangetrieben, jedoch ließe sich auch hier einwenden, dass eine Konzeptualisierung des Traumas als medienspezifisches Verfahren des Fernsehens in Analogie zu Caruths Studie wiederum die spezifisch kollektive Gewalterfahrung zu übergehen droht und vor allem die Historizität des Traumas als Sinnfigur übersieht, auch wenn Elsaesser an einer anderen Stelle auf die politische und ideologische Funktion des Traumas in der Kultur hinweist (Elsaesser 2005, S. 436). Vor allem verbindet er die Verbreitung des Traumas im Film mit einer neuen Ästhetik und Affektivität des postklassischen Films, nämlich der Entkoppelung von Erfahrung und Erlebnissen: Trauma wäre die Lösung, weil es diese neue „Ökonomie der Erfahrung“ repräsentiert: ihre Abkürzungen, Blackouts und Lücken, die das Selbst vor andernfalls ruinösen psychischen Investitionen in die Vielzahl beobachteter Ereignisse, gesehener Men151
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schen sowie bezeugter Katastrophen und Ungerechtigkeiten bewahren, die weder ein individuelles Gedächtnis noch eine öffentliche Geschichte beinhalten oder erfassen könnte. (Ebd., S. 439)
Elsaesser definiert dabei Erfahrung in Anlehnung an Walter Benjamin als ein durch den Lernprozess gewonnenes Gefühl gegenüber dem desintegrierten, fragmentarischen und daher potenziell affektiven Erlebnis. So könnte man im Umkehrschluss behaupten, dass das Trauma, wie wir es jetzt kennen, eine genuin filmische Darstellungsform ist, die aufgrund bestimmter historischer und kultureller Entwicklungen seit einiger Zeit eine starke Konjunktur erlebt. Diese Verbreitung des Traumas als analytische Kategorie, ästhetische Gestaltungsform und daher auch kulturelle Erinnerungsfigur konnte aufgrund des konstitutiven Wechselbezugs zwischen Film und Psychoanalyse gerade von diesem Medium bewirkt und vorbereitet werden. Zu dieser Entwicklung hat nicht zuletzt der DEFA-Film Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) beigetragen, der zugleich der erste deutsche Nachkriegsfilm ist.55 Als einer der ersten Filme setzte er das Trauma für die Deutung der Historie ein, und mehr als 40 % der Nachkriegsfilme verwenden in seiner Folge eine ähnliche Erzählweise (Greffrath 1995, S. 142). Mit der Bezugnahme auf die Psychoanalyse konnte Staudte also eine filmästhetische Tradition aktualisieren, versuchte das Kino doch von Beginn an, psychische Landschaften zu gestalten. Die filmische Trauma-Inszenierung basiert auf einer narrativen Struktur der Fragmentierung durch Flashbacks, die unabhängig von einzelnen Themen oder einer spezifischen Ästhetik der Mise-en-Scène Einsatz finden kann (Radstone 2001, S. 189). Diese narrative Struktur erscheint als jene filmische Handhabung des psychoanalytischen Trauma-Konzeptes, welches Michaela Krützen als Backstory Wound definiert hat (Krützen 2004, S. 30–41). Im Gegensatz zu den zahlreichen Versuchen, psychoanalytische Deutungen der Filmfiguren vorzunehmen, weist die Autorin auf die narrative Funktion des Traumas im Film hin, die hier von entscheidender Bedeutung ist: Als ein unverarbeitetes früheres Ereignis macht das Trauma die Motivation der Figurenhandlungen verständlich und ist daher erzählbar und darstellbar (ebd., S. 30–31, 36). Maureen Turim wirft dieser filmischen Flashbackstruktur die didaktisch-ideologische Wirkung vor, die Zuschauenden auf eine bestimmte Position festzulegen, welche durch ihre subjektive, emotionale Perspektivierung zudem essentialisierend wirke (Turim 1989, S. 17–18). Durch 55 Wolfgang Staudte hat schon 1945 an einem ersten Nachkriegsfilm, Kolonne Strupp, nach dem Drehbuch des aus dem Exil zurückgekehrten jüdisch-kommunistischen Autors Friedrich Wolf gearbeitet, der in einer überschwemmten U-Bahn und zerstörten Tunnels der S-Bahn Berlins gedreht wurde. Allerdings wurde der Film aufgrund eines Verbotes der Alliierten nie fertiggestellt (Barthel 1991, S. 22).
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die Reduktion der Komplexität der Erinnerung werde vor allem der „eindeutige Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung“, eine „einfache Kausalität“ angestrebt (Krützen 2004, S. 37). Eben diese Perspektivierung bedeutet allerdings nicht notwendigerweise eine Banalisierung, sondern eröffnet im Gegenteil einen besonderen epistemologischen Zugang zur Geschichte. Die filmspezifische Verortung des Traumas, so soll hier gegen die vereinfachende Lesart von Michaela Krützen und Maureen Turim argumentiert werden, macht die Vergangenheit in der Nachkriegszeit erst diskussionsfähig, indem sie psychoanalytische Theorien und Vokabularien zur Beschreibung bestimmter gesellschaftlicher Prozesse ermächtigt. Außerdem wird so die (mediale) Konstruiertheit der Historie und somit deren Abhängigkeit von medialer Vermittlung sichtbar gemacht. Staudtes Film ist dabei zweifellos eine der bedeutendsten Produktionen der Nachkriegszeit: Er wurde bis in die 1980er Jahre hinein im Zusammenhang mit der Kritik an aktuellen Erinnerungsdebatten und der politischen Situation in Deutschland rezipiert,56 hatte aber auch in Moskau, New York und den Niederlanden Erfolg und löste in Argentinien sogar einen Skandal aus (Cordoba 1951).57 Eine der ersten Untersuchungen der Nachkriegsfilme hebt besonders diesen Film als gelungenes kritisches Werk zur „ernsthaften Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“ hervor, da es Schuldfragen aufwirft und Sühne als Pflicht einfordert (Pleyer 1965, S. 55). Für die Frage nach dem Trauma als Erinnerungsfigur erweist der Film sich – im Gegensatz zu zahlreichen bereits vor dem Krieg gedrehten Historienfilmen – vor allem deshalb als fruchtbar, weil er eine unmittelbar historisch gegebene Krisensituation kritisch aufzuarbeiten sucht. Er wendet sich direkt an Kriegsteilnehmer*innen und Zeitzeug*innen und löst auf diese Weise erstens die Debatte zur Adäquatheit filmischer Ästhetik für die Darstellung der Vergangenheit aus. Als erster DEFA-Film dokumentiert Die Mörder sind unter uns zweitens ein Stück der Filmgeschichte, das unmittelbar 56 Zum Beispiel H. S. (1958). Der Film von Wolfgang Staudte wird 1958 im Rahmen der Veranstaltung „Die Verfolgten stehen nicht abseits“ gezeigt; mit ihm wird die Kritik an der Besetzung der leitenden Positionen durch Nazis artikuliert. Generell wird er wiederholt bis Mitte der 1980er aufgeführt und im Fernsehen mit dem Hinweis auf die kritischen Erinnerungsdebatten gesendet. 57 Diese polemische Rezension zeigt, dass der Film Die Mörder sind unter uns geradezu kritisch wirkte: „Das Grundmotiv der rücksichtslosen Selbstanklage hat auf die Zuschauer eine schlechte Wirkung ausgeübt, denn trotz allem, was über die Deutschen während des Krieges gesagt wurde, ist die Meinung der Südamerikaner über Deutschland im allgemeinen noch ziemlich gut. Wenn aber weiterhin Filme wie dieser der Defa-Produktion, in dem die Deutschen selbst zugeben, daß sie schreckliche Grausamkeiten begangen haben, exportiert werden, könnte sich diese Meinung der Südamerikaner ändern. Hoffentlich überlegen sich das die deutschen Filmproduzenten in Zukunft.“ 153
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auf die politische Teilung Deutschlands zurückgeht. Mit seinem Exposé fand Staudte bei Engländer*innen und US-Amerikaner*innen aufgrund des vorherrschenden Misstrauens gegenüber den Deutschen, aber auch aufgrund der weitreichenden Pläne, den deutschen Filmmarkt politisch und ökonomisch neu zu sortieren, keine Unterstützung. Laut Kreimeier subventionierte die US-Regierung allein für die westdeutsche Zone fünf Millionen US-Dollar für den Vertrieb amerikanischer Filme (Kreimeier 1989, S. 12). Die sowjetische Seite ermöglichte hingegen die Entstehung des Films, jedoch hauptsächlich, um den Prozess des Wiederaufbaus der Filmindustrie anzustoßen und zugleich zu kontrollieren, deren politische Bedeutung für die Umerziehung der deutschen Bevölkerung als hoch eingeschätzt wurde. In der UdSSR herrschte ein starker Glaube an die edukativ-politische Kraft des Kinos vor, und so wurde in symptomatischer Weise das Ende des Films nach dem Wunsch des Kulturoffiziers geändert. So „stand der Gestus des Offiziers dafür, daß die Deutschen keine Chance bekamen, mit ihrer Geschichte selber fertig zu werden.“ (Netenjakob et al. 1991, S. 24) Dadurch floss die realpolitische Entmachtung der Deutschen dieser Zeit in die Ästhetik des Films ein. Aus heutiger Perspektive ist Die Mörder sind unter uns drittens selbst ein Zeitdokument: Der Film hielt das 1946 in Ruinen liegende Berlin für die Nachwelt fest. In einem Artikel erinnert sich Wolfgang Staudte daran, dass sich das Drehteam bei den Dreharbeiten zu Die Mörder sind unter uns mit den Aufnahmen von Ruinen beeilen und einige Abbauarbeiten verzögern musste, damit die Szenen noch in den Film miteinbezogen werden konnten (vgl. Bayer 1981). Zugleich dokumentierte er viertens den Beginn einer kulturellen Bewältigung der Kriegsund Nachkriegszeit, deren Diskurse er verhandelt und deren Bestandteil er ist. Die Niederschlagung des NS-Regimes und die Niederlage im Zweiten Weltkrieg brachten einen Zusammenbruch der Sinnsysteme mit sich, wobei die sogenannte Stunde Null auf der Ebene der sozialen Strukturen umstritten bleibt. Mehrmals wurde die „bruchlose Kontinuität“ des deutschen Filmschaffens von den Dreißigern bis in die fünfziger Jahre hinein beklagt: Nach Peter Pleyer waren „nahezu alle Regisseure, Autoren, Schauspieler, Kameramänner und Techniker mehr oder minder aktive Mitglieder der NSDAP“ (1965, S. 29; siehe dazu auch Pabst 2012). Nichtsdestotrotz standen die Filmemacher*innen vor der schwierigen Aufgabe, mit oder ohne Hilfe bestehender Darstellungsstrategien eine radikal veränderte soziale Wirklichkeit erstmals sinnhaft zu erfassen. Anzumerken ist, dass das Kino in der Nachkriegszeit nicht nur zugänglich und beliebt war, sondern zu den ersten Medien gehörte, die auf diese soziale Desorientierung reagierten: „Die Filme der Deutschen nach dem Krieg sind die kollektiven Tagträume eines Volkes nach einer totalen Entäußerung und Selbst-Entäußerung; wenn von ihnen die Rede ist, muß auch von jenem seelischen Vakuum gesprochen werden, das sie notdürftig ausfüllen
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sollten.“ (Kreimeier 1989, S. 8, Hervorhebung im Original) Der Film Die Mörder sind unter uns bestand diese Prüfung eines neuen Beginns – Mückenberger liest beispielsweise Die Mörder sind unter uns als Traditionsbruch zum Ufa-Stil der Nazi-Zeit (Mückenberger 2001, S. 14; Moller 2010; Groß 2015) –, einer neuen moralischen Orientierung (Shandley 2010, S. 47). Dabei konnte Staudte auf keine Tradition der Darstellung des Zweiten Weltkrieges zurückblicken. Ebenso existierte noch kein gesellschaftlicher Konsens über die junge Vergangenheit. Sein Film widmete sich als erster den Fragen der Vergangenheitsdeutung und -darstellung und erscheint als einer der ersten gelungenen Versuche, Erinnerungen eines Kollektivs zu gestalten und diesen eine sinnhafte Form zu geben, die zugleich aktuelle Bedürfnisse der Gesellschaft bedient. Aufgrund seiner erfolgreichen Umsetzung wurde der Film programmatisch für die sinnstiftenden Prozesse des Kinos der Nachkriegszeit. Viele der später in westlichen Besatzungszonen entstandenen Trümmerfilme wie z. B. Zwischen gestern und morgen (1947, R. Harald Braun) und In jenen Tagen (1947, R. Helmut Käutner) werden innerhalb dieser Darstellungsart variieren. In dieser Studie gehört Die Mörder sind unter uns zu der eher weniger populären „Narration von unten“, die das psychologische Trauma in eine Darstellungsform der Historie überführt. Charakteristisch sind für diese Form die fragmentarische Rekonstruktion eines traumatischen Ereignisses aus der Nachkriegszeit heraus, der Subjektivierungsprozess von „unten“, also aus der Perspektive eines historisch unbedeutenden Individuums in Form von Erinnerungen, sowie die Medialität dieser Erinnerungen (vgl. Kapitel „Narration von unten“). Aufgrund dieser Eigenschaften erscheint der Film nicht als typische DEFA-Produktion (vgl. z. B. Zahlmann 2001, S. 38) – auch nicht im Rückblick –, deren Ästhetik natürlich noch nicht existierte und erst noch entwickelt werden musste. In den folgenden Jahren wurden in der DDR nur wenige Filme gedreht, die jener ‚traumatisierenden‘ Erzählweise folgten. Stattdessen wurde die Strategie der Verschachtelung von Erinnerungen entwickelt, die das Trauma auf andere Weise und mit anderen Implikationen markierte, zum Beispiel in Chronik eines Mordes (DDR 1965, R. Joachim Hasler) und Die Bilder des Zeugen Schattmann (DDR 1971/1972, R. Kurt Jung-Alsen) (dazu mehr im Kapitel „Narration von unten“, Bd. 2).
3.2.3 Transformation des Traumas in eine Geschichtsfigur: Die Mörder sind unter uns Die Leistung des Films Die Mörder sind unter uns von Wolfgang Staudte liegt in der Funktionalisierung des Traumas (Backstory Wound) für die Darstellung der Geschichte (siehe dazu Pinkert 2008, S. 27– 42), die offensichtlich erfolgreich war und 155
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so die Psychoanalyse zum ersten Mal in einen kulturellen Bereich übertrug, der zuvor nicht mit der individuellen Psyche assoziiert worden war: die Geschichtsdeutung. Mithilfe des Protagonisten, des Militärarztes Hans Mertens (Ernst Wolfgang Borchert), wird der Krieg als individuelles Trauma in Szene gesetzt, dessen Visualisierung zugleich seine Therapie bedeutet. Ähnlich wie bei Freud soll die ‚Urszene‘ rekonstruiert werden, um ihre traumatische Wirkung zu lindern oder gar zu heilen. Der Film transformiert dabei militante Männlichkeit durch die Suspension der väterlichen Autorität und durch die Integration des Männlichen über eine Frauenfigur zurück ins Bürgerliche, wodurch das männliche Subjekt in einen privaten Bereich verwiesen wird. Im Laufe der Handlung verleiht der Film zudem den bürgerlichen Ritualen wieder Sinn und gibt der Gesellschaft somit Hoffnung auf Erneuerung, was auch die Vision einer Wiedergeburt Deutschlands durch das Weihnachtsfest am Ende des Films andeutet. Mertens’ ehemaliger Vorgesetzter im Krieg, Hauptmann Ferdinand Brückner (Arno Paulsen), der 1942 in Polen die Erschießung einer Menschengruppe angeordnet hat, wird am Ende der Handlung hinter Gitter gebracht. An die Stelle des symbolischen Vaters tritt die ehemalige KZ-Inhaftierte Susanne Wallner (Hildegard Knef), die zudem in Verbindung mit einer anderen Vaterfigur steht – dem Juden Mondschein (Robert Forsch). Mithilfe der Frauenfiguren wird in der Regel die männliche Psyche zum Ausdruck gebracht, welche dadurch zugleich in einer neuen demilitanten privaten Ordnung verortet wird. Durch diese Figurenkonstellationen wird nicht nur ein filmischer Konflikt gestaltet, mit ihnen wird nicht nur eine spannende Geschichte über die Beziehungen der Nachkriegszeit erzählt, vielmehr werden die Figuren zugleich aufgrund des Fehlens individueller Züge zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen Deutschlands typisiert, die einer Täter-Opfer-Semantik zugeordnet sind. Die Handlung erfährt auf diese Weise eine symbolische Aufladung: Mertens repräsentiert das Kleinbürgertum, das zugleich die Täter und die Kriegsheimkehrer inkludiert, wobei die Figur des Arztes eine Strategie anbietet, diese positiv zu codieren. Der Arzt heilt auch im Krieg: Er steht zwar auf der Seite der Täter, nimmt jedoch nicht an Kriegshandlungen teil. Er hat sich dem Befehl des Vorgesetzten nicht widersetzt, die Geisel aber auch nicht erschossen. Ihm wird zudem die Entscheidungsmacht in der Armee genommen. Brückner präsentiert hingegen sowohl die Täter als auch das Großbürgertum. Diese Figur ist die eigentliche treibende Kraft des Vernichtungskrieges. Die bereits seit den 1930er Jahren verbreitete Dimitroff-These über den Faschismus als Zuspitzung des Kapitalismus wird hier gekonnt inszeniert, ohne jedoch den Sozialismus zu legitimieren – ein Vorgehen, das später häufig zum Einsatz kommt (Dimitroff 1976,
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S. 321–325).58 Hier geht es erst um eine Erfassung möglicher sozialer Bedingungen, welche die Macht und den Einfluss des Nationalsozialismus mitbegründeten. Dazu gehörte auch die Unterstützung Hitlers durch die Großkapitalisten. Susanne Wallner und Mondschein repräsentieren die Opfer. Wallner wurde wegen ihres Vaters verhaftet, was die Deutung zulässt, dass ihr Vater entweder ein Kommunist und/oder ein Widerstandskämpfer war. Mondschein steht mit seinem Namen für die Gruppierung der Juden. Die Hauptfiguren betonen ihm gegenüber im Film an zwei Stellen, es sei ein Wunder, dass er noch lebe. Sein Sohn ist möglicherweise erfolgreich geflohen, wobei die seit 1942 ausbleibenden Nachrichten bis zum Ende des Krieges durchaus auf eine Inhaftierung im KZ oder eine Aktivität im Untergrund hinweisen. Die Frau mit dem kranken Kind, die bei Mertens Hilfe findet, fungiert als Allegorie Deutschlands, eine Art Heimatfigur. Ihr krankes Kind verkörpert die fragile Zukunft. Da es ein Mädchen ist, erteilt der Film dem Militarismus auch durch das Geschlecht des Kindes eine Absage. Indem Mertens entscheidet, seinen ehemaligen Vorgesetzten Brückner wegen des Massakers in Polen nicht umzubringen, sondern dem Kind das Leben zu retten, richtet der Film einen deutlichen Appell an die Heimkehrer, ihre Zivilberufe wieder aufzunehmen und sich am Wiederaufbau zu beteiligen. Die beiden Vaterfiguren, Brückner und Mondschein, repräsentieren zwei Ordnungen, die im Film jedoch jeweils als nicht mehr möglich ausgestellt werden. Mondschein stellt die Vorkriegsordnung dar, die aufgrund der Judenverfolgung und -ermordung unwiderruflich zerstört wurde. Zudem stirbt Mondschein bald. Brückner steht für die Täter, die der Film zur Verantwortung zieht und deren Herrschaft eine dezidierte Absage erteilt wird: Sie müssen für ihre Taten büßen. Bereits der Titel des Films fungiert als Selbstanklage: Die Mörder unter uns müssen identifiziert und isoliert werden. Einen Neuanfang können Söhne und Töchter schaffen, wenn sie die antimilitaristische Ordnung der Arbeit und der Buße etablieren, die aber durchaus einer bürgerlichen Orientierung unterliegt: Sie essen von Porzellangeschirr, feiern Weihnachten, besuchen eine Kirche und tragen Anzüge. Mitten in der Zerstörung zeichnet sich im Film eine Sehnsucht nach Normalität ab. Religiöse und bürgerliche Symbole und Rituale dienen als Bewältigungsstrategie, die dem Trauma von Mertens Widerstand leistet, indem visuell eine gewisse Normalität suggeriert wird. Die Liebesgeschichte zwischen Wallner und Mertens ist dabei als eine Versöhnung der Bevölkerungsgruppen zu verstehen, die der Zivilist*innen und der Wehrmacht, der Opfer und Täter, derjenigen, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten, 58 In der sowjetischen Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von Friedrich Wolf, Professor Mamlock [Профессор Мамлок] (UdSSR 1938, R. Adolf Minkin/Gerbert Rappaport), wird bereits Ende der 1930er Jahre die Dimitroff-These geäußert. 157
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und denen, die das NS-Regime aktiv unterstützten. In einer der Szenen verbeugt sich Mertens vor Wallner, das heißt der reuende Heimkehrer vor dem ehemaligen KZ-Häftling, sodass auch visuell Abbitte bei den Opfern geleistet wird (Abb. 2). Die Typisierung der Figuren situiert sie sinnhaft an der Schnittstelle zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven: Es geht um die Normalisierung im Privaten und zugleich im Sozialen.
Abb. 2 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte)
Der Film codiert nicht nur die Figuren doppelt, sondern verdichtet auch Räume zu polysemen Zeichenträgern. Diese können zugleich als Orte der Handlung – schließlich muss sich das Geschehen irgendwo abspielen –, als kulturelle Räume, welche die Nachkriegssituation vorführen, und als psychische Räume, welche die inneren Zustände des Subjektes diagnostizieren, verstanden werden. Die filmische Raumdisposition verwandelt die Ruinen in eine Seelenlandschaft der Hauptfigur – was schon die Zeitgenoss*innen erkannt haben (Friedler 1991, S. 176) –, in der die Erinnerungen an den Krieg verhandelt werden: Abbild ist zugleich Sinnbild (Mückenberger 2001, S. 14). Auch nach Ivo Ritzer besitzt „die Mise-en-scène von Figuren zwischen Innenräumen und Außenräumen“ eine „besondere Signifikanz“ (Ritzer 2017, S. 753, Hervorhebung im Original), da sie Grenzüberschreitung und Zustandsänderung zum Ausdruck bringt. Diese multifunktionale Raumverdichtung
3.2 Das Trauma als Erinnerungsmodell: Der Fall BRD
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(dazu Ott 2009) ist dank der Montage möglich, die in der alternierenden Bewegung von Figuren- und Raumbildern die Auflösung der Grenzen zwischen dem Innen und Außen, ja semantische Zusammenhänge zwischen ihnen produziert. Eine solche Montage versieht Räume (aber auch verschiedene Gegenstände) mit einem neuen Sinn, ohne jedoch zeit- und sozialspezifische Kontexte zu löschen. Die Hierarchisierung der Räume fungiert als Zeit- und Subjektdiagnose und zugleich als Wunscherfüllung: Die halbzerstörte, von Mertens besetzte Wohnung Wallners ist ein realhistorisches Bild Berlins nach der Kapitulation (zerstörte Stadt, Vertriebene, Heimatlose usw.) und zugleich ein symbolisches Bild für die Deplatzierung oder gar die Heimatlosigkeit der Nachkriegssubjekte. Ihre soziale Lage ist erst unklar, wie auch die Form der Gesellschaft, die es jetzt aufzubauen gilt. Zuvor besucht Mertens ein Kabarett, das – dem Zuhause entgegengesetzt – als ein negativer Ort codiert wird, durch den seine moralische Degradierung und somit die der ganzen Gesellschaft signalisiert wird. Wiederholt wird ein Blick unter den Rock der Tänzerinnen geworfen – ein Zeichen des Verfalls, der symptomatisch eine Aussage über den Status des Weiblichen trifft und so die Angst vor weiblicher Emanzipation in der Nachkriegszeit artikuliert. Zugleich ist es auch eine filmreflexive Absage an den Revuefilm, der vom NS-Regime besonders gefeiert wurde (vgl. Wedel 2007). Daher fühlt sich Brückner im Kabarett wohl, das nach dem Krieg vor allem als Ort des soldatischen Exzesses gezeigt wird. Als die Hauptfiguren (Mertens und Wallner) zusammenkommen und ihre Wohnung aufräumen, wird die Normalität als friedliches Zusammenleben propagiert. In dem Moment, in dem sie zueinander finden, werden erste Ruinen in der Stadt geräumt. Bei ihrer Annäherung gehen die Figuren auf die Kamera59 zu, bis die Ruinen hinter ihnen ganz aus dem Bild verschwunden sind. Auch Zwischenräume spielen eine große Rolle. So ergeben sich wichtige Informationen über die Vergangenheit und über die Gefühle der Figuren, wenn im Treppenhaus das Getuschel der Nachbar*innen zu vernehmen ist. In diesem Kontext diagnostiziert Staudte die Nachkriegsatmosphäre als denunziatorisch. Zugleich verhilft diese Information den Zuschauenden dazu, den Film zu verstehen, sie hat also eine wichtige Funktion bei der Beschreibung der Figuren in Hinsicht auf ihr Inneres und ihre Vergangenheit. Auf diese Weise wird das Treppenhaus als öffentlicher Bereich zugleich zum Ort des Unbewussten, was die expressionistische und
59 Diese Szene ist neben der Schlussszene des Films ein weiterer beliebter Untersuchungsgegenstand (Shandley 2010, S. 61–63; Moller 2010, S. 119; Groß 2015, S. 437–441). Groß setzt sich darüber hinaus ausführlich mit der US-amerikanischen Forschung zu diesem Film auseinander. 159
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an den Film noir erinnernde Ästhetik (dazu auch Mückenberger 1994, S. 27–29) dieser Szenen nur noch verstärkt (Abb. 3).60
Abb. 3 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte)
Zu einer zentralen Bildmetapher des Films werden die Fenster, die gerade die Schnittstelle des Äußeren und Inneren, Privaten und Öffentlichen, Individuellen und Kollektiven versinnbildlichen und zugleich auf das Kino an sich verweisen: Das Kino als Fenster zur Welt (dazu auch Ritzer 2017, S. 753–759, 760–858). Die Fenster erscheinen bei Staudte in Analogie zu den Räumen ebenfalls als polyseme Zeichen. Die Fenster werden dafür insgesamt siebzehn Mal, also häufiger als die Ruinen der Stadt, eingeblendet. Diese Wiederholung zeigt die Entwicklung der Figuren und die Differenzen zwischen ihnen und folgt dem Prinzip der Analogie.
60 Ein anderer Zugang bestünde darin, den Film mit Gilles Deleuze als eine Folge von Affektbildern zu analysieren, die den Fluss der Bewegungsbilder immer wieder stillstellen. Am Ende werden die expressionistische Darstellungsweise und die entfesselte, bedrohliche Potenzialität der Sinnräume (nach Deleuze beliebige Räume) durch die Festlegung der realistischen Darstellung und das Licht überwunden. Somit versucht der Film, eine Eindeutigkeit im kulturellen Gedächtnis herzustellen. Vgl. auch die Studie von Bernhard Groß, der in Anlehnung an Gilles Deleuze Trümmerfilme als Manifestation zweier ineinander verschachtelter Zeitebenen beschreibt (Groß 2015).
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Wichtig sind Kategorien der Intaktheit, der Sauberkeit und der Beleuchtung als Codierung einer positiven Entwicklung, wobei auch hier semantische Flexibilität zu finden ist. Das Fenster von Mondschein stellt seine innere Reinheit und Klarheit dar. Es signalisiert aber auch die Trauer um den verschollenen Sohn wie auch um die zerstörte Vorkriegsordnung, indem durch das Fenster mal Regen, mal Schnee gezeigt wird (Abb. 4). Der Winter weist auf das Ende und den Tod hin. Das intakte Fenster Brückners erscheint hingegen als abgrenzend vom kollektiven Leid: Brückner selbst sieht gar nicht hinaus (Abb. 5). Außerdem scheinen die Herrschaftseliten nicht vom Krieg betroffen zu sein. Das Fenster signalisiert seinen luxuriösen Lebensstandard inmitten der Armut und Not der Bevölkerung. Das Fenster von Wallner und Mertens diagnostiziert ihr Zusammenkommen und ihre positive Entwicklung: Vom dunklen Außen und kaputten Glasscheiben bei ihrer Bekanntschaft bis hin zur Beleuchtung und ‚Verglasung‘ des Fensters mit Röntgenbildern am Ende der Handlung (Abb. 6–7). Die Röntgenbilder symbolisieren eine innere Transparenz der kollektiven und der individuellen Subjekte und stellen den Film selbst als eine neue Wissenschaft über das Kollektive aus. Die Bilder verweisen filmhistorisch auf das Medium Film und definieren zugleich seine Aufgabe, das Kollektive zugunsten ihrer sozialen ‚Gesundheit‘ zu überwachen und zu beleuchten, was Staudte auch tut: Der Film beleuchtet die Vergangenheit des Protagonisten und fungiert als Röntgenbild seines Inneren.
Abb. 4 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) 161
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Abb. 5–6 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte)
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Abb. 7 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte)
Der Film bemüht sich insbesondere darum, die Vergangenheit in die Gegenwart zu integrieren, wobei es ihm hauptsächlich um den Status der Kriegsheimkehrer geht. Die NS-Ideologie und ihr militantes Subjekt sollen als verbrecherisch verworfen werden. Die Opfertraumata behandelt Staudte eher am Rande, was im Rahmen späterer Auseinandersetzungen mit dem Film immer wieder kritisiert wurde (z. B. Shandley 2010, S. 73; Bruns et al. 2012a). Interessant erscheint dabei die Tatsache, dass die Zeitgenoss*innen die Figur Wallner nicht als marginalisiert wahrnehmen. Sie wird neben Mertens und Brückner in den Rezensionen immer als Hauptfigur besprochen. Wallner erscheint aus heutiger Sicht jedoch als eine auratische und eindimensionale Figur, deren Vergangenheit komplett ausgeblendet wird. Kritisch zu sehen ist auch die passive Haltung der Opfer, während das männliche Täter-Subjekt unabhängig handelt. Mondschein wartet auf seinen Sohn, Susanne hingegen auf Mertens, der seine durch die Traumatisierung entstandenen seelischen Schmerzen mit Alkohol betäubt. Hier werden bestimmte bürgerliche Ideale über Weiblichkeit – die Frau als Hausfrau und treue Geliebte – propagiert, wobei die Allegorisierungsstrategien, welche in einer bildlichen Assoziation mit aktuellen Bilden von aufräumenden Frauen hergestellt werden, eine Lesart zulassen, sie als aktive Trümmerfrau zu deuten (dazu Kapczynski 2008, S. 96–97). So räumt Susanne letztendlich auch die gemeinsame Wohnung auf. Die Judenermordung nimmt im Film jedoch mehr Raum ein als das Thema der politischen KZ-Insass*innen. Das 163
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Massaker in Polen, das zum Höhepunkt des Films gezeigt wird, fungiert als Metapher für alle Verbrechen des Nationalsozialismus: Kurz vor der Rekonstruktion der Hinrichtung in Polen wird eine Zeitung gezeigt, die auf Brückners Tisch liegt und auf der er achtlos sein Essen abgestellt hat – die Schlagzeilen berichten von über zwei Millionen vergasten Menschen. Um die Vergangenheit in die Gegenwart zu integrieren und die Transformation des männlichen Subjektes in Gang zu setzen, benutzt der Film die aus der Psychoanalyse übernommene Vorstellung des Traumas. Das Trauma gewinnt als ein Backstory Wound im Film nicht nur an dramaturgischem Wert, den Michaela Krützen hervorgehoben hat (Krützen 2004, S. 30–41), indem es die Narration als eine fragmentarische Wiederkehr des Verdrängten gestaltet und bei der Wahrheitsaufdeckung ähnlich wie im Kriminalfilm Spannung erzeugt, sondern es fungiert auch als ein Übersetzungsprozess, der die Vergangenheit überhaupt erst ins individuelle Symptom umwandelt und sie nicht als Abbild oder Fakt in der Gegenwart darstellt. Die Vergangenheit erscheint als eine Konstruktion, deren Gestalt bereits die kritische Reflexion, die Haltung, die in der Gegenwart dazu eingenommen wird, mit einbezieht: Der Film klagt die Wehrmacht dezidiert an. Die Erinnerungen der Personen sind dabei an verschiedene Medien gebunden bzw. werden durch sie erst ermöglicht, was für die „Narration von unten“ typisch ist und was eine medienspezifische Transformation des Traumas bedingt. Seine Aufarbeitung folgt der medienhistorischen Entwicklung von der Schrift und der gesprochenen Sprache über den Ton bis hin zum Visuellen der Fotografie und des Films. Letzteres zeigt der Film als das aktuell geeignete Medium des Seelischen. Die Vergangenheit wird dabei zunächst über die Notizen aus dem Tagebuch Mertens’ – das seit der Aufklärung traditionelle Genre der inneren Welt des Subjektes – aufgerufen. Während Susanne die traumatischen Ereignisse jedoch allein aus dem Tagebuch herauslesen muss, kann der Film sie für alle sichtbar und im übergreifenden Zusammenhang in Szene setzen. Das Trauma kehrt durch den Brief zurück, der durch den Wind durch das offene Fenster, hereinweht (Die frische Luft von außen kann hier als Erneuerung gelesen werden) und mitten ins Zimmer fällt. Der Brief ist eines der prominentesten Speichermedien für Zeitzeugnisse und private Geheimnisse. Jedoch steht kein relevanter Sachverhalt in diesem Brief. Mertens hat den Abschiedsbrief Brückners, welcher sich im Angesicht des nahenden Todes nicht zur Wahrheit bekannte, nicht an dessen Ehefrau ausgehändigt. Mit dem Brief, der zum Symptom wird, werden im Film alle Vorstellungen vom Trauma aufgerufen: Er löst nicht artikulierbare Gefühle aus, er verweist auf etwas, was Brückner und Mertens nicht aussprechen. Ist die Schrift nicht imstande, den Grund des Traumas zu benennen, so wird das Versagen des Symbolischen am Körper sichtbar: Mertens hat einen epileptischen
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und hysterischen Anfall, Krämpfe und Sprachstörungen und zeigt unmotivierte Aggression – Symptome, die der Film mit der Übergabe des Briefes an den Adressaten (Brückner) verbindet. Hysterie ist bekanntlich ein Krankheitsbild der dissoziativen Erinnerungen, die allein als Körpersymptome sichtbar in Erscheinung treten (Freud 1999a, S. 84–85). Das Trauma erzeugt eine Bewusstseinsspaltung, die durch den hysterischen Anfall zum Ausdruck gebracht wird. Hysterie ist also eine Gedächtniskrankheit. Ist nach Freud und Breuer Hysterie Ausdruck einer Erinnerung, die nicht mehr bewusst ist, so verwendet Staudte den Begriff für die Beschreibung einer Erinnerung, die in eine bürgerliche Gesellschaft nicht integriert werden kann. Dieses Bild verweiblicht die Hauptfigur durch die als weiblich codierte Hysterie und versieht sie mit einem Mangel. Das Traumatische, so macht Staudte deutlich, besteht gerade darin, dass die Verbrecher den Krieg glücklich überlebt haben und auch in der Nachkriegszeit ein bereits schön arrangiertes Leben führen. So leitet Hauptmann Brückner jetzt eine kleine Fabrik. Weiterhin thematisiert der Film die Medien des Bildes und des Tons. Mertens Gesicht wird in dem Moment, in dem er (Mertens) Brückner besucht und von diesem die eigene Waffe zurückerhält – welche er ihm überlassen hatte, damit Brückner sich selbst erschießen könne – in einer statischen Großaufnahme als eine Art Foto gezeigt, während der Ton seine Erlebnisse zusammenfasst (Abb. 8): Zu hören sind Geräuschfetzen
Abb. 8 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) 165
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von Soldatenmärschen, die Ankündigungsmusik der Deutschen Wochenschau, das Lied Lili Marleen, Bombenalarm, Explosionen und der Schrei einer Frau. Die Waffe ist somit zugleich eine Wiederermächtigung des militanten Subjektes. So entscheidet Mertens, Brückner umzubringen, wobei er dieses Vorhaben niemals umsetzen wird. Beim ersten Versuch stört ihn dabei eine Mutter, die nach einem Arzt für ihr krankes Kind sucht. Beim zweiten Versuch beugt Susanne dem Verbrechen vor. Während der Brief indirekt auf das Ereignis verweist, dieses jedoch nicht erklärt und sich das Schreckliche am Körper nur duch Symtome artikuliert, fasst der Ton affektiv den dramatischen Kriegsverlauf zusammen – von der soldatischen Euphorie bis hin zur Vernichtung. Der Ton ist dem Historischen näher, jedoch ist der Krieg noch nicht visualisiert, die Ursachen des Traumas bleiben noch ungeklärt. Der Ton drückt Affekte aus, erklärt jedoch nicht ihren Ursprung. Das Trauma wird als Bruch mit dem Continuity editing in einer Einfrierung der Handlung zur Fotografie, die sich in einer Großaufnahme des Gesichts Mertens’ zeigt, und als Auseinanderfallen der verschiedenen Medien im Film – Sprache, Schrift, Fotografie und Ton – in Szene gesetzt wird. Diese Inszenierungsart des Traumas wird auch außerhalb Deutschlands populär und lässt sich beispielsweise in sowjetischen und US-amerikanischen Filmen finden, beispielsweise in Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk), Die Passagierin [Pasażerka] (P 1963, R. Andrzey Munk/Witold Lesiewicz), Johny got his gun (USA 1971, R. Dalton Trumbo) oder Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя своё] (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov). Erst am Ende rekonstruiert der Film das Trauma Mertens’ vollständig, indem Tagebuch und Film parallelisiert werden bzw. der Film das Tagebuch als tradiertes Medium der bürgerlichen Innerlichkeit ersetzt. Das Visuelle vereinigt alle Medien in einer sinnhaften Szene, die zugleich die Erinnerungen Mertens’ und die Vorstellungen Wallners – genuin imaginative innere Prozesse – darstellt. Er konnte die Erschießung der Zivilist*innen in Polen an Weihnachten nicht verhindern, die Susanne vor sich sieht, als ob sie dabei gewesen wäre. Gerade an dieser Stelle wird der Film selbstreflexiv, indem er sich zum einen anderer Medien bedient und diese reflektiert: Sie können lügen oder die Adressat*innen verfehlen oder sie kommen zu spät oder erreichen ihre Adressat*innen gar nicht mehr, wie es bei dem Brief der Fall war. Den Abschiedsbrief hätte die Familie Brückner nie bekommen, wenn Wallner ihn nicht zufällig gefunden hätte. Allerdings ist Brückner am Leben. Auch der Bote, der die Nachrichten vom Sohn Mondscheins überbringt, kommt zu spät: Der alte Vater ist bereits tot. Der Film ist zum anderen gerade das Medium, das die Vergangenheit in ihrer ‚Vollständigkeit‘ reflektieren kann, weil es in der Lage ist, diese aus der Perspektive beider Figuren, in diesem Falle Brückner und Mertens, zu rekonstruieren, sie ‚vollständig‘ an eine
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andere Figur zu übertragen (Wallner und somit die Zuschauer*innen) und sie einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Zusätzlich zur selbstreflexiven Auseinandersetzung mit verschiedenen Vergangenheitsnarrativen und künftigen Versionen thematisiert der Film auch den Blick: Brückner verkörpert das militaristische und danach das kapitalistische NS-Wissensparadigma, Mondschein das bürgerliche Vorkriegsparadigma und der Wahrsager Bartholomäus (Albert Johannes) ein visionäres, nicht etabliertes Wissensparadigma – eine Art von Nicht-Wissen –, das gerade die Krise der beiden Erstgenannten signalisiert. Diese Figuren tragen allesamt eine Brille, die den Blick einzuengen und zu verzerren scheint. Alle drei Konzepte werden im Film verworfen: Die Vorkriegsordnung ist unwiderruflich zerstört. Der NS-Militarismus schirmt sich mit der Brille vom Leiden der Anderen ab, wie es Brückner tut. Mertens und Susanne tragen keine Brille – der Film steht für einen klaren, realistischen Blick und kritische Selbsteinschätzung. Er tritt dabei auch selbst an die Stelle des Wahrsagers, der auf das Dispositiv Kino referiert (ein dunkles Zimmer, Visionen, Wunscherfüllung) und die Hoffnung des alten Mondscheins initiiert, sein Sohn möge noch am Leben sein. Ebenso endet der Film mit einem hoffnungsvollen Sieg über die Schatten der Vergangenheit, doch im Gegensatz zum Wahrsager, dessen Prophezeiung erst eintritt, als Mondschein bereits gestorben ist, kommt das Tagebuch wie der Film selbst zur rechten Zeit. Wallner kann Mertens noch von dem Mord abhalten. Der Film bändigt die Kriegsgewalt in der Gegenwart durch die Gestaltung seiner Räume, indem er die Aktion allein der Vergangenheit zugesteht, während sie in der Nachkriegszeit durch das Affektbild und das heißt durch den gelähmten männlichen Körper gehemmt wird (Abb. 8). Die Bewegungen sind in der Gegenwart des Films auf einen begrenzten Raum festgelegt, der dem handelnden Subjekt Schranken setzt. Der Arzt wird sofort in einen geschlossenen Raum überführt, sobald er sich entscheidet, den Hauptmann umzubringen: Er muss in einer dunklen Wohnung ein Kind retten. Der Krieg hingegen bedeutet eine als bedrohlich erfahrene Dynamisierung und Entgrenzung des Raums, wie die Ruinen im Film verdeutlichen. Der Krieg löst den bürgerlichen (gekerbten) Raum auf (auch Deleuz/Guattari 1992, S. 658–693). Auch als sich Mertens an den Krieg erinnert, ist sein Körper nicht mehr zu sehen und das Gesicht verliert an Kontur. Die Überführung der Figuren ins Innere des Raums dient wiederum der Verräumlichung der Psyche, aber auch der Bändigung von Macht- und Rachefantasien der Figuren und der Verwerfung der NS-Expansionsideologie.
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3.2.4 Funktionen des Traumas: Vom Täter- zum Opferdiskurs Wolfgang Staudte verwendet also das im Kino bereits etablierte psychoanalytische Modell für die Darstellung der Vergangenheit und verleiht somit dem Trauma eine politische und gesellschaftskritische Funktion. Eine solche kausal-logische Verbindung zwischen einem ausgewählten Ereignis in der Vergangenheit und der Gegenwart ist nur als eine künstlerische Konstruktion möglich. Das Trauma verkündet die Macht der Vergangenheit über die Gegenwart (vgl. Assmann, A. 2002, S. 36) und ermöglicht es somit, die Vergangenheit als Bestandteil der Gegenwart zu inszenieren. Durch das Trauma pathologisiert der Film dabei das NS-Regime mittels medizinischer Begriffe, um den Nationalsozialismus auch auf diese Weise zu kritisieren und zu diskreditieren. So kann die Vergangenheit weder vergessen noch verarbeitet werden, bis sich die Gesellschaft der Therapie stellt: „The film portrays an ailing nation that must heal itself through the recuperation of its citizens and the systematic extirpation of former Nazis.“ (Kapczynski 2008, S. 86) Staudte hebt dadurch die Wichtigkeit der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit in der Gegenwart hervor, um die Nachkriegsgesellschaft in Abgrenzung davon aufzubauen. Bevor eine allumfassende wissenschaftliche Analyse und Einschätzung des Geschehens vorgelegt wurde, bevor sich kritische Deutungen in der Öffentlichkeit durchgesetzt hatten,61 verurteilte der Film von Wolfgang Staudte die NS-Vergangenheit, ja stellte diese als Verbrechen aus, das in die Gesellschaft auf keinen Fall zu integrieren sei. Im Jahr 1945 ist dabei der verbrecherische Maßstab des NS-Regimes noch nicht gänzlich erfasst. Auf der Tagesordnung stehen vor allem die Demilitarisierung und Reintegration der Kriegsheimkehrer und der Überlebenden der NS-Verfolgung und Vernichtung (auch Reichel 2001). Staudte sieht hier die Notwendigkeit einer Verknüpfung beider Aufgabenbereiche: Sollte Deutschland wieder ein Staat werden, dann müsse sich dies in der Abgrenzung vom verbrecherischen Regime vollziehen. Die fragmentarische, selektive Struktur des Trauma-Narrativs dient daher gerade nicht der ‚Verdrängung‘ der NS-Verbrechen, sondern der Auslassung aller positiven Konnotationen,62 die mit der Zeit des NS-Regimes und den anfänglichen Erfolgen der Wehrmacht – nicht zuletzt infolge der NS-Propaganda – assoziiert wurden und welche zur Relativierung der Verbrechen beitragen konn61 Die Kritik am Nationalsozialismus und die Idee der Kollektivschuld werden bereits 1945/46 während der Nürnberger Prozesse durch Karl Jaspers formuliert, allerdings soll sie erst ausgehandelt und vor allem in der Bevölkerung verbreitet werden (siehe Jaspers 1987, S. 75). 62 Der Film ist aufgrund der Nicht-Negativität und Nicht-Hypothetizität seiner Bilder nicht dazu in der Lage, etwas zu ‚verdrängen‘, ohne es gleichzeitig auch zu zeigen (Heßler/ Mersch 2009, S. 21–24).
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ten.63 Die inkommensurablen Elemente waren zu dieser Zeit nicht die Verbrechen des NS-Regimes – diese werden zeitgleich in den Nürnberger Prozessen angeklagt und in Filmtheatern landesweit mit Dokumentationen vorgeführt. Auch in Die Mörder sind unter uns werden die Verbrechen geradezu hervorgehoben und inszeniert, jede positive Deutung der NS-Zeit jedoch ausgelassen. Der Film von Wolfgang Staudte analysiert dabei das NS-Subjekt, dem Vernichtungsideologie und Verbrechen zugrunde liegen, welche dann in der Gegenwart bestraft und unterbunden werden. Er unternimmt in diesem Zusammenhang eine Redefinition der bürgerlichen Identität, wenn etwa ein Kriegserlebnis zur ‚Urszene‘ männlicher Identität wird. Nun fungiert das Massaker in Polen als ein psychologisch-biografisches Ereignis, auf dem die Subjektivität des Protagonisten beruht. Der Film bricht hier mit den etablierten individualisierten biographischen Narrativen, die besonders im Falle des Traumas im Film davor verbreitet waren und die einen Bezug zur Kindheit herstellen. Ein historisches Subjekt zu sein bedeutet, seine Selbstvergewisserung aus einem kollektiven Ereignis heraus abzuleiten, wofür es jedoch seine individuelle Verantwortung trägt. Dank der psychoanalytischen Struktur des Films wird die kollektive ‚Urszene‘ als Bestandteil des Subjektes vorgeführt. Sie ist in seinem Gedächtnis verborgen und ‚drängt‘ danach, aufgeklärt zu werden. Weiterhin vollzieht der Film performativ die Abkoppelung dieses Subjektes von der militaristischen Autoritätsstruktur (Brückner) als eine Art der Verwerfung vom Über-Ich. Dazu gehören verwüstete Landschaften, zerstörte Häuser und kaputte Fenster, welche die Folgen des Militarismus vor Augen führen. Das Trauma-Konzept zielt somit auf die Veränderung von Subjektstrukturen. In den Worten von Peter Pewas gilt es, jenen „ideologische[n] Unterbau“ mit „neuen und starken Ideen umzubrechen, […] um den deutschen Dünkel, den Untertanengeist, den Militarismus auszulöschen!“ (Pewas 1981, S. 62; vgl. dazu auch Brandlmeier 1993, S. 144–150) Die Verbindung zwischen dem Individuum und dem Kollektiv über das Trauma ist jedoch eine andere als eine allegorische Verwandlung, welche Filmfiguren an der Macht der Geschichte und der Nation anknüpft (dazu mehr im Kapitel Allegorien). Das Kino wird vor allem als Raum der Allmachtfantasien definiert (Lehmann 1990; Wahlert 1990), die besonders im Kriegsfilm durch die Macht des Kollektivs legitimiert und so ausgelebt werden können. Im Gegensatz zu Allegorien, denen Traditionsbezüge zugrunde liegen, fragmentiert und depotenziert das Trauma Subjekte – sie werden von der Macht der Traditionen abgekoppelt und so tenden63 Laut Peter Reichel wurde das Scheitern in der flächendeckenden Verurteilung der NS-Täter auch dadurch bedingt, dass das NS-Regime „in hohem Maße auf ‚volksgemeinschaftlicher‘ Massenloyalität und Massenfaszination“ gründete (Reichel 2001, S. 37). 169
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ziell deallegorisiert. Die Hauptfigur wird durch das Trauma mit dem Kollektiven verbunden und zugleich durch ihre Struktur entmächtigt. Der Film von Wolfang Staudte evoziert dadurch Jouissance, indem die Schaulust in die Unmöglichkeit des Genießens im Krieg umgedreht wird und die Subjekte von der Staatsmacht abgekoppelt werden (Bohrer 2001).64 Aus diesem Grund war das Trauma als Erinnerungs- und Identitätsfigur in der UdSSR nicht denkbar, wo der Sieg im Zweiten Weltkrieg in die Tradition der Oktoberrevolution gestellt wurde, um so Kontinuität und Legitimation für den Sozialismus zu erschaffen. Der Film von Wolfgang Staudte vollzieht also performativ eine Entmachtung und Redefinition des militanten Subjektes und nimmt eine kritische Haltung gegenüber dem NS-Regime ein, das dezidiert als verbrecherisch entlarvt und verurteilt wird. Warum aber wurde dem Film ‚Verdrängung‘ vorgeworfen? Allem voran entmachtet der Film das militante Subjekt auf eine Art, wie es nur innerhalb dieses Mediums möglich ist. Da der Film immer zum zeitgenössischen Publikum spricht, darf die Hauptfigur nie ein Täter sein, um der Identifikationsgefahr mit ihm zu entgehen (mehr dazu im Kapitel Bewältigungsmechanismen). Zur Identifikation der Zuschauenden wird immer eine Hauptfigur angeboten, die als Vorbild in der Gegenwart fungiert (und nicht etwa diejenige, die einer historischen Wahrheit entspricht). Die Täter müssen also immer ‚die anderen‘ sein, die dann von der Hauptfigur eliminiert werden. Diese spezifisch filmische Darstellungsstrategie ging als eine mimetische Figur in politisch-öffentliche Aufarbeitungs- und Bewältigungsdiskurse der Nachkriegszeit über, nicht zuletzt deshalb, weil auf die NS-Symbolik ein Repräsentationsverbot ausgehängt wurde. Die Täter wurden somit durch die drohende gesetzliche Verfolgung und den ästhetisch-diskursiven Mangel an Denkmustern delegitimiert. Sie konnten somit bei ihren Erzählungen entweder auf die NS-Paroli und -Denkmuster zurückgreifen und sich so strafbar machen, oder auf die filmische Konstruktion des Mittäters oder des Zeugen (in der Regel durch Männer verkörpert). Dadurch wurde die Rede von einem Täter möglich, der immer ein anderer war. In seiner Schlussfolgerung der deutschen Nachkriegsfilme diagnostiziert Peter Pleyer beispielsweise Mitte der 1960er Jahre eine Art der Verdrängung der eigenen Schuld, obwohl sich die Werke durchaus kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen: „Daß es Deutsche gab, die Schuld auf sich geladen hatten, wurde nicht abgestritten, aber für viele war
64 Bohrer behauptet beispielsweise auch, dass die Europäische Union als eine teilweise Auflösung des deutschen Nationaldiskurses einen Effekt der kritischen Aufarbeitung des NS-Regimes darstellt.
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es selbstverständlich, nicht zu ihnen zu gehören.“ (Pleyer 1965, S. 152; siehe auch Kreimeier 1973)65 Außerdem wurde Staudte die Konzipierung eindimensionaler Opferfiguren vorgeworfen. In der Nachkriegszeit sind Opfer- und Tätergruppen jeweils noch nicht differenziert – es wird noch Jahrzehnte dauern, bis die wissenschaftliche Aufarbeitung der Materialien sowie die Gesellschaft in ihrer Erinnerungspolitik so weit sein wird, ein Bewusstsein darüber zu erlangen und den reflektierten Opferdiskurs anzufordern und zu entwickeln. Staudte handelt aus einer kulturellen Situation heraus, in der insbesondere überzeugende Bilder, Motive und Denkmuster es ermöglichten, das NS-Regime zu verurteilen. Die Schwerpunkte der deutschen Nachkriegsfilme lagen Peter Pleyer zufolge vor allem auf einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und auf der negativen Bewertung der nationalsozialistischen Herrschaft, des Antisemitismus und des Militarismus (Pleyer 1965, S. 159). Die Mörder sind unter uns ist also als Antwort auf die kulturelle Nachfrage zu deuten, die beispielsweise in den Nürnberger Prozessen ihren Ausdruck findet. Auch im ersten Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 fungiert die Ermordung der Juden nicht als ein einzelner Anklagepunkt, sondern ist ein Teil des Verbrechens gegen die Menschheit. Beispielsweise klagt zehn Jahre später auch Nacht und Nebel von einem solch reflektierten Filmemacher wie Alain Resnais den Nationalsozialismus an, ohne die Judenverfolgung explizit zu thematisieren (Knaap 2008, S. 28). Der Film erwähnt aus dem Off einmal die jüdischen Studenten (vgl. auch Lindeperg 2010, S. 99). Der Titel bezieht sich auf Hitlers Nacht und Nebel-Dekret vom 7. Dezember 1941, das jegliche Arten von Widerstandsaktivitäten auf besetzten Territorien verbietet (Knaap 2008, S. 28). Dieser Film erhielt erst in der deutschen Fassung die Verbindung zur Judenermordung, nicht zuletzt durch die deutsche Synchronisation von Paul Celan. In der französischen Fassung kommentierte der Schriftsteller Jean Cayrol, der selbst 1943 als Widerstandskämpfer im KZ Mauthausen inhaftiert wurde, die Bilder. Der Film von Alain Resnais schafft es aber auch noch nicht, den Rahmen zu entwerfen, innerhalb dessen die NS-Verbrechen in der Gegenwart reflektiert werden können, wodurch er in einer Tradition mit anderen künstlerischen Artefakten seiner Zeit steht. Die Bilder erscheinen erst in einem Zeigemodus, sie informieren, sie sind affektiv und daher prägend für das Gedächtnis. Sie fungieren als Hauptbeweis für die Inhumanität des Nationalsozialismus und dienten somit der Verurteilung der NS-Ideologie, ohne zuerst in den aktuellen gesellschaftlichen Diskursen kontextu65 Kreimeier hat übrigens später selbst seine vernichtenden Aussagen über den deutschen Nachkriegsfilm revidiert (Kreimeier 1989, S. 8–28). Nach Robert R. Shandley entstand die Verdrängungsthese vor allem in der Studentenbewegung der 1968er Jahre (Shandley 2010, S. 276). 171
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alisiert oder narrativiert zu werden. Sobald der Film die Gegenwart zeigt, werden die leeren Baracken und das gewachsene Gras über den Gleisen gezeigt – Aspekte, die selbst als Figuren des Vergangenen fungieren. Die Verbrechen gehören also ganz der Vergangenheit an. Die besondere Leistung der Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin J. Chomsky) bestand daher nicht darin, dass sie die erste war, die mit dem Schweigen über die Shoah brach (Schieber 2009), sondern vor allem darin, dass sie über Jahrzehnte entwickelte Bilder, Motive und Denkmuster zur Ermordung von europäischen Juden bündelte. Die Judenermordung gewinnt in dieser Mini-Serie eine zentrale Stellung und ist nicht mehr einer von vielen Aspekten, wie es in den Nachkriegsfilmen häufig der Fall war. Außerdem wird die Serie in Form einer Großgeschichte („Narration von oben“) erzählt, die eine starke legitimatorische Kraft besitzt: Diese Darstellungsweise wird gerade in ihrer epischen Breite für den Holocaust repräsentativ. Die Filmästhetik entwickelt sich dabei immer in der Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Bildern, wodurch es ermöglicht wird, erfolgreiche Konzepte weiter auszubauen, weniger erfolgreiche jedoch zu verwerfen. Auch das Publikum könnte einen innovativen Film nicht anerkennen, wenn es auf das Thema nicht schon filmisch vorbereitet worden wäre. Narrationsschemata, Täter- und Opferbilder, Themen und Schauplätze des Krieges wurden somit schon in verschiedenen Filmen ausgehandelt (Bruns et al. 2012b), bevor sie in der Mini-Serie eingesetzt wurden. Über Jahre hinweg haben verschiedene Produktionen in der DDR und der BRD Motive und Topoi ausprobiert und ausgearbeitet. Frühere Produktionen aus der Westzone wie Todesmühlen (1945, R. Hanuš Burger/Billy Wilder), In jenen Tagen (1947, R. Helmut Käutner), Zwischen gestern und morgen (1947, R. Harald Braun), Morituri (1948, R. Eugen York), Der Ruf (1949, R. Josef von Baky), der einzige deutsche Film auf Jiddisch, Lang ist der Weg (1947/48, R. Herbert B. Fredersdorf, Marek Goldstein) sowie DEFA-Produktionen wie Ehe im Schatten (1947, R. Kurt Maetzig) und Affäre Blum (1948, R. Erich Engel) kritisieren den Antisemitismus und setzen sich intensiv mit der Judenermordung auseinander, was auch in Filmen der 1950er und 1960er weiterhin verfolgt wird (vgl. Stiglegger 2004; Bruns et al. 2012).66 Das Motiv der Gier der Nazis wird in Lebende Ware (DDR 1966, Wolfgang Luderer) zum Thema; Probleme der jüdischen Überlebenden zeigt Chronik eines Mordes (DDR 1965), der übrigens die Juden schon als Hauptfigu66 Generell wurden viele Filme aus den späten 1940er und den 1950er Jahren aus verschiedenen Gründen vergessen (und dementsprechend sind sie auch jetzt nicht mehr zugänglich), daher ist auch fraglich, ob der aktuell bestehende filmische Kanon für die ersten zwei Jahrzehnte aussagekräftig ist.
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ren setzt und eine Art Ergänzung zu Die Mörder sind unter uns liefert, den er explizit zitiert; verschiedene Stationen der Vernichtung sind im Fernsehvierteiler Die Bilder des Zeugen Schattmann (DDR 1971/1972) und die Judenermordung in Ostgebieten im Fernsehfünfteiler Am grünen Strand der Spree (BRD 1960, R. Fritz Umgelter) zu sehen. Auch der allumfassende Darstellungsrahmen, hier als „Narration von oben“ beschrieben, ist in der UdSSR und der DDR in den 1970er Jahren längst etabliert und wurde in der BRD mehrfach erprobt (auch wenn er als gescheitert gilt). Der eingesetzte Narrationstypus, der insbesondere durch seine Kraft, historische Wahrheit zu produzieren und Kontinuität aufzubauen, gekennzeichnet ist, erlangte seine Bekanntheit in der UdSSR und DDR durch die Geschichtsdarstellung und fand zum Teil sogar in den USA seine Etablierung (mehr dazu im Kapitel „Narration von oben“). Es sollte nicht vergessen werden, dass das Kino nur ein Medium von vielen war, welche die kritische Analyse der Vergangenheit vorantrieben, wobei es mit Sicherheit zu den wirksamsten gehörte. Hinzu kommen Literatur67 und Theater68, die wissenschaftliche Arbeit der Historiker*innen und die Gerichtsprozesse gegen die Kriegsverbrecher*innen (Koch 1999). In dieser Zeitperiode wurden auch viele wichtige Erinnerungsstätten und Museen errichtet und Dokumente ausgewertet. Die Erinnerung an die Shoah bzw. an den Holocaust, die von den filmischen Bildern nicht mehr zu trennen sind, war daher kein verdrängtes Thema der Nachkriegsgenerationen, denen dieses Gesamtbild der Vernichtung noch nicht zur Verfügung stand (Welzer 2005; Welzer et al. 2002).69 Vielmehr handelt es sich um ein diskursives Produkt der nächsten Generationen, deren Umgang sich mit dem Thema des Zweiten Weltkrieges durch die Etablierung einer Perspektive der Opfer und der Überlebenden grundsätzlich veränderte. Immer mehr Studien weisen auf eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seit dem Kriegsende hin (Diner 1999, S. 62),70 ohne jedoch das Schweigen als Topos abzuweisen. Zunehmend werden die Zäsuren der kritischen 67 Exemplarisch zu nennen sind Paul Celans und Ernst Jandls Lyrik, Lyrik und Prosa von Ingeborg Bachmann und prosaische Werke Thomas Bernhards. Primo Levis Roman Ist das ein Mensch? (1947) wurde 1961 übersetzt. 68 Zu erwähnen sind zahlreiche erfolgreiche Inszenierungen wie Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert in der Nachkriegszeit, das Tagebuch der Anne Frank in den 1950ern, Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth und Die Ermittlung von Peter Weiss in den 1960ern. 69 Die Autor*innen haben nachgewiesen, dass die Kriegsveteranen und ihre Kinder filmische Motive (u. a. auch aus Die Mörder sind unter uns) benutzen, um die eigene Vergangenheit sinnvoll zu erzählen. 70 Dan Diner spricht selbst darüber, dass die kritische Diskussion über den Nationalsozialismus und die Judenermordung seit 1945 intensiv fortgeführt wurde. 173
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Auseinandersetzungen weiter in die Vergangenheit verschoben. Je aktueller die Studien sind, desto früher wird die Zäsur gesetzt. Während Anton Kaes Ende der 1980er Jahre die Mini-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvey J. Chomsky) als Schnittpunkt definiert, mit dem das Schweigen in der BRD durchbrochen worden sei (Kaes 1987, S. 30–42; dazu auch Santner 1990), setzen die aktuelleren Studien von Peter Reichel (2004) diese Zäsur in den 1960ern und die von Erwout van der Knaap (2008) und den Herausgebern Paul Cooke und Marc Silberman (2010) sogar in den 1950ern an. Die Dissertationen von Catrin Corell und Christoph Vatter verlegen den Anfang der kritischen Reflexion ins Jahr 1945, wobei sie die von den Alliierten gedrehten KZ-Dokumentarfilme und die veröffentlichten NS-Bilder eher als unproduktiv ansehen: Pédagogie par l’horreur (Clément Chéroux) sollte das Schweigen laut der Autorin gerade auslösen (Corell 2009, S. 17). Vatter verweist auf eine ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber kritischen künstlerischen Explorationen und den Nürnberger Prozessen (Vatter 2009, S. 46–47), was, so scheint es, auch eher ein Topos ist. In ihrer Studie zu den deutschen Kriegsfilmen der Nachkriegszeit zeigten hingegen Wolfgang Becker und Norbert Schöll 1995, dass trotz der massiven Kritik gegenüber den Filmen dieser Periode die meisten Nachkriegsproduktionen die Vergangenheit nicht verschweigen und den Nationalsozialismus mit unterschiedlicher Intensität und Qualität kritisch reflektieren: Die Filme propagieren eine Beschäftigung mit der (nationalsozialistischen) Geschichte, bei der die Vergangenheit für die Gegenwart und vor allem für die Zukunft bewältigt werden soll. So bleibt die Vergangenheit – wie ominös sie auch zitiert werden mag – dort nirgends im Dunkeln und Ungewissen, nicht unbewältigt, sondern nutzbar gemacht für eine ‚neue‘ Zeit. (Becker und Schöll 1995, S. 23)
Robert R. Shandley (2010, S. 11) vertritt ebenfalls die Meinung, dass die Nachkriegsfilme eine wichtige Rolle für das zeitgenössische Verständnis der Vergangenheit wie für den künftigen Erinnerungsdiskurs spielen. Bernhard Groß (2015) weist in seiner umfassenden Studie zu Trümmerfilmen auf neue Wahrnehmungsformen hin, welche auf den Bruch mit dem Nationalsozialismus durch Demokratisierung der Wahrnehmung und Verschachtelung verschiedener Zeitebenen abzielen. Auch in Bezug auf den DEFA-Film merken Christiane Mückenberger (2001) und Dorothea Becker (1999, S. 141) an, dass die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus seit Beginn der DEFA einer ihrer wesentlichen Bestandteile war und ihren institutionell-ästhetischen Ausdruck im Antifaschismusfilm fand. Sie zählen dazu Die Mörder sind unter uns (1946), Ehe im Schatten (1947), Rotation (1949), Affäre Blum (1948), Die Buntkarierten (1949), Der Rat der Götter (1950) und Das Beil von Wandsbeck (1951) sowie Betrogen bis
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zum jüngsten Tag (1957), Sterne (1959), Der Fall Gleiwitz (1961), Jakob der Lügner (1974) und Die Verlobte (1980). Wer aber hat dann geschwiegen und was wurde verdrängt? Mir scheint, dass es sich in Bezug auf das kollektive Trauma in der BRD um die Überlagerung zweier Phänomene handelt. Zum einen produziert diese selektive und fragmentarische Darstellungsweise, die Wolfgang Staudte erprobt hat und die charakteristisch für viele Trümmerfilme ist, erst das Trauma als Effekt einer bestimmten Anordnung filmischen Materials und einer bestimmten Inszenierung. Aus der in dieser Arbeit vorgenommenen Analyse wurde deutlich, dass für Staaten und nationale Identitäten eine historische Kontinuität notwendig ist, die durch das Trauma-Konzept unmöglich gemacht wurde. Der geschichtliche Kontinuitätsbruch (durch die Auslassung der Zeit der NS-Erfolge) vergegenwärtigt den (erzielten, erwünschten) Bruch mit dem Nationalsozialismus und hebt die Notwendigkeit der Anklage hervor. Diese ästhetische Verknüpfung von Trauma und Historie wird erst durch das Nicht-Assimilierbare oder Nicht-Integrierbare überhaupt in das Geschichtsverständnis eingeführt. Die Trümmerfilme trugen zur Ästhetisierung und Etablierung dieses geschichtlichen Bruchs mit der NS-Zeit bei. Danach konnte die Geschichte in der BRD filmisch und daher als Erinnerung nur fragmentarisch erzählt werden, was gerade entmächtigend und traumatisch wirkt.71 Die Unmöglichkeit, die deutsche Identität durch die Kraft der Traditionen zu ermächtigen, überlagert eine diskursive Entwicklung der Aufarbeitungsdebatten (siehe z. B. Bronfen 1999b; Weigel 1999), die sich im Laufe der Jahrzehnte von der Täter- zur Opferperspektive verschieben. Das Verdrängte entsteht als Topos erst nachträglich mit der Zentrierung der deutschen Erinnerungskultur auf den Holocaust, welche selbst gerade aufgrund vorausgehender intensiver Debatten 71 Nach Sigrid Weigel (1999) wird die Traumatisierung durch eine Tradierung von Leerstellen in Subjektkonstruktionen an die nächsten Generationen weitergegeben: „Es sind also die Familiengeheimnisse ‚nach Ausschwitz‘, die den phantomatischen Charakter der Geschichtsbilder in den Diskursen und Texten der Nachgeborenen ausmachen.“ (Ebd., S. 70) Denn nach Freud, auf den sie referiert, werden Lücken individueller Biografien mit kollektivem Wissen gefüllt, also Ontogenese durch Phylogenese. Hingegen gab es keine Geheimisse, sondern einerseits die Depotenzierung der Täter – wie sollen die Täter über sich sprechen, ohne ins Gefängnis zu gehen? Andererseits wurde gerade durch den Film die Identifikation mit ihnen verhindert. Kollektive Verbrechen waren aus kulturellen Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit nach 1945, vor allem aus dem Film, allen bekannt, sodass gerade dieses Wissen weiter tradiert wurde. Die fragmentierte Erzählstruktur, die dieser Tradierung zugrunde liegt, verunmöglicht jedoch eine geschichtliche wie biografische Kontinuität und installiert im ‚Ursprung‘ der tradierten Identität jene Verbrechen, von denen es sich zugleich zu distanzieren gilt, was sich gerade als identitätsstörend für die folgenden Generationen erweist. 175
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zur Judenermordung möglich war. Der Fokus des diskursiven Rahmens lag nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst jedoch nicht auf der Shoah. Zu Beginn war es offensichtlich noch unklar, welche Stellung die Judenverfolgung im gesamten Zerstörungsausmaß einnahm. Es bestand also noch kein gesellschaftlicher Konsens über die Erinnerung: An was soll erinnert werden und welche Konsequenzen hat dies für die Gegenwart? Die Opfergruppen wurden dabei zunächst ebenso wenig differenziert wie die der Täter. Die Verzögerung, mit welcher die Debatten über den Holocaust einsetzen, erscheint als diejenige Zeit, die eine Kultur zum Aushandeln braucht, um einen Konsens über die Vergangenheit herauszubilden. Vergleicht man die Bundesrepublik zum Beispiel mit der UdSSR, so lässt sich feststellen, dass die Institutionalisierung der Erinnerungskultur und der Kommemorationspraktiken auch dort erst Mitte der 1960er Jahre beginnt (Scherrer 2004, S. 640). Bis dahin war der heute offiziell gefeierte Siegestag nicht einmal ein Feiertag. In der DDR wird dieser Prozess etwas früher angestoßen, weil durch die Abgrenzung zum Nationalsozialismus die Staatsgründung und der neue politische Kurs legitimiert werden. Die Kultur braucht offenbar Zeit, Ergebnisse auszuwerten und Bilder für ihre Verbreitung zu entwickeln, um den Rahmen zu etablieren, der den Krieg sinnvoll in Bezug auf die geltende politische Ordnung bezieht. Diese Rahmenverschiebung oder, genauer genommen, die Herausbildung eines neuen Deutungsrahmens wies die Perspektive vergangener Erinnerungsdebatten auf den Holocaust im Rückblick als unvollständig aus. Diese Unvollständigkeit wurde post factum als Schweigen und Verdrängung semantisiert, nicht zuletzt weil die Filme Ende der 1940er Jahre gerade das Trauma als Figur der Geschichtsdeutung verwenden. Während die Nachkriegsfilme ein fragmentarisches Geschichtsbild entwickeln, um die Notwendigkeit der Kritik an der jüngsten Vergangenheit für die Gegenwart hervorzuheben, den Nationalsozialismus anzuklagen und seine gesellschaftlich-institutionellen Strukturen in der Nachkriegszeit zu diskreditieren, wird die epistemologisch-ästhetische Figur des Traumas im Nachhinein buchstäblich als Symptom gelesen: Die Filme ‚verdrängen‘ die Verbrechen, die verschwiegen wurden, oder nicht alle Filme erwähnen die Judenermordung. Das Trauma erscheint somit zugleich als ein diskursiver Deutungsrahmen (Butler 2010, S. 15–16),72 der die Diskursivität des Wissens selbst leugnet, indem er in diesem angebliche Lücken
72 In Anlehnung an Überlegungen von Judith Butler geht auch die Analyse davon aus, dass die Kultur sich innerhalb bestimmter diskursiver Wahrnehmungsrahmen bewegt, die ihre sinnstiftenden Prozesse entsprechend strukturieren. Diese Rahmungen erscheinen jedoch nicht als stabil, sondern müssen aufgrund der prozessierenden und miteinander auch oft konfligierenden Diskursverhandlungen immer neu konfiguriert werden.
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nachweist. Dabei fungiert das Trauma gerade als Motor für die Vervielfältigung der Diskurse, die angetrieben werden, unermüdlich diese Leerstellen zu füllen. Die Fülle der filmischen Verarbeitung des Holocaust weltweit beweist dies eindrücklich.
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3 Ästhetisch-historische Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses
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Filme Filme
08/15 (BRD 1954/1955, R. Paul May) Affäre Blum (DEFA 1948, R. Erich Engel) Am grünen Strand der Spree (BRD 1960, R. Fritz Umgelter) Anders als die Anderen (D 1919, R. Richard Oswald) Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) Chronik eines Mordes (DDR 1965, R. Joachim Hasler) Das Beil von Wandsbeck (DDR 1951, R. Falk Harnack) Der Fall Gleiwitz (DDR 1961, R. Gerhard Klein) Das Kabinett des Dr. Caligari (D 1920, R. Robert Wiene) Das Wachsfigurenkabinett (D 1924, R. Paul Leni) Der Rat der Götter (DDR 1950, R. Kurt Maetzig) Der Ruf (1949, R. Josef von Baky) Der Stern von Afrika (BRD 1957, R. Alfred Weidemann)
Filme
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Des Teufels General (BRD 1955, R. Helmut Käutner) Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) Die Russen kommen (DDR 1968/1987, R. Heiner Carow) Die Bilder des Zeugen Schattmann (DDR 1971/1972, R. Kurt Jung-Alsen) Die Buntkarierten (DDR 1949, R. Kurt Maetzig) Die Passagierin [Pasażerka] (P 1963, R. Andrzey Munk/Witold Lesiewicz) Die Verlobte (DDR 1980, R. Günter Reisch/Günther Rücker) Dr. Mabuse, Der Spieler (D 1922, R. Fritz Lang) Ehe im Schatten (DEFA 1947, R. Kurt Maetzig) Ein Blick in die Tiefe der Seele (D 1923, R. Curt Thomalla) Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) Geheimnisse einer Seele (D 1926, R. Georg Wilhelm Pabst) Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin J. Chomsky) Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1958, R. Frank Wisbar) In jenen Tagen (1947, R. Helmut Käutner) Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer) Johny got his gun (USA 1971, R. Dalton Trumbo) La mystère des Roches de Kador (F 1912, R. Léonce Perret) Lang ist der Weg (1947/48, R. Herbert B. Fredersdorf/Marek Goldstein) Lost Highway (USA 1997, R. David Lynch) Morituri (1948, R. Eugen York) Professor Mamlock [Профессор Мамлок] (UdSSR 1938, R. Adolf Minkin/Gerbert Rappaport) Psycho (USA 1960, R. Alfred Hitchcock) Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) Schatten (D 1923, R. Arthur Robinson) Ssanin (A 1924, R. Friedrich Feher) Sterne (DDR/BUL 1959, R. Konrad Wolf) The Silence of the Lambs (USA 1991, R. Jonathan Demme) Todesmühlen (1945, R. Hanuš Burger/Billy Wilder) Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя своё] (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov) Zwischen gestern und morgen (1947, R. Harald Braun)
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4
Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses 4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
4.1
Sinngenese: Narration als Instrument der Sinnherstellung
4.1
Sinngenese: Narration als Instrument der Sinnherstellung
Gegen den Vorwurf der Trivialität werden nun die Stereotypie und das schemaartige Erzählen der Filme als eine zentrale Funktion für das kollektive Gedächtnis aufgewertet. Kein anderes Medium kann so komprimiert sinnhaft erzählen und somit die in ihrer Komplexität kaum übersehbare Geschichte mit einer (in der Gegenwart politisch wirksamen) Bedeutung versehen. Die Narrationen liegen also dem kulturellen Erinnerungskonsens zu Grunde, wobei die Erzähltypologie hier vom Krieg her entwickelt wird – wo setzt der Film ein? Wird der ganze Krieg oder der Ausschnitt dargestellt? Dadurch wird es möglich, drei verschiedene Erinnerungskulturen, aber auch deren Ideologien und Rezeptionskontexte zu beschreiben und zu vergleichen, weil sich filmische Narrationen aufgrund der Medienspezifika weltweit ähneln. So zeichnet sich die Erinnerungskultur der UdSSR durch Vollständigkeit (Erzählen vom Anfang bis zum Ende) und Ereignishaftigkeit (Hervorhebung besonderer Momente) aus, die das kollektive Gedächtnis monumental werden lässt und die Zuschauenden an die Macht der Geschichte anschließt, jedoch zugleich die Vergangenheit abschließt. Die UdSSR musste daher gegen die Vergessenheit, z. B. durch die Hervorhebung von verschiedenen Ereignissen, etwa Schlachten, Militäroperationen oder Heldentaten, kämpfen. In der DDR fehlt hingegen eine solche Darstellung einzelner Ereignisse – die UdSSR beliefert die DDR reichlich mit solchen Filmen. In der DDR wird bei Kriegsdarstellungen vor allem die Vollständigkeit des Erzählens bevorzugt, das offensichtlich eine große politische persuasive Kraft besitzt und für die Legitimation des Sozialismus (als Kontinuität zur bereits im 19. Jh. bestehenden Kommunistischen Partei) verwendet wird. Diese Erzählweise wird über die Jahre immer mehr allegorisch bzw. mehrdeutig, was beispielsweise in der UdSSR wegen der Zensur komplett fehlt. Das allegorische Erzählen ermöglicht es jedoch, in der DDR gleichzeitig die NS-Diktatur und die SED-Diktatur in © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Gradinari, Kinematografie der Erinnerung, Neue Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30065-4_4
185
186
4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Frage zu stellen. Diese Mehrdeutigkeit war eventuell auch eine Bedingung für die Akzeptanz des Sozialismus in der DDR und die Herausbildung des Antifaschismus als eine innere Haltung. In der BRD spielt die allegorische Mehrdeutigkeit keine Rolle. Die demokratische Gesellschaft kennt keine staatliche Sinnkontrolle in dieser Form wie in der UdSSR oder DDR und braucht auch keine Bildlichkeit voller Anspielungen. Der Krieg wird aufgrund der Abgrenzung zum Nationalsozialismus immer in einem Fragment, bevorzugt an seinem Ende, dargestellt, mit dem jedoch Aussagen über den ganzen Krieg getroffen werden. Im Gegensatz zur Allegorisierung in der DDR wird dieses Verfahren als Symbolisierung (Pars pro Toto) beschrieben. So fehlt im Gegensatz zur DDR und der UdSSR in der BRD der Gesamtrahmen, daher schreibt jedes Fragment die Geschichte um, lässt es jedoch als Ausschnitt unvollendet. In der BRD vergeht der Krieg in der Gegenwart nicht. Zugleich wird der Kriegsfilm immer als mangelhaft kritisiert, weil das Fragment trotz der Symbolisierung nur bedingt das Ganze umfassen kann.
4.1.1
Den Zweiten Weltkrieg erzählen: Zur Bedeutung der Narration
Narratologische Fragestellungen, die vor allem im Bereich der Literaturwissenschaften seit langer Zeit etabliert sind (Martínez und Scheffel 2012), werden mittlerweile nicht nur auf andere Kunstbereiche (Musik, bildende Kunst und Drama) und audiovisuelle Medien (Film, Comics, Internet, Computerspiele), sondern auch auf andere Disziplinen wie Soziolinguistik (William Labov, Joshua Waletzky, Teun van Dijk, Konrad Ehlich, Uta Quasthoff), Anthropologie (Clifford Geertz, Victor Turner), Artificial-Intelligence-Forschung (Marie-Laure Ryan, David Herman, Manfred Jahn), Historiografie (Arthur Danto, Lionel Gossman, Dominik LaCapra, Hayden White), Kognitionspsychologie (Jerome Bruner, J. M. Bernstein, Peter Dixon, Marisa Bortolussi, William F. Brewer, Donald Polkinghorne, Jürgen Straub), Philosophie (Ricoeur 1988), Wirtschaftswissenschaften (McCloskey 2002), Rechtswissenschaften (Jackson 1988, 1995, 1996) und feministische Wissenschaftskritik (Haraway 1995)73 ausgeweitet (zum Überblick Nünning, V. und Nünning, A. 2002, S. 2; Jaeger 2002; Echterhoff 2002; Bachmann-Medick 2004). Durch diese 73 Donna Haraway (1995) weist kritisch auf die narrative Gestaltung von Texten aus der Biologie und Primatologie hin. Sie ermöglichen zwar Erkenntnisse, setzen jedoch auch viele stereotype Vorstellungen vor allem über die Geschlechter fort, denn die Forscher*innen greifen (vielleicht unbemerkt) auf bestimmte (auch literarische) Traditionen zurück. Haraway plädiert für ein situiertes Wissen, das den Wahrheitsanspruch relativiert und die Erkenntnisse in einem historischen und methodologischen Paradigma anordnet.
4.1 Sinngenese: Narration als Instrument der Sinnherstellung
187
wissenschaftliche Aufmerksamkeit, welche die Narratologie auf sich zieht, zeigt sich die Bedeutsamkeit des Erzählens für Gesellschaften. Albrecht Koschorke zufolge geht es dabei vor allem um „wechselnde Allokationen von Wahrheit im Prozess kultureller Verständigung.“ (Koschorke 2012, S. 17, Hervorhebung im Original) Nach Sandra Nuy tritt die Narration „unbeeindruckt von Fragen der Qualität, der Wahrheit, kulturell-historischer Verschiedenheit oder der medialen Form […] als universelle kommunikative Variante der Verständigung auf.“ (Nuy 2017, S. 10) Im gleichen Sinne differenziert Werner Wolf sinngebende, repräsentierende und kommunikative Funktionen von Narrativen, welche es ermöglichen, soziale Realitäten zu erfassen, Identitäten auszubilden, Erfahrungen zu konservieren und diese zu vererben (Wolf 2002). Gerade diese Funktionen, die Narrative zu einem Teil von „diskursiven Konstruktionen sozialer und politischer Realität“ (Nuy 2017, S. 10) machen, sind auch für die Konstruktion der Geschichte in der populären Kultur von Bedeutung. Der Zweite Weltkrieg stellt eine besondere Herausforderung für die kulturelle oder individuelle Sinnstiftung dar. Jegliche Art von Selbstverständlichkeit des Sinnes muss im Krieg angezweifelt werden. Selbst auf der sowjetischen Seite, die kaum Probleme hatte, den Krieg sinnvoll zu deuten – es ging letztendlich um einen gerechten Krieg: die Befreiung der besetzten Territorien und den Kampf ums Überleben –, gab es laut Reinhard Koselleck viele Deserteure, die auf das Fehlen von Sinn im Angesicht des Todes hinwiesen (Koselleck 2010, S. 14). An der Schnittstelle zwischen Leben und Tod werden die Legitimationsstrukturen herausgefordert, wenn es um die Aufopferung des eigenen Lebens im Interesse des Staates geht. Bekanntlich schossen die NKVD-Gruppen74 in Stalingrad den Soldaten der Roten Armee in den Rücken, damit sie vorrückten, statt vom Schlachtfeld zu fliehen. Für Koselleck ist der Zweite Weltkrieg ein prominentes Beispiel dafür, dass die Geschichte an sich nicht teleologisch zu denken ist oder – um mit Frederic Jameson (1988, S. 29–30) zu sprechen –, dass die Geschichte als Ursache nicht zugänglich ist: Sie ist sinnlos, unvernünftig, widersinnig und aporetisch. Siegfried Kracauer schreibt in den 1960er Jahren über die Nicht-Verfügbarkeit der Realität: „Es gibt keine Ganzheit in dieser Welt, viel eher gilt, daß sie aus Fetzen von Zufallsereignissen besteht, deren Abfolge an die Stelle sinnvoller Kontinuität tritt. […] Fragmentarische Individuen spielen ihre Rollen in einer fragmentarischen Realität.“ (Kracauer 2005a, S. 457) So sind die filmische Narrativierung und Ästhetisierung nicht als selbstverständlich anzusehen, sondern als eine besondere Leistung, indem sie neben den wissenschaft-
74 NKVD ist eine Abkürzung für das Volkskommissariat der Inneren Angelegenheiten. 1946 wurde es zum Innenministerium umbenannt (siehe dazu z. B. Aleksušin 2005). 187
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
lichen Analysen, welche die Geschichte ebenfalls aus zahlreichen Dokumenten als ‚vernünftig‘ konstruieren, eine mögliche Erfassung der Welt bieten. Dem Krieg einen Sinn zu geben, stellt eine ideologisch-ästhetische Herausforderung dar, eben weil es eine solche Beobachterperspektive auf ein so globales und umfangreiches historisches Ereignis, an dem sich zudem im Krieg und danach so viele politische Interessen kreuzten und kreuzen, zuvor nie gab. Um die Vergangenheit in der und für die Gegenwart mit Bedeutung zu versehen, ziehen die Filme aktuell bestehende kulturelle Legitimationsstrukturen heran. Kracauer würde die hier analysierten Filme daher als theaterhaft und ideologisch verwerfen und ihnen eine „fabrizierte Evidenz“ (Kracauer 2005b, S. 468–469) vorwerfen, weil sie zu sehr den Sinn steuern und vielleicht nicht oder nicht genug die „physische Realität“ exponieren und das „Gewebe von Konventionen“ (ebd.) durchdringen. Dementgegen ließe sich die narrative Sinngebung aber auch als eine der hauptsächlichen Leistungen der Filme über den Zweiten Weltkrieg für die kollektive Erinnerungspolitik hervorheben. Zugleich wäre diese Sinnerzeugung als Symptom zu deuten, an dem Diskurse in ihrer politischen Bedeutung sichtbar werden. Der Zweite Weltkrieg ist so wichtig und identitätsstiftend für alle europäischen Länder, dass er unmöglich allein der künstlerischen Exploration überlassen werden kann – die Sinngenese wird in jeder Kultur stark reglementiert und grundsätzlich an der Schnittstelle von aktueller politischer Staatsideologie, Staatshistoriografie und Identitätsdiskursen ausgehandelt. Narrationen sind deshalb einerseits sinnstiftend und ideologisch. Das erlebte Ereignis wird an die Darstellungskonventionen angeglichen (Koschorke 2012, S. 31)75 bzw. diese geben dem Erlebten erst Form und Sinn. (Sprachliche) Narrationen ermöglichen nach Albrecht Koschorke Reduktionen, Angleichungen, Schemabildungen, Redundanzen und Variationen sowie Diversifikationen, durch die letztlich Neues überhaupt erst erzählt werden kann (ebd., S. 27–60). Andererseits sind sie durch ihre ästhetischen Dimensionen zugleich in der Lage, allzu offensichtliche oder einfache Ideologeme zu sprengen und Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten zu erzeugen. Die vollkommene Gleichsetzung einer Ideologie mit einem Film wird damit unmöglich: Der Film ist immer mehr als eine bloße Aussage,76 denn seine Gestaltung ruht auf medientechnischen Spe75 Koschorke (2012) verweist auf die Kettenexperimente von Frederic C. Bartlett, in denen visuelle und narrative Gedächtnisse verglichen wurden. Die Proband*innen modifizierten den ursprünglichen Gegenstand durch Weglassung, Vereinfachung und Namensgebung so, dass er sich in die Darstellungskonventionen fügen ließ. 76 Anzumerken ist, dass Propagandafilme hier nicht berücksichtigt werden können. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geht außerdem die Zahl der Propagandafilme über diesen Krieg zurück.
4.1 Sinngenese: Narration als Instrument der Sinnherstellung
189
zifika und baut auf tradierten und erprobten ästhetischen Mitteln auf, die die Ideologeme bis ins Unkenntliche modifizieren können, ohne dabei unbedingt eine kritische Wirkung gegenüber dieser Ideologie zu evozieren. Möglicherweise wirken implementierte und erzeugte Ideologien auch gerade in dem Moment, in dem sie unkenntlich werden, am besten (Žižek 1997, S. 45). Mit Stuart Hall wird hier daher davon ausgegangen, dass keine Aussageform je neutral sein kann, „da die Medien überwiegend in der Sphäre der Produktion und Transformation von Ideologien operieren.“ (Hall 1989, S. 150) Dabei ist die Gestaltung der Ideologien und ihre Wirkung nicht als monokausal oder manipulativ zu verstehen: Es geht um komplexe Aushandlungsprozesse der sinnstiftenden Strukturen, die die (Des-) Artikulation ausgewählter Elemente regeln und somit Diskurse transformieren (ebd., S. 152). Aus diesem Grund wird es durch das Bild der Vergangenheit auch möglich, Aussagen über die Gegenwart zu treffen.
4.1.2 Narrationstypen Als ‚Narration‘ wird hier im engeren Sinne eine in der Regel auf Sinnstiftung ausgerichtete Anordnung historischen Materials im Film verstanden, die unter Einsatz filmspezifischer Medientechniken generiert wird. Ästhetische Mittel werden in der Analyse berücksichtigt, um der Spezifik filmischer Vergangenheitsdarstellung bzw. der sinnvollen Anordnung von Bildern und Motiven nachzugehen, die bestimmte Handlungen (de-)legitimieren, Kontexte rechtfertigen und somit Aussagen über die Gestaltung von filmischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg ermöglichen. Die Narration erklärt das Geschehene dadurch, dass sie die Komplexität der Historie reduziert, Widersprüche – soweit dies möglich ist – auslöscht, abstrakte Prozesse konkretisiert, verdinglicht und verkörpert, Stoffe selektiert, der Geschichte Namen, Gesichter und individuelle Züge verleiht und sie dramatisiert (zum Unterschied zwischen Narration und Dramaturgie vgl. Nuy 2017). Die Narration ist also ein fundamentaler, tragender Mechanismus der Gestaltung von Geschichte und Vergangenheit im Film und produziert je nach Konstruktionsweise bestimmte Sinneffekte. Erst diese Prozesse machen die Vergangenheit zugänglich, indem sie das Material strukturieren, die Kontingenz und die Brüchigkeit der Geschichte bannen und ihr einen Sinn verleihen, der von den aktuellen Diskursen zur Entstehung des Films eingeleitet und kanalisiert wird. Dem Krieg einen Sinn zu verleihen und damit auch bestimmte Subjektkonstruktionen zu legitimieren bedeutet immer, die Gegenwart mit der Vergangenheit zusammenzubringen. Die Narration erscheint demzufolge einerseits als ein politisches Instrument dafür, andererseits – in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg – als ein Bewältigungsmechanismus, der die vergange189
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ne kollektive Gewalt für die Gegenwart beendet. Als solcher bleibt die Narration jedoch unmarkiert bzw. unsichtbar. Erst ein komparatistischer Vergleich kann die Selektionsprozesse der Narration sichtbar machen und so auf die ausgeschlossenen Kontexte und daher auf ihre Ziele und Funktionsweisen hinweisen. Ferner umfasst die Narration stets den ganzen Film und strukturiert seine Elemente in Bezug auf den intendierten Sinn, wie eindeutig und gelungen dieser am Ende auch sein mag. Damit ist nicht die Botschaft gemeint, die der Film angeblich überbringt, sondern jene filmische Struktur, die bereits der Produktion zugrunde liegt und die darauf zielt, eine bestimmte Rezeptionshaltung hervorzurufen. Mithilfe eines diachronen und synchronen komparatistischen Vergleichs wurde bei der Untersuchung (ost- wie west-)deutscher und sowjetischer Kriegsfilme festgestellt, dass narrative Strukturen sich erstens nicht oppositionell zueinander entwickeln, sondern sich aufgrund der Möglichkeiten des Mediums Film mehrfach überschneiden und an vielen Stellen ähneln, während auf Inhaltsebene durchaus unterschiedliche Themen behandelt werden können. Auch diese Inhalte stehen in der Regel nicht konträr zueinander, sondern beziehen sich vielmehr vor allem auf die aktuelle politische Situation der jeweiligen Staaten. Der gleiche Narrationstypus kann folglich problemlos ganz unterschiedliche Inhalte strukturieren. Zweitens weisen die Narrationen eine ästhetisch-strukturelle Flexibilität auf. Viele ihrer Elemente variieren stark. Zentral für die Klassifikation erscheint deshalb der Umgang mit dem Kriegsthema. Diese Flexibilität ermöglicht den Narrationstypen drittens ein ästhetisches und politisches Fortbestehen – die meisten von ihnen überleben die politischen Ordnungen, innerhalb derer sie entworfen wurden; sie werden modifiziert und mit neuen Inhalten gefüllt.77 Die Strukturen weisen somit eine hohe Anpassungsfähigkeit auf. Narrationen entwickeln sich dabei viertens nicht kausal und evolutionär; die Entwicklung eines neuen Typus geht nicht aus dem Untergang einer anderen Erzählform hervor. Die ästhetische Dekonstruktion einer Narration kann schon vor ihrer kulturellen Etablierung stattfinden und bedeutet nicht den Untergang der Erzählform, wie es etwa die Karriere der „Narration von oben“ (einer kausal-logischen allumfassenden Geschichtsinszenierung) in der UdSSR deutlich macht. Bereits nach den ersten drei Filmen dieses Typs beginnt Anfang der 1950er Jahre ihre ästhetische Hinterfragung, die es jedoch gerade möglich macht, diese Narrationsart dauerhaft zu etablieren und zu verbreiten. Das Verschwinden etablierter Narrationen hängt hingegen oft mit bestimmten kulturellen Prozessen zusammen, infolge derer Narrationsarten als obsolet verworfen 77 Auch Jacques Rancière kritisiert die (unter anderem von Gilles Deleuze vorgenommene) Parallelisierung der historischen Ereignisse mit dem ästhetischen Bruch (siehe dazu Blümlinger 2012, S. 46–47).
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werden. Auch neue Typen werden in der Regel in der Auseinandersetzung mit bestehenden Narrationsarten entwickelt: Sie können Produkte kritischer Negation sein oder ästhetische Transformationen von bereits vorhandenen Narrationsarten darstellen, die häufig unter dem Einfluss internationaler ästhetischer Tendenzen des Films, durch das Aufkommen neuer Medien oder im Austausch mit anderen Kulturen entstehen. Gerade dank des Fernsehens, das einen Kriegsfilmkanon herausgebildet hat, bestehen darüber hinaus viele Narrationsarten gleichzeitig, auch wenn einige von ihnen in der Gegenwart nicht mehr verwendet werden. Dadurch weisen Erinnerungskulturen fünftens eine narrative Pluralität auf, denn jede politische Epoche entwickelt eigene oder modifiziert bestehende Narrationen, ohne die tradierten Formen verwerfen zu müssen. Die narrative Pluralität bewirkt dabei eine Streuung und zum Teil die Umschrift herrschender politischer Ideologien, sodass sie an nur einem einzelnen Film kaum genau ablesbar sind. Der ästhetische Überschuss verschiebt Ideologien zudem immer ein wenig und übersetzt sie in ein Erlebnis, mit dem sich die Zuschauenden identifizieren können. Die Forschung zu Filmnarrationen ist umfangreich und laut Griem und Voigts-Virchow in drei Phasen einzuteilen: Als erste Phase ist die formalistische Periode zu nennen, die zwischen 1920 und 1935 verortet wird und besonders durch Hugo Münsterberg, Rudolf Arnheim, Sergei Eisenstein und Béla Balázs (1991) geprägt wurde. In der zweiten, strukturalistischen Phase, die ungefähr von 1965 bis 1980 andauert, sind vor allem Studien von Christian Metz (1972, 1994, 2000), Umberto Eco (1991) und Seymour Chatman (1978) einflussreich. Für die dritte Phase sind schließlich neoformalistische Studien von David Bordwell (1989, 1992), Kristin Thompson (2003) und Noёl Caroll sowie der phänomenologische Ansatz von Vivian Sobchack (2004) ausschlaggebend (Griem und Voigts-Virchow 2002). Eine der umfangreichsten Studien der deutschen Filmwissenschaft stellt die integrative Studie von Michaela Krützen dar, die einerseits produktiv die meisten bekannten filmischen, literarischen oder mythologischen Erzählmodelle komplementär zueinander für die Filmanalyse einsetzt, andererseits aber auch deren Grenzen aufzeigt. In diesem Zuge entwickelt Krützen in Anlehnung an Joseph Campbells The Hero with a Thousand Faces (1949) ihr eigenes narratives Drei-Phasen-Modell von „Trennung – Prüfungen – Ankunft“ als „Reise des Helden“ (Krützen 2004). Im Anschluss daran hebt Sandra Nuy die Dramaturgie als jene Schnittstelle hervor, an der die Narration in die Interaktion mit den Zuschauenden übergeht (Nuy 2017, S. 58–66). Marcus Kuhn (2011) beobachtet den Wandel von sprachbasierten Erzählmodellen zur transmedialen Narratologie, die er auf der Grundlage des semiologischen Konzeptes von Gérard Genette erweitert. Das trifft auch auf die Erzähltheorie von Nina Heiß (2011) zu, die die Narratologie mit der Medientheorie produktiv 191
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zusammendenkt und das filmische Erzählen zu einem Kommunikationsmodell weiterentwickelt. Die Überlegungen von Thomas Elsaesser stellen ein Beispiel der Narrationstypisierung in Bezug auf Hollywood-Genres dar: Das Melodram inszeniere den Holocaust als das „Pathos des Wenn-sie-nur-wüssten“, der Thriller versetze die Zuschauenden in die „Spannung des überlegenen Wissens“ und der Horror füge dem Publikum die „Qual der antizipierten, aber unvermeidbaren Katastrophe“ (Elsaesser 2015, S. 19) zu. Diese Narrationsmodelle erfassen bei aller Originalität und trotz aller Erkenntnisse über filmische Formen, Wahrnehmung und Rezeptionslenkung aufgrund ihrer Abstraktheit den konkreten Bezug zwischen Narration und kulturellen Sinnbedürfnissen jedoch nicht. Die in dieser Studie vorgeschlagene Narrationstypologie wurde daher nicht in erster Linie auf Grundlage dieser narratologischen Überlegungen, sondern aus der Perspektivierung des historischen Ereignisses selbst entwickelt. Wie in den meisten Erzählmodellen spielen aristotelische Kategorien wie Zeit, Ort und Figuren eine zentrale Rolle; diese werden jedoch primär nicht am Kunstwerk, sondern am dargestellten historischen Ereignis dingfest gemacht. Sicher hat jede erzählte oder inszenierte Geschichte immer Anfang, Mitte und Ende (Aristoteles 1997, S. 25), welche im Erzählmodell dann unterschiedlich perspektiviert werden können (vgl. Krützen 2004). Aber was bedeutet das für die inszenierte Historie? Wo wird der Anfang gesetzt? Wie erscheint der Krieg, und welche Funktionen haben solche Darstellungsarten für kulturelle Sinnstiftungsprozesse? Inszeniert der Film den Krieg als Ganzes, als ein besonderes, individuelles Erlebnis oder zeigt er uns etwa nur das Geschehen am Kriegsende? Je nach Ausschnitt des Krieges haben sich Strukturen herausgebildet, die eine bestimmte Anzahl an Figuren, bestimmte Orte und einen bestimmten Umgang mit Zeitlichkeit etablieren. Aus dem Vergleich kristallisierten sich folgende Narrationstypen heraus, wobei diese als Idealtypen zu sehen sind, die von Film zu Film und auch von Kultur zu Kultur etwas variieren oder sich vermischen können: Die „Narration von oben“ stellt den Krieg kausal-logisch vom Anfang bis zum Ende dar und kann so ohne Brüche die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden. Die „Narration von unten“ rekonstruiert aus der Nachkriegszeit heraus ein traumatisches Kriegsereignis, das als Flashback inszeniert wird und für sich steht. Die Parabel situiert die Kriegshandlung bzw. Kriegsthemen in einem anderen Sinnkontext, zielt dabei aber auf allgemeine Aussagen und nimmt zugleich eine Analyse des Krieges vor. Die Demetaphorisierung entzieht dem Krieg hingegen jeglichen Sinn. Das Fragment zeigt ein Stück Historie, das wiederum je nach Fokus weiter akzentuiert wird. Es lässt sich daher in eine Reihe von Subkategorien ausdifferenzieren: Die Endnarration stellt das Ende des Krieges dar und gestaltet den Übergang in den Frieden, um die darauffolgende gesellschaftliche Ordnung zu legitimieren. Das Sonderfragment behandelt ein für
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die jeweilige Kultur spezifisches, ja charakteristisches Thema. Das Ereignis-Fragment zeigt eine große Schlacht oder eine berühmte Kriegsoperation, die als Ereignis inszeniert wird, während zuletzt die Synekdoche anhand eines Ausschnitts den ganzen Krieg zu zeigen versucht. Diese Typologie ist weder abgeschlossen noch ganz festgelegt, da alle Narrationen dynamische Konstrukte darstellen. Außerdem können je nach analytischer Perspektive einige Filme zu verschiedenen Narrationstypen gezählt werden. Auch können einige Teile einer Narration von einem anderen Typus übernommen werden. Überdies ist das filmische Material kaum zu überblicken: Weitere Forschungen in diesem Bereich könnten die hier entwickelte Typologie korrigieren oder modifizieren. Die Narrationstypen wurden anhand des filmischen Materials entwickelt und sind somit durch die ästhetische Eigenart des Mediums Film bedingt, werden aber auch in ihrer historischen und staatsideologischen Entwicklung berücksichtigt.
4.1.3 Sowjetische, ost- und westdeutsche Erinnerungskultur Fast alle Narrationstypen lassen sich auf den ersten Blick in allen drei Kulturen nachweisen, zudem scheinen sie auch noch gleichzeitig zu existieren. Eine genauere Untersuchung hat jedoch ergeben, dass bestimmte politische oder medientechnische Veränderungen dazu führen, dass bestimmte Typen bevorzugt werden, während andere zur gleichen Zeit in den Hintergrund rücken. In verschiedenen politischen Epochen dominieren also in den verschiedenen Nationen jeweils unterschiedliche Geschichtsnarrative, welche jeweils stellvertretend für die ganze Erinnerungskultur stehen. Sie haben dazu beigetragen, jenen Erinnerungskonsens herauszubilden, der der Legitimation aktueller staatlicher Ideologien dient. Daher ist der bestehende Erinnerungskonsens nur bedingt auf historische Fakten zurückzuführen. Er dient vor allem dazu, die Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart zu aktualisieren, um das Legitimationssystem eines Staates zu unterstützen oder auch zu hinterfragen. Aufgrund einer ständigen Aktualisierung der Kriegsdeutung befindet sich der Erinnerungskonsens permanent im Wandel, was besonders an der Themenauswahl und der Bevorzugung bestimmter Narrationstypen beobachtet werden kann. So können an den Kriegsfilmen Identitätsdiskurse der jeweiligen historischen Epoche abgelesen werden, die zur Zeit der Filmproduktion ausgehandelt wurden. In der Nachkriegszeit erproben alle Staaten sowohl neue als auch bereits bestehende Narrationstypen. Die überzeugendsten und erfolgreichsten wurden weiterentwickelt, und ihre Strukturen trugen zur thematischen und strukturellen Fixierung der Erinnerungskultur bei. Für die UdSSR ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg zentral, für die DDR der Übergang vom Nationalsozialismus in den Sozialismus und für 193
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die BRD die Abgrenzung vom Nationalsozialismus. Diese erinnerungspolitische Fixierung der Kulturen ist durch entsprechende Narrationsstrukturen zu erklären. Die Erinnerungskultur in der UdSSR wird durch die „Narration von oben“ und das Ereignis-Fragment geformt, in der DDR überwiegen die „Narration von oben“ und die Parabel, in der BRD dominiert hingegen die Fragment-Form, in erster Linie das Ereignis-Fragment und die Endnarration, die aber als Synekdoche rezipiert werden, das heißt als Deutung für den ganzen Krieg.
UdSSR: Vollständigkeit und Ereignishaftigkeit In der UdSSR wird der Erinnerungskonsens vor allem über den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg hergestellt. Der Zweite Weltkrieg wird zu einem deutsch-russischen Konflikt umgedeutet und der Sieg, der zusätzlich andere europäische Völker befreite, allein der UdSSR zugeschrieben. Unmittelbar wurde er auch für die Legitimation des Sozialismus funktionalisiert und drängte die Oktoberrevolution 1917 in dieser Funktion über die Jahre in den Hintergrund. Außerdem diente er als Beweis für die Kraft und die Stellung der UdSSR als Weltmacht. Der Sieg rechtfertigte also alle darauf folgenden politischen Diskurse sowie die Kontrolle über die Länder des Warschauer Paktes und die Konfrontation mit dem Westen im Kalten Krieg, außerdem wertete er die Rote Armee und den Sozialismus auf. Allerdings wurden Judenverfolgung, die Opfer in der Zivilbevölkerung, Kriegsgefangene, Fehler in der Kriegsführung und stalinistische Säuberungen in der Nachkriegszeit kaum thematisiert, und es dauerte lange, bis diese in das kollektive Erinnerungsrepertoire aufgenommen wurden. Einige dieser Themen haben bis heute kaum Akzeptanz in der russischen Öffentlichkeit, wie beispielsweise der Status der Kriegsgefangenen, die Kollaboration mit den Deutschen und die Vergewaltigung deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten. Alle Narrationstypen in der UdSSR privilegieren den Sieg als zentrales Ereignis im Zweiten Weltkrieg, der als eine Art Herrensignifikant (Žižek 1991) 78 fungiert und die sowjetische Identität definiert. Der Sieg wird daher ständig durch kulturelle Produkte und Praktiken aktualisiert und – gewollt oder ungewollt – ausdifferenziert. So wird auch der Stoff der Kriegsfilme immer auf die
78 Slavoj Žižek zeigt in seiner Analyse zur Hegel’schen Dialektik, wie die „Notwendigkeit selbst von einer radikalen Kontingenz abhängt, das ist die ‚dialektische Einheit von Zufall und Notwendigkeit‘ und nicht die Notwendigkeit als die umfassende Einheit ihrer selbst und ihres Gegenteils, des Zufalls.“ Den Schlüssel zur Hegel’schen „Teleologie“ sieht Žižek in einer retroaktiven Bewegung von Signifikanten, indem der später auftauchende Herrensignifikant der vorangehenden Kette rückwirkend Bedeutung verleiht. Diese Beobachtung erscheint generell für die narrative Sinngebung als aufschlussreich (1992, S. 41).
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Frage des Sieges hin ausgewählt, angepasst und dramatisiert – auch in Filmen, in denen es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg geht. Dieses Kriegsbild wurde unter Einsatz der „Narration von oben“ und des Ereignis-Fragments etabliert bzw. ist diese Vergangenheitsdeutung als Effekt der spezifischen narrativen Eingrenzung zu beschreiben. Die „Narration von oben“ ist ein allgemeines Charakteristikum totalitärer Staaten: Sie unterstützt diese mit einem totalen kausal-logischen Geschichtsbild, das teleologisch denkt und hier den Sozialismus oder Kommunismus als Ziel der Geschichte setzt. Auch in der DDR gehört dieser Narrationstypus zu den etablierten Erzählformen für die Geschichtsdarstellung. In der UdSSR wird die „Narration von oben“ direkt nach Kriegsende entworfen; die sowjetische Kinematografie experimentierte allerdings auch davor schon mit vergleichbaren ästhetischen Strategien, etwa epischen Biografien von Revolutionshelden, die dann auf die Repräsentation des Krieges übertragen werden. Seit der Tauwetter-Periode entstehen zunehmend Produktionen in der Fragment-Form, wobei die „Narration von oben“, deren Bedeutung – gemessen an der Zahl der Produktionen, in denen sie Einsatz findet – über Jahrzehnte eher zunimmt, die dominanteste Darstellungsform in der UdSSR bleibt und die Erinnerungskultur entsprechend weiter formt. In Russland besteht sie bis heute. Die sowjetisch-russische Erinnerungskultur ist also durch ein kausal-logisches, monumentales Erzählen geprägt. Die Filme verankerten auf diese Weise eine Reihe berühmter Erinnerungsorte und -ereignisse sowie historischer Personen im kollektiven Bewusstsein. In der UdSSR bringt die „Narration von oben“ heroische, machtvolle Subjekte hervor, welche die Geschichte selbst produzieren und lenken. Der Krieg darf dabei nie seinen Sinn verlieren, weswegen der Typus der Demetaphorisierung, der dem Krieg den Sinn entzieht, in dieser Kultur vollkommen fehlt. Auch jegliche Arten von Symbolisierung (wie in der Synekdoche) oder Allegorisierung (wie in der Parabel) erscheinen hier als subversive Formen, die Kriegsinhalte in einen anderen Kontext übersetzen und gefährliche Mehrdeutigkeit produzieren, wodurch sozialistische Legitimationsmechanismen in Frage gestellt werden können. Synekdochen werden in der Regel verboten, Parabeln entstehen in Russland erst nach 2000. Geschlechtsspezifisch betrachtet wird die sowjetische Erinnerungskultur durch Soldatenfiguren als männlich-russisch inszeniert, die Soldaten durchschreiten als handelnde Subjekte die Geschichte, an ihrer Seite steht dabei die historische Wahrheit, die alle ihre Handlungen rechtfertigt. Die Klassenzugehörigkeit spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle: Arbeiter und später Bauern sind führende Figuren. Jegliche Art von Subversion oder Kritik am Staatsystem wird durch die Perspektive der aus dem Erinnerungskanon ausgeschlossenen Opfergruppen möglich, vorwiegend durch Frauenfiguren als Protagonistinnen und etwas seltener durch Männerfiguren aus der Intelligenzija (der sowjetischen Bildungsschicht). Auch im 195
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Russland der Gegenwart bleiben diese Tendenzen bestehen. Die „Narration von oben“ inszeniert Russland als Weltmacht, deren Defizite mithilfe von Frauenfiguren abgespalten werden. Die UdSSR und die BRD ähneln sich in dem Bestreben, die patriarchale Macht in der Nachkriegszeit als Normalität zu etablieren – die Angst vor der Emanzipation der Frauen und dem Abdrängen der Männer aus wichtigen politischen Positionen ist in beiden Kulturen nach dem Krieg groß. Filme mit Fragment-Charakter ergänzen als Puzzleteile die „Narration von oben“ je nach politisch-kulturellen Bedürfnissen und differenzieren so mit ihrer Vorliebe zum Detail den Erinnerungskanon aus. Das Ereignis-Fragment handelt von großen, für die sowjetische Seite erfolgreichen Schlachten. Sowohl die „Narration von oben“ als auch das Ereignis-Fragment neigen durch ihre angebliche Vollständigkeit der historischen Darstellung zur Typisierung. Das Ereignis-Fragment wird besonders populär, weil es die „Narration von oben“ an einem Kriegsausschnitt wiederholt, und seine Produktion nimmt in der Brežnev-Ära ab Mitte der 1960er Jahre zu. Die im Film propagierte Monumentalität der sowjetischen Leistung im Krieg entwickelt sich zu einer monumentalen Memorialpolitik – es entstehen gigantische Mahnmale und Gedenkstätten und es finden große Paraden zur Feier des Sieges und zur Ehrung der Kriegsveteranen und -veteraninnen statt. In der Tauwetter-Periode entsteht im Zuge der Absage an den Sozialistischen Realismus eine Konjunktur des Psychologischen. Die „Narration von oben“ gilt nun als zu unpräzise, wobei auch sie psychologische Muster integriert, und so ermöglicht es vor allem das Fragment, Kriegserlebnisse subjektiv-individuell zu inszenieren und somit die monumental erzählte Historie der „Narration von oben“ durch die Geschichten einfacher Menschen zu vervollständigen. Mit dem Fragment werden viele Themen aufgearbeitet: der Alltag im Krieg, spezifische Gruppen wie die Partisanen, Piloten oder Panzerfahrer, die Zivilbevölkerung im Krieg usw. Der Kategorie des Sonderfragments, das ebenfalls die sowjetische Erinnerungskultur charakterisiert, lassen sich hauptsächlich die vielen Spionagekriegsfilme zuordnen, die unter dem Einfluss des Kalten Krieges entstehen und eine intime Nähe zum Feind fördern. Die Geschlossenheit der sowjetischen Kultur begünstigt solche Annäherungsfantasien, welche indirekt eine Verbindung zum Gegner herstellen und so als Kompensation für die Isolierung vom Westen dienen. Über einen Umweg tarnt sich die UdSSR als das Andere, maskiert sich als der Feind, um sich dem Westen anzunähern, ohne die eigene sozialistische Ideologie aufzugeben, weil der Sozialismus seine Legitimation weiterhin aus dem Sieg gewinnt. Insgesamt entstehen zahlreiche Fragmente aus dem Bedürfnis heraus, die Kriegsdeutung in Bezug auf die Gegenwart zu aktualisieren. Die Endnarration ist in der UdSSR – im Gegensatz zur BRD – eine unmittelbar an die Gegenwart gebundene Form, die dann den Kriegsausgang für die neue Generation und die neue politische Situation aktualisiert. Der Krieg wird in der Endnarrati-
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on zunehmend zu einer kurzen Erinnerung, die etwa auf ein Kriegslied oder die Inszenierung eines bestimmten Gefühls reduziert wird. Auch in der DDR findet sich eine ähnliche Form im Gegenwartsfilm. Die „Narration von oben“ schließt den Krieg ab und rückt ihn damit in die Vergangenheit, während die Fragment-Formen die Wiederkehr und Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart zum Ausdruck bringen. Die UdSSR und das Russland der Gegenwart müssen fortwährend gegen das Vergessen ankämpfen, um den Sieg im Zweiten Weltkrieg als politisch aktuell aufrechtzuerhalten. Die Russische Föderation muss deshalb immer weiter Filme produzieren und öffentliche Erinnerungspraxen am Leben erhalten, um den Sieg im Zweiten Weltkrieg zu aktualisieren.
DDR: Vollständigkeit und Allegorie Die DDR gründet sich auf eine völlige Ablehnung des Nationalsozialismus, welche sich durch die Kommunisten und Kommunistinnen an der Spitze legitimiert, die aus dem Exil zurückkehrten oder die Verfolgung in Deutschland überlebt hatten. Für die DDR ist daher die Frage des gelungenen Widerstandes zentral, der zugleich als Grundlage eines neuen Staates dient. Aus diesem Grund thematisieren die Filme sowohl die eigene Niederlage als auch den eigenen Sieg bzw. die Befreiung vom Nationalsozialismus, verbinden diese Themen und konstruieren so einen Übergang vom Nationalsozialismus in den Sozialismus. Der Sozialismus ist dabei stets eine bewusste Entscheidung gegen den Faschismus. Der gelungene Widerstand wird durch den filmischen Fokus auf eine Figur möglich, die (und mit ihr das Publikum) das verbrecherische Wesen des Nationalsozialismus erkennt, sich davon abgrenzt, den Krieg überlebt und den Beginn einer neuen, gerechten Staatsordnung in der Abgrenzung zur Vergangenheit setzt. Der Widerstand verdichtet dabei in der Vergangenheitsdeutung wiederum aktuelle Diskurse. Der Antifaschismus grenzt sich also nicht nur von der nationalsozialistischen Vergangenheit ab, sondern auch vom westlichen Kapitalismus der Gegenwart, sodass die filmische Auseinandersetzung mit dem Krieg hier grundsätzlich zwei verschiedenen Abgrenzungsbewegungen dient. Im Laufe der Zeit bilden sich in der DDR zudem Strategien des Widerstands gegenüber sowjetischen Inhalten und Motiven aus. Opfer des Krieges werden thematisiert, um den Nationalsozialismus als verbrecherisch zu denunzieren. Auch zur Judenverfolgung, die jedoch nicht das zentrale Erinnerungsmotiv darstellt, erscheinen regelmäßig Produktionen. Der Umgang mit den Juden dient ebenfalls als Beweis für die Inhumanität des NS-Regimes. In der DDR wurde die Erinnerungskultur durch die „Narration von oben“ und die Parabel geformt; beide Narrationstypen blieben bis zum Ende der DDR bestehen. Die allumfassende „Narration von oben“ ermöglichte es, eine überzeugende Kontinuität zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufzubauen 197
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und den sozialistischen Staat über die historische Kontinuität zu legitimieren, indem die Kommunisten und Kommunistinnen eine Tradition darstellten, die dem Nationalsozialismus von Anfang an Widerstand leistete und sich darum als die einzig richtige politische Form herausstellte. Mit der Kraft der Kontinuität bekommt der sozialistische Staat die historische Legitimierungskraft und wird vor allem nicht durch die NS-Ideologie kontaminiert. Die „Narration von oben“ in der DDR unterscheidet sich von der sowjetischen Tradition durch den Fokus auf eine Familie (im Gegensatz zur sowjetischen Gruppe, die als multiethnisches Kollektiv auftritt) sowie durch seine Nähe zum Biopic, das eine teilweise Psychologisierung der Subjekte ermöglicht. Die Familie als Ort der Geschichtsbetrachtung hat zudem die Vorteile, historische Panoramen zu vermeiden (es geht nur um die kommunistische Tradition), Orte und Schlachten nicht zeigen zu müssen (und so keine Eroberungsfantasien schüren zu müssen) und allein die Niederlagen im kollektiven Gedächtnis zu verfestigen. Die meisten ostdeutschen Filme, die der „Narration von oben“ folgen, verlassen daher Deutschland als Handlungsort nicht, während die sowjetische Darstellungsform die europäischen Länder durchschreitet. Außerdem treten in den DDR-Filmen Kommunistinnen und Kommunisten als Figuren im Inland auf, nicht als Exilierte (wodurch fremde Orte thematisiert würden), sodass der Wunsch und das Recht auf einen Staat aus Deutschland selbst kommen. Aus diesem Grund ist der Kontakt mit dem Nationalsozialismus nicht zu vermeiden. Mit dieser Narration wird in der DDR deshalb eine Ermächtigung der Subjekte inszeniert. Sie gelangen in ihrer historischen Ohnmacht zu der Erkenntnis, wie verbrecherisch das Wesen des NS-Regimes ist, verurteilen es, büßen dafür mit dem Tod einer nahen Figur und werden durch die Massen, die Entscheidung zu einer neuen Ordnung oder durch neue soziale Perspektiven gegen Ende zu einer politischen Grundsatzentscheidung ermächtigt, wodurch das sozialistische Subjekt der DDR legitimiert wird. Auch Frauenfiguren spielen von Anfang an eine wichtige legitimatorische Rolle: Sie stellen den Sozialismus als ein vorteilhaftes, emanzipatorisches System aus. Im Gegensatz zur UdSSR oder zur BRD ist es in der DDR möglich, die Frau als geschichtliches Subjekt zu entwerfen. So wird der Übergang von der Vergangenheit in die Gegenwart oft dadurch inszeniert, dass politische Aufgaben von Männern an Frauen weitergegeben werden. Seit den 1960er Jahren wird zunehmend die Frage der deutschen Ost-West-Teilung virulent, die auch in Kriegsfilmen thematisiert wird. Zum Beispiel werden nicht mehr die Mitglieder einer Familie zu Hauptfiguren, sondern Freunde (vorwiegend männliche Figuren), welche die Deutschlandspaltung insofern darstellen können, als sich einer für den Nationalsozialismus und ein anderer für den kommunistischen Widerstand entscheidet. Die Abspaltung des westlichen Teils, die nie geschlechtsdifferent und daher durch Männlichkeiten als paritär inszeniert wird, setzt die Herausbildung
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eines neuen machtvollen Subjektes voraus. Die „Narration von oben“ präsentiert sich somit als stark affirmative und zudem oftmals an positivistischen Formen der Geschichtsschreibung orientierte Erzählform. Die Parabel hingegen drückt einen allegorischen Umgang mit der sozialistischen Ideologie und Ästhetik aus. Sie zeigt sich als geeignet, westliche und östliche ästhetische Traditionen zu verschmelzen, zugleich aber bewahrt sie einen Abstand sowohl zur faschistischen Vergangenheit als auch zur sozialistischen Ideologie, werden doch Kriegsinhalte in einem Kontext außerhalb des Krieges verhandelt, wodurch der inszenierte Kontext mehrdeutig wird. Generell werden in den DEFAFilmen über die Jahre zunehmend Allegorisierungsmomente bemerkbar, wobei die Filme mit ihrer Kritik am NS-Regime zugleich die eigene sozialistische Diktatur hinterfragen. Mit der Parabel soll eine didaktisch-aufklärerische Wirkung erzielt werden, indem sie durch die Analyse der Vergangenheit die Subjekte zur Erkenntnis zwingt. Gleichzeitig wird durch die Mehrdeutigkeit ein analytisch-distanziertes Subjekt installiert – ebenfalls eine Art der Ermächtigung –, das nicht nur zu den nationalsozialistischen, sondern auch zu den sozialistischen Strukturen Distanz bewahrt. Eine solche Infragestellung der Staatspolitik war in der UdSSR auf keinen Fall möglich. Die sowjetische Zensur strebte in der Darstellung des Zweiten Weltkrieges historische Eindeutigkeit an. In der BRD fand die Parabel hingegen schlicht keine Resonanz. Aufgrund der demokratischen Vergangenheitsdeutung und Rezeptionsstruktur, die natürlich nicht ideologiefrei waren, aber nicht so obsessiv kontrolliert und zensiert wurden, war das Bedürfnis nach einer verschlüsselten Repräsentation gering. Allerdings war die Parabel in der DDR nicht subversiv, trug sie doch dazu bei, dass der Sozialismus durch diese distanzierte Haltung des Publikums eigentlich erst akzeptabel wurde. Indem eine kritische Distanz zur sozialistischen Ideologie bewahrt wurde, suggerierten die Filme, der Sozialismus sei eigentlich nicht wirksam, doch gerade in dieser hinterfragten Form wurde er von der Bevölkerung angenommen (Žižek 1997, S. 45). Daher gehören zum Sonderfragment auch KZ- und Gefängnisfilme – sie bringen die Doppelseitigkeit der Verbrechen des Nationalsozialismus einerseits und der sozialistischen Isolierung andererseits besonders wirkungsvoll zum Ausdruck. Ähnlich wie in der UdSSR wird in der kurzen Liberalisierungszeit vom Ende der 1950er bis zur Mitte der 1960er Jahre die Fragment-Form populär, in erster Linie die Endnarration, die mit dem Übergang in den Frieden die aktuelle Staatsordnung verhandelt und die sowjetische Präsenz in der UdSSR legitimiert. Der Sozialismus steht bis zum Ende seiner Existenz in der DDR unter Legitimationsdruck, was die Popularität der Endnarration und die Streuung des Antifaschismusmotivs in mehreren Gegenwartsfilmen erklärt (Finke 2007, S. 118). Vor allem wird dadurch die sowjetische Herrschaft in der DDR legitimiert, die als eine Eigenart der ost199
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deutschen nationalen Kultur postuliert wird (ebd., S. 62–63). Außerdem rückt der Krieg ähnlich wie in der UdSSR durch die „Narration von oben“ und die Parabel in die Vergangenheit – die Historie erscheint abgeschlossen. Auch Fragmente dienen der Aktualisierung der Vergangenheit. Das Ereignis-Fragment fehlt dabei komplett, weil die UdSSR zahlreiche Filme dieses Formats nach Deutschland exportierte. Auch die Demetaphorisierung ist als Strategie nur in einem Film, Ehe im Schatten (DDR 1947, R. Kurt Maetzig), nachzuweisen, der die Sinnlosigkeit der Judenverfolgung in den Fokus rückt. Die sowjetische und die ostdeutsche Erinnerungskultur überschneiden sich durch ihre Legitimation des Kommunismus aus der Vergangenheit mithilfe der „Narration von oben“. Deswegen darf der Krieg nie den Sinn verlieren. Die „Narration von oben“ liefert historische Beweise für die Wahrheit des Antifaschismus. Mit der BRD ist die DDR durch die starke Bedeutung der Endnarration vergleichbar, wobei die sozialistische Republik damit den Realsozialismus legitimiert, während die BRD – weniger zukunftsweisend – schlicht die Niederlage der Nazis zeigt. Eine einzigartige Form stellt die Parabel dar, die einen Abstand zur Ideologie und daher gerade die Akzeptanz dieser Ideologie ermöglicht. Zugleich ist sie eine fruchtbare künstlerische Form, in der interessante filmästhetische Strategien entwickelt werden.
BRD: Fragment und Symbolisierung Im Gegensatz zur DDR findet die BRD keine Form der Äußerung, die es ermöglichen würde, den Nationalsozialismus in vergleichbar radikaler Form und aus einer politischen Tradition heraus zu verwerfen. Die sozialdemokratische Partei in der Weimarer Republik hätte vielleicht als Anknüpfungspunkt für eine solche Tradition dienen können, die Abgrenzung wurde und wird aber im Film meist nicht politisch, sondern universell-anthropologisch gestaltet, zum Beispiel durch die christliche Religion als friedliche gerechte Ordnung und durch die Idee des Guten im Menschen. Die Legitimierung und Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung verläuft nicht über Parteizugehörigkeit und politische Haltung, sondern über die Besinnung auf scheinbar zeitlose Werte, welche die BRD in einem Bereich verortet, der angeblich außerhalb des Politischen liegt. Vor diesem Hintergrund wirft die BRD der DDR eine ideologische Grundhaltung vor, wobei sich die BRD selbst als eine biblische und genuin humane Ordnung darstellt, die sich historisch über Jahrtausende bewiesen hat und vom Inneren des Menschen, von der menschlichen ‚Natur‘ ausgehend, konstituiert worden ist. Angesichts einer solchen universellen Legitimation verblasst jegliche parteiliche Tradition. Die in der BRD propagierte Geschlechterordnung bleibt im Zuge dessen konservativ-patriarchalisch; vor allem werden die Gründung und der Schutz der Familie hoch gewichtet, was einem neuen Individualismus in die Hände spielt.
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Für die BRD ist daher primär die Frage des gescheiterten Widerstandes von Bedeutung, wenngleich die Niederlage im Zweiten Weltkrieg überall im Film zum Ausdruck gebracht wird. Allein die Niederlage zu thematisieren droht das NS-Regime nostalgisch zu verklären und seine Strukturen zum Teil zu reproduzieren. Gerade durch die filmischen Strukturen wird die Erinnerungskultur deshalb auf den gescheiterten Widerstand fixiert. Einerseits ermöglicht der Widerstand eine Abspaltung der NS-Ideologie, zum anderen etabliert er historische Subjekte, die als Identitätsgrundlage für die Nachkriegssubjekte dienen können, da sie nicht vollkommen delegitimiert sind. Der gescheiterte Widerstand ist auch geeignet, um das Märtyrertum zu thematisieren, durch welches in der Niederlage eine Katharsis durchlebt werden kann. Das Religiös-Menschliche ist kein politisches Programm, das den Widerstand organisieren könnte, es ist eher ein innerer Zustand, der sich dem Nationalsozialismus widersetzt und zugleich für ihn büßt. Eine Verinnerlichung des Widerstands wird außerdem durch Psychologisierungsstrategien erzielt. Das Märtyrertum gibt darüber hinaus Hoffnung auf ein neues Leben, auf eine Wiedergeburt. Der gescheiterte Widerstand wird möglicherweise auch in Abgrenzung vom aktiven und erfolgreichen kommunistischen Widerstand dargestellt. Ende der 1970er Jahre verschiebt sich der Fokus auf die Shoah als zentrales Erinnerungsereignis, aber auch hier bleibt das Thema des gescheiterten Widerstands von zentraler Bedeutung und wird durch die Themen der gescheiterten Hilfe und Rettung ergänzt. Die Ermordung der europäischen Juden erweist sich für die westdeutsche Erinnerungskultur als besonders geeignet, erscheint sie in den Darstellungen doch als eine Art biblisches Motiv, das den Zweiten Weltkrieg in eine Jahrtausende währende biblische Geschichte einzufügen erlaubt. Die narrative Funktionalisierung der Shoah stützt so die ahistorische, religiös-anthropologische bürgerliche Ideologie. In der BRD wird die Geschichte bevorzugt als Fragment dargestellt, vor allem als Endnarration – in Analogie zur DDR – und als Ereignis-Fragment – in Analogie zur UdSSR –, wobei die Endnarration gleichzeitig oft ein Ereignis inszeniert. Das Fragment wird in der Nachkriegszeit durch die „Narration von unten“ etabliert, in der in einem Flashback ein aus dem Kontext gerissenes traumatisches Kriegserlebnis rekonstruiert wird. Diese Narrationsart delegitimiert die Täterperspektive auf den Krieg und installiert zugleich ein Trauma, indem der geschichtliche Bruch mit dem Nationalsozialismus aufgrund der fragmentarischen Geschichtsdarstellung und der Abkoppelung der Geschichte von der Gegenwart nicht mehr überwunden werden kann. Die meisten in der Folge entstandenen Filme folgen dem Narrationstyp des Fragments, das die Handlung gegen Ende des Krieges ansiedelt, um jegliche Art der Identifizierung mit der NS-Ideologie zu vermeiden. 201
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In der BRD fehlt im Gegensatz zur UdSSR und zur DDR der Gesamtrahmen für die Vergangenheitsdeutung. In den 1950er Jahren wurden in Westdeutschland einige Produktionen mit einer „Narration von oben“ gedreht, die den politisch-ideologischen Bruch jedoch nicht überwinden können. Die Fragmentarisierung der Historie erscheint für die politische Legitimation der BRD als besonders problematisch: Sie steht offensichtlich konträr zu den Kontinuitätsbestrebungen, die für eine Nation grundlegend sind. Aber auch aus der Sicht der in der westlichen Kultur etablierten Erzählweise stellt das Fragment ein Problem dar, weil es sich aufgrund der Eigenheiten filmischer Ästhetik zu verselbstständigen droht. Bezeichnenderweise hält schon Aristoteles fest, dass Handlungen, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden und sich verselbstständigt haben, die schlechtesten sind (vgl. Aristoteles 1997, S. 33). Die Besonderheit der westdeutschen Erinnerungskultur besteht daher in der Verschiebung der Erinnerungskultur hin zum Besonderen, das schließlich zum Allgemeingültigen wird. Die Fragment-Narration thematisiert ihrer filmspezifischen Dramaturgie nach die Ausnahmen, fungiert dann aber wegen des fehlenden Gesamtrahmens als einzige mögliche Deutung der Geschichte und fixiert so das kollektive Gedächtnis im Besonderen. Waren beispielsweise die meisten Deutschen im Krieg Unterstützer*innen und Mitläufer*innen des Nationalsozialismus, so zeigt das Fragment das Attentat auf Hitler und den Widerstand, der gerade aufgrund des Fehlens eines Gesamtbilds zur allgemeingültigen und identitätsstiftenden Grundlage werden kann. Das Ereignis-Fragment fokussiert ebenfalls das Besondere, das spektakulär in Szene gesetzt wird, etwa die Schlacht von Stalingrad oder den Untergang des Dritten Reiches. In diesen Narrationstypus ist die Niederlage bereits eingeschrieben, und manchmal ist nicht mehr zu unterscheiden, ob es um ein Ereignis-Fragment oder um eine ereignishafte Endnarration geht. Die populärsten Endnarrationen erweisen sich dabei in der Regel als noch nicht vollkommen abgeschlossen. Sie zeigen zwar das Ende des Krieges, lassen den Übergang in den Frieden allerdings weitgehend offen – auch wenn einige ästhetische Elemente auf die kommende Ordnung anspielen, etwa wenn für die Gegenwart zentrale Themen oder Diskurse in Bildern, Dialogen und durch bestimmte Figuren aufgerufen werden. Wie andere Filme auch sind Endnarrationen darauf ausgerichtet, das Publikum in seinen aktuellen Denkmustern anzusprechen und die Bildlichkeit erkennbar zu machen. Aktuelle Diskurse sind in der Darstellungsform abgelagert, dienen als ihr ästhetisches Apriori, sind aber nicht als Bild sichtbar. Ein unmittelbares Bild der Nachkriegsgesellschaft bleibt aus. Dadurch wird jede visuelle und semantische Verbindung zwischen der bürgerlichen Nachkriegsordnung und dem zerschlagenen Nationalsozialismus verhindert. Da die Historie gleichwohl nicht zu einem Ende kommt, entsteht ein Erinnerungsproblem, sodass die Filme immer
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wieder Debatten über die Vergangenheit auslösen. Es ist daher kein Zufall, dass Deutschland zu einem der führenden Länder der interdisziplinären Reflexion über die Vergangenheit wurde, in dem zahlreiche Erinnerungstheorien entstanden: Die Geschichte vergeht hier nicht; die Filme intervenieren kraft ihrer Dramaturgie in die historische Vergangenheit, als ob sie diese verändern könnten, und scheitern dabei. So bleibt die Vergangenheit unabgeschlossen und wirkt in dieser Form in die Gegenwart hinein. Durch die Fokussierung der bundesdeutschen Erinnerungskultur auf die Shoah ab dem Ende der 1970er Jahre wird die Unabgeschlossenheit noch potenziert, muss ab diesem Zeitpunkt doch eine neue Perspektive auf die Vergangenheit aufgearbeitet werden. Das Fehlen eines Gesamtrahmens sowie die Unabgeschlossenheit der Geschichte führen dazu, dass jedes Fragment die Historie umschreiben kann. Die Fragmente verknüpfen und ergänzen einander nicht, vielmehr sucht jedes Fragment den ganzen Krieg zu erklären, unabhängig davon, ob die Filmschaffenden dies anstrebten oder nicht. In der BRD ist daher die Tendenz zu beobachten, Kriegsfilme grundsätzlich als Synekdochen, als Pars pro Toto zu rezipieren. Auch die anthropologisch-religiöse Kriegsdeutung befördert ahistorische Verallgemeinerungen jedes Fragments zu zu Stellvertreterinnen für das Ganze, welche jede Geschichte zum Exempel erklären. Diese metonymische Ausdehnung des Fragments unterscheidet sich von der Allegorisierungsstrategie der DDR insofern, als dass die Symbolisierung im Gegensatz zur allegorischen Parabel immer auf denselben Gegenstand und den gleichen Handlungsort bezogen ist. Eigentliche und uneigentliche Bedeutung des Films sind somit nicht trennscharf zu unterscheiden. Außerdem verfahren Synekdochen nicht zwangsläufig analytisch, was die Gründe oder Folgen des Krieges angeht. Deswegen ist in der öffentlichen Rezeption kein Kriegsfilm jemals gut genug: Kein Film kann das Ganze an einem Fragment vollständig zeigen, und so wird immer etwas bleiben, das aufgrund der filmischen Struktur nicht berücksichtigt worden ist oder nicht als symbolisch verstanden werden kann. Durch diese Rezeptionshaltung und diese narrative Form entsteht also eine Diskrepanz zwischen den ästhetischen Repräsentationen, die die Vergangenheit weder ändern noch abschließen können, und der Erwartung des Publikums, das den Film als stellvertretende Darstellung für den ganzen Krieg liest und daher mit der unvollständigen Vergangenheitsform nicht zufrieden sein kann. Gegenüber dem oder der Filmschaffenden äußert sich diese Unzufriedenheit nachgerade rituell im Vorwurf der Verdrängung. Aufgrund des Ausschnittcharakters des Fragments entstehen notwendig Lücken im kollektiven Gedächtnis: Das Scheitern des Widerstands bzw. die Unmöglichkeit der Veränderung des Geschichtsverlaufs werden permanent aktualisiert, jedoch nicht im historischen Verlauf erklärt und darin eingebunden, sodass dieses Scheitern 203
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zuletzt selbst vom historischen Kontext abgekoppelt wird. Außerdem bedienen sich die Filme der bereits angesprochenen universellen oder anthropologischen Größen als Kompensations- und Bewältigungsstrategien. Während die „Narration von oben“ und die Parabel einen historischen Kontext stark machen, erhält das westdeutsche Fragment einen ahistorisch-universellen Charakter, der das Scheitern des Widerstands bis heute wirksam bleiben lässt. Der in der UdSSR im Fokus stehende Sieg im Krieg scheint jedoch weit in der Vergangenheit zu liegen. So zielt die deutsche Erinnerungskultur der Gegenwart gar nicht darauf ab, den Nationalsozialismus historisch zu einem Abschluss zu bringen und ihn als vergangen zu erklären, was zu einem anhaltenden Streit zwischen Vertreter*innen der Rechten und der Linken geführt hat. In Russland hingegen bedarf jeder Versuch, den Sieg auf die Gegenwart zu beziehen und zu aktualisieren, großer Anstrengungen. Auf diese Weise ist das aktuelle Interesse Deutschlands an der „Narration von oben“ zu erklären, mit der unterschwellig versucht wird, den Nationalsozialismus zu historisieren und seine erinnerungspolitische Wirkung in der Gegenwart zu brechen.
4.1.4 Narrationen in ihrer historischen Entwicklung Bereits unmittelbar nach Kriegsende ist in den drei Kulturen eine Fülle narrativer Gestaltungsformen zu vermerken: Bis 1950 erscheinen Werke, die der „Narration von unten“ folgen, in allen vier Besatzungszonen. Ferner finden sich die „Narration von oben“ (DEFA und UdSSR), die Parabel (DEFA, westliche Besatzungszonen), die Demetaphorisierung (DEFA), die Endnarration (UdSSR, westliche Besatzungszonen), das Ereignis-Fragment (UdSSR) und darüber hinaus noch die sowjetische Sonderform des Spionagefilms, der im Zweiten Weltkrieg spielt. Filmschaffende suchen in dieser Zeit mithin nach adäquaten Ästhetiken, um die neue politische Situation zu erfassen, und die Kinoindustrie liefert ein breites Angebot von Kriegsdeutungen, was die Komplexität der kulturellen Prozesse wie auch die Diversität kultureller Sinnstiftung deutlich macht. 1946 erscheint der erste deutsche Nachkriegs- und DEFA-Film, Die Mörder sind unter uns von Wolfgang Staudte, und etabliert die „Narration von unten“, welche in der Nachkriegszeit ein (traumatisches) Erlebnis aus dem Krieg rekonstruiert. Bei diesem Narrationstypus geht es um einfache Menschen, deren individuellen, zumeist traumatischen Erlebnisse im Krieg verhandelt werden. Ein offizielles Geschichtsbild besteht noch nicht. Die Narration zeichnet sich in erster Linie durch eine hohe Selbstreflexivität aus und macht gerade auf die Medialität und Materialität kollektiver und individueller Erinnerungen im Film aufmerksam. Die meisten Trümmerfilme weisen diese Struktur auf, die weltweit und über die
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Zeit hinweg allerdings als eher unpopuläre Darstellungsform bezeichnet werden muss. Nach der unmittelbaren Nachkriegszeit wird sie kaum noch eingesetzt, beeinflusst jedoch die Etablierung der Fragment-Form in der BRD, da sie die Erfahrung des Nationalsozialismus als nicht integrierbar konzipiert, um sie zu delegitimieren. Die „Narration von unten“ etabliert jene Ästhetik des Bruchs, die im Westen bis heute zur Anwendung gebracht wird. In der DDR und der UdSSR, deren Erinnerungskulturen sich in Richtung Monumentalität entwickeln und die beide den Sozialismus vor allem durch die Kraft der historischen Kontinuität zu legitimieren suchen, wird die „Narration von unten“ vorwiegend für die Darstellung der Judenverfolgung und der Lagererfahrung verwendet, welche als nicht repräsentativ für Nation und Staatlichkeit gezeigt werden: Das zweite Gleis (DDR 1962, R. Hans-Joachim Kunert), Chronik eines Mordes (DDR 1965, R. Joachim Hasler), Die Bilder des Zeugen Schattmann (DDR 1971/1972, R. Kurt Jung-Alsen) und Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя своё] (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov) sind Beispiele dieses Narrationstypus. Die narrative Zerstückelung der historischen Realität wirkt in allen Staaten traumatisierend und delegitimierend. Außerdem koppelt sie das traumatische Ereignis vom historischen Kontext ab. Die rekonstruierten Traumata stehen dann für sich und wirken weiter in die Gegenwart hinein. Damit vermitteln sie ein wichtiges ethisches Gebot zur Erinnerung an die Opfer, lassen die Geschichte jedoch nicht vergehen und bergen entsprechend die Gefahr, sich destruktiv auf die Gegenwart auszuwirken. Alle Filme versuchen daher zugleich, so etwas wie eine Heilung oder eine Therapie des Gezeigten anzubieten. Die „Narration von unten“ erscheint allerdings insofern als wichtig, als sie eine kritische Perspektive auf den Krieg entwickelt, noch bevor die ersten historischen Untersuchungen vorliegen. Zudem hat sie eine stark affektive Wirkung und hilft so dabei, den Nationalsozialismus zu verurteilen. Gleichzeitig etabliert sie eine filmische Form der (Meta-)Reflexion über den grundsätzlichen Konstruktionscharakter kultureller wie individueller Erinnerungen. Mit dem Thema der Judenverfolgung beschäftigen sich auch weitere Narrationstypen der Nachkriegszeit. Die DEFA-Produktion Affäre Blum (1948, R. Erich Engel) etabliert die Parabel, der DEFA-Film Ehe im Schatten (1947, R. Kurt Maetzig) die Demetaphorisierung. Die Parabel wird in der Folge zu einer der wichtigsten Formen der DDR-Geschichtsdarstellung in Bezug auf den Krieg. In Westdeutschland dagegen scheitern alle Versuche, diese Darstellungsform zu popularisieren: Schicksal aus zweiter Hand (BRD 1949, R. Wolfgang Staudte) und Der Verlorene (BRD 1951, R. Peter Lorre) fanden kaum Resonanz und sind auch in der Gegenwart kaum bekannt, im Gegensatz zu den ostdeutschen Filmen Das Beil von Wandsbek (DDR 1951, R. Falk Harnack), Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen), Sie nannten ihn Amigo (DDR 205
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1959, R. Heiner Carow) oder Der Fall Gleiwitz (DDR 1961, R. Gerhard Klein), die in ihrer Zeit Erfolge feierten. Die Parabel analysiert den Krieg in einem anderen Sinnkontext, der aufgrund der Auslagerung der Handlung an andere Orte und in andere Zeiten mehrdeutige Lesarten evoziert: Ein unmittelbar erzähltes Geschehen steht im Film zunächst für sich und kann auch ‚naiv‘ gelesen werden, sofern das Publikum kein kulturelles Wissen oder zumindest nicht ausreichend Wissen über die Geschichte besitzt. Die Parabel aktiviert dieses (Hintergrund-)Wissen durch verschiedene Symbole und Kontexte, die den Krieg allegorisch verdichten, sodass seine Gründe erklärt und verurteilt werden können. Dabei erweist sie sich als stark an den Gegenwartskontext gebunden. In der folgenden Generation kann daher der allegorische Sinn verloren gehen bzw. nicht mehr richtig erkannt werden. In den frühen DEFA-Filmen wurden mit der Parabel die Gründe des Krieges analysiert, in den späteren die Folgen: Vor allem wird die sowjetische Präsenz in der DDR und ihre Wirkung auf die DDR untersucht, zum Beispiel in Die Russen kommen (DDR 1967/68, 1987, R. Heiner Carow), Mama, ich lebe (DDR 1976, R. Konrad Wolf), Die Verlobte (DDR 1980, R. Günter Reisch/Günther Rücker), Der Aufenthalt (DDR 1983, R. Frank Beyer) und Erster Verlust (DEFA 1990, R. Maxim Dessau). Die Tendenz zur allegorischen Darstellung ist für die DDR-Kultur generell charakteristisch, man denke nur an die Brecht’sche Parabel. Als Reaktion auf die SED-Diktatur und die staatliche Zensur wird eine Ästhetik entwickelt, die durch ihre Mehrdeutigkeit zu Lektüren zwischen den Zeilen einlädt. Die Parabel findet daher breite Anerkennung. In der BRD hat sie keine Wirkung, da kein Bedarf besteht, Mehrdeutigkeit in dieser Form herzustellen. Parabeln werden hier oft auch als solche gar nicht richtig erkannt. In der UdSSR gibt es keine einzige Kriegsparabel, so subversiv erscheint ihre Mehrdeutigkeit. Die Demetaphorisierung könnte im Prinzip ebenfalls zu den Fragment-Formen gezählt werden, wurde allerdings in dieser Studie als gesonderter Darstellungstypus hervorgehoben: Sie etablierte sich im Film vor dem Zweiten Weltkrieg mit der US-amerikanischen Verfilmung des Romans Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque (USA 1930, R. Lewis Milestone). Filme dieses Erzähltyps entziehen dem Krieg jeglichen Sinn – gerade der Sinn aber durfte diesen Darstellungen in der UdSSR und später in der DDR auf keinen Fall fehlen. Aus diesem Grund existiert kein einziges sowjetisches Beispiel der Demetaphorisierung. In der DDR stellt die frühe Produktion Ehe im Schatten aus dem Jahr 1947 das einzige Werk dieses Erzähltyps dar. Außerdem ist dieser Film von Kurt Maetzig der einzige Film über die Judenverfolgung, der mit der Narration der Demetaphorisierung arbeitet. In der BRD ist die Tendenz zur Sinnentleerung hingegen in vielen Filmen zu finden, sodass sie nicht nur eine eigene Narrationsform darstellt, sondern generell als ein gängiges ästhetisches Stilmittel erscheint, um den Krieg als ganzen zu hinterfragen.
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Da sich das NS-Regime als historische Erfahrung in der BRD als nicht integrierbar erwies, stellen die Filme seine Sinnlosigkeit aus. Diese Produktionen werden oftmals als Antikriegsfilme identifiziert. Dazu gehören beispielsweise Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) und Kriegsgericht (BRD 1959, R. Gero Wecker). Allerdings kann die Demetaphorisierung nicht auf alle Themen problemlos angewandt werden. Nacht fiel über Gotenhafen (BRD 1960, R. Frank Wisbar) wurde für seine Darstellung der Deutschen als Opfer kritisiert. Jeder stirbt für sich allein (BRD 1975, R. Alfred Vohrer) gilt dann als eine gelungene Produktion über die deutsche Zivilbevölkerung, die den Krieg hinterfragt, ohne eine Opfermetapher zu produzieren. Eine Art Gegenstück zur „Narration von unten“ bildet die „Narration von oben“, die als wirkmächtigste und verbreitetste Geschichtsdarstellungen in der DDR und der UdSSR angesehen werden kann. Indem sie den Krieg vom Anfang bis zum Ende als kausal-logische oder gar teleologische Abfolge von Ereignissen zeigt, eröffnet sie die Möglichkeit, Staatssysteme und -ideologien über die Kraft der geschichtlichen Kontinuität und den Anschluss an Traditionen zu legitimieren. Die so dargestellte Historie hat eine große Überzeugungskraft, und so finden sich in allen drei Kulturen Versuche, diese Narrationsart einzusetzen. Die sowjetische Kinematografie und die DEFA produzieren bis 1950 jeweils drei Filme dieses Typs. In der Sowjetunion entstehen Der Schwur [Клятва] (UdSSR 1946, R. Michail Čiaureli), Die Dorfschullehrerin (Erziehung der Gefühle) [Сельская учительница (Воспитание чувств)] (UdSSR 1947, R. Mark Donskoj) und Der Fall von Berlin [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli), wobei Letzterer zum Vorbild und Ausgangspunkt aller weiteren sowjetischen Werke dieser Narrationsart wird und auch eine große Wirkung auf die ostdeutschen Produktionen ausübt. Die sowjetische „Narration von oben“ tendiert zu einer allumfassenden Monumentalität, bei der alle historisch erinnerungsrelevanten Persönlichkeiten und Orte genannt werden oder direkt gezeigt werden. Sie produziert machtvolle Subjekte, welche selbst Geschichte machen. Die DEFA spielt dagegen verschiedene Variationen der großen Geschichte durch. Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) stellt das Kleinbürgertum ins Zentrum und individualisiert die Geschichte durch den Fokus auf eine Familie, Die Buntkarierten (DDR 1949, R. Kurt Maetzig) konzipiert die Frau als geschichtliches Subjekt und dezentriert zugleich die große Geschichte, die der Film vom Rand her entwirft, und Der Rat der Götter (DDR 1950, R. Kurt Maetzig) ist ein Vorläufer der Filme des Sozialistischen Realismus, der seinen Höhepunkt in Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (DDR 1954, R. Kurt Maetzig) und Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (DDR 1955, R. Kurt Maetzig) findet. 207
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Die „Narration von oben“ als Legitimation des Sozialismus wird in beiden Ländern zu einem führenden Verfahren der Geschichtsschreibung, während in der BRD die Darstellung an der Nicht-Überwindbarkeit des historischen und somit ästhetischen Bruchs scheitert. Der Bruch mit dem NS-Regime lässt keine Kontinuitätsästhetik zu, und so stand die BRD erinnerungspolitisch unter einem enormen, nie richtig eingelösten Legitimationsdruck, der heute noch in den obskuren Argumentationen der ‚Reichsbürger‘ gespenstisch nachwirkt. Als früher Versuch ist vor allem die Trilogie 08/15 (BRD 1954/55, R. Paul May) erwähnenswert, von der symptomatischerweise nur der erste Teil, der vor dem Krieg spielt, einen richtigen Erfolg zu verzeichnen hatte. Canaris (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) verweigert bereits der Geschichte ihren Sinn. Erfolgreich wird dann ausgerechnet ein Film, der den Krieg als Filmriss inszeniert und auf diese Weise vollkommen auslässt: Wir Wunderkinder (BRD 1958, R. Kurt Hoffmann). Da die Macht der „Narration von oben“ enorm ist, produzieren die UdSSR und die DEFA (bis zum Ende ihrer Existenz) und danach auch Russland weiterhin Werke mit dieser Darstellungsform und auch die BRD bemüht sich immer wieder – wenn auch in kleinerem Umfang –, diese Narration als Gedächtnisrahmen zu installieren. In der Sowjetunion wird sie zu Beginn der Tauwetter-Periode durch Strategien der Dekonstruktion und Psychologisierung entscheidend weiterentwickelt. Durch den Einsatz einer weiblichen Hauptfigur und eine Selbstreflexion über die Genese kollektiver Bildlichkeit werden etwa in Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) eine Reihe sowjetischer Mythen, zum Beispiel über die Solidarität des Kollektivs und den Heroismus, zerstört. Die dekonstruktive und daher selbstreflexive Darstellungsart entpuppt sich auch für die westdeutsche Geschichtsdarstellung – allerdings erst in den 1980er Jahren – als eine mögliche Form, in welcher der Nationalsozialismus so in die Historie integriert werden kann, dass er keine Kontinuität mit der BRD herzustellen erlaubt. Die Geschichte wird so etwa in Deutschland, bleiche Mutter (BRD 1980, R. Helma Sanders-Brahms) und Lili Marleen (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) als eine mediale Konstruktion ausgestellt und reflektiert. Der Neue Deutsche Film der 1970er Jahre löst sich von den etablierten Paradigmen der realistischen Darstellung und macht somit eine andere, zum Beispiel medienreflexive Geschichtspräsentation möglich. Mit der Psychologisierung der „Narration von oben“ in Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) nähert sich die sowjetische Produktion der ostdeutschen Ästhetik an. Diese zwei sowjetischen Filme, die dekonstruktivistisch und psychologisch arbeiten, sind allerdings Ausnahmen, durch die die „Narration von oben“ jedoch derart modifiziert wird, dass ihr ein langes Weiterleben möglich wird. In der Brežnev-Ära, die durch Restalinisierungsprozesse gekennzeichnet ist, wird die Narration abermals
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monumentalisiert, wodurch sie sich wieder dem stalinistischen Darstellungsmodus annähert. Dazu gehört beispielsweise ein fast schon groteskes Mahnmal aus Zelluloid, der international produzierte Fünfteiler Befreiung [Освобождение] (UdSSR/ DDR/YU/I/P 1968–1972, R. Jurij Ozerov), der hinsichtlich der monumentalen Breite seiner Darstellung, seiner epischen Bildlichkeit, seines technischen Aufwands und seiner Produktionskosten selbst Der Fall von Berlin noch um ein Vielfaches übersteigt. Nach dem Untergang der UdSSR wird diese teure Produktion erst nach 2000 fortgesetzt, nachdem Russland sich zur sowjetischen Vergangenheit bekannt und im Zuge neonationalistischer Prozesse das Bedürfnis entwickelt hatte, sich als Weltmacht darzustellen. Der Zweite Weltkrieg wird im Rahmen der „Narration von oben“ weiterhin überdacht, indem die sowjetische Tradition mit neoimperialen Symbolen und hollywoodartiger Genre-Ästhetik angereichert wird. Die Trilogie Die Sonne, die uns täuscht [Утомленные солнцем] (RF 1994, R. Nikita Michalkov), Die Sonne, die uns täuscht 2: Exodus [Утомленные солнцем 2: Предстояние] (RF 2010, R. Nikita Michalkov) und Die Sonne, die uns täuscht 2: Zitadelle [Утомленные солнцем 2: Цитадель] (RF 2011, R. Nikita Michalkov) vereinigt prostalinistische Bildlichkeit mit Hollywood-Traditionen, entwirft Fantasien starker und machoartiger Männlichkeit und einen neuen Prototyp der stalinistischen Vaterfigur, die zugleich eine Horrorgestalt darstellt. Die sowjetische Vergangenheit wird durch den Krieg glorifiziert und heroisiert und wirkt gleichzeitig auf die Gegenwart zurück, indem Russland als Weltmacht imaginiert wird. Zugleich stellt die Trilogie ein ostentativ internationales Werk dar, was der sowjetisch-russischen Erinnerung Allgemeingültigkeit verleihen soll. Die DDR behandelt im Rahmen der „Narration von oben“ die Trennung zwischen dem Westen und dem Osten, wie etwa in Königskinder (DDR 1962, R. Frank Beyer) und Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert). Anschließend wird sie für die Darstellung von Tätern und Opfern eingesetzt, wobei zugleich weiterhin monumentale, alles umfassende Darstellungen des Krieges entstehen, beispielsweise in Die gefrorenen Blitze (DDR 1967, R. János Veiczi), Die Toten bleiben jung (DDR 1968, R. Joachim Kunert) oder in Die Fahne von Kriwoj Rog (DDR 1968, R. Kurt Maetzig). Die Täterperspektive wird in Lissy (DDR 1957, R. Konrad Wolf) so verhandelt, dass die Hauptfigur und damit die Zuschauenden zur Erkenntnis über das verbrecherische Wesen des Nationalsozialismus und zur Entscheidung für eine andere Staatsform gelangen. Die Protagonistin steht darüber hinaus in der legitimatorischen DDR-Tradition, Frauen als geschichtliche Subjekte zu entwerfen. Lebende Ware (DDR 1966, R. Wolfgang Luderer) setzt sich mit den Ursachen der Judenverfolgung auseinander und deckt vor allem ökonomische Interessen der Nazis auf. Wengler & Söhne – eine Legende (DDR 1986, R. Rainer Simon) kritisiert ebenfalls die Verbindung von 209
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Bürgertum und Kapitalismus, deren Folgen bis in die DDR-Gesellschaft reichen. Die jüdische Opferperspektive wird dann im Dreiteiler Hotel Polan und seine Gäste (DDR 1982, R. Horst Seemann) wie auch in Die Schauspielerin (DDR 1988, R. Siegfried Kühn) ausgearbeitet, wobei letztgenannter Film ähnlich wie Lili Marleen selbstreflexiv die eigene Ästhetik und die mediale Konstruiertheit des gesellschaftlichen Selbstverständnisses thematisiert. Da die monumentale, allumfassende „Narration von oben“ in der BRD in den 1950er Jahren scheitert, differenziert sie sich in der Folge in unterschiedliche Perspektiven aus. Die Historie als Ganzes darzustellen gelingt erst in den 1980er Jahren wieder, und dies auch nur unter der Bedingung ihrer Dekonstruktion bzw. der Ausstellung ihrer medialen Beschaffenheit. Deutschland, bleiche Mutter und Lili Marleen entwerfen die große Geschichte in einem selbstreflexiven Modus, was für die „Narration von oben“ eher untypisch oder sogar ‚gefährlich‘ ist. Die historische Kraft, die diesen Darstellungstypus in der UdSSR und der DDR so wirksam macht, erscheint hier als Folge einer filmästhetischen Konstruktion, wodurch sie nachhaltig geschwächt wird. Außerdem wird die Geschichte von der Peripherie her erzählt bzw. dezentriert dargestellt, da die Hauptfiguren Frauen sind, die als Heimatallegorien fungieren. Die Popularisierung der Psychoanalyse für die Kulturanalyse seit etwa Ende der 1960er Jahre beeinflusst die Darstellung der Täter in dieser Narration. Der Bruch zwischen dem Kriegsende und der Nachkriegszeit wird nicht überwunden, die Täter werden jedoch bestraft, wodurch die Gegenwartsgesellschaft in Abgrenzung vom Nationalsozialismus gedacht werden kann. Aus einem deutschen Leben (BRD 1977, R. Theodor Kotulla) rekonstruiert den Werdegang des Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, und zeigt an dessen Entwicklung zum Täter die Wirkungsweisen und Entwicklungen des NS-Regimes auf. Die jüdische Opferperspektive wird, auch inspiriert durch den Erfolg der US-amerikanischen TV-Miniserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin J. Chomsky), im Fernsehfünfteiler Die Bertinis (BRD/A/CH 1988, R. Egon Monk) nachvollzogen. Das Format der Fernsehserie macht es aufgrund der Unterbrechung zwischen den einzelnen Folgen möglich, historische Kontinuität zu evozieren, wofür etwa das Epos Heimat – Eine deutsche Chronik (BRD 1981/84/1992 R. Edgar Reitz) gefeiert wird. In jüngerer Zeit sind wiederum Versuche zu beobachten, durch Experimentalästhetik wie in Speer und Er (D 2005, R. Heinrich Breloer) oder durch den Einsatz bereits etablierter Motive wie in Unsere Mütter, unsere Väter (D 2013, R. Philipp Kadelbach) die „Narration von oben“ weiterzuentwickeln. Unsere Mütter, unsere Väter stellt die Historie kontinuierlich dar, indem filmisch entwickelte Motive als Legitimationsstrategie für eine solche Darstellung zitiert werden, wodurch der Film – im Gegensatz zu den sowjetischen oder ostdeutschen
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Produktionen – im größeren Maße selbstreferenzielle Züge erhält. Er steht somit einerseits in der Tradition des Neuen Deutschen Films der 1970er Jahre, der auf die mediale Konstruiertheit der Geschichte aufmerksam macht, andererseits wird diese Medialität möglichst unsichtbar gemacht und dient allein als Rechtfertigung für die Wahl der Motive. Fragment-Formen werden in der UdSSR zunächst direkt nach dem Krieg produziert, während sie in der DDR, in der viel weniger Filme dieses Typs gedreht werden, und der BRD, in der diese Narration zur dominanten Darstellungsform wird, seit den 1950er Jahren kontinuierlich populärer werden. Die Endnarration ist der einzige Erzähltypus, der in allen drei Kulturen gleichermaßen beliebt ist. In der UdSSR thematisiert die Erzählform zuerst den Übergang in den Frieden und die Normalisierung der Gesellschaft nach dem Krieg, etwa in Begegnung an der Elbe [Встреча на Эльбе] (UdSSR 1949, R. Grigorij Aleksandrov/Aleksej Utkin) und Die beiden Fjodors [Два Федора] (UdSSR 1959, R. Marlen Chuziev). Mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Krieg und dem Generationswechsel werden – zum Beispiel in Es war im Monat Mai [Был месяц май] (UdSSR 1970, R. Marlen Chuziev) – immer stärker auch die Erinnerungskultur und in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Großen Vaterländischen Krieges für Europa reflektiert. Auch wird die Frage behandelt, was der Krieg für die nächste sowjetische Generation bedeutet, beispielsweise in Weissrussischer Bahnhof [Белорусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov), Flügel [Крылья] (UdSSR 1966, R. Larissa Šepit’ko), Ein Soldat ist von der Front zurückgekehrt [Пришел содат с фронта] (UdSSR 1972, R. Nikolaj Gubenko) und Frontromanze [Военно-полевой роман] (UdSSR 1983, R. Petr Todorovskij). Die sowjetische Endnarration bewegt sich also weg vom Krieg und hinein in die Gegenwartsgesellschaft. In der DDR dient die Fragment-Narration vorwiegend der Reaktualisierung legitimatorischer Mechanismen der sowjetischen Macht, die mal ideologisch affirmativ, wie in Fünf Tage – fünf Nächte / Пять дней – пять ночей (UdSSR/ DDR 1961, R. Leo Arnstam/Heinz Thiel/Anatolij Golovanov), mal kritisch, wie in Ich war neunzehn (DDR 1967, R. Konrad Wolf), eingesetzt werden kann. Der Übergang aus dem Krieg erfolgt in einen sozialistischen Staat, der durch die sowjetischen Opfer, die für die Befreiung Deutschlands vom Faschismus gefallen sind, gegenüber der UdSSR zu Verehrung und Gehorsam verpflichtet wird. In der BRD wird sogar die Mehrheit der Kriegsfilme in Form der Endnarration gestaltet. Eine Welle von Endnarrationen entsteht in der Zeit der westdeutschen Remilitarisierungsdebatten Mitte der 1950er Jahre. Kinder, Mütter und ein General (BRD 1955, R. László Benedek) oder Der letzte Akt (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) führen beispielsweise kritisch die Ergebnisse der Kriegsbestrebungen vor Augen. Eine zweite große Welle ist nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu 211
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beobachten. Die Endnarration gestaltet jetzt Versöhnungsversuche mithilfe von internationalen Koproduktionen, wie etwa Dresden (D/GB 2006, R. Roland Suso Richter), Anonyma – Eine Frau in Berlin (D/RF/P 2008, R. Max Färberböck) und 4 Tage im Mai (D/RF/UA 2011, R. Achim von Borries), wobei auch das spektakuläre Ende des NS-Regimes in Szene gesetzt wird: Der Untergang (D 2004, R. Oliver Hirschbiegel). Nah an der Endnarration steht in der BRD das Ereignis-Fragment, da das inszenierte historische Geschehen stets die Signatur der Niederlage trägt. Zum Ereignis wird vor allem die Schlacht um Stalingrad, etwa in Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1958, R. Frank Wisbar) und Stalingrad (D 1993, R. Joseph Vilsmaier). Ein weiteres wichtiges Ereignis stellt die Inszenierung des (gescheiterten) Widerstands dar, ders in Der 20. Juli (BRD 1955, R. Falk Harnack), Es geschah am 20. Juli (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst), Des Teufels General (BRD 1954, R. Helmut Käutner) und vielen anderen, auch aktuellen Produktionen, die zum größten Teil zugleich eine Endnarration darstellen, behandelt wird. In der UdSSR knüpft das Ereignis-Fragment hingegen an die „Narration von oben“ an, hier geht es vorrangig um die Inszenierung der großen Schlachten, wobei die Stalingrader Schlacht je nach politischer Situation entweder affirmativ oder kritisch dargestellt wird. Zu den Sonderfragmenten werden solche Filme gezählt, die sich mit besonderen, nur für die jeweilige Kultur bedeutsamen Aspekten des Krieges beschäftigen. Sie können Strukturen anderer Narrationsarten aufweisen, wie zum Beispiel das hier ausgewählte westdeutsche Sonderfragment zum Thema der Kriegsheimkehrer, das primär als Endnarration erscheint. Auch darin ist die Historie fragmentiert. Die Heimkehrer werden nicht mit dem Krieg und dem Nationalsozialismus verbunden – allein ihr Weg nach Hause wird thematisiert –, sie kommen aber in der Regel nicht in der Heimat an. Das Zuhause wird nur angedeutet. Parole Heimat (BRD 1955, R. Wolfgang Becker) und So weit die Füsse tragen (BRD 1959, R. Fritz Um gelter) zeigen die Figuren auf dem Weg, Der Arzt von Stalingrad (BRD 1958, R. Géza von Radványj) und Der Teufel spielte Balalaika (BRD 1961, R. Leopold Lahola) hingegen die stalinistischen Arbeitslager für deutsche Kriegsgefangene. In diesem Zusammenhang werden die Folgen des Krieges diskutiert, wobei das sowjetische Arbeitslager nicht zu einem westdeutschen Erinnerungsort wird, da es außerhalb Deutschlands liegt und folglich ein fremdes und vorübergehendes Element bleibt. Im Gegensatz dazu werden in der DDR KZ- und Gefängnisfilme populär, die deswegen identitätsstiftend wirken, weil sie sich nicht nur auf die seit den 1950er Jahren etablierten Erinnerungsstätten für den Antifaschismus beziehen, die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen, sondern mit dem Lager als Erinnerungstopos sowohl auf die Zeit des Nationalsozialismus als auch auf die
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sozialistische Gegenwart verweisen. Die Filme sagen daher seit den 1950er Jahren immer deutlicher auch etwas über den Zustand des Sozialismus aus. Dazu gehören solche Produktionen wie Sterne (DDR/BUL 1959, R. Konrad Wolf), Nackt unter Wölfen (DDR 1963, R. Frank Beyer) und Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer). In der UdSSR wird das Genre des Spionagefilms erfolgreich, das vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges spielt. Direkt nach dem Krieg, im Kontext des Stalinismus, wird Die Heldentat eines Kundschafters [Подвиг разведчика] (UdSSR 1947, R. Boris Barnet) produziert. Zahlreiche weitere Filme erscheinen dann seit Mitte der 1960er Jahre, also mitten im Kalten Krieg, wobei sie die sowjetische Identität in Bezug auf Gegenwart und Vergangenheit neu verhandeln. Zu den Kultfilmen gehört vor allem die TV-Miniserie Siebzehn Augenblicke des Frühlings [Семнадцать мгновений весны] (UdSSR 1973, R. Tat’jana Lioznova), die bis heute eine der populärsten Produktionen der UdSSR ist und im russischen Fernsehen weiterhin regelmäßig ausgestrahlt wird. Nach dem Zerfall der UdSSR wird diese Narrationsart dafür benutzt, sich mit der Kollaboration und dem Stalinismus auseinanderzusetzen. Der Blick wird mithin vom Anderen auf das Eigene gewendet. Die Synekdoche, die erst in den 1950er Jahren erscheint, gehört ebenfalls zu den Fragmenten und ist in allen Ländern zu finden. In der Regel wird an einem Ausschnitt vom Anfang des Krieges der gesamte Krieg thematisiert, ohne ihn als Ganzes zu zeigen. Zum einen verdichten solche Produktionen die Zeit und rücken den Krieg mithilfe der Unbestimmtheit der Handlungsorte und typischer Figuren ins Symbolische, zum anderen bezieht sich das Fragment auch metonymisch auf das Ganze, indem die Progression und Intensität der Entwicklung angedeutet wird. In der BRD gehören dazu vorwiegend die Filme, die den Atlantik als Kriegsschauplatz auswählen, wie Haie und kleine Fische (BRD 1957, R. Frank Wisbar), Das Boot (BRD 1981, R. Wolfgang Petersen) und Laconia / The Sinking of the Laconia (D/GB 2011, R. Uwe Janson). Diese Filme, zumindest bis zu den 1980er Jahren, verweisen zugleich auf den westdeutschen Umgang mit dem Kalten Krieg. Gerade in den U-Boot-Kriegsfilmen wird der ehemalige Feind in die Ferne gerückt; die Mannschaft kämpft vor allem mit dem Meer selbst. In der DDR und der BRD wird auch die Judenverfolgung in Form von Synekdochen behandelt, etwa wenn die Handlung zu Beginn der NS-Diktatur situiert wird, wie in Professor Mamlock (DDR 1961, R. Konrad Wolf) und Die Geschwister Oppermann (BRD 1983, R. Egon Monk). Ein aktuelleres Beispiel dieser Vorgehensweise liefert Der letzte Zug (D 2006, R. Joseph Vilsmaier/Dana Vávrová). In der UdSSR wurden alle mehrdeutigen Kontexte in Bezug auf den Krieg verworfen. Der Synekdoche wohnt nach sowjetischem Verständnis ein subversives Potenzial inne, und die meisten Filme dieser Art wurden kontrovers diskutiert, durch den Verleih marginalisiert 213
214
4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
oder gar verboten. Generell dient diese Narration dazu, die sowjetische „Narration von oben“ einer Revision auszusetzen und sie durch eine Aufwertung zuvor nicht beachteter Themen zu korrigieren, wie etwa durch die Thematisierung der Opfer des Krieges in Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij), von Fragen der Kollaboration, des Widerstands und der Kriegsgefangenschaft in Aufstieg [Восхождение] (UdSSR 1976, R. Larissa Šepit’ko) und Strassenkontrolle [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971, R. Aleksej German sr.) oder der Leistungen der Frauen im Krieg in Im Morgengrauen ist es noch still [А зори здесь тихие] (UdSSR 1972, R. Stanislav Rostockij).
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
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Filme Filme
BRD/Deutschland 08/15 (BRD 1954/55, R. Paul May) 4 Tage im Mai (D/RF/UA 2011, R. Achim von Borries) Anonyma – Eine Frau in Berlin (D 2008, R. Max Färberböck) Aus einem deutschen Leben (BRD 1977, R. Theodor Kotulla) Canaris (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) Das Boot (BRD 1981, R. Wolfgang Petersen) Der 20. Juli (BRD 1955, R. Falk Harnack) Der Arzt von Stalingrad (BRD 1958, R. Géza von Radványj) Der letzte Akt (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) Der letzte Zug (D 2006, R. Joseph Vilsmaier/Dana Vávrová) Der Teufel spielte Balalaika (BRD 1961, R. Leopold Lahola) Der Untergang (D 2004, R. Oliver Hirschbiegel) Der Verlorene (BRD 1951, R. Peter Lorre) Des Teufels General (BRD 1954, R. Helmut Käutner) Deutschland, bleiche Mutter (BRD 1980, R. Helma Sanders-Brahms) Die Bertinis (BRD/A/CH 1988, R. Egon Monk) Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) Die Geschwister Oppermann (BRD 1983, R. Egon Monk) Dresden (D/GB 2006, R. Roland Suso Richter) Es geschah am 20. Juli (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) Haie und kleine Fische (BRD 1957, R. Frank Wisbar) Heimat (BRD 1981–2012, R. Edgar Reitz) Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) Jeder stirbt für sich allein (BRD 1975, R. Alfred Vohrer) Kinder, Mütter und ein General (BRD 1955, R. László Benedek) Kriegsgericht (BRD 1959, R. Gero Wecker) Laconia / The Sinking of the Laconia (D/GB 2011, R. Uwe Janson) Lili Marleen (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) Nacht fiel über Gotenhafen (BRD 1960, R. Frank Wisbar) Parole Heimat (BRD 1955, R. Wolfgang Becker)
Filme
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Schicksal aus zweiter Hand (BRD 1949, R. Wolfgang Staudte) So weit die Füsse tragen (D 2001, R. Hardy Martins) Speer und Er (D 2005, R. Heinrich Breloer) Stalingrad (D 1993, R. Joseph Vilsmaier) Unsere Mütter, unsere Väter (D 2013, R. Philipp Kadelbach) Wir Wunderkinder (BRD 1958, R. Kurt Hoffmann)
DDR Affäre Blum (DEFA 1948, R. Erich Engel) Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) Chronik eines Mordes (DDR 1965, R. Joachim Hasler) Das Beil von Wandsbek (DDR 1951, R. Falk Harnack) Das zweite Gleis (DDR 1962, R. Joachim Kunert) Der Aufenthalt (DDR 1983, R. Frank Beyer) Der Fall Gleiwitz (DDR 1961, R. Gerhard Klein) Der Rat der Götter (DDR 1950, R. Kurt Maetzig) Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert) Die Bilder des Zeugen Schattmann (DDR 1971/1972, R. Kurt Jung-Alsen) Die Buntkarierten (DDR 1949, R. Kurt Maetzig) Die Fahne von Kriwoj Rog (DDR 1968, R. Kurt Maetzig) Die gefrorenen Blitze (DDR 1967, R. János Veiczi) Die Russen kommen (DDR 1967/87, R. Heiner Carow) Die Schauspielerin (DDR 1988, R. Siegfried Kühn) Die Toten bleiben jung (DDR 1968, R. Joachim Kunert) Die Verlobte (DDR 1980, R. Günter Reisch/Günther Rücker) Ehe im Schatten (DDR 1947, R. Kurt Maetzig) Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (DDR 1955, R. Kurt Maetzig) Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (DDR 1954, R. Kurt Maetzig) Erster Verlust (DEFA 1990, R. Maxim Dessau) Hotel Polan und seine Gäste (DDR 1982, R. Horst Seemann) Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf) Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer) Königskinder (DDR 1962, R. Frank Beyer) Lebende Ware (DDR 1966, R. Wolfgang Luderer) Lissy (DDR 1957, R. Konrad Wolf) Mama, ich lebe (DDR 1977, R. Konrad Wolf) 217
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Nackt unter Wölfen (DDR 1963, R. Frank Beyer) Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) Professor Mamlock (DDR 1961, R. Konrad Wolf) Sie nannten ihn Amigo (DDR 1959, R. Heiner Carow) Sterne (DDR/BUL 1959, R. Konrad Wolf) Wengler & Söhne – Eine Legende (DDR 1986, R. Rainer Simon)
UdSSR/Russländische Föderation Aufstieg [Восхождение] (UdSSR 1976, R. Larisa Šepit’ko) Befreiung [Освобождение] (UdSSR/DDR/YU/I/P 1968–72, R. Jurij Ozerov) Begegnung an der Elbe [Встреча на Эльбе] (UdSSR 1949, R. Grigorij Aleksandrov/ Aleksej Utkin) Der Fall von Berlin [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli) Der Schwur [Клятва] (UdSSR 1946, R. Michail Čiaureli) Die beiden Fjodors [Два Федора] (UdSSR 1959, R. Marlen Chuziev) Die Sonne, die uns täuscht [Утомленные солнцем] (RF 1994, R. Nikita Michalkov) Die Sonne, die uns täuscht 2: Exodus [Утомленные солнцем 2: Предстояние] (RF 2010, R. Nikita Michalkov) Die Sonne, die uns täuscht 2: Zitadelle [Утомленные солнцем 2: Цитадель] (RF 2011, R. Nikita Michalkov) Die Dorfschullehrerin (Erziehung der Gefühle) [Сельская учительница (Воспитание чувств)] (UdSSR 1947, R. Mark Donskoj) Die Heldentat eines Kundschafters [Подвиг разведчика] (UdSSR 1947, R. Boris Barnet) Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) Ein Soldat ist von der Front zurückgekehrt [Пришел солдат с фронта] (UdSSR 1972 R. Nikolaj Gubenko) Es war im Monat Mai [Был месяц май] (UdSSR 1970, R. Marlen Chuziev) Flügel [Крылья] (UdSSR 1966, R. Larissa Šepit’ko) Frontromanze [Военно-полевой роман] (UdSSR 1983, R. Petr Todorovskij) Fünf Tage – fünf Nächte / Пять дней – пять ночей (UdSSR/DDR 1961, R. Leo Arnstam/ Heinz Thiel/Anatolij Golovanov) Im Morgengrauen ist es noch still [А зори здесь тихие] (UdSSR 1972, R. Stanislav Rostockij) Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) Siebzehn Augenblicke des Frühlings [Семнадцать мгновений весны] (UdSSR 1973, R. Tat’jana Lioznova) Strassenkontrolle [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971, R. Aleksej German sr.) Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя свое] (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov)
4.2 Bewältigungsmechanismen
219
Weissrussischer Bahnhof [Белорусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov) Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov)
USA Im Westen nichts Neues (USA 1930, R. Lewis Milestone)
4.2 Bewältigungsmechanismen 4.2 Bewältigungsmechanismen
Mit den Bewältigungsmechanismen werden jene dramaturgischen Konfliktgestaltungen im Film beschrieben, die auch außerhalb des Films diskursiv wirksam wurden, wie etwa die innerkulturelle filmische Spaltung der Figuren in Täter und Mitläufer, die in der BRD als Verdrängung verstanden wurde, oder Imaginationen künftiger Abwehrkraft der Nation durch Kinderfiguren, die in der UdSSR in den Kult um die heldenhaften Pioniere avancierten. Diese Mechanismen dienen vor allem der Überwindung der kollektiven Gewalt, dem Übergang vom Krieg in den Frieden und der Herstellung der geschichtlichen Kontinuität. Das sind exemplarisch: das Überleben der Hauptfiguren, die innerkulturelle Spaltung der Figuren, die Buße für den Krieg, die Entmachtung männlicher Subjekte, die Viktimisierung der Protagonist*innen, die Frau als Kontinuitätsgarant und -medium, die Entwicklung von (Selbst-)Ermächtigungsstrategien, die (religiös geprägte) Wiedergeburt, die Anthropologisierung des Krieges, die Rache an den Deutschen, die Unsterblichkeit des Kollektivs, der männliche Reproduktionsmythos, die Infantilisierung der Perspektive auf den Krieg, die Imagination der abgewehrten Zukunft, die Panzerung des Kollektivkörpers und die Versöhnungsstrategie.
4.2.1 Bewältigungsmechanismen: Ein Definitionsversuch Mit dem Begriff der Bewältigung werden im Kontext dieser Arbeit diskursive und zugleich filmspezifische Mechanismen bezeichnet, welche die kollektive Gewalt zu überwinden und die Gesellschaft zu normalisieren ermöglichen. Diese Bezeichnung wird aus mehreren Gründen verwendet. So kam der Begriff in der BRD im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Vergangenheit zum Einsatz: Er wird mit der ersten Phase der Aufarbeitung des Nationalsozialismus assoziiert und bezeichnete damals den ethisch-moralischen Umgang mit der Vergangenheit (König et al. 219
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
1998). Obwohl die Debatten um die Bewältigung als ein Streben, die Vergangenheit endgültig abzuschließen und somit zu vergessen, damals starker Kritik ausgesetzt waren, erwies sich der Begriff als produktiv. Mit ihm wurden kritische Prozesse zum Verständnis der Vergangenheit angestoßen, sodass er letztendlich zu einem „normalen zeitgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Forschungsfeld“ (ebd., S. 10) avancierte. Dieses Forschungsfeld ist heute aufgrund der diskursiven Aushandlungen, die der Begriff auslöste, auch mit einer rückblickenden Metareflexion darüber befasst, ob und inwiefern die historische Vergangenheitsbewältigung in der BRD gelungen ist (ebd.). Gleichzeitig kann der Begriff jedoch auch für die Beschreibung der Ziele der Filme produktiv gemacht werden, die das Thema des Zweiten Weltkrieges verarbeiten. Diese Werke versuchen, die kollektive Gewalterfahrung in der Gegenwart durch Einsatz bestimmter medienspezifischer Mittel ästhetisch und bedeutungsvoll zu überwinden – unabhängig von den historischen Ergebnissen der Ereignisse, die sie darstellen. Es gehört unter anderem zu ihren besonderen Leistungen – und stellt infolgedessen ihre Funktion im kollektiven Gedächtnis dar –, die Vergangenheit nach deren Vergegenwärtigung zu normalisieren. Denn Kriegsfilme ermöglichen einerseits ein Gedenken der kollektiven Gewalt und machen diese sogar erst als solche erfahrbar, um Erinnerungen daran zu schaffen und den Krieg vor dem Vergessen zu bewahren. So verarbeiten die Filmschaffenden historische Dokumente und suchen nach einer adäquaten Ausdrucksform durch Spezialeffekte, tragische Handlungsentwicklungen und Schockmomente, um den gesellschaftlichen Ausnahmezustand, ja die Störung gesellschaftlicher Ordnung als wahrhaftes, authentisches und emotionales Erlebnis darzubieten. Andererseits bändigen sie die auf dem Bildschirm entfesselte Gewalt, um die inszenierte historische Erfahrung für das Publikum der Gegenwart anschlussfähig werden zu lassen und es in die Diskurse der Nachkriegsordnung einzuschreiben. Der Krieg darf dabei jedoch nicht in die Gegenwart überführt werden: Er erhält einen Platz in der Geschichte. Auch die verschiedenen Typen der Narration dienen dem Zweck der Bewältigung, indem sie Stoffe entsprechend selektieren oder die Vergangenheit als abgeschlossen markieren. Durch die Selektion und Anordnung des Materials entsteht der Sinn des Krieges, der die an sich nicht darstellbare Gewalt und Vernichtung sinnvoll in einen Zusammenhang einordnet und somit den Krieg gewissermaßen überwindet: Es entsteht der Eindruck, dass er nicht umsonst geführt wurde. Im Zuge dessen rechtfertigt der Kriegsfilm auch seine eigene Existenz, gibt sich selbst einen Sinn. Gerhard Paul, der die Forschung zum Kriegsfilm zusammenfasst, bringt dies auf den Punkt: „Jede filmische Darstellung des Krieges dechiffriert sich […] als ein durch Ordnungsbedürfnisse und Chaosabwehr bestimmter Versuch einer durchgängigen
4.2 Bewältigungsmechanismen
221
‚Modellierung des Unmodellierbaren‘.“ (Paul 2003, S. 7) Wird die Vergangenheit außerdem durch die Narration abgeschlossen, so erscheint der dadurch entstandene zeitliche Abstand zum historischen Geschehen ebenso als Überwindung der kollektiven Gewalt, die in der Gegenwart nicht fortgesetzt wird. Die historische Gewalt beeinträchtigt nicht die bestehende Ordnung. Die Narration bewältigt also die Vergangenheit auf einer globalen Ebene durch die Auswahl des Themas und des Materials und durch dessen Anordnung. Allerdings stehen dem Film noch weitere Mittel zur Verfügung, gewissermaßen innerhalb des ausgewählten Materials und der Anordnung Bewältigungs-Effekte zu erzeugen. Sie stellen zwar einen Teil der Narration dar, sind jedoch nicht an bestimmte Narrationstypen gebunden. Die Narrationen konstituieren einen globalen Rahmen, innerhalb dessen viele Elemente variiert und kombiniert werden können. Sie dienen einer medienspezifischen Konstituierung des Sinns und kanalisieren dadurch bestehende Informationen und Diskurse in eine bestimmte Richtung. Bewältigungsmechanismen gehören hingegen zu den innerfilmischen Elementen und sind zugleich filmästhetischer Ausdruck diskursiver Praktiken der Erinnerungskultur, die sich in den Filmen in konkreten Figuren- und Bildkonstellationen niederschlagen. Sie bestimmen im Film die Form der Figurendramaturgie wie auch jene Motive oder Bildlichkeitsformen, die an der Schnittstelle des Krieges und der Gegenwartsgesellschaft stehen und folglich aktuelle Diskurse sedimentieren bzw. filmisch aufnehmen, um den erfahrenen Krieg aus der Gegenwart heraus zu beenden. Der Krieg oder sein Ende dienen dabei immer der Legitimation der bestehenden Staatsordnung, und so sind die Bewältigungsmechanismen vor allem darauf ausgerichtet, eine solche Überwindung vorzunehmen, die zugleich diejenige Nachkriegsordnung begründet, die dem Publikum verständlich und nah ist. Deswegen sind sie sowohl als film- als auch als diskursspezifisch zu verstehen, als jene Schnittstellen, an denen sich die tradierte und für unsere Wahrnehmung modifizierte Ästhetik mit aktuellen kulturellen Diskursen verschränkt bzw. wo aktuelle kulturelle Diskurse filmisch verarbeitet und daher sichtbar werden. Die Bewältigungsmechanismen verraten das Verhältnis der Generation, in deren Zeit der Film geschaffen wurde, zum Krieg, da das Werk an diese Generation in ihrer Sprache und ihren Wahrnehmungsmustern appelliert und die Vergangenheit den zeitgenössischen politischen Bedürfnissen entsprechend formt. Während die Narrationen stärker an filmspezifische Bedingungen gebunden sind, mit denen der Sinn im Film hergestellt wird – auch wenn sie eine gewisse strukturelle Flexibilität aufweisen, wurden die meisten Narrationstypen bereits vor dem oder im Krieg entwickelt, was zeigt, dass sie kulturelle Diskurse überdauern –, stellen die Bewältigungsmechanismen doch jene Funktionsstellen des Films dar, durch die 221
222
4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
gegenwärtige Diskurse in die Ästhetik des Films eindringen und dadurch aus dem Film heraus wiederum das kollektive Gedächtnis beeinflussen. Diese Funktionsstellen des Kriegsfilms wurden von mehreren Forscher*innen in anderen Begriffen beschrieben, zum Beispiel als ideologische Merkmale. Wolfgang Wegmann unterscheidet vier ideologische Bedeutungsmuster, die für bundesdeutsche Kriegsfilme der 1950er Jahre charakteristisch sind (Wegmann 1980): Zunächst beschreibt er die Abkoppelung des Krieges vom geschichtlichen Zusammenhang, die hier in der Fragment-Narration diskutiert wird. Daraus resultiert eine Perspektivenverengung, die den Krieg entpolitisiert, allein auf die deutsche Sicht festlegt und „zum Ort für individuelles Abenteurertum“ (ebd., S. 144) macht. Weiterhin ändern sich auch die Feindfiguren (zu ergänzen wäre an dieser Stelle, dass dies vor dem Hintergrund des Kalten Krieges geschieht): Engländer und US-Amerikaner werden durchgehend neutral bis positiv dargestellt, während die Russen diffamiert werden. Das letzte ideologische Merkmal besteht in der Artikulation einer Kritik am Krieg, sei es an militärischen Autoritäten und -hierarchien oder an der Sinnlosigkeit des Unternehmens insgesamt. All diese Elemente werden in dieser Studie als Bestandteile des Narrationstypus der Demetaphorisierung erfasst. Eine andere Klassifikation von Bewältigungsstrategien in den Kriegsfilmen nach 1945 wurde von Wolfgang Becker und Norbert Schöll vorgelegt, die stärker inhaltlich argumentieren. So differenzieren sie die Filme nach „Bewältigung der Vergangenheit als Warnung vor dem Faschismus“, „Rückblick in die Vergangenheit: die Suche nach dem guten Menschen als Bewältigung der Schuldfrage“, „Bewältigung der Folgen des Nationalsozialismus: Wiederaufbau und Systemfrage“ sowie „Rückblick in die Vergangenheit als Chance für die Gegenwart: verlorener Krieg, Widerstand und die Traditionslinie des deutschen Militärs“ (Becker und Schöll 1995, S. 28–29). Mit dem Begriff des Bewältigungsmechanismus werden in der hier entwickelten Systematik dementgegen strukturelle und genuin filmische Elemente gefasst, die so gestaltet werden, dass sie die Kriegsgewalt bändigen, den Übergang in den Frieden moderieren und einen Anknüpfungspunkt für das Publikums der jeweiligen Gegenwart herstellen. Diskursveränderungen außerhalb des Films müssen so auf die Bewältigungsmechanismen zurückwirken, diese zum Verschwinden bringen oder sie zumindest stark verändern. Folgende, auf die Figuren in den Filmen strukturierend einwirkende Bewältigungsmechanismen können als wiederkehrende Elemente des Kriegsfilms festgehalten werden: das Überleben der Hauptfiguren, die innerkulturelle Spaltung der Figuren, die Buße für den Krieg, die Entmachtung männlicher Subjekte, die Viktimisierung der Protagonisten, die Frau als Kontinuitätsgarant und -medium, die Entwicklung von (Selbst-)Ermächtigungsstrategien, die (religiös geprägte)
4.2 Bewältigungsmechanismen
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Wiedergeburt, die Anthropologisierung des Krieges, die Rache an den Deutschen, die Unsterblichkeit des Kollektivs, der männliche Reproduktionsmythos, die Infantilisierung der Perspektive auf den Krieg, die Imagination der abgewehrten Zukunft, die Panzerung des Kollektivkörpers und die Versöhnungsstrategie. Diese Liste ist nicht vollständig, sondern soll lediglich exemplarisch vorführen, wie Bilder (auch im Sinne von Einstellungen, Montagearten usw.) und Figuren innerhalb einer Narration in Bezug auf bestimmte Funktionen, die durch die aktuellen Diskurse der Gegenwart entstehen, strukturiert werden können. Für westdeutsche und ostdeutsche Filme sind vor allem jene Bewältigungsmechanismen charakteristisch, die die NS-Täterschaft verurteilen und sie von der Gegenwart abspalten. Die Fragen der Kontinuität zur Gegenwart sind für alle drei Erinnerungskulturen von zentraler Bedeutung: Wie ist die Vergangenheit zu verstehen, und wie ist sie in die Gegenwart zu integrieren? Das bleibt bis heute eine der schwierigsten ästhetischen Aufgaben für Deutschland. Historische Kontinuität wird in der BRD durch Frauenfiguren und durch eine Universalisierung der Darstellung mithilfe religiöser Symbolik und der Betonung des Menschlichen erzeugt. Für die DDR und UdSSR hingegen ist die Strategie der Universalisierung undenkbar; der Krieg wird hier immer als politisch und klassenantagonistisch charakterisiert. In der DDR trägt die kommunistische Partei zur Kontinuität bei, in der UdSSR die ganze sozialistische Ordnung (alle Klassen mit Stalin an der Spitze). Jegliche Art der Anthropologisierung des Krieges führt in der UdSSR zur Subversion sowjetischer Diskurse, da aktuelle politische Kategorien entkräftet werden (vgl. Kapitel Synekdoche), während diese Bewältigungsstrategie in der BRD als Affirmation und Naturalisierung rechtspopulistischer Diskurse kritisiert wird. Außerdem wird die Anthropologisierung, die in vielen verschiedenen Genres angewendet wird, zu einem kommerziell erfolgreichen Konzept. Neben diesen Strategien der Täterabspaltung und Kontinuitätserschaffung erscheint für die ostdeutschen Filme insbesondere die Selbstermächtigungsstrategie charakteristisch, die in der UdSSR nur in frühen Werken Einsatz findet, die sich noch direkt an die Kriegsteilnehmer*innen wenden. Zwar können die Filme die Niederlagen des Krieges nicht komplett außen vor lassen, die Subjekte werden jedoch durch das Erlebnis des Verlustes, das auch als Buße fungiert, wieder handlungsfähig. Die Verluste im Krieg werden in der UdSSR erst seit dem Ende der 1950er Jahre thematisiert, da sich der Film der Tauwetter-Periode der individuellen Perspektive und somit in erster Linie psychologischen Prozessen zuwendet. In der BRD kapitulieren die Figuren hingegen vor der Geschichte. Verschiedene Strategien der Entmachtung der historischen Subjekte kommen zum Einsatz und erscheinen als spezifischer westdeutscher Bewältigungsmechanismus. Für die DDR ist weiterhin auch die Buße für den Krieg wichtig, indem man die Schuld mit eigenen Leiden 223
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und Verlusten tilgt und sich dadurch erst das Recht auf die neue Ordnung verdient. Weiter ist die Versöhnungsstrategie zu nennen, die in den ostdeutschen Filmen im Gegensatz zur BRD recht früh eingesetzt wird. Bereits in den 1960er Jahren erscheinen einige Koproduktionen mit der UdSSR, mit Polen oder Jugoslawien, in denen das Thema der Versöhnung auch produktionsbedingt begründet ist. In der UdSSR werden hauptsächlich solche Mechanismen eingesetzt, die den Krieg als Überfall und das Ausmaß seiner Zerstörung zu überwinden helfen. Es handelt sich mithin um kompensatorische Mechanismen, die die Historie in einer Weise zu reparieren suchen, die suggeriert, dass der Krieg der Sowjetunion nichts ausgemacht hätte. Wesentliche Elemente sind hier die Unsterblichkeit des Kollektivs einerseits und Fantasien über männliche Reproduktion andererseits. Spezifische sowjetische Mechanismen sind zudem die Rache an den Deutschen, die eher in früheren Filmen zu finden ist, und die Demonstration der totalen und künftigen Abwehrkraft der Nation, die sowohl für die Deutung der Vergangenheit als auch für die Gegenwart des Kalten Krieges bestimmend wird. Im Russland und Deutschland der Gegenwart kommen hingegen immer häufiger Versöhnungsmechanismen zum Einsatz.
4.2.2 Überleben der Hauptfigur Einer der wichtigsten und für alle Kulturen zentralen Mechanismen, um den Sinn des Krieges und den Übergang in eine friedliche Nachkriegsordnung zu konstituieren, ist das Überleben der Hauptfigur. Ihr Weiterleben markiert das Ende der Kriegsgewalt und garantiert einen friedlichen Neuanfang. Der Mechanismus ist damit zentral für alle Kontinuitätsfragen. Stirbt die Hauptfigur, so wird der Narration der Sinn entzogen, wodurch auch die Bändigung der Gewalt und die Herstellung der Nachkriegsordnung verunmöglicht werden. In der Regel geschieht dies im Narrationstypus der Demetaphorisierung, in dem alle Figuren nacheinander sterben und somit jede Form der Sinnstiftung scheitert. Im westdeutschen Film werden Demetaphorisierungsstrategien vereinzelt auch im Rahmen anderer Narrationstypen verwendet, um die Sinnlosigkeit des Krieges hervorzuheben. In 08/15 (BRD 1954/55, R. Paul May), der in dieser Studie der „Narration von oben“ zugeordnet wird, finden sich entsprechende Strategien in der Darstellung der Ausbildung der Soldaten (die als sinnloser und gewalttätiger Drill gezeigt wird) und in der Kriegsführung selbst (die sich durch unklare Kriegsziele und Frontlage sowie die Kontingenz der Opfer auszeichnet), ohne dass dabei jedoch die ganze Narration in Bezug auf die Sinnproduktion gestört würde. Der Tod der Figuren erzeugt also je nach deren Stellenwert in der Handlung einen momentanen oder totalen Sinnent-
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zug. Aus diesem Grund ist auch die Darstellung von jüdischen Figuren im frühen westdeutschen Film problematisch, sofern sie sterben oder getötet werden: Ihr Tod steht metonymisch für die Shoah – eigentlich ein historisch richtiges Bild für den Ausdruck der Verfolgung und massenhaften Ermordung, allerdings erscheint durch diese Form der Darstellung auch die Kontinuität des Jüdischen in der Gegenwart nicht mehr als möglich. Aus diesem Grund ist es für die Wirkung des Films von zentraler Bedeutung, welche Figuren den Krieg überleben. Die meisten Filme lassen die Hauptfiguren weiterleben und konstituieren den Sinn dadurch, dass sie zum einen die Nachkriegsordnung begründen und zum anderen aktuelle Diskurse aus der Zeit der Entstehung des Films in sich verdichten und dementsprechend als Vertretung des Publikums in der Historie erscheinen. Die Überwindung des Todes kann auch rein bildlich gestaltet werden, wenn beispielsweise die Figur Ernst Thälmann auf dem Weg zur Hinrichtung in Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (DDR 1955, R. Kurt Maetzig) einfach immer weitermarschiert und schließlich vor dem Hintergrund einer roten Fahne zum Symbolbild sozialistischen Fortschritts gerinnt. Die bildliche Vergegenwärtigung der Figur verleiht ihr ein symbolisches Überleben. Sie schreitet in die Zukunft und sichert damit die Sache, für die sie gekämpft hat. Meist sterben im Kriegsfilm Nebenfiguren, wodurch einerseits der Kriegsgewalt glaubwürdig Ausdruck verliehen wird, diese andererseits jedoch an die Ränder der männlichen Subjektivität – die Hauptfiguren sind in der Regel Männer – und folglich der Nation gerückt wird – Erfahrungen der Niederlage und des Verlustes werden auf diese Weise von der Nation selbst abgespalten. Die Nähe einer gefallenen oder verstorbenen Figur zum Protagonisten reguliert die affektive Wirkung des Films und weist auf die Bedeutung der Verluste für die Nation und das männliche Subjekt hin. Je näher der/die Tote der Hauptfigur stand, desto intensiver sind die hervorgerufenen Gefühle. In der UdSSR wird historische Kontinuität konstituiert, indem die überlebenden Figuren eine soziale Klasse repräsentieren. Die Hauptfigur gehört dabei stets zur politisch führenden Klasse, wobei sich über die Zeit hinweg beobachten lässt, dass die Hegemonie der Arbeiter in den Nachkriegsfilmen in der Tauwetter-Periode auf die Bildungsschicht (Intelligenzija) und in den 1970er Jahren auf die Bauern (wieder Männerfiguren) übergeht, die als Symbol für die Volks- und Bodenverbundenheit jenseits des politisierten Proletariats stehen. Die Kontinuität in der DDR wird von den kommunistischen Figuren und speziell von denjenigen getragen, die zur Erkenntnis über das verbrecherische Wesen des Nationalsozialismus und die Vorteile des Kommunismus als politische Alternative gelangen. Die Hauptfigur bewegt dadurch das Publikum zur notwendigen Anerkennung des Seitenwechsels von Tätern oder Mitläufern zu Widerständlern. In der BRD ist die Hauptfigur Trägerin universeller Werte (Humanismus, Religiosität, Familie) und behauptet sich 225
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in Opposition zum politischen Nationalsozialismus als apolitisch. Die bürgerliche Ordnung wird durch ihren Anschluss an die biblische und humanistische Ordnung als universell dargestellt.
4.2.3 Innerkulturelle Spaltung der Figuren Dieser Bewältigungsmechanismus ist für die BRD und die DDR von besonderer Bedeutung und daher in nahezu allen Filmen zu finden. In der UdSSR wird er nicht eingesetzt, weil er eine Schwächung des als monolithisch und homogen inszenierten Kollektivs bedeuten würde. Er etabliert sich in beiden deutschen Kulturen mit dem Beginn der Vergangenheitsaufarbeitung bereits in der Nachkriegszeit und stellt die innerkulturelle Spaltung der Figuren in die ‚guten Deutschen‘ und die ‚bösen Nazis‘ dar, wodurch der Nationalsozialismus von der aktuellen deutschen Identität abgetrennt wird. Die Spaltung kann sich in der Opposition zweier Figuren oder Figurengruppen oder auch in der Darstellung des Widerstandes manifestieren. Zum gleichen Ergebnis kommt auch Christoph Vatter in seiner Dissertation: „Auf deutscher Seite lässt sich bezüglich des Aspekts der Alterität festhalten, dass in der Abgrenzung der ‚guten Deutschen‘ von den ‚bösen Nazis‘ und auch von den Opfern des Holocaust eine Konstante besteht, die sich von den ersten Filmen der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart Jahre fortsetzt.“ (2009, S. 327) Diese Strategie wird fälschlicherweise oft als Verdrängung verstanden, weil eine Distanz zu den Täter*innen hergestellt wird (Welzer et al. 2002, S. 47, 82; Robnik 2007, S. 78–87). An den so strukturierten Filmen wird kritisiert, dass die Täter*innen immer ins Außen verlagert werden und als ‚die anderen‘ auftreten. Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) ist das früheste Beispiel für eine solche Spaltung, in dem die Hauptfigur, ein Mitläufer und Zeuge eines Kriegsverbrechens, seinem Vorgesetzten gegenübergestellt wird, der den Befehl zur Erschießung einer Gruppe polnischer Zivilist*innen gab. Die eingeforderte Selbstbezeugung der eigenen Täterschaft ist im Rahmen des Mainstream-Kinos schlechthin nicht möglich, ohne filmische Mittel radikal zu verfremden. Das Medium selbst bedingt also bereits die Spaltung, da die Täter*innen auch aufgrund der konstitutiven Unmittelbarkeit des Films nicht als Identifikationsfiguren angeboten werden dürfen. Werden die Täter zu Hauptfiguren, läuft das Publikum Gefahr, sich mit ihnen zu identifizieren, und somit kann es zur Affirmation der Täterschaft, ja zu deren Genießen kommen. Der Film als solcher und der Kriegsfilm im Besonderen verarbeitet mit seinen Inhalten immer aktuelle Diskurse einer Kultur und wendet sich an das Publikum der Gegenwart, was vor allem durch die Hauptfigur geschieht. So ist es wichtig, dass die Protagonist*in-
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nen keine Mörder*innen und Täter*innen sind, sondern immer als zeitgemäße Identifikationsvorlagen dienen, die aus der gegenwärtigen Position des Publikums heraus den Nationalsozialismus verurteilen und diesen demzufolge symbolisch überwinden können. Deswegen muss zu den Täter*innen ein gewisser Abstand gehalten werden; sie können stets nur als Nebenfiguren auftreten. Weiterhin müssen die Täter*innen aus der Narration verschwinden: Sie müssen bestraft, verhaftet, verurteilt oder gar hingerichtet werden, um die Täterschaft überzeugend zu verwerfen und aus dem aktuellen nationalen Identitätsdiskurs zu verbannen. Auch diese Funktion steht im Dienste der Gegenwart, die Täterschaft soll unwiderruflich verurteilt und die nationale Identität ohne sie neu gedacht werden, weshalb den Filmen häufig eine Verfälschung der Geschichte unterstellt wird. Auch das Verbot der Repräsentation von NS-Symbolik spielt hier eine gewisse Rolle. Einige Filme, zum Beispiel Canaris (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) oder Der Stern von Afrika (BRD 1957, R. Alfred Weidenmann), die versuchten, Täter in den Mittelpunkt zu stellen, mussten die historische Handlung weitgehend entleeren, um die Täterschaft für das Publikum nicht allzu attraktiv erscheinen zu lassen oder um zumindest nicht Symbole der Täterschaft in die aktuelle Identitätsvorlage zu übertragen. Außerdem musste die Figur hier am Ende sterben, um zu starke Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Gegenwart dementieren zu können. Die Spaltung bedingt folgende Figurenkonstellationen und -dramaturgien: Die Hauptfigur, die in der Regel als Identifikationsträger für das Publikum fungiert, muss sich dezidiert vom Nationalsozialismus abgrenzen. Eine der Nebenfiguren repräsentiert den Nationalsozialismus und wird auf verschiedene Arten und Weisen von der Hauptfigur entfernt, um den Nationalsozialismus symbolisch zu eliminieren. In einigen Filmen wird die Spaltung als Prozess gestaltet, in dem die Hauptfigur am Anfang als treuer oder zumindest dem Regime gegenüber loyaler Soldat erscheint, sich dann aber gegen Ende des Films vom Nationalsozialismus distanziert oder ihm gar eine dezidierte Absage erteilt. Des Teufels General (BRD 1955, R. Helmut Käutner), Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) und Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert) seien hier als Beispiele genannt. Dieser Mechanismus kann in allen im Rahmen dieser Studie vorgestellten Narrationstypen zum Einsatz kommen. Während er in der „Narration von oben“ als eine unter anderen Strategien erscheint und nur einen Teil der Handlung strukturiert, lässt die Spaltung in der Fragment-Narration kaum eine Möglichkeit offen, die Anderen zu thematisieren, seien es die Juden oder die Alliierten: Die Spaltung fällt hier mit der zentralen dramaturgischen Achse der Handlung zusammen, die oftmals eine – häufig kritisierte – manichäische Aufteilung der Figuren in Gut und Böse mit sich bringt. 227
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In den Filmen über Stalingrad oder das Attentat auf Hitler, aber auch in Werken wie Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) und 08/15 verläuft die Abspaltung des Nationalsozialismus entlang der militärischen Hierarchie, indem die Vorgesetzten verurteilt und bestraft werden. In Canaris wird etwa eine Opposition zwischen dem titelgebenden Admiral und Reinhardt Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und SS-Obergruppenführer, aufgebaut, also eine Ämterkonkurrenz. In Die Abenteuer des Werner Holt stehen sich zwei Freunde auf der einen Seite und die SS auf der anderen Seite sowie Soldaten und Vorgesetzte gegenüber, wenngleich in der „Narration von oben“, wie bereits erwähnt, weitere Differenzierungen und Bewältigungsmechanismen möglich sind. Die beiden Freunde stellen beispielsweise auch zwei verschiedene Formen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus nach dem Krieg dar. Gilbert ist ein Militärfanatiker, der für den deutschen Militarismus steht. Werner hingegen wird als Mitläufer charakterisiert, der eine Bewusstseinsentwicklung durchmacht und den Nationalsozialismus am Ende entschieden verurteilt. Beide beziehen sich dadurch auf das geteilte Deutschland der 1960er Jahre. Mit dem Tod des Freundes wird nicht nur der Militarismus verurteilt, sondern auch die BRD von der DDR symbolisch entkoppelt. In BRD und DDR wirkt sich die Spaltung jeweils unterschiedlich aus. In westdeutschen Filmen wird sie eher entlang der militärischen Hierarchie vollzogen: Hitler gegen die Wehrmacht oder die Vorgesetzten gegen die Untergeordneten. In DEFA-Filmen findet sich die Spaltung oft innerhalb einer Familie. So verehrt der Sohn in Rotation, Die Buntkarierten (DDR 1949, R. Kurt Maetzig) oder Die Russen kommen (DDR 1967/87, R. Heiner Carow) den Nationalsozialismus, andere Familienmitglieder hingegen sind gegen ihn. In einigen aktuellen deutschen Filmen, die sich an die dritte und vierte Generation nach dem Krieg wenden, findet die Spaltung in einem transgenerationellen Kontext statt. Zum Beispiel zeigt Tobias Ebbrecht, dass in Sophie Scholl – Die letzten Tage (D 2005, R. Marc Rothemund) der Vernehmungsbeamte Robert Moll für die Eltern- und Großelterngeneration steht, während die Widerständlerin Scholl als eine Art Tochter und Enkelin fungiert, die den Nationalsozialismus aus der Gegenwart des Publikums heraus anklagt (Ebbrecht 2011, S. 73).79 Diese filmisch bedingte innerkulturelle Spaltung der Figuren geht allerdings in die Biografien des Publikums ein und bestätigt somit die Wirksamkeit der Filme für das kollektive und individuelle Gedächtnis, ja die Abhängigkeit des individu79 Nach Ebbrecht (2011) werden aktuelle Filme über den Holocaust nach dem Muster eines Familiengesprächs strukturiert, was ein spezifisch deutsches Erzählmodell darstellt. Nach meinem Modell betrifft es nur die Figurenkonstellation (also nur einen Aspekt der Narration), um eine Bewältigung anzubieten.
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ellen Gedächtnisses vom kollektiv-medialen Gedächtnis. Die Zuschauer*innen eignen sich filmische Bewältigungsstrategien als identitätsstiftende Elemente der eigenen Vergangenheitsvergegenwärtigung an. Die eine Seite der innerkulturellen Spaltung verschiebt sich mit der Zeit von Hauptfiguren, die Mittäter*innen und Mitläufer*innen sind (in der Regel handelt es sich eher um Männerfiguren), hin zu solchen, die Widerständler*innen und Opfer darstellen. Auch Biografien der Kriegsgeneration und der darauffolgenden Generationen werden auf diese Weise strukturiert, wie die Studie „Opa war kein Nazi“ von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall (2002) anhand mehrerer Interviews mit Zeitzeug*innen zeigt. So erkennen die Enkelkinder der Kriegsgeneration mithilfe dieser Spaltung den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus, ihre Großeltern treten so in Erscheinung, „dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt“ (ebd., S. 47), also als unmittelbare Zeug*innen, jedoch nicht als Täter*innen, wie bei der zuvor beschriebenen Figurenkonstellation der Nachkriegsfilme. Die dritte Generation nach dem Krieg spricht schon von den Großeltern als denjenigen, die, wenn sie sich schon nicht dem Widerstand angeschlossen hatten, zumindest einen Juden gerettet haben – und reproduzieren damit ein Motiv, das in vielen Filmen der Gegenwart aufgegriffen wird. Die Autor*innen interpretieren dies als Verschiebung der Erinnerung in Richtung einer oppositionell-heroischen Vorstellung, als Fehlaneignung der Familiengeschichten und als Verdrängung der Vergangenheit ihrer Vorfahr*innen. Denkbar wäre dagegen auch, dass sie sich in eben jenen Denkmustern bewegen, die ihnen die Filme anbieten. Denn die Analogien zwischen den Erinnerungsaspekten der jeweiligen Generationen und der damals und heute aktuellen Filmdramaturgie sind auffällig. In sowjetischen Filmen war ein solcher Mechanismus zuerst unbekannt, inszenierte sich die sowjetische Gesellschaft doch als ein zwar internationales, aber monolithisches Kollektiv. Die innerkulturelle Spaltung wäre durch die Spaltung in Frage gestellt, die sozialistische Ideologie angezweifelt worden. Erst in der Perestroika-Zeit entsteht durch die Kritik am Stalinismus eine Spaltung im Kollektiv, wodurch das sowjetische und später das russische Kollektiv eine differenzierte Gestalt annimmt. Die Spaltung verläuft dabei zwischen den Funktionären in Stalins Machtapparat, vor allem zwischen dem NKVD (dem Innenministerium, das die politischen Säuberungen im Stalinismus durchführte) auf der einen Seite und den Generälen, Offizieren und Soldaten, die unter dem Stalinismus litten und die trotz der Repressionen siegreich aus dem Krieg hervorgingen, auf der anderen Seite. Die Soldaten kämpfen somit sowohl gegen die Deutschen als auch gegen das eigene System bzw. die eigene Vergangenheit. Wird die innerkulturelle Spaltung im russischen Film thematisiert, so rückt die Opposition zum Feind in 229
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den Hintergrund und erscheint nur noch als Folie, von der aus über das eigene System nachgedacht werden soll.
4.2.4 Buße für den Krieg Diese Bewältigungsstrategie ist eher für ostdeutsche Filme typisch – die Buße für den Krieg, die durch Strafen, Leiden und Tod vollzogen wird, um zum einen den Bruch mit dem Nationalsozialismus zu begründen und zum anderen eine Art Katharsis zu ermöglichen und sich die folgende politische Ordnung durch eigene Verluste zu verdienen. In der Regel gehört ein Sohn einer Familie, die im Mittelpunkt des Films steht, zur NSDAP, der dann entweder stirbt oder in Gefangenschaft gerät, wodurch der verbrecherische Charakter des Nationalsozialismus deutlich wird. Das Prinzip der Überbietung beherrscht die Ökonomie des Buße-Mechanismus: Nicht nur die Schuldigen sollen für den Krieg leiden, sondern auch die Unschuldigen, wodurch die Schuld getilgt und der Anfang der neuen politischen Ordnung der DDR durch die auratisch überhöhten Opfer legitimiert wird. Die Verluste der Kriegskontrahenten werden nicht gezeigt, sodass die Hervorhebung des eigenen Leidens alles andere überbietet und erst dadurch eine Art Reinigung erzeugt. In Die Abenteuer des Werner Holt wird der beste Freund des Protagonisten am Ende gerade von dem System hingerichtet, das er fanatisch unterstützt hat. Da er der beste Freund der Hauptfigur ist, dient sein Tod zugleich als Bußopfer für den Krieg. Aber auch andere Schulkameraden sterben im Krieg und tilgen dadurch die kollektive Schuld. In Die Buntkarierten sterben der Sohn, die Schwiegertochter und das Enkelkind der Protagonistin. Sie selbst kommt letztendlich ins Konzentrationslager. In Rotation geht der Protagonist ins Gefängnis, seine Frau fällt bei der Schlacht um Berlin, sein Schwager, der im Widerstand aktiv war, wird hingerichtet, der Sohn gerät in Kriegsgefangenschaft. Ich zwing dich zu leben (DDR 1978, R. Ralf Kirsten) zeigt den Tod eines Vaters, der seinen Sohn davor gerettet hat, zum Volkssturm eingezogen zu werden, indem er sich schließlich selbst dafür opfert. Als Lehrer war er am Krieg nicht beteiligt. Der Film Das zweite Gleis (DDR 1962, R. Joachim Kunert) versinnbildlicht die Buße für die Judenermordung sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart des Publikums: Im Krieg wird die Ehefrau des Protagonisten durch die Gestapo hingerichtet, weil sie einem Juden geholfen hat. Lange nach Kriegsende kommt durch den unbestraften Täter ein weiterer junger Mann ums Leben. Innerhalb des vergangenen Jahrzehnts verwendeten auch viele Filme des vereinigten Deutschlands den Mechanismus der Buße. Die Konjunkturthemen sind vor allem diejenigen, welche die Leiden der Deutschen thematisieren: die Bom-
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bardierung Dresdens, das Versenken der Gustloff, die Vergewaltigung deutscher Frauen durch die Soldaten der Roten Armee oder die Vertreibung der Deutschen aus östlichen Territorien. Für die Popularität solch viktimisierter Perspektiven auf die eigene Vergangenheit gibt es viele Gründe; einer davon ist sicher die Reinwaschung von der Vergangenheit. So brennt in Dresden (D 2006, R. Roland Suso Richter) zunächst die Stadt nieder, erst danach zeichnet sich ein neuer Anfang ab. Die Protagonistin gebiert eine Tochter, was einen auratischen Anfang und – aufgrund des Geschlechts des Kindes – zugleich eine Absage an den Militarismus markiert. In Anonyma – Eine Frau in Berlin (D 2008, R. Max Färberböck) büßen die Frauen mit ihrem Körper für die Grausamkeiten des männlichen Krieges, was im Film so auch explizit gesagt wird. In Napola: Elite für den Führer (D 2005, R. Dennis Gansel) begeht der beste Freund der Hauptfigur Selbstmord, und mit ihm stirbt der romantische und poetische Teil des Gespanns (der Junge schreibt Gedichte). Es ist ein Opfer, das jede Mittäterschaft verurteilt; gleichzeitig stellt es jedoch auch die Buße für den Tod der russischen Gefangenen dar.
4.2.5 Entmachtung männlicher Subjekte Eine weitere Bewältigungsstrategie stellt die Entmachtung männlicher Subjekte dar (Kapczynski 2008; Figge 2015), die sowohl bildlich als auch narrativ sowie über den Einsatz von Frauenfiguren durchgeführt werden kann. Sie ist für westund ostdeutsche Kriegsfilme charakteristisch, wobei die DEFA-Filme oftmals eine Überwindung der männlichen Ohnmacht inszenieren. Eine bildliche Entmachtung wird durch die vogelperspektivische Einstellungen auf die Soldaten herbeigeführt, die dadurch objektiviert und verdinglicht werden, wie etwa in Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki), wenn vor der letzten sinnlosen Schlacht allein die Helme der Soldaten aus extremer Aufsicht zu sehen sind. Die Soldaten erscheinen hier als entpersonalisiert und werden in den sicheren Tod geschickt, denn sie zählen sowieso nicht mehr als Menschen. Eine weitere Strategie stellen Aufnahmen von Ruinen (vorwiegend in den Trümmerfilmen) dar, da sie die männlichen Subjekte als ohnmächtig und bedeutungslos präsentieren. Die Ruinen sind Spiegel ihrer Identität und markieren zugleich den Bedeutungsverlust und die Ohnmacht in der Gesellschaft, weil die Figuren inmitten der Trümmer klein erscheinen. Auf diese Weise werden sie mit den Folgen ihres eigenen militaristischen Handelns konfrontiert. Eine solche Perspektive ist im sowjetischen Film nicht denkbar. Die Armee wird hauptsächlich im Vorbeimarschieren gezeigt. Die Kamera bewegt sich nur hoch genug, um einen Überblick geben zu können. Wo die Obersicht doch Einsatz findet, wird sie durch erfolgreiche militärische Handlungen konterkariert, 231
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wodurch die Masse gerade als Handlungssubjekt inszeniert wird. Eine besondere Konjunktur erlebt diese Kameraperspektive im sowjetischen Film in der Brežnev-Ära: Sie ermöglicht hier einen Überblick über das Ausmaß des Kampfes und eine Orientierung auf dem Kriegsschauplatz, wie beispielsweise im fünfteiligen Epos Befreiung [Освобождение] (UdSSR/DDR/YU/I/P 1968–72, R. Jurij Ozerov). Die visuelle Entmachtung dient in der Regel der Kritik am Militarismus, wobei das Bild der Objektivierung in einen Gegensatz zu den Fantasien und Wünschen der Figuren gesetzt wird, die vom Krieg vereinnahmt, instrumentalisiert und gefährdet werden. Der Krieg als Machtausübung kehrt sich gegen sie, sie können nicht mehr über sich selbst verfügen und werden Ideen und Zielen geopfert, die vom Film selbst so nicht mehr vertreten werden können. In Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) werden die Soldaten bereits vor Kriegsbeginn mit Gasmasken ausgestattet und so entpersonifiziert und entstellt – sie haben keine menschlichen Gesichter mehr. Weiterhin müssen sie sich bei einer Übung im Schlamm wälzen und sich in ihre Regenmäntel einwickeln, sodass sie aussehen wie Leichen. Bildlich wird somit ihre Funktion im Krieg vorweggenommen und zugleich kritisiert. Die Narrationsstrategie der Entmachtung entspricht meist einer Deallegorisierung der männlichen Subjekte – einem Beharren auf dem Individuellen und einem Hinführen zur Familie, die die Männerfiguren im Privaten verortet und auf diese Weise vom Lauf der Historie abkoppelt. Die Entmachtung ist auch durch eine physische Behinderung der Figur möglich. Zum Beispiel sind häufiger Kriegsveteranen mit fehlendem Arm zu sehen, was eine Art symbolische Kastration signalisiert. Diese Ausstellung der Versehrtheit des menschlichen Körpers dissoziiert ihn vom medial-ideologischen Konstrukt des Nationalkörpers. Deswegen wird die Behinderung im sowjetischen Kriegsfilm sehr selten zum Thema und in der Regel dann auch heroisch überwunden (vgl. Tumarkin 1994; Fieseler 2003), wie beispielsweise im Kriegsfilm Der wahre Mensch [Повесть о настоящем человеке] (UdSSR 1948, R. Aleksandr Stolper) oder im Film Der Vorsitzende [Председатель] (UdSSR 1964, R. Aleksej Saltykov) über die Wiederherstellung einer Kolchose in der Nachkriegszeit. Eine Erblindung signalisiert sowohl ideologische Verblendung als auch deren Folge und die Strafe dafür. In Haie und kleine Fische (BRD 1957, R. Frank Wisbar) erblindet der Flottillenchef und wird dadurch im Haus, dem genreästhetisch als weiblich codierten Bereich, festgehalten. Außerdem ist er ab nun auf die Hilfe seiner Ehefrau angewiesen. Die Hauptfigur in Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf) diskutiert mit einem blinden Soldaten auf der Autobahn darüber, wo sie sich befinden und welche Seite gewinnt oder verliert. Er weiß nicht einmal, dass er sich mit dem Gegner unterhält. Im sowjetischen Film ist die Behinderung zugleich ein Zeichen der Subversion, das von Filmschaffenden
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im Bereich des Autorenfilms häufig verwendet wird. Der Film Ein Soldat ist von der Front zurückgekehrt [Пришел солдат с фронта] (UdSSR 1972 R. Nikolaj Gubenko), in dem einer der behinderten Kriegsveteranen in der Nachkriegszeit bei einem Unfall stirbt (und zwar weil er nur einen Arm hat) und ein anderer erblindet, kündet allein dadurch schon von den Missständen des Sozialismus. Schließlich können auch Frauenfiguren männliche Ohnmacht vermitteln, indem sie ikonografisch mit den Rändern und Schwachstellen des Nationalkörpers assoziiert werden. Die Vergewaltigung durch fremde Eroberer steht oft für die Besatzung, wodurch zugleich die Schwäche der eigenen Armee auf die Frauen projiziert und so vom Nationalkörper abgespalten wird. Diese Art der Markierung eigener Defizite ist in allen Kulturen zu finden: In Weiberreich [Бабье царство] (UdSSR 1967, R. Aleksej Saltykov), Komm und sieh [Иди и смотри] (UdSSR 1986, R. Ėlem Klimov) oder auch in Anonyma – Eine Frau in Berlin, Ženja, Ženečka und die Stalinorgel [Женя, Женечка и „катюша“] (UdSSR 1967, R. Vladimir Motyl’) oder Erfahrene Hasen des Geschwaders [В бой идут одни „старики“] (UdSSR 1974, R. Leonid Bykov) verkörpern die im Krieg vergewaltigten oder gefallenen Frauen den Verlust des Wertvollsten durch den Krieg. Die Entmachtung der Männerfiguren durch die Verwundung der Frauenfiguren bzw. die Markierung der Verletzbarkeit des Kollektivs wird in der UdSSR seit der Tauwetter-Periode, die sich gegen die Kriegsdeutung der 1950er Jahre wendet und die Kriegsopfer thematisiert, zunehmend in Szene gesetzt.
4.2.6 Viktimisierung der Erzählperspektive Die Viktimisierung ist als Bewältigungsmechanismus in allen Erinnerungskulturen zu finden, allerdings wird sie unterschiedlich akzentuiert und inszeniert. In ihr verdichten sich verschiedene Diskurse, sodass sie nicht allein als Strategie der Entlastung zu verstehen ist. In der BRD steht die Stilisierung von Täter*innen, Kriegsteilnehmer*innen oder diverser Gruppen der Bevölkerung als Opfer in erster Linie im Zeichen der Niederlage im Krieg. So artikuliert die Opferperspektive die Lage der Besiegten, die zum einen von der Kriegsgewalt betroffen waren, die sich fast den ganzen Krieg über weit weg von Deutschland abspielte und erst gegen Ende Deutschland einholte, und zum anderen dem Willen der Sieger ausgeliefert sind. Weiterhin wird über die Perspektive der Opfer in Anbetracht der NS-Verbrechen eine Schuldtilgung vorgenommen, die mit eigenen Leiden und Verlusten erworben wird. Darüber hinaus leitet sich aus ihr die Perspektive der nächsten Generationen ab, wenn das Ausmaß der NS-Verbrechen deutlich wird, es aber zugleich kein Entkommen von dieser Vergangenheit gibt. Der Wunsch, die Vergangenheit zu 233
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korrigieren und die Kriegsgeneration zur Verantwortung zu ziehen, wurde in verschiedenen Filmen artikuliert, sodass sich das Kriegsgerichtsdrama sogar als ein Subgenre des deutschen Kriegsfilms herausbilden konnte (Keitz 2013, S. 153–156). Die Hauptfiguren, Träger*innen der aktuellen Diskurse im Film, erscheinen demzufolge als Opfer der Kriegsgeneration, die ihre Nachfahr*innen mit dem schändlichen historischen Erbe belastet hat. Die Strategie der Viktimisierung der Hauptfiguren und somit der Zuschauenden findet daher seit dem ersten Generationswechsel zunehmend Einsatz, besonders weil die neue Generation vom Krieg nicht mehr unmittelbar betroffen ist und sich von der Schuld der Vergangenheit zu befreien sucht. Im Zuge der gegenwärtigen Revisionen der Geschichte werden infolgedessen zuvor kaum beachtete Themen wie die Vertreibung aus den Ostgebieten, die Vergewaltigungen im Krieg, die Bombardierung Dresdens usw. aufgegriffen, die früher, eben weil sie die kollektive Schuld der Deutschen relativieren konnten, kaum Erwähnung fanden. Damit sind Wünsche nach Entlastung von der Schuld und politischer Neudeutung der nationalen deutschen Identität verbunden, aber auch nach einer Vervollständigung der Vergangenheit, einer Aufarbeitung der unbekannten Themen. Diese Strategie war in der alten BRD verbreitet, und sie ist es auch im Deutschland der Gegenwart, während sich die UdSSR an der Seite der Sieger und die DDR an der des Widerstands vorwiegend als aktive Kämpfer beweisen wollten. Die Opferstrategie erzeugt ein Bild der Passivität, der Unausweichlichkeit des Schicksals und des Ausgeliefertseins an die Geschichte, trägt somit zur Schuldentlastung bei und stellt die Machtmechanismen und die NS-Ideologie, die zum Krieg und zur Vernichtung führten, als mythisch überhöht aus. Dass die Soldaten oder Zivilist*innen gleichzeitig selbst Opfer des realen Krieges waren, ist unumstritten. Die Opferrolle wird im Film und folglich im kollektiven Gedächtnis jedoch dann problematisch, wenn die Schuldigen oder die Täter*innen ausschließlich auf sie festgelegt werden, ohne dass ihr zerstörerischer Beitrag zum Krieg gezeigt wird. Der Narrationstypus der Demetaphorisierung, der dem Krieg durch den Tod der Figuren jeglichen Sinn entzieht, kann diesen Bewältigungsmechanismus unter Umständen integrieren. Der Krieg wird dann einerseits kritisiert, indem seine Ideologie freigelegt wird. Andererseits gibt es kein Entkommen mehr, was der realen Kriegserfahrung entsprechen kann, allerdings den Figuren die Wahl entzieht, infolgedessen gegen die entscheidende Regel der Filmdramaturgie verstößt und eine ultimative Viktimisierung produziert. So entsteht eine einseitige Perspektive auf den Krieg, die Deutschland deswegen verwehrt bleibt, weil es als Auslöser des Krieges Aggression und Gewalt gegen sich selbst verursacht hat. Beispielsweise zeigen Filme wie Die Brücke, Jeder stirbt für sich allein (BRD 1975, R. Alfred Vohrer) oder Nacht fiel über Gotenhafen (BRD 1960, R. Frank Wisbar) ihre Figuren – Soldaten und Zivilist*innen – allein
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als Opfer des Krieges, ohne zu thematisieren, wer der Angreifer und Auslöser des Krieges war. Die westdeutsche Endnarration, die den Krieg an seinem Ende zeigt, tendiert ebenfalls dazu, solche Opferrollen zu produzieren.
4.2.7 Frau als Kontinuitätsgarant und -medium Frauenfiguren besitzen in beiden deutschen Kulturen eine wichtige Funktion. Sie besteht darin, der Nachkriegsgesellschaft qua Hervorhebung der Reproduktion Kontinuität zu verleihen. In den Frauenfiguren verbindet sich eine marginale Teilnahme oder Nichtbeteiligung am Krieg mit (potenzieller) Mutterschaft. In dieser Kombination deutet die Frau sowohl einen neuen, ‚reinen‘ Anfang nach dem Krieg an, da sie sich als Beobachtende nicht schuldig gemacht hat, als auch die kommende (durch die körperliche Gebärfähigkeit sichergestellte) mögliche Reproduktion der Nation und damit ihre Heilung. Der Sachverhalt, dass viele Frauen im Krieg nicht nur als Krankenschwestern oder in der Industrie tätig, sondern auch als Wehrmachtshelferinnen unmittelbar am Krieg beteiligt waren, wird in der deutschen Öffentlichkeit bis heute kaum beachtet. Nach Karen Hagemann (2015) nahmen etwa eine Million deutscher Frauen direkt am Krieg teil, darunter dienten 500.000 als Helferinnen der Wehrmacht und 500.000 als Reichsluftschutzhelferinnen in der Heimat (Maubach 2009, 2011): Insgesamt dienten rund 500.000 zumeist junge und ledige Frauen als Helferinnen der Wehrmacht, die an allen Kriegsschauplätzen in der Armee, der Luftwaffe und der Marine eingesetzt wurden, um Soldaten für den Fronteinsatz frei zu machen. 160.000 von ihnen waren als Flakhelferinnen direkt am Kampfgeschehen beteiligt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs kam in der Wehrmacht auf 20 Soldaten mindestens eine Frau. […] Lediglich die Zahl der Frauen, die in der Sowjetunion für den Kampf mobilisiert wurden, war größer. Hier dienten sie offiziell auch als Soldatinnen, geschätzt werden 520.000. Weitere 300.000 waren in der Luftabwehr und etwa 500.000 im Luftschutz eingesetzt, 300.000 als Krankenschwestern und 500.000 als Rettungssanitäterinnen. (Hagemann 2015)
Darüber hinaus gehörten 10.000 Frauen der SS an (Lower 2014); sogar die genuin weiblichen und an sich ‚friedlichen‘ Positionen der Krankenschwestern, Lehrerinnen und Sekretärinnen wurden in die NS-Vernichtungsmaschinerie involviert. Dadurch wird deutlich, dass auch Frauen an der Vernichtungspolitik des NS-Staates beteiligt waren. Der Grund für die Unsichtbarkeit der deutschen Frauen im Krieg liegt zum einen darin, dass sie trotz ihres breiten Einsatzes im Heer nie als Soldatinnen bezeichnet wurden, sondern als Zivilangestellte ohne militärischen Rang (Schneider 2003, S. 215; Maubach 2009). Zum anderen bleibt ihre Täterschaft im 235
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kollektiven Gedächtnis gerade aufgrund der Rolle der Frau im visuellen Repräsentationssystem unterrepräsentiert. Denn die Frau verkörpert im Film nicht nur Volk und Nation, da sie in der Regel als Allegorie der Heimat auftritt, sie fungiert auch als traditionelles Bild des passiven Opfers. In dieser bildlichen Tradition bringt sie die Bevölkerung auf die Seite der Opfer und der Nichtbeteiligten, also die Seite derer, die unter dem Krieg leiden (Wenk und Eschenbach 2002). Da sie sich mit der Täterschaft oder mit der NS-Ideologie angeblich nicht kontaminierte, wird durch die Frau als Identifikationsfigur der Neuanfang begründet. Im ersten DEFA-Film Die Mörder sind unter uns verbindet sich das Bild der Frau als auratisch überhöhtes passives Opfer unmittelbar mit der Figur der Trümmerfrau (Brauerhoch 2006). Beide rechtfertigen gemeinsam den Neuanfang aus der Perspektive der Opfer des Nationalsozialismus heraus, die jetzt an der Seite der Heimkehrer stehen. Die weibliche Nebenfigur verbrachte den Krieg wegen der Widerstandstätigkeit ihres Vaters in einem Konzentrationslager. Nach dem Krieg kehrt sie zurück und räumt das heimatliche Haus auf. Auch bewahrt sie die männliche Hauptfigur vor dem Akt der Selbstjustiz, wobei sie im Bild zusätzlich beleuchtet wird, sodass ihr Aussehen durch die auratische Ausstrahlung ihres Gesichtes buchstäblich Assoziationen der Reinheit heraufbeschwört. In Anonyma – Eine Frau in Berlin verschwinden alle männlichen Figuren aus der Handlung: Sie werden hingerichtet, nehmen sich das Leben oder gehen einfach fort, während die vergewaltigten Frauen – die also selbst Opfer des Krieges sind – bleiben und überleben. Die Täter werden mithin vom Kollektivkörper abgetrennt, das auratisch überhöhte Opferbild jedoch wird gleichermaßen zerstört, da die Frauen, die den Neuanfang der bürgerlichen Gesellschaft verkörpern, geschändet und erniedrigt werden. Unschuldig müssen sie für einen Krieg büßen, an dem sie nicht beteiligt waren. Die Schuld einer Figur, einer getreuen Nationalsozialistin, wird angedeutet, aber ihr weißes Kleid zu Beginn der Handlung signalisiert gleichzeitig ihre Unschuld. In Dresden stirbt der englische Pilot, die deutsche Krankenschwester überlebt hingegen die Bombardierung der Stadt und bringt eine Tochter zur Welt, womit auch hier Kontinuität und Wiedergeburt inszeniert werden. In Der Untergang (D 2004, R. Oliver Hirschbiegel) überlebt die Sekretärin Hitlers den Krieg. Am Ende verlässt sie gemeinsam mit einem Jungen die Umzingelung durch die Rotarmisten und ruft durch dieses Bild der potenziellen Mutter und ihres Sohnes Zukunftsvisionen von einer sozialen Wiederherstellung und Normalisierung der Gesellschaft auf. Der Neubeginn durch die Frau wird in den beiden deutschen Kulturen unterschiedlich in Szene gesetzt. In der DDR kann die Frau als aktives und geschichtliches Subjekt handeln, wie etwa die weiblichen Hauptfiguren in Die Buntkarierten oder in Die Schauspielerin (DDR 1988, R. Siegfried Kühn), die selbst gegen das Regime handeln. Allerdings bewegen sie sich im weiblichen Tätigkeitsbereich: Die
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Hauptfigur bei Kurt Maetzig bleibt Hausfrau und Mutter, bei Siegfried Kühn ist sie beim Theater, das in der westlichen Kultur einer weiblichen Codierung unterliegt, als Schauspielerin tätig. Die Kunst, sich zu verstellen, wird traditionsgemäß als weiblich verstanden (siehe dazu Künzel 2011). In der BRD werden die apolitische Rolle sowie die Passivität der Frauen betont. Kinder, Mütter und ein General (BRD 1955, R. László Benedek) ist einer der wenigen Filme, die die Frauen an der Front zeigen. Sie werden jedoch nicht in einer historischen Funktion dargestellt, sondern in der essentialistisch-universellen Mutterrolle, in der sie sich der männlichen Geschichte – dem Krieg – widersetzen: Ihre Kinder retten sie dadurch, dass sie diese direkt von der Front abholen. Auch in Anonyma – Eine Frau in Berlin leisten die Frauen keinen Widerstand, sondern werden vielmehr zu Opfern von Vergewaltigungen und mithin zu Symbolen der Wehrlosigkeit. Die Relevanz der Frauen im westdeutschen Film nimmt vor allem dort zu, wo eine Annäherung an den Feind vollzogen wird. Frauenfiguren fungieren hier als Medien der Vermittlung und Verbindung. Ein früher Film, der dies vorführt, ist die österreichisch-jugoslawische Koproduktion Die letzte Brücke (A/YU, R. Helmut Käutner) aus dem Jahr 1954: Eine Krankenschwester gerät auf dem Balkan in Gefangenschaft der Partisanen und entwickelt immer stärkere Sympathien für diese. Schließlich hilft sie ihnen, Verwundete zu retten. Hier wird noch keine sexuelle Beziehung inszeniert, allerdings entwickelt die Protagonistin Gefühle für den jugoslawischen Partisanenführer, der übrigens von Bernhard Wicki gespielt wird. Wegen einer Frau nähern sich in 4 Tage im Mai (D/RF/UA 2011, R. Achim von Borries) sowjetische und deutsche Soldaten einander an und kämpfen Seite an Seite gegen andere, gewalttätige sowjetische Soldaten.
4.2.8 (Selbst-)Ermächtigungsstrategie Dieser Mechanismus ist eher für die DDR-Kultur typisch.80 Einige Beispiele sind auch in der UdSSR in der Nachkriegszeit zu finden. Während die geschichtlichen Subjekte der BRD sich als ohnmächtig erfahren, wobei es sich um eine durch die Hierarchie bedingte oder durch die Niederlage im Krieg erfahrene Ohnmacht handeln kann, werden diese Formen der Entmachtung in den sowjetischen und DEFA-Filmen durch die (Selbst-)Ermächtigung der Figuren konterkariert. Zum einen ermöglicht es die „Narration von oben“ kraft ihrer Tradition, die Figur in ein handelndes Subjekt zu verwandeln, wie beispielsweise in Der Fall von Berlin [Падение Берлина] (UdSSR 80 Maja Figge (2015) hat diese Strategie auch im bundesdeutschen Kino beobachtet, allerdings vorwiegend in den sog. Heimatfilmen. 237
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1949, R. Michail Čiaureli), Der Rat der Götter (DDR 1950, R. Kurt Maetzig) oder in Die Buntkarierten. Hinter der Figur erscheint somit die historische Wahrheit, die sich über die Zeit bewährt hat. Kommunistische Figuren verweisen auf Traditionen des Kampfes in der kommunistischen Partei. Zum anderen reißt die Figur die Handlung an sich, indem sie sich gegen den Nationalsozialismus wehrt. Der Nationalsozialismus erscheint als schicksalhafter Fluss der Historie, der nur durch einen gewaltsamen Akt des Willens unterbrochen werden kann. In Der Fall von Berlin kommt die physisch ohnmächtig gewordene Hauptfigur Ivan zu sich und begibt sich an die Front. Unmittelbar wendet sich der Krieg, und die Front bewegt sich zurück nach Westen. In Die Abenteuer des Werner Holt erschießt Werner einige Mitglieder einer SS-Staffel, die seinen Freund hingerichtet haben, und entscheidet sich damit aktiv gegen die NS-Ordnung. In Der Rat der Götter kündigt ein Chemiker seinen Job, um nicht an der Herstellung des Giftgases für die Vernichtungslager beteiligt zu sein. In Die Schauspielerin verzichtet eine im NS-Regime populäre Schauspielerin auf ihre Karriere und inszeniert ihren Tod, um mit ihrem jüdischen Geliebten zusammen zu sein. Die Hauptfigur in Die Russen kommen tötet einen Polizisten, der einen geflohenen russischen Zwangsarbeiter erschossen und daraufhin seine Schuld geleugnet hatte. Der Entzug der durch die (Selbst-)Ermächtigungsstrategie gewonnenen Handlungsmacht kann in sowjetischen und DEFA-Filmen eine subversive Wirkung haben, was zum Beispiel die früheren Filme der Tauwetter-Periode demonstrieren. Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) oder Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) zeigen die Unmöglichkeit individueller Ermächtigung in der Geschichte der Massen. Die Individuen zerbrechen an der Geschichte, die sie überrollt, oder müssen sich als Individuen im Kollektiv auflösen. Die Unmöglichkeit, als Individuum die Geschichte zu steuern, thematisieren auch die späten DEFA-Filme wie Wengler & Söhne – Eine Legende (DDR 1986, R. Rainer Simon) oder Erster Verlust (DEFA 1990, R. Maxim Dessau).
4.2.9 Religiöse Wiedergeburt Diese Strategie ist wiederum allein für die BRD typisch und besonders in den Filmen der 1950er Jahre zu finden, in denen sich die junge westdeutsche Republik im kulturellen Leben auf religiöse Werte besann. Die Religion dient hier dazu, die angestrebte bürgerliche Ordnung an universelle, ahistorische, humanistische Prinzipien des Christentums zu knüpfen. Dadurch wird das Bürgertum stabilisiert und als apolitisch dargestellt, als eine Ordnung Gottes. Außerdem bewirken die
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religiösen Symbole eine Universalisierung des historischen Geschehens, welches dadurch anthropologische und schicksalhafte Aspekte bekommt. Im Angesicht der politischen Situation der Nachkriegszeit wendet sich der Kriegsfilm gegen die Ethnokratie, die zu dieser Zeit diskutiert und im Heimatfilm propagiert wird (Koch 2012). Besonders häufig wird das Weihnachtsfest inszeniert, das die Wiedergeburt Deutschlands in Bezug auf die Geburt Jesu als Beginn einer neuen Epoche deutet. In Die Mörder sind unter uns wird ein Konflikt über die nicht bestraften NS-Täter an Weihnachten gelöst. Das Weihnachtsfest wird zum gesellschaftlichen Neuanfang, der mit Frieden und Humanismus assoziiert wird. Der Film In jenen Tagen (Britische Lizenz 1947, R. Helmut Käutner) besteht aus sieben Episoden, die die Geschichte der Zerstörung durch den Krieg bereits durch diese Struktur auf die biblische Genesis beziehen. Die letzte Episode handelt von dem Deserteur Josef und einem Flüchtling aus Schlesien, Marie, die – als Absage an den männlichen Militarismus – eine Tochter bei sich hat. Alle drei übernachten in einem Schuppen, der topografisch und ikonografisch an Jesu Geburt erinnert. Auch in Hunde, wollt ihr ewig leben? findet sich eine Weihnachtsszene, die den Soldaten hier allerdings keinen Trost zu spenden vermag. Der Fernsehfilm So weit die Füsse tragen (D 2001, R. Hardy Martins) lässt den Protagonisten nach vielen Jahren der Flucht ausgerechnet an Heiligabend nach Hause zurückkehren. In Der neunte Tag (D/ LUX/CZE 2004, R. Volker Schlöndorff) rahmt die Eucharistie die Handlung: In dem christlichen Ritual vereinigen sich nun alle Völker freiwillig – im Gegensatz zur gewaltsamen Besatzung Europas durch die Nazis. Auch in Der Stellvertreter [Amen.] (D/F/RO 2002, R. Constantin Costa-Gavras), der Verfilmung des gleichnamigen Theaterstückes von Rolf Hochhuth aus dem Jahr 1963, wird die Rolle der katholischen Kirche im Nationalsozialismus einer kritischen Reflexion unterzogen. Religiöse Motive kommen auch in sowjetischen Kriegsfilmen zum Einsatz. Zuerst tauchen sie in der Tauwetter-Periode vereinzelt und scheinbar im Hintergrund auf, später stehen sie deutlicher als Alternative für die sowjetische Ordnung. In Ein Menschenschicksal werden die Kriegsgefangenen zu Beginn in einer Kirche untergebracht. Eine der Hauptfiguren im Film Sie kämpften für die Heimat [Они сражались за родину] (UdSSR 1975, R. Sergej Bondarčuk) betet, was in früheren Darstellungen des Krieges undenkbar war. Einer der seltenen Filme, die vom Massenmord an den Juden in Weißrussland erzählen, ist Ostkorridor [Восточный коридор] (UdSSR 1966, R. Valentin Vinogradov). Auch hier wird ein religiöses Motiv aufgegriffen, wenn im Moment der Hinrichtung ein jüdischer Gottesdienst stattfindet. Der Film wurde allerdings kaum gesehen und bald aus dem Verleih genommen. In früheren Filmen betonen religiöse Symbole den existenziellen Charakter des Krieges (scheinbar) jenseits der sowjetischen Ideologie, 239
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wodurch eine Art neue Erfahrung des Krieges auf der Leinwand angestrebt wurde. Später werden religiöse Motive dafür verwendet, die sowjetische Ordnung kritisch zu hinterfragen. Die Filme Strassenkontrolle [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971, R. Aleksej German sr.) und Aufstieg [Восхождение] (UdSSR 1976, R. Larisa Šepit’ko) arbeiten mit biblischen Gleichnissen, welche sie dazu benutzen, den Sozialismus kritisch auf seine Humanität hin zu befragen. Die sowjetische Ordnung verliert in der Regel im Vergleich mit den biblischen Werten. Seit dem Zerfall der UdSSR wird die christliche Religion zum festen Bestandteil des Kriegsfilms. Ein Geistlicher ist in der Miniserie Bataillon von Häftlingen [Штрафбат] (RF 2004, R. Nikolaj Dostal’) Bestandteil einer Gruppe von Häftlingen des stalinistischen Repressionsapparates, die an der Front an besonders hoffnungslosen und schwierigen Stellen eingesetzt werden. Symptomatisch erscheint der Film Der Pope [Поп] (RF 2010, R. Vladimir Chotinenko), der die Leistung der russisch- orthodoxen Kirche während des Krieges rühmt. Hier soll die russische Orthodoxie unmittelbar in die neue russische nationale Identität implantiert werden, indem eine erinnerungspolitische und bildliche Tradition über die Rolle des russischen Christentums geschaffen wird: Bereits im Zweiten Weltkrieg – der ‚Urszene‘ der heutigen russischen Identität – haben die Mitglieder der russischen Kirche sich dafür aufgeopfert, den Krieg und die Besatzung besser ertragen zu können.
4.2.10 Anthropologisierung des Krieges Neben der Hervorhebung religiöser Werte fungieren anthropologische Größen wie Körperlichkeit, Gefühle oder existenzielle Gefährdung als eine Bewältigungsstrategie der BRD, soll durch ihre Betonung doch die politische oder soziale Situation im Krieg durch universelle Vorstellungen überwunden werden. So wird die Familie im Gegensatz zum Staat und eine allgemeine Menschlichkeit gegenüber einer konkreten politischen Haltung wichtig. Generell spielen existenzielle Fragen im Kriegsfilm eine große Rolle, jedoch kommt es auf ihren Einsatz an: Im westdeutschen Film wird die anthropologische Dimension nicht nur zur Basis der gesellschaftlichen Ordnung nach dem Kriegsende, sondern auch zum Kontinuitätsmedium. Es geht dabei nicht einfach um die Kontinuität zwischen der Vor- und Nachkriegszeit, sondern durch die Kombination mit religiösen Symbolen vor allem auch um die Kontinuität zwischen der biblischen Urordnung und der westdeutschen Gesellschaft, welche die Historie insgesamt überspringt und stattdessen den göttlichen Ursprung der Menschheit als Referenzpunkt setzt. Die anthropologisch universelle Nachkriegsordnung steht somit der vorübergehenden – und mithin keinesfalls
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tausendjährigen81 – politischen NS-Ordnung gegenüber, die es zugunsten der ‚ewigen‘ menschlichen Werte zu überwinden gilt. Zur Anthropologisierung tragen auch die Mise-en-Scène und das Aussehen der Figuren bei, die das Menschliche betonen und auf diese Weise die zerstörte Ordnung im Bild ein Stück weit normalisieren. Solche visuellen Zeichen erfüllen im Film keine dramaturgische oder semantische Funktion. In den westdeutschen Filmen gehören dazu vor allem Szenen am Tisch, die Zusammenhalt im Alltag signalisieren. Tischszenen sind auch im sowjetischen Film zu finden: Durch sie wird das Kollektiv erst zum Kollektiv; allerdings essen die Figuren hier nie. Die Nahrungsaufnahme dissoziiert die Figuren von den Bildern der Nation, und gerade deswegen wird sie im westdeutschen Film gezeigt, um die Figuren zu humanisieren, indem genuin physiologische Bedürfnisse und dadurch zugleich die Verletzbarkeit und Sterblichkeit des Körpers sichtbar gemacht werden. Außerdem wird beim Essen immer Porzellan gezeigt, unabhängig vom sozialen Stand der Figuren. Sogar im ersten Nachkriegsfilm, Die Mörder sind unter uns, der die Ruinen Berlins spektakulär in Szene setzt und ein Bild von Kriegszerstörung und -folgen zeigt, wird es prominent angewendet. Das Porzellan auf dem Tisch setzt die durch den Krieg verlorene Normalität und verrät dadurch eine Sehnsucht nach der bürgerlichen Ordnung. Ein weiteres Zeichen der Normalität sind die Frisuren und die Kleidung der Figuren, die in der Nachkriegszeit offensichtlich eine cineastische Konvention darstellen und folglich mitten in der Zerstörung die verlorene Norm wiederherstellen. Man sieht die Figuren ausschließlich dann in einem verwahrlosten Zustand, wenn dies eine dramaturgische Funktion hat. Die Anthropologisierung der Geschichte verursacht dabei, dass die meisten westdeutschen Kriegsfilme ein universelles und verallgemeinerndes Verständnis über den Krieg fördern und somit als Synekdochen rezipiert werden: als exemplarisch für den ganzen Krieg. In den ostdeutschen und sowjetischen Filmen verliert der Krieg nie seine politische Dimension, gerade wegen seiner legitimierenden Funktion für das sozialistische System, das sich dem natürlichen Gang widersetzen und die Geschichte in eine ‚richtige‘, menschengerechte Ordnung lenken soll. Der Krieg wird dabei als Klassenkampf oder als kommunistischer Widerstand inszeniert, der Nationalsozialismus bzw. Faschismus wird in Anlehnung an die bekannte Dimitroff-These als kapitalistischer Exzess enttarnt. Der Film Lebende Ware (DDR 1966, R. Wolfgang Luderer) etwa zeigt anhand der Judenverfolgung vor allem das 81 Der NS-Staat hat nach Hans Blumenberg in der Fiktion des Tausendjährigen Reiches versucht, die auseinanderdriftenden Dimensionen von Weltzeit und Lebenszeit gewaltsam wieder zusammenzubiegen. Die Filme konterkarieren mithin gerade den Ewigkeitsanspruch Hitlers (Blumenberg 2001). 241
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Bereicherungsstreben und die Gier der NS-Funktionäre. Das allgemein Menschliche und das Religiöse werden in den sowjetischen Filmen nur dann betont, wenn es um eine Kritik des Sozialismus geht. Diese Filme wurden jedoch als subversiv gewertet und deshalb entweder verboten oder durch Verleihstrategien marginalisiert, wie es bei Strassenkontrolle und Aufstieg der Fall war. Die Anthropologisierung als Bewältigungsmechanismus ist bereits in einigen deutschen Trümmerfilmen zu finden, beispielsweise in In jenen Tagen, Film ohne Titel (1947, R. Rudolf Jugert) oder in Morituri (1948, R. Eugen York), einem frühen Film über die Judenverfolgung. In diesen Werken werden Gefühle oder physiologische Bedürfnisse (Hunger, Durst usw.) betont, welche die Menschen über die politischen Differenzen hinweg verbinden. Die Wiederherstellung einer patriarchalen Familie wird zur Metapher der Wiederherstellung der sozialen Normalität. Zum Beispiel steht im Film In jenen Tagen dem durch den Staat propagierten Antisemitismus die Liebe zwischen Deutschen und Juden gegenüber: Ein deutsch-jüdisches Ehepaar begeht Selbstmord, um der Gewalt der Nazis zu entkommen. Im Gegensatz zu heutigen Kriegsdarstellungen im Film wird in der Nachkriegszeit noch keine die Körperlichkeit betonende Ästhetik entworfen, was mit dem Stand der filmischen Technik und der bestehenden Vorstellung über kinematographische Repräsentationen zusammenhängt, wobei sich eine besondere Art der Darstellung des Körpers im Kriegsfilm gleichwohl schon früh abzeichnete (Kracauer 2012, S. 67). In aktuellen russischen und deutschen Filmen gewinnt das Körperliche an Gewicht, um über physiologische Gemeinsamkeiten zwischen den ehemaligen Kriegskontrahenten alte Feindschaften zu überwinden. Verletzbare Körper ermöglichen es, die Figuren vom Nationalkörper abzukoppeln und so zu entdifferenzieren. Diese Vorgehensweise wird dabei zum Teil durch die Zusammenführung von Elementen des Horror- und Kriegsfilms sowie durch neue Filmtechnologien (Animation, Spezialeffekte, Masken usw.) bedingt (Elsaesser und Wedel 2016). Melodramatische Gefühlsinszenierungen spielen dabei eine Rolle, Kriegsfilme haben jedoch eine andere Ästhetik, durch die der Körper zum Signifikanten kriegerischer Zustände wird. Beispielsweise versinnbildlicht die Vergewaltigung einer jungen Frau in Komm und sieh (UdSSR 1986) den Angriff der Deutschen auf die UdSSR, um ein früheres Beispiel zu nennen. Ebenso stehen die Vergewaltigungen in Anonyma – Eine Frau in Berlin für die Besatzung Deutschlands durch die Rote Armee. In den Teilen 2 und 3 der Trilogie Die Sonne, die uns täuscht [Утомленные солнцем] (RF 2010–2011, R. Nikita Michalkov) wird der Stalinismus als monströser, erstarrter Körperpanzer inszeniert, der aus der uniformierten Männerfigur im Zentrum mit Porträts von Lenin und Stalin jeweils rechts und links besteht. Als Oppositionsund Konkurrenzbild zum Stalinismus widersetzt sich eine andere, nicht weniger monströs erscheinende männliche Figur, die als Horrorgestalt eine prothetische
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Männlichkeit darstellt, welche ihre kastrationsartige Versehrtheit (entstanden durch stalinistische Säuberungen) mit einer eisernen Handprothese kompensiert, zugleich aber auf die eigene Körperlichkeit aufmerksam macht. An den Körpern der Kriegskontrahenten wird auf diese Weise der Kriegs- und der gesellschaftliche Zustand ablesbar. In westdeutschen Filmen dient das Anthropologische der Bewältigung der natio nalsozialistischen Vergangenheit, in russischen Filmen der Gegenwart hingegen der Entdifferenzierung zwischen Feind und Freund. Dieser Prozess wird auch durch entsprechende Bildstrategien unterstützt, etwa durch die Entsemantisierung der Kriegsschauplätze oder die schlechte Sichtbarkeit im Bild. In den Filmen Halbdunkel [Полумгла] (RF 2006, R. Artem Antonov), Der letzte Zug [Последний поезд] (RF 2003, R. Aleksej German jr.) und Im Sternzeichen des Stiers [В созвездии быка] (RF 2003, R. Petr Todorovskij) werden Deutsche und Russen durch Schneesturm oder Nebel visuell ununterscheidbar. Auf Inhaltsebene wird die Entdifferenzierung aus der gegenseitigen Abhängigkeit abgeleitet. Nicht der Tod der Anderen gewährt das Überleben des Eigenen, sondern die Kriegskontrahenten brauchen hier einander, um in der Härte natürlicher Bedingungen und analoger diktatorischer Staatssysteme zu überleben. Im Film Der letzte Zug teilen Russen und Deutsche sogar einen Körper im Bild. Der Film wurde aus der deutschen Perspektive – die Hauptfigur ist ein deutscher Militärarzt – mit russischen Schauspielern gedreht und dann ins Deutsche synchronisiert, sodass sich die Figuren aus dem Körper eines Russen, der Stimme eines Deutschen und dem deutschen historischen Blick auf den Zweiten Weltkrieg zusammensetzen. Das russische Publikum kann den Film aus diesem Grund nur mit Untertiteln rezipieren.
4.2.11 Rache an den Deutschen Der Bewältigungsmechanismus der Rache wird vorwiegend in sowjetischen Filmen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges eingesetzt, um die schweren Kriegsjahre durch die symbolische Überwältigung der Feinde zu kompensieren und die Bevölkerung zur Mobilisierung und Kampfbereitschaft zu bewegen. Das Motiv entsteht aus dem etablierten Bild der niedergeschlagenen Feinde, das im Stalinismus lange vor dem Zweiten Weltkrieg bereits breiten Einsatz fand und zur Zeit des Zweiten Weltkrieges mithin als Motiv oder dramaturgischer Mechanismus längst eine Tradition darstellt (Bagdasarjan 2004). So taucht die Rache als Motiv beispielsweise gegen Ende von Der Sekretär des Rayonkomitees [Секретарь райкома] (UdSSR 1942, R. Ivan Pyr’ev) auf, einem Film über Partisan*innen. Ein deutscher Agent wird in einem Akt der Selbstjustiz erschossen, ohne als Kriegsgefangener behandelt 243
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zu werden. Im Zweiteiler Der Fall von Berlin (UdSSR 1949) strukturiert die Rache an den Deutschen, die eine disproportionale Verteilung des historischen Materials bedingt, die gesamte Narration. Im ersten Teil werden die Vorkriegszeit und der Krieg bis zum Treffen der Alliierten in Jalta im Februar 1945 gezeigt. Der zweite Teil konzentriert sich ausführlich auf die Demonstration der Stärke der sowjetischen Armee, die Eroberung Berlins, den Tod Hitlers und die Zerstörung des Reichstags, der zudem die Zerstörung des Hauses der männlichen Hauptfigur im ersten Teil gegenübergestellt wird. Die als eher harmlos dargestellten Verluste und Verletzungen der sowjetischen Seite werden durch massive Zerstörungen beim Feind kompensiert. Dem Racheakt geht also immer die Grausamkeit der Deutschen voraus, durch welche er legitimiert wird. Im Film Sie verteidigt die Heimat [Она защищает родину] (UdSSR 1943, R. Friedrich Ermler) verliert die künftige Anführerin der Partisan*innen ihr Kind und ihren Ehemann durch die Deutschen. Ihr Verlust bildet die Grundlage und Legitimation für ihr eigenes Töten. In der Regel besteht dabei eine Diskrepanz zwischen der Motivation zur Rache und dem Racheakt selbst. Die Gewalttaten der Deutschen während des Krieges werden viel breiter und einprägsamer dargestellt, nicht zuletzt, um das Publikum zur aktiven Teilnahme am Krieg zu bewegen. Darum ist der Racheakt in den Filmen bis 1945 im Vergleich zu den Taten der Wehrmacht eher geringfügig dargestellt. Der Sekretär des Rayonkomitees zeigt am Anfang des Krieges zahlreiche Massenerschießungen der sowjetischen Zivilbevölkerung, während der Mord an einem deutschen Agenten zwar einprägsam ist (weil wir die Figur bereits gut kennen), jedoch in keinem Verhältnis zum Ausgangsverbrechen steht. In der Nachkriegszeit ändern sich die Proportionen der Gewalt. In Der Fall von Berlin werden die Zerstörungen durch die Deutschen nur kurz gezeigt, die Racheaktion der Russen hingegen wird umfassend dargestellt. Der Rache-Mechanismus verschwindet in der Nachkriegszeit jedoch schnell wieder, da die Gewalt hinsichtlich der Normalisierung des Friedens, um die es nun zunehmend geht, immer schwieriger zu legitimieren ist. Wenn ein Racheakt stattfindet, muss er grundsätzlich begründet werden und darf das Ausmaß der Gewalttaten der deutschen Soldaten nicht mehr überschreiten. In Zenja, Zenečka und die Stalinorgel (UdSSR 1967) wird die Racheaktion erst nach der Ermordung der Geliebten der Hauptfigur durchgeführt, wobei der Protagonist den deutschen Offizier unmittelbar im Anschluss an dessen Mord an der Frau umbringt. Seit den 1950er Jahren wird die sowjetische Gewalt gegenüber der Wehrmacht generell als Verteidigungsstrategie gerechtfertigt und immer in einen Kontext von Leben und Tod gerückt, in dem es keine Wahl zu geben scheint. In Im Morgengrauen ist es noch still [А зори здесь тихие] (UdSSR 1972,
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R. Stanislav Rostockij) etwa wird die Rache der männlichen Hauptfigur erst dann möglich, wenn alle weiblichen Hauptfiguren tot sind.
4.2.12 Unsterbliches Kollektiv Generell dient das Überleben der Hauptfigur der Kontinuität und dem Weiterbestehen des Kollektivs, das sie vertritt. Deswegen verdichtet die Hauptfigur wichtige legitimatorische Diskurse der Gegenwart des Publikums, an das die entworfene Vergangenheit appelliert. Im westdeutschen Film entziehen sich die Figuren auch nicht der Allegorisierung, ihrer Stilisierung zu Träger*innen der neuen Ordnung, allerdings werden diese Figuren durch die Bewältigungsstrategie der innerkulturellen Spaltung und durch die narrative Form des Fragments als Ausnahmen gegenüber dem bestehenden Kollektiv gesetzt, das sich verblendet in das NS-Regime einfügt oder diesem aus Angst folgt. Die Inszenierung eines unsterblichen Kollektivs ist daher vor allem für sowjetische und zum Teil für ostdeutsche Produktionen charakteristisch, die gezielt die Typisierung der Figuren und Massenszenen einsetzen, um das Kollektiv zum Protagonisten zu machen. Besonders in der Zeit des Stalinismus und der Restalinisierungspolitik seit Mitte der 1960er Jahre wird diese Strategie im Kriegsfilm wieder einflussreich, wobei die Kollektivität, die dieses Genres insgesamt auszeichnet, ohnehin eine Tendenz zur Allegorisierung der Figuren bedingt. Allem voran ist dieser Mechanismus in der „Narration von oben“ zu beobachten, die auf epische Breite angelegt ist und deshalb die Möglichkeit bietet, mehrere Figuren in einer Szene zu zeigen. So sterben in der Gruppe nur Nebenfiguren, während der Protagonist und mit ihm das Kollektiv überlebt. Der Tod wird somit vom Kollektivkörper abgespalten bzw. durch diese Verlagerung an die Ränder überwunden. Bildlich privilegieren die Filme der „Narration von oben“ Halbtotalen und Panoramaeinstellungen, die einen Blick auf die Massen gewähren. In Der Fall von Berlin, Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse oder im Fünfteiler Befreiung sind beispielsweise mehrere solcher Szenen zu finden: Die Masse füllt hier buchstäblich das Bild, wodurch ihre Unendlichkeit und Unsterblichkeit suggeriert werden, besonders wenn sie als kämpferisch und dynamisch in Szene gesetzt wird. Sie wirkt als eine alles überwältigende Kraft. An der Entwicklung und Theoretisierung des Massenbildes hat insbesondere Sergei Eisenstein gearbeitet (dazu auch Bulgakova 1998; Tröhler 2007, S. 62–81). Seine Erkenntnisse wurden dann zum Teil der Ästhetik des Kriegsfilms, der die Massen als dynamische Kraft der Geschichte zu inszenieren suchte. Außerdem trägt die zirkuläre Erzählform zur Unsterblichkeit des Kollektivs bei, die ebenfalls Merkmal der „Narration von oben“ ist. Der Fall von Berlin wird 245
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mit einer Massenszene sowohl eröffnet als auch abgeschlossen und deutet damit auf das Weiterbestehen des Kollektivs hin. Das Kollektive wird im sowjetischen Film auch durch das Bild der Weizenfelder unterstützt, die so etwas wie Fülle und das Gedeihen des Kollektiven zum Ausdruck bringen, weil sie auf Kolchosen als Ort des kollektiven Zusammenkommens und der kollektiven Verbundenheit mit dem Boden hinweisen. Der Krieg stellt hingegen mit Schlachtfeldern und Schützengräben das Gegenteil dazu dar. Der Rat der Götter endet mit einer friedlichen Demonstration der Werktätigen in der DDR. Ernst Thälmann stirbt am Ende des gleichnamigen Films von Kurt Maetzig nicht, obwohl er zu seiner Hinrichtung geht. Er marschiert vor dem Hintergrund einer roten Fahne einfach immer weiter. Das Bild schenkt ihm die Unsterblichkeit. In Im Morgengrauen ist es noch still wird die Zirkularität durch die Rahmenhandlung erschaffen, die zugleich die in der Binnenhandlung gezeigten Verluste im Krieg als kompensiert zeigt. Eine junge Frau in der Nachkriegszeit ähnelt einer der gefallenen Soldatinnen im Krieg, sodass sich das Kollektiv offensichtlich von den Verlusten erholt hat. Es kann sich reproduzieren und die Lücken schließen. Ein Beispiel aus der „Narration von unten“ stellt der Film Der Krieg ist kein Abzählspiel [„Аты-Баты, шли солдаты…“] (UdSSR 1977, R. Leonid Bykov) dar. Hier wird die Unsterblichkeit des Kollektivs im Weiterleben der Kinder und der gefallenen Soldaten in den Erinnerungen ihrer Kinder, das heißt visuell durch Montage, inszeniert. Eines der seltenen Beispiele aus dem westdeutschen Kino ist der zweite Teil von 08/15, in dem versucht wird, über einen Brief kollektive Unsterblichkeit herzustellen: Die Schrift, die auch eingeblendet wird, fungiert prominent als ein Medium der Unsterblichkeit. Nach dem Tod einer der Identifikationsfiguren wird ihr Brief vorgelesen, der mit einem Friedensgebot endet, das auch an das Publikum der 1950er Jahre appelliert, wodurch die Figur im Kollektiven weiterlebt, da die Gesellschaft ihren Geboten folgt. Das Kollektiv erscheint im Rahmen dieses Bewältigungsmechanismus vorwiegend als männlich, in der Regel mit einem Vater an seiner Spitze. Mehrmals thematisieren die Filme die Wiederherstellung der Normalität als Wiederherstellung einer patriarchalischen Ordnung. Zum Beispiel findet die Mutter im Film Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя свое] (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov) ihren in Auschwitz verlorenen Sohn wieder, der dem Vater ähnelt, womit buchstäblich die Vaterordnung fortgesetzt wird. In der UdSSR gibt es nach dem Krieg einen großen Mangel an Männern, in Filmen sind umgekehrt zahlreiche männliche Figuren mit dem Vater an der Spitze des Kollektivs zu sehen, die so die väterliche Ordnung als unvergänglich inszenieren. Damit vollzieht das sowjetische Nachkriegskino einen Paradigmenwechsel. Im Stalinismus vor dem Krieg setzte sich das Kollektiv aus weiblichen und männlichen Prinzipien zusammen, die zugleich andere Differenzen wie Natur und Kultur, Bäuer*innen und Arbeiter*innen, Boden und Technik
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vereinigten. Frauenfiguren hatten dabei eine führende Rolle inne, hatte sich die UdSSR doch über die Emanzipation der Frauen und marginalisierter ethnischer Gruppen legitimiert.82 In der Nachkriegszeit setzt sich im Kriegsfilm die Normalisierung über Männerfiguren durch, die dann in der Tauwetter-Periode insofern weiter fortgesetzt wird, als die politische und soziale Erneuerung der Gesellschaft mit Männern assoziiert wird.
4.2.13 Männlicher Reproduktionsmythos Die Inszenierung des unsterblichen Kollektivs bewegt sich thematisch in der Nähe des männlichen Reproduktionsmythos, der keine Frau für die Reproduktion des Kollektiven und Nationalen mehr benötigt. Dieser Bewältigungsmechanismus ist allein in der UdSSR zu finden, in der ein realer Mangel an Männern symbolisch mit Fantasien männlicher Reproduktion kompensiert wird. Die Soldaten retten in der Regel die (männlichen) Kinder, die als Zukunftssignifikanten fungieren. Deswegen stellt der Film Komm und sieh nicht nur eine Kritik an dem selektiven sowjetischen heroischen Erinnerungskanon, der die Opfer des Krieges wenig beachtet hat, sondern auch einen Angriff auf die sowjetische Bildlichkeit dar, da Kinder und Frauen hier nicht gerettet werden. Dadurch weist der Film auf die Verwundbarkeit des sowjetischen Kollektivs hin. Außerdem etablierte sich das vorwiegend männliche Adoptionsmotiv; es ist beispielsweise in Wenn die Kraniche ziehen, Ein Menschenschicksal oder Die beiden Fjodors [Два Федора] (UdSSR 1959, R. Marlen Chuziev) zu finden. In einigen Filmen finden die Reproduktionsfantasien im Motiv des Sohnes eines Regiments ihren Ausdruck. Die Erzählung Sohn des Regiments [Сын полка] (1944) von Valentin Kataev wurde zweimal verfilmt, im Jahr 1946 unter der Regie von Vasilij Pronin und 1981 von Georgij Kuznecov. Auch Hunderterster [Сто первый] (UdSSR 1982, R. Vadim Kostromenko) widmet sich einem Sohn des Regiments, während Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) diese kollektive Fantasie schon früh angreift. Der Junge an der Front überlebt bei Tarkovskij nicht, der Film erteilt dem männlichen Reproduktionsmythos also eine Absage und weist auf die unwiderruflichen Verluste im Krieg hin, die durch keine symbolischen Kompensationen auszugleichen sind. Signifikanterweise wurden früher auch Mädchen als 82 Vgl. zum Beispiel die stalinistischen Musikfilme Lustige Burschen [Веселые ребята], Volga-Volga (UdSSR 1938, R. Grigorij Aleksandrov) und Sie trafen sich in Moskau [Свинарка и пастух] (UdSSR 1941, R. Aleksandr Pyr’ev) (dazu auch Drubek 2012; Hänsgen 2003, S. 207). 247
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Söhne des Regiments bezeichnet, 83 sodass die Leistung der Kinder an der Front symbolisch mit Männlichkeit verknüpft wurde.
4.2.14 Infantilisierungsstrategie Kinder sind im Kriegsfilm dabei in der Regel mehrdeutige Figuren. Für die Narration können sie symbolische Träger*innen der Zukunft jener Kultur werden, zu der sie gehören. In den Worten von Anton Kaes: Die Kinder „verkörpern die uneingelösten Utopien, das Glück des reinen Ursprungs, den Naturzustand ohne Schuld.“ (Kaes 1987, S. 110) Vom Überleben der Kinder hängt damit das Überleben der Nation ab, mit ihnen ist die Hoffnung auf Befreiung und Erneuerung verbunden (dazu auch Ebbrecht 2011, S. 286–300). Zum Beispiel setzen die Filme Nackt unter Wölfen (DDR 1963, R. Frank Beyer) und Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer) Kinder in dieser Funktion ein. Gleiches gilt für die bereits erwähnten zahlreichen sowjetischen Filme über den Sohn eines Regiments. Wirkungsästhetisch dienen Kinder der Produktion von Affekten, da die Grausamkeiten des Krieges besonders intensiv erscheinen, sobald Kinder anstelle von Erwachsenen agieren. Durch ihre Naivität und Unerfahrenheit missverstehen sie die Situationen, in die sie geraten oder durch die Erwachsenen hineingezwungen werden, wodurch der Blick auf abgenutzte Bilder von Krieg und Zerstörung erneuert und geschärft wird. Die Kriegsgrausamkeiten erscheinen aus einer neuen Perspektive, die Kinder verfremden infolgedessen die Situation und intensivieren den Blick der Zuschauenden. Das Kind appelliert insofern an die Zuschauer*innen, als es das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, das jedem Individuum aus eigener Erfahrung bekannt ist, bei ihnen aktiviert. Darüber hinaus werden Eltern adressiert, die das gezeigte Unglück auf die eigenen Kinder beziehen können. Exemplarisch kann hier der Film Ivans Kindheit genannt werden, der die Kriegszerstörung dadurch veranschaulicht, dass der kleine Ivan ebenfalls ‚Krieg‘ spielt. Jungen spielen im Film häufig Krieg, wobei das Spiel auf die Totalität des Krieges hinweist, vor dem es kein Entkommen mehr gibt: Er dringt in die Wünsche, Träume und Fantasien des Jungen ein und prägt bzw. traumatisiert ihn für immer. Letztendlich können Kinderfiguren im Kriegsfilm als Bewältigungsmechanismus fungieren, ohne dass dadurch freilich die zuvor genannten symbolischen oder affektiven Zuschreibungen beeinträchtigt würden. Denn als Hauptfiguren repräsentieren Kinder auch die Ohnmacht der sowjetischen Seite. Überdies wird ihre 83 Siehe dazu die russische Wikipedia-Seite zu diesem Thema, die beschreibt, dass Mädchen mit dem Titel „Sohn des Regiments“ geehrt wurden.
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(vorwiegend) passive Haltung im Krieg im sowjetischen Film und ihre heroische Haltung im westdeutschen Film entschuldigt. Eines der bekanntesten Beispiele für die UdSSR ist der Film Komm und sieh, der die Vernichtung eines weißrussischen Dorfes und all seiner Bewohner*innen durch eine SS-Sondereinheit und sowjetische Kollaborateure aus der Perspektive eines Jungen vergegenwärtigt (Rudling 2011, S. 201–202).84 Klimov etabliert durch die Übernahme der Perspektive des Jungen die Opfersituation der Bevölkerung in der UdSSR, die für das kollektive Gedächtnis ansonsten problematisch und unproduktiv ist. Außerdem intensiviert er die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Er verbindet die UdSSR und Deutschland über die Kindheit als eine anthropologische Größe, um den Nationalsozialismus als inhuman zu verurteilen. In der BRD sind die Filme Und finden dereinst wir uns wieder (1947, R. Hans Müller), Kinder, Mütter und ein General und Die Brücke dafür bekannt, dass sie die Perspektive der Kinder dafür einsetzen, die Weiterführung des Krieges trotz seines bevorstehenden Endes als beispiel- wie sinnlos erscheinen zu lassen. Die Kinder, die durch die NS-Propaganda leicht manipulierbar sind, verstehen die historische Gesamtsituation nicht und werden auf diese Weise betrogen und ausgenutzt. Auch in Der letzte Akt (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) und Der Untergang stellt dieses Motiv einen Bewältigungsmechanismus unter anderen dar. Mit den Müttern an der Front wird dem männlichen Vernichtungskrieg zudem das Leben und die Reproduktion gegenübergestellt – eine Referenz auf das ikonische christliche Bild der Madonna mit dem Kind, das auch in Filmen über den Holocaust oft zum Einsatz kommt (Ebbrecht 2011, S. 292–294). Als Identifikationsfiguren werden die Kinder im Neuen Deutschen Film der 1970er Jahre populär, zum Beispiel in Deutschland, bleiche Mutter (BRD 1980, R. Helma Sanders-Brahms), Hitler, ein Film aus Deutschland (BRD 1977, R. Hans-Jürgen Syberberg) oder in der Filmreihe Heimat (BRD 1981–2012, R. Edgar Reitz). Die infantilisierte Perspektive der Nachkriegsgeneration fokussiert hier die Eltern, die den Krieg erlebt haben (dazu mehr bei Kaes 1987, S. 107–133). Der Blick durch die Kinderaugen und zugleich auf die eigenen Eltern dient dabei einer Revision der eigenen nationalen Identität.
84 In Weißrussland sind die Dorfverbrennungen durch SS-Sondereinheiten und die 115. und 118. Schutzmannschaftsbataillone, die aus russischen und ukrainischen Kriegsgefangenen und freiwilligen Zivilist*innen bestanden, eine zentrale Erinnerung über den Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1943 wurden 628 Dörfer verbrannt, in der Regel mitsamt der Bewohner*innen. Der Memorialkomplex Chatyn’ wurde erst 1969 errichtet, generell wurde jedoch die Rolle der sowjetischen Kollaborateur*innen der Öffentlichkeit lange Zeit vorenthalten. 249
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4.2.15 Wehrhafte Zukunft Eine andere Version der infantilisierten Perspektive auf den Krieg stellt das Thema der heldenhaften Pioniere (auf Russisch wird in diesem Zusammenhang immer die männliche Form verwendet) in der UdSSR dar. Nach der Erzählung Sohn des Regiments (1944) von Valentin Kataev wurde das Thema der Kinder im Krieg generell populärer, da es sowohl die Totalität des Abwehrkampfes – sogar die Kinder müssen kämpfen – als auch die künftige Potenzierung der wehrhaften Nation – der Widerstand hört nie auf – zum Ausdruck bringt. Dieser Bewältigungsmechanismus mündete in einem hagiografischen, zum Teil sogar martyrologischen Kult der Pionierhelden, der hauptsächlich durch die Schule und in der Pionierorganisation verbreitet wurde, welche für alle Kinder verbindlich war. Er entsteht als literarisches Genre bereits in den 1920er Jahren und nimmt in den 1930er Jahren jene Form an, die in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg in den 1950ern implementiert und propagiert wurde (Leont’eva 2004, S. 249–259; 2005; 2006, S. 89–123). Eine große Reihe von Filmen mit kleinen Held*innen entstand, wobei in der Regel Jungen in der Hauptrolle zu sehen sind, obwohl tatsächlich auch viele Mädchen im Krieg mitkämpften. Die meisten von ihnen waren als Partisan*innen und Späher*innen tätig, sodass ihre illegale Position, eine Ausnahmeposition ähnlich wie die der Frauen, betont wird. Zur regulären Armee gehören keine Frauen und Kinder, da sie die Notsituation der UdSSR verraten oder die Rote Armee als defizitär ausstellen könnten. In den Reihen der Partisanengruppen werden sie außerdem zum Ausdruck des Willens des Volkes, das nicht mit Verboten aufzuhalten ist. Besonders bekannt wurden die Kinder, denen post mortem die höchste Auszeichnung des „Helden der Sowjetunion“ verliehen wurde. Im Gegensatz zum Adoptionsmotiv ist der Kult um die Pionier-Held*innen nicht auf das Weiterleben der Kinder angelegt, sondern auf ihre Selbstaufopferung für den Sozialismus, weshalb vor allem die gefallenen und verstorbenen Kinder und Jugendlichen verehrt wurden. Laut der russischen Literaturforscherin Leont’eva wurden der Todeskult und die martialische Selbstaufopferung als ideologische Affektpolitik eingesetzt, um die Kinder ideologisch entsprechend bewegen und formen zu können (Leont’eva 2004). Sie wurden dabei, wie Kinder sonst auch, mit verkürzten Namen genannt. Diese anthroponomische Verkürzung betont einerseits ihre Kindlichkeit, andererseits steht sie im Kontrast zu ihren heldenhaften Taten: Trotz ihres jungen Alters sind die Kinder dazu in der Lage, richtige Heldentaten zu vollbringen und so die Gesellschaft zu beeinflussen.85 85 Besonders verehrt wurden die folgenden Personen: Der Späher Borja Zarikov, der bereits vor seinem Tod mit dem Stern des Helden der Sowjetunion ausgezeichnet wurde; er fiel 1943 im Alter von 18 Jahren auf dem Schlachtfeld. Valja Kotik erlag 1944 mit 14 Jahren
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Jungen Held*innen wurden zahlreiche Filme gewidmet, die zum größten Teil im Staatsauftrag bis zum Ende der UdSSR produziert wurden. Es geschah in Donbass [Это было в Донбассе] (UdSSR 1945, R. Leonid Lukov/Vladimir Suchobokov) handelt vom Widerstand der Jugendlichen in den besetzten ukrainischen Territorien im Zweiten Weltkrieg. Ädlerchen [Орлёнок] (UdSSR 1957, R. Eduard Bočarov) erzählt von einem jungen Partisanen, der die Biografien von Valentin Kotik und Marat Kazej in sich vereint. Die Strasse des jüngeren Sohnes [Улица младшего сына] (UdSSR 1962, R. Leb Golub) ist dem Pionier-Helden Volodja Dubinin gewidmet, genauso wie der Film Eine lange Erinnerung [Долгая память] (UdSSR 1985, R. Roman Viktjuk). Die fünf Mutigen [Пятёрка отважных] (UdSSR 1970, R. Leonid Martynjuk) handelt von jungen Partisanen in Weißrussland. In Grüne Kettchen [Зелёные цепочки] (UdSSR 1970, R. Grigorij Aronov) decken die Pioniere deutsche Spione im belagerten Leningrad auf. Im Film Eine Kugel scheut sich vor den Mutigen [Смелого пуля боится] (UdSSR 1970, R. Oleg Nikolaevskij) helfen sie hingegen einem sowjetischen Panzerfahrer, das besetzte Territorium zu verlassen. Reiter [Всадники] (UdSSR 1972, R. Vadim Kostromenko) wiederum erzählt von Pionieren, die einigen Soldaten helfen, aus einem Kessel herauszukommen. Der fünfzehnte Frühling [Пятнадцатая весна] (UdSSR 1972, R. Inna Tumanjan) erzählt von der Heldentat von Saša Čekalin. Einer der wenigen Filme über eine junge Partisanin, das Mädchen Larisa Micheenko, ist In jenem fernen Sommer [В то далёкое лето] (UdSSR 1974, R. Nikolaj Lebedev). In Russland wird diese Tradition erst ab 2000 weitergeführt: Wir sind aus der Zukunft [Мы из будущего] (RF 2008, R. Andrej Maljukov) versetzt die Jugendlichen aus dem neuen Jahrtausend ins Jahr 1942 und verwandelt ihr durch Missachtung geprägtes Verhältnis zur Vergangenheit in Verehrung – durch das eigene Erleben des Krieges. Sturm auf Festung Brest [Брестская крепость] (RF/BEL 2010, R. Aleksandr Kott) wird aus der Perspektive der Jungenfigur Saša Akimov gezeigt, der wiederum den realen jungen Helden Petja Klypa verkörpert.
nach einem Kampf einer Verletzung. Er wurde 1958 ausgezeichnet, ebenso wie Zina Portnova, die 1944 im Alter von 17 Jahren von den Deutschen für ihre Partisanentätigkeit hingerichtet wurde. Der Partisan Lenja Golikov fiel bei der Durchführung einer Aufgabe 1943 und wurde 1944 ausgezeichnet. Der Partisan Marat Kazej sprengte sich im Alter von 14 Jahren im Jahr 1944 zusammen mit den Deutschen, die versuchten, ihn zu verhaften, mit einer Granate in die Luft. Mit dem Stern des Helden der Sowjetunion wurde er aber erst 1965 ausgezeichnet. Saša Čekalin, der 1941 im Alter von 16 Jahren als Partisan von den Deutschen hingerichtet wurde, bekam 1942 die Auszeichnung eines Helden der Sowjetunion. Die vollständige Liste findet sich auf der Webseite „Junge Garde“ [Molodaja gvardija]. 251
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4.2.16 Panzerung des Kollektivkörpers Dieser Bewältigungsmechanismus, der dramaturgisch, genderspezifisch und visuell die Grenzen des Landes und die Panzerung des Soldatenkörpers miteinander assoziiert, ist ebenfalls besonders für den sowjetischen Film charakteristisch. Er besitzt bereits vor dem Krieg eine eigene Tradition und knüpft an Darstellungen mächtiger Männlichkeit, ja den sowjetischen Führerkult an: Stalin inszenierte sich bei öffentlichen Auftritten durch den zugeknöpften Militärkittel als Statue (also gepanzert), die sich jeglicher Art der Penetration und Interpretation widersetzte (Haynes 2003, S. 155; Gorskich 2013, S. 16). Der männliche soldatische Körper fungiert gemeinhin – im Sinne von Mary Douglas – als jenes Reglementierungsfeld, das die sozialen Grenzziehungen reproduziert sowie sichtbar macht. Der Körper erscheint als ein „mikrokosmisches Abbild der Gesellschaft“ (Douglas 1998),86 als ein Ausdrucksmedium des seinen Gebrauch regulierenden, restringierenden Sozialsystems (ebd.). Diese Überlegungen überschneiden sich insofern mit den visuellen Darstellungen des menschlichen Körpers, als der sowjetische Film ihn in eine Allegorie der wehrhaften Nation verwandelt. Interessanterweise nähert sich der sowjetische Abwehrpanzer dabei dem faschistischen Körperpanzer an, der unter anderem in der Abgrenzung bzw. Vernichtung der Anderen entsteht. Die Anderen (Frauen, Juden, Kommunisten usw.) werden mit bedrohlichen Strömen assoziiert, welche die männliche Subjektivität aufzulösen drohen (Theweleit 1977/78, S. 287–557). Obgleich Klaus Theweleit den Körperpanzer in erster Linie anhand von literarischen Werken, Memoiren und Bildern aufgearbeitet hat, scheint es sich hier um einen generellen ästhetischen Mechanismus der Abwehr nationaler oder staatlicher Bedrohungen zu handeln, der offensichtlich verschiedene ideologische Konjunkturen durchlebt hat. Um den sowjetischen Körperpanzer zu bilden, wird in der Darstellung des Krieges eine Opferökonomie etabliert, in der Frauen, männliche Nebenfiguren und ethnische Minderheiten (Usbeken, Kasachen, Tadschiken 86 Douglas unterscheidet zwischen dem Körper als physischem und dem Körper als sozialem Gebilde, die sich in einer ständigen Interaktion befinden, sodass die Wahrnehmung des Körpers kulturelle Kategorien determiniert: „Der menschliche Körper ist das mikrokosmische Abbild der Gesellschaft, ihrem Machtzentrum zugewandt und in direkter Proportion zum zu- bzw. abnehmenden gesellschaftlichen Druck ‚sich zusammennehmend‘ bzw. ‚gehenlassend‘. Seine Gliedmaßen […] repräsentieren die Glieder der Gesellschaft und ihre Verpflichtungen gegenüber dem Ganzen […].“ (Douglas 1998, S. 109–110) Die Unterscheidung von Mary Douglas ist für diese Analyse nicht von Bedeutung, da Repräsentationen dem Körper per se seinen physischen Charakter entziehen und ihn der Sinngenese des ganzen Films unterordnen.
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usw.) verletzt oder getötet werden, während die männliche russische Hauptfigur unversehrt bleibt. Das sagt natürlich etwas über den symbolischen Status dieser Figuren im sowjetischen Repräsentationssystem aus. Je näher die verletzten Figuren dem Protagonisten stehen, desto stärker wird dieser infolge ihres Todes in der Darstellung psychologisiert. In Der Fall von Berlin sterben die Arbeitskollegen der Hauptfigur im Kampf, während die Mutter und die Braut des Protagonisten den Krieg überleben. Der Tauwetter-Film Ein Menschenschicksal zeigt den Verlust der ganzen Familie und der Kriegskameraden des Protagonisten, wodurch der Tod auch ins Herz der Nation trifft. Die Familie steht für die Heimat als Ursprungsort des Subjektes und dient der Reproduktion der Nation. Frauen werden in sowjetischen Filmen oftmals als Opfer präsentiert, im Gegensatz zu west- und ostdeutschen Filmen, in denen sie tendenziell eher überleben und als Kontinuitätsmedien zwischen der Vergangenheit und Gegenwart fungieren. Beispielsweise erscheinen die Frauen in Ženja, Ženečka und die Stalinorgel und Im Morgengrauen ist es noch still als Opfer des Krieges, die vom männlichen Nationskörper abgespalten werden, um ihn im Angesicht der Invasion regelrecht zu verschließen. Sie stellen die penetrierbaren Ränder der Nation dar: In Der Fall von Berlin verbringt die Frau den ganzen Krieg in einem Konzentrationslager. In Weiberreich und Komm und sieh wird die deutsche Besatzung anhand der Vergewaltigung einer jungen Frau vergegenwärtigt, die für die geschändete und eroberte Heimat steht. In Warte auf mich [Жди меня] (UdSSR 1943, R. Aleksandr Stolper) und Wenn die Kraniche ziehen werden die Verluste an der Front, die Bombardierung der Städte und vor allem der Tod der Soldaten semantisch mit dem gewaltsamen Sexualakt der weiblichen Hauptfigur verbunden. Neben der Verlagerung der Verletzung und des Todes an die Ränder der Nation wird auch eine visuelle Intaktheit des Soldaten produziert, indem er immer angezogen und mit bis zum Hals zugeknöpfter Uniform gezeigt wird. In Der Fall von Berlin trägt der Protagonist gegen Ende überdies einen soldatischen Regenmantel, sodass der Körper unter den uniformierten Kleidungsschichten verschwindet. Sieht man einen Soldaten ohne Hemd oder Stiefel, fällt er in der Regel in der nächsten Szene. Entblößungen markieren die Versehrbarkeit der Figuren und somit ihre Deallegorisierung, wodurch sie den Status des nationalen Kollektivkörpers verlieren und verletzbar werden. Aus diesem Grund werden auch Körperöffnungen verdeckt oder gar nicht erst thematisiert. Die Soldaten werden im sowjetischen Kriegsfilm nie bei der Nahrungsaufnahme gezeigt, im Gegensatz zu ost- und westdeutschen Produktionen, die umgekehrt auf den Körperpanzer zu verzichten versuchen und den Figuren gerade durch die Markierung des Leiblichen etwas Menschliches verleihen. Laut Gorskich wird der Alltag in sowjetischen Kriegsfilmen ausgelassen, zum einen aufgrund der realen miserablen Zustände während des Krieges, zum 253
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anderen aufgrund der Ästhetik des Sozialistischen Realismus (Gorskich 2013, S. 83–84). Die sowjetischen Soldaten trinken Wodka (aber in Maßen und vorrangig zur Ehrung der Toten) und rauchen, was zugleich als Metapher des Kriegsrauchs zu sehen ist, der zum Bestandteil des Kollektivkörpers wird, so, als ob die Männer den Krieg inhaliert und daher verinnerlicht hätten. Auch Sexualakte kommen nicht vor (Daškova 2004; Borisova et al. 2008; Borisova 2013). Allein die Autorenfilme hinterfragen diese Form der Darstellung, wenn beispielsweise die Partisan*innen in Aufstieg nicht eine heroische Aufgabe erfüllen, sondern lediglich auf der Suche nach Essen sind, oder wenn sich der Protagonist in Zwanzig Tage ohne Krieg [Двадцать дней без войны] (UdSSR 1976, R. Aleksej German sr.) verliebt und ein intimes Verhältnis eingeht. Im Film Strassenkontrolle des gleichen Regisseurs fällt als erstes gerade die männliche Figur, deren Sexualität zuvor angedeutet wurde. Im westdeutschen Film wird der soldatische Körper durch verschiedene Strategien aufgebrochen. Dazu gehört die Bedeutung der Frauenfiguren, die dramaturgisch weder ausgeschlossen noch vernichtet werden. Auch das Häusliche unterstützt die Deallegorisierung der Figuren und damit ihre Vermenschlichung. Sogar die auf dem Meer verorteten Filme, welche die Panzerungsfantasien in noch stärkerer Weise visuell umsetzen, zeigen das Scheitern einer solchen nationalen Subjektivität. Zum einen erscheinen die Matrosen auf dem Schiff oder in ihrem U-Boot isoliert, zum anderen werden die Schiffe grundsätzlich versenkt, womit der nationale Körperpanzer als nicht existenzfähig ausgestellt wird.
4.2.17 Versöhnungsstrategie Robert Shandley beschreibt die Aussöhnung zwischen Tätern und Opfern als eine der wichtigsten Funktionen der Trümmerfilme, wobei er auf Karl Jaspers Heildelberger Vorlesungen aus dem Jahre 1946 zurückgreift, in denen der Philosoph populär das Misstrauen gegenüber den Menschen bekämpfte (Shandley 2010, S. 280). In Kriegsfilmen, besonders früh allerdings in der DDR, ist die Versöhnungsstrategie vor allem in der Produktion angelegt. So besetzten etwa seit den 1960ern DEFA-Regisseur*innen die Rollen der Rotarmist*innen mit sowjetischen Schauspieler*innen, wodurch die sowjetische Präsenz im Osten Deutschlands gleichzeitig inszeniert und gerechtfertigt wird. Außerdem findet in solchen Produktionen ein Abgleich der Erinnerungskulturen statt, wobei dieser Prozess in den DEFA-Filmen von der sowjetischen Seite stark kontrolliert wurde, sodass oft die ostdeutsche Erinnerungskultur durch sowjetische Erinnerungsmotive angereichert wurde (und nicht umgekehrt): Zum Beispiel geht es in Ich war neunzehn nicht um die Ermordung der Juden, sondern um die Vernichtung sowjetischer Kriegs-
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gefangener – ein bis heute zentrales Erinnerungsmotiv in Russland, wobei Konrad Wolf eine Darstellungsstrategie findet, den Holocaust visuell mit den Bildern der sowjetischen Kriegsgefangenen zu assoziieren und somit gegenwärtig zu halten. In diesen Filmen wird eine paternalistische Beziehung, in der den sowjetischen Figuren die Rolle des Vaters oder des großen Bruders zukommt, und somit auch die Vereinigung der Proletarier als Verbrüderung inszeniert. In der ostdeutsch-sowjetischen Koproduktion Fünf Tage – fünf Nächte / Пять дней – пять ночей (UdSSR/DDR 1961, R. Leo Arnstam/Heinz Thiel/Anatolij Golovanov) etwa verkörpert ein sowjetischer Soldat eine Vaterfigur, die bei der Rettung der Bilder aus der Dresdener Gemäldegalerie ums Leben kommt. In Ich war neunzehn fungieren die sowjetischen Kameraden der Hauptfigur als ältere Brüder. In der BRD wird die Versöhnung über eine heterosexuelle Beziehung gestaltet, wodurch politische Verhältnisse sexualisiert und depolitisiert werden. Die Liebesbeziehung besteht angeblich über alle kulturellen Differenzen hinweg, scheitert allerdings nach einer ersten Annährung – ein Motiv, das bis heute zum Einsatz kommt. Eine der frühesten Verwendungen findet sich in Der Arzt von Stalingrad (BRD 1958, R. Géza von Radványi) mit der ungarisch-britischen Schauspielerin Eva Bartok in der Rolle der sowjetischen Femme fatale. In Dresden ist die deutsche Krankenschwester für kurze Zeit mit einem englischen Piloten zusammen. Während in Anonyma – Eine Frau in Berlin eine versöhnliche sexuelle Beziehung zwischen der Protagonistin und einem russischen Major entsteht, dienen Sexualität und Liebe in Aimée & Jaguar (D 1999, R. Max Färberböck) der Versöhnung der Deutschen mit den Juden, welche in einer lesbischen Beziehung stattfindet und daher Hierarchien zwischen Deutschen und Juden symbolisch aufhebt. In den DEFA-Produktionen finden sich erst seit den 1970er Jahren heterosexuelle Liebesbeziehungen, die als Versöhnungsstrategien eingesetzt werden, etwa in Mama, ich lebe (DDR 1977, R. Konrad Wolf), Die Schauspielerin oder Erster Verlust. In der UdSSR gab es hingegen gar keine Versöhnungsmechanismen. Erst nach dem Zerfall der UdSSR entstehen Produktionen, die eine in der Regel scheiternde Annäherung zwischen den Kriegsparteien durchspielen. In Franz + Polina (RF 2006, R. Michail Segal), Halbdunkel und Stalingrad [Сталинград] (RF 2013, R. Fedor Bondarčuk) geht es jeweils um eine heterosexuelle Beziehung, die sich über alle Konfrontationen und Politiken hinwegsetzt. Der letzte Zug präsentiert dem russischen Publikum eine deutsche Perspektive, welche den sowjetischen Zuschauenden mit wenigen Ausnahmen verschlossen blieb. In Im Sternzeichen des Stiers nähern sich die deutschen und russischen Männerfiguren in ihrem gemeinsamen Leid und ihrer Last, die sie durch den Krieg ertragen müssen, einander an. 255
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Filme Filme
BRD/Deutschland 08/15 (BRD 1954/55, R. Paul May) 4 Tage im Mai (D/RF/UA 2011, R. Achim von Borries) Aimée & Jaguar (D 1999, R. Max Färberböck) Anonyma – Eine Frau in Berlin (D 2008, R. Max Färberböck) Canaris (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) Der Arzt von Stalingrad (BRD 1958, R. Géza von Radványi) Der neunte Tag (D/LUX/CZE 2004, R. Volker Schlöndorff) Der Stellvertreter [Amen.] (D/F/RO 2002, R. Constantin Costa-Gavras) Der Stern von Afrika (BRD 1957, R. Alfred Weidenmann) Des Teufels General (BRD 1955, R. Helmut Käutner) Der Untergang (D 2004, R. Oliver Hirschbiegel) Deutschland, bleiche Mutter (BRD 1980, R. Helma Sanders-Brahms) Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) Dresden (D/GB 2006, R. Roland Suso Richter) Film ohne Titel (1947, R. Rudolf Jugert) Haie und kleine Fische (BRD 1957, R. Frank Wisbar) Heimat (BRD 1981–2012, R. Edgar Reitz) Hitler, ein Film aus Deutschland (BRD 1977, R. Hans-Jürgen Syberberg) Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) In jenen Tagen (1947, R. Helmut Käutner) Jeder stirbt für sich allein (BRD 1975, R. Alfred Vohrer) Kinder, Mütter und ein General (BRD 1955, R. László Benedek) Morituri (1948, R. Eugen York) Nacht fiel über Gotenhafen (BRD 1960, R. Frank Wisbar)
Filme
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Napola: Elite für den Führer (D 2005, R. Dennis Gansel) Sophie Scholl – Die letzten Tage (D 2005, R. Marc Rothemund) So weit die Füsse tragen (D 2001, R. Hardy Martins) Und finden dereinst wir uns wieder (1947, R. Hans Müller)
DDR Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) Das zweite Gleis (DDR 1962, R. Joachim Kunert) Der Rat der Götter (DDR 1950, R. Kurt Maetzig) Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert) Die Buntkarierten (DDR 1949, R. Kurt Maetzig) Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) Die Russen kommen (DDR 1967/87, R. Heiner Carow) Die Schauspielerin (DDR 1988, R. Siegfried Kühn) Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (DDR 1955, R. Kurt Maetzig) Erster Verlust (DEFA 1990, R. Maxim Dessau) Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf) Ich zwing dich zu leben (DDR 1978, R. Ralf Kirsten) Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer) Lebende Ware (DDR 1966, R. Wolfgang Luderer) Mama, ich lebe (DDR 1977, R. Konrad Wolf) Nackt unter Wölfen (DDR 1963, R. Frank Beyer) Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) Wengler & Söhne – Eine Legende (DDR 1986, R. Rainer Simon)
Österreich Die letzte Brücke (A/YU 1954, R. Helmut Käutner)
UdSSR/Russländische Föderation Ädlerchen [Орлёнок] (UdSSR 1957, R. Eduard Bočarov) Aufstieg [Восхождение] (UdSSR 1976, R. Larisa Šepit’ko) Bataillon von Häftlingen [Штрафбат] (RF 2004, R. Nikolaj Dostal’) Befreiung [Освобождение] (UdSSR/DDR/YU/I/P 1968–72, R. Jurij Ozerov) Der Fall von Berlin [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli) Der fünfzehnte Frühling [Пятнадцатая весна] (UdSSR 1972, R. Inna Tumanjan) 259
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Der Krieg ist kein Abzählspiel [„Аты-Баты, шли солдаты…“] (UdSSR 1977, R. Leonid Bykov) Der letzte Zug [Последний поезд] (RF 2003, R. Aleksej German jr.) Der Pope [Поп] (RF 2010, R. Vladimir Chotinenko) Der Sekretär des Rayonkomitees [Секретарь райкома] (UdSSR 1942, R. Ivan Pyr’ev) Der Vorsitzende [Председатель] (UdSSR 1964, R. Aleksej Saltykov) Der wahre Mensch [Повесть о настоящем человеке] (UdSSR 1948, R. Aleksandr Stolper) Die beiden Fjodors [Два Федора] (UdSSR 1959, R. Marlen Chuziev) Die fünf Mutigen [Пятёрка отважных] (UdSSR 1970, R. Leonid Martynjuk) Die Sonne, die uns täuscht 2 [Утомленные солнцем 2] (RF 2010–2011, R. Nikita Michalkov) Die Strasse des jüngeren Sohnes [Улица младшего сына] (UdSSR 1962, R. Leb Golub) Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) Ein Soldat ist von der Front zurückgekehrt [Пришел солдат с фронта] (UdSSR 1972 R. Nikolaj Gubenko) Eine lange Erinnerung [Долгая память] (UdSSR 1985, R. Roman Viktjuk) Eine Kugel scheut sich vor den Mutigen [Смелого пуля боится] (UdSSR 1970, R. Oleg Nikolaevskij) Erfahrene Hasen des Geschwaders [В бой идут одни „старики“] (UdSSR 1974, R. Leonid Bykov) Es geschah in Donbass [Это было в Донбассе] (UdSSR 1945, R. Leonid Lukov/Vladimir Suchobokov) Franz + Polina (RF 2006, R. Michail Segal) Fünf Tage – fünf Nächte / Пять дней – пять ночей (UdSSR/DDR 1961, R. Leo Arnstam/ Heinz Thiel/Anatolij Golovanov) Grüne Kettchen [Зелёные цепочки] (UdSSR 1970, R. Grigorij Aronov) Halbdunkel [Полумгла] (RF 2006, R. Artem Antonov) Hunderterster [Сто первый] (UdSSR 1982, R. Vadim Kostromenko) Im Morgengrauen ist es noch still [А зори здесь тихие] (UdSSR 1972, R. Stanislav Rostockij) Im Sternzeichen des Stiers [В созвездии быка] (RF 2003, R. Petr Todorovskij) In jenem fernen Sommer [В то далёкое лето] (UdSSR 1974, R. Nikolaj Lebedev) Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) Komm und sieh [Иди и смотри] (UdSSR 1986, R. Ėlem Klimov) Lustige Burschen [Веселые ребята] (UdSSR 1934, R. Grigori Aleksandrov) Ostkorridor [Восточный коридор] (UdSSR 1966, R. Valentin Vinogradov) Reiter [Всадники] (UdSSR 1972, R. Vadim Kostromenko) Sie kämpften für die Heimat [Они сражались за родину] (UdSSR 1975, R. Sergej Bondarčuk)
4.3 Emotionalisierung
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Sie trafen sich in Moskau [Свинарка и пастух] (UdSSR 1941, R. Aleksandr Pyr’ev) Sie verteidigt die Heimat [Она защищает родину] (UdSSR 1943, R. Friedrich Ermler) Stalingrad [Сталинград] (RF 2013, R. Fedor Bondarčuk) Strassenkontrolle [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971, R. Aleksej German sr.) Sturm auf Festung Brest [Брестская крепость] (RF/BEL 2010, R. Aleksandr Kott) Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя свое] (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov) Volga-Volga (UdSSR 1938, R. Grigorij Aleksandrov) Warte auf mich [Жди меня] (UdSSR 1943, R. Aleksandr Stolper) Weiberreich [Бабье царство] (UdSSR 1967, R. Aleksej Saltykov) Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) Wir sind aus der Zukunft [Мы из будущего] (RF 2008, R. Andrej Maljukov) Ženja, Ženečka und die Stalinorgel [Женя, Женечка и „катюша“] (UdSSR 1967, R. Vladimir Motyl’) Zwanzig Tage ohne Krieg [Двадцать дней без войны] (UdSSR 1976, R. Aleksej German sr.)
4.3 Emotionalisierung 4.3 Emotionalisierung
Während sich die Sinnherstellung horizontal entwickelt – der Film muss bis zum Ende erzählen, um einen Sinn zu produzieren –, werden die Emotions- und Affektmechanismen im Film vertikal geschichtet. Unter Zuhilfenahme des kognitiven Perzeption-Konzeption-Stereotypen-Modells (PKS-Modell) von Peter Wuss wird dieser Prozess im Kriegsfilm wie folgt beschrieben: Tradierte, den Zuschauenden oft unbewusst bleibende Mikrostrukturen (bei Wuss – Stereotype) sorgen durchgehen für die bildliche Kontinuität und somit für die visuelle Befriedigung durch das Erkennen des Gleichen und Bekannten, die für das Verständnis der Handlung unabdingbar sind. Perzeptionsgeleitete Strukturen sind Affekte, die durch besondere Bilder, Brüche, Abweichung von Traditionen und andere proavantgardistische Strategien entstehen. Sie sind punktuell im Kriegsfilm zu finden, zum Beispiel bei Todes- oder Trauerszenen. Kognitionsgeleitete Strukturen sind Emotionen, die sich aus der Sinnproduktion herleiten. Dieses Modell wird mit den Meta-Emotionen ergänzt – dem Moralismus der Kriegsfilme, der bei Zuschauenden durch die Abgleichung der jeweiligen Produktion mit dem Erinnerungskonsens entsteht.
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
4.3.1 Die Besonderheiten der Filme über den Zweiten Weltkrieg Nach der Sinnherstellung und den Bewältigungsmechanismen stellt die Emotionalisierung den dritten Aspekt des filmischen Erinnerungsmodells dar. Starke Affekte und Emotionen gehören seit Beginn der abendländischen Zivilisation zu den festen Bestandteilen des Ästhetischen. Aristoteles nennt Jammer (eleos), Schauder (phobos) und Leiden (pathos) die zentralen Affekte der Tragödie (Aristoteles 1997, S. 39–49). Die meisten Forscher*innen sind sich darin einig, dass das Kino aufgrund seines Dispositivs und seiner medialen Besonderheiten eines der Leitmedien in der Produktion von Gefühlen, ja eine regelrechte Emotionsmaschine ist (Tan 1996; Plantiga und Smith 1999; Brütsch et al. 2005; Bartsch et al. 2007; Robin und Koch 2009), deren Wirkung sie aus der kognitiven, psychologischen, kulturellen oder medienspezifischen Perspektive zu erfassen suchen. So wurden zum Beispiel die Appraisal-Theorie (Scherer 1998, S. 276–293), die Mood-Management-Theorie (Zillmann 1988), die Theorie der Sensationssuche (Zuckermann 1988), die Theorie des „Need for Affect“ (Maio und Esses 2001), die Theorie des sozialen Vergleichs (z. B. Krämer 2008; Mares und Cantor 1992), die Affective-Disposition-Theorie (Zillmann 1971) oder die Theorie des Terror-Managements (Goldenberg et al. 1999) entwickelt. Das Kino wird dabei als Experimentierfeld für die Erprobung von Emotionen (Wulff 2006) oder das intensivere Erleben dieser Emotionen gefasst (Tan 2009, S. 197), das im realen Leben so gar nicht möglich wäre (Tan und Frijda 1999, S. 55). Im Gegensatz zum Alltag müssen wir im Kino unsere Gefühle nicht selbst regulieren und vor allem nicht unterdrücken. Denn Filme weisen im Vergleich zur Wirklichkeit eine höhere Erlebnisdichte und häufigere Emotionsschwankungen auf, wobei die persönliche Betroffenheit der Zuschauenden eine bedeutende Rolle spielt, um die im Film produzierten Emotionen an die Erfahrungswelt der Zuschauenden anzuschließen (Mangold und Bartsch 2012, siehe auch Kappelhoff 2007). Emotionen lassen sich Genres zuordnen (ebd.), wie etwa die Angst dem Horrorfilm, die Unterhaltung der Komödie und die Rührung dem Melodram. Es ist allerdings nicht leicht zu beantworten, auf welche Emotionen Filme über den Zweiten Weltkrieg abzielen. Sie können durchaus auch Gefühle wie melodramatische Rührung (Gledhill 2000) oder horrorähnliche Angst hervorrufen. Geht es um den Inhalt, sind die Themen jedes Kriegsfilms Phänomene wie Gewalt, Zerstörung und Tod, die alle auf die Evokation von Angst, Verlusterfahrung, Aggression, Rührung, Rache oder Genugtuung hinarbeiten. Hermann Kappelhoff klassifiziert potenzielle Emotionen nach Szenen, die er in Anlehnung an Aby Warburg als „Pathosszenen“ bezeichnet: „[…] der Sterbeszene entspricht die Trauer, der Kampfszene die Angst und die Kampflust, Heldentaten implizieren Figurationen
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des Zorns […].“ (Kappelhoff 2013, S. 194) Betrachtet man den ästhetischen Aufbau, so enthalten Kriegsfilme – wie viele Werke anderer Genres – freilich auch solche dramaturgischen Elemente, die zur Spannung und Unterhaltung beitragen – besonders deutlich etwa in Filmen über Partisan*innen oder Spion*innen. Diese Elemente stehen aber nicht im Vordergrund, denn die Werke über den Zweiten Weltkrieg bilden ein ernstes, protodokumentarisches Genre, an das Gesellschaften die ethische Forderung zur Kommemoration von Opfern oder zur Erinnerung an kollektiven Heroismus stellen. Experimentalästhetik, Unterhaltung durch abenteuerliche Erlebnisse oder komödiantischen Spaß darf es nur insofern geben, als sie dem aktuellen kulturell-emotionalen Konsens über den Zweiten Weltkrieg nicht widersprechen. Daher sind Kriegsfilme nie reine Melodramen, und es gibt relativ wenige Komödien und Autorenfilme, die sich über die Umstände im Krieg lustig machen oder seinen Sinn völlig destruieren und allein das Ästhetische und Mediale des Kriegserlebnisses hervorheben. Legt man den Fokus der Betrachtung auf die Art der Geschichtsdarstellung, die eine wichtige Funktion des Kriegsfilms ist, dann geht es darum, das Gefühl der Kollektivität bzw. der Zugehörigkeit der Zuschauer*innen zu einer Nation und zu einer (Täter-, Opfer- oder Zeugen-)Gruppe zu evozieren (Kappelhoff 2016), die entworfene Vergangenheit als Teil ihrer eigenen Geschichte kenntlich zu machen, die Zuschauer*innen also zur Identifikation und Reflexion einzuladen und sie eine entsprechende Haltung gegenüber der Geschichte (Pathos, Schuldgefühle) einnehmen zu lassen (vgl. auch die integrativen Ansätze von Wulff 2002 und Eder 2005). Filme über reale Kriege wollen mehr als nur ein historisches Genre sein; sie überschreiten die Grenzen des Historischen, indem sie die Vergangenheit im Dienste der Gegenwart deuten, sie somit in aktuelle Diskurse integrieren und als ein aktuelles kollektives Identitätsangebot darbieten. Daher sind eine überzeugende Authentizitätsästhetik, technische Genauigkeit und historische Faktizität von enormer Bedeutung für die Produktion und Rezeption der Filme. Filme über reale Kriege bilden deshalb eines der wenigen Genres weltweit, die es für sich beanspruchen, historische und politische Wahrheit zu vermitteln. Kollektive Bedrohung und intensive Todeserfahrung bürgen für und verpflichten den Kriegsfilm zur Wahrheit, so die Haltung dieses Genres. In der Regel findet sich in der Großzahl der Kriegsfilme dementsprechend eine eher anti-postmodernistische Darstellungstradition, die die inszenierte historische ‚Wahrheit‘ eben nicht als mediale Konstruktion sichtbar zu machen und dadurch die entworfene Historie in Frage zu stellen sucht. Emotionen und Affekte werden dabei zu Medien, welche die historische Zeit überwinden und das historische Geschehen in die aktuelle Affektwelt der Zuschauenden einfügen, ohne dass das Gesehene unbedingt sinnhaft erfasst werden soll (Proppe 2012, S. 17). Der Kriegsfilm entwickelt mithin eine komplexe ästhetische Affekt- und Emotionsstruktur, die 263
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politisch ausgehandelt wird und außerhalb eines bestimmten kulturellen Kontextes oft nicht erfolgreich wirken kann.87 Zum Beispiel wurde das sowjetische Kinoepos Befreiung [Освобождение] (UdSSR/DDR/JUG/P/I 1967–1971, R. Jurij Ozerov), das trotz seiner sowjetisch-sozialistischen Vergangenheitsdeutung filmästhetisch sicher zu den Meisterwerken der Kinokunst gehört, in Osteuropa gerühmt, in Westdeutschland hingegen als Lüge und falsches Pathos diffamiert (vgl. Kapitel „Narration von oben“). In Filmen zum Zweiten Weltkrieg werden somit Emotionen nicht einfach erprobt oder intensiviert, sondern ganz neu gebildet. Sie stützen sich nicht auf reale Erfahrung: Wie könnte sich eine Explosion aus der Nähe anfühlen? Wie kann der Tod wiederholt erfahren werden, ohne dass man jemals gestorben ist? Wie viele der Zuschauenden haben überhaupt unmittelbare Kriegserfahrungen gemacht? Und warum wird im Kriegsfilm kaum die physische Müdigkeit, die aus dem Marschieren und dem Graben von Schützengräben resultiert, oder die Langeweile des Wartens thematisiert? Siegfried Kracauer beschreibt nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise die Veränderung der Kameraarbeit bei der filmischen Darstellung des Krieges: Die Kamera fragmentiere den verstümmelten Körper noch zusätzlich und zeige ihn zudem aus einer ungewöhnlichen Perspektive, die es in der Realität so nicht gebe (Kracauer 2012, S. 67). Filme schaffen zum Teil selbst emotionale Bedürfnisse, die sie dann befriedigen können. Der Kriegsfilm ist hierfür ein Beispiel. Zum einen bietet das Genre wie alle anderen Genres eine komplexe Mischung der oben erwähnten Gefühle88 (Angst, Rührung, Verlusterfahrung usw.) an, die zum 87 An dieser Stelle argumentiere ich gegen den Ansatz von Michael Wedel (2013), den Kriegsfilm in Anlehnung an Linda Williams in eine Reihe mit Pornografie, Horrorfilm und Melodram zu stellen. Die genannten Genres rufen aufgrund der von Williams beschriebenen Gender-Struktur und ihren Körperbildern mimetisch Grundemotionen hervor, die auch außerhalb des kulturellen Kontextes rezipiert werden können. Die Produktion und Rezeption des Kriegsfilms ist hingegen ein Resultat politischer Aushandlung. Dieses Konzept erweitern Thomas Elsaesser und Michael Wedel dann insofern, als die Körperlichkeit im Kriegsfilm vor allem den kinematografischen Körper darstellt, der sich aus filmischen Mitteln des Optischen und Akustischen zusammensetzt und an dem zugleich eine „ästhetische Erfahrung des lebendigen Leibes“ im „Scharnier ideologischer Dialektik“ möglich wird (Elsaesser und Wedel 2016, S. 124). Außerdem führen die Autoren die Gemeinschaft als Kategorie ein, mit der die Körper über die Technik im weiteren Sinne (als Kommunikationsdispositiv, durch Film- und Militärtechnik) im Bild verbunden werden. (Ebd., S. 111). 88 In Anlehnung an Kappelhoff verstehe ich das Gefühl als das „[…] Verbindende zwischen den individualpsychologisch perspektivierten Emotionsprozessen und dem affekttheoretischen Konzept einer konstitutiven Interaffektivität. Gefühle sind so betrachtet als Prozesse zu verstehen, in denen eine situativ gegebene Dynamik affektiver Bewertungen der umgebenden Welt mit den basalen affektiven Einbettungen des Individuums
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Teil an existenzielle Erfahrungen aller Menschen anschließen und dadurch aktiviert und intensiviert werden, zum Teil aber auch mit der geltenden Staatsideologie verknüpft und dadurch auf eine höhere Ebene gehoben sind: Die Figuren machen Geschichte und handeln im Namen der Nation. Kriegsfilme appellieren ans Publikum als Staatsmenschen und Bürger*innen einer Nation, welche das kollektive Schicksal ihrer Vorfahr*innen miterleben sollen. So rufen filmische Werke anstelle der physischen Betroffenheit Emotionen wie Pathos, Erhabenheit, Stolz, Schuld, Scham oder Fassungslosigkeit hervor, die die Zuschauenden mit der Geschichte verbinden und zugleich ihre Kollektivbildung im Kinosaal fördern. Emotionen und Affekte haben daher im Kriegsfilm eine doppelte Wirkung: Sie unterstützen einerseits die Sinnstiftung des Krieges und sorgen für die Einprägung der sinnkonstitutiven Narrationstypen, Bewältigungsmechanismen und Normalisierungsprozesse, mit denen die Gewalt überwunden werden soll. Andererseits dienen sie auch der Legitimation der aktuellen Ideologie, die anhand der Vergangenheit verhandelt wird. In diesen Funktionen lenken Affekte das Publikum in ihrem emotionalen Erleben. Einmal filmisch-kulturell ausgehandelte Sinnkontexte des Kriegsfilms verbinden sich in der Regel mit einem entsprechenden Emotionsversprechen gegenüber dem Publikum. Die erwarteten Emotionen werden in jedem einzelnen Werk individuell exemplifiziert, ausdifferenziert und weiter eingeübt: Der Nationalsozialismus muss zum Beispiel in allen Filmen über den Zweiten Weltkrieg weltweit als negativ erlebt werden, um verurteilt werden zu können. Die BRD-Filme appellieren darüber hinaus an Schuld- und Verantwortungsgefühle der Zuschauenden, oder zumindest wird eine individuelle Betroffenheit evoziert, um die Frage der Verantwortung für die Verbrechen aufzuwerfen. Den Sieg im Krieg verbindet man in der UdSSR hingegen mit Gefühlen wie Triumph und Stolz, welche gleichzeitig als Legitimation für das sozialistische System eingesetzt werden. Die Filme der DDR wecken beide emotionalen Erlebnisse: Der Nationalsozialismus wird verurteilt, neben dem Verantwortungs- oder Schuldgefühl wird Stolz auf den neuen Staat hervorgerufen. Alle diese Gefühle werden im Film immer wieder neu ausgehandelt und aktualisiert. Emotionen und Affekte werden zugleich selbst in kollektiven Erinnerungsmustern und einem historischen Bildrepertoire auf verschiedenen Ebenen gespeichert und vom Publikum bewusst und unbewusst aufgenommen. Bevor eine Typologie der Affekte und Emotionen vorgeschlagen wird, muss betont werden, dass emotionale Erlebnisse und ihre potenziellen Imaginationen (Hanich 2012) im Kriegsfilm stark kontrolliert und gelenkt werden, auch wenn dies (seinem Gefühl für die gemeinsame Welt) korreliert und zur Deckung gebracht wird.“ (Kappelhoff 2016, S. 117–118). 265
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
nicht immer gelingt: Einerseits sollen starke Emotionen vorherrschen, andererseits werden keine gefährlichen Mehrdeutigkeiten oder Ambivalenzen von Gefühlen zugelassen, die den kollektiven Erinnerungskonsens über bestimmte Themen in Frage stellen könnten. Filmästhetisch werden Emotionen und Affekte über die dialektische Regelung von Nähe und Distanz, von ihrer Entfesselung und (formalen) Bändigung, ihrer Gegenwärtigkeit und Historizität gelenkt.89 Es geht daher darum, die Distanz zwischen der Kinoleinwand und den Rezipient*innen aufgrund des herausgebildeten Kinodispositivs zu reduzieren, um die Zuschauenden Identifikation und Immersion erleben zu lassen. Zugleich macht gerade diese Als-ob-Situation (Proppe 2012) – die Distanz wird nie vollständig überwunden – das ‚Genießen‘ von Gewalterlebnissen, naher Todeserfahrung und Angst erst möglich. Im Kriegsfilm werden Todesangst und Schock ausgelöst und gleichzeitig gegen Ende des Films gebändigt. Durch bekannte Bilder, Motive oder Narrationen werden Affekte, die sich bei den Zuschauenden schon eingestellt haben, wieder zurückgenommen, nur politisch ausgehandelte und zugelassene Emotionen (wie Erhabenheit, Verantwortungs- oder Schuldgefühle) werden zugelassen. Vergleicht man die emotionalen und die Affektstrukturen der drei Erinnerungskulturen, lässt sich ein grundsätzlicher Unterschied ausmachen. Die sowjetische Kultur zeichnet sich durch einen emotionalen Exzess aus – je mehr Pathos desto besser –, wobei die UdSSR sich in diesen Inszenierungen im Recht befindet und sich als Siegerin feiert. Auch viele DEFA-Filme weisen Pathos und Erhabenheit auf, wobei sie oft zwischen Schuld an der Vergangenheit und Stolz auf den neuen Staat gespalten sind. Aufgrund der Verbreitung der Parabelform lassen sie jedoch auch eine Affinität für die analytische Reflexion erkennen, die aus der durch die Mehrdeutigkeit produzierten Überschreitung des offiziell erlaubten politischen Kontextes resultiert. Die BRD arbeitet eher mit melodramatischer Rührung, da es hier um eine Individualisierung der historischen Erfahrung geht, die vor allem mit Unfassbarkeit und Ausweglosigkeit assoziiert wird. Diese Emotionen sind eigentlich nur in Bezug auf die Opfer zugelassen, deswegen wirkt das Pathos, das primär in Bezug auf Helden (in der Regel sind das Männerfiguren) evoziert wird und in den westdeutschen Produktionen Unbehagen auslöst, in der Regel 89 Diese Ambivalenz der Affekte spricht bereits Aby Warburg mit seinem kulturanthropologischen Modell an: Unter der „Pathosformel“ versteht er die Verdichtung sozialer Energien, die zu „Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins“ beitragen. Pathosformeln umfassen Erinnerungen an archaische Ängste und Affekte, sie sind „Engramme leidenschaftlicher Erfahrung“. Diese Affektpotenziale können unter Umständen in verschiedenen historischen Epochen wiederbelebt oder gar umgeschrieben werden, zugleich werden sie durch ihre ästhetische Erfassung zum Teil depotenziert (Warburg 2008, S. 3).
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sinnentleert. Für die Darstellung der Täter (auch hier handelt es sich vorwiegend um Männerfiguren) besitzt die Strategie einer scheinbaren Deemotionalisierung eine besondere affektive Intensität, die zum Beispiel Theodor Kotulla in Aus einem deutschen Leben (1977) und noch radikaler Romuald Karmakar in Das Himmler-Projekt (2000) realisieren. „Ich glaube ans effektfreie Kino“ (Vahabzadeh 2010), äußerte sich Karmakar in Bezug auf seinen später gedrehten Film Die Nacht singt ihre Lieder (BRD 2004). Tobias Ebbrecht beschreibt Das Himmler-Projekt als „Antistereotyp“, als „radikale Entblätterung des Täters von den Schichten seiner kulturellen und kulturindustriellen Bearbeitung“ (Ebbrecht 2010, S. 64). Aus diesem Grund werden in Russland weiter Kriegsfilme für das Kino produziert, in denen große Spektakel möglich sind; in Deutschland finden sich aufgrund der Prävalenz der melodramatischen Affektökonomie hingegen immer häufiger Fernsehproduktionen. Die Filme können dabei ihre emotionale und affektive Wirkung über die Jahre verlieren (Bösch 2007, S. 142). Der Wechsel der Staatsideologien bedingt, dass Kriegsfilme ihre politischen Aussagen wie auch Überschreitungen nicht mehr so vermitteln können, wie sie es für die Zeitgenoss*innen getan haben. Das gilt besonders für jene ostdeutschen und sowjetischen Filme, welche die sozialistische Ideologie unmittelbar propagierten, dagegen jedoch nicht für diejenigen, die anthropologische Größen betonten und universalistisch argumentierten. Außerdem verändert sich die Wirkung infolge der ästhetischen und medientechnischen Entwicklung. Frühe Kriegsfilme erscheinen angesichts der obsoleten Wahrnehmungsformen häufig als alt. In ihnen enthaltene ästhetische Innovationen können darüber hinaus nach einiger Zeit stereotyp werden. Daher sind die im Weiteren dargelegten Überlegungen als idealtypisch zu verstehen; Emotionalisierungsstrategien sind auf Grundlage der strukturellen Möglichkeiten des Films rekonstruiert worden, ohne die Wirkung auf die Zuschauenden empirisch genauer zu untersuchen. Die meisten analysierten Filme sind die bekanntesten ihrer jeweiligen Zeit, und viele davon erfreuten sich eines großen Erfolgs, der nicht zuletzt ihren emotionalen Strukturen zu verdanken war, welche auf die kulturellen und politischen Bedingungen reagierten und deren emotionale Versprechen bereits bei der Produktion in der Gestaltung angelegt wurden.
4.3.2 Das PKS-Modell für die Beschreibung von Affekten und Emotionen Für die Kriegsdarstellung können somit vier zentrale Ebenen emotionaler Einwirkung definiert werden, mit denen zugleich entsprechende Funktionen für 267
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das kollektive Gedächtnis deutlich werden. Sie werden hier unter Zuhilfenahme des kognitiven Perzeption-Konzeption-Stereotypen-Modells (PKS-Modell) von Peter Wuss kategorisiert, das die Wahrnehmung eines Films als Ganzes zu erfassen sucht (Wuss 1993), wobei es hier für die Klassifizierung der Emotionen und Affekte Verwendung finden soll. Die Verbindung von Kognition und Emotion unterstreicht Peter Wuss in Anlehnung an die psychologische Forschung mehrmals selbst (ebd., S. 38–39). Er unterscheidet drei für die Wahrnehmung zentrale Strukturen des Films, die einerseits auf der Invariantenbildung basieren, also im Prozess der Filmsichtung gewissermaßen erlernt werden und andererseits das bestehende kulturelle und mediale Wissen der Zuschauer*innen adressieren. Filme bestätigen oder modifizieren das Bekannte durch perzeptions-, konzeptions- und stereotypengeleitete Strukturen, die hier durch Meta-Strukturen ergänzt werden. Die Hierarchie wird in der Beschreibung allerdings umgedreht, die Analyse bewegt sich von Kleinelementen hin zu narrativen Strukturen und zur Rezeptionshaltung der Zuschauenden gegenüber einem ganzen Film. Zu den stereotypengeleiteten Elementen gehören tradierte Mikro-Strukturen des Kriegsfilms, die wiederholt zum Einsatz kommen und infolgedessen zu den zentralen Bestandteilen des Genres gehören. Sie steuern die Kognition der Zuschauenden und rufen bei ihnen Wiedererkennungseffekte (oder auch Enttäuschung) hervor. Ihre Wirkung ist gering und punktuell, verteilt sich aber über den ganzen Film. Zu den perzeptionsgeleiteten Strukturen gehören Affekte, die plötzlich durch einen ästhetischen Bruch auf die Zuschauenden einwirken. Sie ragen aus dem Film heraus, können auch als selbstständiges Erleben – als einprägsames Bild oder als eine besondere Episode – außerhalb des Films zirkulieren. Konzeptionsgeleitete Strukturen rufen im Zuge der Sinnerzeugung komplexe und sinnhaft greifbare Emotionen hervor. Meta-Strukturen beziehen sich auf die ästhetische und moralische Einschätzung des Krieges, die grundsätzlich beim Abgleich eines Films mit dem historischen Wissen, der aktuellen Erinnerungspolitik und mit anderen Filmen entsteht. Das emotionale Erlebnis in filmischen Werken ist daher mehrschichtig vertikal organisiert, im Gegensatz zur horizontalen narrativen Sinnproduktion: Die perzeptions-, konzeptions- und stereotypengeleiteten Strukturen überlagern sich, wobei an einigen Stellen des Films nur einzelne von ihnen, an anderen jedoch alle zusammen wirken. Sie können deshalb bereits an einzelnen Stellen auf das Publikum Einfluss nehmen, bevor der Sinn des Ganzen erschließbar wird. Eine ausgewogene Balance der diversen Emotionsschichten trägt zum Erfolg des Films bei.
4.3 Emotionalisierung
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4.3.3 Tradierte Mikro-Strukturen Mit stereotypengeleiteten Strukturen definiert Peter Wuss die Kognition über tradierte und leicht erkennbare Genreelemente, Motive und Topoi, die besonders vom intertextuell verfahrenden Genrekino verwendet werden, da die Filme ansonsten gar nicht einem Genre zugeordnet werden könnten. Das Wissen über diese Elemente ist evident, geht es doch auf kulturell verankerte Darstellungsstrategien zurück, die vom Publikum schon mehrfach in anderen oder früheren Filmen erlernt wurden. Stereotype gehören trotz ihrer Evidenz eher zum unbewussten Wissen und weisen einen unterschiedlichen Grad von semantischer Stabilität auf, können jedoch durchaus Wahrnehmungsprozesse anstoßen (ebd., S. 60–61). Sie sind auf jeden Fall konstitutive Bestandteile kultureller Sinnherstellung und für mediale Kognitions- und Emotionsprozesse unabdingbar. Da das Stereotyp als Begriff negativ behaftet ist und in erster Linie auf bildliche und figurative Klischees verweist, werden hier tradierte Mikro-Strukturen als eine definitorische Alternative verwendet. In Bezug auf ihre Wirkung im kollektiven Gedächtnis werden vor allem die basale Symbolik und bekannte, gerade deshalb aber unauffällige Elemente des Kriegsfilms – etwa bestimmte Bilder und Einstellungen, Montageformen oder musikalische Stile – erfasst, die Jörg Schweinitz zu den unabdingbaren „funktionalen Größen“ (Schweinitz 2006, S. 98) des Films zählt, weil sie die Filmrezeption in kognitive Bahnen lenken und zur Stabilisierung der Narration beitragen. In Bezug auf ihre Involviertheit in die Sinnproduktion des Films erscheinen sie allerdings, mit Francesco Casetti gesprochen, als „Noch-NichtSinn-Machende“ oder „Nicht-Mehr-Sinn-Machende“ (Casetti 2005, S. 29) oder mit Roland Barthes als „weder signifikant noch insignifikant“ (Barthes 2005, S. 165). Es sind nicht weiter zerlegbare Elemente des Films (Pasolini 2012, S. 83–84),90 die in Analogie zu Barthes’ Überlegungen über die „unnützen Details“ (Barthes 2005, S. 165) auf die konkrete Wirklichkeit hinweisen. In solchen Elementen wird der Referent mit einem Signifikanten unmittelbar zusammengeführt, und „das Signifikat wird aus dem Zeichen vertrieben“, um eine „referentielle Illusion“ (ebd., S. 171) zu erschaffen. Guido Kirsten nennt diese Elemente in seiner Analyse der filmischen 90 Pasolini differenziert jedes Filmbild mit Bezug auf den Filmsemiotiker Christian Metz und den französischen strukturalistischen Linguisten André Martinet in Kineme (Objekte oder Gesten der Wirklichkeit) und Moneme (kinematografische Einstellungen), aus denen sich filmische Zeichen bzw. Substantive zusammensetzen und aus der Art der Einstellung heraus eine bestimmte Eigenschaft erhalten. Die Zusammenführung von Kinem und Monem, nach Pasolini ein Substantivierungsmodus, vergleichbar mit dem Relativsatz „etwas, das ist“ (S. 84), produziert an sich noch keinen Sinn bzw. keine Handlung. Diese entsteht erst durch die Montage. 269
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Erzähltechniken „anti-dramatische Einzelhandlungen“ (Kirsten 2009, S. 148)91, die semantisch eher einen Überschuss darstellen, jedoch dazu beitragen, „die imaginäre Eigenständigkeit der diegetischen Welt“ (ebd., S. 152) zu beweisen. Im Gegensatz zur Literatur, über die Roland Barthes schreibt und in der solche Eintragungen in der Regel als einmalig erscheinen, womit sie zur stilistischen Eigenart eines Werkes beisteuern, dem Sinn des Werkes Widerstand leisten und seine Genre-Zugehörigkeit tendenziell sprengen, erscheinen sie also im Kriegsfilm eher als wiedererkennbare Elemente, die den Film harmonisch abrunden, das Genre stabilisieren und die Sinnproduktion unterstützen. Eine gewisse Anzahl dieser Elemente steht im Dienste der narrativen Harmonie, sie erschaffen erzählerische Kontinuität und gewährleisten logische Übergänge zwischen den Handlungssträngen. Nicht das einzigartige Moment der Realität wird durch sie markiert, vielmehr ermöglichen sie historische wie lokale Orientierung und zugleich eine genrespezifische Fixierung, wobei sie in dieser Funktion durchaus zugleich der Erschaffung von Authentizität dienen können – einer Art historischer Verifikation, etwa wenn es um den Einsatz von Dokumentarmaterialien geht. Es könnte hier auch von einer Ritualisierung gesprochen werden (Viehoff 2007, S. 123–141), doch erstarren diese Elemente niemals völlig, werden sie doch in jedem einzelnen Werk aufs Neue aufgerufen und im Zuge dessen anders kontextualisiert (Schweinitz 2006). Tradierte Mikro-Strukturen evozieren auf diese Weise Emotionen wie die Freude am Wiedererkennen, auch wenn sie bei der Rezeption durchaus als klischeehafte Darstellung abgelehnt werden können, wenn sie zu sichtbar werden. Sie können aber durchaus die Entfaltung eines neuen Sinns und neuer Assoziationen fördern, wenn sie den Zuschauenden ästhetisch bewusst gemacht werden. Zum Beispiel macht der sowjetische Autorenfilmemacher Marlen Chuziev in Es war im Monat Mai [Был месяц май] (UdSSR 1970) Stiefel zu einem Verständigungsmedium zwischen deutschen Bauern und sowjetischen Soldaten und reflektiert dadurch auch filmästhetische Strategien, die verschiedene kulturelle Zustände visuell-dinghaft zum Ausdruck bringen, und vor allem die Tradition der Soldatenstiefel im Film, die hier außerhalb der Sprache funktioniert. Die Szene macht also gerade die asemantische Funktion der Stiefel bewusst, weil sie eigentlich für den Kontext des gesamten Films keinen Beitrag leistet. Die sonst kaum wahrnehmbaren Soldatenstiefel, die im Kriegsfilm gleichwohl immer zu sehen sind, aber nicht unbedingt eine konkrete dramaturgische oder semantische
91 Ebendort findet sich auch eine erhellende Zusammenfassung der theoretischen Debatten um den filmischen Wirklichkeitseindruck, den Kirsten wie folgt differenziert: 1) Realitätseindruck (mediale und apparative Dispositive), 2) Wirklichkeitseffekt (filmästhetische Darstellungsmittel) und 3) Authentieeindruck (Kombination von ersten beiden in ihrer historisch-kulturellen Gestaltung). (vgl. Kirsten 2009)
4.3 Emotionalisierung
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Funktion innehaben, werden in Es war im Monat Mai als Kriegszeichen hervorgehoben und so von der Funktion der Mikro-Struktur in die perzeptionsgeleitete Struktur überführt. Der Bauer spricht auf Deutsch (für das russische Publikum ohne Übersetzung) zum sowjetischen Major, der ihn nicht versteht, und erklärt ihm, dass man, wenn der Krieg komme, die Schuhe aus- und die Stiefel anziehe. Sobald der Krieg jedoch zu Ende sei, ziehe man die Stiefel aus und die Schuhe wieder an. Anschließend veranschaulicht der Bauer seine Worte anhand seiner Schuhe und der soldatischen Stiefel, sodass keine Übersetzung erforderlich ist. Die Funktion der Stiefel im Krieg und im Frieden ist für alle jenseits der Sprache verständlich (auch dank ihres Einsatzes in zahlreichen Kriegsfilmen), wodurch den Zuschauenden die Stiefel als eine tradierte filmische Mikro-Struktur ins Bewusstsein gerufen werden. Sie werden dadurch nicht nur auf dieses Bild aufmerksam gemacht, sondern es wird demonstriert, dass visuelle Zeichen/Dinge die Sprachbarriere durch einen (hier inszenierten) Zusammenfall des Signifikats und des Signifikanten in einem vorgeführten Gegenstand überwinden können, ohne dass er irgendeine Bedeutung für die Entwicklung der Handlung erhält. Trotz der Tradierung und der breiten Einsetzbarkeit solcher Mikro-Strukturen ist die Theorie der Intertextualität für die Beschreibung des Einsatzes dieser Elemente kaum von Nutzen, da diese als zu selbstverständlich erscheinen und daher unbemerkt bleiben. Sie werden in jedem Kriegsfilm verwendet, ohne jedoch auf eine konkrete Vorlage zu verweisen, erfordern daher keine Kenntnisse der Prätexte und fungieren als asemantische oder mit Minimalbedeutung versehene Elemente, die die durch perzeptions- und konzeptionsgeleitete Strukturen gesteuerte Bedeutungsproduktion unterstützen und zum Beispiel als Hilfe zur besseren historischen und lokalen Orientierung des Publikums oder zur Markierung von Zustandsänderungen eingesetzt werden. Mikro-Strukturen dienen deshalb oft als Verbindungsglied zwischen zwei semantisch bedeutenden Szenen und erhalten in dieser Funktion die Kontinuität der Narration aufrecht. Sie können auch der emotionalen Bewältigung der Kriegsgewalt dienen; oftmals werden sie aber nur kurz eingeblendet, wirken infolgedessen nur momentan und überlappen mit anderen visuellen Eindrücken und emotionalen Zuständen. In diesem unauffälligen Einsatz und der darum unbewussten Wahrnehmung wirken sie punktuell bzw. werden vom Publikum unreflektiert und als selbstverständlich wahrgenommen. Zu den Mikro-Strukturen gehören Bilder verschiedener Elemente der Uniform (Soldatenstiefel, Helme, Gürtel) und der politisch-historischen Symbolik (Hakenkreuze, Hitler-Büsten (Abb. 1), NS-Losungen und -Plakatsprüche (Abb. 2), rote Sterne und Fahnen, Stalin- oder Leninporträts, Schlagzeilen in einer Zeitung usw.), die Darstellung von Waffen, Militärtechnik oder Militärparaden, aber auch die Vorführung des Porzellans auf einem Tisch und die extradiegetische Verwendung 271
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Abb. 1 WENGLER & SÖHNE – EINE LEGENDE (DDR 1986, R. Rainer Simon)
Abb. 2 KINDER, MÜTTER UND EIN GENERAL (BRD 1955, R. László Benedek)
von musikalischen Leitmotiven. Außerdem ist der Einsatz von historischem Dokumentarmaterial unter diesem Begriff zu fassen, handelt es sich hier doch um eine Genre-Tradition des Kriegsfilms. Im Einzelnen verbinden sich folgende Funktionen mit diesen Elementen:
4.3 Emotionalisierung
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• Weltweit gehören Munition, Uniform und Regime-Abzeichen zu den konstitutiven Bestandteilen von Darstellungen des Zweiten Weltkrieges. Hakenkreuze, Hitler-Büste, NS-Losungen verorten die Handlung in der Zeit der NS-Herrschaft, rote Sterne sind Zeichen der Alliierten. In (west- und ost-)deutschen Filmen finden sich immer wieder auch die gelben Sterne, die die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus und das Jüdischsein der Figuren markieren. Die Uniform ist in der Regel ein Bedeutungsträger – ihre Abzeichen können die ideologische Zugehörigkeit und hierarchische Position vermitteln (dafür sind Kenntnisse hinsichtlich der Rangzeichen vorausgesetzt) –, nicht aber die Bilder der Soldatenstiefel, welche die Soldaten entdifferenzieren und depersonalisieren (Abb. 3–8). Sie sind Bestandteil nahezu jedes Kriegsfilms und können etwas über den Status der Armee verraten: Alte Stiefel weisen auf die Verletzbarkeit des Nationenkörpers und die (baldige) Niederlage hin, verstaubte Stiefel darauf, dass viel erlebt wurde. Soldaten ohne Stiefel werden immer dann gezeigt, wenn Niederlage oder Tod bevorstehen. Das Ausziehen der Stiefel signalisiert je nach Einsatz sowohl den Übergang zum Frieden als auch die Unfähigkeit zu kämpfen. Im Allgemeinen vermitteln sie aber nur die Dislozierung der Armee und signalisieren den Kriegszustand.
Abb. 3 IM WESTEN NICHTS NEUES [All Quiet on the Western Front] (USA 1930, R. Lewis Milestone) 273
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Abb. 4–5 IM WESTEN NICHTS NEUES [All Quiet on the Western Front] (USA 1930, R. Lewis Milestone)
4.3 Emotionalisierung
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Abb. 6 WOHIN JOHANNA? (Wahlwerbefilm der SED 1946, R. Peter Pewas)
Abb. 7 08/15, 1. Teil (BRD 1954, R. Paul May)
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Abb. 8 DIE ABENTEUER DES WERNER HOLT (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert)
• Helme (vgl. Gareis 2013) und Gürtel werden in ost- und westdeutschen Filmen bevorzugt gezeigt, weil sie entweder die Entindividuierung der Soldaten aus der Obersicht (beim Helm) oder die Fragmentierung des soldatischen Körpers (der Blick auf den Gürtel schneidet den Kopf in der Regel ab) bedingen, welche die Figuren depersonalisieren und objektivieren. Darüber hinaus wird die Dominanz der sozialen Strukturen über die Soldaten sichtbar, die nicht mehr über sich selbst verfügen (Abb. 9–10). Eine solch depotenzierte Perspektive auf die eigene Armee ist in der UdSSR und Russland kaum denkbar; entsprechende Einstellungen dienen höchstens der Herstellung von Übersicht in der Schlacht. • Der Einsatz von Waffen signalisiert Militäraggression und -gewalt, weshalb es im Kriegsfilm wie im Western wichtig ist, wer zu schießen beginnt. Größtenteils wird der Einsatz als Reaktion auf einen Angriff dargestellt, in keiner der drei Filmkulturen schießen die Hauptfiguren als erste. Eine seltene Ausnahme stellt der DEFA-Film Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurz Jung-Alsen) dar, der den ersten Schuss der deutschen Soldaten und dadurch den Angriff der Wehrmacht in Szene setzt. Meist tragen oder verwenden Soldaten jedoch Waffen, ohne dass dies in irgendeiner Form vom Film kommentiert wird.
4.3 Emotionalisierung
277
Abb. 9 DIE BRÜCKE (BRD 1959, R. Bernhard Wicki)
Abb. 10 HALBDUNKEL [Полумгла] (RF 2005, R. Artem Antonov)
• Panzer signalisieren in allen drei Filmkulturen die Stärke des Militärs. In allen deutschen Filmen fahren demzufolge vor allem Russen und US-Amerikaner Panzer. Sowohl in bundesdeutschen als auch in sowjetischen Filmen sind Szenen zu finden, in denen eigene Soldaten von feindlichen Panzern überfahren werden, wodurch die Todesgefahr im Krieg und die Schwierigkeiten der Überwältigung 277
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
des Feindes demonstriert werden. Dazu gehören zum Beispiel 08/15, 2. Teil (BRD 1955, R. Paul May), Stalingrad (D 1993, R. Joseph Vilsmaier) sowie Die Grosse Wende [Великий перелом] (UdSSR 1945, R. Friedrich Ermler), Sie kämpften für die Heimat [Они сражались за родину] (UdSSR 1975, R. Sergej Bondarčuk) und Die Sonne, die uns täuscht 2: Exodus [Утомленные солнцем 2: Предстояние] (RF 2010, R. Nikita Michalkov). In sowjetischen Filmen sind deutsche Panzer zu sehen, wenn der Rückzug der Roten Armee in den ersten Kriegsjahren thematisiert wird oder kritische Schlachten (um Moskau, Stalingrad oder im Kursker Bogen), die beinahe verloren wurden, behandelt werden. Die eigenen Panzer zu zeigen bedeutet umgekehrt, die militärische Überlegenheit der Roten Armee zu demonstrieren. In westdeutschen Filmen sind die eigenen Panzer in der Regel nur in historischen Kriegsdokumentationen zu sehen, die die militärischen Erfolge am Anfang des Krieges in Erinnerung rufen, inszenatorisch aber nicht wiederholen sollen. Dagegen stellen die sowjetischen und russischen Filme mit großem finanziellen Aufwand Panzerschlachten dar, welche das Aufeinanderprallen zweier Kollektivkörper inszenieren und die Stärke des Kriegskontrahenten signalisieren. • Militärparaden sind in ost- und westdeutschen Filmen Zeichen der baldigen Niederlage oder markieren generell das NS-Regime, im sowjetischen hingegen verweisen sie auf den Triumph des Sozialismus und des sowjetischen Volkes. Schlachtszenen oder andere Demonstrationen der eigenen Militärtechnik ähneln im sowjetischen Film oft Militärparaden und können bei entsprechender Intensität und Dauer mit starken Affekten verbunden sein. • In ost- und westdeutschen Kriegsfilmen ist immer wieder schönes Porzellan zu sehen, das auf dem Esstisch steht und an die verlorene bürgerliche Normalität erinnert (Abb. 11–12). Sie wird im Bild auf diese Weise ein Stück weit wiederhergestellt, auch wenn es sich um Trümmerfilme handelt. • Als wiederkehrendes, unbewusst wirkendes Element kann ein Musikstück leitmotivisch eingesetzt werden, das am Anfang eingeführt wird, um seine volle Entfaltung bei der Auflösung der Handlung zu erfahren und dadurch eine emotionale Steigerung zu ermöglichen. Das Leitmotiv bewegt sich dabei aus den stereotypengeleiteten Strukturen in die Sphäre der perzeptionsgeleiteten Affekte. Die Musik fügt sich jedoch nie ganz in die sinnbehaftete konzeptionsgeleitete Ebene ein. Entweder ist sie unterstützend und bleibt weitgehend unbemerkt, dann ist sie dem Bereich der unbewussten tradierten Mikro-Strukturen zuzuordnen, oder sie zieht Aufmerksamkeit auf sich, bricht also mit der Narration, und wird so zum Affekt.
4.3 Emotionalisierung
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Abb. 11 CANARIS (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann)
Abb. 12 ICH WAR NEUNZEHN (DDR 1968, R. Konrad Wolf)
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
• Zu den tradierten Mikro-Strukturen gehören nicht nur motivische, bildliche oder musikalische Elemente, sondern auch Aspekte der Produktionsweise der Kriegsfilme, zu denen das Einblenden von Dokumentarmaterial gehört (Wegmann 1980, S. 77), das einen festen Bestandteil des Genres darstellt und nicht als ein spezifisches Element der künstlerischen Beschaffenheit, sondern als Stück der Vergangenheit selbst wahrgenommen wird (Abb. 13–14). Es erfüllt verschiedene Funktionen: Dokumentarfilmmaterial ermöglicht einen Überblick über das historische Geschehen, dient der Orientierung des Publikums in der Handlung, überbrückt die Zeit oder rafft sie, schafft Handlungskontinuität, weist auf schwere Themen hin, die nicht in der inszenatorischen Darstellung umgesetzt worden sind, ersetzt – etwa bei geringen finanziellen Mitteln – fehlende Elemente (zum Beispiel kann so die aufwendige Inszenierung einer Schlacht ausgespart werden)92 und verifiziert letztendlich den historischen Bezug des Kriegsfilms. Je nach Verwendung und Verarbeitung des historischen Dokumentarmaterials kann auch dieses Affekte auslösen, wenn es mit der Logik der Handlung bricht oder zumindest nicht zu ihrer Entwicklung beiträgt.
Abb. 13 HUNDE, WOLLT IHR EWIG LEBEN? (BRD 1959, R. Frank Wisbar)
92 Das war beispielsweise bei der Produktion von Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) der Fall, als die Bundeswehr kurz vor Beginn der Dreharbeiten ihre Hilfe verweigerte. Wisbar konnte keine großen Schlachtszenen inszenieren und setzte historische Filmdokumentationen ein, um diese zu ersetzen.
4.3 Emotionalisierung
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Abb. 14 ALEXANDER DER KLEINE [Александр маленький] (UdSSR/DDR 1982, R. Vladimir Fokin)
4.3.4
Perzeptionsgeleitete Strukturen: Affekte
Mit perzeptionsgeleiteten Strukturen sind jene Strukturen gemeint, die durch das Publikum unter Heranziehen von kulturellem Wissen oder bildästhetischer Tradition und deren Neukontextualisierung im Film erst erlernt werden müssen. Sie evozieren vorbewusstes oder unbewusstes Wissen und machen es somit nach Peter Wuss sichtbar oder bringen dem Publikum Neues bei, das es sich zum Beispiel durch Wiederholungen von homologen Reihen von Narrationselementen, Motiven oder Bildern im Verlauf des Films aneignet (Wuss 1993, S. 57–58). Dieses Wissen ist zuvor noch nicht evident, die Präinformation fehlt bei den Zuschauer*innen, was es von jenem der tradierten Mikro-Strukturen unterscheidet. Als perzeptionsgeleitete Strategien, die in jedem einzelnen Film erlernt werden müssen, werden dabei Strukturen, Bilder und Elemente bezeichnet, die Affekte produzieren. Affekte entstehen durch eine intentionale Einwirkung auf die Wahrnehmung, welche die Zuschauer*innen nicht kontrollieren können. Sie unterscheiden sich von den Emotionen, da sie sich vor allem – verbunden mit medialen Formen wie einer ungewöhnlichen Montage oder einem radikalen Bruch in der Handlung – durch ihre Spektakularität, ihre audiovisuelle Einmaligkeit und Ungewöhnlichkeit auszeichnen. In der Handlung produzieren sie Diskontinuitäten und sind durch eine besondere ästhetische Form 281
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
gekennzeichnet, wodurch sie in der Regel auch in ihrer Medialität sichtbar werden. Autorenfilme zeichnen sich durch eine Vielzahl und Dichte von perzeptionsgeleiteten Elementen und Strukturen aus, wobei sowjetische und ostdeutsche Filmschaffende sie deutlich häufiger einsetzen als westdeutsche. Besonders zeigen die Filme der Tauwetter-Periode und der kurzen Liberalisierungszeit in der DDR Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre eine Zunahme an affektiven Elementen, bis hin zur Auflösung der Narration: Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov), Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen), Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk), Die Ballade vom Soldaten [Баллада о солдате] (UdSSR 1959, R. Grigorij Čuchraj), Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij), Flügel [Крылья] (UdSSR 1966, R. Larisa Šepit’ko), Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf), Die Russen kommen (DDR 1968/87, R. Heiner Carow), Es war im Monat Mai [Был месяц май] (UdSSR 1970, R. Marlen Chuziev), Aufstieg [Восхождение] (UdSSR 1976, R. Larisa Šepit’ko), Zwanzig Tage ohne Krieg [Двадцать дней без войны] (UdSSR 1977, R. Aleksej German sr.), Komm und sieh [Иди и смотри] (UdSSR 1986, R. Ėlem Klimov) und Erster Verlust (DEFA 1990, R. Maxim Dessau), um nur die bekannten Beispiele zu nennen. Je ausgeprägter solche Strukturen sind, desto loser fällt allgemein die Narration eines Films aus. Im Gegensatz zur Beschreibung dieser Strukturen bei Peter Wuss können sie, müssen aber nicht (als Leitmotiv) wiederholt werden, um zu wirken. Ihre Wirkdauer ist sehr unterschiedlich, sie kann sich auch auf einen besonders intensiven Augenblick beschränken. In diesem Fall lässt sich ihnen ein vorsymbolischer Charakter zusprechen, der die Wirkung noch einmal erhöht, da sich der Affekt nur im Nachhinein sinnhaft erfassen und verbalisieren lässt. Affekte lösen Assoziationen aus und zielen auf das Erlebnis verschiedener Gefühle, die im Kriegsfilm vorwiegend negativ sind (Angst, Sehnsucht, Schock). Hans J. Wulff definiert Affekte in Bezug auf die englische Bedeutung von affection als Ausrichtung eines Subjektes auf ein Objekt, während unter Affekt im Deutschen eine starke und unkontrollierbare Regung verstanden wird (Wulff 2006, S. 1). Die intensive Affektierung ist dabei unmittelbar mit der Medienlogik verbunden, entsteht durch einen ungewöhnlichen Schnitt, die Einfrierung der Handlung, durch ein Spektakel oder Großaufnahmen (Deleuze 1996, S. 123). Im Kriegsfilm scheinen beide Aspekte des Affekts vorhanden zu sein, vor allem können Objekte von Subjekten abgekoppelt bzw. die Ausrichtung des Subjektes auf ein Objekt aufgelöst werden. Dies ist auch deshalb möglich, weil, wie Robin Curtis gezeigt hat, der Film (zum Beispiel durch technische Spezialeffekte) erlaubt, unbelebte Objekte mit Affekten aufzuladen (Curtis 2008). Affekte können also im Gegensatz zu den
4.3 Emotionalisierung
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wiederholbaren und leicht erkennbaren tradierten Mikro-Strukturen durch eine ungewöhnliche Mise-en-Scène, eine innovative Einstellung, ein ausdrucksstarkes musikalisches Motiv, unerwarteten Lärm oder einen Kontrastschnitt produziert werden und tragen zur Herstellung einer unvergesslichen Atmosphäre (Brunner et al. 2012) im Film bei, die ein konkretes Werk in besonderer Weise charakterisiert. Sie sind filmästhetisch alles, was innovativ und ungewöhnlich erscheint, was audiovisuell hervorsticht, seien es „kleine Momente des materiellen Lebens“, die gerade affizieren, weil sie „ein fragmentarisches Moment der sichtbaren Realität, umgeben von einem Hof unbestimmbarer Bedeutungen“ (Kracauer 2005, S. 465), darstellen, oder seien es spektakuläre, technisch aufwendige Schlachtszenen. Die Einmaligkeit und Innovativität der Affekte ist besonders zu betonen. In der Regel werden sie durch ungewöhnliche Gegenstände im Bild, Bildcollagen (mit Dialogen oder ohne), mit Handkamera gefilmte Szenen, die Erstarrung der Handlung zu einem Foto, die Überblendung verschiedener Bilder oder einen herausstechenden Ton- und Musikeinsatz hergestellt. Aufgrund der Einzigartigkeit dieser Strukturen und Elemente ist ihre Klassifizierung kaum möglich. Beispielsweise vermittelt die Anfangsszene von Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) Erinnerungen an eine verlorene Kindheit, die im Krieg nun allein im Traum erlebt werden kann und daher im Film eine unerreichbare Wunschfantasie darstellt. Diese Erinnerung (bzw. dieser Traum/dieser Wunsch) setzt sich aus vielen besonderen Bildern und Tönen zusammen, wie beispielsweise aus Kuckucksrufen, dem Gesicht eines Jungen hinter einem Spinnennetz, einem über ein Feld fliegenden Schmetterling, einer schnellen Bewegung im Raum – erst dem Gehen des Jungen, der von der Kamera begleitet wird, das dann in eine Flugbewegung mit Gelächter übergeht –, dem Treffen des Jungen mit seiner Mutter und dem Trinken von Wasser aus einem Eimer. All diese Bilder und Töne rufen zusammen eine Reihe von Gefühlen und Assoziationen hervor, in erster Linie aber evozieren sie die Sorglosigkeit und Geborgenheit der Kindheit, die im Kontrast zum Krieg als verloren und deshalb traumatisch erfahren wird. Mit dem Abbruch dieser collagenartigen Szene bzw. des Traums des Jungen, der durch die Schüsse eines Maschinengewehrs unerwartet beendet wird, wird die Szene infolge des kontrapunktischen Szenenwechsels in ihrer Affektivität nachträglich verstärkt. Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) stellt unter anderem eine besondere Szene des Sterbemoments der männlichen Hauptfigur dar, in der sich drehende Bilder von aus der Froschperspektive gefilmten Bäumen und einer Hochzeit, die nie stattgefunden hat, zusammenmontiert werden (Abb. 15–16). Es war im Monat Mai zeigt am Anfang den Krieg als eine etwa siebenminütige Collage aus Kriegsdokumentationen, die ausschließlich Zerstörung, Explosionen und Schüsse in Bild und Ton vorführen. 283
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Abb. 15–16 WENN DIE KRANICHE ZIEHEN [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov)
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Diese Collage ist sehr laut – eine Art audiovisuelle Verdichtung der Kriegsbilder, die den Krieg als Einbruch auditiver und bildlicher Gewalt, ja als sinnloses und lautes Chaos darstellt. Erst gegen Ende dieser Collage setzt eine erhabene Musik ein; es werden Bilder vom zerstörten Berlin, die Stürmung des Reichstags durch die Rote Armee und das Hissen der sowjetischen Fahne – alles aus dem kollektiven sowjetischen Bildrepertoire – gezeigt. Auf diese Weise wird das siegesreiche Ende des Krieges vergegenwärtigt. Am Ende des Films steht als Kontrast eine andere Collage, die vorwiegend Bilder aus dem Westen (eventuell aus England, da einige englische Autos und Busse zu sehen sind), Frauen auf den Straßen Berlins (in einer Sequenz ist das Straßenschild der Friedrichstraße zu sehen) und Konzentrationslager für Frauen zeigt und von dem eindrucksvollen Musikstück Mama von Salvatore Bono begleitet wird. Man kann es sinnhaft einordnen: In beiden Collagen geht es um die Reflexion von Erinnerungen an den Krieg – was und wie wird erinnert? Dabei wird die Leistung der Roten Armee hervorgehoben, die die Frauen bzw. die Mutterschaft vor der NS-Vernichtung gerettet hat. Aber diese Collagen wirken auch für sich, haben eine nachhaltige affektive Wirkung; sie prägen sich ein, ohne nötigenfalls vollkommen in einer Bedeutung aufzugehen. Der Film Die Russen kommen (DDR 1968/87, R. Heiner Carow) gestaltet mit einem Traum der Hauptfigur einen Bruch in der Narration. Der Traum selbst stellt eine Collage à la Freud dar, er verrät Begehren, Sehnsüchte und Ängste der Figur, ohne jedoch komplett in einen Sinn überführbar zu sein oder sich in das Sinngefüge des Films einzufügen (Abb. 17–18). In Erster Verlust (DEFA 1990) arbeitet Maxim Dessau mit langen Einstellungen und einem wiederkehrenden musikalischen Leitmotiv aus einem Lied über die Heimat. Etwa in der Mitte des Films ist eine Szene platziert, die sich der narrativen Ökonomie entzieht, dafür aber den liminalen Zustand eines Kriegsgefangenen – zwischen zwei Kulturen – vermittelt und damit die Instabilität nationaler Identitäten ausstellt, was für einen Kriegsfilm eher ungewöhnlich ist. Die Kamera vollführt eine Kreisfahrt, die von dem Kriegsgefangenen in seiner sowjetischen Uniform mit der Markierung seiner Gefangenschaft auf dem Rücken nach oben zu einer Brücke gleitet, welche den Himmel verdeckt und auf diese Weise das Gefangensein thematisiert, und dann zurück zu dem Gefangenen fährt, der jetzt in ziviler Kleidung zu sehen ist. Den kreisenden Schwenk begleitet zuerst ein traurig klingendes, slawisches, folkloristisches Chorlied, das in jenem Moment, in dem die Brücke im Bild erscheint, durch ein von einem Kinderchor gesungenes deutsches Heimatlied, überlagert wird. Dieses wird wiederum durch ein slawisches Lied übertönt, und am Ende erklingt die gleiche slawische Melodie (die Worte im Lied sind nicht zu verstehen), die bereits am Anfang zu hören war. Ob es sich nun um eine Vision des Kriegsgefangenen oder eine Wunschvorstellung der beiden Frauen handelt, bei denen er arbeitet: Die alte wie die neue Heimat bleiben 285
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Abb. 17–18 DIE RUSSEN KOMMEN (DDR 1968/87, R. Heiner Carow)
hier unerreichbar. Die Pfeiler der Autobahnbrücke bilden eine Art Gitter, und die Brücke selbst zeigt als Metapher für den Übergang von einer in eine andere Kultur zugleich die Unmöglichkeit eines solchen Transfers. Bildlich wird durch die Brücke dabei ein Gefühl von Enge geschaffen. Die ganze Szene ist somit eine Metapher oder auch eine Wunschvorstellung verschiedener Figuren und passt nicht wirklich in die Narration des Films. Außerdem besitzt die Szene einen starken künstlerischen Ausdruck, ohne genauer auf irgendeine Bedeutung hinauszuwollen. In Der Teufel spielte Balalaika (BRD 1961, R. Leopold Lahola) gibt es eine besonders emotionale Szene, in der die Wiederkehr des Traumas der weiblichen Hauptfigur, einer ehemaligen KZ-Insassin, als Überblendung verschiedener Bilder und Töne inszeniert wird, als sie im sowjetischen Arbeitslager für deutsche Kriegsgefangene ankommt, wo sie in der Verwaltung arbeiten soll. Die Wiederkehr des Traumas
4.3 Emotionalisierung
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Abb. 19–20 DER TEUFEL SPIELTE BALALAIKA (BRD 1961, R. Leopold Lahola)
markiert jedes Lager als traumatisch, vermittelt seine Grausamkeiten und führt den Stalinismus und den Nationalsozialismus zusammen (Abb. 19–20). Die Traumatisierung der Figur ist jedoch nicht unmittelbar an die Entwicklung der Diegese angebunden, sondern findet eher in einem globalen Kontext statt, insofern hier alle, die Häftlinge und ihre Wächter, gefangen sind. Eines der stärksten Affekt-Experimente der Gegenwart ist das Meisterwerk Das Himmler-Projekt (2000) von Romuald Karmaker, in dem der Schauspieler Manfred Zapatka die Posener Geheimrede Himmlers aus dem Jahr 1943 in voller Länge über drei Stunden vorliest, 287
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4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
ohne dass sie zugleich historisch in Szene gesetzt würde. Gerade durch den Entzug der historischen Kulissen und schauspielerischen Verkörperungen und durch den Verzicht auf jegliche Inszenierung historischer Authentizität sowie durch die Emotionslosigkeit der Darbietung, ja durch den protokollartigen Vortrag entsteht ein Affektexzess, zusammengesetzt aus Schauder vor diesem Dokument und Fassungslosigkeit und Empörung angesichts der zugegebenen NS-Verbrechen. Jede Art von Romantisierung oder Faszination am Nationalsozialismus wird allein durch die ‚Nacktheit‘ dieses Dokumentes torpediert. Die perzeptionsgeleiteten Strukturen können aufgrund ihres innovativen medialen Charakters je nach Einsatz und Dichte ihrer Verwendung eher subversiv oder affirmativ wirken. Da die perzeptionsgeleiteten Elemente und Strukturen entweder lose in der Narration auftauchen, diese unterbrechen oder sogar auflösen, können sie dem Sinn des Films sowohl zuarbeiten als auch entgegenwirken. Sowjetische Filme der Tauwetter-Periode verschieben mittels affektiver Elemente den Fokus vom Kollektiven zum Individuellen, wodurch ihre affektive Ästhetik ein Surplus oder einen Exzess darstellt, der sich der narrativen Sinnproduktion und infolgedessen der herrschenden Ideologie entzieht. Seit dem Ende der 1960er Jahre verschiebt sich in der UdSSR die affektive Struktur von der Darstellung der Individuen auf das kollektive Spektakel der Schlacht, was die Affekte der allgemein herrschenden Ideologie unterordnet. Beispiele für eine affirmative Affektivität stellen vor allem die großmaßstäblichen Schlachtszenen der sowjetischen Filme dar. Sie unterbrechen als Spektakel die Narration. Die Zeit erstarrt in der Handlung und hebt so die Aktionen im Hier und Jetzt hervor, was auch für die Hollywood-Inszenierung von Männlichkeiten im Action Film oder Western typisch ist (Neale 1983). In der Regel werden Gefühle der Todesangst und der Kampfeslust evoziert. Für westdeutsche Filme sind Katastrophen typisch, denn sie fungieren als Metapher des Untergangs des Nationalsozialismus. Besonders in der Gegenwart sind mehrere Filme zu finden, die das Ende des NS-Reichs mit großem Aufwand inszenieren: Der Untergang (D 2004, R. Oliver Hirschbiegel), Dresden (TV; D 2006, R. Roland Suso Richter), Die Gustloff (TV; D 2008; R. Joseph Vilsmaier) und Laconia / The Sinking of the Laconia] (TV; D/GB 2011, R. Uwe Janson). Diese Filme vermitteln neben den melodramatischen Regungen und der Unfassbarkeit der Zerstörung vor allem die Ausweglosigkeit der Niederlage. Ein weiteres Beispiel kontrollierter Affektierung sind die Kriegslieder im sowjetischen Film, die meist von einem Militärchor gesungen werden. Sie schaffen Pathos und werden zum Medium einer vorsymbolischen Verschmelzung der Zuschauer*innen zu einem Kollektiv. Das Lied wurde spätestens seit der deutschen Romantik als Seele des Volkes begriffen und in der frühen UdSSR ubiquitär
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eingesetzt, um performativ ein sowjetisches Kollektiv zu erschaffen,93 da Lieder eine unvergessliche Atmosphäre erzeugen. Die Kriegslieder im Film binden die Zuschauenden also affektiv an die gezeigten Geschehnisse. Der Einsatz und die Popularität der Kriegslieder geht in der UdSSR auf die Ideen der proletarischen Kunst der 1920er Jahre zurück, wie sie einer der zentralen Ideologen des Sozialismus, Aleksandr Bogdanov, entwickelt hat. Er zählt das Lied zu den grundlegenden angeborenen Kommunikationsmedien zwischen Lebewesen (auch zwischen Tieren), die im Kollektiv weiterentwickelt werden sollen. Das Militärlied stellt bei Bogdanov nach den Liebes- und Arbeiterliedern eine der höchsten Entwicklungen kollektiver Ausdrucksformen dar. Wie das Arbeiterlied verhilft es zur Organisation der kollektiven Erfahrung und stimmt das Kollektiv entsprechend auf den Kampf ein (Bogdanov 1924). Tatsächlich wurden die Lieder aus Filmen wie Der weissrussische Bahnhof [Беларусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov) oder Erfahrene Hasen des Geschwaders [В бой идут одни „старики“] (UdSSR 1973, R. Leonid Bykov), die ebenfalls die kollektive Erfahrung besingen, mehrmals in musikalischen Fernsehprogrammen gezeigt, wodurch sie zu populären Schlagern wurden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass perzeptionsgeleitete Elemente einzigartige affektive Strukturen zu erzeugen vermögen, die gerade durch ihre Innovation und Besonderheit Anerkennung außerhalb eines Films finden und dadurch ins Langzeitgedächtnis der Zuschauer*innen gelangen können, etwa wenn die Bilder durch ihre Komposition oder ihren Schnitt auffallen oder wenn Szenen, Lieder oder Bilder in anderen Medien zirkulieren. Als innovativer ästhetischer Ausdruck wirken sie über den Film hinaus. Sie sind außerdem diejenigen Elemente, durch die Filme Berühmtheit erlangen, falls sie nicht verboten wurden, wie etwa Die Russen kommen, oder durch den Verleih marginalisiert wurden, wie Der Ostkorridor [Восточный коридор] (UdSSR 1966, R. Valentin Vinogradov). Die meisten perzeptionsgeleiteten Affekte evozieren im Kriegsfilm negative Gefühle oder stellen einen Kontrast zwischen Frieden und Krieg dar.
93 Im Chor zu singen war ein verbreiteter Brauch bei allen kollektiven Versammlungen seit Beginn der Existenz der UdSSR. Nach Tjažel’nikova hatte dieses Ritual auch die Funktion, die Sänger*innen im Kollektiv affektiv miteinander zu verbinden und sich vor allem mit den besungenen Opfern der Revolution zu identifizieren. Sowjetische Massenlieder lagen somit der sowjetischen Identität zugrunde und wurden in Filmen seit den 1930er Jahren daher aktiv verwendet (Tjažel’nikova 2004). 289
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4.3.5 Konzeptionsgeleitete Strukturen: Emotionen Der Erkenntnisprozess, den Zuschauende im Verlauf eines Films durchleben, stützt sich auf die bestehenden Invarianten, die in einer Kausalkette neu kombiniert werden. Die Struktur jedes Films ist evident und geht aus der Handlungsfolge hervor, aus der dann am Ende neues Wissen gewonnen wird. Dieser Kognitionsprozess basiert nach Wuss auf bereits vorhandenem Wissen (Wuss 1993, S. 58–59). Laut Hans J. Wulff (2006) unterscheiden sich Emotionen von Affekten gerade durch ihre (selbst-) reflexive Struktur und mithin ihre Verbindung mit Wissen, da sich die Zuschauenden ihrer Empfindungen im entsprechenden Moment bereits bewusst sind. Nicht zuletzt werden Emotionen bewusst erlebt, weil sie durch die Narration aufgebaut werden. In diesem Zusammenhang können komplexe, nachhaltige Emotionen gewonnen werden, die gleichzeitig das Speichern der narrativen Sinnstruktur im Langzeitgedächtnis fördern. Somit werden beispielsweise existenzielle Erfahrungen wie Tod und Verlust als Erlebnisse produziert; auch können auf das Kollektiv bezogene Emotionen wie Triumph, Pathos, Katharsis (Wuss 1993, S. 367–388), Ohnmacht, Ausweglosigkeit und vor allem Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft durch diesen Mechanismus aufgebaut werden (vgl. Streiter 2012; Kappelhoff 2016). Emotionen sind daher analytisch erzeugte Gefühle. Die Narration integriert alle zuvor erwähnten tradierten Mikro- und perzeptionsgeleiteten Strukturen und fordert verschiedene Stufen der Identifikation mit den Figuren oder auch ein Gefühl der Antipathie mit ihnen. Aus deren Zusammenspiel und der Entwicklung der Figuren können die genannten Emotionen entstehen. Zum Beispiel evoziert der Film Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) ein Gefühl der Ausweglosigkeit, das durch das Bestreben der Figuren, aus dem Stalingrad-Kessel herauszukommen, durch das Zögern der Befehlshaber und die allmähliche Demoralisierung der Armee aufgrund von Hunger, Angst und Mangel an Munition bedingt wird. In Anlehnung an Wulffs Modell kann die konzeptionsgeleitete Struktur in episodale Strukturen und narrative Ganzstrukturen der Emotionen differenziert werden (Wulff 2006). Die Emotionen werden motivisch aufgebaut und zugleich der Sinngebung des gesamten Films untergeordnet. Anfängliche Szenen bereiten die Zuschauenden in der Regel auf eine Steigerung der Gefühle vor, indem sie beispielsweise Empathie und Sympathien mit den Figuren durch eine zusätzliche Information fördern, die für das Thema des Films im eigentlichen Sinne nicht von Bedeutung ist (zum Beispiel Erinnerungen oder Träume einer Figur). So können Filme zunächst etwa ein Gefühl der Vertrautheit und der Lebensfreude evozieren, um gegen Ende eine Verlusterfahrung durch den Tod einer Identifikationsfigur zum Ausdruck zu bringen.
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Neben den Identifikationsstrukturen, die Schritt für Schritt aufgebaut werden, gehören zur episodalen Emotionsstruktur die Todeserfahrung und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die in erster Linie in einzelnen Episoden deutlich werden. Erst müssen die Figuren eingeführt und die Gefahr, in der sie sich befinden, deutlich gemacht werden, bevor sie in einer Gemeinschaft aufgehen. Hermann Kappelhoff zählt neben dem Western auch den Hollywood-Kriegsfilm zu den Genres, die von der „Geburt der Nation in der Überwindung von Unrecht und Gewalt“ (Kappelhoff 2013, S. 193) handeln. Die Konstitution der Gemeinschaft führt er dabei unter anderem auf den Totenkult zurück (Kappelhoff 2017). Die Todeserfahrung und die Zugehörigkeit zu einer Nation werden in Kriegsfilmen zwar enggeführt, aber die damit verbundenen wichtigen Emotionen stehen einander gegenüber bzw. schließen sich in Filmen über den Zweiten Weltkrieg gegenseitig aus. Der Tod ist nur individuell möglich, das Kollektiv bleibt bestehen, geht es doch um das Überleben einer Nation, die sich ihrer selbst nun durch ihre Kommemorationspolitik vergewissert. Das Kollektiv kann auch Individuen vor dem Tod retten oder den Tod symbolisch überwinden. Es macht den Tod somit letztlich unmöglich, weshalb die emotionalen Momente des Todes an einzelne Figuren gebunden bleiben. Die Darstellung des Todes stützt sich daher auf melodramatische Elemente, die durch die Individuierung der Kriegserfahrung inszeniert werden, um Angst, Mitleid und Verlusterfahrung zu vermitteln. Der Tod wird unterschiedlich konnotiert: vom heroischen und erhabenen bis hin zum unerwarteten und ungerechten Tod. Er kann letztendlich selbst dafür eingesetzt werden, die Sinnlosigkeit des Krieges zu demonstrieren. Ihm entgegen stehen die erhabenen Gefühle der Solidarität und kollektiven Unsterblichkeit, die in sowjetischen und ostdeutschen Filmen aufgrund ihrer ästhetischen Besonderheit und ihres politischen Programms stärker ausgeprägt sind. Die Todeserfahrung und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft besitzen ein großes affektives Potenzial. Dieses wird jedoch nicht allein durch medial-ästhetische Eigenschaften des Films möglich, sondern muss narrativ vorbereitet und verwirklicht werden. So wird dieses Potenzial mithilfe der Inszenierung des Krieges durch eine Gruppe von Soldaten (vgl. dazu Tröhler 2007) sowie durch Massenszenen, aber auch durch das Vermitteln des Eindrucks evoziert, die Figuren in der Narration seien ein Teil der nationalen Historie. Um den Krieg als Schicksal des ganzen Kollektivs darzustellen, werden mit den Figuren wichtige Orte kollektiver Geschichte und folglich kollektiver Identität bereist, und es wird kulturelles historisches Wissen aufgerufen. Weitere episodal erzeugte Emotionen können vor dem Hintergrund von Hermann Kappelhoffs Überlegungen zur Affektdramaturgie beschrieben werden, mit der er eine Reihe von Motiven erfasst, die im Kriegsfilm Gemeinschaftssinn produzieren. Das Gemeinschaftsgefühl wird mittels Pathosszenen entlang des filmischen 291
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Handlungsaufbaus produziert (Kappelhoff 2013, S. 197–201, 2016, S. 135–144) und hier in Bezug zum sowjetischen und deutschen Kriegsfilm gesetzt. Folgende Motivkomplexe hat Kappelhoff beschrieben: • Der Übergang zwischen zwei Gesellschaftsformen evoziert Schmerz über die Trennung von der alten sozialen Ordnung des Friedens, die weiblich codiert ist, und stiftet ein Gemeinschaftsgefühl aus der Bildung einer neuen militärisch-patriarchalen Ordnung heraus, die vor allem den Schwellencharakter des Übergangs, des Zerfalls und des Aufgebens der Gemeinschaft betont. Diese neue, aber provisorische Umformung der Gemeinschaft ist für sowjetische und deutsche Filme über den Zweiten Weltkrieg charakteristisch. In den sowjetischen Werken setzt die Vermännlichung der Gemeinschaft einen unerwarteten Angriff voraus, der die bestehende, als weiblich inszenierte Ordnung in Chaos versetzt. Der Kriegsanfang ist stark affektiv und emotional besetzt und besonders mit Gefühlen von Ungerechtigkeit, Empörung und heroischer Standhaftigkeit verbunden. Die Szenen des Abschieds werden mit Gefühlen des Erhabenen aufgeladen und in mehreren Filmen durch Märsche wie Abschied der Slavin [Прощание славянки] (1912)94 oder Steh auf, riesiges Land [Вставай страна огромная] (1941)95 begleitet. Ost- und westdeutsche Kriegsfilme inszenieren oft einen langsamen Übergang zur neuen nationalsozialistischen Ordnung, indem die Gesellschaft sich Schritt für Schritt zu einer Diktatur entwickelt. Eine solche Darstellung beschränkt Affekte und Emotionen in den filmischen Strukturen auf ein Minimum, hat jedoch eine enorme Wirkung auf das Publikum. Die Filme verlagern die Emotionen (wie etwa das Gefühl der Ausweglosigkeit und vielleicht auch der Ohnmacht vor der Irreversibilität der Geschichte) in die Rezeption, indem die Figuren in Kontrast zum kulturellen Wissen stehen und die kommende NS-Diktatur nicht fürchten, wohingegen den Zuschauenden der weitere Verlauf der Geschichte bekannt ist. Von Anfang an steht daher die Verwerflichkeit der neuen Ordnung fest und wird durch das Gefühl der Ausweglosigkeit betont. 94 Der Komponist Vasilij I. Agapkin hat diesen Marsch unter dem Eindruck des Ersten Balkankrieges (1912–1913) geschrieben. Der Marsch wurde sehr populär und wird in Russland bis heute bei Militärparaden und Staatsfeierlichkeiten verwendet. 95 Musik: A. Aleksandrov, Text: V. Lebedev-Kumač. „Steh auf, riesiges Land, / Steh auf zum tödlichen Kampf / Mit der dunklen faschistischen Macht, / Mit der verdammten Horde. Refrain: Lasst die edle Wut / wie eine Welle aufbrodeln (aufwallen) – / der Volkskrieg ist im Gange, / der heilige Krieg!“ [„Вставай, страна огромная, / Вставай на смертный бой / С фашистской силой тёмною, / С проклятою ордой. Припев: Пусть ярость благородная / Вскипает, как волна, — / Идёт война народная, / Священная война!“]
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• Die Formierung eines Gruppenkörpers (corps) geht aus der Transformation des mit Angst vor Verlust besetzten Ichs in ein übersteigertes Selbstwertgefühl hervor, die evoziert wird, wenn die individuellen Potenziale durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe entgrenzt werden. In sowjetischen Kriegsfilmen gibt es Individualität im eigentlichen Sinne nicht, melden sich doch die sowjetischen Menschen freiwillig zur Front, weil sie bereits vor dem Krieg Gemeinschaftswesen waren und ein hohes Verantwortungsgefühl gegenüber der bestehenden sozialen Ordnung haben, für die sie sich zu opfern bereit sind. Die Helden ziehen am ersten Tag des Krieges in den Kampf. Auch Kinder, Frauen und alte Menschen haben den Drang zu kämpfen, müssen sich dies allerdings erst verdienen bzw. erst eine Legitimation ihrer Teilnahme erbringen. Im ostdeutschen und westdeutschen Kriegsfilm geht umgekehrt oft die Gemeinschaft verloren. Individuen vereinsamen vor der Gewalt der Diktatur, werden von ihr getäuscht, verführt oder unterdrückt und ausgenutzt. Die Erweiterung der individuellen Macht durch die Gruppe wird als Verbrechen oder als ein unkontrollierbares, traumatisches Ereignis inszeniert, wobei in ostdeutschen Filmen gleichzeitig verschiedene Ermächtigungsstrategien des sozialistischen Kollektivs bestehen, sich gegen die kapitalistische und nationalsozialistische Ordnung zu behaupten. • Der Motivkomplex Kampf und Natur ruft nach Hermann Kappelhoff Horror, Angst und Feindseligkeit hervor, da sich das Kampferlebnis zugleich als ein Krieg gegen die Natur darstellt, in dem zudem die eigenen Körpergrenzen erfahrbar werden. Eine solche Strategie ist vor allem im Hollywood-Kriegsfilm verbreitet, da die USA größtenteils auf fremden Territorien Krieg führten und sich die Soldaten weit entfernt von den eigenen (Landes-)Grenzen bewegten. So wird auch die Natur metonymisch zum Feind, erinnert sie doch an das Fremdsein der US-amerikanischen Soldaten. Die Desorientierung in der Natur und ihre Feindseligkeit sind in einigen wenigen westdeutschen Filmen ebenfalls zu finden, zum Beispiel in der Miniserie So weit die Füsse tragen (BRD 1959, R. Fritz Umgelter) und ihrem gleichnamigen Remake (D 2001, R. Hardy Martins), in der die Hauptfigur aus dem östlichen Teil Russlands nach Deutschland flieht. Die meisten Werke setzen sich jedoch direkt mit dem NS-Regime auseinander und entwickeln ihre Handlung zeitlich am Ende des Krieges, und so finden die Kampfhandlungen in der Regel in Deutschland statt. Sie werden durch das Gefühl der Ausweglosigkeit begleitet: Die Niederlage naht und entwertet den weiteren Kampf als sinnlos. Die ostdeutschen Filme lassen im Allgemeinen Kampfhandlungen aus, da die Figuren ansonsten gegen die aktuellen politischen Verbündeten kämpfen müssten. Nur in wenigen Filmen findet ein Kampf statt, wie beispielsweise in Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert), wobei sich dieser am Ende des Films ereignet und sich 293
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gegen die eigenen Kameraden richtet. In sowjetischen Filmen beherrschen die Soldaten immer den Raum und somit die Natur, sie haben nie Probleme, sich zu orientieren. Manchmal werden schlechte Straßen thematisiert, die aber auch als Metonymie für die Schwierigkeiten des Krieges stehen. Im in der UdSSR verbotenen Werk Strassenkontrolle [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971, R. Aleksej German sr.) sowie in den aktuellen Autorenfilmen Der letzte Zug [Последний поезд] (RF 2003, R. Aleksej German jr.) und Im Sternzeichen des Stiers [В созвездии быка] (RF 2003, R. Petr Todorovskij) erzeugen die Filmemacher*innen durch die Desorientierung im Raum eine Abstraktion vom eigentlichen Geschehen, eine Loslösung von der Kriegsrealität, die die Filme allerdings aus dem sowjetisch-russischen Kanon der Kriegsdarstellung herausfallen lässt. • Kampf und Technologie lösen bei den Figuren ein Gefühl der Allmacht aus, das aber durchaus in ein Gefühl der Ohnmacht umschlagen kann. Kappelhoff spricht in diesem Zusammenhang von der filmischen Erweiterung der Wahrnehmung der Zuschauenden und von deren Genuss der Kampfszenen, welcher aus einem besonderen Verhältnis zwischen der Waffentechnik und der Kinotechnik hervorgeht. Die Kampfszenen werden in dieser Studie zu den perzeptionsgeleiteten Strukturen gezählt, die in ihrer Spektakularität Affekte produzieren und zur Erstarrung der Narration führen. Diese Allmachtsfantasien sind hauptsächlich für sowjetische Kriegsfilme charakteristisch, viele Filme inszenieren mit großem finanziellen Aufwand und unter Heranziehung der realen sowjetischen Armeen eindrucksvolle und aufwendige Schlachtszenen, wie etwa der Fünfteiler Befreiung (1968–1972) und die Zweiteiler Stalingrad [Сталинград] (UdSSR/ DDR/ČSSR/USA 1989, R. Jurij Ozerov) und Sie kämpften für die Heimat [Они сражались за родину] (UdSSR 1975, R. Sergej Bondarčuk) (vgl. Kapitel Ereignis-Fragment). Die Militärtechnik zeichnet sich hierbei durch eine Ambivalenz von Bedrohung und Faszination aus. Westdeutsche Werke evozieren hingegen Ohnmachtsgefühle, die sich oftmals auch in den Produktionsbedingungen niederschlagen – häufig werden sie durch die Bundeswehr oder andere Organisationen nicht unterstützt. Die meisten Kampfszenen werden in Form von Collagen historischer Kriegsdokumentationen vorgeführt oder zumindest durch sie ergänzt. Diese Kampfszenen drücken eher Enttäuschung, Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit aus. Wenn es jedoch um ein Genießen gehen soll, weil die Szenen spektakulär sind, wie es zum Beispiel in Stalingrad (BRD 1993, R. Joseph Vilsmaier) der Fall ist, lässt sich dies im Falle des Kriegsfilms und im Sinne Jacques Lacans als Jouissance beschreiben: ein Genießen mit Schmerzen, eine Überschreitung der Normen in Richtung eines Zustands jenseits der Lust, im Wissen um die Niederlage und daher um die Sinnlosigkeit.
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• Der Motivkomplex Heimat, Frau, Zuhause vergegenwärtigt ein Trostgefühl und Verlustschmerzen, die entstehen, wenn die Soldaten zurückkehren und die alte Ordnung (nicht mehr) vorfinden. Ein Vergleich zwischen der alten und der neuen Ordnung ist in deutschen und sowjetischen Filmen kaum zu finden. In sowjetischen Werken wird in der Regel die alte Ordnung wiederhergestellt, wobei in einigen Werken Sehnsüchte nach einer Verankerung der Erinnerungen über den Krieg in der nächsten Generation artikuliert werden. Auch Ängste hinsichtlich des drohenden Verlustes des Wissens über den Krieg, der beim Abtritt der Kriegsgeneration stattfinden könnte, werden angesprochen. Diese Emotionen sind auch, aber nicht allein mit Weiblichkeit und der Inszenierung eines Zuhauses verbunden. Einer der wenigen Filme zum Zweiten Weltkrieg, die die Missstände der sowjetischen Ordnung aufzeigen und somit vor allem auf den aktuellen Zustand des Sozialismus der 1970er Jahre anspielen, indem sie Enttäuschung und Leere evozieren, ist Ein Soldat ist von der Front zurückgekehrt [Пришел солдат с фронта] (UdSSR 1971, R. Nikolas Gubenko). In ostdeutschen Werken werden ebenfalls positive Gefühle im Zusammenhang mit der kommenden sozialistischen Gesellschaft vermittelt, die als gerechte, pazifistische und geschlechtsemanzipative Ordnung dargestellt wird. Später werden diese Legitimationsstrategien abgeschwächt und der Übergang zum Frieden wird offener gestaltet. Auch im westdeutschen Film gibt es keine Sehnsucht nach einer verlorenen Ordnung, denn dies würde den Nationalsozialismus wieder ins Spiel bringen. Die meisten Filme lassen den Anfang des Krieges wie den Abgleich von Nationalsozialismus und neuer demokratischer Ordnung aus, ist doch die am meisten verbreitete Form der Geschichtsdarstellung in der BRD das Fragment. • Leiden und Opfer zielen auf Schmerzen, Tod und Trauer, die Kappelhoff in victim (passives Opfer), sacrifice (aktives, in der Regel heldenhaftes Opfer) und Leidensszenen (Inszenierung von Schmerzen und Verletzungen) differenziert. In allen drei Erinnerungskulturen spalten die Filme diese Erfahrung geschlechtsspezifisch. Um die Ungerechtigkeit des Krieges zu betonen und den Maßstab der Grausamkeit zum Ausdruck zu bringen, werden mithilfe von Frauen- und Kinderfiguren passive, auratisch überhöhte Opfer inszeniert. Männliche Soldatenfiguren sterben (in sowjetischen und ostdeutschen Filmen) generell im Akt der aktiven Selbstaufopferung, die Pathos hervorruft, oder auch unerwartet und sinnlos (in ost- und westdeutschen Werken), aber immer in aktivem Handeln. Weibliche und männliche Figuren stellen verschiedene Aspekte der Nation dar: So wird mit Frauenbildern die besetzte und verletzte Heimat und mit Männerbildern das wehrhafte Vaterland inszeniert (siehe dazu auch das Kapitel Allegorien). Verletzungen sind in sowjetischen Filmen seltener, in deutschen Werken hingegen recht häufig ein Thema. In allen drei Kulturen deuten sie als 295
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Kastrationssignaturen auf Niederlagen und/oder den Verlust des Vaters (als das große Andere) hin. In Der Vorsitzende [Председатель] (UdSSR 1964, R. Aleksej Saltykov) und Ein Soldat ist von der Front zurückgekehrt (UdSSR 1971) werden über die Kriegsinvaliden beispielsweise die Verluste im Krieg sowie der Untergang Stalins enggeführt. Meist fehlt einer der Figuren der linke Arm. Gefühle werden in westdeutschen Filmen in erster Linie im Zusammenhang mit Opfern unter der Zivilbevölkerung zugelassen, während soldatische Opfer gemeinhin emotionales Unbehagen auslösen, weil sie selbst auf der Seite der Täter standen oder zumindest das NS-Regime unterstützten und daher in der Öffentlichkeit vermehrt Ablehnung erfahren. • Ungerechtigkeit und Demütigung, die in der Heimat erlebt werden, bedingen die Herausbildung einer individuellen moralischen Selbstbehauptung aus der Rebellion oder bei der Herstellung der sozialen Ordnung nach dem Krieg. In sowjetischen Filmen sind solche Emotionen unbekannt. Die Rückkehr in die Heimat ist mit Pathos verbunden und wird vor allem mit Bildern wie der Ankunft der Soldaten zuhause und ihrem feierlichen Empfang durch die Massen am Bahnhof vergegenwärtigt. In den 1970er Jahren beginnen einige Filme, die Angst vor dem Vergessen zu artikulieren, wie zum Beispiel Der weissrussische Bahnhof (UdSSR 1970). Diese Angst kann unter anderem in einem Generationskonflikt zwischen dem Unrecht der neuen Ordnung und der Demütigung der Kriegsveteranen zum Ausdruck gebracht werden, wobei der Konflikt in der Regel problemlos beseitigt und somit die gerechte, durch das soldatische Opfer verdiente Ordnung wiederhergestellt werden kann. In ost- und westdeutschen Filmen werden neue Subjektvorlagen aus der Abspaltung des Nationalsozialismus vom Gesellschaftskörper (Sterben oder Verschwinden der NS-Figuren) und durch Bußopfer (eigenes Leiden und der Tod geliebter Menschen) legitimiert. Eine oder mehrere dem Protagonisten nahestehende Figuren sterben, wodurch der Nationalsozialismus verurteilt und gebüßt wird, um einen neuen Anfang zu ermöglichen. In ostdeutschen Werken wird seit den 1950er Jahren mit der Abspaltung der NS-Figuren außerdem zunehmend eine Abgrenzung vom kapitalistischen Westdeutschland vollzogen. • Das Gemeinschaftsgefühl als eine medial geteilte Erinnerung an geteiltes Leid umfasst den Einsatz historischen Dokumentarmaterials, das die Zuschauenden an die reale Geschichte erinnern und den Authentizitäts- und Wahrheitscharakter der Filme unterstützen soll. Referenzen auf historische Bilder finden sich in allen drei Kulturen. Diese Kategorie gehört allerdings in der hier vorgeschlagenen Systematik zu den tradierten Mikro-Strukturen, sofern die Dokumentationen der historischen und lokalen Orientierung oder der Überbrückung von Zeit dienen, wird doch der Einsatz des Dokumentarmaterials von den Zuschauenden
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als selbstverständlich angenommen. Sobald die Dokumentationen in irgendeiner Form auffällig werden – zum Beispiel durch besonders bekannte Bilder oder umgekehrt durch ganz neue, unbekannte und ungewöhnliche Bilder, durch eine besondere Montage von Dokumentationen oder Bildern, die von Grausamkeit zeugen –, wirken sie auf die Zuschauenden affektiv ein und gehören somit zu den perzeptionsgeleiteten Strukturen, die sich durch eine ästhetische Innovation und reflexive Medialität auszeichnen. Die Narrationsstrukturen in ihrer Gänze fördern ebenfalls die Herausbildung von Emotionen, die aus der Entwicklung der Handlung hervorgehen. So ähnlich beschreibt es Albrecht Koschorke (2012): „Das Erzählen tritt […] als ein Modus der Erzeugung, Gestaltgebung und Transmission sozialer Energien vor Augen. Diese Energien nehmen zu einem wichtigen Teil, aber keineswegs ausschließlich den Aggregatzustand von Affekten an […].“ (Koschorke 2012, S. 103, Hervorhebung im Original). Die „Narration von oben“ produziert so durch ihre Panoramaeinstellungen, die Gesamtheit der Geschichtsdarstellung und zahlreiche Massen- und Schlachtszenen, die durch Blas- und Marschmusik unterstützt werden, am überzeugendsten das Pathos und die Erhabenheit des Krieges und seiner Opfer. Diese Art der Inszenierung konnte sich deswegen in der BRD kaum durchsetzen, störten diese Emotionen doch die allgemein angestrebte Verurteilung des Nationalsozialismus und standen zum Erlebnis der Niederlage im Krieg im Widerspruch. Die „Narration von unten“ zielt auf eine affektive, schockartige Erschütterung als eine komplexe Emotion, um sie gegen Ende des Films in ein Versöhnungsszenario und ein Verantwortungsgefühl zu transformieren. Die Rekonstruktion eines traumatischen Ereignisses durch Flashbacks verankert Affekt und Schock als Effekte der gesamten Narration. Die Demetaphorisierung, die auf den Sinnentzug des Krieges zielt, produziert Fassungs- und Sinnlosigkeit. Die auf die Sinnentleerung zielenden Elemente finden sich in vielen westdeutschen Filmen über den Krieg, diese können aber als Affekte dem Moment verhaftet sein oder in einer episodischen Struktur evoziert werden. Als Effekt der ganzen Narration entsteht das Gefühl der Sinnlosigkeit nur bei der Demetaphorisierung, die Filme wie Ehe im Schatten (DEFA 1947, R. Kurt Maetzig) oder Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) charakterisiert. Die Parabel, die den Krieg in einem anderen Kontext verarbeitet, zielt primär auf eine intellektuelle Auseinandersetzung und daher auf die Lust an der Dechiffrierung und das Spiel mit Mehrdeutigkeit sowie auf das damit verbundene Genießen der Überschreitung. Die Verarbeitung der Geschichte als Fragment ist an keine stabilen und tradierten Emotionsstrukturen gebunden, die Filme sind in der Wahl ihrer Ausdrucksweise viel freier. So können diese Kriegsfilme auch Abenteuerlust, 297
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Neugier und Thrill auslösen, wenn sie etwa eine Spionage-Geschichte vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges erzählen. Das Gefühl der Geschlossenheit der Gemeinschaft produzieren viele ostdeutsche Werke, indem sie ihre Handlungen im Lager oder Gefängnis ansiedeln. Filme zu einzelnen Ereignissen des Krieges können vereinzelt auch die Erhabenheit des Krieges zum Thema machen. In den meisten westdeutschen Produktionen werden Emotionen und Affekte eher im Zusammenhang mit Opfern zugelassen, wodurch sich der Fokus auf die Leiden der Deutschen verschiebt. Die meisten Filme spielen verschiedene Opferfantasien und hiermit evozierte melodramatische Leidensszenarien durch. Das wird vor allem deshalb möglich, weil die Geschichte des Krieges immer schon in Kenntnis seines katastrophalen Endes erzählt wird.
4.3.6 Meta-Emotionen: Moralismus der Kriegsfilme Das PKS-Modell kann durch solche Emotionen ergänzt werden, die der Film einerseits als künstlerisches Werk und andererseits im Abgleich mit dem aktuellen kulturellen Wissensstand zum Zweiten Weltkrieg hervorruft. Als Meta-Emotionen sind also diejenigen Gefühle aufzufassen, die nicht durch die Diegese, sondern auf der Ebene der Einschätzung der Filmgestaltung und der gewonnenen Erkenntnisse und mithin im Rahmen der zeitgenössischen Rezeption evoziert werden. So kann die Form des Films Erschütterung hervorrufen, einzelne ästhetische oder thematische Innovationen können Wertschätzung erfahren, und auch das Erlebnis dramaturgisch bedingter Spannung, Neugier, Verfremdungseffekte, Ironisierung, Selbstreflexivität oder die Entschlüsselung intertextueller Bezüge sind hier zu nennen, welche die Aktivierung filmischen Wissens und die Analogieziehung zwischen verschiedenen Werken erfordert. Hans J. Wulff verortet diese Emotionen in der postrezeptiven Phase, bei der in der Diskussion und im weiteren Nachdenken über den Film eine allgemeine Einstellung gegenüber dem Werk ausgehandelt wird (Wulff 2006). Die ästhetische Wertung geht aus der Einschätzung der filmischen Form und des filmischen Inhalts hervor, daraus, inwiefern das Werk die (Genre-) Erwartung der Zuschauenden einlöst oder damit bricht, neues Wissen evoziert, die eigene Ästhetik reflektiert, historischem Wissen entspricht und authentisch erscheint. In allen drei Kulturen stehen die Filme über den Zweiten Weltkrieg unter dem Diktat des Realismus (Hickethier 2007), und so werden fantastische Elemente, aber auch allegorische Mehrdeutigkeit (mit Ausnahme der DDR) vermieden: „Das reale Kriegsgeschehen selbst ist […] konstitutiv für das Genre, es bildet den Hintergrund, das ‚Set der Erfahrungen‘, vor dem eine Geschichte erzählt wird.“ (ebd., S. 43) Avantgardistische Ästhetiken kommen demzufolge kaum zum Einsatz. Wenn
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eine der wichtigsten Funktionen des Mainstreamfilms die Unterhaltung ist, stellt der Kriegsfilm dagegen insofern ein ernstes Genre dar, als er sich dem Bekennen von Schuld, der kollektiven Überwindung von Zerstörung und Tod, der Aufklärung von Ereignissen und Verbrechen, der Kritik an der Vergangenheit und vor allem ihrer Integration in die Gegenwart widmet. Die Filmschaffenden suchen daher nach einer ausgewogenen Balance zwischen der ästhetischen Gestaltung und dem Thema, damit das Kriegsgrauen nur soweit ästhetisiert wird, dass die besondere künstlerische Gestaltung nicht hervorsticht und lediglich als eine Art Vehikel der Emotionalisierung dient. Neben der Einschätzung der künstlerischen Umsetzung des Themas gehört auch die moralische Wertung dazu, die nach Wulff die Fiktionalität des Films überschreitet und die Zuschauenden in ihrer gegenwärtigen Situation anspricht (Wulff 2006, 2005). Beim Kriegsfilm geht es dabei um den Abgleich des historischen Wissens, des aktuellen kulturellen Erinnerungskonsenses und des filmischen Inhalts, der sich in den Konsens einfügt, ihn transformiert oder mit ihm bricht. In allen drei Kulturen ist das Thema politisch höchst umkämpft, deshalb gibt es zur Rezeption des Kriegsfilms einen eigenen Diskurs, der bestimmte Themen als Tabu festlegt und andere favorisiert. In der UdSSR waren Opfer unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung, die Shoah, Kriegsgefangenschaft, stalinistische Opfer, strategische Fehler in der Kriegsführung und die Rolle der Alliierten lange Zeit verbotene Themen. Sie hatten ein starkes emotionales und moralisches Potenzial, dem sich die Filmschaffenden Schritt für Schritt annäherten, wodurch die Emotionsökonomie des Films mit der Zeit verändert wurde. Aktuell ist in Russland die Vergewaltigung (deutscher) Frauen beim Vormarsch der Roten Armee ein Tabu. Auf Protest der Kriegsveteranen hin wurde beispielsweise der ästhetisch eher zurückhaltende Film Anonyma – Eine Frau in Berlin (BRD 2008, R. Max Färberböck) in Russland verboten. So können Andeutungen von Vergewaltigungen im Film starke Emotionen und einen kulturellen Diskussionsbedarf außerhalb des Films auslösen. Die sowjetischen und russischen Zuschauenden waren und sind bis heute speziell dann besonders zufrieden, wenn sie unabhängig vom Thema eines Kriegsfilms Stolz hinsichtlich der Leistung der Roten Armee empfinden können und sich ihr über die intergenerationelle Familienbeziehung verbunden fühlen. Jede Infragestellung der Rolle der UdSSR im Zweiten Weltkrieg hingegen gilt als skandalös und enttäuscht in der Regel das sowjetische/russische Publikum. In der offiziellen ostdeutschen Erinnerungskultur wurde das Thema des Judenmordes eher marginalisiert und hatte daher ein großes emotionales Potenzial. Deswegen widmeten sich ostdeutsche Filmemacher*innen mehr und mehr dem Holocaust. Eine bewusste Distanzierung vom Nationalsozialismus auf der einen Seite und die Hinterfragung des aktuellen politischen Systems auf der anderen 299
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Seite besaßen ebenfalls affektive und emotionale Kraft. Aus der Überlagerung des Nationalsozialismus mit dem Sozialismus geht die antifaschistische Sicht als individuelle Haltung hervor, die zugleich eine Distanz zu der deutschen Vergangenheit, dem westlichen Kapitalismus und der sowjetischen Oberhand ermöglichen sollte. Den westdeutschen Filmen wurde häufig eine Verdrängung des Mordes an den europäischen Juden vorgeworfen, wobei in der Nachkriegszeit bezüglich dieses Themas zunächst noch keinerlei Erinnerungskonsens besteht. Die ersten Filme arbeiten an der Verurteilung des Nationalsozialismus, dem Thema der Heimkehrer und dem Status der Bundeswehr. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiebt sich der Fokus auf den Holocaust, seit 2000 werden starke Tendenzen zur Viktimisierung der eigenen Position im Krieg sichtbar. Außer Acht bleiben größtenteils die anfänglichen Militärerfolge der Wehrmacht, die Begeisterung für die Diktatur und bis heute die Folgen des Krieges in anderen europäischen Ländern. Abweichungen von diesen Regeln wohnt dementsprechend ein starkes emotionales Potenzial inne, wie die Wehrmachtausstellung des Institutes für Sozialforschung anschaulich bewies. Der bestehende moralische Konsens erfordert insgesamt das Empfinden von Scham für die Vorfahren und eine verurteilende Distanzierung von ihnen, während die aktuellen Filme häufig eher melodramatisches Selbstmitleid befördern.
Literatur Literatur
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Filme Filme
08/15 (BRD 1954/55, R. Paul May) Alexander der Kleine [Александр маленький] (UdSSR/DDR 1982, R. Vladimir Fokin) Anonyma – Eine Frau in Berlin (BRD 2008, R. Max Färberböck) Aufstieg [Восхождение] (UdSSR 1976, R. Larisa Šepit’ko) Befreiung [Освобождение] (UdSSR/DDR/JUG/P/I 1967–1971, R. Jurij Ozerov) Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurz Jung-Alsen) Canaris (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) Der letzte Zug [Последний поезд] (RF 2003, R. Aleksej German jr.) Der Ostkorridor [Восточный коридор] (UdSSR 1966, R. Valentin Vinogradov) Der Teufel spielte Balalaika (BRD 1961, R. Leopold Lahola) Der Untergang (D 2004, R. Oliver Hirschbiegel) Der Vorsitzende [Председатель] (UdSSR 1964, R. Aleksej Saltykov) Der weissrussische Bahnhof [Беларусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov) Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert) Die Ballade vom Soldaten [Баллада о солдате] (UdSSR 1959, R. Grigorij Čuchraj) Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhard Wicki) Die Grosse Wende [Великий перелом] (UdSSR 1945, R. Friedrich Ermler) 303
304
4 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses
Die Gustloff (D 2008, R. Joseph Vilsmaier) Die Russen kommen (DDR 1968/87, R. Heiner Carow) Die Sonne, die uns täuscht 2: Exodus [Утомленные солнцем 2: Предстояние] (RF 2010, R. Nikita Michalkov) Dresden (TV; BRD 2006, R. Roland Suso Richter) Ehe im Schatten (DEFA 1947, R. Kurt Maetzig) Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) Ein Soldat ist von der Front zurückgekehrt [Пришел солдат с фронта] (UdSSR 1971, R. Nikolas Gubenko) Erfahrene Hasen des Geschwaders [В бой идут одни „старики“] (UdSSR 1973, R. Leonid Bykov) Erster Verlust (DEFA 1990, R. Maxim Dessau) Es war im Monat Mai [Был месяц май] (UdSSR 1970, R. Marlen Chuziev) Flügel [Крылья] (UdSSR 1966, R. Larisa Šepit’ko) Halbdunkel [Полумгла] (RF 2005, R. Artem Antonov) Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf) Im Sternzeichen des Stiers [В созвездии быка] (RF 2003, R. Petr Todorovskij) Im Westen nichts Neues [All Quiet on the Western Front] (USA 1930, R. Lewis Milestone) Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) Kinder, Mütter und ein General (BRD 1955, R. László Benedek) Komm und sieh [Иди и смотри] (UdSSR 1986, R. Ėlem Klimov) Laconia / The Sinking of the Laconia] (D/GB 2011, R. Uwe Janson) Sie kämpften für die Heimat [Они сражались за родину] (UdSSR 1975, R. Sergej Bondarčuk) So weit die Füsse tragen (BRD 1959, R. Fritz Umgelter) So weit die Füsse tragen (D 2001, R. Hardy Martins) Stalingrad [Сталинград] (UdSSR/DDR/ČSSR/USA 1989, R. Jurij Ozerov) Stalingrad (D 1993, R. Joseph Vilsmaier) Strassenkontrolle [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971, R. Aleksej German sr.) Wengler & Söhne – eine Legende (DDR 1986, R. Rainer Simon) Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) Wohin Johanna? (Wahlwerbefilm der SED 1946, R. Peter Pewas) Zwanzig Tage ohne Krieg [Двадцать дней без войны] (UdSSR 1977, R. Aleksej German sr.)
Narrationstypologie 5 Narrationstypologie
5
Mit dieser Erinnerungstypologie wird versucht, Prozesse der Sinnherstellung anhand der Darstellung des Zweiten Weltkrieges ästhetisch, historisch und landesspezifisch zu systematisieren und generell Aussagen über filmische Sinngenese zu treffen. Hier werden Begriffe und historische Entwicklung erklärt, die im Modell des kollektiven Gedächtnisses angedeutet wurden: 1) Die „Narration von oben“ erzählt den Krieg in seiner scheinbaren Vollständigkeit – vom Anfang bis zum Ende (typisch für die UdSSR und DDR, gescheitert in der BRD). 2) Als „Narration von unten“ wird die fragmentierte und depotenzierte Erzählweise in Flashbacks bezeichnet, die die Historie individualisiert und die Individuen von der Macht der Geschichte und des Kollektivs abkoppelt (typisch für die Trümmerfilme, nur wenige Beispiele in der UdSSR). 3) Die Parabel ist mehrdeutig und analytisch, erzählt vom Krieg außerhalb der Kriegsschauplätze (populär in der DDR, kein Interesse in der BRD, fehlt komplett in der UdSSR). 4) Die Demetaphorisierung bemüht sich ästhetisch den Sinn des Krieges zu entleeren (verbreitet in der BRD, wenige Beispiele in der DDR, fehlt komplett in der UdSSR). 5) Geschichte als Fragment stellt einen Ausschnitt aus dem Krieg dar und umfasst Subkategorien wie Ereignisfragment (populär in der UdSSR, fehlt in der DDR), Endnarration (populär in allen Staaten – Diskursivierung des Übergangs vom Krieg in die Nachkriegsgesellschaft), Sonderfragment (BRD – Heimkehrerfilme, DDR – KZ-Filme, UdSSR – Spionagefilme) und Synekdoche (populär in der BRD, wenige Beispiele in der DDR und verboten in der UdSSR).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Gradinari, Kinematografie der Erinnerung, Neue Perspektiven der Medienästhetik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30065-4_5
305
306
5 Narrationstypologie
5.1
„Narration von oben“
5.1
„Narration von oben“
Mit der „Narration von oben“ wird die Geschichte als ein Großnarrativ entworfen. Die Definition geht auf den Begriff „Traum von oben“ von Sigmund Freud zurück. In diesem Begriffskontext wird davon ausgegangen, dass der Traum aus dem kleineren Anteil vom Unbewussten im Gegensatz zu den Tagesresten besteht (Freud 1999a)96: „Träume von oben sind Tagesgedanken oder Tagesabsichten gleichzustellen, denen es gelungen ist, sich nächtlicherweise eine Verstärkung aus dem vom Ich abgesprengten Verdrängten zu holen.“ (Freud 1999b, S. 303) Diese Definition soll jedoch keine Psychologisierung der Narrative oder der Figuren nahelegen. Die Filme, die unter diese Kategorie fallen, müssen nicht unbedingt psychologisch gestaltet werden, und sie werden auch nicht psychologisch/psychoanalytisch gelesen. Der Begriff wird in Form einer Analogie in einen filmspezifischen Terminus technicus übersetzt, mit dem die scheinbar totalitäre Darstellung und die Auslassungen, die eine solche Erzählweise voraussetzen, erfasst werden; die Narration arbeitet mit Evidenz und Plausibilität, so scheinen alle Inhalte bruchlos und glatt ineinander überzugehen. Jedoch ermöglicht die dekonstruktivistische Lesart es, durch eine genauere Analyse dieser angeblich nahtlosen Narration Brüche und Diskontinuitäten des Erzählens aufzudecken und so das Ausgesparte sichtbar zu machen. Mit diesem Typus wird hier eine solche Narration definiert, die von oben auf die Historie schaut, alles überblickt, die Nation als Ganze darstellt und einen Panoramablick auf das historische Geschehen herstellt. In der sowjetischen Filmwissenschaft wurden solche Filme Epos, Epopöe oder Kinoroman genannt (Vlasov 1976). Der Begriff „von oben“ bezeichnet ebenfalls eine Ästhetik, die vom Staat kommt bzw. der Parteilinie Ausdruck verleiht und damit ein Beispiel für eine gelungene Umsetzung der sozialistischen Ideologie darstellt.97 Denn die „Narration von oben“ war eines der erfolgreichsten Medien der Verlautbarung der Parteilinien.
96 „Das Unbewußte, das heißt das Verdrängte, leistet den Bemühungen der Kur überhaupt keinen Widerstand, es strebt ja selbst nichts anderes an, als gegen den auf ihm lastenden Druck zum Bewußtsein oder zur Abfuhr durch die reale Tat durchzudringen. Der Widerstand in der Kur geht von denselben höheren Schichten und Systemen des Seelenlebens aus, die seinerzeit die Verdrängung durchgeführt haben.“ (Freud 1999a, S. 17) Im Laufe dieses Kapitels benennt Freud diesen Mechanismus mit dem Wiederholungszwang. 97 Zum Beispiel zeigt Sorokina den Kampf verschiedener literarischer Strömungen, ästhetischer Programme und künstlerischer Vereinigungen in den 1920er und 1930er Jahren um die ästhetische Verwirklichung der Parteilinie. Letztendlich wurde die Methode des Sozialistischen Realismus aus Ideen dieser verschiedenen Vorstellungen über die Funktionsweise und die Ästhetik der Literatur zusammengesetzt (Sorokina 2010, S. 242–256).
5.1 „Narration von oben“
307
In diesem Zusammenhang realisieren Filme mit diesem Narrationstypus am besten das Programm des Sozialistischen Realismus. Hier seien seine Merkmale nur kurz erwähnt: Parteilichkeit, Volkstümlichkeit, Typisierung, die revolutionäre Romantik, die Entwicklung des positiven Helden von individualistischen zu kollektiven Interessen, das Kollektiv als eine große Familie, eine positive Rolle des Kollektivs in der Entwicklung des Helden, die Vaterfigur bzw. eine Führungsfigur an der Spitze der großen Familie, eine antagonistische Entwicklung der Handlung, die Behebung von Naturkatastrophen und die Unterwerfung der Natur (Yampolsky 1988) und letztendlich eine Darstellung der Wirklichkeit nicht nur in ihrer historisch-dialektischen Entwicklung, sondern vor allem in Form des zu erreichenden Sozialismus (Günther 1984; Clark 2000). Die Breite der „Narration von oben“ bietet einen Raum für die ästhetische Umsetzung der genannten Anforderungen des Sozialistischen Realismus. Zu den wichtigen Merkmalen dieser Narration gehören die Allumfassenheit der Darstellung, die Symbolhaftigkeit und Typisierung der Figuren, die Inszenesetzung von Menschenmengen und die Herstellung einer historischen Kontinuität. Diese Narration strebt danach, das Geschehene vom Anfang bis zum Ende zu erfassen und suggeriert die Totalität des Gezeigten, das heißt, die Historie wird scheinbar lückenlos präsentiert; sie wird hauptsächlich für die objektive Inszenierung der Geschichte verwendet. Die „Narration von oben“ stellt eine chronologische, kontinuierliche, sich logisch und kausal entwickelnde Historie dar, die jegliche Zufälle und Brüche aus der Geschichte eliminiert und meistens mit einem Happy End oder zumindest einem versöhnlichen Ende abschließt. Inhaltlich setzen die Filme mit ihrer Handlung vor dem Krieg ein – einige unmittelbar davor, andere sogar noch vor dem Ersten Weltkrieg –, um sie dann weiter über den gesamten Zweiten Weltkrieg hinweg bis zu seinem Ende oder sogar bis weit darüber hinaus zu führen. Die sowjetischen Filme inszenieren dabei den Krieg als Einbruch, als eine vorübergehende Katastrophe, die die glückliche Zeit vor dem Krieg zerstört. Am Ende wird die Störung behoben und der ursprüngliche Zustand (je nach Film) wiederhergestellt. Die sowjetische Narration ist allumfassend. Der Feind gehört also zum Sozialistischen Realismus und bildet einen wesentlichen Teil der Narration; er bildet den für sie konstitutiven Antagonismus. Die ost- und westdeutschen Versionen sind eher insofern einseitig, als sie den Feind ebenso wie die militärischen NS-Erfolge ausschließen und den Widerstand und eine innerkulturelle Spaltung zwischen NS-Anhängern und deren Gegnern (in der Regel Männerfiguren) akzentuieren. Die Handlung ist zeitlich, historisch und geografisch breit aufgestellt. Daher weisen die Filme keinen einzelnen herausragenden dramaturgischen Höhepunkt oder Konflikt auf. Sie sind also nicht auf ein Ereignis konzentriert, sondern umfassen mehrere Handlungshöhepunkte, die kausal miteinander verknüpft werden können. 307
308
5 Narrationstypologie
Sie zeigen die Geschichte als facettenreich und thematisieren viele verschiedene Konflikte. Die Filme haben deshalb in der Regel Überlänge: Der Fall von Berlin [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli) besteht etwa aus zwei Folgen, was zugleich – aufgrund der umfangreicheren Finanzierung – auf die Wichtigkeit des Themas hinweist (Prokhorov 2007), Der Rat der Götter (DDR 1950, R. Kurt Maetzig) dauert 110 Minuten, Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert) ist 165 Minuten lang, Der ewige Ruf [Вечный зов] (UdSSR 1973–83, R. Vladimir Krasnopol’skij/Valerij Uskov) ist eine Fernsehminiserie mit neunzehn Folgen und einer Gesamtdauer von über 22 Stunden, die Kinoproduktion Befreiung [Освобождение] (UdSSR/DDR/YU/I/P 1968–1972, R. Jurij Ozerov) besteht aus fünf und der Fernsehfilm Unsere Mütter, unsere Väter (D 2013, R. Philipp Kadelbach) aus drei Teilen. Die Komprimierung der Historie bedingt eine verstärkte Symbolhaftigkeit der Filme und die Typisierung und Allegorisierung der Figuren. Diese Art der Narration wird hauptsächlich mit Männlichkeit inszeniert, die Frauenfiguren hingegen bedingen in der Sowjetunion und BRD meist die Dekonstruktion dieser Erzählweise. Im Gegensatz dazu gelingt es den DEFA-Produktionen, beide Geschlechter in die große Geschichte zu integrieren. Mit der Gründung der DDR wird die Gleichberechtigung der Geschlechter ähnlich wie in der UdSSR der 1920er und 1930er Jahre zu einem wichtigen Legitimationsmechanismus des neuen Staates (Zahlmann 2001).
Abb. 1 DIE BUNTKARIERTEN (DDR 1949, R. Kurt Maetzig)
5.1 „Narration von oben“
309
In der UdSSR ist es hingegen nicht möglich, Frauen als Hauptfiguren des Großnarrativs darzustellen (Abb. 1). Offensichtlich hat sich der Legitimationsdiskurs über die Emanzipation der Frauen in der sozialistischen Ordnung etwas abgenutzt. Bereits in den 1930er Jahren wendet sich die sowjetische Gesellschaft konservativen Werten zu, welche die traditionelle Rolle der Frau als Mutter und Ehefrau propagieren. Beispielsweise werden Scheidungen gesetzlich enorm erschwert (Hilbrenner und Kobchenko 2017, S. 14; Fitzpatrick 1999, S. 142). Zugleich bildet der Sieg im Zweiten Weltkrieg in der UdSSR eine der größten legitimierenden Kräfte und bestärkt Männlichkeit in ihrer sozialen und militärischen Relevanz. In dieser Funktion wird der Sieg filmisch vorformatiert, zum Beispiel im Film Six P. M. [В 6 часов вечера после войны] (UdSSR 1944, R. Ivan Pyr’ev). Bevor der reale Sieg erreicht wird, stellt er in sowjetischen Filmen schon das Motiv einer wundersamen Rettung oder Auferstehung des männlichen Protagonisten dar (Gorskich 2013, S. 73). Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich in der UdSSR – ähnlich wie in der BRD – zunächst eine konservative Geschlechterpolitik (zumindest in Filmen) durch, welche die weibliche Sexualität durch deren Pathologisierung zu bändigen sucht. Männer, die aufgrund des Krieges ihre Heimat verlassen haben, müssen sich nun ihre soziale Position in der Gesellschaft zurückerobern. Frauenfiguren werden deswegen nur mit Verlusten assoziiert, sodass sie in der „Narration von oben“ lediglich als Nebenfiguren auftreten und in der Regel die Opferrollen übernehmen. In der BRD wird daher der Film Die Sünderin (BRD 1951, R. Willi Forst), der durchaus zur „Narration von oben“ gezählt werden kann, zum Skandal. Eine kontinuierliche Erzählweise beruht auf einer Übereinstimmung zwischen dem Nationalsozialismus und der Nachkriegsordnung. Außerdem spricht der Film der Frau die Rolle des geschichtlichen Subjektes ab. Bei aller Kritik an der BRD nimmt die weibliche Protagonistin in diesem Film an der Historie nicht teil. In DEFA-Filmen werden Frauenfiguren hingegen häufiger zu Hauptfiguren, um eine strukturelle Aufspaltung der Figuren in NS-Angehörige und ihre Gegner oder Gegnerinnen zu inszenieren. Diese Aufspaltung wird auch anhand der binären heteronormativen Geschlechterachse möglich, wodurch Frauen als Gegnerinnen des Regimes und des Krieges eine ästhetisch-semantische Relevanz in der Handlung gewinnen; sie werden neben klassenspezifischen oder politischen Figuren auch zu Trägerinnen einer der möglichen Kontinuitätslinien. Darüber hinaus können die DEFA-Produktionen die UdSSR nicht als Feind darstellen, deshalb umgehen sie das Problem durch verschiedene Auslassungs- und Verschiebungsstrategien. Die Geschichte kann zum Beispiel über Frauenfiguren erzählt werden, die an der Peripherie der Historie situiert werden – eine Erzählweise, die in der UdSSR in dieser Form nicht möglich war. 309
310
5 Narrationstypologie
Die klassenspezifische Zuschreibung variiert und verrät eine ideale, zu jener Zeit herrschende Vorstellung von Hegemonie. Im sowjetischen Stalinismus wird diese durch einen Arbeiter verkörpert, der zugleich als symbolischer Sohn Stalins fungiert; seit den 1960ern werden die Arbeiter durch Bauern und Vertreter der technischen Intelligenzija, bald auch durch die Militärelite ersetzt. Im gegenwärtigen Russland wird die Narration mit einem im Stalinismus zu Unrecht verurteilten Kommissar – also einem Mitglied der Militärelite und zugleich der Opposition zu Stalin – inszeniert. In der DDR sind von Anfang an politische (Selbst-)Definitionen wichtiger als klassenspezifische. So können auch die Kleinbürger*innen die Seiten wechseln und mit den Kommunist*innen zusammenarbeiten. Die ostdeutsche „Narration von oben“ verbindet somit westliche und sozialistische Darstellungsstrategien. Am Anfang wird mit dieser Narration der Wechsel vom Täter zum Opfer oder vom Opfer zu einer mächtigen Figur dargestellt, die sich bewusst gegen den Nationalsozialismus wendet. In den 1980er Jahren wird der Werdegang der Täterschaft entworfen. In der BRD ist diese Narration ebenfalls auf männliche Protagonisten fixiert, jedoch weisen diese keine explizit betonte klassenspezifische Identität auf, denn diese Narration dient in der BRD der Legitimation einer bürgerlichen Ordnung und argumentiert nicht über die Klassenkategorie. Am Anfang werden damit die Geschichten von Mittäter*innen erzählt, die allerdings vorwiegend als Beobachter*innen auftreten. In den 1970er Jahren werden die Täter und Täterinnen sowie die Opfer stärker ausdifferenziert, wobei sie hauptsächlich in getrennten Produktionen erscheinen. Aufgrund der historischen und zeitlichen Breite agieren im Film mit der „Narration von oben“ in der Regel viele Figuren. Auch gibt es viele Massenszenen, denn dieser Narrationstypus erzählt von der Geschichte eines Kollektivs (Abb. 2–3). Die Figuren sind daher selten an einem Ort verankert, sondern durchreisen Geschichte und Länder. In den sowjetischen Produktionen sind die Subjekte machtvolle, handelnde Figuren, die Geschichte machen und in der Regel autonom über ihre Zukunft bestimmen. Für die sowjetische Narration wird deswegen die Handlung an offiziellen Erinnerungsorten situiert; bekannte historische Personen tauchen auf und betonen zusätzlich die politisch-historische Relevanz der Figuren sowie ihre Teilhabe an der Macht (Abb. 4). Sie sind Triebkräfte der Geschichte, wodurch eine hierarchische Bildlichkeit entsteht. ‚Oben‘ wird das befohlen, was ‚unten‘ umgesetzt wird. Es besteht eine harmonische Beziehung zwischen den Subjekten und den als stark inszenierten Machtstrukturen. In den ost- und westdeutschen Filmen sind die Figuren der Historie ausgeliefert. In der BRD bleibt die Dominanz gesellschaftlicher Strukturen bis zum Filmende bestehen oder verstärkt sich gar gegen Ende durch Tod, Verhaftung der Figuren oder deren Rückzug ins Private.
5.1 „Narration von oben“
Abb. 4
DER FALL VON BERLIN [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli)
Abb. 5
DER RAT DER GÖTTER (DDR 1950, R. Kurt Maetzig)
311
311
312
5 Narrationstypologie
Die Subjekte erscheinen gegenüber der Historie als ohnmächtig. Sie stehen zu ihr in Widerspruch. In der DDR wechselt die Figur von der ohnmächtigen Position eines Mitläufers oder einer Mitläuferin zu der eines handelnden, machtvollen Subjektes – unter der Bedingung der Distanzierung vom Nationalsozialismus. Der Sozialismus bedeutet eine narrative Ermächtigung der Subjekte, zugleich wird er selbst erst durch das aktive Handeln der Figuren möglich. Der Sozialismus wird also als eine künstliche Konstruktion und nicht als natürliche Ordnung inszeniert, legitimiert sich selbst jedoch nichtsdestotrotz durch Traditionen. In der revolutionären Rhetorik brach der Sozialismus mit den alten zaristischen und kapitalistischen Traditionen, im Film knüpft die neue Ordnung an die Oktoberrevolution an, die ihre Existenz legitimiert und bestärkt (Abb. 5). Die sozialistische Idee existiert in den DDR-Filmen schon seit dem 19. Jahrhundert, und die Kommunist*innen behalten im Film immer Recht.
Abb. 4–5 BEFREIUNG [Освобождение] (UdSSR/DDR/YU/I/P 1968–1972, R. Jurij Ozerov)
5.1 „Narration von oben“
313
Eine der wesentlichen Besonderheiten dieser Narration ist aufgrund der allumfassenden Erzählweise die kontinuierliche Darstellung eines großen Zeitfensters innerhalb der relativ kurzen Zeitspanne des Mediums Film. Verschiedene ästhetische und strukturelle Verdichtungs- und Auslassungsstrategien erscheinen einerseits als stilistische Besonderheiten der Filmemacher*innen. Der Vergleich dieser ästhetischen Strategien erlaubt es, unterschiedliche filmspezifische Mittel zu benennen, die historische Kontinuität herstellen. Andererseits lassen diese Strategien auch Aussagen über die herrschenden Diskurse zu, welche die Auslassungskontexte regeln. Zum Beispiel arbeitet Kurt Maetzig emblematisch; wie im zweiten Band gezeigt wird, reduziert er etwa in Die Buntkarierten (DDR 1949, R. Kurt Maetzig) die gesamte historische Epoche auf ein bekanntes kollektives Symbol. Wolfgang Staudte erschafft hingegen in Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) visuelle Informationsverdichtungen im Bild, welches mit eigenen, selbst erschaffenen Symbolen ausgestattet wird. Die klassenspezifische Akzentuierung der Figuren und die Selektion der Szenen sind dabei kulturell begründet. Alle Filmemacher*innen lassen beispielsweise die militärischen NS-Erfolge zu Beginn des Krieges aus. Maetzig benennt die kapitalistische Produktion als Ursache für die Ermächtigung des Nationalsozialismus. Dieses Argument ist ein wesentliches Erklärungsmuster der stalinistischen Periode, das auf die Dimitroff-These über den Nationalsozialismus als Ausdruck des entfesselten Finanzkapitals zurückgeht (Dimitroff 1976). Staudte setzt sich mit dem Kleinbürgertum und den Arbeitern und Arbeiterinnen auseinander, kritisiert ihre Bequemlichkeit und den Mangel an Solidarität. Staudte, der nur bedingt als DEFA-Regisseur bezeichnet werden kann, konzentrierte sich nicht auf die Glorifizierung der Arbeiterklasse, sondern auf die Kritik an den Arbeitern und Arbeiterinnen (Abb. 6). Die Auslassungen regeln die narrative Struktur; sie geben der ganzen Handlung eine Richtung. Dabei können sie markiert oder unmarkiert auftreten. Die markierten Auslassungen sind diejenigen, die zum Inhalt des Films gehören und dramaturgisch in Szene gesetzt werden; die unmarkierten Auslassungen können erst im Vergleich mit anderen Werken identifiziert werden – dann wird deutlich, was eine konkrete Produktion nicht enthält. Die „Narration von oben“ ist trotz ihrer Bestrebungen keinesfalls politisch neutral und historisch objektiv, allumfassend und wahr. Sie beinhaltet Mechanismen (bei Freud als kleine Anteile des Unbewussten im „Traum von oben“ beschrieben), die verraten, was für diese Erzählweise konstitutiv ist. Diese werden deswegen mit dem Freud’schen Unbewussten analog gesetzt, weil sie nicht offensichtlich sind, sondern allein aus der Art der Selektion und der Anordnung des filmischen Materials abgeleitet werden können, wobei hier die Analogie zu Freud endet. Es geht nicht um angeblich psychologische Strukturen des Films, sondern um seine medienästhetische Beschaffenheit. Anders gesagt, fungieren aktuell 313
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Abb. 6 ROTATION (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte)
herrschende Diskurse, die der Film verhandelt und offen thematisiert, in Analogie zu den Tagesresten, während das Unbewusste erst durch Brüche aufgrund der Überlagerung der Diskurse oder durch medienspezifische Effekte entsteht und so auf das Ausgelassene des Films und die Richtung der Handlung hinweist. Diese Richtungsmechanismen variieren je nach politischen Bedürfnissen und sind somit in ihrer Beschaffenheit anachronistisch, denn sie verschieben – orientiert an den politischen Forderungen der jeweiligen Nachkriegsepoche – den Fokus der gesamten Narration. In den sowjetischen Filmen des Stalinismus und der Brežnev-Ära sowie in den aktuellen russischen Produktionen bestimmt der Sieg die gesamte Ausrichtung der Handlung, so lassen die Filme die Niederlagen der Roten Armee entweder ganz aus oder behandeln sie nur am Rande. Bereits am Anfang wird der Sieg angedeutet und die ganze Narration steuert unter Hervorhebung von Heroismus und kleinen Siegen darauf zu. In der Tauwetter-Periode wird die Dekonstruktion der „Narration von oben“ gerade dadurch angestrebt, dass die davor ausgelassenen negativen Phänomene wie Korruption, Verrat, Kriegsgefangenschaft usw. dargestellt werden. Die Relevanz des Sieges nimmt ab, seine Bedeutung wird pluralisiert, mehrfach umgeschrieben oder gar dekonstruiert. Die ost- und westdeutschen „Narrationen von oben“ zeichnen sich durch die Markierung der Niederlage bereits zu Beginn der Narration aus. Der Richtungsmechanismus steuert auf die Niederlage hin. Das schlechte Ende wird bereits am
5.1 „Narration von oben“
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Anfang angedeutet, wenn prokommunistische oder kommunistische Figuren eine Katastrophe und Niederlagen voraussagen. Während in den sowjetischen Filmen die geschichtliche Kontinuität idealtypisch in der Wiederherstellung der Vorkriegsordnung nach dem Krieg besteht, installieren die DEFA-Filme das Motiv der Buße. Nur diejenigen, die sowohl durch Reflexion zu einem sozialistischen Bewusstsein gelangt sind, als auch Verwandte, Geliebte oder Kinder verlieren, werden ermächtigt – dabei durchlaufen sie über ihr eigenes Leid und den persönlichen Verlust eine symbolische Reinigung. Erst danach kann der neue Staat aufgebaut werden. Diskursiv-historisch gesehen hat diese Art der Narration ihre Anfänge jedoch nicht in der UdSSR. Als Vorläufer einer solchen Geschichtsdarstellung im Westen kann der Bildungsroman und später auch der Entwicklungsroman mit seiner epischen Breite betrachtet werden, die das bürgerliche männliche Subjekt als Endpunkt einer teleologischen Entwicklung darstellten und es zum Ideal des Humanismus erklärten. In der russischen Literatur steht für diese allumfassende Erzählweise das Werk Krieg und Frieden (1863–1869, 1873) von Leo Tolstoj. Zu den ersten filmischen Umsetzungen einer historisch allumfassenden Geschichtsdarstellung gehört der historische Stummfilm The Birth of a Nation (USA 1915, R. David Wark Griffith). Darauf folgen zahlreiche Werke über historische Persönlichkeiten und Biopics (Custen 1992; Felix 2000; Taylor 2002), die auch in Deutschland populär waren. In der UdSSR kann als Wegbereiterin einerseits die filmische Avantgarde der 1920er Jahre gesehen werden; hier werden verschiedene Verfahren entwickelt, um Massen in Szene zu setzen – hier sind insbesondere die Werke von Sergei Eisenstein zu nennen. Andererseits werden zur Zeit der Verschärfung des Stalinismus in den 1930er Jahren zahlreiche Revolutions- und historische Filme gedreht, die die Ästhetik der historischen Breite und Kontinuität entwickeln und von den russischen Forscher*innen als staatsbildende Epen verstanden werden (Margolit 1999, S. 71–75). Diese Ästhetik ermöglicht dann auch, den Zweiten Weltkrieg im breiten Rahmen zu inszenieren. Die Geschichte scheinbar erschöpfend darzustellen und zu erklären übte generell immer schon eine große Faszination auf Filmemacher*innen aus. Davon zeugen zahlreiche Produktionen in allen drei Staaten. In der BRD gibt es bis heute wiederholt Versuche, die „Narration von oben“ zu etablieren und über mehrere Generationen hinweg zu erzählen. Eine kontinuierlich erzählte Geschichte bedeutet, ihre Legitimation aus der Kraft der Traditionen zu schöpfen, was die Attraktivität dieser Narration ausmacht. In den sowjetischen und DEFA-Filmen folgt die kontinuierlich erzählte Geschichte einer inneren Logik des Filminhalts, ohne dabei selbstreflexiv zu werden. Die Filme verhandeln mit diesem Narrationstypus das Bild der Nation als allumfassende Einheit. Die Unterschiede zwischen den Produktionen verweisen 315
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auf die Legitimationsstrukturen der verschiedenen Ideologien, zum Beispiel die Zukunftsorientierung der sowjetischen Geschichtsdeutung, die Entscheidung für einen einzig richtigen Weg in der DDR und die Kapitulation vor der Geschichte in der BRD. Sowjetische Produktionen legitimieren mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg den Sozialismus und seine historisch erwiesene Kraft und Wahrheit, die die Macht des Proletariats verstärken. Der Sieg wird zur Zurückeroberung des Sozialismus und zur Abwehr des (kapitalistischen) Faschismus, wodurch die sozialistische Ordnung als historisch wahre und politisch notwendige Staatsorganisation erneut bestätigt wird (Scherrer 2004, S. 630). Die sowjetischen Filme zeigen dabei, dass die bereits existente Ordnung fortgesetzt wird. Auch im Kampf an der Front werden heroische Arbeitssemantiken fortgeführt. Natascha Drubek-Meyer nennt neben den Filmen, die den Helden des Zweiten Weltkrieges gewidmet sind, vor allem Der Fall von Berlin, der die UdSSR als eine auf Moskau zentrierte Nation mit Stalin – dem „Vater der Völker“ – an der Spitze im kollektiven Imaginären verankerte (Drubek-Meyer 1998, S. 229). Die DEFA-Produktionen begründen mit dieser Narration das Bild der antifaschistischen Nation, die sich auf die Tradition der Arbeiterbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts stützt, als ob die Geschichte schon seit dem 19. Jahrhundert darauf hinausliefe, einen sozialistischen Staat wie die DDR zu gründen. Zum Beispiel wird im Film Die Buntkarierten ein solches Szenario entworfen. Als wichtige Filme nennt Rainer Rother Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (DDR 1954, R. Kurt Maetzig) und Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (DDR 1955, R. Kurt Maetzig) (Rother 1998). Der erste Film folgt zwar durch die klassenspezifische Breite eines historischen Momentes einem epischen Verfahren, zeigt allerdings nur einen Ausschnitt aus der Geschichte Deutschlands. Der zweite Film stellt hingegen eine typische „Narration von oben“ dar, entwirft den Krieg kontinuierlich vom Anfang bis zum Ende, zeigt den Klassenantagonismus auf und begründet geschichtliche Subjekte. Gerade diese Art der narrativen Vergewisserung des bürgerlichen Subjektes ist in der BRD nach 1945 nicht mehr ohne weiteres möglich, da die Abgrenzung von der NS-Politik nun keine erzählerische Kontinuität mehr erlaubt: Entweder war die bürgerliche, kapitalistische Ordnung eine Vorstufe des Nationalsozialismus, dann ist ihre Weiterführung in der Nachkriegszeit nicht mehr möglich – so die Argumentationsfigur der DEFA. Der Faschismus ist hier der radikale Ausdruck des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Wirtschaftskrise abwehrt:
5.1 „Narration von oben“
317
„Der Faschismus ist die Macht des Finanzkapitals selbst.“ (Dimitroff 1976, S. 322)98 Als zweite Möglichkeit kann die Absetzung der bürgerlichen, demokratischen Ordnung durch die NS-Diktatur nur als Auszeit von der Normalität semantisiert werden, wenn die Nachkriegsgesellschaft sich als bürgerlich versteht. In diesem Fall sollen die Ausnahmesituation und der Bruch mit der NS-Ideologie deutlich werden. Die „Narration von oben“ ist daher in der BRD nur unter bestimmten ästhetischen Bedingungen möglich: als eine entleerte und fragmentierte Historie wie in 08/15 (BRD 1954/55, R. Paul May), Wir Wunderkinder (BRD 1958, R. Kurt Hoffmann) oder Canaris (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann). Im Neuen Deutschen Film werden verschiedene Verfahren der filmischen Selbstreflexion entwickelt, welche die Geschichte in Form ihrer medialen Konstruktivität als Ganzes darstellbar machen: Ein Beispiel für diese Vorgehensweise ist der Film Lili Marleen (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder). Fassbinder legt sowohl das NS-Regime als auch die Aufarbeitungsgeschichte seit Kriegsende als mediale Konstruktionen frei, wodurch er die Historie als mehr oder weniger kontinuierlich entwerfen kann, weil gerade Medien eine Fantasie von der Ganzheit der Nation und der Kausalität der Geschichte ermöglichen. Die medienspezifische Entwicklung macht es auch möglich, die Geschichte kontinuierlich zu erzählen. Die Fernsehmehrteiler entwerfen eine Geschichtsversion, deren Unvollständigkeit durch die Unterbrechung der Folgen kaschiert werden kann, wie beispielsweise bei der Filmreihe Heimat (BRD 1981–2012, R. Edgar Reitz) u. v. a. Durch aktuelle politische Veränderungen (Vereinigung Deutschlands, Globalisierung etc.) wird nun nach 60 Jahren wieder die „Narration von oben“ erprobt, wie etwa im experimentellen Film Speer und Er (D 2005, R. Hans Breloer) oder in Unsere Mütter, unsere Väter (D 2013, R. Philipp Kadelbach) – in beiden Filmen lässt sich eine deutliche Annäherung an den Narrationstypus erkennen. Die Produktionsintensität der Werke mit diesem Narrationstypus ist von Land zu Land unterschiedlich. Die ersten Filme, die diese Narration für die Darstellung des Zweiten Weltkrieges entwerfen, erscheinen Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre. Generell werden aus politischen und ökonomischen Gründen in der 98 „Der Faschismus an der Macht, Genossen, ist, wie ihn das XIII. Plenum des EKKI richtig charakterisiert hat, die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“ (Dimitroff 1976, S. 322, Hervorhebung im Original). Dimitroff weist dabei aber darauf hin, dass der Faschismus nicht die Radikalisierung der bürgerlichen Ordnung, sondern die Ablösung der Klassenherrschaft der Bourgeoisie durch die „offene terroristische Diktatur“ (ebd., S. 323) sei. Genau genommen führen die reaktionärsten Maßnahmen der Bourgeoisie zum Faschismus, hinter dem sich das „blutdürstige Raubtier des Finanzkapitals“ (ebd., S. 324) verstecke. 317
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5 Narrationstypologie
Sowjetunion der Nachkriegszeit wenige Filme gedreht, diese Zeitperiode wird unter dem Stichwort der „mageren Jahre“ [Malokartin’e] (Margolit 1999) in die Filmgeschichte der UdSSR eingehen. Mit Der Fall von Berlin, Der Schwur [Клятва] (UdSSR 1946, R. Michail Čiaureli) und Die Dorfschullehrerin (Erziehung der Gefühle) [Сельская учительница (Воспитание чувств)] (UdSSR 1947, R. Mark Donskoj) werden drei Filme produziert, die für die sowjetische Form der „Narration von oben“ konstitutiv werden. Die darauffolgenden Filme Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) und Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk), die Ende der 1950er Jahre erscheinen, stellen schon eine Modifikation, wenn nicht gar eine Dekonstruktion des stalinistischen Narrativs dar. Von der DEFA werden in der Nachkriegszeit innerhalb von zwei Jahren (1948–1950) ebenfalls drei Filme dieses Narrationstypus produziert. Bereits bei der DEFA-Gründung 1946 werden ideologische Richtlinien eingeführt, die dem Programm des Sozialistischen Realismus entnommen wurden, wie etwa die Umerziehung der Massen, die Widerspiegelung des realen Lebens, die Verständlichkeit der Filme (Vermeidung formalistischer Elemente) und die Kontrolle der Filmkunst durch die Partei (Mühl-Benninghaus 1993, S. 219). Diese Richtlinien fördern die „Narration von oben“. Die neu gegründete DDR steht außerdem unter einem starken Legitimationsdruck, und so deklinieren die Filme unterschiedliche Legitimationsszenarien durch, um verschiedene Subjekte anzusprechen und diesen eine neue Ausdrucksform zu verleihen: Neben der Arbeiterklasse werden in Rotation und Der Rat der Götter auch bürgerliche Subjekte angesprochen, denen so ein Rahmen geboten wird, sich innerhalb des neuen politischen Diskurses zu verorten. Nach dem Tod Stalins verändern sich die Filme mit der „Narration von oben“. Diese wird zudem teilweise dekonstruiert. Mit dem Einsatz des Sozialistischen Realismus (Gersch 2006, S. 52–56)99 als einer verpflichtenden ästhetischen Methode in der DDR erscheinen Mitte der 1950er Jahre Kurt Maetzigs Filme über Ernst Thälmann, von denen der zweite dem Vorzeigeprodukt stalinistischer Kunst, Der Fall von Berlin, am ähnlichsten ist. Die Tauwetter-Periode sowie später die Restalinisierung rufen ebenfalls Modifikationen dieser Narration und somit der Legitimationsstrategien der sozialistischen Ordnung hervor. Die Kritik am Stalinismus verläuft ästhetisch in der Tauwetter-Periode und nimmt zwei Formen an: Wenn der männliche Protagonist beibehalten wird, wird die kollektive 99 Im Juli 1952 fällt beim SED-Politbüro der Beschluss über den Sozialistischen Realismus als eine verbindliche Methode für die DDR-Kunst. Gersch (2006) weist nach, wie der Film Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (DDR 1954, R. Kurt Maetzig) weniger Thälmanns Geschichte erzählt, sondern eher die SED-Legitimation ästhetisch verarbeitet.
5.1 „Narration von oben“
319
Geschichte zugleich auch als Geschichte der Innerlichkeit erzählt. Die Protagonisten durchlaufen die Geschichte des Landes, jedoch machen sie dabei eine einzigartige individuelle Erfahrung, die sich gegen die offiziellen und kollektiven Erinnerungsbilder wendet. Ein Menschenschicksal arbeitet die Geschichte der sowjetischen Kriegsgefangenen auf und demontiert das Bild des spektakulären Sieges, wie er in Der Fall von Berlin dargestellt wird (Abb. 7). Königskinder (DDR 1962, R. Frank Beyer) entwirft, wie später Die Abenteuer des Werner Holt, unvergessliche Bilder und besondere psychologische Strukturen, die den Antifaschismusmythos sprengen, indem auch die Ost-West-Spaltung Deutschlands mitreflektiert wird. In der Historie tritt dabei in diesen Produktionen ein Zufall ein: In diesem Kontext sind Ein Menschenschicksal, Die Abenteuer des Werner Holt und der Mehrteiler Der ewige Ruf zu nennen, wobei letzterer auf die oft episch gestaltete sowjetische Dorfprosa der 1960er Jahre zurückzuführen ist, die nur zum Teil subversiv ist und durchaus an der Legitimation der sowjetischen Ideologie arbeitet.
Abb. 7 EIN MENSCHENSCHICKSAL [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk)
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5 Narrationstypologie
Eine weitere mögliche Umstrukturierung der großen Geschichte verläuft über Protagonistinnen. Diese existieren wiederum nur in der UdSSR und der BRD, gerade weil das Weibliche hier außerhalb der großen Geschichte blieb, als Allegorie der Heimat fungierte und somit essentialisiert und als apolitisch dargestellt wurde. Die Einführung der Frauen in die „Narration von oben“ wird in diesen (Film-)Kulturen nur zusammen mit der Selbstreflexion des Mediums möglich. Wenn die Geschichtsdarstellung als eine mediale Konstruktion ausgewiesen wird, können auch Frauen zu geschichtlich relevanten kollektiven Ikonen werden. Die „Narration von oben“ ist in ihrem Streben nach Objektivität und Wahrhaftigkeit der Darstellung nicht selbstreflexiv. Die Selbstreflexivität führt deswegen zur Analyse der Herstellung der propagandistischen Bildlichkeit selbst, und somit zur Dekonstruktion des Großnarrativs. Hier sind die Filme Wenn die Kraniche ziehen, Lili Marleen und Deutschland, bleiche Mutter (BRD 1980, R. Helma Sanders-Brahms) zu nennen (Abb. 8), wobei der sowjetische Film Die vierte Höhe [Четвертая высота] (UdSSR 1977, R. Igor’ Voznesenskij) eine selbstreflexive geschichtliche Konstruktion mit der weiblichen Figur im Dienste sozialistischer Ideologie vornimmt.
Abb. 8 LILI MARLEEN (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder)
Trotz der Dekonstruktion der „Narration von oben“ während der kurzen Entstalinisierungsperiode Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre werden in der UdSSR und der DDR weiterhin regelmäßig Filme mit diesem Erzähltypus gedreht. Besonders in der Brežnev-Ära werden viele Staatsmittel in Filme mit dieser Erzählart investiert, weil sich in dieser Periode – ausgehend von der Erfahrung des Stalinismus und des Tauwetters – ein kollektiver Konsens über die Vergangenheit
5.1 „Narration von oben“
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in der UdSSR herausbildet, der bis heute in Russland weiterwirkt. Erst als die Kultur auf eine bestimmte Zahl an ästhetischen Entwürfen zurückgreifen kann, wird die „Narration von oben“ zum zentralen sinnstiftenden Rahmen, der als Grundlage der offiziellen Erinnerungskultur dient. Der ewige Ruf, Offiziere [Офицеры] (UdSSR 1971, R. Vladimir Rogovoj), Der Vater eines Soldaten [Отец солдата] (UdSSR 1964, R. Rezo Chčeidze), und vor allem der großmaßstäbliche Fünfteiler Befreiung, dessen einzelne Teile auch im Westen in den Kinos liefen, sind Beispiele für die Restalinisierungsperiode, die in der UdSSR 1964 mit der Absetzung von Nikita Chruščev und in der DDR mit dem XI. Plenum des Zentralkomitees der SED vom 16. bis 18. Dezember 1965 beginnt. Dieses sogenannte ‚Kahlschlag-Plenum‘ führte eine drastische Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und vor allem kulturellen Atmosphäre der DDR herbei. Fast die gesamte Filmproduktion von 1965 wurde verboten. So kann Die Toten bleiben jung (DDR 1968, R. Joachim Kunert) aus dem Jahr 1968 symptomatisch gelesen werden: Der Film reaktualisiert den Narrationstypus der Nachkriegszeit, indem er trotz der breiten Kritik am Stalinismus in den 1960ern den Sozialismus als ungebrochen und als einzig wahre Ordnung darstellt. Die künstlerische Liberalisierungswelle übte dennoch eine Veränderung auf die Filmkunst aus, werden doch die in den 1960er Jahren entwickelten Kamera-, Schnitt- und Erzähltechniken weiterhin verwendet. So entsteht der DEFA-Film Lebende Ware (DDR 1966, R. Wolfgang Luderer) über die Verfolgung ungarischer Juden, die episch in Szene gesetzt wird. 1982 kommt Hotel Polan und seine Gäste (DDR, R. Horst Seemann), ein Fernsehdreiteiler über europäische Juden in der Periode von etwa 1900 bis 1941, ins Fernsehen. An diesem Film arbeiteten die DEFA-Künstler*innen seit Anfang der 1970er Jahre. Zur gleichen Zeit, etwa seit den 1970er Jahren, steigt mit der Verbreitung der Psychoanalyse in der Kulturreflexion und -produktion in der DDR und der BRD zudem das Interesse an den Tätern, deren Motivation in der „Narration von oben“ als Entwicklung zum Täter hin inszeniert wird: Aus einem deutschen Leben (BRD 1977, R. Theodor Kotulla) und Wengler & Söhne – eine Legende (DDR 1986, R. Rainer Simon) seien hier als Beispiele genannt. Aus einem deutschen Leben setzt sich mit dem Judenmord auseinander. Wengler & Söhne – eine Legende untersucht die Verknüpfung von Krieg und Kapital. Aber auch Opfer werden differenzierter dargestellt, geht es doch um die Judenverfolgung und -vernichtung, die aus der Perspektive der Opfer erzählt wird. In Analogie zur US-amerikanischen Miniserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin J. Chomsky) beschäftigt sich Die Bertinis – ebenfalls in fünf Teilen – mit der Geschichte einer italienisch-jüdischen Familie, die den Krieg überlebt. Die Aktualität dieser Narration heute zeugt vom Weiterleben bestimmter sowjetischer Erzählmuster in Russland und generell von der Kraft dieser Narration, 321
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5 Narrationstypologie
Identitäten zu begründen. Sowohl im Russland der Gegenwart als auch im heutigen Deutschland werden Filme in der Tradition der „Narration von oben“ produziert und damit wird sowohl das Bedürfnis nach einer sinnvollen Strukturierung der Geschichte und ihrer kausal-logischen Entwicklung, als auch der Wunsch nach einer Ermächtigung aktueller deutscher Subjektivität sichtbar. Aus dem Film Die Sonne, die uns täuscht [Утомленные солнцем] (RF 1994, R. Nikita Michalkov), der sich kritisch mit den stalinistischen Säuberungen vor dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt, wird 2010 und 2011 eine affirmative „Narration von oben“, indem der konservative, rechtsorientierte Regisseur Nikita Michalkov zwei weitere Teile dazu dreht, die während des Zweiten Weltkrieges spielen. Aus der Kritik am Stalinismus wird eine rechtsnationalistische und patriarchalische Idee von der Größe Russlands als Weltmacht, wobei sowjetische Strukturen der „Narration von oben“ nicht verlustfrei adaptiert werden können. Die Geschichte wird von der Peripherie aus erzählt, die das Machtzentrum neu definiert bzw. für sich beansprucht und somit auch sowjetische Erinnerungsmotive umcodiert. Auch die geschichtliche Kontinuität ist nicht ohne weiteres möglich. In diesem Zusammenhang wird das Besondere und Unbekannte und nicht wie sonst üblich das Allgemeine und Typische hervorgehoben. Das historische Geschehen wird zum Teil durch Rückgriffe rekonstruiert. Für das Deutschland der Gegenwart ist der Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter paradigmatisch, der umgekehrt bekannte Erzählstrategien und die davor entwickelten Motive zusammenführt (Abb. 9) und als Ergänzung eine begleitende Dokumentation mit Rezeptionshinweisen liefert. Das deutsche Publikum soll lernen, Figuren und Ereignisse als repräsentative Typen und Beispiele zu erkennen (was das sowjetische/russische Publikum beispielsweise bereits kann). Der
Abb. 9 UNSERE MÜTTER, UNSERE VÄTER (D 2013, R. Philipp Kadelbach)
5.2 „Narration von unten“
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Film versucht damit, den Rezeptionsdiskurs in der BRD zu beeinflussen, der bisher durch eine Ablehnung jeglicher Art der Ästhetisierung und Symbolisierung der Geschichte gekennzeichnet ist.
5.2
„Narration von unten“
5.2
„Narration von unten“
Unter diesem Narrationstypus sind solche Filme zusammengefasst, die die Historie als ein für die Hauptfigur traumatisches Ereignis präsentieren, welches in der Nachkriegszeit in Form von Flashbacks rekonstruiert wird. Der Begriff geht auf die Bezeichnung eines „Traums von unten“ von Sigmund Freud zurück, in dem Bestandteile des Unbewussten über Tagesreste prävalieren: „Träume von unten sind solche, die durch die Stärke eines unbewussten (verdrängten) Wunsches angeregt werden, der sich eine Vertretung in irgendwelchen Tagesresten verschafft hat. Sie entsprechen Einbrüchen des Verdrängten in das Wachleben.“ (Freud 1999b, S. 303) Die Einbrüche des Verdrängten müssen nicht unbedingt traumatisch wirken. Bei Freud geht es auch um den Bruch mit der Zensur und das Wiederkehren des verbotenen Begehrens, das die Traumdeutung schwieriger macht. Die „Narration von unten“ wird jedoch vorwiegend für die Darstellung eines Traumas verwendet. Dabei geht es nicht um eine psychologische oder psychoanalytische Deutung der Inhalte oder der inneren Welt von Regisseur*innen, sondern um eine Konstruktion, deren Form zum „Traum von unten“ strukturelle Analogien aufweist: Die individuelle, subjektive Perspektive der Figuren dominiert die offizielle Geschichtsdeutung, welche von der persönlichen Erfahrung abweicht. In Analogie zum Einbruch des Unbewussten bricht die Vergangenheit als ein traumatisches Erlebnis, als individuelle Erinnerung in die Gegenwart der Handlung, in die Nachkriegszeit, ein. In der Darstellung dominiert in der Regel eine psychologisierte Sichtweise, aus der die Historie entworfen wird. Die Nachkriegsgegenwart ist mit der traumatischen Kriegsvergangenheit verwoben bzw. durch Parallelmontage konstitutiv verbunden. Die Diegese weist daher Brüche – die Handlung springt zwischen den Zeiten – auf und macht somit die Geschichte als diskontinuierlich erfahrbar. Die „Narration von unten“ erscheint als Gegensatz zur „Narration von oben“, die Geschichte als kohärent und umfassend erzählt und dabei den staatlichen Vergangenheitskonsens über die Nennung wichtiger Personen, Orte und Ereignisse bestätigt. Filme, die sich durch eine „Narration von unten“ auszeichnen, zeigen hingegen die Vergangenheit als fragmentarisch: Sie bleibt, aus vielen einzelnen Mosaiksteinchen zusammengetragen, unvollständig; 323
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5 Narrationstypologie
die Darstellung betont dezidiert die Diskontinuität der Geschichte, zeigt also, dass keine historische Kohärenz mehr möglich ist.100 Die „Narration von unten“ ist zugleich aus einer sozialen Perspektive interpretierbar, indem individuelle Geschichten und persönliche Erlebnisse der einfachen, historisch unwichtigen und unbekannten Menschen inszeniert werden. Dieser Narrationstypus erteilt daher dem Großgeschichtsnarrativ eine Absage und damit auch einer kausal-logischen Entwicklung, einer allumfassenden Diegese, zahlreich vorkommenden Figuren, der Erklärung von Kriegsursachen, den großen Namen und manchmal auch bekannten Orten. Es werden keine großen Ereignisse gestaltet. Die Filme zeichnen individuelle Wege im Krieg nach. Ähnlich sieht dies Bernhard Groß: Die episodische Struktur ebenso wie der stilistische und generische Eklektizismus fördern die Entheroisierung der Figuren in den Nachkriegsfilmen und somit eine Re-Definition der Gemeinschaft (Groß 2015, S. 263 f.). Die Diegese differenziert sich in eine Binnen- und eine Rahmenhandlung, um Erinnerungen einer Figur zum Ausdruck zu bringen. Die Rahmenhandlung wird kurz nach dem Krieg verortet, wodurch ein Rückblick in die Vergangenheit gewährleistet wird. Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) spielt beispielsweise in Berlin direkt nach dem Krieg. Die Binnenhandlung, die mitten im Krieg irgendwo in Polen angesiedelt ist, findet in Form eines Flashbacks statt. In Film ohne Titel (1948, R. Rudolf Jugert) diskutieren die Filmemacher auf dem Lande über einen Film über die Vergangenheit, dessen Handlung erst in Berlin und dann an irgendeinem Ort auf dem Lande spielen wird. Zwischen gestern und morgen (1947, R. Harald Braun) rekonstruiert aus der Nachkriegszeit heraus einen tragischen Vorfall in der Vorkriegszeit in München, der den Judenmord im Krieg vorwegnimmt. In jenen Tagen (1947, R. Helmut Käutner) entwirft fragmentarisch den gesamten Krieg aus der Nachkriegszeit heraus, in der die Handlung startet. Die zahlreichen Binnengeschichten handeln von persönlichen Erlebnissen im Krieg, die Rahmenhandlung zeigt das zerstörte Hamburg nach dem Krieg. Eine solche Erzählweise führt in allen Filmen dieses Narrationstypus den Beginn der Geschichte mit ihrem Ende zusammen, das heißt, sie führt in die Trümmer einer deutschen Stadt, die den Zusammenbruch, ja das Ende der Historie und der Staatlichkeit bereits zu Anfang des NS-Regimes signalisieren. In DEFA-Produktionen wie Chronik eines Mordes (DDR 1965, R. Joachim Hasler) oder Die Bilder des Zeugen
100 Eine andere Interpretation von Diskontinuitäten im deutschen Nachkriegsfilmen liefert Bernhard Groß, indem er den Film Zwischen gestern und morgen (1947, R. Harald Braun), der mit US-amerikanischer Lizenz produziert wurde, als Zusammenführung verschiedener Genreelemente und Stile beschreibt, welche die Wahrnehmung bewusst machen und seine Historizität problematisieren (siehe Groß 2010).
5.2 „Narration von unten“
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Schattmann (DDR 1971/72, R. Kurt Jung-Alsen) entwickelt sich eine besondere Form des Flashbacks: eine Erinnerung in der Erinnerung, die das Traumatische und das Nicht-Artikulierbare als undeutlich gewordene Referenzen inszeniert. Die Handlung der „Narration von unten“ ist in der Regel um ein oder mehrere Ereignisse aufgebaut, die an die Biografie eines männlichen Protagonisten gebunden sind. Mehrere Filme dokumentieren den Kriegs- und Nachkriegsalltag einfacher Menschen aus der Unterschicht oder einem kleinbürgerlichen Milieu. Das Individuelle, wie etwa Liebe und Intimität in der Familie oder Ehe, wird in diesen Filmen aufgewertet und als Rettung, ja als letzter Zufluchtsort nach der großen Katastrophe angeboten. Die Filme dienen zugleich dazu, das Innere der Figuren aufzuzeichnen: Durch Psychologisierungsstrategien verwandeln sie das Außen in eine innere Landschaft. Die Trümmer der Stadt erscheinen daher auch als Trümmer im Inneren der Figuren (Abb. 10). Laut Martina Moeller entwickeln beispielsweise Ruinen und Trümmer in Nachkriegsfilmen durch ihren Bezug auf die deutsche Romantik eine allegorische Dimension und bringen so die Innerlichkeit der Figuren zum Ausdruck (Moeller 2013, S. 14). Diese Narration fungiert also als eine individuelle Konkretisierung der Geschichte, die die Gefühlswelt der Figuren vor dem historischen Hintergrund melodramatisch entfaltet.
Abb. 10 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte)
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5 Narrationstypologie
Die Zentrierung der Handlung um eine Figur betont den individuellen Charakter der Geschichte und stellt eine Art Übersetzung der globalen Historie in eine individuelle Biografie dar. So wird die Historie in Affekten und Symptomen ausgedrückt, ohne das Bild des globalen Ganzen zu eruieren. Wichtig ist dabei zu betonen, dass es in der Nachkriegszeit in Deutschland noch keinen kollektiven Konsens über die Vergangenheit gab. Daher ist das Ausmaß der Zerstörung unklar, die Täter- und Opfergruppen sind als solche noch nicht definiert und ausdifferenziert. Mit der „Narration von unten“ versuchen die Filmemacher*innen als erste überhaupt, ein Bild der Vergangenheit zu erschaffen – wie bruchstückhaft und punktuell auch immer dieses erscheinen mag. Während die in den Westzonen produzierten Trümmerfilme auf keine Tradition der Kriegsdarstellung zurückblicken können, arbeiten sich später erschienene sowjetische und ostdeutsche Filme mit dieser Narration an einem Vergangenheitskonsens ab. Die individuelle Perspektive öffnet die Sicht auf das in der offiziellen Kultur Vergessene; individuelle Erlebnisse machen deshalb Differenzen zur offiziellen Geschichtsdeutung sichtbar. Sowjetische und ostdeutsche Filme rekonstruieren im Flashback individuelle Erlebnisse des Krieges, allerdings spielt die Rahmenhandlung in einem größeren Zeitabstand zum Krieg als in den Trümmerfilmen. Das zweite Gleis (DDR 1962, R. Hans-Joachim Kunert), Die Bilder des Zeugen Schattmann und Vergiss deinen Namen nicht (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov) gestalten beispielsweise mit der „Narration von unten“ Erinnerungen an den Judenmord, der in den beiden Kulturen weniger Beachtung im kollektiven Gedächtnis fand (Abb. 11).
Abb. 11 CHRONIK EINES MORDES (DDR 1965, R. Joachim Hasler)
5.2 „Narration von unten“
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Die Werke, die der „Narration von unten“ folgen, behandeln zwei Aspekte. Zum einen geht es um eine Verarbeitung der bereits abgeschlossenen Vergangenheit. Die Handlung ist daher eine Rekonstruktion der Vergangenheit aus der Nachkriegszeit heraus. Zum anderen versuchen die Filme, die Vergangenheit in die Gegenwart zu integrieren. Sie wenden sich dabei an Heimkehrer*innen, Zeug*innen, Teilnehmer*innen und zum Teil an Opfer des Krieges, um sie mit all ihren Erfahrungen auf einen friedlichen und versöhnlichen Weg zu lenken. Die westdeutschen Filme stellen eine Art Buße für die Vergangenheit dar und begründen zugleich gegenwärtige und zukunftsorientierte Aufgaben aus der Lektion der Vergangenheit heraus. Vergangenheit und Gegenwart erscheinen hier konstitutiv ineinander verkeilt. Die Vergangenheit vergeht nicht, solange sie nicht rekonstruiert und somit gebüßt oder therapiert wird. In sowjetischen Filmen geht es in diesem Zusammenhang verstärkt um die Aushandlung adäquater Erinnerungspraxen, die sich mit zeitlichem Abstand herausbilden. Die (männlichen) Subjekte der westdeutschen „Narration von unten“ werden aus dieser zeitgenössischen Adressierung der Filme zu Beobachtern der Verbrechen. Sie waren dabei, dürfen jedoch selbst keine Verbrecher sein, denn dann könnten sie nicht als Identifikationsfiguren für das Publikum dienen und ihre Integration in die Nachkriegszeit wäre nicht länger möglich, da die Filme den Nationalsozialismus dezidiert verurteilen. Die Werke wollen keine Täteridentitäten (Keitz 2007) anbieten. Außerdem besteht ein Repräsentationsverbot nationalsozialistischer Symbolik und Kriegsverherrlichung (Pleyer 1965, S. 21). In Die Mörder sind unter uns ist die Hauptfigur ein Militärarzt, der im Krieg selbst nicht tötet. Der Film In jenen Tagen stellt ein Auto dar, das als reines und objektives Erinnerungsmedium fungiert. Es war überall dabei, ohne aktiv mitzuwirken. In Zwischen gestern und morgen steht im Zentrum der aus dem Exil zurückgekehrte Künstler, der sich so während des Krieges nicht schuldig machen konnte. Zugleich werden die Subjekte in der Handlung durch verschiedene Strategien entmachtet, um den Militarismus und die erhöhte Gewaltbereitschaft des Publikums nach dem Krieg zu bändigen. Die Erfahrung der Geschichte wird hier generell durch die Ohnmacht der Subjekte ausgedrückt, die auch bildlich oft in Szene gesetzt wird: Die Figuren werden zwischen den Ruinen in der Totale gezeigt, sodass sie inmitten der Trümmer der Großgeschichte besonders klein erscheinen und dadurch als unbedeutend markiert werden. Die Filme entwerfen damit eine neue Subjektkonstruktion im Privaten und koppeln die Männerfiguren von der Politik und der kollektiven, historischen Erfahrung zugunsten eines individualisierten Raums ab (Shandley 2010, S. 99; Becker und Schöll 1995, S. 53; Burghardt 1996, S. 244). Während in der „Narration von oben“ die Figuren entweder als Allegorien erscheinen oder im Laufe der Handlung zu solchen entwickelt werden, läuft hier eine Art Regression ab – eine Eliminierung 327
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5 Narrationstypologie
der symbolischen Kraft der Figuren, die auch bildlich unternommen wird. Totale und Halbtotale werden zunehmend zurückgenommen; die Handlung findet oft in einem geschlossenen kleinen, halbzerstörten Raum statt. Die Figuren werden am Anfang als typisierte Gestalten eingeführt, um sie von ideologisch-politischen Gestalten zu privaten, apolitischen Personen zu entwickeln, die weder staatlich noch symbolisch eine Rolle spielen. Mit ihnen bieten die Filme folgende Lösung an: Jedes Individuum muss sein eigenes Leben in Ordnung bringen und seine Arbeit gewissenhaft verrichten, dann wird auch die Gesellschaft geheilt werden. Gerade diese Erfahrung von Ohnmacht und Entmachtung als Narrationsprozess war ein Grund dafür, dass sich eine solche Narration in der UdSSR und der DDR kaum etablieren konnte. In der DDR wird diese Narrationsart im Nachhinein für das Schicksal verfolgter Juden angewandt, welche nicht die Erfahrung der ganzen Nation repräsentieren. Möglicherweise gewann der Fernsehmehrteiler Die Bilder des Zeugen Schattmann aus dem Jahr 1971/72 deswegen international im Vergleich zu dem später produzierten US-amerikanischen Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (1978), der die Historie kausal-logisch und allumfassend in Form der „Narration von oben“ zeigt, eine nicht so große Resonanz. Die Hauptund Identifikationsfiguren in den sowjetischen Filmen sterben in der Regel, als ob sie sich von diesen ‚schwachen‘ Subjekten distanzieren wollten. Die Erfahrung des Todes als erlebte Ohnmacht wird durch den Heroismus der Figuren und die intergenerationellen und kollektiven Erinnerungen überwunden, welche die Gefallenen im Gedächtnis für immer als lebendig konservieren. In Vergiss deinen Namen nicht wird die Ohnmacht hingegen durch eine weibliche Perspektive gerechtfertigt, die diese Erfahrung dann aufgrund des tradierten Bilderrepertoires als nicht mehr so skandalös erscheinen lässt. Die meisten Handlungsorte sind unmarkiert, wodurch eine Marginalisierung und De-Platzierung der Subjekte produziert wird. In der Nachkriegszeit kommt mit André Bazin und Siegfried Kracauer ein neues, nicht mehr an das Subjekt gebundenes Realismuskonzept auf, das auch an Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gekoppelt ist (Kappelhoff et al. 2010, S. 12). Die Ent-Ortung der Subjekte ist dementsprechend eine fundamentale Erfahrung dieser Filme. Die Protagonist*innen von In jenen Tagen und Auf den Wegen des Krieges [На дорогах войны] (UdSSR 1958, R. Lev Saakov) etwa sind immer unterwegs, was ihre Heimatlosigkeit signalisiert. In In jenen Tagen ist die Entwurzelung insofern grundlegend, als das Auto ständig die Besitzer*innen wechselt. Als der Protagonist in Zwischen gestern und morgen nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrt, wohnt er in einem halbruinierten Münchener Hotel; als in Die Mörder sind unter uns die ehemalige KZ-Inhaftierte Susanne Wallner wieder in ihre Heimatstadt Berlin kommt, ist ihre Wohnung durch einen ihr unbekannten Kriegsheimkehrer
5.2 „Narration von unten“
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besetzt. In Film ohne Titel wird die Zerstörung eines großbürgerlichen Hauses als Zeichen für die Zerstörung Deutschlands im Krieg gesetzt, wobei das Großbürgertum durchaus negativ dargestellt wird: Es übernimmt keine Verantwortung für den Krieg, engagiert sich nicht politisch und wohnt in einem schönen Schein, was den Nationalsozialismus überhaupt erst möglich macht. Die Figuren siedeln nach dem Krieg aufs Land über, wo sie als Fremde im eigenen Land in Analogie zu den gezeigten Flüchtlingen aus Schlesien gesetzt werden. Vergiss deinen Namen nicht handelt von der Verschleppung der Hauptfigur nach Auschwitz. Auch nach dem Krieg wird sie nicht mehr in ihre Heimatstadt zurückkehren. Darüber hinaus fehlt den Figuren aufgrund der fragmentarischen Filmstruktur die Macht der Traditionen, auf die sich die Subjekte der „Narration von oben“ stützen. Denn die deutschen Filme blenden Militärerfolge der Wehrmacht am Anfang des Krieges aus, um den Nationalsozialismus zu diskreditieren. Allerdings stellen sie das aufgezeigte Ereignis als nicht integrierbar in die Geschichte des ganzen Krieges dar. Das traumatisierende Erlebnis steht für sich und ermöglicht keine Deutung der Vergangenheit, solange die identifizierten Verbrecher nicht bestraft werden, was einzig den Beginn eines neuen Lebens ermöglicht. Die meisten Trümmerfilme wurden etwa in den 1960er Jahren im Rückblick als Verdrängung der NS-Vergangenheit abgewertet, die jedoch aufgrund des Bewältigungsdiskurses der Nachkriegszeit entsteht. Neue Studien zeigen hingegen die ästhetische Vielfalt und die politischen Potenziale des deutschen Nachkriegskinos auf (Kappelhoff et al. 2010). Die Filme bemühen sich, eine entsprechende Ausdrucksform für den Nationalsozialismus und den Krieg zu finden, um diese zu pathologisieren und zu diskreditieren. Mit diesem Vorhaben adressieren die Werke die Heimkehrer (sie sind in den Nachkriegsfilmen ebenso ausdrücklich Männer wie die Täter), die sie mit ihrer Narration entmachten, ihnen den Weg ins Private zuweisen. Die Filme sollen also einerseits das Erkennbare und Erlebte rekapitulieren, anderseits diese als Negativ umcodieren und Identifikationen mit den Ideen des Nationalsozialismus verunmöglichen. Diese Strategie kann als eine pädagogische Maßnahme verstanden werden, die die Alliierten mit dem Re-Education-Programm anstrebten und an deren Vermittlung fast alle Regisseur*innen arbeiteten. Festzuhalten ist darüber hinaus, dass die Erfahrung der Figuren nicht eins zu eins in die Realität zu übersetzen ist, vielmehr geht es um bestimmte Semantiken, die mit ihnen verhandelt werden. Es lässt sich behaupten, dass alle Figuren in der „Narration von unten“ an einer als männlich gedachten bürgerlichen Subjektivität arbeiten. So gehören die Täter ebenso wie die Beobachter und die Opfer zueinander – alle sind Teil einer bürgerlichen Subjektivität, in deren Reformulierung in Bezug auf die Ergebnisse des Krieges die Täter bestraft und von Subjektkonstruktionen abgespalten werden, während die Beobachter und Opfer als Medien für die Integration der Vergangenheit in die 329
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Gegenwart fungieren. Sowjetische Filme entwerfen oft umgekehrt die Perspektive der Nicht-Überlebenden, die in anderen Narrationstypen nur mit Nebenfiguren und daher am Rande (wenn überhaupt) eingenommen wird. Sowohl deutsche als auch sowjetische Filme sind gezwungen, die Subjektstrukturen zu spalten. Die deutschen Nachkriegswerke entwerfen eine passende nicht-nationalsozialistische Identität, die Filme führen deshalb mit der Spaltung performativ eine Absage an die Vergangenheit durch. Sowjetische Filme versuchen mit der Spaltung den Tod von Millionen Kriegsopfern zu überwinden, ohne deren Opfer dabei mit dem Topos kollektiver Unsterblichkeit zu überdecken. Wegen der Individualisierung der Geschichte gehen die größeren politischen Zusammenhänge des Krieges in dieser Narration verloren. Filme anonymisieren die NS-Machtstrukturen, was in der BRD später ebenfalls als Verdrängung interpretiert wurde. Diese Verdrängungslogik entsteht vor allem aufgrund filmspezifischer Erzählstrukturen: Zum einen rückt das Individuelle ins Zentrum der Handlung, zum anderen ist dieser Fokus zum Teil eine notwendige Maßnahme, schlägt sich doch die Erfahrung der zerstörten Nachkriegsgesellschaft in diesen Filmen nieder, in der soziale und politische Strukturen nicht mehr bestehen. Welche der (zum größten Teil nicht mehr bestehenden) Institutionen sollen denn zur Verantwortung gezogen werden? Die Werke mit diesem Narrationstypus stellen daher die Frage nach einer individuellen Verantwortung der Subjekte – ein Effekt des bürgerlichen Individualitätsdiskurses bzw. seines Repräsentationsrahmens und der politischen Bewältigungsstrategien der Nachkriegszeit, in der nach einer individuellen Verantwortung für die Kriegsverbrechen gefahndet und somit die Individualität in der Geschichte aufgewertet wird. Die Forderung nach einer individuellen Verantwortung steht in der Regel im Widerspruch zur Handlung der Trümmerfilme. Die Figuren werden in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt (Abb. 12) – die Filme manifestieren auf verschiedene Art und Weise ihre Unfähigkeit zu handeln (als Erfahrung der Niederlage) oder bändigen ihr Handlungsvermögen (als Verurteilung des Militarismus).101 Gerade diese unfähigen Subjekte sollen sich wiederum als handlungsfähige und verantwortungsvolle wahrnehmen, die nicht nur die Verantwortung für den Krieg übernehmen, sondern auch in der Nachkriegszeit handeln. Solche Paradoxien entstehen eventuell durch den Mangel an adäquaten
101 Paradigmatisch dafür steht die Änderung der Schlussszene in Die Mörder sind unter uns, die durch eine nachdrückliche Empfehlung des sowjetischen Kulturintendanten der SBZ verändert wurde. Staudte hatte eine Selbstjustizszene geplant, bei der die Hauptfigur den NS-Täter erschießt. Er korrigierte die Szene: Der NS-Täter geht ins Gefängnis und ermöglicht so einen neuen Anfang im Rahmen des Gesetzes.
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Abb. 12 DAS ZWEITE GLEIS (DDR 1962, R. Hans-Joachim Kunert)
Repräsentationsmitteln, die die kollektive Gewalterfahrung auf der einen Seite sowie den Appell zu individuellen Handlungen auf der anderen Seite erfassen könnten. Sowjetische und ostdeutsche Filme reichen die Handlungsmacht an Überlebende und vorwiegend an die nächste Generation weiter. Aufgrund der Integration der Vergangenheit in die Gegenwart bieten die westdeutschen Filme für einen neuen Anfang in der Nachkriegszeit eine Art Wiedergeburt an, die in der Regel mit universalistischen und anthropologischen Größen gestaltet wird: Liebe und Religion, die angeblich über Politik und Zerstörung stehen. Die Mörder sind unter uns sperrt den einen Täter ein und bewegt den anderen Täter dazu, am Wiederaufbau durch die Aufnahme eines Berufes aktiv teilzunehmen. Die Inhaftierung der Täter symbolisiert zugleich den Bruch mit dem Nationalsozialismus. Das versöhnliche Ende findet sich in der angedeuteten Ehe und der Weihnachtsfeier. In Film ohne Titel wird das Übersiedeln aufs Land als Rückkehr zu den als echt dargestellten Werten, zu den Wurzeln, zum Boden und letztendlich als Rückkehr zur Natur inszeniert, die das Subjekt durch die Nähe zum Volk und in der Ausübung physischer Arbeit heilt, selbst wenn es sich auch im Film durch Ambivalenzen (Fremdsein am Ort des eigenen Ursprungs) auszeichnet. Am Ende des Films heiratet das Paar und signalisiert somit die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung. Zwischen gestern und morgen erzählt ebenfalls eine Liebesgeschichte, die durch die Aufklärung eines Mordes möglich wird. Der Film In jenen Tagen referiert auf die Bibel und insbesondere auf die Geburt Christi. Eine Geflüchtete 331
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mit einem Kind und ein Kriegsdeserteur verlieben sich, wodurch symbolisch ein neuer Anfang versprochen wird (Abb. 13). Jeder der Filme weist darüber hinaus ein Stück der ersehnten Normalität zwischen den Trümmern im Bild auf; Beispiele sind die Hochzeit am Ende des Films, religiöse Symbole, das schöne Porzellan auf dem Tisch oder in Anzügen erscheinende Männer- und sorgfältig frisierte Frauenfiguren.
Abb. 13 IN JENEN TAGEN (1947, R. Helmut Käutner)
Auf diese Weise werden weibliche Figuren nicht nur im Dienste des Melodramatischen aufgewertet; sie ermöglichen den Männerfiguren als vermeintlich am Krieg Unbeteiligte einen neuen Anfang. Ganz traditionell repräsentieren sie die Zivilbevölkerung und/oder die Opfer des Krieges. So werden Frauen als handelnde Subjekte dargestellt, oder sie treiben die Männer zu Handlungen an. Zugleich sind die Filme höchst konservativ in ihrer Geschlechterpolitik. Die Frauenfiguren erscheinen einerseits als eindimensional, andererseits als auratisch – ‚rein‘ und unschuldig (Bruns et al. 2012) –, wodurch am Ende der Institution Ehe wieder Sinn verliehen und die Reintegration der männlichen Subjekte in die Gesellschaft ermöglicht wird. Zum Beispiel wird das Gesicht der Figur Wallner in Die Mörder sind unter uns, gespielt von Hildegard Knef, immer extrem beleuchtet, sodass es buchstäblich ‚strahlt‘ und somit ihre auratische Ausstrahlung inszeniert. Knef spielt eine Nebenfigur, die weder Brüche noch Zweifel aufweist, die keine Fragen
5.2 „Narration von unten“
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stellt, obwohl sie den Krieg in einem Konzentrationslager verbracht hat. Überdies verbringt sie viel Zeit zu Hause. Diese konservativen Bilder des Weiblichen sind durchaus als Reaktion auf die Krise der Männlichkeit zu verstehen, die durch die Niederlage im Krieg, die Überzahl der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die verbreitete Notprostitution bedingt ist. Zugleich fungieren die Frauen als Übergangsmedien zu einer erneuerten Gesellschaft. Am Ende raffen sich die männlichen Protagonisten mithilfe der weiblichen Figuren zu einem neuen Leben auf: Sie beginnen die Trümmer aufzuräumen, gründen Familien, kehren nach Hause zurück, nehmen ihre Berufe wieder auf oder üben neue Lebensweisen aus, wodurch sie als Vorbilder für das Publikum fungieren. Durch ihre Zurückweisung in den privaten Bereich werden sie semantisch verweiblicht, was der Strategie der Entmachtung entgegenkommt. Außerdem wenden sich die Filme dadurch gegen die NS-Kriegsfilme, die Männerbünde glorifizieren. Die Inszenierung individueller Erinnerungen ist dabei auf verschiedene Speichermedien angewiesen; es ist auffällig, dass alle Filme der „Narration von unten“ Medien, aber auch diverse Gegenstände als materielle Erinnerungsträger sichtbar machen bzw. in dieser Funktion verwenden. Zum einen macht die Inszenierung einer Erinnerung medienspezifische Filmverfahren sichtbar, wie die Abkoppelung des Tons vom Bild, überblendende Montagetypen oder eine achronologische Handlungsentwicklung. Zum anderen benötigen die Filme verschiedene Verbindungsobjekte, die es ermöglichen, die Handlung als Erinnerung zu inszenieren. So werden verschiedene Dinge zu Memorialobjekten, die wiederholt in der Handlung zurückkehren und deren disparate Teile zusammentragen. Memorialobjekte bündeln heterogene Ereignisse und verbinden die Figuren miteinander sowie die Vergangenheit mit der Gegenwart, denn die Dinge überleben den Krieg und stellen einen Anlass dar, sich daran zu erinnern: Erinnerung im Film ist daher immer medial und dinghaft. Die Mörder sind unter uns thematisiert alle Medien als Erinnerungsträger – Schrift in Tagebuch und Brief, Ton, Fotografie und den Film selbst, aber auch in einem parapsychologischen Sinne wie etwa im Medium des Hellsehers. In In jenen Tagen ist der Erinnerungsträger ein abgewracktes Auto, das individuelle Schicksale mit der großen Geschichte wie auch die dargestellten Binnengeschichten miteinander verbindet. In Zwischen gestern und morgen fungiert der Schmuck einer Jüdin als Memorialobjekt. In Vergiss deinen Namen nicht sind Fotografie, Film und Fernsehen Erinnerungsmedien (Abb. 14). Der Film zeigt sich somit als in der Lage, ganz unterschiedliche Objekte in Memorialobjekte zu verwandeln und sie mit neuen Semantiken aufzuladen, die über ihre eigentliche Bedeutung hinausgehen, um auf Ereignisse in der Vergangenheit zu verweisen. Sie werden zu Gegenständen mit neuen Bedeutungen, die mit dem ursprünglichen Gebrauch dieser Gegenstände nicht mehr übereinstimmen. 333
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Abb. 14 VERGIß DEINEN NAMEN NICHT (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov)
Die mediale (Selbst-)Reflexivität der Filme macht die mediale Konstruiertheit von Geschichte selbst sichtbar, deren (Re-)Konstruktion immer eine (kritische) Reflexion miteinbezieht. Filme positionieren sich in der Nachkriegszeit bereits über das ausgewählte Material. Die Mörder sind unter uns verurteilt mit dem Fokus auf ein Massaker an der Zivilbevölkerung die Verbrechen der Wehrmacht. Im Film In jenen Tagen werden verschiedene zerstörerische Aspekte des Krieges aufgedeckt. In Film ohne Titel sind es drei Filmemacher, die die Geschichte eines Liebespaares erzählen und währenddessen die ästhetische Umsetzung diskutieren. Diese Filmstruktur macht deutlich, dass und wie die Form der Kriegsgeschichte vom Genre abhängig ist, mit dem Historie dargestellt wird. Dabei geht es um eine Kritik am Bürgertum und den Wiederaufbau Deutschlands durch die Liebe. Zwischen gestern und morgen kritisiert den Antisemitismus, der im Krieg bis zur Vernichtung gesteigert wird. Die fragmentarische Konstruktion und die Zentrierung um eine Figur oder um einen Gegenstand haben dabei insofern einen traumatischen Charakter, als sie oft mit Tod, Mord, Trennung oder anderen unwiderruflichen Verlusterfahrungen assoziiert sind. Diese wollen wiederum durch den zirkulären Narrationsaufbau, der durch die Rahmenhandlung geschaffen wird, nicht vergehen, sie klingen nach und kehren in Gestalt von Gegenständen und Medien wiederholt zurück, wobei der traumatische Charakter durch die Struktur des Films unterstrichen wird.
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Gerade die Inszenierung eines Traumas ermöglicht es, die Vergangenheit mit der Gegenwart konstitutiv zu verbinden. In der Regel wird ein ethischer Appell entwickelt, den Krieg zu verurteilen und ihn in Zukunft zu vermeiden. Die Nachkriegsfilme entstehen dabei in einer Atmosphäre des beginnenden Kalten Krieges. Zugleich ermöglicht die Vergangenheit als Trauma die Ereignisse des Krieges und den Nationalsozialismus als pathologisch zu werten. In Die Mörder sind unter uns folgt die Diegese einer psychoanalytischen Therapie des Traumas, das nur dann geheilt werden kann, wenn es rekonstruiert und daraufhin verurteilt wird. Film ohne Titel ist der einzige der Filme, der kein sichtbares Trauma in Szene setzt. Aber auch hier geht es um Betrug, Gefangenschaft, den Verlust der früheren Lebensweise bzw. der Heimat. Auch die Abwesenheit des Titels installiert eine Leerstelle und signalisiert das Traumatische als Nicht-Benennbares. Zwischen gestern und morgen handelt vom Verlust der Heimat, einem Mord und von falschen Beschuldigungen, von denen man sich nur dann reinwaschen kann, wenn die Wahrheit rekonstruiert wird – wieder inszeniert der Film das Traumatische und erzielt einen therapeutischen Effekt. In Vergiss deinen Namen nicht wird das inszenierte Trauma nur dadurch geheilt, dass die Mutter ihren in Auschwitz verlorenen Sohn wiederfindet. Das Wiedersehen geht mit der bildlichen Herstellung der Vergangenheit einher. In der „Narration von unten“ ist mithin die Handlung durch eine Doppeltraumatisierung bestimmt. Zum einen steht im Zentrum der Handlung ein traumatisches Erlebnis. Die Aufdeckung dieses Ereignisses, dessen Heilung durch die Verurteilung des Nationalsozialismus und die Rückkehr zum ‚normalen‘ Leben machen den ganzen Plot aus. Die Mörder sind unter uns erzählt von einem Massaker an der Zivilbevölkerung durch die Wehrmacht in Polen; in Zwischen gestern und morgen und in Kirmes (BRD 1960, R. Wolfgang Staude) geht es um ein nicht aufgeklärtes Verbrechen in der Vergangenheit und in In jenen Tagen und Auf den Wegen des Krieges wird die Unmöglichkeit der Liebe in Zeiten des Nationalsozialismus und des Krieges inszeniert. Da aber die Geschichte als brüchig und diskontinuierlich dargestellt wird, installiert der westdeutsche Film zum anderen in der Tat das Trauma als Narrativ (und heilt es nicht), weil diese Narration bestimmte Abschnitte der Geschichte delegitimiert und somit der Nachkriegsgeneration keine kontinuierliche Biografie mehr ermöglicht (zum Verhältnis von Trauma, Psychoanalyse und Film siehe das Kapitel Trauma). Die „Narration von unten“ wird in der Folge kaum für die Darstellung der real stattfindenden Kriege verwendet, so traumatisierend ist ihre Wirkung. Eines der wenigen Beispiele ist die US-amerikanische Produktion Johnny got his gun (USA 1971, R. Dalton Trumbo). Diese Art der Geschichtsdarstellung wurde hauptsächlich in der Nachkriegszeit in Deutschland populär, die damit 335
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den Bruch mit dem Nationalsozialismus diskursivierte. So hatte sie in der BRD einen Einfluss auf weitere Kriegsrepräsentationen. Obwohl der konstitutive Film für die „Narration von unten“ von der gerade gegründeten DEFA produziert wurde, wird diese Darstellung in der DDR danach kaum verwendet. Die Mörder sind unter uns ist aufgrund noch fehlender politisch-ästhetischer Konventionen kein typischer DEFA-Film. Auch in der BRD wird diese Art der Narration schnell verschwinden, weil sie die Geschichte extrem ‚zerstückelt‘ und dadurch ohnmächtige, apolitische, ahistorische Subjekte produziert. Diese durch die „Narration von unten“ produzierte Ohnmacht der Subjekte ist eventuell auch dafür verantwortlich, dass die Figuren in den deutschen Kriegsfilmen der Gegenwart als Opfer inszeniert werden können, denn die aktuellen Produktionen greifen auf etablierte ästhetische Traditionen zurück. In der UdSSR und der DDR wurden nur einige wenige Produktionen dieses Narrationstypus geschaffen, die sich aus verschiedenen Gründen nicht als allgemein akzeptierte Darstellung des Krieges durchsetzen konnten. Zum einen konnten diese Werke mit der „Narration von oben“ – einer kontinuierlichen Geschichtsdarstellung mit historischen Machtsubjekten – nicht konkurrieren, ging es doch um eine Ermächtigung durch die kommunistische Idee; zum anderen gab es in der UdSSR keinen Innerlichkeitsdiskurs – oder zumindest nicht in der gleichen Form wie im westlichen Kino –, an dem sich diese Darstellung hätte abarbeiten können. Auf den Wegen des Krieges wirkt künstlich, ja oberflächlich und kann als gescheitert angesehen werden. Der Film hatte in der UdSSR symptomatisch keinen Erfolg und wurde schnell vergessen. In der DDR gibt es hingegen eine dezidierte Ablehnung dieses westlichen Innerlichkeitsdiskurses. Das zweite Gleis wurde aufgrund seiner Individualisierung der Geschichte kritisiert (Jelenski 1962). In den 1970er Jahren, nach der Tauwetter-Periode, in der auch die Entwicklung von Individualisierungsund Psychologisierungsstrategien durch die politische Atmosphäre gefördert wurde, werden dann die Filme mit einer „Narration von unten“ erfolgreicher bzw. qualitativ besser. Vergiss deinen Namen nicht und Der Krieg ist kein Abzählspiel [„Аты-баты, шли солдаты…“] (UdSSR 1977, R. Leonid Bykov) waren in der UdSSR ziemlich bekannt. Etwas früher erscheinen Chronik eines Mordes und daraufhin der DEFA-Vierteiler Die Bilder des Zeugen Schattmann über den Judenmord. Der DEFA-Vierteiler geht der US-Miniserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss voraus und liefert einige Motive für diese erfolgreiche Produktion. In den beiden Serien werden sowohl Opfer- als auch Täterperspektive beleuchtet und Schicksale verschiedener Menschen jüdischen Glaubens gezeigt, um den Genozid in seinen diversen Aspekten zu entlarven. Weitere Filme wurden jedoch nicht produziert.
5.3 Parabel
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Da diese Art der Narration medienreflexiv ist, wurde sie ferner oftmals für die Darstellung des filmspezifischen Erinnerungsvermögens und des individuellen Traumas verwendet, insofern dies nicht mit realhistorischen Kriegen oder generell mit realhistorischen Erfahrungen in Zusammenhang stand. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang zum Beispiel einige Filme von Alfred Hitchcock, David Lynch und Christopher Nolan.
5.3 Parabel 5.3 Parabel
Mit dem Begriff der Parabel wird in der Literaturwissenschaft eine dem Gleichnis ähnliche Subgattung bezeichnet, die das Erzählte in ein anderes Vorstellungssystem überträgt und daher mindestens zwei Ebenen enthält: ein unmittelbares Ereignis auf der Bildebene, das eine weitere allegorische Deutung auf der Sachebene entfaltet. Der Begriff der Allegorie stammt etymologisch aus dem Griechischen und bedeutet „anders als offen oder öffentlich sprechen (gr.: allos + agoreuein, ungefähr: anders als auf dem Markplatz, der Agora reden).“ (Kurz 1988, S. 31) Formen der allegorischen Erzählweise im Film werden hier als Parabel bezeichnet. Die „Parabel […] weitet […] das Gleichnis zu einer Erzählung mit selbstständiger Handlung aus, in der eine Wahrheit durch einen Vorgang aus einem anderen Vorstellungsbereich anschaulich gemacht wird.“ (Braak 2007, S. 207) Für den Krieg kann dies die Verortung der Handlung außerhalb des Krieges, in einem anderen historischen oder einem fantastischen Kontext bedeuten, wobei Sci-Fi-Szenarien in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg nur selten und vorwiegend im englischsprachigen Raum eingesetzt wurden (Rosenfeld 2005).102 Das Gleichnis zeichnet sich im Gegensatz dazu durch eine „Umsetzung des Abstrakten ins konkrete Bild“ (Braak 2007, S. 207) aus, ohne eine eigene Handlung zu entfalten. Die Parabel benötigt eine Handlung oder zumindest ein abgeschlossenes Erzählsegment, um ihre allegorische Bedeutung evozieren zu können (Kurz 1988, S. 33–34). In dieser wird dabei „die initiale Bedeutung“ als „eigenständige aufgebaut und in die allegorische aufgelöst, ohne indes ihre (relative) Eigenständigkeit ganz aufzugeben.“ (Ebd., S. 32) Gerhard Kurz nennt dies den Bedeutungssprung, der zur allegorischen Ebene führt: Die Sinnebenen verschmelzen nicht miteinander (ebd., S. 33). 102 Ein Beispiel wäre die Verfilmung des bekannten Romans Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug [Slaughterhouse-Five, or, The Children’s Crusade: A Duty-Dance with Death] (1969) von Kurt Vonnegut, die unter dem Titel Schlachthof 5 [Slaughterhouse-Five] (USA 1972, R. George Roy Hill) in die Kinos kam. 337
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5 Narrationstypologie
Die Entschlüsselung des Gleichnisses oder der Parabel ist in der Regel durch Analogieschlüsse möglich, wobei sich historisch eine Reihe unterschiedlicher Typen der Parabel ausgebildet hat – die Definition (siehe Billen 2007; Kurz 1988; S chneider 1970)103 fungiert hier mithin als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu filmischen Formen. Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Sinnebenen ist in der Parabel so komplex wie subtil,104 vor allem wird die zeitliche Beziehung hervorgehoben: Der allegorische Sinn ist erst nach der initialen Bedeutung rekonstruierbar, also nach dem Abschluss des Films, der im Rückblick zur allegorischen Deutung verleitet (Kurz 1998, S. 33). Auch die Erkennbarkeit der übertragenen Bedeutung setzt das allgemein bekannte Wissen voraus. In Anlehnung an Überlegungen von Quintilien bestimmt Kurz den Prätext als Grundlage allegorischer Bedeutung, worunter das Bekannte, das Gesagte und das Gewusste zu verstehen ist und worauf dann der konkrete Text anspielt und dadurch die allegorische Ebene produziert (ebd., S. 42). Paul de Man bestimmt in seinen Überlegungen über die Allegorie daher die Zeit als ihre konstitutive Kategorie in der allegorischen Sinnproduktion im Gegensatz zur räumlichen Kategorie der Synekdoche. Auch in der filmischen Parabel liegt die Handlung außerhalb des Krieges, wodurch die Zeit zwischen dem dargestellten historischen Kontext und dem Krieg selbst thematisiert und in der Rezeption überbrückt wird. Die Beziehung zwischen dem Filmkontext und dem Krieg ist in Analogie zur Allegorie (wie die Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung) instabil und nicht dogmatisch festgeschrieben (de Man 1993, S. 103). Mit kulturell-politischen Änderungen kann das notwendige Wissen in der Rezeption verloren gehen, sodass auch die zeitliche Dimension der Bedeutung sowie jede allegorische Mehrdeutigkeit verschwinden können. Generell lassen sich allegorische Momente in vielen Filmen finden. Vor allem sind sie in DEFA-Produktionen verbreitet, wo sie in der Regel jedoch nicht die ganze Narration dominieren, sondern nur in ausgewählten Szenen zum Einsatz kommen. Außerdem werden allegorische Momente hier unmittelbar im Krieg verortet. Beispielsweise stellt der Film In jenen Tagen mit seiner letzten Episode die biblische Parabel von der Geburt Christi dar, mit der ein neuer Sinn für den Wiederaufbau nach dem Krieg erschaffen werden soll. Diese Parabel unterstützt die dem gesamten Film innewohnende Suche nach Menschlichkeit, die am Ende durch die Referenzen auf die Bibel als universell-göttliche Größe inszeniert wird. Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer) spielt zum Beispiel mit den Szenen 103 Gerhard Kurz (1998) zeigt, dass auch Rätsel, Ironie und Anspielung eine allegorische Struktur aufweisen können. 104 Siehe dazu zum Beispiel auch die Analyse der politischen Parabel Möwen von Walter Benjamin durch Kurz (1998).
5.3 Parabel
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im Nazi-Ghetto auf die Überwachung durch Stasi und sozialistische Realien der DDR an. Mit dem Begriff Kriegsparabel wird im Folgenden nur der Narrationstypus erfasst, der den Krieg abstrahiert, indem an einem konkreten Vorfall außerhalb des Krieges komplexe politische, strukturelle und psychologische Zusammenhänge des Krieges oder eines seiner Aspekte durch die Entfaltung verschiedener semantischer Ebenen untersucht werden. Parabeln können sich mit ihrer Lehre auch direkt ans Publikum wenden. Ursprünglich wurde die Parabel als eine rhetorische Figur verwendet, bei der es um die Überzeugung und das Belehren des Publikums ging. Auch Bertolt Brecht aktualisiert mit seinen Parabeln und seiner Theatertheorie gerade die aufklärerisch-didaktische Funktion der Parabel (siehe Schöne 1958). Die meisten Kriegsparabeln verfahren dabei analytisch: Sie involvieren das Publikum in einen Reflexionsvorgang über historische Sachverhalte, indem ein Erkenntnisprozess durch verschiedene Strategien nachvollzogen wird. Die Parabel evoziert dabei weitere, nicht allein mit dem Krieg verbundene Bedeutungen, die einen kritisch-investigativen Blick auf den Krieg ermöglichen. Das bedingt die Abstrahierung des Krieges und seine Dekontextualisierung, die wiederum neue Reflexionsebenen und eine neue Bildlichkeit in Bezug auf den Krieg erzeugen. Die Parabel besitzt also eine epistemologische Natur; sie ermöglicht es, komplexe Zusammenhänge und vor allem die Täterschaft in der DDR und BRD zu analysieren, ohne jedoch eine Identifikation mit den Täter*innen herzustellen oder Täterschaft generell abzustreiten. Ganz im Gegenteil werden die Täterfiguren außerhalb des historischen Kontextes situiert und daher von herrschenden Kriegsbildern (aber nicht von anderen Stereotypen) befreit. Die filmische Parabel wird dem Ideal nach durch eine geschlossene Struktur charakterisiert und folgt einem Drei-Akt-Schema mit seiner klassischen Abfolge von Exposition, Entfaltung des Konflikts und Auflösung. Auf diese Weise bindet sie auch die Gründe und Folgen des Geschehens kausal aneinander. Die geschlossene Struktur ist notwendig, um einen analytischen Vorgang nachvollziehbar zu machen, denn die Parabel strebt nach einer Erkenntnis, die von einer strengen Kausalität und von der Art des Ausgangs abhängig ist. Im Zentrum stehen konkrete Fälle, die durch verschiedene Darstellungsstrategien so weit verallgemeinert werden, bis sie trotz ihres besonderen Ereignischarakters als exemplarisch und symptomatisch gelten können. Die Besonderheit des Ereignisses wird zur Diagnose des analysierten Sachverhaltes, und der inszenierte Fall bekommt dadurch Modellcharakter. Im Kontext der allgemeinen Verurteilung des NS-Staates werden in den DEFA- und einigen wenigen westdeutschen Parabeln daher Verbrechen in den Vordergrund gestellt, die das NS-Regime als kriminell und gesetzlos auszustellen ermöglichen. Dafür werden in der Regel Elemente 339
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5 Narrationstypologie
des Kriminalgenres und des Dramas eingesetzt, wobei nicht die Aufklärung des Verbrechens, sondern seine Deutung im Zentrum steht. Die Zuschauer*innen verfolgen das Geschehen im Rahmen einer auktorialen Erzählperspektive, wissen mehr als die einzelnen Figuren, kennen die Verbrecher (in der Regel Männerfiguren) oft von Anfang an und werden somit in einen analytischen Vorgang der Sinnherstellung hineingezogen (Abb. 15). Denn einen Mord als Verbrechen zu verurteilen ist in diesen Filmen nicht selbstverständlich, sondern ein Ergebnis von Kämpfen und der Aushandlung verschiedener Machtinteressen. Die Rekonstruktion eines Verbrechens bzw. seine sozialpolitische Diskursivierung erscheint zudem auch epistemologisch geeignet, einen analytischen Vorgang zu inszenieren. In den aktuellen russischen Parabeln variieren die Fälle stark nach Thema; sie sind in der Regel nicht mit einem Kriminalfall verbunden. Generell wird mit der Parabel die Änderung bestehender Kommemorationsinhalte und -ästhetiken angestrebt. Daher hat sie im Russland der Gegenwart eine besonders politische Bedeutung.
Abb. 15 BETROGEN BIS ZUM JÜNGSTEN TAG (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen)
5.3 Parabel
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Um den Plot verallgemeinern und abstrahieren zu können, werden keine realhistorischen oder zumindest erinnerungsrelevanten Daten und Orte genannt. Die Handlung verweilt jedoch an einem Ort und umfasst keinen konkreten Zeitraum; die Parabel zeichnet sich so durch eine zeitliche Reduktion und eine räumliche Einengung aus. So findet die Handlung in Das Beil von Wandsbek (DDR 1951, R. Falk Harnack) ungefähr in den 1930er Jahren in einem kleinen, historisch irrelevanten Ort bei Hamburg statt, der mittlerweile zu einem Stadtteil Hamburgs geworden ist. In Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) spielt die Geschichte irgendwo an der Grenze zwischen Russland und Deutschland kurz vor dem Angriff der Deutschen auf die UdSSR. In Die Russen kommen (DDR 1967/68, 1987, R. Heiner Carow) wird die Handlung an der Ostseeküste gegen Ende des Krieges, jedoch außerhalb des Kriegsgeschehens situiert. Schicksal aus zweiter Hand (BRD 1949, R. Wolfgang Staudte) zeigt die deutsche bürgerliche Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts, ohne explizite Datierung, an einem unbenannten Ort. Das Haus in der Karpfengasse (BRD 1963, R. Kurt Hoffmann) stellt Prag vor dem Krieg dar, fokussiert allerdings nur ein Haus mit einigen seiner Bewohner*innen. Fabrik der Offiziere (BRD 1960, R. Frank Wisbar) zeigt eine Schule für Offiziere irgendwo in Deutschland im Sommer 1944. Halbdunkel [Полумгла] (RF 2005, R. Artem Antonov) spielt in Sibirien an einem unbekannten Ort gegen Ende des Krieges. Die Filmparabel arbeitet mit wenigen Figuren, welche sowohl psychologisiert als auch typisiert werden, wodurch sie sich von der literarischen Parabel radikal unterscheidet, welche in der Regel nicht psychologisch verfährt. Billen begründet dies mit dem desillusionistischen Charakter des parabolischen Erzählens (Billen 2007, S. 291). Der Film baut jedoch Identifikationsstrukturen auf, die unter anderem über die psychologische Darbietung der Figuren funktionieren. Außerdem ermöglicht es der Fokus auf einen bestimmten Vorfall, diesen ausführlich zu entwickeln, während literarische Parabeln in ihrem Umfang sehr kurz sein können. Trotz der psychologischen Ausarbeitung des Konfliktes, der Situierung der Handlung in einem eingeengten Raum und des Mangels an Massenszenen werden die Figuren durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen politischen Ideen, Schichten, Klassen und Nationen, durch die Verallgemeinerung von Ort und Zeit und durch ihren Bezug zum Krieg, der die Handlungen in einen globalen Kontext stellt, allegorisiert. Affäre Blum (DEFA 1948, R. Erich Engel) zeichnet beispielsweise durch seine Figuren die politische Heterogenität der Weimarer Republik; durch eine ungerechte Verhaftung eines Juden werden dabei die gesellschaftlichen Voraussetzungen des künftigen Judenmordes analysiert. In Erster Verlust (DEFA 1990, R. Maxim Dessau) werden deutsche Bäuerinnen und sowjetische Kriegsgefangene zu Allegorien ihrer jeweiligen Länder. Da es um einen Kriegsgefangenen geht, wird der 341
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5 Narrationstypologie
Krieg unmittelbar als Bezugsrahmen deutlich. In Schicksal aus zweiter Hand geht es um klassenspezifische Differenzen, die am Beispiel einer Mesalliance ausgehandelt werden. Der Film bezieht sich vor allem durch den Hauptdarsteller, der zuvor in Die Mörder sind unter uns in der Hauptrolle einen Heimkehrer spielte, auf den Krieg (Abb. 16). Das Haus in der Karpfengasse zeigt verschiedene Aspekte des Krieges – die ‚Verführung‘ Deutschlands zum Krieg, die Ermordung der Juden und den Widerstand gegen die Nazis –, ohne dass die Handlung im Krieg angesiedelt wäre.
Abb. 16 SCHICKSAL AUS ZWEITER HAND (BRD 1949, R. Wolfgang Staudte)
Darüber hinaus erzeugt die Parabel grundsätzlich mehrere Sinnebenen, was eine Bedingung ihrer Rezeption darstellt. Die unmittelbare semantische Ebene stellt oft einen individuellen, psychologischen Konflikt um ein Verbrechen herum dar, das zwar vom historischen Kontext nicht ganz abgekoppelt ist, jedoch universell anmutet. Es geht in der Regel um Liebe, Gewissen, Moral, Zwiespältigkeit, Traumata, Entscheidungswillen, Verletzbarkeiten und Widersprüchlichkeiten, die sowohl als allgemeingültige anthropologische Größen als auch in Bezug auf die konkrete historische Situation verhandelt werden können. Die als überzeitlich präsentierten ethischen Fragen und die Hervorhebung anthropologischer Eigenschaften ermöglichen ebenfalls eine Verallgemeinerung des dargestellten Falls zu einem
5.3 Parabel
343
symptomatisch-diagnostischen Modellfall. Die übertragene, allegorische Ebene ist mit der ersten Sinnebene unmittelbar verbunden – durch mögliche Verweise auf den Krieg wie dessen Erwähnung, visuelle Symbole oder auf den Krieg bezogene Figuren usw. – und kommt mit dem Abschluss der Handlung zur Geltung. Der Film kann aber oft erst retrospektiv als Parabel gelesen werden, denn die Auflösung betont in der Regel den Bezug zum Krieg und die analytische Pointe. Diese parabolische Bedeutung erhält dabei einen gesetzmäßigen Charakter, der den spezifischen Vorfall eigentlich verursacht, welcher umgekehrt Aussagen über den globalen historischen Kontext trifft und somit auf strukturelle Zusammenhänge der behandelten Phänomene hinweist. Germania, Anno Zero (I 1946, R. Roberto Rosselini) bietet am Beispiel eines tragischen Vatermordes auf der unmittelbaren Ebene eine sozial-psychologische Tragödie der Nachkriegsgeneration und auf der übertragenen Ebene einen Erklärungsversuch für die Funktionsweise der NS-Diktatur an, die die Nachkriegsgeneration weiter beherrscht. Es geht um eine paradoxe Erfüllung des Todeswunsches der gesamten deutschen Nation, wenn ein Junge seinen kranken Vater aus Liebe vergiftet (er denkt, ihm wird es so besser gehen) und daraufhin sich selbst umbringt – eine Metapher auf die Treue zum Führer und das Streben nach dem Tod, und eine Zitation des Topos der Selbstaufopferung des Militärs im NS-Regime (Friedländer 1982). In Das Beil von Wandsbek ist der Henker ein SA-Mitglied, während seine Opfer Kommunisten und Juden sind, was die Hinrichtung zu einem politischen Fall macht, der die NS-Vernichtungsideologie freilegt. Eine der Geschichten in Das Haus in der Karpfengasse stellt ein Liebesdreieck dar, bei dem eine bürgerliche Ehe durch einen Wehrmachtsoffizier zugrunde geht. Mit diesem persönlichen Drama wird die Faszination am Nationalsozialismus erklärt: ökonomische Vorteile, Verführung und Wahnsinn. Der Liebhaber, der Wehrmachtsoffizier, ist im Zivilleben Besitzer einer Brauerei in Pilsen, der seine Geschäfte nach Osten erweitern möchte. Die Bevölkerung lässt sich von der Expansionsidee verführen: Die Ehefrau repräsentiert in tradierten Bildern die Zivilbevölkerung, die der Faszination der Nazi-Ideen (sexuell) unterliegt. Das Bildungsbürgertum, verkörpert durch den Ehemann, einen Verkäufer in einer Buchhandlung, wird wahnsinnig: Er zieht seine Uniform aus dem Ersten Weltkrieg an und marschiert durch die Stadt. Das Bürgertum, so die implizite Erklärungsfigur, hat am Krieg nur aus einem vorübergehenden Wahnsinn heraus teilgenommen, wobei der Erste Weltkrieg nicht nur bereits die militaristische Gesinnung dieser Schicht vorbereitet, sondern auch Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges vorweggenommen hatte. Der Film Fabrik der Offiziere zeigt am Beispiel eines Mordes und seiner Aufklärung die Funktionsweise des NS-Staates und das Eindringen der NS-Ideologie in die Wehrmacht. 343
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5 Narrationstypologie
Zum im Zentrum der Handlung stehenden Vorfall positioniert sich die Parabel durch den Aufbau von Empathie mit den Figuren oder durch offene Abneigung ihnen gegenüber. Affäre Blum verurteilt durch die falsche Beschuldigung eines Juden den Antisemitismus (Abb. 17). In Das Beil von Wandsbek wird der Henker unausgesprochen durch die Gemeinschaft verurteilt – niemand kauft mehr bei ihm ein, und so geht sein Geschäft zugrunde. Das Verhalten der Gemeinschaft wird als Vorbild für das Publikum inszeniert, es soll die Rezeption modellieren, damit auch die Zuschauer*innen den Henker verurteilen. Außerdem werden dem Publikum die Opfer nähergebracht: Auf diese Weise wird die Ablehnung der Hinrichtung gefördert. In Die Russen kommen und Das Haus in der Karpfengasse werden die Protagonisten wahnsinnig, der gesunde Menschenverstand kann die NS-Ideologie auch hier nicht aushalten.
Abb. 17 AFFÄRE BLUM (DEFA 1948, R. Erich Engel)
Die filmischen Parabeln sind dabei auf das aktuelle Wissen des Publikums angewiesen.105 Die Werke versuchen dieses durch verschiedene Strategien zu aktivieren, 105 Eine der wichtigsten Unterscheidungen zwischen der Allegorie und der Parabel wird in der Literaturwissenschaft mit Jülicher dadurch gezogen, dass für die Entschlüsselung der Allegorie Vorwissen notwendig ist, für die Parabel hingegen nicht. Denn sie entwickelt
5.3 Parabel
345
ohne es dabei explizit zu benennen. Der Fall ist nicht identisch mit dem Thema (de Man 1993, S. 103), und so stellt eines der wichtigsten Verfahren zur Produktion der übertragenen Bedeutung die kontextuelle oder visuelle Analogieherstellung dar, die auf das angespielte Phänomen durch den Einsatz bestimmter Figuren, verschiedener Symbole oder eines entsprechenden Szenenarrangements und mithin durch strukturelle oder ästhetische Ähnlichkeiten verweist.106 Diese Elemente fungieren dabei als Scharniere (Kurz 1988, S. 32), an denen verschiedene zeitliche Ebenen zusammenlaufen und ein mehrdeutiges Verständnis ermöglichen. Die Handlung kann beispielsweise in der Nähe von Kriegsschauplätzen situiert werden, um Analogien über räumliche oder zeitliche Referenzen auf den Krieg herzustellen, ohne jedoch den Krieg unmittelbar zu zeigen oder auf einen konkreten Kriegsschauplatz zu verweisen. So können die Filme etwa an der Peripherie des Krieges oder an der Heimatfront sowie vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg spielen, wobei in einigen Filmen der im Zentrum stehende Vorfall direkt in den Krieg übergeht. Germania, Anno Zero zeigt beispielsweise die Nachkriegszeit. In Betrogen bis zum jüngsten Tag wird die Handlung vor dem Krieg situiert und geht gegen Ende in den Krieg über. Das Haus in der Karpfengasse spielt in Prag kurz vor dem Ausbruch des Krieges. Die Handlung von Erster Verlust findet an der Heimatfront statt. Im gegenwärtigen Russland wird die Handlung hingegen umgekehrt gestaltet: Die Parabel fängt für gewöhnlich mit dem Kriegsgeschehen an, verlässt jedoch bald den Kriegsschauplatz und setzt sich an semantisch leeren und ästhetisch weitgehend traditionslosen Orten mit den Folgen des Krieges, die bis in die Gegenwart reichen, auseinander. In Heldenkampf in Stalingrad [Cвои] (RF 2004, R. Dmitrij Meschiev) nimmt die Darstellung des Krieges genau zehn Minuten ein, bevor die Protagonisten zunächst in Gefangenschaft geraten, um dieser dann zu entfliehen. Das historische oder aktuelle politische Wissen ist also bei der Rezeption der Parabel bzw. ihrer Entschlüsselung unabdingbar. Allegorische Bedeutung wird erst in der Rezeption hergestellt, während beispielsweise die „Narration von oben“ den Eindruck erweckt, als ob sie dieses historische Wissen in seiner Mannigfaltigkeit wahrheitsgetreu, objektiv und vollständig rekonstruiert habe. Dem Publikum wird das angeblich fertige und vollkommene Bild der Geschichte präsentiert. In diesem Zusammenhang werden Gegenstände in der Diegese stark symbolisiert. Während bzw. veranschaulicht in der Handlung selbst ihre Aussage. Für die Entschlüsselung einer filmischen Parabel brauchen die Rezipient*innen allerdings immer ein Vorwissen, auf das der Film selbst hinweist, ohne es explizit zu benennen (Jülicher 1976, S. 76). 106 Die Allegorie bezeichnet „in erster Linie eine Distanz in Bezug auf ihren eigenen Ursprung, und indem sie dem Wunsch und der Sehnsucht nach dem Identitätswerden entsagt, richtet sie sich als Sprachform in der Leere dieser zeitlichen Differenz ein.“ (de Man 1993, S, 104) 345
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5 Narrationstypologie
die „Narration von oben“ wegen der starken Komprimierung vieler Informationen selbst neue Symbole produziert, wodurch große Kontexte auf einfache Bilder reduziert werden, verhält es sich bei der Parabel gerade umgekehrt: Aufgrund ihres engen semantischen Kontexts braucht sie Symbole, um diesen zu erweitern und mit Doppel- oder Mehrfachbezügen zu versehen. Hier verweisen die Symbole auf größere Kontexte außerhalb der filmischen Handlung. Deswegen werden in der Parabel diejenigen Gegenstände als Symbole gewählt, die einen exemplarischen, ja leicht erkennbaren Charakter besitzen, während die „Narration von oben“ eher dazu neigt, eigene Symbole zu generieren. Die Aktivierung des aktuellen Wissens markiert oft (gewollt oder ungewollt) die Zeit der Filmproduktion und verhandelt aktuelle politische Diskurse, was die nächste semantische Ebene darstellt, wobei diese Referenz auf die Gegenwart nicht allein für die Parabel typisch ist. Kein Film kann dem sozialen Kontext, in dem er geschaffen wird, vollständig entkommen. Allerdings ist die Parabel stärker auf die Gegenwart bezogen, weil die Handlung außerhalb des Krieges oder manchmal gar unmittelbar in der Gegenwart des Publikums situiert wird. Außerdem analysiert die Parabel häufig direkt die Kriegsfolgen und bezieht sich damit unmittelbar auf die Ergebnisse des Krieges und ihre gegenwärtige Deutung. Im Rahmen anderer Narrationstypen werden aktuelle Diskurse durch historische Kulissen eher verdeckt und können erst durch eine dekonstruktivistische Lesart eruiert werden. In der Parabel ist hingegen der Bezug zur Gegenwart entscheidend für ihre Mehrfachcodierung bzw. für die Erkennbarkeit ihrer allegorischen Bedeutungen. Die Kriegsparabeln werden daher oft als „Zeitfilme“107 bezeichnet, weil sie in ihrer Analyse der Vergangenheit zugleich die Gegenwart mitreflektieren. In der Aktivierung des aktuellen Wissens besteht dabei jedoch auch ein Nachteil der Parabel. Zum einen müssen ihre Referenzzeichen offensichtlich genug sein, um das entsprechende Wissen aktivieren zu können. Schicksal aus zweiter Hand verfügt beispielsweise nur über indirekte Hinweise auf den Krieg, mithilfe derer die Geschichte des Films als eine Analyse zur Genese des Faschismus verstanden werden kann. Aber diese übertragene Bedeutung wurde in den meisten Rezensionen nicht angesprochen bzw. nicht erkannt. Zum anderen kann das benötigte Wissen wegen des Generationswechsels oder politischen Wandels veralten oder verschwinden, sodass die spätere Rezeption bestimmte Sinnebenen nicht mehr rekonstruieren kann. Daraus kann abgeleitet werden, welches Wissen bestimmte politische Änderungen nicht überstanden hat. 107 Zum Beispiel wird Affäre Blum in einigen Rezensionen als Zeitfilm beschrieben. „[…] hier ist jene Zeitoptik erreicht, wo die Linse scharf zu fassen beginnt, jene Distanz also, aus der heraus die Vergangenheit unverzerrt und sicher erfaßt wird. Denn dieser ist ja ein Zeitfilm […].“ (W. Lg. 1948)
5.3 Parabel
347
Affäre Blum rekurriert auf das Wissen über den Judenmord, somit ist der Film auch heute noch als Parabel lesbar, weil die Aufarbeitung der Shoah bis heute andauert und zum historischen Allgemeinwissen geworden ist. Allerdings ist die ebenfalls implizierte Kritik an den Gerichtsprozessen gegen die Nazis in verschiedenen Besatzungszonen Deutschlands nicht mehr so einfach verständlich. Betrogen bis zum jüngsten Tag erfordert ebenfalls teilweise die Rekapitulation historischen Wissens, das für die heutige Rezeption nicht mehr zugänglich ist. Der Bezug zum Krieg ist unmittelbar gegeben, aber die unterschwellig formulierte Kritik an der westlichen Remilitarisierung und die Verhandlung sowjetischer Erinnerungsdiskurse wird nur über die Untersuchung der damaligen Rezeption und durch den Vergleich mit der sowjetischen Vergangenheitsaufarbeitung jener Zeit rekapitulierbar. Eine Kritik an der Remilitarisierung der BRD formuliert auch Fabrik der Offiziere, indem hier die Figuren, die sich der Macht der Gestapo widersetzen, zugleich das aktuelle Publikum mit dem neuen idealen Bild des Offiziers ansprechen: Er soll nach seinem Gewissen handeln und sich dem verbrecherischen Befehl widersetzen – ein in den Filmen der 1950er Jahre verbreiteter Appell, der lange Zeit das Bild des ‚Staatsbürgers in Uniform‘ geprägt hat (Hickethier 2006). Die Parabel wird bevorzugt in der jungen DDR eingesetzt, findet aber auch in anderen Ländern prominente Ausarbeitungen. Eine der früheren erfolgreichen Parabeln stellt das Werk Germania, Anno Zero des italienischen Regisseurs Roberto Rossellini dar. Dieser Film untersucht ähnlich den frühen DEFA-Parabeln – Affäre Blum, Das Beil von Wandsbek, Betrogen bis zum Jüngsten Tag, Sie nannten ihn Amigo (DDR 1959, R. Heiner Carow) und Der Fall Gleiwitz (DDR 1961, R. Gerhard Klein) – die Ursachen des Zweiten Weltkrieges. In der späten DDR beschäftigen sich Parabeln wie Die Russen kommen, Mama, ich lebe (DDR 1976, R. Konrad Wolf), Die Verlobte (DDR 1980, R. Günter Reisch/Günther Rücker), Der Aufenthalt (DDR 1983, R. Frank Beyer) und Erster Verlust hingegen eher mit den Folgen des Krieges und somit auch mit der Frage nach den kollektiven Erinnerungen. So setzt sich beispielsweise Die Russen kommen unmittelbar mit dem Thema der Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinander, auf der übertragenen Ebene geht es aber auch um die moralische und zugleich traumatisierende Präsenz der Russen in der DDR. Der Gefängnisaufenthalt der Protagonistin in Die Verlobte wird mit der politisch-historischen Entwicklung im Zweiten Weltkrieg parallelisiert: Sie wird zeitgleich mit dem Angriff auf die UdSSR schwer krank und kommt erst nach der Schlacht um Stalingrad wieder zu sich, also als die Front sich wieder Richtung Westen bewegt. So kann sie als Allegorie Deutschlands verstanden werden, das gleichsam vom NS-Regime verhaftet wird. Die Haftmetapher kann sich aber auch auf die Gegenwart der DDR beziehen, die gegenüber dem Westen einen geschlossenen Staat darstellt. Die russischen Parabeln verhandeln oft 347
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5 Narrationstypologie
aktuelle staatliche Diskurse. Im russischen Film Heldenkampf in Stalingrad verstecken sich die der deutschen Kriegsgefangenschaft entflohenen Protagonisten in einem Schuppen in einem russischen Dorf. Auf der unmittelbaren Ebene geht es um die Psychogenese der Menschen in bestimmten Ausnahmesituationen, auf der übertragenen um Machtbeziehungen und ethnische Konflikte innerhalb des heutigen Russlands, die über die Beziehungen zwischen den geflohenen Soldaten und der Dorfgemeinschaft in Szene gesetzt werden. Die Entstehung der Parabel in der DDR ist einerseits durch eine schwierige Bewältigungssituation unter der sowjetischen Besatzungsmacht, die in ein weiteres diktatorisches Regime108 übergeht, und andererseits durch die Zusammenführung zumindest zweier verschiedener ästhetischer und politischer Traditionen – des deutschen Films und der sowjetisch-sozialistischen Ideologie mit der später verbindlich gewordenen Ästhetik des Sozialistischen Realismus – bedingt. Wolfgang Mühl-Benninghaus sieht in der melodramatischen und am Krimi orientierten Gestaltung der ersten DEFA-Filme eine Fortführung der filmischen Tradition von vor 1945 (Mühl-Benninghaus 1993, S. 219). Die Filmschaffenden, die zu Beginn des DEFA-Films tätig waren, waren selbst kaum mit der sowjetisch-proletarischen Kunst vertraut (Kersten 1977, S. 8).109 Zur Zeit der Gründung der DEFA im Jahr 1946, welche durch die sowjetische Militäradministration eingeleitet und kontrolliert wurde, zielten die ideologischen Richtlinien auf die (Um-)Erziehung der Massen unter der Verwaltung der KPD und die Widerspiegelung realer Lebensverhältnisse im Film (Mühl-Benninghaus 1993, S. 219), wodurch der Bezug zur Ästhetik des Sozialistischen Realismus hergestellt wurde. Als künstlerische Methode wurde er zwar erst 1952 verbindlich, regulierte jedoch durch didaktische und ästhetische Anforderungen der sowjetischen Militäradministration in der SBZ von Anfang an die DEFA-Filmproduktion. Aus dem geschilderten politisch-ästhetischen Anspruch heraus erwuchs das Bedürfnis nach einer verschlüsselten und symbolträchtigen Darstellungsweise, die den Kriegsrealismus, sprich die NS-Vergangenheit, abstrahierte, diese aber zugleich durch die Übertragung in einen Vor- oder Nachkriegskontext kritisier- bzw. untersuchbar machte. So wurde die Parabel neben der „Narration 108 Auch wenn die DDR eine „Konsensdiktatur“ war, waren die Zensurmechanismen wirksam und vor allem die SED besaß die Deutungshoheit (Sabrow 1999, S. 96). 109 Von den Mitgliedern des ersten Filmaktivs waren die drei Filmschaffenden Hans Klering (der Filmreferent der Zentralverwaltung), der Schauspieler Adolf Fischer und der Filmarchitekt Carl Haacker mit der proletarischen Kulturtradition vertraut, wobei Haacker Ende 1945 tödlich verunglückte. Weitere Mitglieder, der Filmarchitekt Willy Schiller, der ehemalige Oberbeleuchter der UFA Alfred Lindemann und der Fotochemiker und Kameramann Dr. Kurt Maetzig, später einer der bedeutendsten Regisseur*innen der DEFA, mussten sich neue Ästhetikformen aneignen.
5.3 Parabel
349
von oben“ zum typischen DDR-Erzählrahmen für die Darstellung der Historie. Denn in der DDR breitete sich in der politischen Öffentlichkeit und in anderen Künsten eine Sprache der Mehrdeutigkeit aus, die das sogenannte Lesen „zwischen den Zeilen“ erforderte (Wiesner 1993; Barnert 2008). Aus diesem Grund ist auch der Einfluss der Theatertheorie von Bertolt Brecht auf die Entstehung der Kriegsparabel denkbar, der mit seinen parabolischen Lehrstücken einen großen Erfolg beim DDR-Publikum gerade deswegen verbuchte, weil sie Mehrdeutigkeit erzeugten und am realen Sozialismus Kritik ausübten. Die Abstrahierung der unmittelbaren Sachverhalte bzw. deren Übertragung in ein anderes Vorstellungssystem ermöglichte den Filmemacher*innen geltende politische Ideologeme zu kritisieren, ohne diese explizit zu benennen. Diese filmische Ausdrucksweise wurde allerdings vor allem in der Frühphase der DDR nicht immer akzeptiert. Das Beil von Wandsbek (1951), der in der Zeit des verschärften Stalinismus produziert wurde, musste erst überarbeitet werden – zum Beispiel wurden nachträglich Szenen hinzugefügt, welche die Verurteilten im Gefängnis zeigen. Das Werk wurde aufgrund einer Kontroverse um die Täter-Figur dennoch verboten, und Falk Harnack siedelte in die BRD über (Poss und Warnecke 2006, S. 79). Möglicherweise trugen die neuen künstlerischen Freiheiten und die Entschärfung der Zensur in der Tauwetter-Periode dazu bei, die Parabel in der DDR zu etablieren. Die Parabel ist auch als ästhetisches Phänomen von Interesse. Sie weist auf die Grenze der Darstellbarkeit bestimmter Themen hin, die sie zu überschreiten ermöglicht, und macht einen Umgang mit wichtigen politischen Sachverhalten dadurch möglich, dass sie die schweren Themen in einem neuen Kontext verhandelt, der durch die NS-Verbrechen nicht kontaminiert ist. Die Filmemacher*innen verfügen damit über eine größere gestalterische Freiheit. Zugleich vermeiden sie die tradierten Darstellungsformen der NS-Zeit – im Gegensatz zu anderen Kriegsfilmen, die vor allem für solche ästhetischen Kontinuitäten in die Kritik gerieten. Auch in der BRD gab es Versuche, die parabolische Darstellungsweise zu etablieren. Diese bürgerte sich jedoch nicht ein, und die entsprechenden Werke sind heutzutage nahezu vergessen. Ästhetisch durchaus gelungene Parabeln wie Schicksal aus zweiter Hand, Der Verlorene (BRD 1951, R. Peter Lorre) und Das Haus in der Karpfengasse konnten keine große Popularität erringen. Der Film von Kurt Hoffmann wurde von den Zeitgenoss*innen (zu Unrecht) sehr kritisch gesehen. Offensichtlich fand die Aufarbeitung in der BRD unter einem regelrechten Realismusdiktat ihren Ausdruck, was sowohl Produktion als auch Rezeption stark beeinflusste. Im Rahmen des Strebens nach der historischen ‚Wahrheit‘ wurde dem Kriegsfilm oft jede künstlerische Ausdrucksfreiheit abgesprochen. Zugleich hatte das Publikum kein Bedürfnis nach einer verschlüsselten, mehrdeutigen Darstellung, wie die Rezeption der genannten Werke deutlich belegt. Die westliche Ideologie 349
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5 Narrationstypologie
funktioniert nicht über unmittelbare Verbote und die Zensur der Filme, sondern suggeriert künstlerische Freiheit, die allerdings durch konkrete ästhetische Urteile und Aufforderungen wie jene, ein ‚Abbild‘ historischer ‚Wahrheit‘ schaffen zu müssen, eingeschränkt und gesteuert wird. Der westdeutsche Erinnerungsdiskurs steht dabei unter dem Generalverdacht der Verdrängung, dem die Filmemacher*innen entgegenarbeiten müssen; zudem müssen Film und insbesondere bildliche Darstellungen des Krieges der Forderung nach einer möglichst realistischen Gestaltung gerecht werden. Dem genannten Verdacht fielen die westdeutschen Parabeln zum Opfer, hatten sie doch sowohl auf die filmästhetische Entwicklung als auch auf erinnerungspolitische Kontexte wenig Einfluss. Diese Aussage gilt auch für die hier behandelten Filme. Eventuell müssen die Werke des Neuen Deutschen Films der 1970er Jahre in Bezug auf ihren allegorischen Gehalt neu ausgewertet werden, was in dieser Studie aufgrund der Fülle des Materials allerdings nicht durchgeführt werden kann. In der UdSSR hatte die Parabel lange Zeit überhaupt keine Tradition. Einige wenige Autorenfilme führen in den 1970er Jahren den Krieg mit der biblischen Parabel zusammen, um aktuelle gesellschaftliche Phänomene des Sozialismus, die nicht mit dem Krieg in Verbindung stehen, zu untersuchen. Beispielsweise verarbeiten Filme wie Strassenkontrolle [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971/1985, R. Aleksej German sr.) und Aufstieg [Восхождение] (UdSSR 1976, R. Larisa Šepit’ko) den Krieg mithilfe biblischer Parabeln. Diese Filme werden im Kapitel Synekdoche behandelt, die eine im Vergleich zur Parabel schwächere Tendenz zur Allegorisierung aufweist und in der Rezeption auch ohne die Mehrdeutigkeitsaufschlüsselung funktioniert. Die Handlung findet unmittelbar im Krieg statt. Anhand des konkreten Kriegsereignisses können allgemeine Aussagen über den ganzen Krieg getroffen werden. Aber auch diese Art der Allegorisierung gilt in der UdSSR als politisch gefährlich. Strassenkontrolle wurde verboten, Aufstieg kontrovers diskutiert und marginalisiert. Sobald es also in der UdSSR möglich wurde, politische Ambivalenzen auszudrücken, wurden auch mehrdeutige Kriegsfilme produziert, wobei diese eine stärkere politische Wirkung hatten, wie einige heftige Kontroversen um diese Werke zeigen. Geht es um die Darstellbarkeit bestimmter Themen, so scheint in der UdSSR in Analogie zur DDR die Möglichkeit zu bestehen, mit dem Krieg auf nahezu alles andere zu verweisen, das sonst nicht zur Produktion zugelassen worden wäre. Allerdings wird im Gegensatz zur DDR jede Art von Mehrdeutigkeit generell als subversiv eingestuft, denn mit den Ambivalenzen des Krieges werden auch die Ambivalenzen des Sozialismus sichtbar. Aus diesem Grund entstehen die ersten Kriegsparabeln erst nach dem Zerfall der UdSSR. Im Russland der Gegenwart haben sie ihre subversive Kraft nicht verloren, sondern dienen dazu, den offiziellen, populären, heroischen Deutungen
5.4 Demetaphorisierung
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entgegenzuwirken und vor allem Versöhnungsstrategien zwischen Russland und Deutschland zu inszenieren. Dadurch werden neue, nichtsowjetische Erinnerungsbilder ausgehandelt, wobei die sowjetische Ästhetik nicht vollständig verworfen, sondern umgedeutet wird. Die aktuellen Kriegsparabeln üben in diesem Zusammenhang Kritik am Sozialismus, der in Analogie zu den Nazi-Verbrechen in den ost- und westdeutschen Parabeln ebenfalls durch ein Verbrechen inszeniert wird. Während das eigene politische System als feindlich dargestellt wird, werden die Deutschen in Freunde oder Geliebte umcodiert. Die Bevorzugung der Parabel für das Aufbrechen bestehender erinnerungspolitischer Kontexte spricht für das politisch-ästhetische Potenzial dieser Narrationsart. Die Kriegsparabel wirkt im heutigen Russland subversiv und verweist somit auf diktatorische Züge des Staates, der solche Filmproduktionen als politisches Medium aufwertet. Die Parabel wurde in der UdSSR und wird in Russland also explizit für die Demontage gängiger Erinnerungsbilder eingesetzt, während sie in der DDR und in der BRD nicht über diese Macht verfügte. In der DDR wurde sie als eine übliche Erinnerungspraxis im Film und durch den Film etabliert, gerade weil sie es ermöglichte, Mehrdeutigkeit zu produzieren und somit den Sozialismus subtil in Frage zu stellen. In der BRD war sie nicht ausreichend bzw. schien aufgrund des spezifischen Bewältigungsdiskurses nicht überzeugend genug für die Verarbeitung der Vergangenheit.
5.4 Demetaphorisierung 5.4 Demetaphorisierung
Die Demetaphorisierung ist eine der eindrucksvollsten und wirksamsten Inszenierungen des Krieges, sie wird jedoch kaum für dessen Darstellung herangezogen. Sie kann auch als eine lokale Strategie im Film verwendet werden, beispielsweise wenn in Der Untergang (D 2004, R. Oliver Hirschbiegel) eine große Zahl der Figuren gegen Ende Selbstmord begeht. Die sowjetische Produktion Im Morgengrauen ist es hier noch still [А зори здесь тихие] (UdSSR 1972, R. Stanislav Rostockij) lässt ebenfalls fast alle Hauptfiguren sterben, wobei am Ende der Tod nicht nur überwunden, sondern auch moralisch gerechtfertigt wird. Mit der Demetaphorisierung wird hingegen eine Narration bezeichnet, die einen vollkommenen oder zumindest fast vollkommenen Sinnentzug des Krieges betreibt. Die Sinnentleerung resultiert aus einem unheroischen und sinnlosen Tod der Figuren, durch den rückwirkend alle Handlungen der Figuren sowie die aufgezeigten Umstände und sozialen Strukturen, welche die Taten bedingt oder initiiert haben, entsemantisiert werden. Eben dadurch entsteht der Effekt der Demetaphorisierung: Der Tod steht für das Nichts, er entwertet das Gezeigte, das 351
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5 Narrationstypologie
zu Anfang noch als potenziell bedeutungsvoll erscheint, insgesamt als sinnlos. Wenn man so will, ermöglichen diese Filme eine Erfahrung des „Realen“ – einer desymbolisierten Realität –, soweit es möglich ist, diese filmisch zu inszenieren. In der poststrukturalistischen Psychoanalyse wird mit dem „Realen“ eine frühe Periode in der Kindesentwicklung vor dem Spracherwerb bezeichnet, in der noch keine Differenz zwischen dem Zeichen und der Bedeutung besteht. Mit Elisabeth Bronfen gesprochen, ist das Reale Realität minus deren Repräsentation (Bronfen 1994, S. 81), die nach Jacques Lacan nur als Trauma erfahrbar ist: „Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß das Reale am Ursprung der analytischen Erfahrung sich als ein nicht Assimilierbares zeigt – in Form des Traumas […]“ (Lacan 1996, S. 61, Hervorhebung im Original). Obwohl das Reale in der psychoanalytischen Theorie jenseits des Repräsentierbaren liegt, versteht es Slavoj Žižek als jene ästhetische Erfahrung, die subversiv-politische Kraft besitzt: Die Kunst kann die Erfahrung des Realen in Form einer (traumatischen) Diskontinuität des Symbolischen zum Ausdruck bringen. Vor allem das Autorenkino setzt verschiedene Strategien ein, um eine Distanz zum Symbolischen aufzubauen und somit eine Art Freiheit jenseits des Symbolischen zu inszenieren oder kritisch die Fehlfunktion des Symbolischen offenzulegen (Žižek 1993).110 Im Zusammenhang mit filmischen Kriegsdarstellungen markiert das Reale die völlige Sinnlosigkeit des Krieges, der aus jeglicher Art von Symbolisierung und Narrativierung herausfällt, aber natürlich gleichwohl in irgendeiner Form dargestellt wird. Dabei geht es hier nicht um ein traumatisches Ereignis im eigentlichen Sinne, wie es beispielsweise in der „Narration von unten“ (Rekonstruktion eines nicht vergehenden, den Protagonisten über lange Zeit traumatisierenden Vorfalls) inszeniert wird, sondern um eine traumatisch wirkende Erfahrung der Diskontinuität und Inkonsistenz der symbolischen Ordnung, die durch den Sinnentzug entsteht. Die Filme, die der Strategie der Demetaphorisierung folgen, stellen den Tod unter anderem als Nicht-Funktionalität des Symbolischen dar, um den Krieg als sinnlos auszustellen, was er in Anbetracht der Zerstörung und Vernichtung auch ist. In der Regel verliert der Tod in den meisten anders narrativierten (auch kritischen) Filmen zum Thema des Zweiten Weltkrieges jedoch niemals komplett seinen Sinn. Der Tod ist an sich ein konstitutiver Bestandteil des Kriegsgenres, der es nicht nur ermöglicht, den Krieg glaubwürdig darzustellen, sondern der als fundamentaler Bestandteil des Krieges selbst gelten kann. Zwar wird oftmals die sinnlose 110 Žižek zeichnet bei der Analyse ausgewählter literarischer Texte und Filme und an Beispielen aus der politischen Praxis nach, wie durch bestimmte Akte der ‚normale‘, von der performativen Autorität des Namens-des-Vaters garantierte intersubjektive Raum unterminiert und dadurch die ‚unmögliche‘ Freiheit im ‚Realen‘ erreicht werden kann.
5.4 Demetaphorisierung
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Gewalt kritisiert, die der Krieg mit sich bringt, die meisten Filme stellen allerdings zwangsläufig durch die Anwendung von filmischen Motiven und Erzählstrukturen in irgendeiner Form Sinn her. Sie versehen den Tod mit Metaphern, setzen ihn allegorisch für etwas anderes ein und funktionalisieren ihn so für eine weitere Ebene der Bedeutungsgenese: Der Tod wird beispielsweise als ein notwendiges Opfer für das Vaterland inszeniert und dabei heroisch und pathetisch dargestellt, was eine Ästhetisierung des Todes und eine Aufwertung seiner Bedeutung für das Weiterleben der Gemeinschaft bewirkt. In der Regel sterben außerdem nicht die Hauptfiguren, sondern Nebenfiguren, wobei diese der Hauptfigur nahestehen und somit den Verlust eines Teiles des (nationalen) Selbst artikulieren. Das Überleben der Hauptfigur fungiert in diesem Fall als eine symbolische Überwindung des Todes, denn das Leben geht weiter. Der Tod kann durch die Hauptfigur am Ende auch gerächt werden, wie es etwa in sowjetischen Filmen häufig der Fall ist. Die Rache legitimiert die Ausübung von Gewalt gegen Feinde, bringt die Figur dem Sieg näher und wirkt kompensatorisch den Verlusten entgegen. Eine (gelungene) Weiterentwicklung der Gesellschaft nach dem Tod deutet zudem auf seine Überwindung hin: Sie zeigt, dass der Tod der Figuren nicht umsonst war, sondern dem Frieden und dem Wohl der Nation/des Kollektivs gedient hat. Die Kinder der Opfer leben weiter und konstituieren damit die Zukunft – so etwa im Film Der Krieg ist kein Abzählspiel. Letztendlich kann sogar die Weiterführung der Narration allein als Überwindung des Todes gedeutet werden, selbst wenn die Hauptfigur gestorben ist. In Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) überlebt beispielsweise der Leutnant Gal’cev den Protagonisten, den Jungen Ivan; er schließt dessen Geschichte ab und gibt einen Ausblick auf die Ergebnisse des Krieges: den Sieg im Zweiten Weltkrieg und das Weiterleben der Gemeinschaft. In Der Fall von Berlin überleben die Hauptfigur Aleša und seine Braut den Krieg, während alle ihre Kameraden (allesamt männliche Figuren) bei der Schlacht um Berlin fallen. Beide erleben somit jenen Sieg, für den ihre Freunde gefallen sind. Der Sieg befreit die versklavten Völker, und so war ihr Tod, der überdies pathetisch als heroisch dargestellt wird, nicht umsonst. Am Ende steht der Protagonist inmitten einer Menschenmasse, wodurch der Verlust seiner Kameraden auch visuell überwunden wird. Das Bild vermittelt Fülle und Leben, die den in der Handlung erfahrenen Verlust kompensieren. In bundesdeutschen Filmen wird der Tod eher als eine nicht überwindbare Leere erfahren, wobei auch hier die Narration den Tod symbolisch überwinden kann. In 08/15 (BRD 1954/1955, R. Paul May) endet die Handlung nicht mit dem Tod eines der Kameraden, der im zweiten Teil von einem sowjetischen Panzer überrollt wird. Dieser Verlust wird im Gegensatz zu den sowjetischen Produktionen in der Handlung nicht kompensiert oder gerächt; der Film läuft jedoch weiter, wobei der Tote als eine Art sakrales Opfer fungiert, 353
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das die bürgerliche Nachkriegsordnung im Gegensatz zum Kriegschaos als Norm legitimiert. Im Zentrum der Handlung steht im Narrationstypus „Demetaphorisierung“ oftmals eine als sinnlos ausgestellte Aufgabe, wie zum Beispiel in Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhardt Wicki) die Verteidigung einer strategisch unwichtigen Brücke. Der Sinn der Aufgaben kann auch durch eine Desorientierung in der Szenerie entzogen werden. So ist in Im Westen nichts Neues (USA 1930, R. Lewis Milestone) der Zweck der Aufträge nicht genau erkennbar. Ihre Beschreibung bleibt aus. Kriegsgericht (BRD 1959, R. Kurt Meisel) fängt mit einer Katastrophe an: Die Explosion eines Militärschiffes markiert die zentrale Bedeutung sowie die Plötzlichkeit des Todes bereits zu Beginn der Handlung. Im Rahmen gegenwärtiger Diskurse erhalten Krieg und Tod indes wiederholt auch neue Bedeutungen. Um den Tod und den Krieg als sinnlos darstellen zu können, benötigt der Film spezifische Darstellungsstrategien, die die gängigen Metaphern und Topoi unterwandern: Eine der zentralen Strategien ist der Tod der Hauptfigur. Dieser wird dabei nicht gerächt, keine Zukunft scheint auf, keine Einbettung in den historischen Kontext wird nahegelegt, sodass es sich um einen Tod handelt, der keinen Einfluss auf die anderen hat, die Geschichte nicht ändert und folglich für nichts steht. Auf diese Weise wird die Kriegsgewalt als sinnlos erfahrbar. Die Folgen dieser Desemantisierung sind gravierend: Da der Zweite Weltkrieg in allen europäischen Ländern eine nationale identitäts- und sinnstiftende Bedeutung hat, werden mit der Demetaphorisierung auch symbolische Bilder einer Nation/eines Kollektivs zunichtegemacht. Deswegen darf der Krieg nie seinen Sinn verlieren: Um nationale Identitäten stützen und aktuelle politische Ideologien legitimieren zu können, muss er im Rahmen dieser Konstruktionen sinnvoll narrativierbar bleiben. Bei der Demetaphorisierung liegt der Akzent hingegen auf einer nicht kompensierbaren Verlusterfahrung. Ihre Besonderheit besteht in der Vergeblichkeit aller Versuche, den tragischen Umständen zu entkommen. Die Figuren scheitern permanent daran, dem Tod auszuweichen, wodurch Fatalismus und Ausweglosigkeit erzeugt werden. Einen besonderen Umgang weisen die Werke dabei im Hinblick auf die Zeitlichkeit auf. Generell hat die Erfahrung der Demetaphorisierung eine intensive Präsenzwirkung, sie ist immer eine Inszenierung des Jetzt. Die Handlung läuft chronologisch ab, es wird nur ein Ausschnitt des Krieges gezeigt, der in der Regel keinen Anfang und kein Ende hat, wodurch das Gezeigte ins Endlose potenziert wird, weil das Geschehene nicht an Ereignisse globaler Bedeutung oder den offiziell bekannten Kontext geknüpft ist. Dabei können sowohl ein einzelner Vorfall als auch ein längerer Zeitverlauf dargestellt werden. Die Brücke kann aufgrund der Situierung des Vorfalls am Ende des Krieges beispielsweise auch als eine Endnar-
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ration (siehe dazu Unterkapitel Endnarration des Kapitels Fragment-Narration) gedeutet werden. Er unterscheidet sich jedoch von anderen Filmen dieses Typs dadurch, dass er die kommende Nachkriegsordnung nicht (zumindest nicht direkt) legitimiert und keine Versöhnung verspricht. Ehe im Schatten (DEFA 1947, R. Kurt Maetzig) oder Jeder stirbt für sich allein (BRD 1975, R. Alfred Vohrer) umfassen einige Jahre des NS-Regimes und des Krieges, gehören aber trotzdem zum Typus der Demetaphorisierung. Charakteristisch ist für diese Werke insgesamt das Ausschnitthafte: Der ausgewählte Abschnitt der Geschichte ordnet sich in keine Ganzheit, er lässt keinen Überblick über das historische Geschehen zu. Historische Daten, die durchaus genannt werden können, haben in der Regel keine Funktion für die Narration, denn das Gezeigte hängt nicht mit einem Datum zusammen bzw. weist es keine Folgen für die Entwicklung der Handlung auf, die unausweichlich auf den Tod zuläuft. Schlachtszenen unterbrechen den Handlungsverlauf zusätzlich, sie lassen die Narration im Spektakel der Kampfchoreografie erstarren. Die Schlacht bleibt selbst in der Regel ergebnislos. Nach Steve Neale bewirken Schlägerei- und Gefechtsszenen so etwas wie ein Einfrieren der Narration, weil sie keine eigentliche Entwicklung aufweisen und stattdessen eine eigene Logik entfalten (Neale 1993). Die Erstarrung der Narration ist typisch für alle Schlachtszenen, verstärkt sich hier doch durch den Mangel an Entwicklungen und das Fehlen sinnvoller Ziele die Präsenzwirkung. Außerdem werden sie in den Demetaphorisierungs-Filmen häufig aus dem historischen Kontext gerissen, so als ob sie keinerlei Bedeutung für den Verlauf der Historie hätten. Die Szenen stehen demzufolge für sich und haben daher keinen richtigen Sinn. Diese ausgestellte Sinnlosigkeit und Desorientierung im Bild produziert etwas Statisches und gibt keinen Ausblick auf die Zukunft und somit auf die Gegenwart des Publikums, das auf den vergangenen Krieg zurückblickt. Die Figuren erfahren ebenfalls keine eigentliche Entwicklung, verfolgen keine sinnvollen oder nachvollziehbaren Ziele und haben keine Zukunftsaussichten. Gibt es keine Zukunft, so ist es kaum möglich, aktuelle Diskurse zu verhandeln, außer man weist sie als dysfunktional aus. Die Folgen des Krieges können daher nicht in die Gegenwart integriert werden. Demetaphorisierungen erzählen nie im Hinblick auf die Gegenwart oder im Rückblick aus der Gegenwart heraus. Die Absage an eine teleologische Entwicklung, die Unmöglichkeit der Integration aktueller Diskurse sowie die fehlende Verbindung mit der Gegenwart machen also auch die historische Zeit als einen intensiven Präsenzzustand erfahrbar. Die Demetaphorisierung ist aber nicht ohne jegliche Entwicklung; sie entfaltet sich als Abfolge mehrerer Stationen der Verschlechterung, und der Tod des Protagonisten (in der Regel einer Männerfigur) stoppt den Zeitverlauf endgültig, was die Sinnproduktion und die symbolische Überwindung des Todes endgültig 355
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unmöglich macht. Die allmähliche Dezimierung der Gruppe rückt die Werke in die Nähe des Horrorfilms, der spätestens seit den 1960er Jahren eine ähnliche Konfiguration aufweist. Im Kriegsfilm fehlen jedoch generell die Momente des Unerwarteten oder Rätselhaften, die entsprechende Ikonografie (dunkles Licht, Detailaufnahmen usw.), die eingeengte Topografie (dunkler Keller, fremde Häuser, enge Flure, dichter Wald usw.) oder die typische bedrohliche Musik, auch wenn einige dieser Elemente vereinzelt vorkommen mögen. In der Handlung sind beispielsweise immer wieder unbestimmte und unübersichtliche Orte zu sehen – in Die Brücke werden diese durch den Nebel noch einmal markiert –, womit die Filme manchmal Horrorszenerien ähneln. Die Umstände, unter denen die Figuren umkommen, sind jedoch von Anfang an mehr oder weniger klar, und ihre Entwicklung im Laufe der Handlung ist unvermeidlich, sodass der Tod der Protagonisten sowohl unabdingbar als auch ausweglos erscheint. Vor der Kriegsgewalt lässt es sich weder fliehen noch kann sie überwunden werden. Stehen mehrere Figuren im Zentrum der Geschichte, so stirbt am Ende die Hauptfigur, womit die Handlung zu einem Ende kommt. Ihr Tod bleibt unkommentiert und bedeutet einen unwiderruflichen Verlust. Ein so in Szene gesetzter Tod legt alle Erklärungen lahm. In Im Westen nichts Neues sterben die Figuren eine nach der anderen, ebenso wie in Die Brücke. Der Tod der Nebenfiguren markiert hingegen die vorausgehenden Stationen der Verschlechterung: Am Anfang sind die jungen, frisch mobilisierten Soldaten begeistert vom Krieg, dann werden sie desillusioniert, sie verzweifeln, erscheinen als für immer verändert, und am Ende sind sie tot (Abb. 18–19). Das Gericht verurteilt etwa in Kriegsgericht drei Überlebende eines versunkenen Militärschiffes zum Tode, als sich herausstellt, dass sie es kurz vor dessen Vernichtung verlassen haben. Die Ermittlung folgt gleichsam verschiedenen Stationen des sinnlosen Krieges – die Figuren wollten deshalb auch desertieren. Am Ende werden sie dann aber doch zum Tode verurteilt, und so waren ihre Versuche, dem Tod und dem Krieg zu entkommen, so sinn- und ausweglos wie das Kriegsgericht, das bei seinen Urteilen keine Gnade gegenüber den Überlebenden des ohnehin versunkenen Schiffes kennt.
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Abb. 18–19 IM WESTEN NICHTS NEUES [All Quiet on the Western Front] (USA 1930, R. Lewis Milestone)
Eines der wichtigsten Merkmale der Demetaphorisierung ist die Umkehr gängiger Vorstellungen über den Krieg und die Nation, welche zu Beginn der Handlung 357
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zumeist noch evoziert werden. Beispielsweise geht es in Filmen, die unmittelbar im Krieg angesiedelt sind, um die Zerstörung von Motiven wie Kriegskameradschaft und Heroismus, wodurch konstitutive Genreelemente aufgehoben werden. In Im Westen nichts Neues endet jeder Erzählzyklus mit der Enttäuschung einer Hoffnung. Die Brücke zerstört jegliche Vorstellungen von Kriegsmut und -heroismus (Abb. 20). In diesem Zusammenhang findet auch ein Zusammenbruch der symbolischen Ordnung oder zumindest deren Diskreditierung statt. Die Vaterfigur erscheint in der Regel als wichtig für die Narration und deren Sinnherstellung, denn der Krieg kann als Schule der Männlichkeit inszeniert werden, was zum Beispiel am Anfang von Im Westen nichts Neues oder Die Brücke angedeutet und zugleich in Frage gestellt wird (Klein et al. 2006). In diesen Filmen werden zwei Ordnungen einander gegenübergestellt: die bürgerliche und die Kriegsordnung. Die bürgerliche Ordnung, die sich durch eine militaristische Gesinnung auszeichnet, schickt ihre Kinder in den Krieg. Dort herrscht die Ordnung des Lacan’schen Realen – eigentlich gibt es keine richtige Ordnung mehr, abgesehen vom Zerrbild einer fremden, in der Hierarchie niedrig positionierten Vaterfigur, die versucht, den Söhnen beizubringen, an der Front zu überleben. Da es um das Reale geht, scheitert sie jedoch notwendigerweise. Am Ende fallen alle, auch die Vaterfigur und damit die letzte Hoffnung auf eine Ordnung.
Abb. 20 DIE BRÜCKE (BRD 1959, R. Bernhardt Wicki)
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Die fehlende Popularität dieser Narration in der UdSSR begründet sich gerade durch diese inszenierte Sinnlosigkeit des Krieges, die durch den Tod sowie den Entzug der Zukunft und des Überblickes über das Ganze produziert wird. Die Zukunft erscheint für die Bedeutungsgenese wie die Verarbeitung aktueller Diskurse jedoch als konstitutiv. Das Fehlen dieser Art der Narration in der UdSSR ist mithin kein Zufall. Am eindrucksvollsten kommt die Sinnlosigkeit des Krieges im sowjetischen Autorenfilm Zwanzig Tage ohne Krieg [Двадцать дней без войны] (UdSSR 1976, R. Aleksej German sr.) zum Ausdruck, aber auch hier wird der Krieg als notwendige Verteidigungs- und Befreiungstätigkeit gedeutet. Die Zerstörung im Krieg hat keinen Sinn – jede Bedeutung wird erst in der ästhetischen und massenmedialen Verarbeitung generiert –, aber die Figuren gehen nichtsdestoweniger aus Pflichtbewusstsein an die Front, sodass der Film am Ende ein gewisses Pathos erzeugt und die Bedeutung des Sieges nicht in Frage stellt. Das ganze sowjetische Semantisierungssystem wird auf eine glückliche Zukunft im Kommunismus hin ausgerichtet. Der Sieg im Krieg stellt eine weitere Station dar, die die UdSSR dem Kommunismus entgegenführt. So darf der Krieg nie seinen Sinn verlieren, denn dadurch verliert gleichzeitig der Sozialismus seinen Sinn als politische Ordnung. In der BRD und der DDR existieren ebenfalls nur einige wenige Beispiele für die Demetaphorisierung, wobei in der BRD entschieden mehr davon zu finden sind – die Niederlage im Krieg lässt einerseits die im Nationalsozialismus propagierten Ideen bedeutungslos werden, erscheint andererseits aber auch als problematisch für die Nachkriegsordnung, in der der Film produziert wird und in der er an das Publikum appelliert. Eines der radikalsten Beispiele stellt die US-amerikanische Produktion Im Westen nichts Neues dar, die dem Ersten Weltkrieg gewidmet ist. Dieser Film konnte vermutlich nur deswegen überhaupt erscheinen, weil die US-amerikanischen Produzenten nicht ihre eigenen Soldaten und keinen für sie national wichtigen Krieg in Szene setzten. In Deutschland wurde der Film nach wenigen Aufführungen vor dem Hintergrund der bereits stark gewordenen rechtspolitischen Tendenzen verboten (Wulff 2006, S. 51). Zahlreiche Proteste, die der Film in Deutschland auslöste, weisen darauf hin, dass die Darstellungsart hier subversiv wirkte. Während die Nationalsozialist*innen die Gefahr erkannten, die von dem Film ausgeht – eine Entleerung jeglicher nationalistischen Ideologeme –, lasen linke Intellektuelle ihn buchstäblich und übersahen somit seine eigentliche Wirkung. Denn die scheinbare Apolitisierung des Krieges bzw. die Nicht-Markierung der Machtinteressen, die den Krieg ausgelöst haben, entwerten jegliche Ideologien. Ein fehlender Überblick über die politischen Kräfte des Ersten Weltkrieges entzieht ihnen zugleich den Sinn: Wofür Kriege auch geführt werden, das Ergebnis bleibt gleich – ein sinnloses Sterben hunderttausender Menschen. 359
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Die Übertragung der Demetaphorisierung auf den Zweiten Weltkrieg bereitete jedoch einige Probleme, wo sie nicht für die Opferperspektive verwendet wurde. Sie eignet sich zweifellos dafür, die Judenermordung zu narrativieren, lässt sie doch die Atmosphäre der Ausweglosigkeit nachempfindbar werden. In Ehe im Schatten wird nicht die bürgerliche Ordnung gegen die des Realen ausgespielt, sondern sie wird dem Realen Schritt für Schritt angenähert. Diese Perspektive rückt die aktiven Kriegsteilnehmer*innen oder gar die Täter*innen aber in eine fatalistische Opferposition. Sie wirkt einerseits als Kritik am Krieg – als eine Art Konfrontation mit der Zerstörung und der Gewalt des Krieges jenseits ideologischer Implikationen, als Erfahrung nackter Gewalt, die, auf einer individuell-existenziellen Ebene und aus dem historischen Kontext herausgerissen, als sinnlos erscheint (Abb. 21).
Abb. 21 EHE IM SCHATTEN (DEFA 1947, R. Kurt Maetzig)
Die Filme mit dieser Narration werden folgerichtig zu den sogenannten Antikriegsfilmen gezählt (Klein et al. 2006, S. 17–20). Die Brücke zerstört beispielsweise kraft dieser Strategie jegliche militaristischen Fantasien wie treue Kameradschaft, Selbstaufopferung und Nützlichkeit der Opfer für das Vaterland. Andererseits verklärt die Demetaphorisierung den Krieg aber zu einem mythischen Ereignis, was bereits Siegfried Kracauer am Film Im Westen nichts Neues kritisierte. In Bezug auf den Ersten Weltkrieg erscheint dies noch als weniger problematisch, wurden die Ergebnisse des Krieges in der internationalen Öffentlichkeit doch nicht als Verbrechen gewertet: Die Handlungen der Kriegsteilnehmer*innen wurden hier nicht juristisch verurteilt, obgleich sich auch in diesem Krieg viele Grausamkeiten ereigneten und einige Historiker*innen ihn als eine Vorwegnahme des Zweiten
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Weltkrieges verstehen.111 Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges in Deutschland war vor allem mit einer Desillusionierung verbunden, welcher der Roman von Erich Maria Remarque Bildlichkeit verlieh. Der Roman und vor allem seine Verfilmung durch Lewis Milestone wurden dabei nicht nur zu wichtigen Bestandteilen des internationalen Diskurses über den Ersten Weltkrieg, sondern auch – und hier vor allem die filmische Darstellung – zu einer universellen Metapher nackter, ideologiefreier Kriegsgewalt. Die Verurteilung des Nationalsozialismus als verbrecherisch ließ demzufolge eine demetaphorisierende Perspektive auf Deutschland als problematisch erscheinen, selbst wenn eine solche Desillusionierung des Krieges dazu berechtigte, die Kriegsgewalt jenseits der NS-Propaganda zu entlarven. Die Demetaphorisierung entlastet die Täterfiguren. Wenn die Soldaten und die Bevölkerung den Krieg gar nicht wollten und nicht unterstützten, wer hat ihn dann vorangetrieben? Die BRD-Produktion Nacht fiel über Gotenhafen (1960, R. Frank Wisbar), die von Flüchtlingen aus Ostpreußen erzählt, stellt ein prominentes Beispiel für diese Entlastung von der Täterschaft dar. Die Handlung zeigt ein sukzessives Scheitern der Figuren, die gegen Ende des Films alle sterben. Zuerst bricht eine Ehe auseinander: Der Krieg trennt das Paar, und die Frau, Maria, wird ihrem an die Ostfront eingezogenen Ehemann untreu. Von einem Marineoffizier wird sie schwanger und muss die Familie ihres Mannes in Berlin verlassen, worauf sie zu einer Freundin nach Ostpreußen zieht. Diese wird wiederum durch einen Rotarmisten bei einem Vergewaltigungsversuch umgebracht. Es handelt sich um einen der ersten Filme, welche die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rotarmisten thematisieren. Während ihrer Flucht aus Ostpreußen trifft Maria ihren Ehemann wieder, der schwer verletzt ist. Mit ihm wird das Scheitern der Wehrmacht inszeniert. In einigen wenigen kurzen Szenen, die parallel zu Marias Flucht gezeigt werden, zieht die Wehrmacht immer weiter nach Westen. Angekommen in Gotenhafen, gelangt Maria mithilfe des Vaters ihres Kindes, der nun Kapitän ist, auf ein Schiff, das von einem russischen U-Boot torpediert wird und mit fast sechstausend Menschen an Bord – verletzten Soldaten und Zivilbevölkerung (im Film allein Frauen und Kinder) – sinkt. Maria, ihr verwundeter Ehemann und ihr 111 Die Ausstellung 1914–1918. Der Erste Weltkrieg im Deutschen Historischen Museum in Berlin vom 29.05.2014 bis 30.11.2014 machte an vielen Dokumenten deutlich, dass in diesem Krieg bereits zahlreiche Massenverbrechen an und -tötungen von Zivilist*innen stattfanden. Siehe http://www.dhm.de/ausstellungen/archiv/2014/der-erste-weltkrieg/ die-ausstellung.html (10.11.2016). Vgl. dazu auch die Fischer-Kontroverse, die Fritz Fischer in den 1960er Jahren mit einer folgenschweren Studie auslöste: Fischer 2013. Zur Kontroverse siehe auch Berghahn 1980. Für einen Überblick zur Forschung zum Ersten Weltkrieg siehe Hirschfeld 2004. 361
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5 Narrationstypologie
Liebhaber sterben wie die meisten der mit ihr gemeinsam geflohenen Frauen. Die Szene des Untergangs ist spektakulär gestaltet, sie zeigt den Tod der Verwundeten, der Mütter und Kinder. Nur Marias Sohn, noch ein Baby, überlebt dank einer Nebenfigur. Trotz dieser notwendigen Kritik an der Kriegsgewalt und der durch den Film veranlassten Überlegungen zur Teilnahme der Bevölkerung am historischen Geschehen ruft das Auslassen der Frontperspektive einige Probleme hervor: Es fehlt eine Erklärung für die dargestellte Katastrophe. Der Film versucht dabei durchaus, die Judenverfolgung kritisch nachzuzeichnen. Eine Szene, die die Verhaftung eines Juden zeigt, wird geradezu als Einbruch des ‚Realen‘ inszeniert – passt sie doch weder in die Szenerie noch in die Gesamtheit der Handlung. Auf einer Party wird ein Jude, der Vater der Gastgeberin, der sich in einem Geheimzimmer hinter einem Schrank versteckt hat, von der Gestapo entdeckt und abgeführt. Allerdings überdecken die Toten am Ende des Films den angedeuteten Judenmord durch die überwältigende Bildlichkeit der Schiffbruchkatastrophe, die auch als Metapher auf den Gesamtverlauf des Krieges verstanden werden kann. Wie das Schiff, so sinkt auch das NS-Regime – und zieht dabei zahlreiche unschuldige und ahnungslose Menschen mit in den Tod, ohne zum Ausdruck zu bringen, dass der Krieg und die Vernichtung durch das NS-Regime selbst vorbereitet und ausgelöst wurden, dessen Funktionieren auf der Unterstützung vieler Menschen basierte. Die Opfer der nationalsozialistischen Kriegsaggression und -verfolgung werden durch eine einzelne jüdische Figur repräsentiert, die symbolisch und affektiv im Film nur wenig Gewicht besitzt.
5.5
Geschichte als Fragment
5.5
Geschichte als Fragment
Die Fragment-Narration ist eine der verbreitetsten Darstellungsarten der Geschichte, weil sie im Vergleich zu anderen Narrationstypen eine größere Freiheit in der Themenauswahl und Gestaltung bietet. Mit diesem Narrationstypus wird ein Ausschnitt, ein Ereignis oder ein Aspekt aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges inszeniert. Ausmaß und Bedeutung des ausgewählten Vorfalls können stark variieren. Eine Reihe von Filmen stellt Kriegsereignisse dar, die mittlerweile zu wichtigen Erinnerungsereignissen der jeweiligen Kultur gehören. Die populärsten Ereignisse für BRD und UdSSR sind die Schlachten um Stalingrad, Moskau und Berlin oder das Attentat auf Hitler und sein Selbstmord am Ende des Krieges. Andere Filme fokussieren im Fragment die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes, wie etwa Nackt unter Wölfen (DDR 1963, R. Frank Beyer) oder Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer). Ebenso können einzelne
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strategische Operationen wie etwa der Kampf für die Versorgung einer Stadt mit Wasser in Durst [Жажда] (UdSSR 1959, R. Evgenij Taškov) oder individuelle Fluchterlebnisse aus der Gefangenschaft wie in So weit die Füsse tragen (D 2001, R. Hardy Martins) beleuchtet werden. Die Handlung des Fragments findet unmittelbar im Krieg statt und ist chronologisch aufgebaut. Das Thema wird innerhalb des Films abgeschlossen, der Krieg hat hingegen keinen Anfang und kein Ende, oder es wird nur eines von beiden dargestellt. Das Geschehen spielt sich an nur einem Ort und innerhalb einer kurzen Zeit ab. Oft liegt der Dramaturgie ein enormer Zeitdruck zugrunde. In Nackt unter Wölfen wird beispielsweise gegen Ende wiederholt eine Uhr gezeigt, und als die Häftlinge nicht pünktlich zu ihren Todesmarsch antreten, werden sie durch das Wachpersonal erschossen. In den meisten Filmen über das Attentat auf Hitler wird die Handlung mit ständigen Verweisen auf die Uhrzeit rhythmisiert. Anders als die Parabel folgt das Fragment keiner geradlinigen Drei-Akt-Struktur, sondern enthält in der Regel mehrere Ereignisse oder mehrere Sujetlinien, die es ermöglichen, das Thema von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Die Breite des Gezeigten variiert dabei stark. Der Untergang oder Stalingrad (UdSSR/ DDR/USA/ČSSR 1989, R. Jurij Ozerov) präsentieren ihre Sujets eher in epischer Breite, mit vielen Figuren und unterschiedlichen Handlungsorten, sie streben eine allumfassende Darstellung des Ereignisses an. Schlacht-, KZ- oder Spionagefilme arbeiten mit vielen Figuren; Werke über die Flucht aus der Gefangenschaft zeigen dagegen meist nur einige wenige Personen. Die Besonderheit des Geschehens, ja sein Ausnahmecharakter ist für das Fragment konstitutiv. Die Ereignisse werden daher individualisiert, sie sind nicht repräsentativ für den ganzen Krieg, sondern drücken die Überschreitung und das Ungewöhnliche aus. Wurden im Krieg viele Soldaten gefangen genommen, so zeigen die Filme die Flucht einer Figur – sicher eher eine Ausnahme als ein verbreitetes Phänomen. Die Narration korreliert infolgedessen oft mit individuellen Entscheidungen der Figuren, die die jeweiligen historischen Ereignisse so besonders machen. In den ost- und westdeutschen Filmen werden zum Beispiel vorwiegend Fragen nach der Loyalität gegenüber dem Regime verhandelt, weshalb persönliche Eigenschaften der Figuren hervorgehoben werden, mit denen eine ethische Haltung gegenüber dem verbrecherischen Regime möglich wird. Einige sowjetische Produktionen der Tauwetter-Periode wenden sich gegen den Heroismus der stalinistischen Werke und zeigen im Zuge dessen die Alltäglichkeit des Krieges, aber auch sie arbeiten an der Individualität der Figuren und heben scheinbar unbedeutende Ereignisse durch unverwechselbare Charaktere hervor. Dazu zählen zum Beispiel Soldaten [Солдаты] (UdSSR 1956, R. Aleksandr Ivanov) oder Im Krieg ist wie im Krieg [На войне как на войне] (UdSSR 1969, R. Viktor Tergubovič). Die Fragment-Narration 363
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individualisiert also den Krieg und arbeitet an vergessenen bzw. nie thematisierten Aspekten, die entweder bestimmte individuelle Eigenschaften der Figuren auf die Probe stellen oder ermöglichen, diese zu entfalten. Das Fragment ist in UdSSR, DDR und BRD unterschiedlich motiviert und wird auf unterschiedliche Weise rezipiert: In der UdSSR entsteht nach der Etablierung der „Narration von oben“, also eines allumfassenden Darstellungsrahmens zum Krieg, ein Bedürfnis, Details und unberücksichtigte Themen aufzuarbeiten. Die „Narration von oben“ ist dafür viel zu allgemein und zu undifferenziert. Außerdem verlangt sie große Produktionskosten. Die Psychologisierungstendenzen der Tauwetter-Periode fördern sowohl das Fragmentarische (gegenüber der allumfassenden stalinistischen „Narration von oben“) als auch das Besondere (gegenüber dem Typischen des Sozialistischen Realismus) (Prokhorov 2007; Daškova 2008), um eine neue sowjetische Individualität zu inszenieren. Das gilt zum Teil auch für die DDR, in der hauptsächlich durch die „Narration von oben“, bei der alle störenden Momente ausgelassen werden, im kollektiven Gedächtnis eine kontinuierliche Geschichtsvorstellung herrscht. Allerdings werden in der DDR viel weniger Filme mit Fragment-Charakter produziert, unter anderem auch deshalb, weil der ostdeutsche Filmmarkt reichlich mit sowjetischen Werken versorgt wird. In der DDR sind vor allem Filme des Typs „Endnarration“ populär, die den Übergang von der NS-Ordnung zum sozialistischen Staatssystem begründen. Im Laufe der Zeit entwickeln sich zudem die Gegenwartsfilme, die sich retrospektiv auf den Krieg beziehen und dessen Bedeutungen so immer wieder erneuern. Die aktuelle politische Ordnung benötigt also eine ständige Reaktualisierung der Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart. Dies wird durch den künstlerischen Wettbewerb verstärkt, durch den die Filmemacher*innen neue Themen und Darstellungsstrategien entwickeln müssen, um auf sich aufmerksam zu machen. Da der Krieg in der „Narration von oben“ filmisch und daher erinnerungspolitisch abgeschlossen wird, müssen sowjetische und ostdeutsche Erinnerungskulturen die Verbindung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit ständig aktualisieren, um die Erinnerung an den Krieg aktuell und politisch einsetzbar zu halten. Die Fragment-Narration aktualisiert in diesem Sinne die Vergangenheit und differenziert sie aus. Fragmente komplementieren und präzisieren das bestehende Bild; sie beziehen sich dabei auf den bestehenden Konsens über die Kriegsdarstellung und die Kriegserinnerungen, die neu perspektiviert werden, ohne dass das herrschende Bild in Frage gestellt werden muss (wobei diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist und manchmal eingesetzt wird). Die sowjetischen Filmemacher*innen etwa arbeiten an einzelnen Aspekten, indem sie Bezug auf aktuelle Themen der Gesellschaft nehmen und so das Bild des Krieges korrigieren bzw. an aktuelle soziale Bedürfnisse anpassen. Die Fragment-Narration fungiert also als Ergänzung zur
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offiziellen Erinnerungskultur, die sie weiterhin ausdifferenziert und individualisiert. Beispielsweise zeigt Alpenballade [Альпийская баллада] (UdSSR 1965, R. Boris Stepanov) aus der Tauwetter-Periode einen sowjetischen Soldaten auf der Flucht. Die Kriegsgefangenschaft wurde im Stalinismus mit Verrat gleichgesetzt, und so artikuliert schon allein die Darstellung der Flucht aus der Gefangenschaft Kritik an der stalinistischen Erinnerungspolitik. Im Fragment stellt die Kriegsgefangenschaft eine Ausnahme dar, sowjetische Soldaten konnten schließlich nicht gefangen genommen werden – so die gängige Ideologie im Stalinismus. Die Stigmatisierung der Kriegsgefangenen wird umgangen, indem die Haft des Protagonisten gar nicht thematisiert wird. Der Soldat bricht zu Beginn der Handlung aus und zeigt sich durchgehend heroisch. Er opfert sein Leben, um das Leben seiner italienischen Gefährtin, die ebenfalls aus der Gefangenschaft geflohen ist, zu retten, wodurch zugleich der Topos des sowjetischen Soldaten als Befreier aufgerufen wird. Sein Tod wirkt pathetisch und wird gleichzeitig überwunden: Ein Sohn, den die beiden Figuren auf der Flucht gezeugt haben, kommt zur Welt – auf diese Weise wird die Idee eines unsterblichen Kollektivs aufrechterhalten. Da der Soldat nie zurückkehrt, erübrigt sich auch die wichtige Frage nach seinem Status zu Hause (wo er als Verräter ins Lager gebracht worden wäre), und er kann als ein zuvor nicht anerkannter Held gefeiert werden. Als Mann demonstriert er Stärke gegenüber dem westlichen Europa, das hier durch die Italienerin verkörpert wird. Nicht nur Osteuropa, dessen Kontrolle die UdSSR über die Befreiung von der NS-Besatzung legitimiert, auch das westliche Europa steht im Angesicht seines Lebensopfers in der Schuld der UdSSR. Letztendlich kann auch die Tatsache, dass eine italienische Frau ein Kind von einem sowjetischen Soldaten empfängt, als Annäherung an Westeuropa gelesen werden. Der Vorfall aktualisiert also den Krieg in Bezug auf internationale politische Themen wie die verbesserten diplomatischen Beziehungen zwischen UdSSR und Westeuropa in der Tauwetter-Periode oder auf das interne sowjetische Bedürfnis nach Individualisierung durch das Einzelschicksal und nach einer Abgrenzung vom Stalinismus. Zugleich tritt der Film nicht in Konflikt mit der bestehenden Deutung des Krieges, in der alle Ereignisse auf den Sieg der UdSSR bezogen werden. Zudem verwendet er tradierte Motive wie den Heroismus und die Opferbereitschaft der Soldaten, womit der Film als komplementär zum bestehenden Kriegsbild gelesen werden kann. Der Film Weiberreich [Бабье царство] (UdSSR 1967, R. Aleksej Saltykov), ein anderes Beispiel für die Fragment-Narration, zeigt die Besatzung der sowjetischen Territorien durch die Deutschen – erneut ein im Stalinismus verbotenes Thema – und deren Aufarbeitung in der Zeit nach dem Krieg. Die Besatzung wird durch eine Vergewaltigungsszene noch einmal metaphorisiert und mit Gefühlen der Schande und Erniedrigung assoziiert. Die Thematisierung sowohl der Besatzungszeit als auch 365
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der Sexualität wurde erst in der Tauwetter-Periode überhaupt möglich (Borisova 2008). Das Werk wirft einen Schatten auf das Bild der siegreichen UdSSR und erfüllt zugleich erneut das Bedürfnis nach Individualisierung, indem es das Schicksal einer einzelnen Frau darstellt. Außerdem ruft es mit der vergewaltigten Frau affirmative Vorstellungen von Frauen als passiven Opfern im Krieg hervor, zumal die aktive Beteiligung vieler Frauen am Krieg in der UdSSR kaum thematisiert wurde. Die Kritik am Stalinismus geht mit der Restauration einer konservativen asymmetrischen Geschlechterordnung einher, die für die Tauwetter-Periode ebenfalls charakteristisch ist. Mit den Frauenfiguren wird ein zuvor nicht thematisierter Aspekt des Krieges beleuchtet, die Kriegsbilder oder die Ergebnisse werden jedoch nicht in Frage gestellt. Darüber hinaus wird die Krise der geschändeten Heimat am Ende des Films durch eine Heirat zwischen der vergewaltigten Frau und einem Kriegsveteranen überwunden, womit die sozialistische Normalität wiederhergestellt wird. Sowjetische Fragment-Narrationen sind also in der Regel eine Art Puzzleteil eines größeren Bildes, das allerdings die Aktualität des Krieges für die Gesellschaft aufrechterhält bzw. das Kriegsthema mit aktuellen Diskursen anreichert. Für die BRD vor und nach der Wiedervereinigung ist das Fragment ein für die Erinnerungskultur konstitutiver Narrationstypus, der auch ein entsprechend fragmentarisiertes historisches Bewusstsein und damit fragmentarische Identitätsvorlagen hervorbringt. Da der durch die „Narration von oben“ konstituierte Rahmen selbst fragmentarisch ist, ergänzen die Filme der Fragment-Narration in der BRD nicht das bestehende Bild, sondern inszenieren die Niederlage immer aufs Neue und deuten dabei permanent die Geschichte um. Dieser Narrationstypus erscheint für die westdeutsche Erinnerungskultur insofern geeignet, als er die Probleme der Kontinuität der BRD mit dem NS-Regime umgeht. Die Handlung beginnt vorwiegend nach der Schlacht von Stalingrad. Die Filme vergegenwärtigen die Niederlagen und das Scheitern der Wehrmacht, meist ohne die Ursachen des Krieges zu thematisieren. Da es kein Gesamtbild des Krieges gibt, wird eine Bedeutungsgenese gefördert, die über die Darstellung eines Aspekts oder eines Ausschnittes eine Deutung des ganzen Krieges herstellt. Fragmente werden daher als Synekdochen rezipiert, obwohl sie wie in der UdSSR oder DDR filmästhetisch das Ungewöhnliche fokussieren. Einerseits darf sich das Publikum mit den Tätern nicht identifizieren, und so ermöglichen es die besonderen Vorfälle und Ausnahmen des Krieges, ein für die Nachkriegszeit passendes Identitätsangebot zu gestalten, bei dem die Nazis vom kollektiven Körper der Nation und somit vom kollektiven Gedächtnis abgespalten werden. Andererseits wird die Ausnahme verallgemeinert und gilt auf diese Weise für den ganzen Krieg. So verschiebt sich in der BRD das Bild des Krieges zum Besonderen und zum Fragmentarischen, wird doch die Vergangenheit im Rahmen eines Ausnahmezustandes präsentiert. Waren viele Wehrmachtssoldaten
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in Gefangenschaft, zeigt So weit die Füsse tragen – einer der erfolgreichsten Mehrteiler der 1950er Jahre, der 2001 von Hardy Martins noch einmal verfilmt wurde – die spektakuläre Flucht eines einzelnen Soldaten aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft. Waren die meisten Generäle aus Hitlers Umgebung dem Diktator treu, inszenieren die Filme Der 20. Juli (BRD 1955, R. Falk Harnack) oder Es geschah am 20. Juli (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) im Gegensatz dazu das Attentat auf Hitler. Da keine symbolisch-narrative oder bildlich-affektive Verbindung zwischen den Wehrmachtssoldaten als Verbrechern und den Wehrmachtssoldaten auf der Flucht besteht, werden Letztere zur Grundlage der Nachkriegsordnung und der Identifikation der Zuschauenden. Die Verallgemeinerung des Teiles als Ganzes ist unter anderem den Darstellungsstrategien geschuldet. Aus dem Kontext gerissen und mit genuin menschlichen Kategorien (Liebe, Hunger, Angst) versehen, wird das Ereignis oft zu einem universellen Geschehen, das einen exemplarischen Charakter bekommt. Dementsprechend fallen im westdeutschen Kontext vor allem diejenigen Produktionen unter den Verdacht der Verdrängung, die diese Verallgemeinerungseffekte ignorieren und den Eindruck erwecken, als ob sie wirklich nur an einem Ausschnitt interessiert wären. Die erfolgreichsten Werke sind dagegen diejenigen, die das Fragment als Metapher für das Ganze verstehen und die Handlung aus den einzelnen Bestandteilen zusammensetzen, die für den ganzen Krieg als repräsentativ gelten. So bietet Stalingrad (BRD 1993, R. Joseph Vilsmaier) am Beispiel der Schlacht Einsichten in die anfänglichen Erfolge der Wehrmacht, in die darauffolgenden Niederlagen und besonders in die Verbrechen der Wehrmacht. Eine weitere Besonderheit des westdeutschen Fragments besteht darin, dass es nicht abgeschlossen wird. Zum einen ist das Bild nie vollständig, wie problematisch das Streben nach Vollständigkeit auch sein mag. Zum anderen zeigen die Filme, die der Fragment-Narration folgen, keinen Übergang zum Frieden; sie schließen den Krieg ab, ohne die nachfolgende Gesellschaft zu zeigen und zu legitimieren. Nur die Werke des Neuen Deutschen Films (Alexander Kluge, Rainer W. Fassbinder) der 1970er Jahre thematisieren diesen Übergang, wobei sie die Kontinuität zwischen Nationalsozialismus und BRD betonen. Die Unvollständigkeit und das eigentümliche Andauern des Kriegsendes sind nicht zuletzt als Ursachen dafür zu verstehen, dass gerade in Deutschland öffentliche, populäre und theoretische Auseinandersetzungen mit kollektiven Erinnerungen seit den 1980er Jahren Konjunktur haben (siehe die Beiträge zu sowjetischen, west- und ostdeutschen Erinnerungen in Flacke 2005). In der BRD vor der Wende und im heutigen Deutschland intensiviert sich das Bedürfnis, den Krieg auch erinnerungspolitisch zu einem Abschluss zu bringen. Wissenschaftliche und politisch-kulturelle Debatten in Russland artikulieren die 367
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5 Narrationstypologie
Angst vor dem schnellen Vergessen der ruhmvollen Vergangenheit, an die aktuelle Diskurse ständig anzuknüpfen versuchen. Die Erfahrung, dass die Geschichte nur als Fragment und nicht als Ganzes erzählt werden kann, wird selbst bereits im Krieg gemacht. In der UdSSR werden zahlreiche Kriegsfilme gedreht, die der Propaganda dienen, indem sie den Mut heraufbeschwören, den Heroismus als Vorbild setzen oder die Bosheit des Feindes demonstrieren, um die Massen zu mobilisieren. Die meisten dieser Filme sind Fragmente, da die Ergebnisse des Krieges noch nicht bekannt sind; sie fokussieren einzelne Ereignisse, die als Exempel der sowjetischen Standhaftigkeit und des Heroismus dienen. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges werden sogenannte Kriegsfilmmagazine [боевые киносборники] zum führenden Genre. Sie bestehen aus zwei bis sechs Kurzfilmen und stehen zum Teil in der Tradition des propagandistischen Verteidigungsfilms aus der Vorkriegszeit. Der Verteidigungsfilm Ende der 1930er Jahre inszeniert den Krieg und den schnellen, ruhmvollen Sieg über den Feind, der aufgrund der sozialistischen Solidarität der Massen möglich wird (Margolit 1999, S. 101). Die sowjetischen Filme und Kriegsberichte unterscheiden sich radikal von den NS-Produktionen. Da die sowjetischen Filme und Kriegsfilmmagazine die Bevölkerung für den Kampf motivieren sollen, enthalten sie viele Gewaltszenen (auch von sowjetischen Soldaten ausgeübte Gewalt), während sich die UFA-Filme und die Deutsche Wochenschau112 vorwiegend mit erfolgreichen Offensiven oder dem soldatischen Heroismus beschäftigen und Gewaltakte oder Tote zu zeigen vermeiden. Diese Darstellungsart bleibt im deutschen Film nach dem Krieg bestehen, allerdings wird auch im sowjetischen Kino die Gewaltdarstellung der Roten Armee auf das Notwendigste reduziert. Je ferner der Krieg in die Vergangenheit rückt, desto deutlicher steht die Kriegsgewalt im Kontrast zur Gegenwart und bedarf daher einer sorgfältigen Begründung. In der vorliegenden Studie wird zwischen den folgenden Subkategorien der Narrationsform unterschieden, die jeweils unterschiedliche thematische Schwerpunkte setzen: Ereignis-Fragment, Endnarration, Sonderfragment und Synekdoche. Diese Klassifikation ist sicher unvollständig, sie soll vor allem darauf aufmerksam machen, welche Funktionen Kriegsfilme für das kollektive Gedächtnis erfüllen. Außerdem ist die Anordnung der Filme als idealtypisch zu verstehen. Einige können zu mehreren Kategorien gezählt werden, was jedoch kein Problem darstellt. Die durch die Analyse hervorgehobenen Aspekte des Films stehen nicht im Widerspruch zu anderen kategorialen Eigenschaften.
112 Die Information stammt aus Interviews mit Wochenschau-Kriegsreportern im Dokumentarfilm Schuss Gegenschuss (BRD 1989/90, R. Niels Bolbrinker/Thomas Tielsch).
5.5 Geschichte als Fragment
369
Das Ereignis-Fragment inszeniert das historische Geschehen als ein wichtiges Ereignis, das in der Gesellschaft erinnerbar werden muss. Das Erinnerungsgebot wird auch durch den Produktionsaufwand hervorgehoben. Diese Narrationsart fehlt in der DDR: Der Widerstand gegen den Faschismus wurde in der „Narration von oben“ verankert, um ihn zum einen durch die Kraft der Tradition und Kontinuität zu legitimieren. Zum anderen werden die Zuschauenden in den Prozess der Erkenntnis des verbrecherischen Wesens des Nationalsozialismus und des Seitenwechsels involviert, im Zuge dessen sie zu sozialistischen Bürgern und Bürgerinnen werden sollen. Für den Erkenntnisprozess ist die Fragment-Narration zwar ebenso geeignet, es fehlt ihr jedoch eine narrative Anknüpfung an Traditionen. Das bedeutet, dass die Handlung dort anfängt, wo der Krieg sich bereits dem Ende neigt. Seinen Ursprung und seine Gründe werden in der Regel nicht mehr erklärt. Die Ereignisinszenierung läuft außerdem aus einer generischen Logik heraus Gefahr, den Krieg zumindest teilweise zu glorifizieren, was den westdeutschen Fragment-Filmen dann auch vorgeworfen wird. In der UdSSR sind vor allem Schlachtfilme über die Verteidigung der sogenannten „heldenhaften Städte“ [goroda-geroi] wie Moskau, Stalingrad, Leningrad, Kiew, Odessa, Sewastopol usw. beliebt, in der BRD die Schlacht um Stalingrad und der Widerstandskampf (das Attentat vom 20. Juli 1944, die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“). Die Hervorhebung eines Ereignisses ist dabei als Effekt einer kulturellen Aushandlung zu verstehen, an der Filme aktiv teilnehmen. So könnten auch andere Geschehnisse als Ereignisse etabliert werden, wenn sie als solche inszeniert würden, zum Beispiel die Befreiung von Konzentrationslagern oder Ereignisse, die die Schwächung des Stalinismus während des Krieges in der UdSSR zeigen würden. In der Sowjetunion werden insbesondere jene historischen Darstellungen finanziert und somit als ereignishaft anerkannt, die sich im Nachhinein als wichtige strategische Kriegsereignisse erwiesen haben oder zu solchen konstruiert worden sind. In der UdSSR wird der Krieg an sich nicht verurteilt, nur der NS-Militarismus, weshalb der Kriegsheroismus als einer der wichtigsten Topoi der sowjetisch-russischen Erinnerungskultur fungiert, der sich am besten in spektakulären Schlachten demonstrieren lässt (Abb. 22–23). In der BRD wurde die Schlacht von Stalingrad ebenfalls wegen ihrer Spektakularität ausgewählt,113 um damit eine Figur der Kritik am Krieg und eine Metapher der Niederlage zu formulieren. Zuvor gab es beispielsweise die Schlacht um Moskau von 1941, die die Wehrmacht genauso verloren hatte. Diese ist aber kaum präsent im kollektiven Gedächtnis Deutschlands. 113 Weitere Ereignisse, die filmisch verarbeitet wurden bzw. durch Filme als Ereignisse etabliert wurden, sind Monte Casino und der Afrikafeldzug (siehe Wegmann 1980, S. 144). 369
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5 Narrationstypologie
Abb. 22 „Aufwärts für die Heimat!“ Ein bekanntes sowjetisches (Propaganda-)Bild aus dem Zweiten Weltkrieg
Abb. 23 STALINGRAD (RF 2013, R. Fedor Bondarčuk)
Das Thema des Widerstands gewann im Zuge der Remilitarisierung der BRD im Kalten Krieg zunehmend an Bedeutung, um die Bundeswehr gegenüber der Wehrmacht neu zu positionieren, aber auch eine anti-nationalistische Haltung aufrechtzuerhalten. So wird die Widerstandsaktivität zu einem Ereignis erhoben. Die Schlacht um Stalingrad wurde in dieser Arbeit als Analysegegenstand in erster Linie wegen der besseren Vergleichbarkeit ausgewählt: Deutschland und
5.5 Geschichte als Fragment
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Russland tauschen Bilder untereinander aus und entwickeln sie weiter. In beiden Kulturen wurde Stalingrad bereits im Krieg eine wichtige Bedeutung zugeschrieben, wobei sich der Ereignischarakter erst nach dem Krieg herausbildete (Reichel 2004, S. 83–84). Heute ist Stalingrad der Inbegriff der gegenseitigen Annäherung an den Feind, teilweise auch der Entdifferenzierung der Kontrahenten. Die verschiedenen Darstellungen weisen auf viele Ähnlichkeiten hin, die wiederum auf das Medium Film aufmerksam machen – auf bestimmte Konventionen des Kriegsfilm-Genres etwa, die das Ereignis auf beiden Seiten ähnlich aussehen lassen. In der BRD entwickelt sich die Darstellung vom Ereignis-Fragment zur Synekdoche, das heißt, Stalingrad fungiert zunehmend als eine kritische Metapher für den gesamten Krieg, was sich an zwei Werken zeigen lässt: Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) und Stalingrad (BRD 1993). Da in der UdSSR zahlreiche Werke zu Stalingrad existieren – jede neue Generation von Filmemacher*innen widmet sich der Schlacht –, wird es zu einem ambivalenten Ereignis, das im Russland der Gegenwart durch die Fusion deutscher, russischer und amerikanischer Motive und Ästhetiken als ein internationales Erinnerungsereignis dargeboten wird. Der Überblick über verschiedene Produktionen wird von einer Analyse des ersten russischen 3D-Films Stalingrad (RF 2013, R. Fedor Bondarčuk) abgeschlossen. Die Endnarration ist in allen drei Kulturen populär, wird doch mit den Ergebnissen des Krieges die jeweilige Nachkriegsordnung legitimiert. Die Werke mit dieser Narrationsart beginnen ihre Handlung am Ende des Krieges. Besonders für die DDR ist dies eine sehr wichtige Fragment-Form, da vor allem der Sozialismus als Staatsform und die Präsenz der sowjetischen Armee in der DDR legitimiert werden mussten. Deswegen sind die meisten Endnarrationen Koproduktionen mit der UdSSR. Paradigmatisch sind in diesem Zusammenhang Fünf Tage – fünf Nächte / Пять дней – пять ночей (UdSSR/DDR 1961, R. Leo Arnstam) und Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf). In diesen Filmen steht ein sowjetisches Opfer im Mittelpunkt, das den Nationalsozialismus zu überwinden hilft, wodurch die DDR in der Schuld der UdSSR steht und die sowjetische Präsenz in der DDR legitimiert wird – auch wenn Konrad Wolf die ostdeutsche und sowjetische Kultur in dieser Hinsicht kritisch reflektiert (Abb. 24).
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5 Narrationstypologie
Abb. 24 ICH WAR NEUNZEHN (DDR 1968, R. Konrad Wolf)
Abb. 25 DER LETZTE AKT (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst)
5.5 Geschichte als Fragment
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In der BRD zeichnet sich die Endnarration durch die apokalyptisch anmutenden Bilder des Kriegsendes aus, die allerdings nicht die darauffolgende Ordnung verhandeln (Abb. 25). In der Regel wird das Ende des Krieges als Warnung in Szene gesetzt, aber nie an aktuelle Diskurse geknüpft, soll doch die bürgerliche Ordnung vom Nationalsozialismus bildlich und semantisch abgetrennt bleiben. Aus diesem Grund wird der Untergang des NS-Regimes in einem distanzierten Beobachtermodus dargeboten. In Der letzte Akt (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) geschieht dies durch die Perspektive eines Wehrmachtsoffiziers, der in den Hitler-Bunker kommt, um über die Frontlage zu berichten. Der Untergang verweiblicht die Perspektive auf die Geschichte und verwendet diese Perspektive zudem als Verfremdungsstrategie gegenüber dem männlichen Militarismus. Die sowjetische Endnarration beschäft igt sich hauptsächlich mit der Erinnerungskultur. Die erfolgreiche Etablierung der „Narration von oben“ schließt die Geschichte ab und rückt diese zugleich in die Vergangenheit, die Endnarrationen versuchen hingegen die Gegenwart mit der Vergangenheit aufs Neue zu verknüpfen. Sie diskutieren Praktiken kollektiver Erinnerung, heben die Leistung der Roten Armee als Befreierin Europas hervor und messen daran den aktuellen Zustand der sowjetischen Gesellschaft (Abb. 26). Die Endnarration wird daher durch eine Reihe von Filmen repräsentiert, die ihre Aktualisierungsstrategien je nach politischer Situation verändern. Bis heute bleibt jedoch eine geschlechtsspezifische Tradition bestehen: Mit Männerfiguren wird der Sieg gefeiert und die Kontinuität zwischen Kriegsende und Sozialismus konstituiert, denn sie stehen für Ordnung und Normalität. Der Fokus auf Frauenfiguren entstellt sowohl die Erinnerungskultur als auch die gegenwärtige sozialistische Ordnung, dezentriert den Blick auf die Geschichte und hinterfragt ihre Legitimationskraft.
Abb. 26 WEIßRUSSISCHER BAHNHOF [Белорусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov) 373
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5 Narrationstypologie
Abb. 27 NACKT UNTER WÖLFEN (DDR 1963, R. Frank Beyer)
Unter dem Begriff Sonderfragment werden solche Filme gefasst, die für einzelne Kulturen charakteristisch sind. In anderen Erinnerungskulturen können ähnliche Filme produziert worden sein, die sich aber aus verschiedenen Gründen nicht als topisch für die Erinnerungskultur etablieren konnten. In diesem Kapitel werden mithin Aussagen über die Spezifik der jeweiligen Erinnerungskultur möglich. Für die DDR typische Sonderfragmente sind KZ- und Gefängnisfilme (Abb. 27). Obgleich der DDR von Seiten der BRD wiederholt vorgeworfen wurde, dass in öffentlichen Erinnerungspraxen der Judenmord nicht oder wenig beachtet wurde, sind Konzentrationslager und Gefängnisse zentrale filmische Erinnerungsorte Ostdeutschlands. Das Lager bietet die Möglichkeit, einen Ort im Krieg zu zeigen, an dem sich verschiedene ästhetisch-politische Strategien kreuzen: Erstens wird eine Opferperspektive möglich; zweitens wird der Nationalsozialismus als grausam vorgeführt und so verurteilt; drittens dient das Leiden der deutschen Kommunisten im Lager als Buße für die Vergangenheit, und viertens ermöglicht das Lager, den Antifaschismus im Krieg zu verorten. Die meisten deutschen Kommunisten und Kommunistinnen mussten entweder aus dem eigenen Land fliehen oder verbrachten den Krieg im KZ. Die Zeit im Exil wird nie in Szene gesetzt, weil sie visuell keinen Bezug zur deutschen Geschichte und Kultur anbietet und das Exil eventuell erfordert, das Andere oder Fremde in die eigene Identität aufzunehmen. Das Lager ist damit der Ort, der dem nationalsozialistischen Deutschland ein aussagekräftiges kritisches Bild verleiht, ohne den NS-Militarismus zu reproduzieren. Letztendlich fungiert das Lager als eine Doppelmetapher, die neben der Verurteilung und Abspaltung des Nationalsozialismus auch auf die aktuelle politische Situation der DDR Bezug nimmt. Besonders wird die Isolation Ostdeutschland gegenüber dem Westen spürbar, während im Inneren die SED-Diktatur herrscht, die zum Teil durch die sowjetisch-sozialistische Ideologie aufgezwungen wird. Das Verhaftet-Werden wird als Erinnerungsbild populär, weil
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es die nationalsozialistische und die sozialistische Diktatur zusammenführt. Als Beispiele für das DDR-Sonderfragment werden im nächsten Band Sterne (DDR/ BUL 1959, R. Konrad Wolf), Nackt unter Wölfen und Jakob der Lügner untersucht, an denen die Entwicklung des Lager-Topos nachvollzogen werden kann. Ab den 1960er Jahren geht das Motiv des Lagers außerdem in Gegenwartsfilme ein, in denen damit sowohl der aktuelle gesellschaftliche Zustand als auch die darauf bezogene Erinnerungskultur diskutiert wird, beispielsweise in den Filmen Schritt für Schritt (DDR 1960, R. János Veiczi), Denk bloss nicht, ich heule (DDR 1965/66/90, R. Frank Vogel) oder Zeit zu leben (DDR 1969, R. Horst Seemann) (für eine ausführliche Analyse dieser Filme siehe Barnert 2008). In der BRD handeln typische Sonderfragmente von Heimkehrern, die insbesondere in den 1950er Jahren populär sind. Zwar spielt auch hier oft das Lager eine Rolle, aber es wird nicht zum kollektiven Erinnerungstopos, da die Filme ein fremdes, stalinistisches Lager zeigen, das gegen Ende des Films wieder verlassen wird. Man könnte diese Filme auch als Endnarrationen lesen, da ihre Handlung direkt nach dem Kriegsende situiert ist. Sie verhandeln allerdings nicht den Übergang zum Frieden und die kommende Ordnung; vielmehr wird hier eine Buße für den Krieg inszeniert, die als Legitimation für die BRD gilt – die Heimkehrer haben mit ihrem Leid und ihrer Arbeit die Schuld des Krieges abgegolten. Im Zuge dessen wird auch eine Annäherung an den ehemaligen Kontrahenten inszeniert, wobei die Versöhnung in den 1950er Jahren als unmöglich dargestellt wird (Abb. 28).
Abb. 28 DER ARZT VON STALINGRAD (BRD 1958, R. Géza von Radványi) 375
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5 Narrationstypologie
Die meisten Heimkehrer kommen nie in Deutschland an, sie werden in der Regel unterwegs gezeigt, sodass ihr Übergang in die Friedenszeit scheitert und die Nachkriegsgesellschaft nicht in Kontinuität zu den Heimkehrern gestellt werden kann – so etwa in Der Arzt von Stalingrad (BRD 1958, R. Géza von Radványi) und Der Teufel spielte Balalaika (BRD 1961, R. Leopold Lahola). Für die UdSSR sind Agenten- und Spionagefi lme zentral, die vor dem Hintergrund des Kalten Krieges besonders populär werden. Sie bringen dem Publikum den Feind näher: Offensichtlich entsteht im Kalten Krieg das Bedürfnis, den ideologischen Kontrahenten besser kennenzulernen. Im Zuge der Annäherung wird der Feind jedoch zu einem begehrten Fantasieobjekt, das mit übermenschlichen Kräften ausgestattet wird. Die sowjetischen Agentinnen und -agenten eignen sich diese an, indem sie den Feind überwältigen, wobei sie insbesondere in ihrer deutschen Identität als attraktiv erscheinen (Abb. 29). Diese Überlagerung des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges deutet darauf hin, dass der Kriegsfi lm eines der zentralen Identitätsmedien der UdSSR ist, der immer auch mit aktuellen Diskursen angereichert wird. Analysiert wird die sowjetische Kult-Miniserie Siebzehn Augenblicke des Frühlings [Семнадцать мгновений весны] (UdSSR 1973, R. Tat’jana Lioznova), welche sich bis heute in Russland großer Popularität erfreut.
Abb. 29 SIEBZEHN AUGENBLICKE DES FRÜHLINGS [Семнадцать мгновений весны] (UdSSR 1973, R. Tat’jana Lioznova)
5.5 Geschichte als Fragment
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Als Synekdoche werden solche Narrationen bezeichnet, die dem Prinzip Pars pro Toto folgen. Wie die anderen Fragment-Formen fokussiert dieser Narrationstypus einen Ausschnitt aus dem Krieg, der allerdings auf der unmittelbaren Sinnebene des gezeigten Geschehens eine symbolische Sinnebene des ganzen Krieges entfaltet und somit stellvertretend für diesen steht. Die Parabel steht in dieser Mehrdeutigkeitsproduktion nah an der Synekdoche, denn beide behandeln eine Episode, die stellvertretend für ein größeres Ereignis bzw. für globale Zusammenhänge steht. Parabel- und Synekdoche-Narrationen unterscheiden sich dabei voneinander etwa so wie Allegorie und Symbol nach Paul de Man, der in Anlehnung an den angelsächsischen Romantiker Coleridge auf die strukturellen Analogien der Synekdoche und des Symbols hinweist: Das Symbol ist von gleicher Struktur wie die Synekdoche, da es stets ein Teil der von ihm dargestellten Ganzheit ist. In der symbolischen Vorstellung sind folglich die konstitutiven Eigenschaften nicht spaltbar, weil die materielle Wahrnehmung und die symbolische Vorstellungskraft zusammenhängen wie der Teil und das Ganze. (de Man 1993, S. 87)
Für de Man ist das Merkmal des Symbols – im Gegensatz zur eher zeitlich ausgerichteten Allegorie – die räumliche Gleichzeitigkeit, sodass der Teil und das Ganze dasselbe Kategoriengefüge darstellen: „Ihre Beziehung [die zwischen dem Bild und der Bedeutung – IG] ist eine Beziehung der Simultaneität, welche im Grunde räumlicher Natur ist und in der die Zeit nur eine kontingente Rolle spielt.“ (Ebd., S. 103) In Analogie dazu findet die Handlung in der Synekdoche-Narration im Krieg statt, sodass sich beide Sinnebenen auf den gleichen Raum und damit auf den Krieg beziehen, während sich in der Parabel das Geschehen außerhalb des Krieges ereignet. Wie beim Symbol, so kann man bei der filmischen Synekdoche nie sicher sein, ob es sich um eine unmittelbare oder übertragene oder, mit Hegel gesprochen, um eine eigentliche oder uneigentliche Bedeutung handelt. Hegel charakterisiert das Symbol in einer seiner Vorlesungen über die Ästhetik unter anderem durch die Unauflösbarkeit seiner Zweideutigkeit: „[…] der Anblick eines Symbols [führt] überhaupt sogleich den Zweifel herbei, ob eine Gestalt als Symbol zu nehmen ist oder nicht […]“ (Hegel 2009, S. 272, Hervorhebung im Original), weil nicht nur die symbolische Bedeutung, „sondern auch diese sinnliche Gestalt und Existenz selber vor Augen“ stehe (ebd.). Die Sinnebenen sind auch in der Synekdoche eng miteinander verflochten, ja voneinander kaum zu trennen, sodass die uneigentliche bzw. symbolische Bedeutung in bestimmten Momenten aufscheint und sich als eine Art Unbewusstes manifestiert. Coleridge bezeichnet das als „translucence“, das „Aufscheinen des Speziellen im Individuellen“, des „Allgemeinen im Speziellen“ 377
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oder des „Universellen im Allgemeinen“ (zit. nach de Man 1993, S. 87). In manchen Filmen sind die beiden Ebenen konstitutiv verflochten, wodurch das Verständnis des Films mit der symbolischen Bedeutung zusammenfällt, während in der Parabel die eigentliche Bedeutung von der allegorischen unabhängig ist, welche unter Umständen übersehen werden kann. Außerdem unterscheidet sich die Synekdoche von der Parabel insofern, als sie in der Regel nicht analytisch ist. Sie kann eine neue Deutung des ganzen Krieges anbieten oder nur einen differenzierten Blick auf die Geschichte entwickeln, analysiert jedoch selten in ihrer Handlungsentwicklung die historischen Zusammenhänge. Sie zeigt das Ganze am Beispiel eines Teils eher in der Form eines Symptoms, eines diagnostischen Bildes. Die Symbolisierung des Kriegsablaufs wird zugleich in einer zeitlichen Verdichtung und einer zeitlichen Ausdehnung erreicht, die einander gar nicht widersprechen. Das Ganze wird einerseits in einem Kriegsausschnitt verdichtet. Er reproduziert den Ablauf des Krieges en miniature. Andererseits ist das Dargestellte metonymisch auf das Ganze ausdehnbar. Die Verallgemeinerung eines Teiles auf das Ganze bzw. die Verdichtung des Ganzen in einem Fragment fördern eine ganze Reihe von Darstellungsstrategien, so etwa die Fokussierung eines unbekannten, zuvor kaum beachteten historischen Geschehens, enthistorisierte Kriegsschauplätze (Raum), die Situierung der Handlung zu Beginn des historischen Geschehens (Zeit) und eine Typisierung der Figuren. Diese Strategien lassen die Handlung zum Beispiel für das Ganze werden. Das unbekannte historische Geschehen ist nicht vorbelastet durch bestehende erinnerungspolitische Deutungen und ist nicht so sehr durch bekannte historische Persönlichkeiten oder den historischen Verlauf individualisiert, wie es im Fall der Ereignis-Fragmente der Fall ist. Das Geschehen der Synekdoche wird aus diesem Grund auch nicht zum Ereignis. Vom Ereignis-Fragment unterscheidet sich die Synekdoche dadurch, dass der gezeigte Fall oder Aspekt für die offizielle Erinnerungspolitik oder die Historiografie des Krieges unbedeutend ist. Die Handlungsorte beziehen sich unmittelbar auf Kriegsschauplätze, diese sind aber nicht historisch identifizierbar und bleiben daher zeitlich unbestimmt. Beispielsweise wird in deutschen Filmen das Meer und in sowjetischen der Wald eingesetzt, um einen entsemantisierten Raum zu kreieren und die Handlung so von der historischen Zeit zu entkoppeln. Generell tendieren die meisten Fragmente in der BRD zur Synekdoche. In der Regel fördert die epische Breite, die unter dem Einfluss der Hollywood-Ästhetik immer populärer wird, eine symbolische Ausdehnung des Sinns. Nichtsdestoweniger sind Synekdochen zu finden, die auch als solche produziert wurden und nicht allein durch den Rezeptionskontext als solche gelesen worden sind. Haie und kleine Fische (BRD 1957, R. Frank Wisbar) und Das Boot (BRD 1981, R. Wolfgang Petersen) sind paradigmatische Beispiele ei-
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ner Synekdoche (Abb. 30). Die westdeutschen U-Boot-Filme symbolisieren dabei immer auch den Kalten Krieg, indem in ihnen der historische Kontext im Meer bildlich ausgelöscht und der Krieg zum Kampf der Maschinen wird. Laconia / The Sinking of the Laconia (D/GB 2011, R. Uwe Janson) verarbeitet Motive der beiden früheren Filme und entwirft mit dieser Bezugnahme auf die tradierte Kriegsikonografie eine der Europäischen Union entsprechende Vergangenheit. Die Deutung dieses Films steht zwar konträr zum etablierten Kriegsbild, kann das Geschehen jedoch auf das Ganze ausdehnen, weil die Handlung symbolisiert und die Figuren typisiert werden.
Abb. 30 DAS BOOT (BRD 1981, R. Wolfgang Petersen)
Darüber hinaus wird die Synekdoche in der DDR und der BRD auch für die filmische Verarbeitung des Judenmords eingesetzt – auch deshalb, weil sie die Anfänge struktureller und staatlicher Veränderungen zu zeigen ermöglicht, die dann zur Ermordung der europäischen Juden führten, ohne dass die Vernichtungsvorgänge selbst reproduziert werden müssten (Abb. 31). Es werden mithin die Anfänge der Verfolgung gezeigt, deren großmaßstäbliche Ausweitung dann durch die Dramatisierung der Handlung angedeutet wird. Zwei der bedeutendsten Beispiele sind Professor Mamlock (DDR 1961, R. Konrad Wolf) und der Fernsehfilm Die Geschwister Oppermann (BRD 1983, R. Egon Monk). Demgegenüber entstand in der UdSSR die Synekdoche als Reaktion auf die totalisierende Großgeschichtsschreibung und mithin als Versuch, die „Narration von oben“ zu brechen, zu korrigieren und auf dasjenige hinzuweisen, das in der allumfassenden Geschichtsdeutung ausgelassen wurde. Ähnlich wie in der BRD 379
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Abb. 31 PROFESSOR MAMLOCK (DDR 1961, R. Konrad Wolf)
werden kleine, scheinbar unbedeutende Ereignisse vorgeführt, an denen grundlegende, ja universelle Fragen, oft in Bezug auf biblische Gleichnisse oder Parabeln, verhandelt werden, die die mögliche Deutung der Filme verallgemeinern. Die meisten Synekdochen bleiben im Rahmen der offiziellen Geschichtsschreibung und geben einen Ausblick auf das Ende des Krieges, wodurch die kleinen Ereignisse als ‚vergessene‘ Beiträge zum Sieg inszeniert werden. Der Weg zum Sieg wird jedoch auf neue Weise darstellt. Dabei werden paradigmatisch die Opfer geehrt, die zunächst aus den kollektiven Erinnerungen ausgeschlossen worden waren. Der Film Ivans Kindheit (1962) denkt etwa über die Teilnahme der Kinder im Krieg nach, womit er zugleich eines der beliebtesten ideologischen Motive des sowjetischen Kinos, den durch das Regiment adoptierten Jungen, kritisch betrachtet. Strassenkontrolle (1971) korrigiert die Sichtweise auf den Krieg aus der Perspektive der Kriegsgefangenen (Abb. 32). Aufstieg (1976) setzt sich mit den Themen Partisanenkrieg und Verrat auseinander. Im Morgengrauen ist es noch still (1972) thematisiert die Leistung der Frauen an der Front, die in der offiziellen Nachkriegs-Historiografie ebenso wie in der Erinnerungspolitik kaum Beachtung fanden. Eine ausführliche Analyse der Filme ist im zweiten Band zu finden.
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5 Narrationstypologie
Sorokina, I.: Konzeptionen des literarischen Prozesses in der sowjetischen Kritik [Koncepcii literaturnogo processa v sovetskoj kritike], in: Kaznina, O. A. (Hg.): Auf der Suche nach einer neuen Ideologie: sozial-kulturelle Aspekte des russischen literarischen Prozesses der 1920er bis 1930er Jahre [V poiskach novoj ideologii: Sociokul’turnye aspekty russkogo literaturnogo processa 1920–1930-ch godov], Moskva 2010, S. 230–289. Taylor, Henry McKean: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System, Marburg 2002. Vlasov, M.: Gattungen und Genres der Kinokunst [ Vidy i žanry kinoiskusstva], Moskva 1976. Wegmann, Wolfgang: Der westdeutsche Kriegsfilm der fünfziger Jahre, Köln 1980. Wiesner, Herbert: Zensiert – gefördert – verhindert – genehmigt. Oder wie legt man Literatur auf Eis? In: Wichner, Ernest/Wiesner, Herbert (Hg.): „Literaturentwicklungsprozesse“. Die Zensur in der Literatur in der DDR, Frankfurt am Main 1993, S. 7–17. W. Lg.: Internationale Spitzenklasse. Uraufführung des DEFA-Films „Affäre Blum“ im Babylon-Kino, in: Berliner Zeitung vom 15.12.1948. Wulff, Hans Jürgen: Im Westen nichts Neues, in: Klein, Thomas/Stiglegger, Marcus/Traber, Bodo (Hg.): Filmgenres: Kriegsfilm, Stuttgart 2006, S. 46–56. Zahlmann, Stefan: Körper und Konflikt. Filmische Gedächtniskultur in BRD und DDR seit den sechziger Jahren, Berlin 2001. Žižek, Slavoj: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien, Wien 1997.
Internetquellen http://www.dhm.de/ausstellungen/archiv/2014/der-erste-weltkrieg/die-ausstellung.html (10.11.2016).
Filme Filme
BRD/Deutschland 08/15 (BRD 1954/55, R. Paul May) Aus einem deutschen Leben (BRD 1977, R. Theodor Kotulla) Canaris (BRD 1954, R. Alfred Weidenmann) Das Boot (BRD 1981, R. Wolfgang Petersen) Das Haus in der Karpfengasse (BRD 1963, R. Kurt Hoffmann) Der 20. Juli (BRD 1955, R. Falk Harnack) Der Arzt von Stalingrad (BRD 1958, R. Géza von Radványi) Der letzte Akt (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) Der Teufel spielte Balalaika (BRD 1961, R. Leopold Lahola) Der Untergang (D 2004, R. Oliver Hirschbiegel) Der Verlorene (BRD 1951, R. Peter Lorre)
Filme
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Deutschland, bleiche Mutter (BRD 1980, R. Helma Sanders-Brahms) Die Bertinis (BRD/A/CH 1988, R. Egon Monk) Die Brücke (BRD 1959, R. Bernhardt Wicki) Die Geschwister Oppermann (BRD 1983, R. Egon Monk) Die Sünderin (BRD 1951, R. Willi Forst) Es geschah am 20. Juli (BRD 1955, R. Georg Wilhelm Pabst) Fabrik der Offiziere (BRD 1960, R. Frank Wisbar) Film ohne Titel (1948, R. Rudolf Jugert) Haie und kleine Fische (BRD 1957, R. Frank Wisbar) Heimat (BRD 1981–2012, R. Edgar Reitz) Hunde, wollt ihr ewig leben? (BRD 1959, R. Frank Wisbar) In jenen Tagen (1947, R. Helmut Käutner) Jeder stirbt für sich allein (BRD 1975, R. Alfred Vohrer) Kirmes (BRD 1960, R. Wolfgang Staudte) Kriegsgericht (BRD 1959, R. Kurt Meisel) Laconia / The Sinking of the Laconia (D/GB 2011, R. Uwe Janson) Lili Marleen (BRD 1981, R. Rainer W. Fassbinder) Nacht fiel über Gotenhafen (BRD 1960, R. Frank Wisbar) Schicksal aus zweiter Hand (BRD 1949, R. Wolfgang Staudte) Schuss Gegenschuss (BRD 1989/90, R. Niels Bolbrinker/Thomas Tielsch) So weit die Füsse tragen (D 2001, R. Hardy Martins) Speer und Er (D 2005, R. Hans Breloer) Stalingrad (BRD 1993, R. Joseph Vilsmaier) Unsere Mütter, unsere Väter (D 2013, R. Philipp Kadelbach) Wir Wunderkinder (BRD 1958, R. Kurt Hoffmann) Zwischen gestern und morgen (1947, R. Harald Braun)
DDR Affäre Blum (DEFA 1948, R. Erich Engel) Betrogen bis zum jüngsten Tag (DDR 1957, R. Kurt Jung-Alsen) Chronik eines Mordes (DDR 1965, R. Joachim Hasler) Das Beil von Wandsbek (DDR 1951, R. Falk Harnack) Das zweite Gleis (DDR 1962, R. Hans-Joachim Kunert) Denk bloss nicht, ich heule (DDR 1965/66/90, R. Frank Vogel) Der Aufenthalt (DDR 1983, R. Frank Beyer) Der Fall Gleiwitz (DDR 1961, R. Gerhard Klein) 385
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5 Narrationstypologie
Der Rat der Götter (DDR 1950, R. Kurt Maetzig) Die Abenteuer des Werner Holt (DDR 1964/65, R. Joachim Kunert) Die Bilder des Zeugen Schattmann (DDR 1971/72, R. Kurt Jung-Alsen) Die Buntkarierten (DDR 1949, R. Kurt Maetzig) Die Mörder sind unter uns (DEFA 1946, R. Wolfgang Staudte) Die Russen kommen (DDR 1967/68, 1987, R. Heiner Carow) Die Toten bleiben jung (DDR 1968, R. Joachim Kunert) Die Verlobte (DDR 1980, R. Günter Reisch/Günther Rücker) Ehe im Schatten (DEFA 1947, R. Kurt Maetzig) Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (DDR 1955, R. Kurt Maetzig) Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (DDR 1954, R. Kurt Maetzig) Erster Verlust (DEFA 1990, R. Maxim Dessau) Hotel Polan und seine Gäste (DDR 1982, R. Horst Seemann) Ich war neunzehn (DDR 1968, R. Konrad Wolf) Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer) Königskinder (DDR 1962, R. Frank Beyer) Lebende Ware (DDR 1966, R. Wolfgang Luderer) Mama, ich lebe (DDR 1976, R. Konrad Wolf) Nackt unter Wölfen (DDR 1963, R. Frank Beyer) Professor Mamlock (DDR 1961, R. Konrad Wolf) Rotation (DDR 1949, R. Wolfgang Staudte) Schritt für Schritt (DDR 1960, R. János Veiczi) Sie nannten ihn Amigo (DDR 1959, R. Heiner Carow) Sterne (DDR/BUL 1959, R. Konrad Wolf) Wengler & Söhne – eine Legende (DDR 1986, R. Rainer Simon) Zeit zu leben (DDR 1969, R. Horst Seemann)
Italien Germania, Anno Zero (I 1946, R. Roberto Rosselini)
UdSSR/Russländische Föderation Alpenballade [Альпийская баллада] (UdSSR 1965, R. Boris Stepanov) Auf den Wegen des Krieges [На дорогах войны] (UdSSR 1958, R. Lev Saakov) Aufstieg [Восхождение] (UdSSR 1976, R. Larisa Šepit’ko) Befreiung [Освобождение] (UdSSR/DDR/YU/I/P 1968–1972, R. Jurij Ozerov)
Filme
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Der ewige Ruf [Вечный зов] (UdSSR 1973–83, R. Vladimir Krasnopol’skij/Valerij Uskov) Der Fall von Berlin [Падение Берлина] (UdSSR 1949, R. Michail Čiaureli) Der Krieg ist kein Abzählspiel [„Аты-баты, шли солдаты…“] (UdSSR 1977, R. Leonid Bykov) Der Schwur [Клятва] (UdSSR 1946, R. Michail Čiaureli) Der Vater eines Soldaten [Отец солдата] (UdSSR 1964, R. Rezo Chčeidze) Die Dorfschullehrerin (Erziehung der Gefühle) [Сельская учительница (Воспитание чувств)] (UdSSR 1947, R. Mark Donskoj) Die Sonne, die uns täuscht [Утомленные солнцем] (RF 1994, R. Nikita Michalkov) Die vierte Höhe [Четвертая высота] (UdSSR 1977, R. Igor’ Voznesenskij) Durst [Жажда] (UdSSR 1959, R. Evgenij Taškov) Ein Menschenschicksal [Судьба человека] (UdSSR 1959, R. Sergej Bondarčuk) Fünf Tage – fünf Nächte / Пять дней – пять ночей (UdSSR/DDR 1961, R. Leo Arnstam) Halbdunkel [Полумгла] (RF 2005, R. Artem Antonov) Heldenkampf in Stalingrad [Cвои] (RF 2004, R. Dmitrij Meschiev) Im Krieg ist wie im Krieg [На войне как на войне] (UdSSR 1969, R. Viktor Tregubovič) Im Morgengrauen ist es hier noch still [А зори здесь тихие] (UdSSR 1972, R. S tanislav Rostockij) Ivans Kindheit [Иваново детство] (UdSSR 1962, R. Andrej Tarkovskij) Offiziere [Офицеры] (UdSSR 1971, R. Vladimir Rogovoj) Siebzehn Augenblicke des Frühlings [Семнадцать мгновений весны] (UdSSR 1973, R. Tat’jana Lioznova) Six P. M. [В 6 часов вечера после войны] (UdSSR 1944, R. Ivan Pyr’ev) Soldaten [Солдаты] (UdSSR 1956, R. Aleksandr Ivanov) Stalingrad (UdSSR/DDR/USA/ČSSR 1989, R. Jurij Ozerov) Stalingrad (RF 2013, R. Fedor Bondarčuk) Strassenkontrolle [Проверка на дорогах] (UdSSR 1971/1985, R. Aleksej German sr.) Vergiss deinen Namen nicht [Помни имя свое] (UdSSR/P 1974, R. Sergej Kolosov) Weiberreich [Бабье царство] (UdSSR 1967, R. Aleksej Saltykov) Weissrussischer Bahnhof [Белорусский вокзал] (UdSSR 1970, R. Andrej Smirnov) Wenn die Kraniche ziehen [Летят журавли] (UdSSR 1957, R. Michail Kalatozov) Zwanzig Tage ohne Krieg [Двадцать дней без войны] (UdSSR 1976, R. Aleksej German sr.)
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5 Narrationstypologie
USA Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA 1978, R. Marvin J. Chomsky) Im Westen nichts Neues [All Quiet on the Western Front] (USA 1930, R. Lewis Milestone) Johnny got his gun (USA 1971, R. Dalton Trumbo) Schlachthof 5 [Slaughterhouse-Five] (USA 1972, R. George Roy Hill) The Birth of a Nation (USA 1915, R. David Wark Griffith)