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German Pages 440 [444] Year 1989
STUDIEN ZUR D E U T S C H E N LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
B a n d I04
Hartmut Reinhardt
Apologie der Tragödie Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G WORT GmbH
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Reinhardt, Hartmut: Apologie der Tragödie : Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels / Hartmut Reinhardt. - Tübingen : Niemeyer, 1989 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 104) NE: GT I S B N 3-484-18104-4
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Druckerei Maisch + Queck, Gerlingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Es sind nicht das Wollen, nicht das Können, nicht die Berufung, die über das Werk entscheiden. Man kann in ein Klima, in eine Zeit geraten, die kein Gedeihen mehr zulassen. Es geht wie mit der Vegetation, der Fauna - ganze Reihen sterben aus. Das Wort, das gestern noch Zauberkraft hatte, fällt heute sinnlos zu Boden. (Hugo v. Hofmannsthal)
... was sollte ein Tragödien-Schreiber denn Anderes seyn, als ein Tragödien-Held? (Friedrich Hebbel)
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis Einleitung 1. Gattungsgeschichtliche Endstellung a) Konsensprobleme b) Imperativischer Traditionalismus
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2. Logik der Rechtfertigung. Einige Streitfelder a) Das Subjektivitätsproblem. »Gemüths-Dialectik« b) Die Kunst: ein Vergangenes? c) Das »Sociale«: ein tragischer Fall? d) Die Gattungsentwicklung. Goethes »Grundstein« e) Bemerkungen zur Funktion der Dramentheorie
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3. Zur Methodik und Zielsetzung der Untersuchung
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I. Tragödie und Religion: >Judith
ChristusMaria Magdalena< 1. Die »Sphären« des Dramas. Theorieprobleme
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2. In a) b) c)
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den Randzonen der Tragödie Die nobilitierte Komödie Das tragikomische >Trauerspiel< Bewertungsprobleme
3. Die Tragödie. Autobiographische Elemente a) Birnbaum, Brunnen und anderes b) »Ehre« statt »Armuth«
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4. Vater, Tochter und Bürger a) Schwüre gegen Geschäfte b) Das weite Wort c) Allein und abgedrängt
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5. Die stillgestellte Zeit a) Verweigerungen b) Die Herrschaft des Todes
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6. Ein Fortsetzungs-Experiment: >Julia
Herodes und Mariamne
Agnes Bernauer* oder Politisch-tragische Kasuistik
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7. Das sinkende Schiff a) Schiller-Nachfolge und Gestaltungsprobleme b) Die ewige Wiederkehr des Gemeinen
404 405 412
Namenregister
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Abkürzungsverzeichnis
Auf ein Literaturverzeichnis wird aus Raumgründen verzichtet. Die Quellen und Forschungsbeiträge, die für den Argumentationsgang der vorliegenden Studie eine Rolle gespielt haben, sind in den Anmerkungen genannt. Der vollständige bibliographische Nachweis findet sich innerhalb der einzelnen Teile jeweils bei der ersten Nennung, auf die in späteren Bezugnahmen zurückverwiesen wird. Das Namenregister soll die Orientierung erleichtern. AHK
= Aus Friedrich Hebbels Korrespondenz. Ungedruckte Briefe von und an den Dichter nebst Beiträgen zur Textkritik einzelner Werke. Hg. von Friedrich Hirth. 1913
Β
= Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Richard Maria Werner. 3. Abteilung: Briefe. 8 Bde. 1904/ 07 (zit. mit römischer Band- und arabischer Seitenzählung)
BAH
= Briefe an Friedrich Hebbel. Hg. von Moriz Enzinger in Zusammenarbeit mit Elisabeth Bruck. 2 Teile (= Bde.). 1973/75. Tl. I: 1840-1860. Tl. II: 1861-1863 ( z it· mit römischer Band- und arabischer Seitenzählung)
BZP
= Friedrich Hebbel, Briefe. Ursprünglich in Zeitschriften und Periodika veröffentlichte Schriftstücke (nebst einigen bisher unbekannten). Gesammelt und erläutert von U. Henry Gerlach. 1975
D V J S = Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte GA
= Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche von Johann Wolfgang Goethe. Hg. von Ernst Beutler. 1948/64 (zit. mit römischer Band- und arabischer Seitenzählung)
HBF
= Friedrich Hebbels Briefwechsel mit Freunden und berühmten Zeitgenossen. Hg. von Felix Bamberg. 2 Bde. 1890/92 (zit. mit römischer Band- und arabischer Seitenzählung)
HJ
= Hebbel-Jahrbuch
X
HK
= Hebbel in der zeitgenössischen Kritik. Hg. von H. Wütschke. 1910
HNS
= Hebbel in neuer Sicht. Hg. von Helmut Kreuzer. 1963
HNW = Friedrich Hebbel. Neue Studien zu Werk und Wirkung. Hg. von Hilmar Grundmann. 1982 JSG
= Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft
N H D = Neue Hebbel-Dokumente. Hg. von Dietrich Kralik und Fritz Lemmermayer. 1913 SW
= Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch. 1958/59, *iPoetik des Dramas< (1958) in: Euphorion. 54, i960. S. 342. Vgl. die Senftenberger Fassung des Stückes >Die Sorgen und die Macht« (i960), zit. nach: Peter Schütze, Peter Hacks. Ein Beitrag zur Ästhetik des Dramas. 1976. S. 4 9 f f . Peter Hacks, Die Sorgen und die Macht. In: Hacks, FünfStücke. 1965. S. 360. Die Rezeptionsgeschichte des Stückes in der D D R ist denn auch von Kritik, Verbot und Umarbeitungen geprägt. 1
Ganz anders der Abgesang auf die Tragödie, den Friedrich Dürrenmatt angestimmt hat. E r gibt sich nicht wie bei Hacks als frohe Botschaft, sondern ist in dunklen Molltönen gehalten, ganz und gar nicht zukunftsfröhlich, vielmehr pessimistisch beschwert: Die Tragödie setzt Schuld, N o t , Maß, Ubersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld: Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat. 4
Die Tragödie ist demnach verschwunden, weil ihre Prämissen nicht mehr mit den »Bedingungen« korrespondieren, die der gegenwärtige Weltzustand diktiert. Die Tragödie fordert das repräsentative Individuum, mächtig im Handeln und verantwortlich noch im Scheitern - das »Jahrhundert« des Kollektivismus, der Austauschbarkeit, der anonymen Prozesse hat es verschwinden lassen. Die Tragödie fordert Werte und Zwecke, um derentwillen auch Leid und Tod noch sinnvoll erscheinen können - unser »Jahrhundert« hat solche offenbar nicht mehr zu bieten. Dürrenmatts Fazit lautet bekanntlich: »Uns kommt nur noch die Komödie bei.« Diese muß als die historisch adäquate Dramenform angesichts der skizzierten Weltläufte freilich eine eigentümliche Physiognomie annehmen, vom »Tragischen« verdunkelt, das sich mit der alten Tragödie keineswegs hat austreiben lassen. Entsprechend hält es Dürrenmatt als Dramatiker: Sein Stück >Der Besuch der alten Dame< (1956) etwa ist ausdrücklich als »tragische Komödie« deklariert. Ein junger Mann hat einst ein Mädchen ins Unglück gestürzt - als alter Mann wird er viele Jahre später von der früheren Geliebten heimgesucht, die »wie eine Parze, wie eine griechische Schicksalsgöttin« erscheint.5 Sie bietet den Kleinstadtbewohnern viel Geld, unter der »Bedingung«, daß jemand den schuldigen Jugendfreund tötet: »Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit.« 6 Alle zeigen sich zunächst entrüstet über dieses barbarische Ansinnen und lassen sich schließlich doch mitreißen vom »Rechen«; der Mord braut sich als ein kollektives Geschehen zusammen, für das keiner Verantwortung übernehmen muß. Der Schuldige akzeptiert sein Schicksal als gerecht - auf der Seite der >Täter< sieht es anders aus: Ihre
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Theaterprobleme (1955). In: Dürrenmatt, Theater-Schriften und Reden. 1966. S. 122 (auch für die folgenden Zitate). In: Dürrenmatt, Komödien I. 1957, 3 i96o. S. 283. - In einer »Anmerkung« vergleicht der Autor selbst Ciaire Zachanassian mit der »Heldin der griechischen Tragödie« (ebd. S. 358). Ebd. S. 292.
»Gerechtigkeit« erwächst nicht aus sittlicher Entscheidung und Abwägung, sondern stellt sich als eine Ware dar, die gekauft und verrechnet werden kann. Die tragischen Motive von Schuld und Sühne, durchaus wirksam in diesem bösen Spiel, verketten sich nicht zu einem tragischen Zusammenhang, sondern treiben Diskrepanzen von grotesker Komik heraus. Die »Komödie« gerät zum bösen Reflex einer Realität, aus der eine Tragödie nicht mehr entstehen kann. Auch Dürrenmatts Stück >Die Physiker< (1962) gibt sich als eine »Komödie« mit tragischen Momenten. Auch hier treiben scheinbar exzentrische Einfälle ihr Spiel. Aber es geht dabei um ein ernsthaftes Problem, nämlich um die Verantwortung der Wissenschaftler angesichts der Bedrohung der Welt durch ihre Forschung. Aus »Verantwortung« hat der geniale Physiker Möbius seine Familie verlassen, auf eine Karriere an der Universität oder in der Industrie, also auf »Ruhm« und »Geld« verzichtet: »Ich wählte die Narrenkappe. Ich gab vor, der König Salomo erscheine mir, und schon sperrte man mich in ein Irrenhaus.« 7 Der Weg ins Irrenhaus ist von der »Vernunft« vorgeschrieben jvorden, um der Welt das Uberleben zu ermöglichen. Von dieser Nötigung zur Zurücknahme des Wissens kann Möbius auch die PhysikerKollegen überzeugen, die im Auftrag rivalisierender Geheimdienste bzw. politischer Großmächte seinen Entdeckungen nachjagen. Die drei Physiker haben ihre Krankenschwestern getötet, die der Wahrheit unter der »Narrenkappe« auf die Spur gekommen sind: »Entweder haben wir geopfert oder gemordet. Entweder bleiben wir im Irrenhaus oder die Welt wird eines.«8 Gelänge es, die Morde als Opfer für die bedrohte Welt auszuweisen, wäre die Tragödie gerettet. Aber es stellt sich heraus, daß die Alternative zwischen Mord und Opfer, zwischen Kriminalgroteske und Tragödie bereits überholt ist: Die Krankenschwestern waren systematisch auf die Physiker angesetzt worden, die Morde erweisen sich als einkalkulierte Reflexe, können also keine Opfer gewesen sein. Vor allem: Die Irrenärztin, die alles eingefädelt hat, ist wirklich irre und glaubt tatsächlich an den König Salomo - und sie hat die explosiven Forschungen von Möbius an sich gebracht. Mit dieser Wendung der Geschichte enthüllt sich, daß das Irrenhaus nicht der Freiraum ist, in dem die Wissenschaft sich selbst zugunsten der Welt unschädlich machen kann, 9 sondern daß umgekehrt die Welt selbst ein Großraum des Irrsinns ist. Die Groteske nötigt also zur Wiedererkennung jener Realität, die die unsere ist. Den drei Physikern bleibt jedenfalls nichts anderes übrig als das Fortspielen ihrer Narrenrol-
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Zit. nach der Erstausgabe (1962). S. 62. Ebd. S. 64. 9 Möbius: »Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. N u r im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff« (ebd. S. 63). 8
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len ad infinitum. Schon die Frage, ob am Ende der Wahnsinn bei ihnen wirklich ausgebrochen oder immer noch gespielt sei, hat im Grunde ihren Sinn verloren. Die Tragödie war nicht zu retten. Man erkennt, daß bei Dürrenmatt gerade an den Gelenkstellen, wo tragische Motive und Normen der Tragödie - wie »Opfer« und »Verantwortung« - sichtbar werden, die Fabel in eine groteske Komik abgleitet.10 Man erkennt aber auch, daß die Signaturen der alten Tragödie untergründig immer noch im Spiel bleiben, sei es als rhetorische Floskel nicht ohne ernsthafte Assoziation," sei es als Umkehrung 12 oder als Travestie.13 Es entsteht eine zeitgerecht-abgründige Tragikomödie, deren Folie immer noch die Tragödie als »die gestrengste Kunstgattung« bleibt.'4 Ihr historisch bedingtes Verschwinden ist immer auch als ästhetisches Defizit bewußt. Ganz anders dagegen Peter Hacks in der Brecht-Nachfolge: Hier wird der Abschied von der Tragödie fröhlich gefeiert, hier wird die Komödie als dramatische Form jenseits aller tragischen Katastrophen etabliert, die eine sozialistisch-fortschrittliche Realität hinter sich gelassen hat. Was noch an »Sorgen« um - oder durch - die »Macht« verbleibt, erscheint als auflösbarer Widerspruch ohne tragischen Rest, was noch an Unzuträglichkeit gegenwärtig hemmt oder drückt, wird zumindest prospektiv in Momente eines gesellschaftlichen Fortschrittes uminterpretiert 1 ' Einer wie Heiner Müller, der auf tragischen Motiven und verdunkelten Horizonten besteht, muß im Zeichen dieser fröhlichen Wissenschaft als notorischer Störenfried gelten. In der dialektischen Fortschrittsdramatik gibt es, gleichsam hinter dem Rücken ihrer >offiziellen< Tragödienächtung, einen anderen denkwürdigen Fall: das 1929/30 entstandene Lehrstück >Die Maßnahme< von Bertolt Brecht. 10
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So auch im >Besuch der alten Dameo Als an die soziale Verantwortung der Ciaire Zachanassian appelliert und eine Investition für die darnieder liegende heimische Industrie vorgeschlagen wird, stellt sich heraus, daß sie den »Plunder« schon besitzt: »Eure Hoffnung war ein Wahn, euer Ausharren sinnlos, eure Aufopferung Dummheit, euer ganzes Leben nutzlos vertan« (wie Anm. 5, S. 323f.). Gatte VIII: »Keine Größe, keine Tragik. Es fehlt die sittliche Bestimmung einer großen Zeit« (ebd. S. 313). So in der Szenenanweisung zu >Die Physiken der Hinweis auf »die klassische Form« oder die Bemerkung, daß hier »im Gegensatz zu den Stücken der Alten das Satyrspiel der Tragödie vorangeht« (wie Anm. 7, S. I2f.) So im >Besuch der alten Dame< die Chöre, die - »denen der griechischen Tragödie angenähert« — am Schluß mit klassischen Motiven die grotesk-komische Lehre geben (wie Anm. 5, S. 354ff.). Theaterprobleme (wie Anm. 4, S. ii9f.). Vgl. dazu eine Studie von Karl Richter, die den Unterschied zwischen dem geschichtsoptimistischen Traktieren der »Komödie« bei Hacks und der geschichtspessimistischen Behandlung derselben Form bei Dürrenmatt herausarbeitet: Vom Herrschaftsanspruch der Komödie. Dramentheoretische Bemerkungen im A n schluß an Dürrenmatt und Hacks. In: J S G . 22, 1978. S. 637-656. Bes. S. 642ff.
D e r sozialistische Paradedramatiker agitiert hier f ü r den Kommunismus
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und landet in der alten Tragödie. Deutlich gerät die Geschichte des jungen Genossen, der aus Uberzeugung für die Sache des Kommunismus kämpft und gleichwohl von der Partei liquidiert wird, auf die Spuren des alten M u sters. D e r Genösse hat dadurch, daß er auf einen Einzelfall des Leidens mit spontanem »Mitleid« reagiert, 1 6 seinen Parteiauftrag verraten und die Parteistrategie gefährdet. E r ist aus Menschlichkeit schuldig geworden, schuldig nicht mehr an der sittlichen Idee (wie in der Tragödie des Traditionstypus), sondern an der kommunistischen Ideologie (die jener an postulatorischer Verbindlichkeit nicht nachsteht). 1 7 Solches zu erzielen, hat beileibe nicht in der Absicht des Stückeschreibers gelegen - die Kritik aus dem gleichen ideologischen Lager blieb denn auch nicht aus, auch nicht ein phantasievoller Versuch, das Stück mit seiner unübersehbaren logisch-moralischen Insuffizienz in eine bloße Spielvorlage umzufunktionieren, an der allein den » D a r stellenden« etwas aufzugehen hat, nicht jedoch dem Publikum.' 8 Z u lernen ist an diesem Rückfall in die Tragödie jedoch auch, daß die alte F o r m selbst gegen die sie >aufhebende< Ideologie eine zähe Resistenz zeigen kann.
a) Konsensprobleme Die Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer gegenwärtigen Tragödie ist weitgehend eine Angelegenheit geschichtlichen Denkens g e w o r den. Ist dieses marxistisch, d. h. materialistisch-dialektisch, festgelegt wie in 16
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In der bezeichnenden Sprache der Parteiwertung, die sich das Stück zu eigen macht: daß er dem Mitleid »verfiel« (Gesammelte Werke in 20 Bänden. 1967. Bd. II. S. 640). Die tragische Struktur der >Maßnahmei hat Reinhold Grimm auf den Begriff gebracht: »Was geschieht denn eigentlich in Brechts Lehrstück [ . . . ] ? Doch nichts anderes, als daß ein Mensch durch Charakteranlage und Z w a n g der Umstände, mithin durch ein unauflösliches Ineinander von Freiheit und Notwendigkeit in einen Widerspruch zweier absoluter Werte gerät, der auswegslos ist. Beide Werte treten als unabweisbare ethische Forderungen an ihn heran: nie kann er die eine erfüllen, ohne gegen die andere zu verstoßen; er muß daher schuldig werden, wie er sich auch entscheiden mag« (Ideologische Tragödie und Tragödie der Ideologie. [Zuerst 1959.] In: Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht. Interpretationen. Hg. von Jost Schillemeit. 1965. S. 316). Vgl. die Sammlung von Rezeptionszeugnissen in: Brecht, Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. 1972. S. 3i9ff. (hier etwa S. 378ff. die dezidiert marxistische Kritik von Alfred Kurella) und die Rekonstruktion einer mutmaßlichen Brechtschen Theorie durch R . Steinweg: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. 1972. — Erwähnenswert ist noch der von Joachim Kaiser unternommene Versuch, dem Stück auch gegen Brechts eigenen Theoriezwang eine gediegene dramatische Plausibilität abzugewinnen: Sein faszinierendster Text: In: Theater heute. 28, 1987. Heft 5. S. 29-31.
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der Brecht-Schule, dann wird mit der Tragödie auch das Tragische offiziell nicht mehr zugelassen. 19 Es erscheint dann als Mangel an Aufklärung und verfällt der Travestie.20 Sind bestimmte Prämissen dieser Art als regulierende Vorgaben nicht im Spiel, dann gerät die Dekretierung einer geschichtlichen Unmöglichkeit der Tragödie in einen größeren Rahmen - wie etwa bei Wladimir Weidle21 und vielen anderen, die das Sterben der Tragödie auf das Verschwinden einer verbindlichen Mythologie zurückführen. Es gibt auch Versuche, den inneren Zusammenhang von Tragik und Tragödie festzuhalten und das Problem seiner ästhetischen Realisierung geschichtszyklisch anzugehen: Wenn man eine »periodische Trübung oder Austrocknung der tragischen Vorstellungskraft« wahrnimmt oder annimmt,22 dann unterstellt man auch die Möglichkeit ihrer periodischen Neubelebung. Und es wird schließlich auch das Argument ins Feld geführt, daß das Fehlen >großer< Tragödien im 20. Jahrhundert in einem »Versagen des kulturellen Bewußtseins« begründet sei23 - wobei die geschichtliche Erörterung der Gattung schon in eine moralisierende Kulturkritik überzugehen beginnt. Das Wort vom »death of tragedy«, 24 das so suggestiv nach unwiderruflichem Verlust klingt, steht nicht für eine einheitlich vertretene Diagnose. George Steiners >Der Tod der Tragödie« nimmt sich einerseits als Nekrolog auf die große tragische Kunstform aus, zum anderen aber als Appell, das Defizit der »modernen Tragödienversuche« durch künstlerische »Kühnheit« zu beheben. 25 Auch Steiner gibt kulturell-historische Bedingungen für die Entstehung bzw. Erschwerung der großen tragischen Form zu, für das 19. Jahrhundert etwa »die Liberalisierung des Publikums« mit der Folgewirkung einer »Senkung der dramatischen Maßstäbe« 26 oder für die Gegenwart 19
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Die letzte offiziöse Möglichkeit, Kommunismus und Tragödie miteinander zu verbinden, besteht darin, den historischen Sieg des Kommunismus als jene tragische Katastrophe darzustellen, mit der zugleich alle Tragik aufgehoben wäre: Wsewolod Wischnewski verfährt so in der Optimistischen Tragödie< (entstanden 1932), die thematisch die gewaltsame Niederwerfung anarchistischer Matrosen zugunsten des Kommunismus behandelt und eben im Bestimmungswort zur Gattung diese >aufgehoben< haben will. Vgl. Arnold Heidsieck, Die Travestie des Tragischen im deutschen Drama. In: Tragik und Tragödie. Hg. von Volkmar Sander. 1971. S. 456-481. Vgl. Die Sterblichkeit der Musen. Betrachtungen über Dichtung und Kunst in unserer Zeit. Übersetzt von Karl August Horst. 1958. S. 29of. u. 334. Wie R.J. Kaufmann: Die Tragödie und ihre konstituierenden Voraussetzungen. In: Tragik und Tragödie (s. Anm. 20). S. 445. So Ronald Peacock: Tragödie, Komödie und Kultur. Ebd. S. 341. Vgl. Susan Sontag, The death of tragedy. In: Sontag, Against interpretation and other essays. 1961. S. 132-139. Vgl. Der Tod der Tragödie. Ein kritischer Essay. Übersetzt von Jutta und Theodor Knust. 1962. S. 250. Ebd. S. 99 (mit Beziehung auf einen Essay von Walter Scott).
die Heraufkunft des Marxismus als einer Fortschritts-Mythologie, mit der die Tragödie zu einem Rückständigen herabgesetzt ist.27 Aber letztlich bleibt diese Bestandsaufnahme doch von dem Glauben getragen, daß die große Tragödie »zu allen Zeiten zeitgemäß« sei,28 und das soll heißen: es liegt am einzelnen Künstler, die Form zu suchen und zu wagen - allen Schwierigkeiten im kulturhistorischen Umfeld zum Trotz. Bei solchen Überlegungen und Erwartungen ist noch die ganze Faszinationskraft der totgesagten Tragödie zu spüren. In Steiners Nekrolog werden von deutschen Autoren Goethe - unter dem schon standardisierten Gesichtspunkt des Ausweichens vor der Tragik sowie Schiller, Kleist, Grillparzer und Büchner gebührend gewürdigt.29 Von einer »Dramenflaute zwischen Goethe und Ibsen« wird gesprochen30 und eine Periodisierung vorgenommen, derzufolge »der Tod Büchners anscheinend genau den Schluß der großen Zeit der deutschen Tragödie bezeichnet«.3' Büchners Tod fällt in das Jahr 1837. Vier Jahre später erscheint die erste Tragödie desjenigen deutschen Dramatikers, der bei Steiner überhaupt nicht vorkommt, obwohl er sich wie kein anderer im 19. Jahrhundert darum bemüht hat, der großen tragischen Form ein Fortleben zu verschaffen. Es geht um Friedrich Hebbel und seine Rolle in der Sterbegeschichte der Gattung. Hebbel ist mit seinem dualistisch geprägten Dramentypus in eine Zeit hineingeraten, die ihm im Zuge eines Kompromiß- und Ausgleichsdenkens die Gefolgschaft versagt hat. In einer Rezension seiner Tragödie >Genoveva< wurde der Dichter mit einer bündigen Zusammenstellung jener zeitgenössischen Faktoren konfrontiert, die der von ihm verfochtenen Gattung gleichsam das Leben abgraben: Die Richtung unseres Zeitalters scheint der dramatischen Poesie nicht günstig zu sein. Wir leben im Zeitalter der Contemplation und der Discussion; die großen Charaktere offenbaren sich weniger in Thaten als in Buchstaben und Zahlen. Wir leben im Zeitalter des Friedens; unsere höchsten Interessen sind die Zollfrage, die Münzfrage, die Bergwerksfrage, die Colonisationsfrage, die Gefängnißfrage; die
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Ebd. S. 266. - V g l . S. 28if.: »Lunatscharskij, der erste sowjetische Volkskommissar für Erziehung, erklärte, daß eine der kennzeichnenden Eigenschaften der k o m munistischen Gesellschaft das Fehlen des tragischen Dramas sein werde. [ . . . ] Tragödie kann sich nur dort ereignen, w o die Wirklichkeit nicht von Vernunft und Sozialbewußtsein eingeschirrt worden ist. Wenn der neue Mensch der kommunistischen Gesellschaft an die Kreuzung der drei Straßen kommt, wird er dort eine Fabrik oder ein Haus der Kultur finden, nicht den wütenden Laios in seinem Wagen.«
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Ebd. Vgl. Ebd. Ebd.
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S. 239. ebd. S. 143ff. S. 238. S. 93.
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Eisenbahnen zeugen von dem friedlichen Verkehr, und die Dampfschiffe von der Blüthe des Commerzes; wir haben viel Zeit, Monumente zu errichten, Walhallas und Freiheitskämpferhallen zu begründen; die kirchlichen Differenzen werden in den Cabineten und auf den Schreibstühlen der Gelehrten und der Publicisten verfochten; wir sind zu zahm und zu gut geschult, um unter der Herrschaft großer und gewaltiger Leidenschaften zu stehen. 31 Ahnlich verweist 1854 Robert Prutz, Mittreiber und später kluger Analytiker der >jungdeutschen< Bewegung, auf »die nackte Prosa unserer Zustände« und zieht eine Folgerung, deren resignativer Gestus deutlich spürbar ist: Wir selbst verschwinden uns zu Schemen, ein thatloses, grübelndes Geschlecht, dessen äußerstes politisches Heldenthum sich bis zu der zweideutigen Anstrengung des passiven Widerstandes erhebt: woher denn sollten wir die Kraft, woher den Muth nehmen zu einer Dichtungsart, deren ganzes Wesen die Handlung ist [.. .]? 33 Der geschichtliche Vorbehalt, unter den Hegel die Theorie des Romans gebracht hat, 34 schlägt beim >junghegelianischen< Nachfolger auf das Drama durch: Im Zeichen politischen Scheiterns gerät »die höchste Kunstform« 35 an den Rand der Unmöglichkeit. Wiederum einige Jahre später (1870) wird Julian Schmidt, der polemische Widersacher Hebbels, auf den Kunstanspruch des tragischen Dramas schon mit einem gewissen Uberdruß zu sprechen kommen und anläßlich Paul Heyses befinden: Im Allgemeinen [ . . . ] scheint mir seine Tendenz auf's Drama eine falsche zu sein. Ich bin überhaupt der Ansicht, die ich freilich jeder factischen Widerlegung gegenüber gern zurücknehmen will, daß unsre Zeit nicht für die Tragödie gemacht ist. Wir Alle [ . . . ] sind [ . . . ] zum Vermitteln geneigt, das >Biegen oder Brechen« liegt ganz außer unserer Atmosphäre. 3 6 Daß Schmidt nicht daran denkt, Hebbels inzwischen ganz übersehbare Dramatik auch nur als Möglichkeit der konzedierten »factischen Widerlegung« in Betracht zu ziehen, liegt in der Divergenz seines engen Realismus-Konzeptes
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So Wilibald Alexis in >Blätter für literarische Unterhaltung«, 25726. 10. 1843 (HK. S. 35)· Epos und Drama in der deutschen Literatur der Gegenwart. In: Prutz, Neue Schriften. Zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte. 1854. Bd. II. S. 205. Dieser geht nicht wie das Epos aus einem »ursprünglich poetischen Weltzustand« hervor, sondern setzt »eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit« voraus (Ästhetik. Hg. von Friedrich Bassenge. o.J. Bd. II. S. 452). So Prutz (wie Anm. 33, S. 202) - im Anschluß an Hegels auch für Hebbel maßgebende Rangsetzung, derzufolge das Drama »die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt« bildet, aber auch an die Prämisse »eines schon in sich ausgebildeten nationalen Lebens« für das Gedeihen dieser Kunstform (wie Anm. 34, S. 512 u. 514). Bilder aus dem Geistigen Leben unserer Zeit. Bd. I. 1870. S. 426. - Vgl. zum Symptomwert dieser Äußerung auch Heinz Schlaffer, Friedrich Hebbels tragischer Historismus. In: Hannelore Schlaffer / Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus. 1975. S. I22f.
zu Hebbels Universalismus begründet. Seine Äußerung zeigt noch einmal deutlich die Kluft auf, die zwischen Hebbels Dramatik und dem Zeitbewußtsein des späteren 19. Jahrhunderts entstehen mußte. Hebbel weiß um diese Zusammenhänge und macht sich entschieden klar: »Große Kunstschöpfungen setzen große Elemente in Welt und Zeit voraus« (T 2595). Wenn aber die historische Lage »große Elemente« vorenthält? Dann muß die Negativseite der unaufkündbaren Verflechtung zum Vorschein kommen, die Hebbel 1847 - nicht ohne Sarkasmus - so beschreibt: Wenn ein Schuster-Junge den Lear recensirte und sagte: dieß Stück hat keine Bedeutung für mich, ein Kunstwerk soll aber für die ganze Welt Bedeutung haben und die Welt ist nicht ganz ohne mich: wer wollte ihn widerlegen? Das muß man sich in's Gedächtniß zurückrufen (T4132).
Setzt man für den >König Lear< Hebbels eigene Dramatik ein, für den »Schuster-Jungen« aber die mißliebige und mißverstehende Kritik (bzw. »Afterkritik«), so erhält man das Modell für den Durchsetzungs- und Verteidigungskampf, den Hebbel für eine aussterbende Gattung geführt hat. Wie immer die Fronten und Ebenen im einzelnen beschaffen sein mögen, um welche handfesten Erfolgs- und Zweckrechnungen es auch geht - das Hebbelsche Dilemma besteht darin, daß er für eine große Kunstleistung aus dem Geist der Tradition den ihr entsprechenden ästhetisch-kulturellen Konsens nicht mehr vorfindet, ohne doch die Kunstleistung prinzipiell der veränderten historischen Lage >anpassen< zu wollen oder zu können.
b) Imperativischer Traditionalismus In seiner gattungspoetischen Orientierung zeigt Hebbel eine beinahe schon penetrante Strenge. Der »Confession«, die er für seine 1841 geplante - aber nicht erschienene - Novellensammlung abgelegt hat, ist er zeitlebens verpflichtet geblieben, der »unerschütterlichen Ueberzeugung« nämlich, »daß die wahren Kunstformen eben so nothwendig, eben so heilig und unveränderlich sind, wie die Naturformen« (W V I I I 417^). Das individuelle Verhalten zu den »Kunstformen« wird in eine Alternative gegabelt, in der das Gelingen und Mißlingen als eine Angelegenheit von Leben und Tod erscheint: Sie können, wie in der physischen Welt mit der Umbildung des Erdkörpers ganze Geschlechter der Lebendigen ausstarben, allerdings aufhören, dem Schöpfungsund Schönheitsbedürfniß der Zeiten zu entsprechen, aber sie können nicht ohne Lebensgefahr aus einander gezerrt, nicht verengert und erweitert werden. Wie wäre es auch möglich, daß in einer Form das Vollkommene erreicht, und daß dennoch diese Form selbst eine noch unvollkommene, eine nicht abgeschlossene, wäre!
Wie sich der Theoretiker auf die evidente Unmöglichkeit beruft, »daß das Blut auch außerhalb der Adern circuliren könne« (W VIII 418), möchte er ein 9
willkürliches Herumexperimentieren mit den »Kunstformen« unterblieben wissen. Wie rigoros Hebbel hier auf Gattungssonderungen besteht, erhellt gerade aus dem Vergleich mit Goethes bekannter Lehre von den »Naturformen der Dichtung«: N u r die Differenzierung von Epos, Lyrik und Drama im Kreis der Poesie wird rekapituliert, nicht hingegen die Lizenz, daß gerade aus der »Vereinigung« dieser »Dichtweisen« das »herrlichste Gebild« hervorgehen könne. 37 Kein Liberalismus vermittelt zwischen den strikten Grenzlinien mehr, kein subjektiver Impuls wird in seinem Recht erwogen, der die Dichtungsformen von innen her begründet oder auch in Frage stellt, kein Wechselverhältnis zwischen persönlicher Erfahrung und vorgegebener Gattungsnorm wird für die Konstitution des Einzelwerks angenommen - vielmehr werden Gattungsbegriffe Imperativisch >gesetzt< als Postulate, die eine strikte Befolgung erheischen und nicht mit sich reden lassen. Im vorliegenden Entwurf will Hebbel »die Grundbedingung aller Novellen-Dichtung in Erinnerung« bringen (W V I I I 419) - etliche Jahre später sieht er nach Veröffentlichung eines Novellenbandes (1855) Anlaß zu der Feststellung, daß die »Zeit [...] sogar den Begriff der Gattung verloren hat« (Β V 291). Die Beachtung der Gattungskriterien ist es, die Hebbel auch 1851 in der Kontroverse mit Julian Schmidt anmahnt. Dem »aesthetischen Kannegießer« wird unwillig vorgehalten, daß er mit seinen »Einwänden gegen die beiden Nachtstücke A n n a und die K u h « die Sache völlig verfehle, denn »sie stehen und fallen mit der Gattung, und es ist der perfideste Kniff einer Afterkritik, für die in jeder Form der Kunst aufzuzeigenden negativen Seiten das singulaire Product zur Verantwortung zu ziehen« und darüber hinaus Theoreme, die ausschließlich für das bürgerliche Trauerspiel gelten sollen, »gegen diese Stücke zu kehren und also auf die Novelle auszudehnen«. 38 Im gleichen Zuge ergeht an den kritischen Widersacher die Anfrage, »ob er nicht weiß, wenn auch nur aus dem Wilhelm Meister, 39 daß die dramatische und epische Poesie verschiedene Gesetze haben« (W X I 398). Innerhalb der streng separierten dichterischen Formen räumt Hebbel selbstverständlich eine gewisse Variabilität ein, welche die Aufnahme historischer oder auch nationaler Besonderheiten ermöglicht, für die Lyrik ζ. B.
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Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans ( G A III 48of.). V g l . Schmidts Hebbel-Kritik in den >Grenzboten< von 1850 (auch in: H K . S. 84ff.), zur programmatischen Differenz zwischen Dichter und Kritiker Friedrich Sengle, Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre. 1967, 2i99,
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Mit Beziehung auf Wilhelm Meisters LehrjahreMutter und Kind< (1859) als eine reichlich gespenstische Wiederbelebung darstellt, ist nicht zu übersehen. Der Tod des Epos demonstriert die Möglichkeit, daß auch eine Grundform dichterischer Darstellung der historischen Auflösung verfallen kann. Wie aber steht es mit dem Drama, der eigentlichen Domäne des Dichters Friedrich Hebbel? Zunächst einmal ist gegen manche Auffassung, die ihn dafür zum Innovator machen möchte, seine traditionalistische Bindung entschieden zu betonen. Daß ihn sein Anhänger Siegmund Engländer zum »Urheber« einer »neuen Poesie« erklärt hat,4° ergibt sich aus den sozialistischen Präferenzen des Erklärers und nicht so sehr aus dem Werk des gefeierten Dramatikers. Wenn Franz Zinkernagel von Hebbel als dem »großen Bahnbrecher« spricht, dessen Drama als »Ausdruck des modernen Zeitbewußtseins« zugleich »Anwartschaft auf die Zukunft« habe,4' so ist ein solches Urteil, um die Jahrhundertwende gefällt, mittlerweile selbst schon historisch geworden. Alles eifrige Enthüllen >moderner< Signaturen im Werk Hebbels (im Psychologischen der Dramen, darüber hinaus in den faszinierenden Tagebüchern) droht den Gegenstand zu verzeichnen, wenn nicht auch neben allen Krisen- und Grenzerfahrungen, Uberspannungen und Uberlastungen die Intention der Formbewahrung anerkannt wird. »Alt sind die Formen«, heißt es in einer Gedankendichtung über >Die Deutsche Sprache< (W VI 347), und der Dramatiker Hebbel nimmt sich aus der epigrammatischen Aufforderung nicht aus: »Was in den Formen schon liegt, das setze nicht dir auf die Rechnung« (W VI 348). Wo eine persönliche »Rechnung« im Drama sich durchsetzt, da regiert der Kritiker Hebbel mit Vorbehalt und Unwillen. In seinen Augen muß das Bekenntnis Schillers, sich »eigentlich ein eigenes Drama« nach Maßgabe des subjektiven Talents »gebildet« zu haben, geradezu als ein Verrat der Gattung erscheinen.42 40 41 42
Vgl. an Hebbel, 3. 1. 1863 (BAH II I2if.). Die Grundlagen der Hebbelschen Tragödie. 1904. S. i86f. Schiller an Gottfried Körner, 25. 2. 1789 (also nach >Don Karlos< und vor >WallensteinMaria Magdalenas wird eine Entwicklungstypologie f ü r das Drama aufgeboten, die nach der Entdeckung der »Idee« (bei den Griechen) und der »Dialectik« der Individualität (bei Shakespeare) die »Dialectik« der »Idee selbst« als den Schritt hinstellt, der »allein noch übrig blieb« (W X I 41). Wie Hebbel diesen Schritt bei Goethe erst angebahnt sieht, um seine Vollführung f ü r das eigene Drama reklamieren zu können, ist eine Sache f ü r sich. Innerhalb der K o n struktion selbst verrät sich der geschichtliche Erschöpfungszustand des großen Dramas darin, daß alle kombinatorischen Möglichkeiten bereits durchlaufen sind. Es geht der Pariser Theorie um »das höchste, das Epoche machende« Drama (W X I 40). A b e r wenn der Theoretiker, damit zugleich auf die kritische Rezeption seiner ersten Dramen reagierend, gegen »eine zum Theil unzurechnungsfähige und unmündige, zum Theil aber auch perfide Kritik« zu Felde zieht, welche »die einfachen Grundbegriffe der dramatischen Kunst, von denen man glauben sollte, daß sie, nachdem sich ihre K r a f t und Wahrheit vier Jahrtausende hindurch bewährte, unantastbar seien, wie das Einmaleins, verwirrt und auf den Kopf gestellt hat« (W X I 44f.) - was besagt dies alles, wenn man unter der polemischen Drapierung auf den Argumentationskern sieht? Doch nichts anderes als dies, daß es gar nicht eine schöpferische Erneuerung der überlieferten dramatischen F o r m gilt, sondern daß deren Bewahrung und Rechtfertigung betrieben werden soll. Mit Recht kann Hebbel im späteren Rückblick, ohne das Frühwerk ausnehmen zu müssen, von sich sagen, daß er »kein n e u e s , unerhörtes Evangelium predigte, sondern umgekehrt das a l t e , aus Sophocles und Shakspeare [sie!] abgezogene wieder in seine Rechte einzusetzten suchte«. 44
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glänzendes Zeugniß für Schillers durchdringende Selbst-Erkenntniß«) wie kritisch, indem er die Bemerkung anschließt, daß der berühmte Vorgänger »an der eigentlichen Aufgabe der dramatischen Kunst« vorbeigegangen sei (vgl. W XI I39ff·)· So Gerhard Fricke, Friedrich Hebbel und sein Zeitalter. In: Fricke, Studien und Interpretationen. 1956. S. 3o8f. - Hebbels Endstellung in der Geschichte der Tragödie betont auch das Standardwerk von Benno v. Wiese, und zwar bereits im Titelsignal: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 1948, "1973. An Adolf Stern, 30. 7. 1862 (NHD. S. 161). - Vgl. auch fast gleichlautend Β VII 217: es geht Hebbel jeweils darum, die als diskriminierend empfundene »Zusammenstellung mit Richard Wagner« (dem Verfasser von >Das Kunstwerk der Zuk u n f t ) zurückzuweisen.
Eine Tradition, die sich nach »Jahrtausenden« bemißt, ein Normenkatalog von unverbrüchlicher Gültigkeit: es ist nicht zu übersehen, daß Hebbel als Gattungspoetiker ahistorische Konstanten festzuhalten sucht und gerade deshalb als Dramatiker und Theoretiker um die historische Gültigkeit der Kunstform zu kämpfen hat. Dieser ahistorische Grundzug zeigt sich besonders deutlich bei einem frühen Versuch in der Dramentypologie (vom März 1838): Menschen-Natur und Menschen-Geschick: das sind die beiden Räthsel, die das Drama zu lösen sucht. Der Unterschied zwischen dem Drama der Alten und dem Drama der Neuern liegt darin: die Alten durchwandelten mit der Fackel der Poesie das Labyrinth des Schicksals; wir Neueren suchen die Menschen-Natur, in welcher Gestalt oder Verzerrung sie uns auch entgegen trete, auf gewisse ewige und unveränderliche Grundzüge zurück zu führen. So war den Alten Mittel, was uns Z w e c k ist, und umgekehrt. Für das Drama überhaupt ist es gleichgültig, welches dieser beiden Ziele verfolgt wird, wenn es nur mit Ernst und mit Würde geschieht, denn sie schließen sich gegenseitig ein (T 1034).
Es wird deutlich, daß die anfängliche ästhetische Orientierung des späteren Dramatikers der Historie noch gar nicht ausgeprägt historisch ist. Zwar entfällt der letzte Satz beim Selbstzitat in der Wienbarg-Rezension von 1839 (vgl. W X 373), nicht aber verschwindet der Gedanke völlig: Noch im Vorwort zur >Maria Magdalenas das sich ja schon um eine historisierende Perspektive für das Drama bemüht, wird die Gegenüberstellung der beiden dramatischen Grundthemen von »Menschen-Natur« und »Menschen-Geschick« historisch ganz indifferent referiert (vgl. W X I 5 if.). Es geht Hebbel ersichtlich um »das Drama überhaupt«, und dafür wird an der griechischen Tragödie Maß genommen, genauer gesagt: an ihrer spekulativen Deutung durch Solger. 45 Der Impuls, das Drama auf die Grundnormen der philosophischen Ästhetik einzuspuren, bindet Hebbel so stark, daß er die - bei Solger wie bei Hegel durchaus ausgeprägte - historisierende Tendenz der Gattungslehre abschwächt. Gegen die Ansätze einer Zweckästhetik bei den Jungdeutschen und bei Heine hält Hebbel prinzipiell auch an dem alten Autonomiegedanken für die
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Deutlich wird dies vor allem an der fortfuhrenden Gegenüberstellung des gesichtslosen »Fatums der Griechen« und des modernen Schicksals als der »Silhouette Gottes, des Unbegreiflichen und Unerfaßbaren«: sie geht ersichtlich auf eine U n terscheidung Solgers (anläßlich von Schillers >Braut von MessinaTelegraphen für Deutschland^. Ihr Durchsetzungs- und Rechtfertigungsproblem schafft sich die Hebbelsche Dramatik mithin dadurch, daß sie den traditionellen Typus der Tragödie a priori setzt und nicht durch eine bestimmte Tendenz reguliert oder verändert sehen will. Gerade weil der erste Schritt nur der formalen Selbstvollendung der Tragödie - mit kritischer Spitze gegen die Dramenmisere der Zeit gilt, muß das Verhältnis zu den zeitgenössischen Erwartungen und Standards problematisch werden. Die im Vorwort zur >Genoveva< ausgedrückte Hoffnung, mit seinen ersten Dramen »der Zeit, wie ich sie in Bedürfniß, Richtung und Bewegung auffasse, ein künstlerisches Opfer dargebracht zu haben« (W I 433), verweist auf diese Zusammenhänge. Daß damit zugleich, nicht gerade bescheiden, ein Wort des Aischylos kryptisch zitiert wird, 47 bedeutet einen Brückenschlag über Jahrtausende, in der konzedierten Aktualität zugleich eine Rückver46
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Es ist ja auch bezeichnend, daß er - der sich doch so überlegen von der jungdeutschen Tendenzliteratur distanziert - Heines Schlagwort v o m »Ende der Kunstperiode« gar nicht recht wahrgenommen hat. Jedenfalls fehlen Zeugnisse, die auf eine Auseinandersetzung schließen lassen könnten. Die spätere Erinnerung (1862) stilisiert ein 1843 mit Heine in Paris geführtes Gespräch, in dem das Schlagwort möglicherweise eine Rolle gespielt hat, ganz ins Anekdotische (vgl. Β VII 151). In der authentischen Tagebuch-Niederschrift v o m Oktober 1843 sind die Akzente anders gesetzt (vgl. Τ 2799). Es wird von Solger in seinen Sophokles-Übersetzungen angeführt: Des Sophokles Tragödien. 1808, 2 i824. Tl. I. S. X C V I I (dieser Abschnitt - >Kurze Nachricht von dem Leben des Sophokles< [S. X C I I f f . ] - wurde in die Nachlaß-Ausgabe [s. A n m . 45] nicht aufgenommen). - Hebbel führt das Diktum, das man gewöhnlich ihm selbst zuzuschreiben pflegt, bekanntlich auch im Vorwort zur >Maria M a g d a lena< auf (vgl. W X I 48).
Sicherung jenes Traditionselementes, dem das Hebbelsche Drama eigentlich zugewiesen ist. In welche prekären Bereiche dieses Drama gerät, wenn es seine ästhetische Selbstdefinition festzuhalten und zugleich der »Zeit-Aufgabe« (Β IV 9) nachzukommen versucht, erweist sich an den häufig beschriebenen Stilzügen der Überlastung, der nicht mehr in Gestaltung gebundenen >BewußtheitTrauerspiel in Sicilien< wird das ständig drohende Zerbrechen der tragischen Form unter dem Druck der sozialen Problematik ästhetische Wirklichkeit. Der »Sumpf von faulen Verhältnissen« (W II 379), der die Tragödie niederzieht und auflöst, entspricht der von Dürrenmatt mit bösem Blick beobachteten »Wurstelei«, die für das 20. Jahrhundert die Tragödie von vornherein verbietet, zumindest die Tragödie in jener metaphysisch-ästhetischen Prägung, wie sie Hebbel noch verteidigt hat: als Form, die noch eine »Sinngebung des Tragischen« 48 intendieren kann. Was Hebbel 1848 über den Umgang des Dramatikers mit der historischen Vergangenheit bemerkt, kann sehr wohl auf seine eigene Bemühung um die Tragödie überhaupt bezogen werden: Der Dichter darf, wenn er anders ein Kunstwerk, kein Kunststück hervorbringen will, aus einer überwundenen Weltanschauung nur diejenigen Momente herausnehmen, die nicht völlig vernichtet und aufgelös't sind; die ganz und gar beseitigten, die sich nur durch einen willkürlichen, dem absichtlichen Zudrücken der Augen ähnlichen Verengerungsproceß des Bewußtseins nothdürftig reproduciren lassen, sind für ihn nicht mehr vorhanden.
Das richtet sich im Zuge einer Erörterung Schillers gegen »die magische Kraft des Fluchs« in der >Braut von Messina< (1803) - jenes Stück aus dem klassischen Erbe, das der Spätling immer schon abgewiesen hat (W X I 196; vgl. Τ 3099). Bei Schiller handelt es sich um die Rechtfertigung eines bestimmten - antikisierenden - Tragödien-Experiments. Bei Hebbel geht es um die Rechtfertigung der Tragödie überhaupt.
2. Logik der Rechtfertigung. Einige Streitfelder Legitimationen sind nötig, wenn Legitimitäten (oder Legalitäten) fraglich geworden sind. Lockert sich die Verbindlichkeit eines Rechtsanspruchs, dann bedarf es der Rechtfertigung, der Bestätigung des alten oder der Einführung 48
Dietrich Mack, Ansichten zum Tragischen und zur Tragödie. Ein Kompendium der deutschen Theorie im 20. Jahrhundert. 1970. S. 63. — Z u m ausgleichend-affirmativen Charakter der Tragödie vgl. auch F. Sengle, Vom Absoluten in der Tragödie. In: D V J S . 20, 1942. S. 265-272; Murray Krieger, Die Tragödie und die tragische Sehweise. In: Tragik und Tragödie (s. Anm. 20). S. 279-302.
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eines neuen Rechts. Auseinandersetzungen dieser Art, Überprüfungen, Zerstörungen und Neuschöpfungen findet man auf allen Lebens- und Wissensgebieten - Problemstellungen vom weitesten Wurf wie »die Legitimität der Neuzeit« (Blumenberg) ließen sich anführen, Beispiele aus allen nur denkbaren Sphären anhäufen. Man wird die Vermutung nicht abwegig finden, daß die zeitgenössische Konjunktur solcher Fragen mit Unsicherheiten des modernen Bewußtseins zusammenhängt, dem ein Existenz-Nachweis nicht immer schon als ein Rechts-Ausweis gelten kann. Historisch gesehen, hat die Frage nach Rechtsbefugnissen und also nach Legitimität bzw. Legitimation im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet von Staatsund Völkerrecht, Politik und Gesellschaft ihre besondere Dringlichkeit erlangt: es geht nach dem Ausfall theologischer oder quasi-theologischer Begründung von politischer Herrschaft eben um deren Rechtfertigung als Fürstenregime oder um ihre Uberführung in die Volkssouveränität. 49 Unter der Prämisse, daß Gesellschaften komplex - d. h. als Ensemble von >Klassen< aufgebaut sind, muß die staatsrechtliche Fassung des Herrschaftsproblems in den Horizont des naturrechtlichen Denkens transponiert werden. Denn - so wäre der Einspruch von Karl Marx zu umschreiben - was können politische Emanzipationen erwirken, wenn sie die Basis einer gesellschaftlichen Verfaßtheit festhalten, die »das Unrecht schlechthin« perpetuiert, indem sie unter allerhand Ideologienebel einer ganzen Klasse die Menschenrechte vorenthält? 50 Eine Theorie, die sich als >kritische< versteht, muß demnach den Bezugsrahmen einer Legitimationsbeschaffung mitreflektieren: Jürgen Habermas setzt gegen die Möglichkeit - und Wirklichkeit - einer bloß »scheinhaften Legitimation«, die unter dem Namen des Rechts die Verschleierung einer >unrechten< Klassenstruktur betreibt,' 1 die Frage nach dem »Wahrheitsbezug von Legitimationen«. 52 Im Gegensatz zu systemtheoretischen und dezisionistischen Denkansätzen wird somit das »Problem der Begründungsfähigkeit von Handlungs- und Bewertungsnormen überhaupt« aufgeworfen und, durchaus in idealistischer Tradition, die »moralische« Argumentation als »die eigentliche Dimension einer möglichen Rechtfertigung« von Herrschaft ver-
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Vgl. H. Hofmann, Art. Regalität, Legitimität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. V. Hg. von Joachim Ritter + und Karlfried Gründer. 1980. Sp. 1 6 1 - 1 6 6 . Bes. Sp. i6zi. (mit dem Hinweis auf den Wiener Kongreß< von 1814/15 als Terminus post quem). 50 Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie (Karl Marx / Friedrich Engels, Werke. Bd. I. 1970. S. 390). 51 Vgl. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 1973, 3 1975. S. 157 (zum Z u sammenhang: S. 96ff.). s* Ebd. S. 133.
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teidigt. 53 Gezielt ist dabei auf den »Diskurs« als diejenige Form sozialer Kommunikation, die nicht von vornherein durch »Wertorientierungen« oder »Glaubensakte« geregelt wäre, sondern »verallgemeinerungsfähige Interessen« nach dem Kriterium der »Vernünftigkeit« auszuarbeiten hätte 54 - damit auch Normen, an denen die Praxis einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft überprüfbar würde. Der hier referierte Entwurf mag strittig sein in Hinsicht auf seine gedankliche Konsistenz, die Frage seiner realen Einlösbarkeit oder auch einen G e stus des schon wieder dogmatischen Rechthabenwollens. 55 Aber eine Klärung der logischen Struktur von Rechtfertigung wird man ihm absehen dürfen: »Ein Verfahren kann nicht als solches Legitimation erzeugen, vielmehr steht die Prozedur der Satzung selbst unter Legitimationszwang.« 56 Es genügt demnach nicht, ein Recht zu >setzenMaria Magdalenas zum Lustspiel >Der DiamantEin Trauerspiel in SicilienAchillesAchillesun-
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Vgl. ebd. S. 114 u. Ii6f. Vgl. an Hebbel, 15. 8. 1847 (ebd. S. 122fr.). - Palleskes »Würdigung« der Hebbelschen Tragikomödie wurde 1848 in den Jahrbüchern für dramatische Kunst und Literatur< publiziert. 61 Vgl. an Hebbel, 4. 11. 1847 ( B A H I 134). 62 An Hebbel, 20. 2. 1848 (ebd. S. 161). 6 3 Vgl. zum Plan Τ 2551, Β III 54 und die Skizzen W V 99-101. 6 * A n Hebbel, 14. 1. 1848 ( B A H I 148). «5 Vgl. ebd. S. 149. 60
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willkürlichen< Erfindung das Element des dichterischen, auch des dramatischen Schaffens ist: [...] das characterisirt j e d e n Dichter und j e d e Dichterthat und wird nur am Tendenzschmied, der die poetischen Formen nothzüchtigt, vermißt [...] Es fragt sich nur, aus welchen E l e m e n t e n sich eine solche Erfindung zusammen stellt und ob diese reine Schönheit auf dem rechten Wege zu Stande kommt, dadurch nämlich, daß sie vorher alle Momente des Bedeutenden und namentlich das L e t z t e und H ö c h s t e , welches eben ein Product des G e s c h i c h t s - A b s c h n i t t s ist, in sich aufnimmt [...] Von der Antwort, die es auf diese Frage hat, hängt nun aber der Gehalt jedes Kunstwerks ab; darnach entscheidet sich's, ob es neben dem bloßen B i l d e r w e r t h , der allerdings unter Umständen auch schon ein beträchtlicher seyn kann, noch einen höheren, seine Existenz zur Nothwendigkeit erhebenden und im d o p p e l t e n Sinn der A b s p i e g e l u n g und der F o r t e n t w i c k e l u n g h i s t o r i s c h e n besitzt oder nicht (Β IV 8}f.).
Palleske versucht nach dieser Zurechtweisung seinerseits »eine Rechtfertigung«, will »die reinste Form« für die - subjektivistische - Dichtung verteidigt und »die Schreie des socialen Lebens« bewußt ignoriert sehen, während er Hebbel nun vorwirft, »dem socialen Faktor eine zu große Berechtigung auf Kosten der künstlerischen Unbefangenheit« gegeben zu haben. Worauf es ankommt, sind nicht die persönlich-kommunikativen Aspekte dieses Dialogs, auch nicht so sehr die inhaltlichen Momente der Hebbelschen Argumentation. Der Briefwechsel mit Emil Palleske ist deshalb so aufschlußreich, weil er mit aller Deutlichkeit zeigt, wie Hebbel sein dramatisches Werk einer Logik der Rechtfertigung unterwirft. Für ihn ist mit dem subjektiven Talent des Künstlers und der Schönheit seiner ästhetischen Konfiguration nicht schon deren Recht erwiesen. Vielmehr steht »die Prozedur« der Dramenschöpfung als Ganzes, beginnend schon bei der Stoffwahl, unter »Legitimationszwang« (Habermas). Ein >Achilles< hätte nur »Bilderwerth«, eine >Julia< hingegen - drei Monate vorher abgeschlossen - kann Anspruch darauf machen, in dem gekennzeichneten Doppelsinn historisch gerechtfertigt zu sein. Denn dieser Versuch in sozialer Dramatik stellt sich, mit welchem artifiziellen Gelingen auch immer, der »Zeit-Aufgabe« und trägt mit dazu bei, der - vom zeitgenössischen Bewußtsein her angefochtenen - »Kunstform [...] die Nothwendigkeit des Fortbestehens« zu erwirken (vgl. Β IV 8f.). Hebbel wußte wohl, wogegen er in der Auseinandersetzung mit Emil Palleske anging - er selbst hat die Verlockung des Subjektivismus erfahren, aber eben auch seine kunsthindernde Seite erfahren müssen. Wie er als Theoretiker des Dramas »den weitverbreiteten Wahn« bestreitet, »als ob der Dichter etwas Anderes geben könne, als sich selbst, als seinen eigenen Lebensprozeß« (W X I 9), so hat er 1841 in der privaten Korrespondenz noch deutlicher dekretiert: »[...] mir ist überhaupt nur das Poesie, was sich mir aus den 66
An Hebbel, 20. 2. 1848 (ebd. S. I59ff.).
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widerstreitenden Elementen meines innern und äußern Lebens als mein Letztes, Unbezwingliches und Unergründliches herausstellt [...]« (Β II u8f.). Diese Äußerung bezieht sich auf >GenovevaGenoveva< zu >Maria Magdalena< läßt sich auch so verstehen, daß Hebbel nun bereit und fähig war, um der Rettung der großen dramatischen Form willen ihren unmittelbaren Zusammenhang mit der Selbsterfahrung und den Modalitäten der Selbstreflexion aufzulösen - wie er sich das nach Abschluß des bürgerlichen Trauerspiels als geleistete »Resignation« bestätigt (vgl. Τ 2910). Diese Umorientierung kündigt sich, wenn man die ohnehin stilsicherere >Judith< einmal beiseite läßt, bereits in einem aufschlußreichen Aspekt der >GenovevaGenoveva< moniert. 68 Die Argumentation ist also nicht einheitlich. Sie setzt, wenn man so will, die »Gemüths-Dialectik« auf der Ebene der ästhetischen Kontrolle fort, jenes Schwanken des Gemüts in sich 67
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Vgl. Elise Dosenheimer, Das zentrale Problem in der Tragödie Friedrich Hebbels. 1923. S. 4off.; Anni Meetz, Friedrich Hebbel. 1962. S. 24; Wolfgang Liepe, Z u m Problem der Schuld bei Hebbel. In: H N S . S. 42-58. Hier: S. 53ff. - Die moralisch akzentuierte Auflösung von Golo-Hebbels metaphysisch-tragischen Fiktionen, die in der Forschung meist für bare Münze genommen werden, betreibt Wolfgang Wittkowski: Hebbels >GenovevaJudith< dagegen ein Zuwenig (T 2464). Als Hebbel jedoch 1849 eine Umarbeitung seines Erstlings erwägt, vermerkt er selbstkritisch: » [ . . . ] die Judith verliert sich nach der Catastrophe gegen den Schluß ein wenig zu tief in ihre GefiihlsDialectik« (Β IV I52f.). Man kann an solchen Kommentaren zum Frühwerk eine gewisse anfängliche Unsicherheit Hebbels wie auch seine zunehmende klassizistische Gesinnung ablesen.
selbst, das im Drama keine eindeutigen Verläufe zustande kommen läßt. Der erklärte Versuch, »Gemüths-Dialectik« als Hin und Her subjektiver Vorstellungen im Drama einzuschränken, führt auf ein gattungspoetisches Diktat, das sich Hebbel in Selbstkritik und literarischer Kritik unverkennbar zu eigen macht. 69 Die »Sprödigkeit gegen Gemüths-Dialectik« erweist sich keineswegs als eine persönliche Eigenart des Dichters, sondern als der Versuch, gegen eine solche anzugehen. Die Wucherungen der Subjektivität mit ihrem schier unendlichen Reflexionspotential sollen wenn nicht gänzlich beseitigt, so doch gleichsam unschädlich gemacht werden. In diese Maßnahme zur gattungspoetischen Verteidigung ist vermutlich ein Stück Hegel-Rezeption eingegangen. 7 0 Bei der Behandlung der modernen dramatischen Charaktere kommt Hegel auf jene »schwankenden Gestalten« zu sprechen, die »in sich selber einer gedoppelten Leidenschaft angehören, welche sie von dem einen Entschluß, der einen Tat zur anderen herüberschickt«. 71 Hegel kritisiert an solchen Charakteren die Kunstgesinnung, die sie hervorgebracht hat: Am schlimmsten [...] ist es, wenn solch ein Schwanken und Umschlagen des Charakters und ganzen Menschen gleichsam als eine schiefe Kunstdialektik zum Prinzip der ganzen Darstellung gemacht wird und die Wahrheit gerade darin bestehen soll, zu zeigen: kein Charakter sei in sich fest und seiner selbst sicher. 72 Der Kunstbegriff der großen philosophisch-ästhetischen Autorität gibt sich in solcher Perhorreszierung als klassizistisch zu erkennen. Weil es Hegel aus seinem spekulativen Interesse heraus um die Vermittlung des wahren Allgemeinen - der substantiellen Sittlichkeit - mit dem je Besonderen der Individualität zu tun ist, postuliert er diese für die Kunst als eine feste und einheit69
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Eine spätere Äußerung (von 1858) bezeichnet >Genoveva< als »das wilde, seltsame Drama, mit seinem echten Feuer und seinen spitzigen dialectischen Auswüchsen« (Β VI 156) - wobei es natürlich um Golo geht, »der seine Dialectik, sein Belauschen der Zwiespältigkeit unserer Natur [ . . . ] viel zu weit treibt« (Β VI 143). Schon in seinem Kleist-Aufsatz von 1850 hatte Hebbel mit sichtlichem Degout von der »Gefühls-Dialectik« des Prinzen von Homburg gesprochen (vgl. W X I 328). Der bereits oben zitierte Brief an den Hegelianer Felix Bamberg bezeugt im Z u sammenhang der >Judith(-Selbstkritik eine Kenntnis der - 1835 erstmals veröffentlichten - Hegeischen Ästhetik für die Zeit vor der Entstehung des ersten Dramas (Β IV 153). - Völlig unzureichend bleibt der Versuch von Isidor Seidmann, diesen Komplex aufzuarbeiten (Hebbels Beziehungen zu Hegels Ästhetik. Teildruck 1927). Unerklärlich ist mir die Sicherheit, mit der Ludger Lütkehaus Hebbels Lektüre der Hegeischen Ästhetik bereits für das Jahr 1835 ansetzt (Hebbel in historischer Sicht. Z u m gegenwärtigen Stand der Hebbel-Forschung. In: HNW. S. 23). Wie Anm. 34, S. 578. - Als Beispiele nennt Hegel Figuren aus Goethes frühen Dramen: Weislingen (im »Götz von BerlichingenStellaHelden< in >ClavigoIdealismus< oder >Nihilismus< nun mit einer subjektiv bestimmten Formkategorie - wie dem Paradoxen - wieder an einem einheitlichen, Denken wie Dichten umspannenden Hebbel-Bild zu malen. 73 Im neuen Gewände kehrt damit der alte geistesgeschichtliche Monismus wieder. Demgegenüber ist der Verzicht auf solche Einheitssichten in Sachen Hebbel auch dann angezeigt, wenn sie Innenspannungen und Widersprüche nicht harmonistisch auflösen. Selbstverständlich lassen sich paradoxe Stil- und Denkmerkmale bei Hebbel aufzeigen: in den Tagebüchern vor allem an den dort hingeworfenen Bild- oder Dramenskizzen 74 und auch in den Dramen selbst. 75 Aber zum einen müssen, auf das Ganze gesehen, Denken und Dichten bei Hebbel nicht aus einer Wurzel 73
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Im Hinblick auf Peter Michelsens Versuch, »die theoretisch-weltanschaulichen Spekulationen Hebbels« als Verweisungen »in die Ursprungszellen des Dichterischen« zu nehmen: »Das fertige Gebilde, Hebbels Tragödie, vollzieht im Gleichnis der Zeit und des Sinnlichen die Paradoxie des Seins« (Friedrich Hebbels Tagebücher. Eine Analyse. 1966. S. 158). Bereitwillig hat Fritz Martini eine solche M ö g lichkeit synthetisierender Zusammenschau aufgegriffen: Seine Forderung, Hebbels »Dichten und Denken, seine Werkschöpfung und Ästhetik als eine sich zwar modifizierende, aber auch gegenseitig bedingende Einheit zu verstehen«, erfüllt er einige Zeilen später schon selbst: »Werkschöpfung und Gedanklichkeit verbindet die Grundform des Paradoxalen« (Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. 1962, 3 1974. S. 131). Indes: Das »Paradoxale« als »Grundform«? Vgl. dazu Helmut Kreuzers Untersuchung zu den »paradoxen Skizzen in den Tagebüchern« (Die Tragödien Friedrich Hebbels. Versuch ihrer Deutung in Einzelanalysen. 1956. S. 3i8ff.). Hier wird verdeutlicht, wie Hebbels »spielende Phantasie« heterogene Elemente kombiniert und dabei »vom Reiz des Paradoxen schlechthin« ausgeht (S. 322ff.) - wobei Τ 3186, eines der Paradebeispiele, offensichtlich aber Zitat (Heine?) ist. Dort hat sie bereits Josef Gottlieb Wenter statistisch-systematisch nachgewiesen: Die Paradoxie als Stilelement im Drama Hebbels. 1914. - V g l . auch Marga B ü h rig, Hebbels dramatischer Stil. 1940. S. 94f.; ferner: Mechthild Keller, Studien zu Hebbels dramatischer Technik. 1975. S. 75ff., 127 u.ö.
kommen, und zum anderen indiziert das einzelne, auch das gehäufte Auftreten paradoxer Stilelemente im Drama nicht schon dessen paradoxale F o r m struktur. Wer wollte angesichts der Tagebücher bestreiten, daß sich Hebbel mit Lust und Liebe in Skurrilitäten der eigenen Phantasie ergeht? A b e r man muß auch beachten, daß er sich - darin ein Antipode Dürrenmatts 7 6 - dann selbst zur Ordnung rufen kann: »Einfälle sind die Läuse der Vernunft« (T 3389). U n d daß er mit Vehemenz gegen »die gebornen Kunstschwätzer« polemisiert, »die Einfälle für Gedanken halten« (W X I 310). Dabei aber steht Hegel Pate: Wie der Philosoph anläßlich Jean Pauls das Kunstprinzip der »bloßen Subjektivität« kritisiert, 77 bewegt sich die Kunst für Hebbel, soweit sie »auf einem bloßen Einfall« beruht, »in der Region der nackten Subjectivität« (W X I 349). Was den Sinn für paradoxe Zuspitzungen affiziert, muß darum noch nicht formfähig sein. Als Dramatiker steht Hebbel vor der Aufgabe, den tradierten und durch die philosophische Ästhetik theoretisierten Kunstanspruch der Tragödie zu legitimieren: nicht zuletzt auch gegen das eigene, zuhöchst reflexive und zum Paradox drängende Bewußtsein. Man kann sogar davon sprechen, daß sich hier eine Differenz von Denkneigung und Tragödien-Postulat auftut. Weil gemäß spekulativer Ästhetik nur die Anknüpfung an die »Idee« die Möglichkeit des hohen Dramas garantieren kann, muß sich die Subjektivität - obwohl die lebendigste Kraft - als formbildender Faktor depotenzieren. 78 Durch die Schule der eigenen Tragödie gegangen, kann Hebbel 1852 lakonisch befinden: »[...] die Form erkältet alles Subjective, da sie verallgemei-
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Dessen »Komödie« wird erklärtermaßen vom »Einfall« regiert (vgl. Theaterprobleme [wie Anm. 4]. S. 121). 77 Wie Anm. 34, Bd. I. S. 575. 78 Von hier aus könnte sich eine Möglichkeit eröffnen, zwischen den verschiedenen Forschungsrichtungen zu vermitteln - und zwar gerade dadurch, daß man bei Hebbel gattungspoetisch bedingte Differenzen strikt beachtet. In seinem Forschungsbericht rubriziert H. Kreuzer den Beitrag von P. Michelsen (s. Anm. 73) unter dem Vorzeichen der Subjektivismus-These. Diese »Richtung« — von K. Ziegler eröffnet — sieht er von jener gekreuzt, die — wiederum in sich differenziert — für Hebbel »die geschichtliche Verwurzelung im deutschen Idealismus und im Historismus« betont oder »die Verbindlichkeit der Werte« behauptet, »um derentwillen in den Tragödien gelitten und getötet oder an denen das Handeln gemessen wird« (Zum Stand der Hebbel-Forschung. In: Der Deutschunterricht. 16, 1964. Heft 4: Beilage. S. 8). Dagegen ist zu erinnern, daß sich P. Michelsens Leitthese zunächst nur auf die Tagebücher, also das Hebbelsche Denken erstreckt (und sich dafür m. E. auch überzeugend bewährt). Die großen Tragödien Hebbels kommen jedoch als traditionalistisch-theoretisch vermittelte Form nicht aus dem Ursprung der Subjektivität: sie werden einer ästhetischen Teleologie unterstellt, die geradezu den Subjektverzicht fordern muß, ohne daß ein solcher natürlich in Reinkultur möglich wäre.
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nert« (Β IV 363). Die idealistische Ästhetik Hegels hat diese Legitimationsmöglichkeit aufgezeigt. Aber sie hat auch ein Legitimationsproblem aufgeworfen und damit für Hebbel ein zweites Streitfeld geschaffen. b) Die Kunst: ein Vergangenes? Hegels berühmtem Diktum zufolge »ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes«.79 Der Satz will nicht voraussagen, daß es mit der Kunstproduktion ein baldiges Ende nehmen werde, sondern nur diagnostizieren, daß »ihre Form [...] aufgehört (hat), das h ö c h s t e Bedürfnis des Geistes zu sein«.8c Aber auch und gerade in dieser spezifischen Bedeutung bleibt die These von der >Vergangenheit< der Kunst anstößig und aufregend. Für Hebbel wurde dieser Hegeische Gedanke zum Anlaß eines lebenslangen Widerspruchs.8' Es handelt sich bekanntlich nicht um einen kunstfeindlichen persönlichen Einfall, sondern um eine unausweichliche philosophische Konsequenz. Hegel argumentiert nicht auf der Basis des empirischen Bewußtseins, sondern er denkt spekulativ, d. h. er begreift die Entgegensetzungen des endlichen Bewußtseins als Spaltungen innerhalb des >AbsolutenVernünftigkeit< alles >Wirklichen< (aus der Vorrede zur >RechtsphilosophieDie Stellung der Kunst im Verhältnis zur
eine der Formen, in denen sich der Geist in seinem Wesen erfaßt, aber sie ist nicht die höchste Form seiner Selbstvermittlung. Diese bleibt in der Kunst in den Grenzen der sinnlichen Anschauung, sie nimmt in der Religion die Form der Vorstellung an, und sie vollendet sich im dialektischen Denken der Philosophie qua »Wissenschaft«. Als Form des Geistes gerechtfertigt, wird die Kunst zugleich auch in dem Maße herabgestuft, wie sich das philosophische Denken über sie erhebt: Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr inunsere V o r s t e l l u n g verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einnähme. Was durch Kunstwerke jetzt in uns erregt wird, ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser Urteil, indem wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Angemessenheit und Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen. Die W i s s e n s c h a f t der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfnis als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. 84
Der Gedanke hat die Kunst »überflügelt«, damit auch die innerästhetische Einschätzung des Dramas als der »höchsten Form der Kunst« (T 3487)®' zur Nebensache gemacht. Größer konnte die Herausforderung für den Dramatiker Hebbel nicht sein. Er antwortet auf das Votum des berühmten Philosophen mit Versuchen, die Kapazität der Philosophie anzuzweifeln und das Rangverhältnis zwischen Philosophie und Kunst umzukehren. Daß er die Religion dabei nicht mitbedenkt, deutet auf ihre historische Krise wie auf persönliche Vorbehalte gegen das Christentum hin. Dieses Verschweigen läßt andererseits auch erkennen, daß Hebbel nicht von einem >versetzten< religiösen Anspruch getragen ist - es gibt bei ihm auch nicht so etwas wie eine Wagnersche Erlösungs-Asthetik. Auch gegen die Philosophie kann ein Künstler, der sich 1855 gegen »den plumpen realistischen Maaßstab« in der Beurteilung von Poesie verwahren wird (T 5398), nicht eben plump vorgehen. Das >Wort über das Drama< (von 1843) sieht Kunst und Philosophie an einer »gemeinschaftlichen Aufgabe«
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Religion und Philosophie«), ferner den Aufriß der Geistphilosophie in der E n z y klopädie« (zuerst 1817, zuletzt 1830), dem System-Stellvertreter Hegels (§§377ff.: >Philosophie des Geistes«, §§ 5S3ff.: »Der absolute Geist«, §§ 556-563: >Die Kunst«). Wie Anm. 34, Bd. I. S. 22. Diese bleibt bei Hegel durchaus bestehen. Vom »Ende der Tragödie« ist bei ihm keine Rede: das unterstellt ihm nur sein darin irrender Interpret Heinz Schlaffer (wie Anm. 36, S. 122). Hegel spricht von einer untragischen »Aussöhnung der Interessen« nur im Hinblick auf moderne Vermischungen des Tragischen mit dem Komischen und warnt in Anbetracht dieser »Mittelgattung« vor der »Gefahr [ . . . ] , entweder aus dem echt dramatischen Typus herauszugehen oder ins Prosaische zu geraten« (wie Anm. 34, S. 555f.).
arbeiten, konstatiert sodann für die Philosophie, daß sie ihre Aufgabe noch nicht gelöst habe, »denn die V e r e i η ζ e 1 u η g ist noch nicht auf ihre innere N o t w e n d i g k e i t zurück geführt«, 86 während die Kunst »ihr Geschäft bei Alten und Neuern noch stets zur rechten Zeit vollbracht« habe: »sie hat die Vereinzelung durch die ihr eingepflanzte Maaßlosigkeit selbst immer wieder aufzulösen und die Idee von ihrer mangelhaften Form zu befreien gewußt« (W X I 29). Nicht der theoretische Zusammenhang als solcher, sondern das leitende argumentative Interesse ist hier zu betrachten: es geht um die Rechtfertigung der Kunst durch Kritik der philosophischen Erkenntnismöglichkeit. Die Gefahr wird ausgemacht, daß das Drama »kümmerlich hinter der Philosophie und dem öffentlichen Leben einherhinken« muß (W X I 18). Also ist der Führungsanspruch der Philosophie zu attackieren. Aber die Art, wie Hebbel dabei verfährt, bestätigt nur wieder Hegels Feststellung, daß auch »der ausübende Künstler« selbst zufolge seiner Stellung in einer »reflektierenden Welt« der Tendenz zu einer alles umfassenden Gedanklichkeit nicht entgehen könne. 87 Noch Hebbels Abwehrversuch gegen die Herabstufung der Kunst zeigt deutlich das Gepräge dieser Gedanklichkeit, vor allem der Versuch, »die ursprüngliche Incongruenz zwischen Idee und Erscheinung« als das Element des Dramas akademisch-theoretisch einzurichten (vgl. Τ 3158 u. 3191). Eine noch weiter ausholende Antwort auf die Herausforderung durch Hegel gibt Hebbel im Vorwort zu >Maria Magdalenas Hier werden Kunst und Philosophie im Hinblick auf »die große Aufgabe der Zeit« gemessen (vgl. W X I 5 jff.). Hebbel >überflügelt< nun seinerseits die These von der Uberflüssigkeit der Kunst, indem er diese als »realisirte Philosophie« bestimmt. Dadurch kann er umgekehrt die Philosophie unter eine Forderung stellen, diejenige nämlich, daß sie in der Kunst »schließen«, d.h. »ihren eigenen Ziel- und Gipfelpunct« erblicken müsse. Wenn Hebbel auf »eine schöpferische und ursprüngliche Philosophie« hinweist, die sich einer »Probe« (natürlich in der Kunst) zu unterwerfen bereit ist, so spielt er mit einiger List die Philosophie
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Daher bleibt nach Hebbel »die dualistische Form des Seins« genetisch ungeklärt, ein »mit oder ohne Creation unmittelbar gegebenes Factum« (W X I 31, vgl. Τ 3158). Weitere teils anekdotische, teils speziell auf Hegel bezogene Hinweise auf die Grenzen der Philosophie: Β I 192, Β III 315, Τ 3886, W X I 1 1 5 u. iösf., W X 190 u. Τ 5318. - Es ließe sich natürlich zeigen, daß bei solcher Kompetenz-Bezweiflung auch Verstehensbarrieren Hebbels gegenüber den eigentlichen Intentionen des spekulativen Philosophierens im Spiel sind. Wie Anm. 34, Bd. I. S. 22. - Vgl. zur »Bewußtheit« Hebbels als einem Hegeischen Erbe die immer noch beachtenswerten Hinweise von Hermann Glockner: Hebbel und Hegel. Einleitende Gedanken zu einer neuen Gesamtauffassung des Dichters. In: Preußische Jahrbücher. 188, 1922. S. 66f.
Schellings 88 gegen die Philosophie Hegels aus. Mit Schellings verschwiegener Hilfe wird die These aufgebaut, daß »die Welt eben erst in der Kunst zur Totalität zusammen geht«, während sich die Philosophie bloß in abstraktlogischer Gedanklichkeit bewegt und von sich aus nicht zu einer Vermittlung im Realen überleiten kann. Vor die Welt hat der Apologet des Dramas für die Philosophie die Kunst gesetzt. Es erschwert Hebbels Stand gegen Hegel erheblich, daß er dem spekulativen Idealismus nicht einfach empiristisch begegnen, auf eine zeitkritische oder emanzipatorische Parole setzen kann - in diesem Falle würde er auch den Universalismus der Tragödie und damit diese selbst preisgeben. A l s o kann es sich in der Hinwendung zum jeweiligen »Welt- und MenschenZustand« ( W X I 57) immer nur um eine relative Anerkennung der Empirie (im Historischen wie im Psychologischen) handeln, nicht um einen Realismus mit konkreten zeitkritischen Intentionen. Ohne Anknüpfung an die »Idee« gibt es für Hebbel keine theoretische Rechtfertigung des Dramas, keine Zielsetzung, an der die Praxis (etwa die >Maria Magdalena«) gemessen werden könnte. 8 ' 88
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Dessen >System des transscendentalen Idealismus< (1800) zeichnet die Kunst in einer Weise aus, die — als Gegenbeispiel zu Hegels >Überflügelung< — Hebbel stark beeindruckt haben dürfte (vgl. auch die Andeutung bei Emil Kuh: Biographie Friedrich Hebbels. 1877, 2 1907. Bd. I. S. 217). Schelling nennt die Kunst »das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie [ . . . ] , welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann [...]« Daher ist die Kunst »dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, w o in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist [...]« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke. Hg. von K . F. A. Schelling. 1856/61. I. Abteilung. Bd. III. S. 627f.). Daß in der Kunst die intellektuelle Anschauung der Philosophie »objectiv« wird, macht sie für den Philosophen Schelling zum »Wunder« (ebd. S. 625), für den Dichter Hebbel zur »höheren Chiffre« (W X I 56, vgl. 311 u. 313) — und liefert ihm einen Baustein zur Argumentation gegen Hegel (vgl. auch Τ 3135). Wenn Hebbel in einer wichtigen Selbstrekapitulation (im Brief an Gustav Kühne vom 28. 1. 1847) seine »Lebens-Aufgabe« dahingehend bestimmt, »den gegenwärtigen Welt-Zustand, wie er ist und ward, darzustellen« (Β IV 7), so ist das nicht voraussetzungslos zu nehmen. Es handelt sich nicht einfach um einen kritischen Realismus, sondern immer noch um den Bezug zur »sittlichen Idee« und immer auch um den Führungsanspruch des Dramas gegen zeitgenössische Tendenzen wie gegen Hegels Kunst-Verdikt (vgl. Β IV 8). Ich halte meinen Einwand gegen die Studie von L. Lütkehaus aufrecht, solche historisch-gattungsästhetischen Voraussetzungen Hebbelscher Gegenwartsdarstellung ignoriert und das Thema dann, sozusagen auf Null gebracht, den eigenen - marxistischen — Maßstäben ausgeliefert zu haben (vgl. Hebbel. Gegenwartsdarstellung, Verdinglichungsproblematik, Gesellschaftskritik. 1976; dazu meine Rezension in: Zeitschrift für Deutsche Philologie. 97, 1978. S. 299-303; die »Entgegnung« von L. Lütkehaus: ebd. 98, 1979. S. 316-318).
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In einem späteren Rückblick auf das Vorwort zu >Maria Magdalena« spricht Hebbel davon, daß die »Gründe« für die darin entwickelte Aufgabenstellung »Jedermann nur noch die Wahl gestatten, ob er ihnen beistimmen oder mit Hegel annehmen will, daß der Standpunct der Kunst überwunden sei« (W X I 405). Die imperative Formulierung der Alternative hängt mit polemischen Interessen zusammen (gegen Julian Schmidt), aber es verdient immerhin Beachtung, wie nunmehr die ganze dramentheoretische Schrift zur Verteidigung gegen Hegel erklärt wird. Diese Reaktion hat sich als eine >gespaltene< herausgestellt, die sich nicht einfach in ein Dafür oder ein Dagegen auflösen läßt. Darüber, daß er auch auf Hegels Spuren geht, kann manche Distanzierung Hebbels nicht hinwegtäuschen: daß »die Hegeische Dialectik« allein noch keine »Tragödien« ergebe (B III 27), daß er kein Schüler Hegels sei (W X I 406) und »Autonomie« gegenüber dem »Hegelianismus« beanspruche (Β V 45). Das Drama nämlich, um dessen Verteidigung es Hebbel zu tun ist, entspringt dem gleichen Kunstverständnis, in dessen Zeichen Hegel der Kunst die höchste Repräsentanz abgesprochen hat. Leichter hätte Hebbel diesen Streit bestehen können, wenn die Hegeische Ästhetik einfach als Erzeugnis ästhetischen Banausentums abzutun gewesen wäre. Einen solchen >Vatermord< wagt er bei allem Zwang zu Selbstbehauptung und Widerspruch denn doch nicht. Bei der Kopenhagener Lektüre findet er 1842 Hegels Ästhetik »in allem Einzelnen geistreich [...], in der Hauptsache aber trivial, wenn auch nicht trivial im gewöhnlichen Sinne« (Β II 144) was immer das heißen mag. Immerhin: Hegel hat die Kunst nicht nur in ihrem Rang begrenzt, sondern auch »in ihrer höchsten, wahrhaften Würde« dargestellt und als Erscheinung »des Wahren« begriffen. 90 Solger hatte, darin mit Hegel auf einer Linie, den »Ernst« der Kunst in ihrer göttlichen Abkunft begründet. 9 ' Die Kunst kann ihre Dignität nur behaupten, wenn sie im Sicheinlassen mit dem Wirklichen den Zusammenhang mit der »Idee« wahrt und dramatisch-strukturell verfestigt. Von solchen Traditionsbindungen kann Hebbel bei allen Schwierigkeiten nicht ablassen - und auch die neueste Hebbel-Forschung sollte mit ihnen nicht nach eigenem Belieben umspringen. Was dem Dramatiker die »Wissenschaft der Kunst« gegeben hat, wird in einer späteren Danksagung (1849) eher verschlüsselt eingestanden: »Niemand, dem es um gründliche aesthetische Bildung zu thun ist, darf ihre großartigen Leistungen ignoriren. Kein Künstler höheren Ranges wird die
9° Wie Anm. 34, Bd. I. S. 102 u. 99. Vgl. S. 117. 91 In der Vorlesung >Ober den Ernst in der Ansicht und dem Studium der Kunst< (Nachgelassene Schriften [s. Anm. 45]. Bd. II. S. 424-444). - So notiert der Solger-Leser Hebbel 1840 bei einer Besinnung auf seinen »dichterischen Beruf«: »Immer klarer wird mir auch das: nur, was von Gott selbst ausging, ist Gegenstand der höchsten Kunst, Nichts, was Menschen den Ursprung verdankt« ( T 2 1 8 1 ) . 28
Mühe scheuen, sich die Resultate derselben anzueignen« (W X I 309^).92 Es ist die Orientierung an der »Idee« und die Anweisung auf ihre immer neu zu leistende real-historische Gestaltung, die Hebbel aus der spekulativen Ästhetik überkommen ist. Und es ist die Schulung durch Hegel (bzw. durch Hegelianer), die ihn »den Hauptzweck der Literatur« darein hat setzen lassen, »der Menschheit durch treue Fixirung jedes [ihres?] symbolischen Lebens- und Entwicklungsprocesses zu einem immer klareren Selbstbewußtsein zu verhelfen« (W X I 132). Im Horizont Hegels bekämpft Hebbel als Dramatiker die Hegeische These von der >Vergangenheit< der Kunst, tritt er für ihre Gegenwärtigkeit ein. Damit öffnet sich freilich ein neues Streitfeld. c) Das »Sociale«: ein tragischer Fall? Wendet sich das Drama der »Gegenwart« zu, so nimmt es sich einer »socialen« Thematik an: beides besagt für Hebbel dasselbe (vgl. W X I 8). Das >Wort über das Drama< illustriert diesen Typus mit dem Beispiel Gutzkows: Seine Stücke seien »offenbar Correlate, die den gesellschaftlichen Zustand mit scharfen, schneidenden Lichtern in seinen Höhen und Niederungen beleuchten«. Es fällt Hebbel sichtlich schwer, Gutzkows Dramen typologisch zu würdigen, während er sie als Gestaltungsleistungen ganz und gar verachtet (von den persönlichen Querelen ganz abgesehen). Seine Anerkennung ist jedenfalls mit Spuren von Degout durchsetzt. Johan Ludvig Heiberg, der dänische Ästhetiker, konnte bei der Behandlung Gutzkows einhaken93 und Hebbel zu einer - wiederum gewundenen - Replik zwingen (vgl. W X I 2off.). Diese legt den Argumentationskern frei: Das Thema der Gutzkow'schen Stücke ist der Mensch im Kampf mit der Gesellschaft. Sie wollen zeigen, daß dieselben Formen, die dem Geschlecht Halt und Bestand geben, das einzelne Individuum in extremen Fällen vernichten können, und daß dieser unabwendbare Fluch jener Formen sich [ . . . ] eben so gut geltend machen kann, wenn sie sich zu sehr um den Menschen erweitern, als wenn sie sich zu sehr um ihn verengen (W X I 23). 92
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Nach Meinung von Heinz Schlaffer ist die deutsche Tragödiendichtung überhaupt seit Schiller »eine Tragödie aus zweiter Hand, aus der Hand der Spekulation« (wie Anm. 36, S. 126). Die großzügige Zuweisung hat einen kleinen Schönheitsfehler: Schiller hat die »Philosophie des Tragischen« überhaupt nicht gekannt, geschweige denn rezipiert. Seine Kritik des Hebbelschen Aufsatzes >Ein Wort über das Drama< (erschienen im »Morgenblatt fur gebildete LeserMaria Magdalena« nicht ausgenommen - hindurchschleppt. Dabei weiß Hebbel sehr wohl, daß »bürgerliche Gerechtigkeit« keineswegs mit der »Gerechtigkeit selbst« identisch ist oder sie bruchlos repräsentieren würde (vgl. Β I 169). Aber als Tragiker kann er diesen Unterschied nicht thematisieren, sondern muß die allenfalls relativ gerechtfertigte - bürgerliche Sittlichkeit als Erscheinungsform der Sittlichkeit selbst beanspruchen. Daß Tragödienform und gesellschaftliche Problematik - unter den spezifischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts - letztlich nicht konvergieren können, hat Hebbel durch seine eigenen dramatischen Versuche, die es an Bereitschaft zum Experiment nicht fehlen lassen, einsehen müssen. Seine Abwendung von der »socialen Tragödie« aus Einsicht in ihre Unmöglichkeit (vgl. Β VII 293) bringt zugleich die Geschichtstragödie auf die Bahn: Diese endgültige Gestalt der Hebbelschen Dramatik ist als Konsequenz seiner Bemühung um das »sociale Drama« zu begreifen.94 Hier kann es sich zunächst nur darum handeln, einige Aspekte der Hinwendung zur Gegenwartsdramatik aufzuzeigen. Daß die Gegenwart nicht ohne weiteres in den Zugriff des großen Dramas hineinpaßt, ist Hebbel durchaus bewußt. Er sieht schon 1835 »das Unterscheidendste der jetzigen Zeit gegen die frühere« darin, »daß jetzt nur die M a s s e und ehemals nur der
Daß sich sein »Talent an der Geschichte« entzündet habe, sagt Hebbels Selbstinterpretation von 1852 (Β V 46). Sie verwischt, daß eine eigenwertige Bemühung um »die socialen Verhältnisse« — von denen im gleichen Satz aufschlußreich genug gesprochen wird - die Vorstufe zur geschichtlichen Wendung seiner Dramatik gewesen ist. 3°
bedeutende E i n z e l n e lebte« (T46). Fast alle einschlägigen Äußerungen, vor allem in den früheren Jahren, drücken Hebbels Verachtung »der stumpfen, dumpfen Masse« aus (Β II 103), der ein lebenslang betriebener, dramatisch freilich ergebnisloser Napoleon-Kult gegenübersteht: D e r Kaiser gilt dem Dichter als Prototyp des »Tat-Genies«, 95 von dem ein geschichtlicher Abschied fällig ist. Denn daß die Zeit der »Masse« angebrochen ist, wird von Hebbel zwar kritisch beleuchtet, aber als Tatsache nicht geleugnet. Mit hintergründigem Ressentiment umspielt sie etwa der frühe Aphorismus: »In die Hölle des Lebens kommt nur der hohe Adel der Menschheit; die Andern stehen davor und w ä r m e n sich« (T498). 9 6 Aber diese »Andern« sind nicht bloß, wie seit jeher, in der Uberzahl: A n ihnen und nicht mehr an den großen Individuen richtet sich das Zeitbewußtsein aus, kommt jener Kollektivismus zur Herrschaft, wie ihn dann Dürrenmatt ins dramatisch-groteske Bild zwingen wird. Was Hebbel damit auf seine Weise erfaßt, ist ein geschichtlicher Wandel vom Aristokratismus zum Demokratismus, der als Entstehung des sozialen Bewußtseins verstanden werden kann. E r läuft in dem Maße auf eine D e p o tenzierung des Individuums hinaus, wie dieses in Gruppenbindungen und Interessenzusammenhängen entdeckt wird, wobei f ü r die ihm zumutbare Autonomie nicht mehr viel Raum bleibt. So werden im Marxismus als gesellschaftlich-geschichtliche Rechnungseinheiten »Klassen« angesetzt und darunter die »Individuen« nur noch subsumiert, ihre »Persönlichkeit« - und damit ihre Freiheit - f ü r »durch ganz bestimmte Klassenverhältnisse bedingt und bestimmt« erklärt. 97 A b e r nicht bloß die Gesellschaftsrevolutionäre Marx und Engels bestreiten den Eigenwert des Individuums: Auch ein in mancher Hinsicht so traditionalistischer Ästhetiker wie Friedrich Theodor Vischer fordert ein Hinausgehen über die »Periode der Individualitätsbildung«. 98 U n d Hebbels notorischer Widersacher Julian Schmidt konstatiert
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Vgl. dazu die Zusammenstellung der Belege bei P. Michelsen (wie Anm. 73, S. 43ff.). - Hier wird auch nicht die Gelegenheit versäumt, Hebbels »Verachtung der Masse« (Β I 128) in vorbildlicher Sozialmoral als »hochmütig« zu tadeln (S. 99)· Wenn man will, kann man den Aphorismus als Skizze betrachten, deren Ausführung sich bei Nietzsche findet: in jenem berühmten Erzähl- und Denkstück, das um das Wort »Gott ist tot« kreist (Die fröhliche Wissenschaft. Nr. 125). Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie (geschrieben 1845/46). In: Werke. Bd. III. 1958. S. 7 s ( . An David Friedrich Strauß, 27. 4. 1848 (Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer. Hg. von Adolf Rapp. 1952/53. Bd. I. S. 215). - Vgl. zum poetologischen Zusammenhang Hermann Kinder, Poesie als Synthese. Ausbreitung eines deutschen Realismus-Verständnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 1973. S. 63fr.
um die Jahrhundertmitte mit sichtlicher Befriedigung: »Der Götzendienst der Individualität ist vorüber f . . . ] « " Mit derartigen Zeugnissen eines Bewußtseinswandels ließe sich fortfahren. Der Anti-Individualismus, der sich solchermaßen manifestiert, ist einer Kunstform nicht günstig, die sich - wie die hohe Form des Dramas - am Maße des >großen< Individuums orientieren muß, das für sein Handeln und noch für seinen Untergang selbsttätig aufkommt. 1 0 0 Hebbel erscheint die historisch-politische Emanzipation der »Masse« (wenn man so sagen kann) nicht als Fortschritt (vgl. Τ i2o6) - er versucht, das kämpfende und untergehende Individuum als Triebkraft des geschichtlichen Prozesses wenigstens für das eigene Denken zu retten (vgl. Τ 3048). Auf der anderen Seite ist er an Tendenzen nicht unbeteiligt, durch ein liberales Kompromißdenken je widerstreitende Interessen friedlich auszugleichen - wie vor allem seine politische Korrespondenz im Jahre 1848 lehrt. Aber selbst hier setzt er eine Grenze, indem er beharrt: »[...] nur im Individualisiren entbinden sich die ewigen Kräfte, als deren Product die Welt zu betrachten ist [...]« (W X 153). Gerade auch als Experimentator der sozialen Tragik muß er sich gegen die antiindividualistische Denkweise sperren. Das gilt auch für die >Maria Magdalenas den angestrengtesten Versuch, die eigene Gegenwart - also das >Sociale< - zum Gegenstand der Tragödie zu machen. Was das Vorwort, das ja in Wahrheit ein Nachwort ist, über die historisierende Betrachtung der eigenen Zeit ausführt (vgl. W X I 40), ist von der ästhetischen Selbsterfahrung dieser Arbeit bestimmt. In >Maria Magdalena< soll nicht auf der Welle des Familien-Rührstücks mitgeschwommen, nicht bei Charlotte Birch-Pfeiffer und ihren Brüdern in der Gebrauchs- bzw. Tendenzdramatik gelandet werden. Es geht vielmehr darum, die >sociale< Thematik in dem anläßlich Gutzkows gekennzeichneten Sinne (s. o.) als Bewährungsfeld für die tragische Form zu erobern. Von der Typologie der ersten dramentheoretischen Abhandlung war dieser Schritt nicht vorgezeichnet worden, denn die Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Dramatik mit ihren »drei verschiedenen Richtungen« (nämlich »social, historisch oder philosophisch«) mündet in das Postulat eines Dramas, das »die [...] verschiede-
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Die europäische Literatur in ihrem gegenwärtigen Standpunkt (1858); zit. nach dem Wiederabdruck in Julian Schmidts Sammelband >Bilder [.. .]< (wie Anm. 36), S. 7ff. Hier: S. 29. 100 Y g i τ 1465; »Jeder große Mensch fällt durch sein eignes Schwert. N u r weiß es Niemand.« Der Nachsatz will wohl auf die Ignoranz der »Masse« (bzw. des »ästhetischen Pöbels«) gegenüber dem »Axiom« der Tragödie hinaus (wie die >WallensteinKönig ÖdipusMolochMaria Magdalenas gemäß der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels, auf die Familienstube verengt, so wird der intendierte Bedeutungshorizont um so mehr ausgeweitet - ins Epochengeschichtliche. Es ist der Anschluß an Hegel und den Hegelianismus, mit dem sich der theoretisierende Dramatiker die Möglichkeit verschafft, sein kleinbürgerliches Lebensbild über die kunstfeindlichen Trivialitäten der Gebrauchsdramatik nicht anders als der gegenwärtigen Sozietät selbst (vgl. W X I 62) ins Repräsentative zu erheben. Dabei ist an Hebbels Pariser Freund Felix Bamberg als Vermittler zu denken, aber auch an die Mithilfe einer Abhandlung von Heinrich Theodor Rötscher, 101 die eben die Kategorien und das Argumentationsziel vorgibt, wie man sie im Vorwort zu >Maria Magdalena< finden kann: die sittliche Begründung sozialer Institutionen wie Ehe und Familie über ihre tragische Erschütterung. Man sieht an einer solchen Theoretisierung wiederum die Nachwirkung der Hegeischen Denkstrukturen: Wäre die Kunst nicht - wie Religion und Philosophie - der Sphäre des absoluten Geistes zugewiesen, dann könnte sie gar nicht in eine derartige kritische Metaposition gegen die Manifestationen des objektiven Geistes - wie eben Familie, Ehe und auch Staat - gesetzt werden. In keiner Weise soll durch die kräftige Nachzeichnung dieser Linie, die eben die philosophisch-theoretischen Voraussetzungen der Hebbelschen Dramatik zu verdeutlichen hat, die Möglichkeit in Abrede gestellt werden, daß auch sozialpsychologische Erklärungsansätze einiges erhellen können. Hebbels Dichtertum und die Gesellschaft: die bekannten biographischen Umstände legen es nahe, hier ein »soziales Ressentiment« zu vermuten. 102 Daß er »in Noth und Elend aufgewachsen« ist, hat Hebbel zu dem starken Wort getrieben: »Das ist der ärgste Fluch eines menschlichen Daseyns, den keine Ewigkeit von dem Haupt des Unglücklichen zu nehmen vermag« (Β I
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Die Wahlverwandtschaften von Goethe in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung, ihrem sittlichen und künstlerischen Werthe nach entwickelt. (= Abhandlungen zur Philosophie der Kunst. 2. Abtheilung). 1838. - Diese Abhandlung hat Hebbel eigenem Bekunden nach (vgl. Β IV 70) in der Kopenhagener Zeit (also 1842/43) gelesen.
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V g l . Wolfgang Wittkowski, Der junge Hebbel. Z u r Entstehung und zum Wesen der Tragödie Hebbels. 1969. S. 42. Ferner: S. soff.
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i8o). Den Widerspruch zwischen seinem geistigen Rang und seiner gesellschaftlichen Stellung in den Wesselburener Jugendjahren hat er für »das größte Unglück« seines Lebens erklärt (T 1385). Die Gesellschaft erscheint unter solchen Vorzeichen zunächst als Raum, in dem das gedrückte Individuum durch Kraftanspannung Anerkennung erzwingen will (oder ein Scheitern als tragischen Fall erfahren kann). Für die komplexen Strukturen und ökonomischen Gesetze der >Gesellschaft< hat sich Hebbels Blick im Lauf der Zeit sicherlich geschärft, 103 ohne daß es anginge, ihn am Maßstab eines durchgebildeten oder ideologisierten Gesellschaftsdenkens von heutigem Zuschnitt zu messen. Bleibt am Ende doch die Kunst »das einzige Medium« zu »Welt, Leben und Natur«, wie Hebbel 1836 an sich beobachtet (T 548)? Zumindest dient die Kunst ihm nicht bloß und auch nicht in erster Linie als Instrument gesellschaftlicher Behauptung. Wie es zu einem derart bedeutenden Werk wie der >Maria Magdalenas diesem Endspiel des bürgerlichen Trauerspiels, gekommen ist, läßt sich ohne den gattungspoetischen Legitimationsdruck schwerlich begreifen. Welche erheblichen Mittel Hebbel aufwenden mußte, um den sozialen Normen des kleinbürgerlichen Familienlebens Tragödienformat zu verschaffen, wird noch des näheren zu untersuchen sein. Zunächst jedoch ist ein viertes Streitfeld zu skizzieren.
d) Die Gattungsentwicklung. Goethes »Grundstein« In der Selbstkritik der >Genoveva< hat sich Hebbel (im Februar 1842) eingestanden: »[...] Golo ist vom 4ten Act an verfehlt, weil ich die epischen Elemente zu stark verwalten ließ, und weil ich ihm darum mehr Selbstkenntniß und Bewußtseyn verlieh, als er haben darf« (T 2480). Hebbel plädiert damit gegen eine - durch den vorgegebenen Legendenstoff noch begünstigte - >natürliche< Tendenz zur Episierung und für eine strikte gattungsspezifische Orientierung, die das durch die »epischen Elemente« geschaffene Ubermaß an >Bewußtheit< zu eliminieren gebietet. Das unscheinbare Detail Hebbelscher Selbstkritik eröffnet den weitesten Zusammenhang dramatisch-tragischer Legitimationsproblematik im späteren 19. Jahrhundert. Die von Aristoteles sich herschreibende Tradition, derzufolge sich die Struktur des Dramas nach der ihm aufgetragenen Gemütswir-
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Ihre Geringschätzung in Hebbels Anfangen geht aus einer Bemerkung über den Romancier Ehrenreich Eichholz in einer Rezension von 1839 hervor: »Theologie, Philosophie, Aesthetik, Psychologie, Physiologie, sogar Nationalökonomie sind ihm geläufig« (W X 387; Hervorhebung H. R.). Der politische Publizist von 1848 wird zur Lösung eines europäischen Problems einen »Völkercongreß« vorschlagen, »aber nicht aus abstracten Philosophen von zweitem Rang, sondern aus Nationalökonomen [!] zusammengesetzt« (W X 146).
kung zu richten hat, trägt den Spätling nicht mehr. Dies zeigt schon sein kritisch einschränkender Kommentar zur Wesensbestimmung der Tragödie durch Aristoteles. Sie wird als »richtig« anerkannt, soweit sie »eine Beschreibung des Gemüthszustands« gibt, »den die Tragödie hervorbringen muß, falls sie echt ist«. Aber Hebbel ist nicht mehr bereit, diese Affektwirkung der Tragödie auch schon »für die Definition ihres Zwecks« zu halten (T3525). Bei Lessing und Schiller galten Wirkung und Zweck als identisch: Das Drama, das ein Leiden darstellt, erfüllt sich darin, daß es im Betrachter ein Mit-Leiden erregt bzw. ihn dazu veranlaßt, sich selbst als intelligibles Wesen zu bestimmen, das über die Sphäre des Leidens erhaben ist. Für Hebbel liefe dies alles auf nicht mehr hinaus als auf »die kümmerliche Theilnahme an dem E i n z e l - G e s c h i c k einer von dem Dichter willkürlich aufgegriffenen Person« (W X I 64): ein abschätziges Diktum, das die Differenz zum ursprünglichen Impuls der Dramaturgie des Mitleids bzw. des »Pathetisch-erhabenen«'° 4 erkennen läßt. Dabei ist zu bedenken, daß mittlerweile die theatralische Nachgeburt der Mitleidsdramaturgie in voller Scheinblüte steht, nämlich das Rührstück. Die Ästhetiker von Rang werden nicht müde, diesem Typus die gebührende Verachtung auszusprechen, ohne doch seinen Bühnenerfolg im geringsten beeinträchtigen zu können. August Wilhelm Schlegel lastet »das Familiengemälde und das rührende Drama« als »Aftergattungen« sogar auch Lessing, Goethe und Schiller an, indem er ihnen »Begünstigung durch Lehre und Beispiel« vorhält. 1 0 ' Solger nimmt diese Schilderung auf, 1 0 6 und auch Hegel läßt keinen
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'* Unter dieser B e g r i f f s p r ä g u n g der Abhandlung »Vom Erhabenen« (vgl. SW V 509) hat Klaus L. Berghahn Schillers Dramentheorie nachgezeichnet (in: Deutsche D r a mentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. H g . von Reinhold G r i m m . 1973. B d . I. S. 214-244). Schillers verwandelnde A u f nahme der Lessingschen Mitleidspoetik (und diese selbst in ihrer bis Büchner und Schopenhauer wirksamen Triebkraft) ist v o n Hans-Jürgen Schings instruktiv dargestellt worden: D e r mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids v o n Lessing bis Büchner. 1980 (vgl. zur Beziehung Schiller-Lessing S. 47ff.).
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Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (Kritische Schriften und Briefe. H g . v o n Edgar Lohner. B d . V I . 1967. S. 284). - N a c h einer A u f f u h r u n g von >Maria Stuart< notiert Hebbel 1847: » [ . . . ] daß selbst ein M a n n , w i e Schiller, auf feuchte Schnupftücher speculirte, ist entsetzlich« (T 3994). E r hat es schwerlich getan - auch wenn Hebbel f ü r seinen Eindruck Z e u g e n finden könnte bis hin zur biederen Frau Schmolke in Fontanes >Frau J e n n y Treibel< (1893) mit ihrer einschlägigen Theatererinnerung (vgl. N y m p h e n b u r g e r Ausgabe. H g . v o n Edgar G r o ß u . a . I959ff. I. Abteilung. B d . VIII. S. 122). In der Rezension v o n Schlegels »Vorlesungen« mit weiterer K l a g e über »das neue Unheil, das seitdem über uns eingebrochen ist«, und der H o f f n u n g auf »Rettung der Kunst«, und sei es durch »geniale Privatunternehmungen« (Nachgelassene Schriften [s. A n m . 45]. B d . II. S. 624f.): eine Äußerung, die auf Hebbel w i e ein Stachel gewirkt haben muß.
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Zweifel, wie er »die Ifflandschen und Kotzebueschen Stücke« bewertet: Das Mitleid, auf das sie spekulieren, macht er als »die gewöhnliche Rührung« durch Zuweisung an »die kleinstädtischen Weiber« verächtlich; davon wird »das wahrhafte Mitleiden« abgehoben als »die Sympathie mit der zugleich sittlichen Berechtigung des Leidenden, mit dem Affirmativen und Substantiellen, das in ihm vorhanden sein muß.« 1 0 7 Daß die Theorie des Tragischen zum ästhetischen Maß des Dramas geworden ist, liegt solchen Unterscheidungen und Wertungen zugrunde. Vor diesen Hintergründen kann sich das Drama für Hebbel durch die ihm seit altersher zugesprochene und abverlangte Gemütswirkung allein nicht mehr rechtfertigen. Sein »Zweck« muß jenseits von Affektbewegungen gesetzt werden, welche die Gebrauchsdramatik in Mißkredit gebracht hat. Mit seinem Votieren für das gattungsrein zu entwerfende, dabei der Nachbarschaft von Rührstück-Fabrikation und Tendenz-Literatur zu entrückende Drama steht Hebbel um die Jahrhundertmitte keineswegs isoliert. Mit teils verdeckter, teils expliziter Anknüpfung an ihn rügt etwa Hermann Hettner 1851 die »dilettantische Verwechslung des Epischen und Dramatischen« in der zeitgenössischen Dramatik. 108 Die »tragische Kunst« in ihrer »Reinheit« ist ihm ein derart dringendes gattungspoetisches Desiderat, daß nicht einmal in der schon vom Stoff her extensiven historischen Tragödie »episierende Nachklänge die reine dramatische Gestaltung trüben« dürfen. 1 0 9 Für die theoretischen Ansätze von Otto Ludwig und Gustav Freytag, welche sich der großen dramatischen Tradition im Hinblick auf den »Gewinn technischer Regeln« versichern wollen, 1 1 0 ist solcher Purismus schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Daß er für die Tradition selbst keineswegs als dogmatische Norm gilt, hat man am Beispiel Schillers aufzeigen können. 1 1 1
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Wie A n m . 34, S. 55of. - V g l . S. 544, 554, 582f. u . ö . Das moderne D r a m a . Aesthetische Untersuchungen. H g . v o n Paul A l f r e d M e r bach. 1924. S. 41 (mit einer stattlichen Liste einschlägiger poetae minores). Ebd. S. 43f. Gustav Freytag, D i e Technik des Dramas. 1863, '1894. S. 7. - Ähnlich kennzeichnet Otto L u d w i g seine Frage nach dem »Handwerk der Kunst« (Dramatische Studien. In: L u d w i g . Werke. H g . v o n Arthur Eloesser. o . J . T l . IV. S. 19). Wie der »technische Pragmatismus« Freytags als solcher schon auf »die Substanzentleerung des Dramas« verweist, stellt F. Martini heraus (wie A n m . 73, S. I26f.; zu L u d w i g s Theorieversuchen vgl. S. 20iff.). Daß die Dramaturgie der Gründerzeit (1850-75) die spätere Rezeption des »klassischen Dramas« nicht nur maßgeblich gelenkt, sondern dieses selbst als eine A r t fiktive Kontrastfolie für die als schwach eingeschätzte Dramatik der eigenen Zeit allererst gebildet hat, ist die interessante These Peter v. Matts: Das literarische Gespenst »klassisches Drama«. In: Merkur. 30, 1976. S. 7 2 8 - 7 4 2 . V g l . Walter Müller-Seidel, Episches im Theater der deutschen Klassik. Eine B e trachtung über Schillers >Wallenstein4 So im Anschluß an W. Liepe etwa W. Wittkowski (wie Anm. 102, S. 8), der - im Gegenzug gegen die Zieglersche Nihilismus-These - den >Ethiker< Hebbel von metaphysischen Problemen des Deutschen Idealismus abschirmen will (vgl. S. 3ff.), dafür aber dem Dichter das Verdienst zubilligt, einer Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts (Nicolai Hartmann!) bereits »gerecht« geworden zu sein (S. 185).
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Abstraktion und Universalismus, im Anschluß an die pantheistische Metaphysik und nicht ohne eine gewisse Attitüde des >Akademischen< die Möglichkeit des Dramas sicherzustellen, und sei es auch jenseits aller konkreten Dramaturgie. Bleibt die weltanschauliche Verbindlichkeit des umstrittenen Schuldbegriffs schwer zu fassen, so ist neben seiner metaphysischen Herkunft auch seine funktionale Bedeutung für die Dramentheorie - außerhalb derer Hebbel den Begriff nicht verwendet - offenkundig. Die Gattung wird, in ihrer historischen Geltung angefochten, zumindest im Prinzipiellen unangreifbar, wenn die erforderliche Prädominanz des Allgemeinen in einer >Schuld< des unterliegenden Individuellen auch prinzipiell begründet werden kann. So fungiert der apriorische Schuldbegriff mit seinem metaphysischen Hintergrund im Binnenraum der Theorie als Korrelat des apriorischen Formbegriffs. Er tritt an jene Stelle, die in der >alten< Dramaturgie die hamartia einnimmt als jene Endlichkeit und Fehlbarkeit des handelnden Menschen, die gleichwohl nicht abstrakt fixiert ist, sondern in ihrer konkreten Form auch je konkret aufgesucht sein will. Bei Hebbel wird die hamartia ontologisch fixiert, um die Theorie der Tragödie zu stützen und diese ihrerseits im Durchgang durch die Denkmuster der Philosophie zu rechtfertigen. Diese theoretisch-argumentative Funktion profiliert sich deutlicher, wenn man die dramatische Individualität, einerseits unter einen apriorischen Schuldspruch gestellt, von Hebbel in anderen Zusammenhängen ganz anders bewertet findet. Daß die Individualität »nicht sowohl Ziel, als Weg, und nicht sowohl bester, als einziger« ist (T491), versteht sich für das individualistische Wertgefühl zumal des jüngeren Hebbel von selbst - man denke an sein kämpferisches Eintreten für die Repräsentanz des großen Individuums gegen die aufkommende >MasseDramen-WortMaria Magdalenas auswirkt, wurde beim Durchgang durch die thematischen Streitfelder bereits aufgezeigt. Hinsichtlich der Deutung der dramatischen Individualität bewegt sich Hebbel in dieser Theoriephase, wie die Kritik des >Don Karlos< (vgl. Τ 2966) oder auch die Selbstinterpretation der >Judith< (vgl. W X I 6if.) zeigt, gänzlich auf hegelianischen Spuren: Die Individuen werden als Träger eines »welthistorischen Zwecks« gesehen, der um seiner »wirklichen Realisirung« willen letztlich ihre Begrenzung tragisch aufsprengen muß. Das theoretische Schlußwort zum dramatischen Individuum spricht Hebbel in dem Lebenslauf-Brief von 1852 an Arnold Rüge, der als Bestandteil der Dramentheorie bisher nicht hinreichend beachtet worden ist, obwohl er gegenüber den früheren Konstruktionen den Vorzug hat, die eigene dramatische Praxis (bis zur >Agnes Bernauerfalsche< Versöhnung, die eine »Ausgleichung« in der Sphäre des Individuellen sucht, damit bewirken würde: »dieß hieße natürlich die Individuen umbiegen und auflösen, also den Grund des Dramas zerstören« (Β V 55). Wer dem dramatischen Individuum seine tragische Vernichtung ersparen will, zerstört demnach den »Grund des Dramas«, entzieht ihm die >BasisPantragik< Hebbels gipfelt in der Tragödie der tragischen Kunst« (Versuch über das Tragische. In: Schriften I [s. Anm. 116]. S. 192). Das läßt sich in solcher Prägnanz freilich nur an Hebbels Theorie ablesen, nicht an seiner »tragischen Kunst« selbst. 54
hauptung (vgl. Τ 2335) bis in den Untergang befolgt. Die Macht, der es unterliegt, nennt Hebbel »seinen göttlichen Gegensatz«, der sich auf mannigfache Weise »religiös-historisch verleiblicht« (Β V 56). Das Individuum, im Hinblick auf »die Gottheit« als »nichtig« gesetzt (T 2174), ist für den dramatischen Baugedanken nichts weniger als dies. Es bildet vielmehr die substantielle Grundlage der Tragödie, indem es durch seine Selbstbehauptung - psychologisch zumeist durch seinen Trotz - den Widerstand setzt, in dessen Überwindung das Göttlich-Allgemeine in seinem Vorrang plausibel aufgehen kann. Versucht man die Implikationen von Hebbels Denkfigur ein wenig herauszuheben, so bemerkt man deutlich die Logik von »Grund« und »Existenz«, wie sie Schelling in der Freiheitsschrift eingeführt hat. Der »Universalwille« bedarf, um wirksam werden zu können, eines gegenwendigen Widerstandes durch den »Partikularwillen«, der aus dem »Grunde« (eben im Sinne von >BasisUrsache* Ebd. S. 15. Ebd. S. 198. - Vgl. S. 18. •w Ebd. S. 21. • 94 V g l . die Anknüpfungen ebd. S. 9f. u. i6f. 61
nicht frei von nachweisbaren Gewaltsamkeiten und Verzeichnungen. So kann man Hebbels Frauengestalten schwerlich zu Trägerinnen humanitärer Werte machen, ohne die ihnen vom Dramatiker mitgegebenen Defizite gleichfalls zu reflektieren - hier werden die von Helmut Kreuzer erreichten Differenzierungen des Geschlechter-Dualismus wieder preisgegeben oder einfach ignoriert. Daß Rhodope (im >GygesJudith< vor, als gäbe es vor lauter Willens- und Handlungsstrukturen nicht auch ein apokryphes biblisches Buch als Vorlage für den Dramatiker, so erwähnt er in der Diskussion der >Genoveva< die Namen Maler Müller und Tieck nicht (vom einschlägigen Volksbuch zu schweigen), so nimmt er in der ambitionierten Analyse der >NibelungenAgnes Bernauen kann nur flüchtig im Blick sein, wenn mit aller Bestimmtheit die Meinung vertreten wird, »mittelalterlicher Hexenwahn« löse hier das Unheil aus. 209 So bleibt Schlaffers Studie, was die historischen Zusammenhänge und die Details der Hebbelschen Dramatik angeht, schlüssige Nachweise schuldig (muß es wohl auch in dem für ausreichend gehaltenen skizzenhaften Rahmen). Aber sie hebt zu Recht das Apriori der von Hebbel »selbständig gedachten Form« hervor, »die erst in einem zweiten Schritt den passenden Inhalt sucht«. 2 1 0 Die Weiterführung hätte darin zu bestehen, daß in diesem »zweiten Schritt« auch der versuchte Rechtsnachweis für das apriorische »Formgebot« überhaupt gesehen werden muß, der in seiner jeweiligen Modalität aufzuschlüsseln wäre. Die folgende Untersuchung ist so angelegt, daß sie Hebbels Dramen in bestimmten Sach- und Problemkontexten wahrzunehmen versucht. Insofern begnügt sie sich nicht mit >Werkinterpretation< und bemüht sie sich um die unerläßliche historische Bindung der analytischen Arbeit. Wie aus den vorangegangenen Hinweisen zur forschungsgeschichtlichen Anknüpfung des Unternehmens bereits deutlich geworden sein müßte, kann ein immanent interpretierendes Verfahren ohnehin nicht in Betracht kommen: Die Reaktion eines dramatischen Werkes auf eine historisch bedingte Formunsicherheit läßt sich methodisch nur angehen, indem die Leistung der dramatischen Form auf eine ihr äußerliche Referenzebene bezogen wird. Die Problem- und Sachkontexte werden mithin als Bewährungsfelder für die Hebbelsche Tragödie verstanden. Sie ergeben sich auf die denkbar einfachste Weise - nämlich aus der Stoff- und Themenbindung der Dramen selbst, die bei Hebbel (wie
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°7 Wie Anm. 36, S. 126 u. 129.
208 v g l . H. Kreuzers treffende Feststellung: »Daß Hebbel sich nicht scheut, [ . . . ] auch in der >großen< Jambentragödie, mit ihren Machtkämpfen und Weltalterkrisen, die Intimprobleme zwischen den Geschlechtern und die Konflikte einer differenzierten Innerlichkeit« unter komplexer Motivation der Figuren ins Zentrum zu stellen, rettete ihn vor einer lebensleeren Epigonalität« (Friedrich Hebbel. In: Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von B e n n o von Wiese. 1969, 2 i 9 7 9 . S. 470). 209 w i e Anm. 36, S. I2if. — Dagegen Herzog E m s t : »Es ist thörigt, mit den gemeinen Leuten von Zauberei zu reden, w o ein Gesicht, das unser Herrgott zwei Mal angestrichen hat, Alles erklärt [ . . . ] « (W III 224f.). 2 , 0
Wie Anm. 36, S. 130.
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der Briefwechsel mit Emil Palleske gezeigt hat) keineswegs beliebig ist, sondern einen Imperativ impliziert: »Stoff ist Aufgabe; Form ist Lösung« Ο* 139$). So werden die Dramen durch ihre Thematik kontextualisiert, ohne daß dabei sensationelle Neuheiten anfallen können. Daß die späteren Wiener Tragödien ihre Formlegitimation auf dem Feld der Universalgeschichte suchen, ohne dabei die »Nabelschnur« zur Gegenwart zu durchschneiden (vgl. W XI 58), muß auch hier Ausgangspunkt der Erörterung sein. Für >Maria Magdalena< und die folgenden experimentierenden Dramen hat die gesellschaftliche Problematik des Vormärz als Kontext zu gelten, wobei die Schwierigkeit dieser thematischen Herausforderung als Ursache dafür genommen wird, daß Hebbel hier in den Grenzbereich des Formexperiments (für ihn eigentlich eine ästhetische Todsünde!) gerät. Als nicht ganz selbstverständlich könnte die Zuordnung der >Judith< zu einer religionsgeschichtlichen Problematik und überhaupt die Eröffnung einer Reihe >Tragödie und Religion< bei Hebbel erscheinen. Aber in dieser Hinsicht ist es Friedrich Sengles Epochenforschung, die den Weg weist, indem sie für die >Weltschmerzerledigen< und womöglich im Hafen einer >sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise< fest verankern zu können, der läßt sich über die programmierte Kurzschlüssigkeit eines solchen Verfahrens nicht gern belehren. Daß auch der ausschließliche Blick auf eine politische Tendenz, der nicht die im Einzelfall doch erheblichen Formprobleme miterfaßt, die Sache unzulässig verkürzt
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V g l . Biedermeierzeit. B d . I: A l l g e m e i n e Voraussetzungen, Richtungen, Darstellungsmittel. 1971. S. 2 ff. (Zitat: S. 28). - M i t seiner scharfen Kritik am »Christenthum«, die in B e g r ü n d u n g und Tonart deutlich auf Nietzsche vorausweist (vgl. Β I i63f.), ist Hebbel für F. Sengles in letzter Instanz »religionsgeschichtliche« B e g r ü n d u n g des zeittypischen >Weltschmerzes< ein wichtiger G e w ä h r s m a n n .
(wer schaut denn vor einem schönen alten Haus nur auf den Schornstein?), zeigt etwa die Arbeit von Horst Denkler, die sich durch das Erschließen entlegener Texte für die Erforschung des tendenzdramatischen »Unterstromes< der Epoche unbestreitbare Verdienste erworben hat. Die Behandlungsweise ist es, die Bedenken auslösen muß: Hier rauscht Name an Name, Titel an Titel, Zitat an Zitat am Leser vorbei - Literaturgeschichte im Zeitraffer, als eine Sortiermaschine, die bloß noch ihre Waren zur Rechten und zur Linken verteilt. Für einen Dramatiker wie Hebbel bleiben nur Denunziationsformeln wie »Emigration aus der aktuellen Wirklichkeit in die Fiktionswelt zeitloser und selbstrwertiger Poesie«. 2 1 2 Es ist angesichts solcher Tendenzen vielleicht nicht überflüssig, dem Bemühen um eine ausführliche, ins Detail gehende Untersuchung der Texte geradezu einen programmatischen Akzent mitzugeben. Wie Hebbel nach ersten Erfahrungen mit allzu kurz gezielten Kritiken einen Blick »in das Ganze« fordert - »Es giebt Leute, die, wenn sie am M e e r stehen, nur die S c h i f f e sehen, die darauf segeln, und auf den Schiffen nur die W a a r e n , die sie geladen haben« (Β II 97) 2 1 3 - , so hat sich die Interpretation der Hebbelschen Tragödie auf den intendierten Zusammenhang zu richten. Erst dann macht es Sinn, die Anspannungen, Uberlastungen und auch Brüche zu reflektieren, die zu dieser Dramatik gehören, unter ihren geschichtlichen Bedingungen sogar gehören müssen. Auf vielen Streitfeldern wird sie, wie aufgezeigt, angefochten und abgedrängt, muß sie sich behaupten und rechtfertigen. Die leicht einsehbare Folge ist jenes unaufhaltsame Aufkommen von Reflexionsmerkmalen in Stil und Struktur der Dramen, das formgeschichtlich zweifellos als eine Aushöhlung zu qualifizieren ist. Aber so wenig die Isolation politischer Tendenzen aus den Texten genügt, so wenig sinnvoll wäre es,
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Wie Anm. 8i, S. 322. - Vgl. zur Behandlung Hebbels auch S. 44ff. u. 3 2 i f . , zur bewußt gewählten - und dennoch bedenklichen - »Einseitigkeit des Untersuchungsansatzes« S. 21. Wie eine ahnungsvolle Voraussicht auf manchen heutigen Reduktionismus! Von Herbert Kraft wird die Bemerkung von 1840 zu Recht als Aufforderung verstanden, die »Totalität der Komposition« bei der »Hebbelschen Dichtung« zu beachten (Poesie der Idee. Die tragische Dichtung Friedrich Hebbels. 1971. S. 283c). Aber seine eigene Studie befolgt diese Aufforderung wiederum einseitig, nämlich in der Richtung auf einen abstrakten Funktionalismus: »Die Charaktere sind Theaterfiguren, die nicht Leben haben, sondern Funktion« (S. 290). Damit sie diese erlangen können, müssen sie aber jenes schon mitbringen, d.h. für Hebbel: auf »festen psychologischen Füßen« stehen (W X I 323) - was für Meister Anton und Agnes Bernauer oder ihre Brüder und Schwestern fraglos zutrifft. Man entkommt der N o t einer überlastenden Gedanklichkeit bei Hebbel nicht, indem man daraus einfach eine Tugend macht, als gäbe es hier einen generellen Dispens vom Gattungsgesetz der >verdeckten< Funktionsgestaltung.
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die Interpretation sogleich auf die strukturell-ästhetischen Defekte abzustellen, bevor nicht der Problemzusammenhang erschlossen ist. Wenn Hebbel epigrammatisch fordert, »daß die Gebilde der Kunst / Wirken, wie die der Natur« (W VI 3 54), so bekennt er sich zur Anschauung der klassischen Ästhetik, daß die Kunst wie Natur erscheinen müsse, d.h. keine Absicht durchblicken lassen dürfe. Daran gemessen, sind bestimmte Züge der Hebbelschen Tragödie fraglos Krisensymptome: Die Gattung ist hier als Gattung allgegenwärtig, nicht bloß Rahmen, innerhalb dessen mit großer Freiheit verfahren werden kann (wie bei Schiller und Kleist), sondern bewußt einzuhaltende Grenze. Man stößt im Zuge der Hebbel-Interpretation immer wieder auf solche gattungspoetischen Diktate und kann gar nicht umhin, sie interpretatorisch auch sichtbar zu machen. Nicht aus der Psychologie der Rhodope ist letztlich zu begreifen, »daß es unter allen Umständen zur Tragik komme«. 214 Vielmehr ist dem dramatischen Vorgang im >Gyges< nur beizukommen, wenn man sich auf das tragische Interesse des Dramatikers selbst leiten läßt. Es käme darauf an, Auffassungsformen für solche Phänomene dramatischen Reflektierens zu entwickeln, die es >eigentlich< nicht geben darf, bei Hebbel aber gibt - Auffassungsformen, mit denen ein auf seine Art hochproduktives Werk nicht von vornherein schon unter das Zeichen ästhetischer Defekte und negativer Kategorien (>ausgeklügeltMoloch< als dem lange projektierten »Hauptwerk« überhaupt (Β V 49), aber auch auf zwar problematischen, doch für den Werkplan wichtigen Arbeiten wie der >Julia< in Scheitern und Mißlingen spiegelt sich der insgesamt problematische Status der Hebbelschen Tragödie. Wenn es gelingt, an Texten, die ja mittlerweile nicht wenig durchforscht sind, durch den gewählten Frageansatz einige neue Bezüge aufzudecken und auf Hebbels gattungsgeschichtliche Grenzstellung einiges Licht zu werfen, so wäre dies nicht wenig. Und wenn jemand hier nur eine >getarnte< Interpretationssammlung ausmachen sollte, so wäre - auch im Zeitalter von Ideologiekritik und Rezeptionsästhetik - darauf zu erwidern: Warum nicht, wenn nur die Interpretationen etwas taugen? Und somit fangen wir an. 214
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So P. Michelsen, Rhodopes Schleier. Betrachtungen zu Friedrich Hebbels >Gyges und sein RingJudith
Judith< (vgl. Τ 16γγ). Der Entstehung seiner ersten Tragödie geht eine Vorgeschichte voraus, die in der Münchner Zeit beginnt: mit dem Plan einer »neuen«, Schillers Drama überbietenden >Jungfrau von Orleans< vom Januar 1837 (vgl. Β I 145), mit der wichtigen Reflexion auf »das vornehmste tragische Motiv« in diesem Stoff vom März 1838 (vgl. Τ i o n ) und schließlich mit der Bildinspiration in der Pinakothek, die im November 1838 vielleicht den endgültigen Ausschlag für den alttestamentlichen Stoff gegeben hat. Zum Jahresbeginn 1837 hatte Hebbel notiert: Die erste Bitte, mit der ich in diesem angefangenen neuen Jahr vor den Thron der ewigen Macht zu treten wage, ist die Bine um einen Stoff zu einer größeren Darstellung. Für so Mancherlei, das sich in mir regt, bedarf ich eines Gefäßes, wenn nicht Alles, was sich mir aus dem Innersten losgerissen hat, zurück treten und mich zerstören soll! (T 552)
Die Tragödie >Judith< ist zunächst einmal das Resultat dieses Strebens nach »einer größeren Darstellung«, das Werk, mit dem Hebbel seine künstlerische und öffentliche Durchsetzung betreibt, sein »Römerzug« (T 1839). Andererseits: Es ist der »Thron der ewigen Macht«, vor den er mit seiner »Bitte« tritt (T 552) - wie er auch ein halbes Jahr später für einen >PhilisterJudith< wurde als bloße Projektion menschlicher N o t und menschlichen Heilsbedürfnisses oder - konträr dazu - als objektiv wirksame, den Menschen fordernde und seine Tragik begründende Macht verstanden; auch die vermittelnde Annahme eines zwar existierenden, aber für den Menschen ins Unbegreifliche entrückten, in sich selbst widersprüchlichen Höchsten fehlt nicht. An einer Entscheidung in dieser Schicksalsfrage der >JudithPrinzen von Homburg< feststellen: Man könne »die ganze Nachtwandelei« - anstößig für den Realismus des 19. Jahrhunderts — »beseitigen, und das Werk bleibt, was es ist, es steht unerschütterlich auf festen psychologischen Füßen [...]« (W X I 323). Analoges gilt für >JudithGrund< und >Gegensatz< in Hebbels Tragödienkonstitution auch die Einleitung, oben S. 54f. H. Kreuzer, Die Jungfrau in Waffen. Hebbels >Judith< und ihre Geschwister von Schiller bis Sartre. In: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift fiir Benno v. Wiese. Hg. von Vincent J . Günther u. a. 1973. S. 372. - Ähnlich kommt der »eigentliche Inhalt der Tragödie« schon bei Heinrich Meyer-Benfey zur Sprache (vgl. Hebbels Dramen, 1. Heft: Judith. 1913. S. 58f.). So noch H. Kreuzer, wie Anm. 11. - Die Hegeische »List der Vernunft« hat schon O. Walzel in >Judith< am Werk gesehen (vgl. wie Anm. 2, S. 8of.). Die Meinung Klaus Zieglers: vgl. Friedrich Hebbel und die Krise des deutschen Geistes. In: HJ. 1949/50. S. 2ff.; ferner: Hebbel - J u d i t h . In: Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Hg. von B . v. Wiese. 1964. Bd. II. S. ii5ff. K . Zieglers Erwägung, »daß hier das nihilistische Grunderlebnis [ . . . ] die dramatische Form selbst und auch [?] als solche zu gefährden scheint«, stützt sich auf eine falsche Bewertung der »retardierenden Momente« des Dramas - falsch deshalb, 75
Die Frage bleibt allerdings unabweisbar, ob sich nicht gleichsam im Schatten des Versuchs, der Stoffvorlage den Formzwang des hohen tragischen Stils aufzuprägen, Spuren einer andersartigen subjektiven Welterfahrung auffinden lassen - gleichlaufend mit der Differenzlinie, die zwischen Hebbels ursprünglichem tragischen Nihilismus (in den Briefen an Charlotte Rousseau) und seiner >offiziösen< Dramentheorie zu gewärtigen ist. Aber die Antwort darf man sich nicht zu leicht machen: Einsinnige Interpretationsabläufe passen nicht recht zu einer Tragödie, deren ästhetischer Reiz nicht zuletzt in ihrer Vielschichtigkeit besteht. b) Gegen Wunder und Verklärung Die Komplexität des Textes wird durch einen Frageansatz gewahrt, dem die Bewährung der tragischen Form an einem religiösen Stoff wichtig ist. Die Tragödie soll ihre eigenständige Entdeckungskraft auf einem Terrain ausweisen, das von tradierten religiösen Glaubensnormen beherrscht wird, die freilich ihrerseits - wie das »Weltschmerz«-Syndrom belegt - in eine Geltungskrise geraten sind. Es geht nicht einfach um religiöse Dichtung schlechthin, schon gar nicht um eine Fortschreibung christlicher Dramatik. Von entsprechenden romantischen Konzeptionen führt kein kontinuierlicher Weg zu Hebbels Religionstragödie, wie ein vergleichender Rückblick zeigt. Zacharias Werner hatte sich das Ziel gesetzt, »die deutsche tragische Bühne« mit »ihrer Schwester, der Religion« zu vereinigen,' 5 und vom tragischen Dichter gefordert, »den Catholicismus von seiner aesthetischen Seite, zur Folie seiner tragischen Kunstgebilde zu machen«, ihn nicht als »GlaubensSystem« aufzugreifen, sondern als »Kunst-Mythologie«. 16 Ähnlich sah auch Adam Müller durch das Christentum die Möglichkeit gegeben, über die griechische Tragik hinauszukommen: Der romantische Ästhetiker entwirft ein Drama, das »die Katastrophe, den höheren Todesmoment«, durch den »Himmelfahrtsmoment« überwindet.' 7 Dabei steht immer Calderon im weil alle Retardation final eben doch auf ein Handeln ausgerichtet ist (vgl. Hebbel - J u d i t h [s. A n m . 13]. S. 117). Sie erweist sich, näher besehen, als eine petitio principii der Nihilismus-These. Im Anschluß an K . Ziegler stellt D. Gerth den Sachverhalt geradezu auf den Kopf, wenn er die Möglichkeit einer >höheren< Berufung Judiths unter Hinweis auf ihre tragische W ü r d e abwehrt (vgl. wie A n m . 4, S. 37f·)· •5 A n A . W . Iffland, 1 5 . 6 . 1 8 0 5 (Briefe. Hg. v o n Oswald Floeck. 1914. Bd. I. S. 373)· Ebd. S. 377f. - Zu Werners Dramenkonzeption vgl. Robert Ulshöfer, Die Theorie des Dramas in der deutschen Romantik. 1935. S. 133fr.: Hier wird die-dichterisch freilich nicht schlüssig gestaltete - Tendenz zur tragoedia sacra hervorgehoben, die Tragik nur als »Durchgangsstadium« für das endliche Walten der göttlichen Gnade anerkennen will. '7 In den Vorlesungen »Über die dramatische Kunst< (1806) wird dies an Goethes 16
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Blick, der das große Beispiel einer christlichen Erlösungsdramatik gegeben hat und dessen Werk von der romantischen Theorie als Wegweiser in die Zukunft hingestellt worden ist. In enger Verbindung mit A . W. Schlegel findet Schelling durch Calderons Drama >Die Andacht zum Kreuze< bestätigt, »welch ein notwendiges Element der Poesie die Religion ist, was diese dem Dichter erlaubt, da er in ihr die Mittel der Versöhnung und Harmonie findet«. 18 Ein Drama, dessen Fügungen den Eindruck von Absurdität hervorrufen können, soll gleichwohl die göttliche Gnade sinnenfällig machen, die den Menschen durch alle Schicksale geleitet. So macht Schelling als »das Wesentliche« bei Calderon »ein christliches Schicksal« aus, »nach welchem Sünder seyn müssen, damit an ihnen die Macht der göttlichen Gnade offenbar werde«.' 9 Die Mythologie, für den spekulativen Ästhetiker im Einklang mit frühromantischer Theorie die Bedingung der Möglichkeit von Kunst, muß in der Moderne - anders als in der Antike - aus der Subjektivität des Künstlers produziert werden. 20 Da die christliche Religion nicht selbst schon ein Kunstmythos ist, bedarf es zur Herausbildung des Mythologischen aus ihr einer eigenen ästhetischen Produktivität. So erhält Calderon, als deren Gewährsmann noch über Shakespeare gerückt, die höchste Prädikation, die Schelling für die moderne Kunst zu vergeben hat, daß er nämlich »auf einen Sophokles der differenziierten Welt«, also »in der gleichsam sündlichen Kunst auf eine Versöhnung« verweise. 21 Bekanntlich ist kaum einer anderen hochgreifenden theoretischen Bemühung um die Kunst von der Geschichte ironischer mitgespielt worden als dieser: Die Rezeption des von der romantisch-spekulativen Ästhetik als Modell ausgezeichneten Gnadendramas brachte de facto eine literarische Spottgeburt ans Licht, eine Theatralik der künstlichen Schauererregung - nämlich das romantische Schicksalsdrama. Die Wege von der >Andacht zum KreuzeDas Leben ist ein Traum< zu den Verhängnissen des 24. Februar (Zacharias Werner), des 29. Februar (Adolf Müllner), zum Fluch im Hause Borotin (Grillparzers >AhnfrauEgmont< exemplifiziert (Kritische/ästhetische und philosophische Schriften. Hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert. 1967. Bd. I. S. 223). An A. W. Schlegel, 21. 10. 1802 (zit. nach: R . Ulshöfer [s. Anm. 16]. S. 45). Calderons >La devocion a la cruz« (vermutlich 1634 entstanden) erschien, von A. W. Schlegel übersetzt, 1803 im ersten Band der Sammlung >Spanisches Theaterc fur Schellings Calderon-Deutung in der >Philosophie der Kunst< die alleinige Textbasis (vgl. Sämmtliche Werke. Hg. von K . F. A. Schelling. 1856/61. I. Abteilung. Bd. V. S. 726). Ebd. S. 729 (vgl. zur Tragödienästhetik überhaupt S. 693ff.). Vgl. ebd. S. 4i4ff· u. 446f. Ebd. S. 726.
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nicht im einzelnen zu verfolgen. 2 2 Ominöse Kräfte, unheilvolle Requisiten (der verrostete Dolch!) und bizarre Fügungen - bei Calderon immer Zeichen göttlicher Gnadenlenkung - schießen zu einem Fatalismus zusammen, der ästhetisch in jedem Fall (auch bei Grillparzer) eine Bruchlandung darstellt. Oberhalb talentierter Verirrung oder purer Theater-Kolportage ist eigentlich nur ein Werk ersichtlich, das als eine späte Einlösung des einstigen ambitiösen Theorems verstanden werden kann: Hebbels >JudithDas Leben ist ein Traum< als »ein unvergängliches Symbol« der Weltliteratur gerühmt wird. Der entscheidende Defekt des Calderonschen Dramas wird so bezeichnet: »[...] es setzt in seiner starren Abhängigkeit vom D o g m a voraus, was es beweisen soll [...]« (W X I 41). Dieser Kritik entspricht eine Andersartigkeit der dramatischen Motivation, auf die von einem Passus der >Andacht zum Kreuze< aus hingeführt sei. Hier wird ein Zeichen gesehen: [...] Weib, laß ab! Deinen Armen zu entgehen, Weil, ich weiß nicht welche Gottheit, Die ich drin gesehn, mich schrecket. Flammen sprühen deine Augen, Deiner Seufzer Hauch ist brennend, Jede Red* ist ein Vulcan, Jedes Wort ist Tod, und Hölle Deiner Liebkosungen jede. Solch Entsetzen wirkt in mir Das auf deiner Brust gesehne Kreuz, ein wundervolles Zeichen. Und der Himmel woll' es wenden, Daß, ob ich ihn viel beleidigt, Ich das Kreuz nicht mehr verehre.*3
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Zum Zusammenhang zwischen Calderon und dem romantischen Schicksalsdrama vgl. Max Kommereil, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. 1940, 4igyo. S. 193; Swana L. Hardy, Goethe, Calderon und die romantische Theorie des Dramas. 1965. S. 5if.; Herbert Kraft, Das Schicksalsdrama. Interpretation und Kritik einer literarischen Reihe. 1974. S. 48ff. Die Andacht zum Kreuze. S. 61 f. (zit. in A. W. Schlegels Übersetzung nach der Einzelausgabe von 1827).
Das Zeichen des Kreuzes läßt Eusebio davon abstehen, Julia aus dem Kloster zu entführen - durch sein übernatürliches Eingreifen verhindert »der H i m mel«, daß die Geschwister unwissend dem Frevel der Blutschande verfallen. Man halte dagegen Judiths Erzählung von der Hochzeitsnacht mit Manasses: »Auf einmal blieb er stehen; es war, als ob die schwarze Erde eine Hand ausgestreckt und ihn von unten damit gepackt hätte« ( W I 17). Die Ähnlichkeit des Geschehens macht die Andersartigkeit der Gestaltung nur um so spürbarer: Nicht werden Zeichen und Bedeutung sogleich zusammengebracht wie bei Calderon, sondern der Vorgang kann in seiner rätselhaften Unheimlichkeit nur im Irrealis vergegenwärtigt werden - der realistische, zumal der psychoanalytisch versierte Leser wird sich seinen sehr natürlichen Reim darauf machen. 24 In einer kritischen Aufzeichnung von 1845 bewertet Hebbel zwei Calderonsche Dramen - selbst vom »christkatholischen Standpunct« aus - als völlig nichtig und gehaltlos, denn die Poesie, wenn sie sich mit dem Mysterium zu schaffen macht, soll dieß zu begründen, d.h. zu vermenschlichen suchen, sie soll sich aber keineswegs einbilden, etwas zu thun, wenn sie es gewissermaßen wie einen Zauber-Ring an den Finger steckt und aus dem Wunder wieder Wunder ableitet (T 3297). Eine solche Dramatik bewegt sich in einem Zirkel: Wie sie »Wunder« auf »Wunder« zurückführt, >beweist< sie die Glaubenshaltung durch nichts als durch diese selbst. Dagegen plädiert Hebbel für eine Vermenschlichung des »Mysteriums«, durchaus nicht für seine plane Beseitigung, sondern für seine Begründung in der menschlichen Natur. In der 1840 unter einem Pseudonym veröffentlichten >Geschichte der Jungfrau von Orleans< wird dazu angemerkt, daß »das Wunderbare seine schönste Wirkung eben da erst äußert, w o es sich
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So liegt nach J . Sadger »für den Fachmann auf der Hand«, daß hier »ein Fall von psychischer Impotenz geschildert ist« (wie Anm. 7, S. 325). Manfred Durzak sieht »auf dem Hintergrund der Zeitsituation und der moralischen Tabus, die damals gültig waren«, Hebbel unter dem Zwang, »den psychologischen Sachverhalt der körperlichen Impotenz in seinem Drama verbal zu verhüllen« (Hebbels >JudithFachleuteJuditheinzuebnenDienergesprächvon unten< als höchste Repräsentanten ihrer Geschlechter, darum wie füreinander bestimmt. Gleich nach
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In diesem Kapitel wird, da es auf Mikrologien des Textes ankommt, aus W I die Seiten- in Verbindung mit der Zeilenzahl (= Z) angeführt.
Judiths Eintritt in sein Zelt hatte Holofernes gesagt: »Du gefällst mir, wie mir noch Keine gefiel« (50, Z. 29f.). Und bei der Tafel: »Wahrlich, wahrlich, dies Weib ist begehrungswerth« (61, Z. 32f.). Umgekehrt Judith: »Gott meiner Väter, schütze mich vor mir selbst, daß ich nicht verehren muß, was ich verabscheue! Er ist ein Mann« (63, Z. i^ff.). Die Erwartung einer Prädestination von Judith für Holofernes und von Holofernes für Judith wird von der Wirklichkeit durchkreuzt. Nicht Liebe eint die beiden, die auf der freiwilligen Anerkennung des anderen als Person beruhen würde. Judith hat Holofernes, gleichsam unterhalb ihres göttlichen Auftrags und im Konflikt mit ihrem Sendungsbewußtsein, bewundern müssen. Und sie hat gehofft, von ihm als Frau geachtet zu werden. Aber sie sieht sich zum bloßen Sexualobjekt erniedrigt, mißbraucht wie den Wein, um »einen gemeinen Rausch mit einem noch gemeineren zu schließen« (69, Z. 2iff.) - ganz wie es Achior von des Holofernes Gewohnheiten berichtet hat (vgl. 43, Z. iof.). Judiths Gefühlsverwirrung potenziert sich noch: geängstigt durch das rohe Handeln des Mannes, 37 entwürdigt durch die Schändung, hat sie in dieser doch auch Lust gefühlt. 38 Aus solchem seelischen Aufruhr bricht nach dem Mord die Frage hervor: »Ha, Holofernes, achtest D u mich jetzt?« (71, Z. 2if.) Das kann er nicht mehr. Aber sein Tod war notwendig, um Judith im Ineinander von Erniedrigung und triebhafter Lust das Gefühl der Selbstachtung wiederzugeben. Indem Judith die natürliche Erfüllung ihrer Weiblichkeit als Schändung erleiden muß, sieht sie in solcher »Entwürdigung« für sich »das Recht des Daseins eingebüßt« (70, Z. nf.). U m es wiederzuerlangen, muß sie sich zu etwas herausfordern, was nach der Meinung Hebbels nicht in ihrer weiblichen Natur liegt: sie muß handeln. Einst hatte sie, rätselhaft angezogen vom übermächtigen Feind Holofernes, gegenüber Ephraim von der »Feigheit« der bethulischen Männer gesprochen, um daraus abzuleiten, inwiefern »ein Weib das Recht erlangt auf eine große That« (24, Ζ. 2off.). Die Formulierung ist aufschlußreich: dieses »Recht« muß eigens »erlangt« werden, weil es von 37
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So wirft sich die Jungfrau vor »dem Gräßlichen« auf die Knie (70, Z . 2ff.). Ihr seelischer »Angstschrei« hallt wider in den — zeitgleichen - Meditationen von Mirza, in denen nicht von ungefähr auch die Frage auftaucht, wer im Schlafgemach eigentlich »ermordet« wird (67, Z . 7ff.; vgl. 69, Z . 25). Vgl. H. Kreuzer, wie Anm. 2, S. 55. - Aus dem Gestus der A b w e h r (oder besser wohl: des Nichtwahrhabenwollens) heraus behandelt H. Meyer-Benfey Judiths »Geschlechtsverlangen«. Wenn seine Beschreibung den Augenblick erreicht, »als Holofernes mit ihr abgeht«, folgt ein Exkurs über das »Wesen der Keuschheit« (wie Anm. 1 1 , S. 34ff.). Nach Judiths Rückkehr aus dem Schlafgemach regt sich Befremden über das Wagnis, »eine Frau unmittelbar nach einem solchen Erlebnis, während dies in ihrer Seele noch Gegenwart ist und noch alle Nerven zucken, auf die Bühne zu bringen« (ebd. S. 7of.). Man sieht hier lehrreich, wie das Wahrnehmungsvermögen eines tüchtigen Interpreten durch ein Tabu beschränkt ist.
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Natur aus nicht gegeben ist. Jetzt wird es ernst damit, weil für die Erniedrigte das ganze Dasein auf dem Spiel steht. Judith fordert sich zur Mordtat heraus, indem sie sich in die Vorstellung hineintreibt, dann - eben durch die Tat - »ein Held« zu sein, »ein Held, wie Holofernes!« Diesen Vorgang deutet Mirza so: »Deine Gedanken wachsen über Dich hinaus!« (68, Z. 29ff.) Dies besagt: Judith wächst, entehrt und zugleich von Bewunderung des männlichen Helden getrieben (vgl. Τ 1944), über sich als »Weib« hinaus, sie durchbricht die Schranke ihrer eigenen N a tur, sie überschreitet sich selbst - und sie muß dies tun, um nicht im Bewußtsein ihrer »Entwürdigung« durch den bewunderten Mann zugrunde zu gehen. Insofern erscheint es wohlbegründet, daß der Tat selbst eine verhältnismäßig lange Entschlußfassung vorausgeht. 39 Dies ist nicht nur durch Mirzas hinhaltenden Widerstand bedingt, sondern vor allem dadurch, daß es eben das Widernatürliche ist, zu dem Judith sich herausfordern muß (vgl. Τ 1802). Der >Tatschock< kann nicht ausbleiben. Judith versucht in die Frageform zu bannen, in hypothetisch-konjunktivischer Redeweise zu distanzieren, dazu auch noch auf Mirza zu übertragen, was doch das eigene Gewissen ihr aufbürdet: daß ihre Tat »ein Gräuel« ist (71, Z. 4f. u. 23^). Wie gewaltsam die distanzierende Redeform Judiths seelischer Erregung abgezwungen ist, wie sehr sie damit nur ihren eigenen Gewissensspruch flieht (und eben doch nicht fliehen kann), zeigt sich an ihrem Selbstmordversuch. Was sie sprachlich durch den Konjunktiv - zur bloßen Möglichkeit modalisiert, die furchtbare Vorstellung, »das Unmenschliche gethan« zu haben, weist sich durch die Spontaneität der Gebärde als seelische Wirklichkeit aus. Ihr Schuldgefühl verrät sich durch das Steckenbleiben im Wortfeld »Gericht« (71, Z. zjff.), wenn auch ihr Verstand, verzweifelt um Entlastung bemüht, immer wieder rhetorische Brechungen anzubringen versucht. Doch bleiben alle Anläufe zur Selbstentlastung vergeblich: Noch am Ende der »Hauptscene« erwartet Judith ihren »Lohn«, und zwar für das Unrechte ihrer Tat (75, Z. 9ff.). Die Frau, die handelnd über eine Grenze geraten ist, fühlt sich von »Angst« erfüllt, »noch selbst Etwas zu thun« (74, Z. 21). Aus Judiths Verhalten geht unzweideutig hervor, daß sie ihre eigene Tat, obzwar diese notwendig geschehen mußte, als schuldhaft empfindet. Die Schuld besteht in der Grenzüberschreitung der weiblichen Natur, welcher
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Daher die zeitliche Streckung der zweiten Phase innerhalb der oben skizzierten Gliederung (mehr als drei Druckseiten im Text). Die dramatisch-psychologische Notwendigkeit dieser Streckung verkennt Elise Dosenheimer, wenn sie Judiths Schilderung der Vergewaltigung (aus der sich der Tatentschluß gegen die weibliche Natur bilden muß), »peinlich und psychologisch unglaubhaft« findet (Das zentrale Problem in der Tragödie Friedrich Hebbels. 1925. S. 31).
>verbotene< Schritt seelisch nicht getragen werden kann. 40 So wird die Tat für Judiths Empfinden zur Zäsur, die ein unerträgliches Jetzt von einem unwiederbringlichen Vorher scheidet - die einen Zustand markiert, der dem E r w a chen aus einem Traum gleicht. 4 ' Nicht zufällig evoziert die »Hauptscene« dreimal den Kontrast von Traum und Wirklichkeit 4 1 und spiegelt so die Makrostruktur der Tragödie: Dadurch, daß Judith durch ihre Tat den initiierenden Gottestraum erfüllt, fällt sie selbst in Schande und Schuld. U n d doch ist es noch nicht die Tat allein, die Judiths Tragik in ihrem ganzen Ausmaß zu erkennen gibt. E s kommt noch schlimmer: Mirza. Du sprachst von Rache. Eins muß ich Dich fragen. Warum kamst Du im Glanz Deiner Schönheit in dies Heidenlager? Hättest Du es nie betreten, Du hättest Nichts zu rächen gehabt! Judith. Warum ich kam? Das Elend meines Volks peitschte mich hierher, die dräuende Hungersnoth, der Gedanke an jene Mutter, die sich ihren Puls aufriß, um ihr verschmachtendes Kind zu tränken. O , nun bin ich wieder mit mir ausgesöhnt. Dies Alles hatt' ich über mich selbst vergessen! Mirza. Du hattest es vergessen. Das also war's nicht, was Dich trieb, als Du Deine Hand in Blut tauchtest! Judith (langsam, vernichtet). Nein, - nein, - Du hast Recht, - das war's nicht, Nichts trieb mich, als der Gedanke an mich selbst. O, hier ist ein Wirbel! Mein Volk ist erlös't, doch wenn ein Stein den Holofernes zerschmettert hätte - es wäre dem Stein mehr Dank schuldig, als jetzt mir! Dank? Wer will den? Aber jetzt muß ich meine That allein tragen, und sie zermalmt mich! (72, Z. 4ff.) Mirza hat aus Judith ihr wahres Tatmotiv herausgefragt, das nach dem Bisherigen nicht unerwartet zum Vorschein kommt: sie hat an Holofernes Rache genommen für die Schändung ihres Selbst. Was Judith jedoch »vernichtet«, ist die Erkenntnis, daß sie über dieser Fixierung auf das eigene Selbst den eigentlichen Sinn ihrer Tat »vergessen« hat. Nicht an das »Elend« ihres Volks hat sie dabei gedacht, nicht daran, von Gott einen Auftrag erhalten zu haben. Damit entfällt die einzige Möglichkeit, ihre widernatürlich-unmenschliche Tat zu rechtfertigen. Z w a r wird sie nach der Rückkehr den Bethuliern bedeuten: »Mich trieb's, die That zu tun; an Euch ist's, sie zu rechtfertigen! Werdet heilig und rein, dann kann ich sie verantworten!« (79, Z . 24ff.). A b e r das
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Holofernes, der männliche Gewaltmensch, hat damit keine Schwierigkeiten, sondern genießt geradezu die Vorstellung: »[...] jeder meiner Gedanken gebiert Gräuel und Verwüstung, mein Wort ist Tod« (63, Z . 24f.). Daß das Tun dieses Täters hier am »Gedanken« und am »Wort« haftet, verdient freilich Beachtung: als Hinweis auf ein verschwiegenes lyrisches Element der Figur (vgl. auch H. MeyerBenfey, wie Anm. 11, S. 120), dem noch weiter nachzugehen ist. In dem Sinne, wie ihn Mariamne ausdrückt, nachdem sie vom Schwertbefehl des Herodes erfahren hat: »Von jetzt erst fangt mein Leben an, / Bis heute träumt' ich!« (V. i3S9f ) Vgl. 69, Z. 2ff. u. 27ff.; 73, Z . i6f.: ein Versuch, sich in den Zustand vor der Tat zurückzuträumen, der aber gleich als »lächerlich« - da aussichtslos - erscheint.
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bleibt Formel und hat mit Judiths innerer Verzweiflung in der Schlußszene nichts zu tun. Judith steht ganz allein mit ihrer Tat und weiß sich von ihr »zermalmt«. Zwar erschien ihr der Mord auch vorher schon als »Gräuel« (71, Z. 5 u. 24), als »das Unmenschliche« (71, Z. i}f.), zwar sah sie sich am schmerzlichsten wohl durch Mirzas Schweigen gerichtet (71, Z. 29). Aber noch blieb Judith ein letzter Weg zur Selbstentlastung offen, nämlich der Gedanke, eine »Heldenthat« begangen zu haben (71, Z. 22f.). Und schon stürzt sie sich auf diesen Weg, läßt ihre Sprache vom Modus der indirekten Erwägung auf eine indikativische Wirklichkeitsaussage einspuren (71, Z. 32), die sie dann superlativisch erhöht: Es ist mehr, als eine Heldenthat; ich mögte den Helden sehen, den seine größte That nur halb so viel gekostet hat, wie mich die meinige (72, Z . iff.).
Judith könnte sich das Widernatürliche ihres Tuns, durch das sie ein Stück von sich selbst mitgetötet hat (vgl. 397, Z. 68f.), als subjektive Leistung anrechnen - wenn, ja wenn die Tat nicht nur als Faktum, sondern auch von ihrem wirklichen Motiv her eine »Heldenthat« wäre, ausgeführt nämlich einzig und allein im Gedanken an Gott und sein notleidendes Volk. Dann könnte der Mord, psychologisch wie schwer auch immer (denn er bleibt »ein Gräuel«), gerechtfertigt werden. Aber als sich diese letzte Fluchtmöglichkeit öffnet, verschließt sie sich auch schon in der überwältigenden Erkenntnis des wahren Tatmotivs, dergestalt, daß durch sie alles ausgeschlossen wird, was nicht Judiths eigenes Selbst betrifft. Genaugenommen ist Judith erst im Erkenntnis-Augenblick »vernichtet«, wie die Szenenanweisung ausdrücklich ihren Zustand beschreibt (72, Z. 15). Erst jetzt ist ihre seelische Bewegung wieder auf den Nullpunkt der »Vernichtung« zurückgefallen, auf dem sie sich in den rohen Armen des Holofernes empfinden mußte (68, Z. 8ff.). Man beachte das zweifache »jetzt« in Judiths Erkenntnisrede (72, Z. i^f.), schließlich auch, daß diese »langsam« gesprochen wird (72, Z. 15) - dadurch abgesetzt von ihrer bisherigen Sprechweise vor und nach der Tat, deren hektische Erregung sich in der Syntax überdeutlich manifestiert. Die Hervorhebung des Erkenntnis-Augenblicks besagt nicht weniger als dies, daß Judiths Tragik nunmehr von ihrer nachträglichen Motiverkenntnis her verstanden werden muß. Hebbels spätere Pariser Theorie, welche »die Verwirrung der Motive in der Heldin« anführt, um daraus den tragischen Charakter allein schon ihrer »That« abzuleiten (vgl. W X I 6if.), liefert keinen Beweis für die >TatschuldtheseJudith< formuliert, setzen die Akzente noch 88
ganz anders (vgl. Τ 1958 u. 1989). A b e r wichtiger ist das Zeugnis der dramatischen Gestaltungsweise selbst: sie bindet Judiths Tragik deutlich an die Motiverkenntnis. 4 3 Erst durch sie wird ihr G e m ü t in den A n b l i c k der »Leere des Daseyns« hineingezwungen (vgl. Β II m f . ) , erst nach ihr weiß sie: Was jetzt in mir nagt, wird ewig nagen, das ist nicht, wie Zahnweh oder ein Fieber, es ist schon Eins mit mir selbst, und es reicht aus für immer (74, Z . u f f . ) . Hebbels Tragödie ist mit Judiths Motiverkenntnis in die anagnorisis eingetreten, in die A u f h e b u n g einer zuvor herrschenden >VerkennungGemütsvernichtung< dieser Augenblick der anagnorisis ist, kann nicht zweifelhaft sein. 45 U n d rückläufig läßt sich genauer fassen, welche Selbstverkennung es ist, die in Judiths >Erkennung< als solche sichtbar wird. Sie, die mit dem Ausruf » O , w a r u m bin ich Weib!« den ersten Kuß des Holofernes empfangen hatte (60, Z . 28f.), muß eingestehen, daß im Schlafgemach »die einschlafende Begier« des Mannes von ihren »eigenen L i p pen« neu angefacht worden ist (69, Z . 23ff.). Sie spricht von sich selbst, wenn sie in zitternder Erregung »den Augenblick« ausmalt, w o D u an Leib und Seel' ausgekeltert wirst, [ . . . ] w o Deine Sinne selbst, wie betrunken gemachte Sclaven, die ihren Herrn nicht mehr kennen, gegen Dich aufstehen [...] (69, Z . 2off.). In der Tat »übersah« sie dieses Mitspiel ihres Triebes, als sie zu Holofernes kam (69, Z . 32). Im Gebetsmonolog w a r sie »vor einen Spiegel« getreten:
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Das Plädoyer für eine »Verbindung von Tat- und Motivschuldthese« hat bei L. Lütkehaus die Wendung von der >vorkritischen< zur >kritischen< Periode seiner Geistesentwicklung überdauert (vgl. wie Anm. 1, S. 8iff.; der frühere Beitrag: Verdinglichung. Z u Hebbels >Judithkritisch< gewordene Interpret offenbar nicht mehr recht brauchen (vgl. ebd. S. 67). Z u den dramaturgischen Kategorien vgl. Aristoteles, Poetik. Kap. 1 1 (1452 a 4) u. Kap. 13 (1453 a 5); zu Problemen ihrer Anwendung auf das neuzeitliche Drama: M . Kommereil, Lessing und Aristoteles (s. A n m . 22). S. io8ff. u. I 7 8 f f . ; Wolfgang Janke, Anagnorisis und Peripetie. Studien zur Wesensverwandlung des abendländischen Dramas. 1953; Walter Müller-Seidel, Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist. 1 9 6 1 , 3 i 9 7 i ; Verf., Schillers >Wallenstein< und Aristoteles. In: J S G . 20, 1976. S. 3i2ff. Dagegen glaubt M . Durzak die »Erkennung« in Judiths Enttarnung gegenüber Holofernes (62, Z . 2ff.) »fixieren« zu können (wie Anm. 24, S. 47) - obwohl doch die Tat, die der vorausgehenden >Verkennung< entspringt, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geschehen ist. Die >Verkennung< wird von M . Durzak zu äußerlich als bloße Vorstellung - Judiths gegenüber Holofernes - verstanden, daher auch die >Erkennung< nicht auf das Hauptproblem bezogen. 89
Sei mir gegrüßt, mein Bild! Schämt euch, Wangen, daß ihr noch nicht glüht; ist der Weg zwischen euch und dem Herzen so weit? Augen, ich lob' euch, ihr habt Feuer getrunken und seid berauscht! Armer Mund, dir nehm' ich's nicht übel, daß du bleich bist, du sollst das Entsetzen küssen. (Sie tritt vom Spiegel weg.) Holofernes, dieses Alles ist Dein; ich habe keinen Theil mehr daran; ich hab' mich tief in mein Innerstes zusammengezogen (26, Z . Z2{{.).
Judith will ihren schönen Körper als Mittel zum Zweck einsetzen, sie glaubt ihn von ihrem »Innersten« unterscheiden zu können - aber sie muß erfahren, daß schon der rohe Griff zum Körper ausreicht, »um an Deinem Heiligsten den Mord zu vollziehen« (69, Z. 25). Holofernes wußte um diese psychophysische Einheit, als er sich vornahm: »So will ich [...] diese vernichten; sie soll vor mir vergehen durch ihr eigenes Gefühl, durch die Treulosigkeit ihrer Sinne!« (59, Z. i6f.). Und er >nimmt< Judith genau so, wie sie es geplant hatte: er vollzieht die Umarmung als Mittel zum Zweck seines Genusses. Judith aber wußte nicht, daß solche Verfügung über ihren Körper bis in ihr Innerstes reicht, daß »Leib und Seel'« (69, Z. 2of.) eine Einheit bilden und daß diese Einheit ihr Selbst ausmacht. Ihre Selbstbespiegelung erweist sich im nachhinein als eine hamartia im Sinne des Aristoteles: als eine wesentliche, das ganze Lebensverhältnis betreffende >VerkennungVersehen< heraus gehandelt, aus einem Irrtum, wie ihn bezüglich des eigenen Selbst nur eine Jungfrau hegen konnte. 4 * Aus diesem Irrtum bildete sich das Motiv zum Mord - er wäre nicht geschehen, hätte Holofernes »auf den Angstschrei« von Judiths »Seele gehört« (70, Z. jff.). Deshalb muß die Erkenntnis des wahren Zusammenhangs Judith >vernichtend< treffen, ihr Denken auf das eigene Selbst fixieren (72, Z. 3iff.), in den Wirbel des Wahnsinns treiben (73, Z. 33ff.). Und es folgt aus alledem zwingend, daß die Tragik in Judiths Schicksal nicht allein in der Tat selbst gründet, sondern an der nachträglichen Erkenntnis ihres wahren Motivs haftet, sofern ihrer Rache eine - in der Jungfräulichkeit bedingte - Selbstverkennung zugrunde liegt. 47
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Denn »nur aus einer jungfräulichen Seele kann ein Muth hervor gehen, der sich dem Ungeheuersten gewachsen fühlt«; ihre »Reinheit« ist »das Fundament ihrer Kraft« (T 1872, vgl. 1931) - damit aber auch Voraussetzung jener Selbsttäuschung, aus der heraus Judiths Handeln tragisch wird. Sonst wäre ihre Selbstverdinglichung ein Fall von Prostitution. Diese Aufdeckung läßt sich literarhistorisch als eine ironische Kontrafaktur zu Schillers Theorie des Erhabenen verstehen: »Fälle können eintreten, w o das Schicksal alle Außenwerke ersteigt, auf die er [der Mensch] seine Sicherheit gründete, und ihm nichts weiter übrig bleibt, als sich in die heilige Freiheit der Geister zu flüchten [ . . . ] und durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse, ehe noch eine physische Macht es tut, sich moralisch zu entleiben« (Über das Erhabene; S W V 80$). Ein solches >Zuvorkommen< plant Judith, indem sie ihren K ö r per zum >Außenwerk< erklärt, sich in das intelligible Innere des Ich zurückzieht -
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U n d Gott, dessen Werk dies alles doch sein müßte? E r scheint in der »Hauptscene« überhaupt nicht mitzuspielen, es sei denn, man sähe in Judiths Aufforderung, die Lichter zu verlöschen (67, Ζ . i6i.), nicht nur die Scham der Erniedrigten, sondern auch einen subtilen Rückverweis auf die Hochzeitsnacht mit ihrem geheimnisvollen Lichtererlöschen (16, Z . 29ff.)> also ein Zeichen göttlicher Präsenz auch im Zelt des Holofernes. Es ist unsicher, ob der Dramatiker einen solchen Bezug herstellen wollte, sicher hingegen, daß J u diths Bewußtsein vor und unmittelbar nach der Tat nicht auf G o t t gerichtet ist und noch im Augenblick der >Erkennung< nicht Gottes Auftrag, sondern den Gedanken an die N o t ihres Volkes als Tatmotiv ausschließen muß (72, Z. 8ff.). A n Gott denkt sie erstmals wieder auf Mirzas Stichwort (72, Z . 4) hin, als ihr der furchtbare Gedanke aufsteigt, durch ihre unnatürliche Tat die kosmische Ordnung gestört zu haben (73, Z . 7ff.), und sie sich fragen muß, ob G o t t sie f ü r diese Übertretung »strafen« werde (73, Ζ . 10). 48 A n G o t t denkt Judith wiederum, als sie - die ihre Tat nicht tragen kann - Mirza bereden will, sie dem Volk gegenüber auf sich zu nehmen: Ja, Mirza! ich will sagen, mir sei in der Stunde der Entscheidung der Muth abtrünnig geworden, aber über Dich sei der Geist des Herrn gekommen und D u habest Dein Volk von seinem größten Widersacher erlös't. Dann wird man mich verachten, wie ein Werkzeug, das der Herr verworfen hat, und Dir wird Preis und Lobgesang in Israel (75, Z . zff.).
Judith will also der Magd ihre eigene Tat zuschieben, weil sie das Motiv nicht f ü r sich in Anspruch nehmen darf, mit dem allein sie die Tat vor den Bethuliern vertreten könnte. D e r Menge Beifall müßte ihr wie H o h n tönen. Denn sie hat eben nicht aus dem »Geist des Herrn« gehandelt, und sie sieht sich gänzlich außerstande, die in ihrem Motiv durchleuchtete Tat mit dem göttlichen Auftrag zusammenzubringen. Nach wie vor steht sie vor dem Riß, der in der anagnorisis aufgebrochen ist: Sie hat - wie Hebbel erläutert - die Tat zwar ausgeführt »auf G o t t e s G e h e i ß , aber sie ist sich in dem ungeheuren Moment, der ihr ganzes Ich verwirrt, nur ihrer p e r s ö n l i c h e n
Gründe
bewußt« (T 1989). Daher muß sich Judith f ü r »ein Werkzeug« halten, »das der Herr verworfen hat«: eben weil sie nicht rein instrumental, sondern aus einem bestimmenden menschlichen Eigenantrieb heraus gehandelt hat. Sie hat »das Rechte [ . . . ] gethan«, aber »aus Unrechten Gründen« (T 1872) - und diese Differenz ist f ü r Judith entscheidend, nicht anders auch f ü r den dramatischen Perspektivismus von Hebbels Tragödie selbst.
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um dann freilich die Erfahrung zu machen, daß diese Art moralischer >Entleibung< eine Verkennung gewesen ist, deren Aufhebung in die Tragik fuhrt. So belegt Hebbels Tragödie lehrreich, wie die idealistische Theorie Schillers im späteren 19. Jahrhundert ihre Glaubwürdigkeit verliert. Z u m Zusammenhang vgl. W. Wittkowski, Hebbels Judith«. In: H N S . S. 178; Der junge Hebbel (s. A n m . 5). S. 231 f.
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A n diesem Punkt entscheidet sich das Drama endgültig für eine anthropozentrische Sinnstruktur. Würde Judith nämlich im Gedanken an die Wirkung ihrer Tat - im Bewußtsein also, den »größten Widersacher« ihres Volkes besiegt zu haben - letztlich doch Beruhigung finden, dann käme entweder ein nationales Drama heraus (Judith würde sich im Hinblick auf die Erlösung des Volkes mit sich selbst aussöhnen) oder aber, noch umspannender, ein theozentrisches Drama (das die Größe des Wunder wirkenden Gottes verherrlicht). 49 Aber Hebbel will auch aus dem biblischen Stoff die Tragödie des Menschlichen erzeugen, d.h. er will das Menschliche als den >Grund< zeigen, in den das Göttliche als Dissonanz hineinschneidet. So bleibt das Faktum bestehen, daß Judith Gottes Auftrag ausgeführt hat, und damit bleibt auch der vom Stoff her gegebene theologische Horizont bestehen. Aber für das tragische Interesse rückt dieses Faktum in den Hintergrund, weil es sich auf die Bewußtseinsnot der Heldin konzentriert, die es freilich ohne die theologische Folie nicht herausarbeiten könnte. Hebbel löst damit in seiner ersten Tragödie die Forderung nach >Vermenschlichung< ein, die er in der späteren Calderon-Kritik gegen die dogmengebundene Gestaltung des Wunderbaren erhebt (T3297), sofern der Mensch selbst in den Armen eines Gottes nicht aufhört, Mensch zu seyn, und da er, sobald der Gott ihn los läßt, augenblicklich in die rein menschlichen Verhältnisse zurück tritt [ . . . ] (T 1989).
N u r wird dadurch nicht alles schon in dem Sinne »menschlich«, daß die religiöse Welt überhaupt als Illusion entlarvt würde. Die >Anknüpfung< des Geschehens an die Gottheit spannt sich von der Traumerzählung bis zum Schluß. Die anagnorisis in der »Hauptscene« setzt ja die Lenkung durch Gott als Möglichkeit voraus, um dann allerdings durch die tragische Motiverkenntnis eine gewisse Emanzipation des Menschen vorzunehmen. Denn er findet sich in einer Situation vor, in der Gott ihn »los läßt«, und man sagt
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So wurde der Stoff in der Tradition aufgearbeitet, etwa im Schuldrama des Sixt Birck (1534), im Meistersingerdrama des Hans Sachs ( 1 5 5 1 ) oder im Opernlibretto von Martin Opitz (1635). Z u r Stofftradition vgl. den Überblick von O . Baltzer (s. A n m . 32), der über 80 dramatische Bearbeitungen des Judith-Themas ausfindig gemacht hat. - Die Berliner Auffuhrung der Hebbelschen >Judith< (1840) endete mit einer »Verherrlichung« Gottes und einer Heldin, deren »ganzes Herz« sich in Erwartung baldiger Erhebung durch Gott »in Freude und Hoffnung« wandelt (431; zu: 75, 9ff.): ein Schluß, der das ganze Drama durchstreicht und in seiner gewaltsamen Harmonisierung wirklich nur als Konzession an Theatererwartungen verstehbar ist. Er stammt nicht von Hebbel, auch nicht von dem als Bearbeiter eingesprungenen Wilibald Alexis, sondern ist eine Eigenfabrikation der Berliner Regie - welche Klarstellung P. Bornstein geleistet hat (vgl. die von ihm besorgte Hebbel-Ausgabe: Sämtliche Werke nebst den Tagebüchern und einer Auswahl der Briefe. 1911/26. Bd. V. S. 468).
nicht zuviel, wenn man Hebbel ein besonderes Interesse am Vorgang dieses Loslassens oder, vom Menschen aus gesehen, des Sichlosreißens attestiert mit besonderer Blickrichtung auf die Religionskrise der eigenen Gegenwart.
3. Die jungfräuliche Anti-Wally Nicht als Jungfrau allein handelt und leidet Judith. Sie bleibt auch die Witwe, als die sie Hebbel aus der Bibel entgegengetreten ist. Daß er sich seines Dramas wegen »jetzt in einer inneren Verlegenheit« befinde, notiert er am 3. Januar 1840 (T 1872), nur gut drei Wochen vor dem Abschluß der Arbeit am 28. Januar (vgl. Τ 1893). Die Ursache seiner »Verlegenheit« ist diese: »Die Judith der Bibel kann ich nicht brauchen« (T 1872). Es stellen sich Motivationsprobleme für die Zwischenakte, die durch Judiths Charakterisierung in der »Hauptscene« aufgeworfen worden sind. Zu ihrer Bewältigung wird aus der Witwe der Bibel, die sich durch »List und Schlauheit« vor und durch gemeinen Jubel nach der schrecklichen Tat nicht gerade menschlich auszeichnet, eine jungfräuliche Witwe gemacht, die überhaupt nur, ohne von vornherein allen menschlichen Rang einzubüßen, den »Entschluß zur That« fassen kann: Ich habe jetzt die Judith zwischen Weib und Jungfrau in die Mitte gestellt und ihre That so allerdings motivirt; es fragt sich nur, ob Judith nicht hiedurch ihre symbolische Bedeutung verliert, ob sie nicht zur bloßen Exegese eines dunklen MenschenCharacters herabsinkt (T 1872).
Zweifellos ist ein solches Bedenken angebracht. Auch der wohlwollende Emil Kuh sah Judith als jungfräuliche Witwe »in die bedenkliche Sphäre der Ausnahmsnaturen, der psychologischen Unica« gerückt.'0 Diese mögen ein Heimatrecht in phantastischen Erzählräumen haben, etwa bei Gabriel Garcia Märquez,' 1 treiben ein >ernstes< Drama jedoch in eine prekäre Region. Für die heutige Betrachtung genügt schon die Assoziation eines skurrilen Konstrukts vom Schlage der »minderjährigen Witwe« in Brechts >Dreigroschenoper< (von 1928), um die gefährliche Nähe zur karikaturistischen Parodie zu bezeichnen, in die sich Hebbels Tragödie an diesem Punkt gerade um der
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Im gleichen Atemzug bewundert er freilich »die Hartnäckigkeit«, mit der »das Talent Hebbels den gefährlichen tragischen Posten verteidigt« (wie Anm. 33, S. 284). Bei ihm gibt es gleichfalls das Motiv der »jungfräulichen Witwenschaft«, und zwar in bezug auf Amaranta in der zweiten Generation der Buendia-Familie — sie hat ihren Freier durch Verweigerung in den Selbstmord getrieben (vgl. Hundert Jahre Einsamkeit. Roman. Übersetzt von Curt Meyer-Clason. Zit. nach der Ausg. von 1977. S. i3off. Zitat: S. 149). 93
Sorgfalt der Motivation willen begibt. 5 2 Steht somit die dramatische Repräsentanz eines solchen »Menschen-Characters« - einer »Wittwe, die noch Mädchen ist« (T 1931) - in Frage, so hat man darin andererseits eine kühne Vorwegnahme späterer Psychologie erblickt und etwa gemeint, daß dem Dichter die »Geschichte Judiths [ . . . ] zur ersten psychoanalytischen Studie unserer Literatur, lange vor Sigmund Freud«, geraten sei. 53
a) Aspekte einer Ausnahmesituation Solche Deutungen treffen allenfalls eine Seite der Sache, nicht einmal diejenige, die dem Tragödien-Sucher Hebbel die wichtigste ist. Das Motiv der jungfräulichen Witwenschaft< kann durch eine isolierende psychoanalytische Interpretation nicht recht aufgeschlossen werden. Man wird es erst aus der Entstehungsgeschichte des Dramas richtig einschätzen können, nämlich als Konstruktion, die ein sich nachträglich stellendes Motivationsproblem lösen soll. Dabei muß man wissen, daß es sich nicht um Hebbels eigene - sei es nun psychopathologisch bedenkliche oder psychoanalytisch avancierte - Erfindung handelt, sondern um eine Übernahme, und zwar nicht aus der Stofftradition, sondern aus einem Drama, das der Dichter der >Judith< noch sehr hochgestellt hat: aus Uhlands >Ernst, Herzog von Schwaben< (1817). Dort fragt der verbannte Titelheld den Grafen H u g o von Egisheim nach dessen Tochter Edelgard, um die er einst geworben hat. Ernst erfährt, daß sie
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Johann Nestroys Parodie Judith und Holofernes< (1849) ließ sich Judiths Jungfräuliche Witwenschaft< nicht entgehen und bildete damit in der Schlußszene die Brücke zur Erzählung von der verunglückten Hochzeitsnacht, um daraus allerlei witzig gemeinte - Funken zu schlagen (Werke. Hg. von Oskar Maurus Fontana. 1962. S. 737fr.). Auch in Georg Kaisers Stück >Die jüdische Witwe< (1904), bei dem die Absicht der Hebbel-Parodie ebenfalls mitspielt, ist Judith nach dem Tod des Manasse jungfräuliche Witwe, die im assyrischen Lager Erfüllung für ihre erotischen Wünsche sucht. Vgl. dazu Jürgen Hein: Aktualisierungen des JudithStoffes von Hebbel bis Brecht. In: HJ. 1971/72. S. 63-92; danach taucht das Motiv der Jungfräulichen Witwenschaft< erstmals 1818 in einer anonymen Bearbeitung des Judith-Stoffes auf (ebd. S. 64). So Heinz Stolte, Moderne Weltdeutung im dichterischen Werk Friedrich Hebbels. In: HJ. 1965. S. 14. - Tatsächlich hat sich Freud selbst auf die Tragödie Judith und Holofernes< (sie!) bezogen und das »Feingefühl des Dichters« gerühmt, die Ermordung des Holofernes auf »die Verletzung der Virginität« zurückzuführen: »Köpfen ist uns als symbolischer Ausdruck für Kastrieren wohlbekannt« (Das Tabu der Virginität, 1918; Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud u.a. Bd. XII. 1947. S. I78f.). Wie schön, wenn das offenbar von J . Sadger (s. Anm. 7) beigebrachte Hebbel-Beispiel erst einmal richtig gelesen worden wäre! Mit L. Lütkehaus ist von einer »Freudschen Fehlinterpretation« zu sprechen (wie Anm. 1, S. 71). Nicht J u diths Entjungferung, sondern ihre Entwürdigung ist für das Drama der springende Punkt.
nach seiner Ächtung durch Kaiser Konrad »ernster, feierlicher« geworden sei: Mildtätig, hülfreich war sie schon zuvor, Jetzt gab sie gänzlich sich der Armut hin: Wie fromme Witwen pflegen, spendete Die j u n g f r ä u l i c h e W i t w e jeden Tag Almosen [.. .]' 4
Aus einem Vergleich heraus findet Uhland die Fügung, die auf das besondere Schicksal Edelgards verweist, daß ihr die Erfüllung als liebende und geliebte Frau versagt geblieben ist. Ganz offensichtlich ist es die Reminiszenz an diese Fügung, die Hebbel aus seiner »Verlegenheit« (T 1872) geholfen hat, nicht in erster Linie ein spezifisches Interesse an sexualpsychologischen Grenzphänomenen. Am selben Tag (3. Januar 1840), an dem er die Schwierigkeiten mit >seiner< Judith löst, notiert er die Erinnerung, einem Bekannten (Alberti) vier Tage vorher »einen Act aus Uhlands Herzog Ernst« vorgelesen zu haben (T 1875). Man kann den Funken förmlich überspringen sehen.55 Judith genießt wegen ihrer Mildtätigkeit hohes Ansehen in Bethulien sogar die Fortdauer ihrer Witwenschaft wird gerüchtweise auf ihre karitative Selbstlosigkeit zurückgeführt (vgl. W I 4if.). Das öffentliche Gerede umkreist eine Frau, deren Schönheit Achior in Bewunderung ausbrechen lassen wird: »Niemand sah Deines Gleichen« (W I 43). Aber nicht als »Mutter der Bedürftigen« profiliert sich Judith in der Volksszene, sondern als »das gottesfürchtigste Weib in der Stadt«. Sie spürt im Brudermörder Daniel die »Gottesnähe« und weist die >Versuchung< durch die richtende, aber nur menschlich gerechte Vernunft des Samaja zurück (W I 36). Sogar »der Aelteste« sieht sich vom Adel ihres Denkens übertroffen und bekennt niedrigere Motive, als sie ihm nach einem Disput mit Josua zugesprochen hat (vgl. W I 38f.). Judith wehrt den Gedanken ab, die »Speise des Altars« unter das hungernde Volk zu verteilen (W I 41). Sie widersetzt sich mit Erfolg dem Plan, die Altesten und Priester auszuliefern, um Holofernes zur Milde zu stimmen (vgl. W I 38f.). Schließlich verhindert sie - unterstützt von Achiors Bericht über den gewaltigen Feldherrn - durch ihren entschlossenen Mut, daß die Tore der Stadt auf Gedeih und Verderb geöffnet werden (vgl. W I 39f.). 54
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Ludwig Uhland, Werke. Hg. von Hartmut Fröschle und Walter Scheffler. Bd. II. 1980. S. 80. (Hervorhebung H. R.) - Ernst apostrophiert Edelgard, die sich ins Kloster zurückgezogen hat, später als »geliebte Gottesbraut« (ebd. S. 109). In der Korrespondenz stellt sich beiläufig noch einmal der Vergleich zwischen >Judith< und >Herzog Ernst< ein (im Februar 1840; vgl. Β II 30). In Hebbels anfängliche Bewunderung von Uhlands Drama (vgl. W X 374) und von Uhlands Dichtertum überhaupt (vgl. Τ 1865) mischten sich bald schon Vorzeichen einer Kritik (vgl. Τ 2265), die dann im Uhland-Nekrolog von 1862 voll intoniert wird (vgl. Τ 5983). - So weit ich sehe, ist das schlichte Faktum der Motivübemahme aus dem >Herzog Ernst< bisher nirgends vermerkt worden. 95
Die Volksszenen, schon von der zeitgenössischen Kritik mit zustimmendem Lob bedacht,' 6 erschöpfen sich nicht in selbstgenugsamer historischer Folklore. Sie zeigen, pragmatisch gesehen, die N o t der belagerten Stadt und vor allem Judiths Sonderstellung (wie sie auch der Daniel-Handlung Relief geben). Judith wird in ihrer Zugehörigkeit zu den Bethuliern vorgestellt und zugleich durch auszeichnende Vereinzelung von ihnen abgehoben - die Repräsentantin unterscheidet sich qualitativ von denen, die sie repräsentiert. Daß der Dichter von der Handlungskapazität des Volks (bzw. der »Masse«) nicht gerade die höchste Meinung hat, zeigt - in Entsprechung zum zeitgleichen Drama - thesenhaft deutlich die Rezension von Alexander Fischers Tragödie >Masaniello< (1839). Auch hier ist es die Verteidigung der großen Dramatik, die die Argumentation bis zur charakteristischen Rückversicherung bei Shakespeare und Goethe (>EgmontTelegraphenHallischenJahrbüchem< 1840; H K . S. 6 u. 11), dann auch von Emil Kuh (wie A n m . 33, S. 293: »[.. .]wie von der Decke der Sixtina abgenommen«), ferner von H. Meyer-Benfey (wie A n m . n , S. 132) und vielen anderen, darunter auch Hebbel selbst in brieflichen Retrospektiven von 1852 und 1854 (vgl. Β V 47 u. 195). N u r Brecht spricht von einer »Fadheit der Volksszene«, wobei er - als Theaterkritiker - vielleicht mehr eine Augsburger Auffuhrung als das Drama selbst im A u g e hat, das er allerdings als »eines der schwächsten und albernsten Stücke unseres klassischen deutschen Repertoires« abkanzeln zu können glaubt (Gesammelte Werke in 20 Bdn. 1967. Bd. X V . S. 37f.). Vertraut mit Hebbels Erstling war Brecht bereits als 1 jjähriger - er legte den Stoff seinem Einakter >Die Bibel< zugrunde (vgl. ebd. Bd. VII. S. 3 0 2 9 - 3 0 3 8 ) .
fentliche Bild von Judith kontrapunktiert, ihre exzeptionelle Stellung nur um so mehr herausgehoben. A b e r die persönliche Daseinsnot, in die sie sich hineingetrieben sieht, läßt sich nicht einfach für eine moderne Existenzproblematik reklamieren. Die andere Seite ist, daß Judith gerade dadurch zu Gottes >Werkzeug< gestempelt wird. 5 7 Die Furcht ist Index der Gotteserfahrung, das Ausbleiben eines natürlichen Frauenschicksals bereitet in Judith den Boden für »etwas Uebernatürliches« ( W I X 2 5 4 ) . ' 8 Gott ist das Wort des Rätsels, freilich auch neues Rätsel. E s kommt also darauf an, das Ineinander von persönlichen Motiven und göttlicher Lenkung wahrzunehmen und auch festzuhalten - nur dann ist Judiths Ausnahmesituation gemäß ihrer Perspektivierung faßbar. Damit hat sich nicht erst die spätere geistesgeschichtliche Interpretation schwergetan. Schon die zeitgenössische Kritik hat die theologische Spur, die sich durch das Drama hindurchzieht, verkannt und so die psychologischen Phänomene mißdeutet. So rügte Eduard Meyen den angeblich von Horace Vernet herrührenden »Romanticismus« von Hebbels Werk 5 9 und meinte, daß seine Judith »ihre Heimath in der Sphäre des Visionären, Mystischen, bei Justinus Kerner und Eschenmayer, in Schwaben, aber nicht in Bethulien« habe. 60 Karl G u t z -
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Z w a r kann man im Drama ein »Grundmotiv der Not« feststellen (K. Ziegler, Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels. 1938. S. 21), auch läßt sich Judiths Tat auf die »Sinnproblematik des vereinzelten Ichs« zurückfuhren (H. Kreuzer, wie Anm. 2, S. 48) - nur dürfen solche Beschreibungen nicht absolut gelten (was bei K. Ziegler allerdings der Fall ist). Denn in Not und Furcht wirkt Gott, freilich ungreifbar als »eine unsichtbare Macht« (W I 22). Wenn sich die »Sinnproblematik« stärker ausprägt als die >theologische< Dramaturgie, so hängt dies nicht zuletzt mit der entsprechenden Disposition der modernen Interpreten zusammen. Das Zitat stammt aus Hebbels >Geschichte der Jungfrau von OrleansJudith< mit gewissen Erkenntnis-Chancen für die Interpretation des Dramas noch einmal dargeboten wird (zuerst von H. Meyer-Benfey, dann systematisch von W. Wittkowski genutzt). So berichtet der Historiker Hebbel von Johannas - der späteren »Heldin Gottes« - kindlichem Haß gegen die Burgunder, die König Karl VII. bekämpft und in Paris »ein unerhörtes Blutbad« angerichtet hatten (W IX 236), um dann fortzufahren: »Auf solche Weise aufgeschlossen in ihrem ganzen Wesen, im Geiste geweckt, in den Sinnen erhöht, hatte sie den Punct erreicht, w o dem höchsten Waltenden die unmittelbare Anknüpfung möglich war« (W IX 242f.). Im Gemälde Judith et HoloferneJudith< eine Lithographie des Vernetschen Bildes oder auch Heines Beschreibung desselben (von 1831) gekannt hat, ist nicht auszumachen (vgl. auch Β II 359). Wie Anm. 56, S. 5. 97
kow unterstellte Hebbel die Absicht, »eine rein menschliche, n i c h t religiöse Judith« gestalten zu wollen, und wartete dagegen mit »der festen Überzeugung« auf, daß die Aufgabe einer jüdischen Jeanne d ' A r c auch nur jüdisch, d.h. religiös zu lösen ist. Judith, von der Glorie des Fanatismus umstrahlt, kann uns vielleicht im Laufe eines Theaterabends, mit großem A u f w a n d populärer Nebenelemente fortreißen: eine Judith aber, a l s S e e l e n g e m ä l d e , als Präparat für Gemüthsanatomie, ist ein Gegenstand für Moritzens psychologisches Magazin, nicht für die Poesie, am wenigsten für das Drama. 6 1
Immerhin ist der Kritiker insofern nicht von schlechtem Spürsinn geleitet, als das >Magazin zur Erfahrungsseelenkunde< (1783-93) in der Tat von einem melancholischen Rechtsgelehrten zu berichten weiß, der nach dem Beispiel der biblischen Judith in »Schwärmerei und Wahnsinn« dem Stadtkommandanten - »gleichviel, Holofernes oder Hazfeld« - mit einem Beil den Kopf abgeschlagen hat. i 2 Im übrigen aber hat Gutzkow das Drama, wenn er es als bloße psychopathologische Fallstudie versteht, wie Mirza ihre Herrin »in Nichts« verstanden. Der Kritiker klagt pompös die religiöse Motivation ein und übersieht, daß sie das Drama kunstvoll aufgebaut hat - bis zu der »Taube«, die Judith vergleichsweise anführt (W I 28) und die in der Bibel ebenfalls vergleichsweise für den Geist Gottes schwebt. Gutzkow redet Judith zum Exempel für »eine Erscheinung der Psychologie« herunter, vermißt den »Duft der Liebe«, »das Elegische [...] eines weicheren Gemüthes« 63 und ignoriert Judiths Ausnahmesituation, die ein ungebrochenes Hervortreten solch' lieblicher Weiblichkeit allerdings nicht zuläßt. »O Gott, ich achte so gern [...]« bekennt Hebbels Heldin (W I 22). Aber sie kann Ephraim nicht achten, den Mutlosen nicht lieben, der der Ängstlichen nicht die ersehnte »Stütze« ist (vgl. W I 28). Sie unterzieht ihn einer Prüfung, die als solche - wie dann in einer vergleichbaren Situation durch Mariamne - erst nachträglich einbekannt werden kann, in der sie sehr wohl weibliches Empfinden erkennen läßt: freilich im Irrealis, denn Ephraim hat die Prüfung nicht bestanden. Wäre er spontan ausgezogen, um Holofernes zu bekämpfen, »dann«, so sagt Judith, o, das fühl' ich, dann hätt' ich mich Dir weinend in den Weg geworfen, ich hätte Dir die Gefahr ausgemalt mit der Angst eines Herzens, das für sein Geliebtestes zittert, ich hätte Dich zurückgehalten oder wäre Dir gefolgt (W I 24).
Nicht grundlos legt Hebbel also Wert darauf, daß seine Judith »ein wirkliches Weib« sei (T 1944). Aber nicht nur dies: Er gibt seinem Drama die - in dieser
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Wie A n m . 56, S. 798.
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V g l . Bd. III. Tl. 2. S. 1 - 1 4 (zit. nach dem Faksimile-Druck von Karl Philipp M o ritz' >Magazin< 1978). Wie A n m . 56, S. 798f.
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Form sehr zweifelhafte - Empfehlung mit auf den Weg, daß es sich »der Weiber-Emancipation schroff gegenüber stellt« (Β II 103). Bevor man pflichtgemäß die doch wohl reaktionäre Gesinnung eines Mannes geißelt, der derlei sagen kann, empfiehlt sich ein Blick auf den Kontext, in dem es gesagt wird. Der Brief (vom 6. April 1841) will die öffentliche Aufnahme von >Judith< beeinflussen, deren Erscheinen (Juli 1841) bevorsteht - Adressat ist Hermann Hauff, Redakteur des Cottaschen >Morgenblattes< in Stuttgart. Nach seinen Theatererfahrungen hat Hebbel einigen Anlaß zu der Befürchtung, wegen gewisser Einzelzüge seines Dramas wie Brautnacht-Episode und Vergewaltigung unsittlicher Tendenzen geziehen zu werden.64 Daher sein taktisches Vorgehen und - als besondere Zuspitzung - sein Diktum gegen die »Weiber-Emancipation«. Der gemeinte Angriffspunkt läßt sich dem Brief an Hermann Hauff gleichfalls entnehmen: Die Thorheit unserer Zeit, die mit einigen abnormen und formlosen, wenn auch reichen Weiber-Individualitäten Abgötterei treibt, und aus der Krankheit, aus dem Zurücksturz in's Chaos neue Lebens-Gesetze abstrahiren will, kann keinen Mann mehr anwidern, wie eben mich [ . . . ] (Β II 103).
Die »Weiber-Emancipation« bzw. der pseudoreligiöse Kult, in dem sie sich darstellt, gilt dem Briefschreiber demnach als Symptom zeitgenössischer »Thorheit«. Im April 1839 hatte Hebbel die Schrift von Theodor Mündt über Charlotte Stieglitz (erschienen 1835) gelesen, in der jener Frau ein »Denkmal« gesetzt ist, die sich selbst getötet hatte, um ihren Gatten über das Schmerzgefühl zu einer großen poetischen Schöpfung zu inspirieren (vgl. Τ IJ59). Im Oktober hatte sich die Lektüre von Gutzkows Roman >Wally, die Zweiflerin< (1835) angeschlossen, der ebenfalls diesen Suizidfall aufgegriffen hatte, nach einer späteren Auskunft des Autors sogar durch ihn »veranlaßt« worden ist.6* Hebbel prangerte die »Perfidie« an, die »dies Buch so in Verruf« gebracht hat.66 Nicht Unsittlichkeit und Gotteslästerung setzen es in 64
Er nennt das Roß: das Stuttgarter >Literatur-BlattJudith< im >Literatur-Blatt< nicht rezensiert (wohl aber dann Hebbels erste Gedichtsammlung von 1842, wobei sich der Dichter zu seinem Befremden zum »Hegelianer« und »jungen Deutschen« gemacht sah: vgl. Β II 278).
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Vorrede zur Ausgabe von 1852; zit. nach: K . Gutzkow, Wally, die Zweiflerin. Studienausgabe mit Dokumenten zum zeitgenössischen Literaturstreit. H g . von Günter Heintz. 1979. S. 140. Gemeint ist »der schnöde Menzel« (T 1673), der durch seine Invektiven gegen den aus dem »tiefsten Kote der Entsittlichung« zusammengerührten »Schmutzroman«, »diese französische Affenschande« das Verbot des Buches erwirkt und seinen Verfasser — einen »frechen Gotteslästerer und Nuditätenmaler« - zwar nicht, wie gewünscht, bis zur »Vernichtung«, immerhin aber ins Gefängnis gebracht hat. Pressefehden und Kriminalgeschichte zu Gutzkows Roman werden vorzüglich
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seinen Augen herab, wenn anders ihm sogar »der Geist der Wahrheit« daraus entgegenzuwehen scheint. Jedoch: In poetischer Hinsicht will ich es nicht vertheidigen, aber auch hier ist nicht die Intention, sondern die unzulängliche Ausführung zu tadeln. Eine Bemerkung drängte sich mir bei der Leetüre auf. Nur die große Dichterkraft kann ein verfängliches Thema behandeln, nur sie kann eine scharf einschneidende Idee, die wir gern aus der Welt wegläugnen, so lange es geht, g e s t a l t e n und sie so als lebend und dem Leben Gesetze vorschreibend geltend machen [...] (T 1673). Wieder also die >Lebens-GesetzeMaria Magdalena< gegen die abstrakte Philosophie eingesetzt (vgl. W X I 56), richtet sich hier gegen Gutzkow. Die Identität der Argumentationen läßt ferner keinen Zweifel daran, daß die - oben zitierte - Briefaussage von 1841, polemisch verschärft, nach wie vor den gleichen Gegner im Visier hat: G u t z k o w und seine >WallyWally< gemünzt sein. 67 In der >Judith< tritt Hebbel gegen G u t z k o w an. E r will sich persönlich und literarisch behaupten, er will poetische Gestaltungskraft gegen eine - ins Inflationäre getriebene - Emanzipationsgesinnung setzen, 68 er will nicht zu-
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in der von G. Heintz besorgten Ausgabe dokumentiert (wie Anm. 65, hier S. 274-291 die inkriminierende Menzel-Kritik, Zitate: S. 282f. u. 278). Es erübrigt sich wohl, im einzelnen nachzuweisen, daß Gutzkow die Romanform nur benutzt, um Zeitthemen lose zu bündeln, kurz: daß seine >Wally< künstlerisch in der Tat nichts taugt. Gutzkow selbst gesteht in der Vorrede von 1852 ein, daß ihm »die romantische Einkleidung des Ganzen« nur »eine Bagatelle« und »die polemische Tendenz gegen die Ansprüche des Theologen- und Kirchentums [ . . . ] die Hauptsache« gewesen sei (wie Anm. 65, S. 142). Sieben Jahre später räumt der Autor sogar ein, ihm habe »die zusammenfassende Gestaltungskraft« gefehlt (ebd. S. 258). Ihr Fehlen ist aber für den Formkünstler Hebbel gerade »die Hauptsache«, so daß in seinen Augen die Themen - da nicht schlüssig integriert - »zu Tode disputirt werden«. Daß die Forderung nach Frauenemanzipation um 1830/40 nicht bloß zu modischen Verstiegenheiten fuhrt, sondern einer dringlich gewordenen Problematik entspringt, steht für die heutige Sicht natürlich außer Frage. Eine instruktive Anschauung gibt dazu ein von Fritz Böttger besorgter Sammelband, in dem u. a. auch Elise Lensing zu Wort kommt: Frauen im Aufbruch. Frauenbriefe aus dem Vormärz und der Revolution von 1848. 1979 (zuerst 1977). - Ob freilich der
letzt durch die dichterische Tat den Vorrang der Tragödie vor dem Roman verteidigen. Wie Gutzkow in der >Wally< führt Hebbel in der >Judith< eine prekäre weibliche Existenz vor - er spannt alle Kräfte, um »ein verfängliches Thema« dichterisch, d.h. für ihn: dramatisch, zu bewältigen, ohne der »Unwahrheit und Uebertreibung« (T 1673) zu verfallen. Mit Judiths Hochzeitsnacht und ihrer Vergewaltigung durch Holofernes hat es von Intention und Gestaltung her eine andere Bewandtnis als etwa mit Gutzkows Sigunenszene, in der sich Wally für Cäsar (und für den Leser) in einer emanzipatorisch gemeinten Nacktheit darbietet. 69 Rund eine Woche nach der Lektüre des umstrittenen Romans beginnt Hebbel mit der Ausarbeitung von >JudithWally< im besonderen. Dort findet sich etwa die Bemerkung: »Noch ist es mir unerklärlich, wie die schüchternsten Weiber sich an Dinge wagen, an welche die mutigsten Männer immer mit einer Art von Zaghaftigkeit herangehen.« 70 Der Erzähler von >Wally< (dessen persönliches Hervortreten an Ort und Stelle übrigens keineswegs einleuchtet) stellt diese Überlegung an - für Hebbel birgt sie ein Problem in sich, zu dem >Judith< eine Klärung (durch schlüssige Motivation) erbringen soll. Bei Gutzkow heißt es auch: »Die Gottheit ist nirgends näher, als w o ein Herz an ihr verzweifelt.« 71 Dieser Aphorismus weist gleichfalls auf >JudithGeschichte der Jungfrau von Orleans< als Frauenbrief dieser Zeit wirklich bei Jenny M a r x kulminiert, wie der Herausgeber es wahrhaben will, oder solche Teleologie nur einen vorgegebenen Bewertungszwang auch auf das Gebiet der weiblichen Epistolographie überträgt, bleibe dahingestellt (vgl. das Nachwort: ebd. S. 493f.). Der Sammelband hält sich in seiner Konzeption übrigens auf der Linie eines Hebbelschen Diktums: »Der Brief ist die Form, worin das weibliche Gemüth sich aussprechen soll« (W X 383). 69 70 71
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V g l . wie A n m . 65, S. 50f., ferner S. 52ff. u. S. 66. Ebd. S. 23. Ebd. S. 11. — V g l . Casars definitive Aussage zum Zusammenhang von »Verzweiflung« und »Religion« (ebd. S. 37 u. 107) sowie die Beschreibung der toten Wally mit »einem Ausdrucke der Verzweiflung in den starren Augen« (ebd. S. 127). Ebd. S. 96 (in Wallys Tagebuch eine Wirkung ihrer Reimarus-Lektüre). A m Ende betont der Erzähler wieder: » [ . . . ] sie war ein weibliches Herz!« (ebd. S. 127). So geht das hin und her, ohne jede Kunst des Übergangs und der Perspektive. ΙΟΙ
vergröberte Reflexe der >JudithJudith< als die Tragödie einer aus ihrer Natur herausgezwungenen Frau, deren Handel mit der Gottheit aller freundliche Legendentrost versagt bleibt. Was Gutzkows Tendenz einer Emanzipation von Kirche und Christentum angeht, legt Hebbel keinen Widerspruch ein - Wahrheitsmomente und »gewichtige« Ideen des etwas angejahrten >Jungdeutschen< bleiben ja durchaus anerkannt. Moniert wird das Ausbleiben lebensmächtiger Gestaltung im Ästhetischen wie im Historischen, das darum bloß proklamatorische Entwerfen und Verwerfen. So vertritt der Dramatiker den Anspruch der Religion gegen die zeitkritischen Emanzipationsbestrebungen nicht traditionalistisch, sondern dialektisch in dem Sinne, daß er ihn ernstgenommen sehen will: An diesem Widerstand sollen sich neue Lebensgesetze profilieren, die einer religiösen Fundierung nicht mehr bedürftig sind. Einige Jahre später äußert Hebbel die »Ueberzeugung«, die das Problem auch von der politischen Seite nimmt: »daß sich mit c h r i s t l i c h e n Institutionen eine r e p u b l i c a n i s c h e Verfassung nicht dauerhaft vereinigen läßt« (Β IV 131). Das Bewußtsein einer solchen Differenz mag auch der Verfasser von >Judith< schon eingeschärft haben wollen. Der modischen Zweiflerin und der literarischen Gesinnung, die noch den Selbstmord als ein Reizspiel arrangiert, setzt er die Frau entgegen, der das religiöse Verhältnis zum tragischen Schicksal wird, um so die Berechtigung dieses Verhältnisses zu überprüfen.
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Die Präposition »von« ist hier kausal zu verstehen. - Z u r Begriffsgeschichte vgl. M . Greiffenhagen, Art. >EmanzipationSelbstbefreiung< (vgl. auch Τ 628). Vgl. Gutzkows Aufsatz >Wahrheit und Wirklichkeit, der - eine Art Nachwort zu >Wally< - die alten Institutionen wie »Christentum«, »Gesetzbücher« und »Verfassungen« für entbehrlich erklärt, aber offen läßt, was an ihre Stelle treten soll (wie Anm. 65, S. 132). Noch 1859 meint Gutzkow in einer autobiographischen Skizze, daß »die rechte chaotische Gärung« schon genüge, um ein Drama zum »Kulturmoment« zu erheben (ebd. S. 258). Für Hebbel genügt dies eben nicht - weder nach ästhetischen noch nach historisch-moralischen Maßstäben.
b) Die geschlagene Siegerin Nach diesem Versuch, die >Judith< begleitende Absage an die »Weiber-Emancipation« in ihrem historisch-literarischen Kontext zu erschließen, ist ihre inhaltliche Bedeutung knapp zu skizzieren. Der dualistische Denker glaubt an einen fundamentalen Gegensatz von weiblicher und männlicher Natur (vgl. Τ 2309 u. ö.), durch den er je eigene Vermögen, Defizite, Erlebnisformen und Pflichtenkreise bedingt sieht. 75 Eine Emanzipation der Frau von ihrer weiblichen Natur hält Hebbel nicht nur für nicht wünschenswert, sondern für nicht möglich - es sei denn um den Preis des Abweichens ins Widernatürliche, des IdentitätsVerlustes.76 Was die sachliche Stimmigkeit oder auch den ideologischen Charakter eines solchen Geschlechter-Naturalismus angeht, so kann die moderne soziologische Rollentheorie fraglos einiges differenzieren und berichtigen. Hebbel läßt in diesem Punkt nicht bloß eine konservative Weltanschauung erkennen, sondern auch einen gattungspoetischen Traditionalismus. Bei Sophokles will lokaste die tragische Erkenntnis des Schuldzusammenhanges verhindern, Odipus aber - anders als die Frau - die Aufklärung um jeden Preis vollenden. 77 Für Lessing steht fest: »Die Natur rüstete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zärtlichkeit, nicht Furcht erwecken [...]« Eine Figur wie die Cleopatra (in Corneilles >RodoguneTrachinierinnen< ab, wenn er »das ruhige, innige, ihren [sie!] Besitz sichernde Weib« mit »der um sich greifenden und das Höchste und Fernste anstrebenden Natur des Mannes« konfrontiert (Nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hg. von Ludwig Tieck und Friedrich v. Raumer. 1826. Bd. II. S. 464).
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über einen Dichter »ärgern« zu müssen, »der uns dergleichen Mißgeschöpfe für Menschen verkaufen will [...]« 7 S Solchen Auffassungen hält Hebbel, inmitten von mancherlei historischen Wandlungen, unverändert die Treue, um davon freilich den Sonderfall abzuheben, wie ihn Judith darstellt: daß eine Frau durch die höchste Macht selbst gezwungen wird, aus ihrer weiblichen Natur herauszutreten. Denn dies ist das tragische Schicksal der jungfräulichen Witwe, die einzige >erlaubte< Form von Emanzipation, ein künstlerisches Wagnis mit allen Risiken des Abgleitens in bloße Psychopathologie und nicht zuletzt ein Akt ebenso subtiler wie polemischer Kommunikation mit Gutzkow. Es dürfte deutlich geworden sein, daß nicht allein Schillers Jungfrau von Orleans< als Kontrastfolie zu >Judith< in Betracht zu ziehen ist. 79 Auch die Auseinandersetzung mit Gutzkow, vor allem mit seiner skandalträchtigen >WallyUber Charlotte Corday< auf eine Verherrlichung dieses politischen Mordes gezielt hatte. Jean Paul geht mit Marat (und damit zugleich mit dem postrevolutionären »Terrorismus«) äußerst scharf ins Gericht und feiert seine Mörderin als »zweite Jeanne d'Arc«, als »jungfräulichen Würgengel«, in dem »die Nemesis« Gestalt angenommen und Marats »Schlachtmesser [...] gegen sein eigenes Herz« umgedreht hat. 8 ° Anders als Jean Paul läßt Hebbel den politischen Mord vom Motiv allein her nicht gelten: Er findet keinen Anhaltspunkt für einen persönlichen Zwiespalt und erklärt daher Charlotte Corday - wie die
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Hamburgische Dramaturgie, 30. Stück (wie A n m . 6, S. 309f.). Dieses Verhältnis hat W. Wittkowski eingehend herausgestellt: vgl. wie Anm. 5, S. 124K.: Judith* als >Anti-Jungfrau*. Werke. Hg. von Norbert Miller. 1959/63. Bd. VI. S. 343ff. u. 350. - Zuerst 1801 veröffentlicht, wurde die Abhandlung >Über Charlotte Corday* 1809 in veränderter Form als eines unter mehreren »Werkchen« der Erzählung >Dr. Katzenbergers Badereise* beigegeben und dürfte auch Hebbel erreicht haben, der die Erzählung nachweislich gelesen hat (vgl. Τ 1394). Bei aller Andersartigkeit der Bewertung von Charlotte Corday könnten einzelne Motive bei Jean Paul auf den Dichter der >Judith< eingewirkt haben, wie ζ. B . der Gedanke der »Aufopferung« (ebd. S. 354) oder eine Feststellung wie diese: »Nur die Jungfrau [ . . . ] stirbt fur Welt und Vaterland; die Mutter bloß für Kinder und Mann« (ebd. S. 345).
Judith der Bibel - für »ein fanatisch-listiges Ungeheuer« (W X I 14). Dagegen ist ihm >seine< Judith, weil sie sich durch ihre Tat zugleich persönlich aufopfert, mehr als »eine Charlotte Corday« (W X I 13), nämlich eine tragische Heldin. Für die neueste Judith, von Rolf Hochhuth in eine Attentatsproblematik des »ABC-Waffen-Zeitalters« versetzt, hätte er dies wiederum nicht gelten lassen: Über allen Überlebensproblemen, historischen Bemühungen, waffentechnischen und physisch-sexuellen Details kommt es in diesem »Trauerspiel« von 1984 zu einer plausiblen Konfliktstruktur für die Protagonistin jedenfalls nicht. Keine triumphierende Judith kehrt in die Stadt zurück, nicht Jubelgebärden bestimmen den letzten Eindruck von Hebbels Tragödie. Das Finale tritt in die denkbar größte Entfernung von der biblischen Vorlage ein. Der Kopf des Holofernes soll auf Judiths Geheiß »sogleich begraben« und nicht als Siegesbanner vorangetragen werden, wie ein Priester rät (W I 79). 81 Und »mit Ekel« wendet sie sich ab, als sie die Bethulier in ihrem Namen gegen die führerlos gewordenen Assyrier losstürmen sieht: »Das ist Schlächter-Muth!« (W I 80) Der Gedanke, ihr Volk gerettet zu haben, kann Judith nicht mit ihrer Tat versöhnen, wie nach der »Hauptscene« (vgl. W I 72) nicht anders zu erwarten ist. Nach den Preis- und Heilrufen wird sie sich mit Bitterkeit bewußt, für wen sie die Tat begangen hat: Ja, ich habe den ersten und letzten Mann der Erde getödtet, damit Du (zu dem Einen) in Frieden Deine Schaafe weiden, D u (zu einem Zweiten) Deinen Kohl pflanzen und D u (zu einem Dritten) Dein Handwerk treiben und Kinder, die Dir gleichen, zeugen kannst! (W I 79) 8 1
Zwar schließt sich die Aufforderung an das Volk an, die »That« durch heiligreinen Lebenswandel »zu rechtfertigen« (W I 79). 83 Aber das ist ein Rückzug in die Floskel, der den Kontrast zu Judiths persönlicher Erfahrung und damit auch denjenigen von Bibel und Drama nur um so fühlbarer macht. Kein Wunder, daß Auguste Stich-Crelinger, die Judith-Darstellerin bei der Berli-
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In der Bibel ist es Judith selbst, die diesen Vorschlag macht (Buch Judith XIII 2); sie fordert auch zu »Cymbel-Klang und Paukenschall« auf (ebd. X V I 2) — was die Heldin bei Hebbel als unverdienten Volkesjubel nur furchten kann (vgl. W I 75). Man vergleiche damit die verpflichtende Bedeutung, die Herzog Ernst (in >Agnes Bernauen) den — doch wohl nicht anders vorzustellenden - Belangen des Volkes einräumt (W III 204). Judith und ihr Dichter sind noch weit davon entfernt, im Blick auf das Volk in seiner konkreten Erscheinung einen Sinn, gar ein sozialethisches Postulat zu erfahren. Eine Parallele im Tagebuch (vom 12. 2. 1840) zeigt die Rechtslogik etwas deutlicher, die hinter dieser Aufforderung steht. Beim Blick v o m Hamburger PetriTurm weckt ein Glockenspiel in Hebbel »christliche Empfindungen« und den Gedanken: »Werdet nur Alle gut - [ . . . ] dadurch z w i n g t ihr Gott, euch glücklich zu machen« ( T 1910).
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ner Uraufführung des Dramas (am 6. Juli 1840), nach der ersten Lektüre befand: »Das Erscheinen der Judith in Bethulien ist nicht imposant genug.«® 4 Die Schauspielerin verlangt nach dem großen Schlußauftritt - und versteht in ihrem Theaterinstinkt nicht, was der Dichter gewollt hat. Was er gewollt hat, ist freilich nicht unmittelbar evident. Auch die Verständnishilfen, die Hebbel in den Briefen an die Stich-Crelinger zu geben versucht, können die Sinnstruktur des Schlusses nicht ohne weiteres aufhellen. Im Hinblick auf »das Schwanken und Zweifeln«, das Judith allein zur tragischen Heldin qualifiziert, wird (am 23. April 1840) ausgeführt: Es kommt ihr aber [...] schon in Bethulien der rechte Gedanke: wenn die That von Gott ausging, so wird er sie vor der Folge schützen und sie nicht gebären lassen; gebiert sie, so muß sie, damit ihr Sohn sich nicht zum M u t t e r m o r d versucht fühle, sterben, und zwar muß sie durch ihr Volk den Tod finden, da sie sich für ihr Volk als Opfer dahin gab (T 1989).
Der dramatische Vorgang selbst weist - bei aller Entsprechung im Faktischen - auch Gestaltungszüge auf, die nicht einfach in der Perspektive des Kommentars aufgehen. Zunächst einmal ist klar, daß Judith nicht triumphieren will und kann, weil sie sich als »Opfer« fühlt. Der erste Priester sieht in ihrer Person und ihrer Tat eine Manifestation göttlicher Größe, die es zu verherrlichen gilt. 8 ' Priester und Alteste fordern sie auf, ihren »Lohn« zu verlangen Judith sieht in solchem Ansinnen nur Spott, im Bewußtsein ihrer Schuld also einen Akt, der ihre Tat auch öffentlich zu »Hochmuth und Frevel« stempeln würde. Zwar hatte sie ihre Tat auch vor dem Aufbruch zu Holofernes als »Opfer« bezeichnet (vgl. W I 43), aber sie weiß jetzt erst - nach der Aufhebung der hamartia-, was das eigentlich heißt. Und sie fragt die Priester: »Wenn das Opfer verröchelnd am Altar niederstürzt, quält Ihr's mit der Frage, welchen Preis es auf sein Blut und Leben setzt?« Darauf aber - »wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt« - fordert sie ihren Lohn: daß man
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A n Amalie Schoppe, 29. 2. 1840 (zit. nach der von P. Bornstein besorgten HebbelAusabe [s. A n m . 49]. S. 383). - Ähnlich Eduard Meyens Kritik: »Der Triumph der Judith, ihre siegende Kraft mußte das Ganze beschließen, nicht aber diese jammervolle Unsicherheit [ . . . ] « (wie A n m . 56, S. 9). 8 5 V g l . Buch Judith X V ioff. - Daran knüpfte Wilibald Alexis in seiner Berliner Bearbeitung an. Im Begleitbrief an Auguste Stich-Crelinger gab er mit schöner Offenheit zu, sein Schluß passe »zur Intention des Dichters wie die Faust aufs Auge« (zit. nach der von P. Bornstein besorgten Hebbel-Ausgabe [s. A n m . 49]. S. 391). Aber im Gedanken an die Forderungen des Theaters und die Möglichkeiten des Publikums ist er überzeugt: »Eine Autorität muß hier auftreten, und, für den Bühnenabend, ihr >Von Rechtswegen< unter das Urtheil schreiben.« Was das Votum der »Autorität« bewirken soll, wird wiederum mit schöner Offenheit ausgesprochen: »Für den Theaterabend gilt es einen Schluß, um uns zufriedengestellt an den Abendtisch zu setzen und ins Bett zu legen« (ebd. S. 393).
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sie auf ihr Verlangen »tödten« solle, dann nämlich, wenn sie durch Holofernes Mutter würde (W I 8of.). Dies ist »der rechte Gedanke«, von dem Hebbels Kommentar spricht, so jedoch, daß er dramatisch per contrarium eingeführt wird. Die Art der Gestaltung gibt der tragischen Lösung eine größere Nähe als der Möglichkeit, daß Gott Judith durch einen A k t der Gnade vor dem Schlimmsten schützen könnte, indem er ihren »Schooß unfruchtbar« macht (W I 81). Nicht die Hoffnung auf eine »Ausgleichung« (vgl. Τ 1958) setzt sich am Schluß durch, nicht der Triumphzug nach Jerusalem kündigt sich an, nicht das gesegnete Alter von 105 Jahren steht in Aussicht. Es dominiert vielmehr der Eindruck, daß Judith für den Fall der schlimmstmöglichen Wendung Vorsorge getroffen hat und zur letzten trostlosen Konsequenz bereit ist. Für ihre Haltung gilt das Wort, daß in dem Verzicht »aufs Leben« zugleich der Verzicht »auf Gott« liegt (vgl. Τ 1140). Die jungfräuliche Witwe, die einst die Unfruchtbaren für »unselig« erklärt hat (W I 19), muß am Ende um diese Unfruchtbarkeit beten. Nach Judiths Vorstellung verdoppelt sich in der Liebe zum Kind das eigene Selbst (W I 26) 86 - sie hingegen muß am Ende fürchten, daß sie die Schuld ihres Mordes vererben würde: Der Sohn müßte den Tod des Vaters an ihr rächen und durch den Muttermord neue Schuld auf sich laden. Deutlich verweist Judiths Weigerung, dem Holofernes einen Sohn zu gebären, auf die Nemesis, die in der Welt dieses Dramas auf das alttestamentliche Rachegesetz gegründet ist: »Auge um Auge, sprach der Herr, Zahn um Zahn, Blut um Blut!« (W I 32) Die Linie läßt sich in der Haupthandlung verfolgen über des Holofernes Wort, daß er - um sich vor ihr zu schützen - Judith »bloß ein Kind zu machen« brauchte (W I 66), über Mirzas Erinnerung an eine mögliche Mutterschaft, die Judith sogleich den Vorsatz fassen läßt: »[...] ich muß sterben, und ich will's« (W I 72). Die Nemesis erscheint auch im Spiegel der Nebenhandlungen, wie in der Episode der Mutter, die aus Liebe zum hungernden Kind gegen die priesterliche Autorität aufbegehrt und von ihr nur zu hören bekommt: »Gott läßt Dich gebären, damit er Dich in Deinem Fleisch und Blut züchtigen, Dich noch über's Grab hinaus verfolgen kann!« (W I 76) Die Samuel-Episode berichtet von dem Kind, das mit dem Zeichen des Mordes geboren wurde und seiner Mutter »vor Entsetzen« den Tod brachte. Dagegen wurde Samuel selbst, der Mörder, von der erwarteten Rache »70 Jahre und länger« nicht
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Die Mutter-Episode der Schlußszene fuhrt dies näher aus: »Darum gebären wir, daß wir unser Selbst doppelt haben, daß wir's im Kinde, w o es uns rein und heilig anlacht, lieben können, wenn wir's in uns hassen und verachten müssen« (W I 76). Judith aber ist in die Ausnahmesituation geraten, daß sie ihr Selbst auch im Kinde nicht lieben dürfte, wenn sie es in sich schon »hassen und verachten« muß.
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heimgesucht (W I 32). In solche Perspektive rückt Judith, wenn sie in der Mutterschaft die Rache für den schuldhaften Mord fürchten muß. Aber sie hebt sich auch exzeptionell von den verwandten Konstellationen (MutterKind und Schuld-Strafe) ab, indem sie sich nicht nur auf ein >Müssen< zurückzieht, sondern auch zu einem >Wollen< aufruft. Denn ihr Vorsatz zielt darauf ab, den Nemesisvollzug nicht als Verhängnis von oben hinzunehmen, sondern ihm ihrerseits durch eine freie Handlung zuvorzukommen (vgl. Τ 1044). Noch in ihrer >nihilistischen< Entschlossenheit, in ihrer Weigerung, die gerechte Vergeltung als ein Letztes anzunehmen, bekundet sich ein Wille zur tragischen Selbstbehauptung, und zwar gegen Gott. N u r vordergründig hat Judith das Volk vor Augen, wenn sie ihm das Versprechen abverlangt, ihr im schlimmstmöglichen Fall den Tod zu geben. Das Volk ist ihr gleichgültig geworden, in seiner konkreten Verhaltensweise geradezu widerwärtig. Vor allem: Das Volk hat es nicht in der Hand, das Schicksal ihrer Mutterschaft zu beeinflussen. Sie wendet sich also an die Bethulier, aber sie meint dabei unzweifelhaft Gott, in dessen Namen die Tat einzig >erlaubt< gewesen wäre, doch nicht ausgeführt werden konnte. Gegenüber Hebbels zitiertem Kommentar (vgl. Τ 1989) läßt die Linienführung der dramatischen Darstellung selbst darauf schließen, daß sich Judith nicht als Opfer »für ihr Volk« sieht (aus dessen »Kreis« sie ja auch heraustritt: vgl. W I 81), sondern als Opfer für Gott. Das Bemerkenswerte des Schlusses ist nun, daß sich aus der Opferrolle heraus eine Revolte gegen die Macht andeutet, die sie ihr aufgezwungen hat. 87 Judith nimmt eine Position ein, in der sie mit freier Entscheidung die Verbindlichkeit des göttlichen Schicksals aufhebt. Gott wird vom Menschen als Gegner >gestelltJudith< gehört und in mancher Hinsicht - auch auf die Intention des Schlusses - wie ein Kommentar zu Hebbels Tragödie gelesen werden kann: Sartres Drama >Les mains sales< (Die schmutzigen Hände) von 87
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Die Interpretation H. Kreuzers hat - mit Blick zugleich auf die Volksszene des fünften Aktes - diesen Z u g zur »Rebellion gegen Schöpfer und Schöpfung«, zur »metaphysischen Revolte« überscharf herausgestellt (vgl. Die Tragödien Friedrich Hebbels [s. A n m . 2]. S. 47f.; Die Jungfrau in Waffen [s. Anm. 11]. S. 373f.). Ähnlich sieht W. Wittkowski in Hebbels Drama einen >prometheischen< »Aufstand [ . . . ] gegen den unbedingten, außersittlichen Autoritätsanspruch der Religion« (wie Anm. 5, S. 267). O b Hebbels Tragödie in der Tat so entschieden votiert, wird noch zu fragen sein (im nächsten Kapitel).
1948· 8 8 A u s dem religiös motivierten Mord wird hier der politische bzw. ideologisch diktierte Mord. D e r Rolle der jungfräulichen Witwe, die wider ihre Natur zur Tat getrieben wird, entspricht der Status des Intellektuellen, der nach einem Auftrag der »Partei« verlangt, um sich in der Praxis zu bewähren. 89 Im Augenblick des Mordes ist aber in H u g o nicht das ideologische Diktat wirksam, sondern ein verwirrtes persönliches Motiv, nämlich die Eifersucht, die mindestens ebensosehr Hoederer wie Jessica gilt. Ausgelöst wird die Handlung durch den »Zufall« der Situation: »Hätte ich die Tür zwei Minuten früher oder später geöffnet, dann hätte ich sie nicht dabei überrascht, wie sie sich in den Armen lagen, und hätte nicht geschossen.« H u g o weiß, daß für die Partei als Auftraggeber nicht seine Motive wichtig sind, sondern »nur das Ergebnis zählt«. Aber damit will er sich nicht abfinden: »Es gelingt mir nicht, den Mord von meinen Motiven zu trennen.« 9 0 U n d den Funktionären der Partei kündigt er seinerseits sein Funktionsverhältnis auf - damit wählt er den Tod. A m Ende von Sartres Stück steht Hugos Wort: »Nicht verwendungsfähig.« 9 1 Ist nicht Judiths Haltung gleichen Sinnes? Verblüffend erscheint auf jeden Fall das Ausmaß der Ubereinstimmung zwischen den Dramen Sartres und Hebbels: bis in dramaturgische Details hinein schlägt das alte Muster durch. Das reicht von der Motiwerschiebung, deren Wichtigkeit dem Dichter der >Judith< aufgegangen ist (vgl. Τ 1756), bis
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Daß sich Sartre mit Hebbels Drama tatsächlich befaßt hat, belegt Kurt Wais durch eine entsprechende mündliche Äußerung des Autors (Schillers Wirkungsgeschichte im Ausland. In: D V J S . 29, 1955, S. 504). Einige Hinweise auf Parallelen zwischen >Judith< und >Die schmutzigen Hände« gibt bereits H. Kreuzer (wie Anm. 11, S. 337Γ.); diesen Vorstoß versuche ich weiterzufuhren. Im Vergleich mit Sartre hat auch Michel Vanhelleputte im »detachement« von Gott die »modernite« von Judith - und zugleich die »modernite« von Hebbels Drama - gesehen; er bleibt aber auf den unergiebigeren Vergleich mit Orest (in >Les mouchesJudith< de Hebbel. In: Etudes Germaniques. 18, 1963. S. 4 1 9 - 4 3 1 . Bes. S. 43of.). Die psychologische Sonderstellung Judiths geht bei Sartre auf Hugos Frau Jessica über, die glaubt, »nicht Frau, nicht Mädchen« zu sein, und von Hoederer - wie Hebbels Heldin von Holofemes — erotisch angezogen wird. Auch Hugo bekennt, Hoederer (der übrigens politisch nachträglich recht bekommt) »geliebt zu haben, mehr [ . . . ] als irgend jemand auf Erden« (Zitate in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens nach: Jean-Paul Sartre, Dramen. 1949, '1958. S. 249 u. 252). Ebd. S. 251. Ebd. S. 256. - Vgl. Hugos Reaktion, welche die in der Sprache sich verratende Instrumentalisierung aufdeckt: »Verwendungsfähig! was für ein komisches Wort. Verwendungsfähig. Verwendbar. Das ist ein Wort fur die Leute bei der Müllabfuhr, nicht wahr?« (ebd. S. 252f.). Hebbel drückt dies bekanntlich so aus: »Einen Menschen zum bloßen Mittel herab zu würdigen: ärgste Sünde« (T 1611). 109
in die zentrale Problemstellung hinein. Hier wie dort wird der Mord erst aus der Verwirrung der Situation heraus möglich; hier wie dort bedeutet er auf Grund der psychologischen Konstellation einen Selbstverlust des Täters bzw. der Täterin; hier wie dort entsteht ein menschlicher >ProblemrestVersuchung< einer theologischen Entlastung zurück (wie Hugo diejenige einer politisch-ideologischen) und verteidigt das Schuldbewußtsein als Residuum ihrer Menschlichkeit. Darin liegt, obzwar unausdrücklich, die Zurücknahme der Uberzeugung, in deren Zeichen sie einst gegen Holofernes ausgezogen ist: daß vor Gott »das Unreine rein« wird (W I 26), daß der Herr »jeden Weg« reinigt schon »dadurch, daß er ihn wandelt« (W I 36). Darin liegt auch, daß das »Werkzeug«, zum »Opfer« geworden, 93 seine weitere Verwendbarkeit annulliert. Hebbels Drama zielt in der Ausarbeitung einer geschlechtsspezifischen Tragik zugleich auf die Emanzipation des Menschlichen von der theokratischen Autorität. Ein »verfängliches Thema«, von Gutzkow verschenkt (vgl. Τ 1673), ist damit im wirklichen Durchschreiten des Problems gestaltet worden und die Kunstform in ihr Recht eingesetzt, die solches vermag. Hebbels Tragödie, die so polemisch-reaktionär gegen die »Weiber-Emancipation« Front zu machen scheint (vgl. Β II 103), stellt - recht verstanden den »Triumph des Weibes« (Β I 361) dar. Dies entdeckt sich freilich erst, wenn man der gattungspoetischen Vorausforderung entspricht: Gemäß der Logik der Tragödie will ein tragisches Scheitern zugleich als höchste Auszeichnung verstanden sein. 94 Es bleibt allerdings die Frage, ob die Tragödie
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Sartre (s. Anm. 89), S. 251. H. Kreuzer hört aus dem Terminus »Werkzeug« bei Hebbel, bezogen auf das Verhältnis zwischen Gottheit und Mensch, die Anklage einer frevelhaften »Verdinglichung« des Menschen heraus (vgl. wie Anm. 1 1 , S. 373f.). Dies gilt aber nur unter der Gattungsbedingung der Tragödie, während der Wortgebrauch etwa in der »Geschichte der Jungfrau von Orleans* unproblematisch ist (vgl. etwa W I X
239)· Hans Mayer, der das >kritische< Unternehmen von L. Lütkehaus (s. Anm. 1) bereits vorweggenommen hat, ignoriert m. E. diese gattungsspezifische Forderung, wenn er das Drama nur zum Anlaß nimmt, Hebbels »ideologische Position« als »Selbstverständigung einer bürgerlichen Gesellschaft darüber« zu bestimmen, »daß die Gleichberechtigung der Frau, ihre Politisierung gar und Aktivierung,
um 1840 noch die geeignete literarische Form ist, um ein derart drängendes wie komplexes - und von Ressentiments eingekreistes - Problem wie die Gleichberechtigung der Frau diskutieren zu können. -Zweifellos sind für Hebbels Drama und seine fundierenden Anschauungen auch traditionsbedingte Sperren wirksam. So möchte man ein kritisches Zeugnis von Gustav Kühne mit Vorbehalt aufnehmen, das den Zusammenhang von >Judith< mit dem »großen Zeitgedanken« der »Emancipation der Frauen« positiv akzentuiert.95 Doch muß man wohl auch nicht den Eindruck teilen, Judith rede »Blödsinn« und Hebbels Drama biete einen »scheußlichen Text«.96 Eines aber wird man festhalten dürfen: den Kampf mit Gutzkows emanzipatorischer »Zweiflerin« hat Hebbels tragische Heroine gewonnen - in jeder Hinsicht.
4. Der gestellte G o t t Ohne die vom Dramatiker bewerkstelligte >Anknüpfung< der Individualität an die Gottheit ist die Tragödie >Judith< in Ansatz, Durchführung und Resultat nicht zu verstehen. Doch zieht man Hebbels Religionsdenken zu Rate, um sich der Tragödie auf diesem Wege zu nähern, stößt man auf nicht geringe Schwierigkeiten, so verwirrend kreuzen sich die Linien, so kontradiktorisch gehen hier die Tendenzen auseinander. Keine systematisierende Betrachtung vermag Einheit und Konsistenz in den Fragenwirbel zu bringen. 97 Man hat in der Absetzung von der Nihilismus-These das Gottesbild des Alten Testamentes,' 8 aber auch die Glaubensproblematik des 19. Jahrhunderts als maßweder
möglich
S. yof.).
sei
noch
wünschenswert«
(Außenseiter.
1977
[zuerst
1975].
Ü b r i g e n s hat s c h o n O . W a l z e l d e m D i c h t e r d i e A b s i c h t unterstellt, in
J u d i t h die F r a u z u » d e m ü t i g e n « , aber sich i m m e r h i n v o m T e x t d a r ü b e r b e l e h r e n lassen, w i e sie - g e m e s s e n a m ( v o r w i e g e n d m ä n n l i c h e n ! ) V o l k - z u » ü b e r r a g e n d e r G r ö ß e « e m p o r w ä c h s t ( w i e A n m . 2, S. 83). 95 96
W i e A n m . 1, S. i3of. S o in f e m i n i s t i s c h e r A u f g e r e g t h e i t die T h e a t e r k r i t i k e r i n S i b y l l e W i r s i n g ( V e r g e w a l t i g t e V e r f ü h r e r i n . H e b b e l s >Judith< i m [ B e r l i n e r ] S c h i l l e r - T h e a t e r . In: F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g . N r . 41, 18. 2. 1987. S. 25).
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A n dieser D i s k r e p a n z ist die ältere B e s t a n d s a u f n a h m e v o n J. F r e n k e l (s. A n m . 29) g e s c h e i t e r t , die n i c h t e i n m a l als s t o f f l i c h e r Ü b e r b l i c k g e n ü g e n k a n n . D e r v o n A r n o S c h e u n e r t b e z o g e n e S y s t e m - B e g r i f f f ü h r t hier z u e i n e m h a r m o n i s i e r e n d e n
Heb-
b e l - B i l d ( v g l . e b d . S. 20), aus d e m der » D u a l i s m u s « v e r t r i e b e n ist ( v g l . e b d . S. 6 f . , 19 u. 50) u n d das h i n s i c h t l i c h der >Judith< n i c h t v o n e i n e m S c h a t t e n der A b g r ü n d i g k e i t g e s t r e i f t w i r d , in d i e das G o t t e s v e r h ä l t n i s f u h r t ( v g l . e b d . S. 33fr.). N ü t z l i c h e r i m M a t e r i a l w e r t ist d i e k o m p i l i e r e n d e , a l l e r d i n g s v o n c h r i s t l i c h e r A p o l o g e t i k m i t b e s t i m m t e Arbeit v o n G u s t a v Pfannmüller: D i e Religion Friedrich Hebbels a u f G r u n d der W e r k e , T a g e b ü c h e r u n d B r i e f e d a r g e s t e l l t . 1922. 98
S o H . K r e u z e r ( w i e A n m . 2, S. 4 5 f f . u . 308) u n d W. W i t t k o w s k i ( w i e A n m . 5, S. 266f.).
III
geblich angenommen." Beides muß sich jedoch für Hebbel im Allgemeinen und >Judith< im Besonderen nicht ausschließen. Im folgenden geht es darum, die Behandlung der religiösen Thematik in Hebbels Tagebüchern aufzusuchen, soweit sie zeitlich auf die Entstehung von >Judith< hinführt bzw. noch in erkennbarer Beziehung zum Fragenkreis der Tragödie steht (also bis 1843). In diesem Kontext soll die Frage nach dem Tragödiengott gestellt und schließlich seine Spur im Drama selbst verfolgt werden. a) Vom Religionsdenken zur Tragödie Es gibt eine auffällige Tendenz des Tagebuch-Schreibers, die religiöse Welt anthropologisch vorzustellen oder gar aufzulösen. So spielt er mit dem Gedanken, Gott als dem »Inbegriff aller Kraft, physischer, wie psychischer«, IO° auch »sinnliche Begierden« zuzusprechen (T 77). Wird Gott dabei via eminentiae vom Menschen her vorgestellt, so ist die Religion in verwandten Reflexionen als »die höchste Eitelkeit« (T 79) oder auch als »erweiterte Freundschaft« (T 492) in die menschliche Welt zurückgeholt. Ihre Geltung erscheint dann durch »das Thun des Menschen« bedingt, der Zusammenhang »mit dem Ewigen« in die Kraft-Entfaltung des Menschen gegründet: »Alle andere Religion ist Dunst und leerer Schein« (T 1211). Oder: »Die Religion wächs't, wie der Mensch wächs't, wer immer unten bleibt, kann sie gar nicht haben« (T 2500). Diese anthropologische Tendenz verschärft sich gelegentlich zu kritischer Desillusionierung: »Es ist merkwürdig und u n l ä u g b a r , daß die Verbesserung der Religions-Ideen mit dem V o r t h e i 1 der Menschheit Hand in Hand ging« (T 1336). Das Argument kann aber auch so gewendet werden: »Religion ist die Phantasie der Menschheit, das Vermögen, alle Widersprüche nicht aufzuheben, sondern zu verneinen« (T 1853). Immer wieder begegnet man bei Hebbel einem anthropologischen Religionsverständnis, bei dem man sogleich an Feuerbach denkt. 1 0 1 Aber in dieser 99
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So Herbert Kraft, Poesie der Idee. Die tragische Dichtung Friedrich Hebbels. 1971. S. 58 - mit kritischer Bezugnahme auf J ö r g Magers These von einem »Gott der Urzeit« (Zeitkritik und Uebermenschengedanke bei Friedrich Hebbel. 1934. S. 165). Z u »Kraft« als Definitionsmoment auch der Gottheit - einem pantheistischen Denken zugehörig, das bei Hebbel freilich schon im Obergang zu einem anthropologischen Realismus steht - vgl. ferner Τ i i 6 2 , Ι 2 Π , 1963, 2319, Β I 163 u. 331. Z u Feuerbachs Einwirkung auf Hebbel sind einige Irrtümer und Schiefheiten in Umlauf geraten - wie häufig im Wissenschaftsbetrieb, wenn sich einer an den anderen anschließt und darüber den Blick in die Texte erspart. Die direkte Einwirkung des anthropologischen und theologiekritischen - also des eigentlichem — Feuerbach auf Hebbel kann nicht sehr hoch veranschlagt werden, wenn dieser 1848
Richtung kommen keineswegs alle Fragen an ein Ende. Das eigene Ich kann unversehens in die Denkbewegung hineingeraten, die Erfahrung des Glaubensverlustes als Ursache dafür bemerklich werden, »daß ich's noch nie so sehr, wie jetzt, gefühlt habe, daß der Glaube an ein Höchstes, nicht bloß in der Menschheit, sondern auch im e i n z e l n e n M e n s c h e n , mir unbedingt zum Leben selbst nothwendig ist« (T 591). Aller religiöse Glaube wäre demnach eine Sache der Lebens-Notwendigkeit oder auch nur der Nützlichkeit, der Bedürftigkeit: »Müßte man an der Würde und Wahrheit des Welt-Fundaments zweifeln, so müßte man untergehen« (T 1207). E s bleibt dennoch möglich, diesem Zweifel zu folgen und Alles, was im Lauf der Zeit allgemeiner Glaube, unumstößlich scheinende Satzung geworden ist, auf das persönliche, individuelle Bedürfniß zurück zu führen; nur dadurch gelangt man zu einiger Freiheit der Erkenntniß. Man macht auf diesem Wege die merkwürdigsten Entdeckungen, z.B. daß Gottes Mantel aus dem Schlafrock des Menschen und aus dem Gespenster-Anzug seines Gewissens zusammen gestückt ist (T 1335, vgl. schon 158). Ist einmal der Mensch, so oder anders, als Subjekt der Gottessetzung festgestellt, dann erhält er damit die Freiheit, diese Setzung auch wieder aufzuheben - oder er gerät vor die Nötigung, sie als Projektion der eigenen Bedürferst nachträglich feststeht, daß er »in unendlich Vielem mit ihm übereinstimme« (T4453). Es ist mir unerklärlich, wie W. Ritter bereits fur die Zeit von 1828 bis 1840 Hebbel mit Feuerbachs >Das Wesen des Christentums< (erschienen 1841) und >Das Wesen der Religion< (1851) in Verbindung bringen kann (vgl. wie Anm. 75, S. 37). Den Vogel schießt er ab, wenn er ein Gebet in »Judith« (entstanden 1839/40) mit einem Zitat aus >Das Wesen des Christentums«, einen Einfluß dieser Schrift auf den Dramatiker suggerierend, synchronisiert (ebd. S. nof.) und zu der Feststellung gelangt, »daß der Dichter hier noch ganz der Philosophie Feuerbachs verhaftet ist« (ebd. S. 116). Als Inspirationsquelle für den früheren Hebbel bis zur >JudithTod-Gottes-Theologie< entstammen, in der Gott nur noch als Chiffre eines menschlichen Miteinander gilt. A u f dieser Linie interpretiert Jürgen Habermas die >WeltalterStörung< der Naturordnung mit dem abschließenden Infinitiv-Satz nicht hinreichend zu beachten, also den Literalsinn des Notats zu verfehlen. Hervorhebung H. R. - Vgl. auch Τ 1339, w o Hebbel es als eine Selbstverständlichkeit hinstellt, daß der Mensch die »Weltordnung«, die ihm gegeben ist, »nicht begreift«, ferner: Β II 272. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit; 15. Buch, 5. Abschnitt (J. G. Herder, Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. 1877/1913. Bd. XIV. S. 244). Dichtung und Wahrheit, Buch X V I (im Kontext von Goethes Darstellung seines Verhältnisses zu Spinoza: G A X 73off. Zitat: S. 733). - Goethe gibt nach dem zitierten Satz zu bedenken, »wie eine Naturerscheinung, die auf Verstand, Ver119
Zwecke« doch wollte? Mit dieser Frage dürfte der Goethe-Leser Hebbel die latente Spannung des Satzes aufgenommen haben. Der Gedanke, daß die Gottheit in der Natur an eine Grenze kommt, versteht sich unter der Prämisse des Pantheismus, die noch von Hebbel zumindest für die theoretische Begründung der Tragödie - festgehalten wird. Dies bedeutet, daß der Naturbegriff in seinem Konzept nicht mechanistisch (wie es die Rede vom »Weltgetriebe« nahelegen könnte) und auch nicht in der Weise des subjektiven Idealismus aus dem Gegensatz zur Freiheitsidee heraus verstanden werden kann. Die Natur umfaßt auch die Sittlichkeit, die N a t u r ordnung ist unter spinozistischem Vorzeichen auch sittliche Ordnung. So spricht Solger aus dieser Tradition heraus von »sittlichen Naturgesetzen«, 1 1 3 desgleichen Schelling, der diese Tradition in der Identitätsphilosophie weiterzuführen versucht hat. 1 1 4 Goethe kann von den »göttlichen Gesetzen« der wirkenden Natur aus unmittelbar »sittliche Gesetze« in der menschlichen Welt ins A u g e fassen. 1 1 ' Ohne Frage ist dies der Hintergrund, auf den sich Hebbels Entwurf
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vermutlich sehr konkret - bezieht. Allerdings setzt er nicht einfach »Natur« und »Gottheit« als wesensgleich, sondern faßt Gott als den »Gipfel« der Natur auf - etwa in dem >GlaubensbekenntnisBuße< f ü r die Gottheit bedeutet, die sie sich gemäß Τ i o n durch die Übertretung der Naturordnung selbst bereitet hat, läßt sich von der Gestaltung her auf Anhieb schwer sagen. Denn es ist der Mangel des einstigen Konzepts, daß es den Menschen in seiner eigenbewegten Individualität nicht ins Spiel bringt und daher offen läßt, wie sich das Geschehen vom Menschen her darstellt. Unbestimmt bleibt auch, ob und wie die angerufene Naturordnung die von Hebbel vertretene Geschlechter-Psychologie mit umfassen soll, die ihrerseits ja für ihre Rollenfixierungen auf - vermeintlichen - Naturgegebenheiten beruht. 1 2 1 Man wird mithin in dem Entwurf von 1838 nicht einen Universalschlüssel f ü r die >JudithGenovevaWeibe< spricht, bleibt jedoch festzuhalten. I2
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Moabiter-Hauptmann, von Holofernes als Pfand seiner Siegesgewißheit nach Bethulien geschickt (vgl. W 1 1 4 ) , blickt nicht zuerst auf Judith, sondern »fällt auf die Knie« und preist: »Groß bist Du, Gott Israels, und es ist kein Gott, außer Dir!« Erst danach wendet er sich zu Judith, »faßt« er »die Hand«, in die Holofernes »gegeben ward« (W I 79). Nicht Judith hat also gehandelt, sondern Gott durch sie, der Gott, dem auch Achior künftig dienen wird. Er ist zum Propheten in eigener Sache geworden. Vor den Toren von Bethulien hatte Achior den Holofernes unterrichtet über das Volk, das als einziges die Unterwerfung verweigerte, vor allem aber über den Gott dieser Ebräer, vor dem sie sich demütigen müssen und durch den sie »furchtbar« werden können: »[...] dann ist es, als ob die Welt eine andere wird, als ob die Natur ihre eigenen Gesetze vergißt, das Unmögliche wird wirklich [...]« (W I n f . ) . 1 " Und Achior hatte den Feldherrn gewarnt: Laß forschen, ob dies Volk sich versündigt hat wider seinen Gott; ist das, so laß uns hinauf zieh'n, dann giebt ihr Gott sie Dir gewiß in die Hände und D u wirst sie leicht unter Deine Füße bringen. Haben sie sich aber nicht versündigt wider ihren Gott, so kehre um; denn ihr Gott wird sie beschirmen und wir werden zum Spott dem ganzen Lande. D u bist ein gewaltiger Held, aber ihr Gott ist zu mächtig; kann er Dir Niemand entgegenstellen, der Dir gleicht, so kann er Dich zwingen, daß D u Dich wider Dich selbst empörst und Dich mit eigener Hand aus dem Wege räumst (WI13).
Mit dem Aufzeigen dieser letzten Möglichkeit kommt Achiors Warnung auffällig jenen Phantasien des Holofernes nahe, in denen er sich den »Feind« wünscht, der ihm entgegenzutreten wagt (W I 7), den Ebenbürtigen, der ihn »darnieder wirft« (W I 64). Im Lichte dieser Prophezeiung gewinnt eine unscheinbare, daher auch wenig beachtete Episode zu Beginn des vierten Aktes Bedeutung: der Bericht, »daß Holofernes in der letzten Nacht nahe daran war, sich selbst zu tödten«, indem er in einem Alptraum den Dolch gegen sich richtete (WI 46). Gott hat einen Zug im Spiel der Mächtigen getan, ohne daß sein Widersacher darum wüßte. Holofernes fragt ausdrücklich: »[...] was hättet Ihr gethan, wenn Ihr mich nun wirklich heute morgen todt im Bett gefunden?« (W I 47). Darin liegt eine ironische Antizipation seines
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Es folgen Hinweise auf biblisch bezeugte Wunder wie die Wasserteilung auf der Flucht aus Ägypten (vgl. Mos. II 14, 2off.). Bemerkenswert ist, daß selbst hier, w o der Kontext eine strikte biblische Orientierung nahelegt, die »Natur« ganz unbiblisch - auf der Linie von Τ 1011 - als eigenständige Macht berufen wird. Sogar Judith glaubt der »Natur« ihr »Dasein« zu danken (W I 19) - Golo wird die Natur polemisch als seine Schöpferin apostrophieren (Genoveva, V. 1588). - Z u Hebbels stilsicherem wie kritisch gespanntem U m g a n g mit der Bibel vgl. im übrigen M a r y Garland, Hebbel's prose tragedies. A n investigation of the aesthetic aspects of Hebbel's dramatic language. 1973. S. 72ff. u. I09ff.
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Schicksals, nicht anders auch in der anschließend hingeworfenen Bemerkung, daß sein Tod dem ebräischen Gott zugute kommen würde. Immerhin: Der Feldherr hat sich gemerkt, daß die Ebräer von ihrem Gott nicht geschützt werden, wenn sie sich wider ihn »versündigt« haben. Daher erklärt sich sein Eingehen auf Judiths Angebot, ihm ihr sündenbeflecktes Volk in die Hand zu geben, ohne daß er, der offenbar ahnt, daß mit ihm ein Spiel getrieben wird, die Verstellung der schönen Ebräerin vollauf zu durchschauen vermöchte: »Wahrlich, wenn Dein Gott ausrichten wird, was Du gesagt hast, so soll er auch mein Gott sein [...]« (W I 54f.). Daß es ihm mit diesem Schwur ernst ist, bekräftigt er ausdrücklich (vgl. W I 57f.). Seit Achiors Eröffnung weiß Holofernes, daß sein Feldzug gegen die Ebräer ein Kampf gegen ihren mächtigen Gott ist (den er sogar im Herzen Judiths bekämpft: vgl. W I 59). Nach Judiths Botschaft versucht er einen Handel auf Gegenseitigkeit: die kampflose Ubergabe der Stadt gegen die Anerkennung dieses Jehovah...! Daß das Spiel längst schon anders steht, der Gegner schon gezogen hat, wenn er ihn mit einem solchen Arrangement zu stellen glaubt, ahnt Holofernes nicht: Der Gott Israels ist so mächtig, daß er den Mann, vor dem sich eine Welt fürchtet, durch den schwachen Arm eines Mädchens schlagen kann. Achiors »Vorherverkündigung« (W I 47) wurde doch nicht ganz verstanden. Man kann in dieser dramatischen Sequenz den Sieg des jüdischen Monotheismus über den heidnischen Polytheismus sehen und somit einen religionsgeschichtlichen Sinnzusammenhang - zumal das Thema des >Gotteswechsels< schon zu Beginn burlesk präludiert wird, wobei es noch um Baal und Nebukadnezar geht (vgl. W I 8f.). Aber für den dramatischen Perspektivismus ist nicht entscheidend, was nur die umständliche Einholung eines längst bekannten Sachverhalts wäre. Es kommt vielmehr darauf an, wie Gott sich den Menschen offenbart: als ein Gott der Macht, der Unterwerfung, ja Demütigung fordert und seine Feinde vernichtet (so daß Holofernes nicht, wie er glaubt, den Achior, sondern sich selbst unter das »Gericht« stellt: W I 14). Dieser Gott will gefürchtet werden und setzt seine Zwecke rücksichtslos durch. Auch »das Volk der Verheißung« (T 1989) ist ihm nur Instrument, kein Partner. Nicht anders sind die Individuen bis in das Innerste ihrer Natur diesem Gott unterworfen. Dies zeigt in extremer Deutlichkeit das Prophetenwunder. »Steiniget ihn! Steiniget ihn!« (W I 34) Daniel veranlaßt den Tod seines Bruders und Wohltäters Assad. Er tötet dessen Freund Samaja, der ihn für seine »Raserei« (W I 37) zur Rechenschaft hat ziehen wollen. Dabei war es Assad selbst, dem das Prophetentum seines Bruders sogleich aufgegangen ist: »Der Geist des Herrn spricht aus des Stummen Mund!« (W I 34) Man muß schon eine sehr vorgefaßte Meinung haben, wenn man die prophetischen Eruptionen des Stummen und Blinden eindeutig psychopathologisch auffaßt
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oder eine klärende Entscheidung darüber aussetzt, was auf ein Gleiches hinausläuft. 123 »Prophetie« bestimmt Hebbel als »Einwirkung der Gottheit« (T 1957), und im Blick auf das Drama bringt er »die Erscheinung des Propheten« mit der geschichtlichen Entwicklungsstufe in Verbindung, die »der unmittelbaren Eingriffe der höchsten, göttlichen Macht« noch bedarf (T 1958). Wie immer es mit der Tragfähigkeit des geschichtsphilosophischen Arguments bestellt ist, so bleibt doch für die Deutung des Prophetenwunders ein klares und verbindliches Votum bestehen. Es genügt schon ein unbefangener Blick auf die dramatische Darstellung selbst, um auszumachen, daß sie zwar in einem gewissen Zwielicht gehalten ist, darin aber keineswegs eine psychologische Auflösung religiöser Schwärmerei betreibt. Nicht um >Entlarvung< geht es, sondern um einen erregenden Zusammenhang: daß Daniel zum »Mörder« wird (W I 45), zu einem neuen Kain (W I 36) - jedoch nicht, indem er Gottes Gebot bricht, sondern indem er es erfüllt. Wie wichtig dem Dramatiker diese Episode ist, kann man schon daraus ersehen, daß er sie gegenüber der Stoffvorlage - doch mit Gespür für die altbiblische Welt - hinzugefügt hat. 1 2 4 Der Herr that Wunder unter den Vätern; die Väter waren besser, wie wir. Wenn er jetzt Wunder thun wollte, warum läßt er nicht regnen? Und warum thut er nicht ein Wunder im Herzen des Holofernes und bewegt ihn zum Abzug? (W I 36)
Samajas Fragen sind vernünftig gestellt. Die Antwort liegt im Geschehen selbst: Weil »der Herr« sich in seinem Handeln nicht an das Maß menschlicher Vernünftigkeit zu halten beliebt, sondern »Wunder« tut, wann und wie er allein will, sei es, daß er einen Stummen mit prophetischer Rede erfüllt, sei es, daß er eine weibliche Ausnahme-Existenz zurichtet, in der die Nötigung zur rettenden heroischen Tat entsteht. Gott ist der ganze Andere zu den Menschen, weit entfernt davon, sich seiner Autorität in Gnade und Liebe zu 123
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So ζ. Β . B . v. Wiese (Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 1948, 8 i973· S. 577). - Hebbel hat in späterer Bewertung seiner ersten Dramen an der Hochschätzung Daniels stets festgehalten (vgl. Β IV 148 u. 152), die Propheten-Figur neben den »Volksscenen« als »Bleibendes« von >Judith< beansprucht (Β V 47, vgl. 195) - wie er auch den »tollen Claus« im Hinblick auf sein »Gottes-Bewußtseyn« für »die höchste Spitze« von >Genoveva< erklärt hat (Β V I 142). K . Zieglers Behauptung, daß die »legendär-märchenhaften Wunderelemente« etwa der Schillerschen Jungfrau von Orleans< bei Hebbel »durch die ausschließliche Konzentration der Darstellung auf die empirische Wirklichkeit ersetzt« würden (Hebbel - Judith [s. Anm. 13]. S. 120), stellt eine geradezu unglaubliche Verfälschung der literarischen Wirklichkeit dar. Ober diese hätte sich K . Ziegler wenn schon nicht im Dramentext selbst, so doch in der älteren Forschungsliteratur unterrichten können, etwa bei H. Meyer-Benfey: »Erst Hebbel hat Wunder und Mirakel eingeführt« (wie Anm. 1 1 , S. 147). Sehr zu Recht stellt W. Wittkowski gegen K . Ziegler die Dinge wieder richtig (vgl. Hebbels >Judith< [s. Anm. 48]. S. 183; Der junge Hebbel [s. Anm. 5]. S. 244 u. 248f.).
begeben. Er kann einen Samaja schlagen, aber er kann die Fragen nicht aus der Welt schaffen, die dieser gestellt hat: Fast scheint es, als benutze das Drama den Stoffzwang, der die Rettung an Judiths Tat bindet, als Mittel, um Gott mit dem Verdacht tyrannischer Willkür zu überschatten. Die Gestaltungsweise macht jedenfalls unzweideutig klar, daß sich die aufgeworfenen Fragen nicht schon in der >offiziösen< Erklärung des Prophetenwunders durch den Priester beruhigen. Das letzte Wort behält Delia, das Weib des getöteten Samaja: »Weiter haben sie keinen Trost für mich, als daß sie sagen: Er, den ich liebte, sei ein Sünder gewesen« (W I 45). In der Verzweiflung der Alleingelassenen klingt Protest an, vordergründig gegen Volk und Priester, hintergründig gegen Gott. Dieser Zug wird aufgenommen und verstärkt in der Volksszene des fünften Aktes, die die Not der Bethulier drastisch zeichnet und den Gedanken aufsteigen läßt, daß die »Rettung«, wenn sie noch käme, »zu spät« käme (vgl. W I 7jff., bes. 78). Die Not ist so groß, daß eine Mutter ihrem eigenen Kind gegenüber kannibalische Regungen verspürt. Den Aufzeichnungen aus meinem Leben< läßt sich entnehmen, welche persönliche Bewandtnis es für Hebbel mit diesem Motiv hat, das ihm aus der Bibel - »diesem düstern Buch« - bekannt geworden ist, und zwar aus der Weissagung des Propheten Jeremias: 12 ' Ich erinnere mich noch, welch ein Grausen diese Stelle mir einflößte, als ich sie hörte, vielleicht, weil ich nicht wußte, ob sie sich auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft, auf Jerusalem oder auf Wesselburen bezog, und weil ich selbst ein Kind war und eine Mutter hatte (W V I I I 88).
Im Drama ist es Gott selbst, der dieses »Grausen« erzeugt, dieses »Entsetzlichste« zuläßt, daß eine Mutter in ihrem Kind nur noch »ein Stück Fleisch« sieht und auf seinen Tod lauert (vgl. W I 7ji.). Das Rechten mit Gott, der sein Volk dermaßen leiden läßt, steigert sich in dieser Szene immerhin bis zu seiner >VerfluchungSchmollenIch< gesagt wird« (wie A n m . 4, S. 32). U n d es trifft einfach nicht zu, wenn B . v. Wiese behauptet, daß alle Vorgänge des Dramas »ganz aus der menschlichen Seele und nur aus ihr heraus erwachsen« (wie A n m . 123, S. 574).
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W. Wittkowski sieht durchaus, daß Judith »mit zögernden und halben Worten spricht«, meint aber auf die so beschaffene Textbasis einen gewaltigen Interpretations-Bau türmen zu können: »Diese ihre sittliche Autonomie ist zur unangreifbaren Burg ihrer Existenz geworden« (wie A n m . 5, S. 285). Die Gestaltung ist weit davon entfernt, ein solches moralisches Pathos in sein Recht zu setzen. W. Wittkowski hat zu unbedenklich Hebbels spätere >Wahabitinfrei< entwickelt werden kann, sondern daß als >Entschluß< (vgl. Τ 3713) eine apriorisch regulierende Gattungsgesetzlichkeit am Werk ist. Das »Calderon'sche Drama« wird Hebbel als Theoretiker wegen »seiner starren Abhängigkeit vom Dogma« kritisieren (W X I 41). Aber sein eigenes Religionsdrama, das sich mit einer heilsgeschichtlichen Rolle des Menschen nicht begnügen will, kann doch dessen Prinzipiierung nicht durchsetzen. Für die Schlußbilanz gilt auch hier die Logik von der Notwendigkeit des Verrats und der Schuld des Verräters, 135 ohne daß dieser Dualismus als flammende Anklage auf die Gottheit zurückschlüge, die ihn doch gesetzt hat. Die Kritik regt sich mitsamt ihrer politischen Konnotation (Vormärz-Absolutismus!), wagt aber nicht den offenen Kampf gegen die alte Autorität. Diese hält, wie es scheint, die Herrschaft in ewigen Händen, während der Mensch ausgebrannt und ungetröstet zurückbleibt. Im Zuge einer für Anfang 1837 dokumentierten Beschäftigung mit Lessings >Die Erziehung des Menschengeschlechts< (vgl. Τ 561) dürfte Hebbel vor allem der Fluchtpunkt dieses aufklärerischen Entwurfs gefesselt haben: daß der Mensch gerade dann die Absicht Gottes verwirklicht, wenn er danach strebt, sich als Mensch auf sich selbst zu stellen und von Gott unabhängig zu machen. Diese Konsequenz versucht der Dichter der >Judith< noch zu verschärfen, nämlich als tragische Antinomie zwischen Mensch und Gott zu fassen. Dadurch aber begibt er sich der Möglichkeit, die Antinomie nach dem Maßstab einer kritischen Vernunft aufzulösen. Denn die Logik der Tragödie kann nicht gestatten, daß ihrer höchsten Instanz die Gefolgschaft aufgekündigt wird. Die Gottheit bleibt jenes alte Schicksal, das den Menschen bedrohlich heimsucht und keineswegs in einem Vernunftzusammenhang aufgeht. Lessings Entwurf wäre somit eine Gegenprobe auf Hebbels erste Tragödie. Zur Klärung von Hebbels tragischer Theologie kann es dienlich sein, wenn sie vergleichsweise auf repräsentative Positionen der Zeit bezogen wird. Dabei wäre der in der Forschung gelegentlich anklingende Vergleich mit
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Schreibung von Judiths Situation gelten - nur daß in der Glaubenshaltung zugleich ein Protestimpuls keimt, der sie wiederum in die Nähe der Rebellen (s. o.) bringt. Vgl. Calderon, Das Leben ist ein Traum. Übersetzt von Eugen Gürster. 1955. S. 93·
Kierkegaard nur als Antithese möglich.' 3 6 Anders steht es mit Schopenhauer, den der frühe Hebbel gar nicht gekannt hat und dem er doch im Grundakkord sehr nahekommt. Man könnte meinen, einer Paraphrase von Hebbels Tragödie zu begegnen, wenn man beim philosophischen Pessimisten liest: »f...] hat der Herr Jehova sein Werk und Spielzeug genugsam abgenutzt und abgequält, so schmeißt er es weg, auf den Mist: das ist der Lohn für dasselbe.«' 37 Doch muß man hinzufügen, daß der Dramatiker der >Judith< vor einer derart überdeutlichen conclusio auch wieder zurückschreckt. Gemeinsames und Unterscheidendes lassen sich schon in bezug auf Hebbels erste Tragödie im Sinne seiner späteren Äußerung auseinanderlegen: »Schopenhauer macht aus dem Pessimismus ein System und geht darin auf. Bei mir findet er sich als ein Element; mir rundet sich die Welt immer mehr und mehr [..,]«' 3 8 Von einer >Abrundung< ist der verfinsterte Dramatiker der >Judith< noch weit entfernt, aber auch dem Pessimismus der totalen Verneinung will und kann er sich nicht überlassen, sei es auch um den Preis einer widerwilligen Anerkennung der alten Autorität. Schließlich ist auf eine unvermutete innere Verwandtschaft der Gottesproblematik in >Judith< mit einem Entwurf hinzuweisen, der über Jahre hin auch in Konkurrenz zu Hebbel - ein gigantisches künstlerisches Unternehmen im Gefolge haben wird: Richard Wagners Tetralogie >Der Ring des NibelungenFurcht und Zittern< (1843) - , der noch das Ethische verläßt, sondern will doch gerade auf die Selbständigkeit des Menschen vor Gott auf der Basis des Ethischen hinaus. 137 Parerga und Paralipomena (1850); Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. v. Löhneysen. 1961/65. Bd. IV. S. 157 (auch zit. — freilich mit anderer Folgerung von D . Gerth, wie Anm. 4, S. 37). •3 8 Nach einer durch Eduard Kulke überlieferten Gesprächsäußerung von 1862 (zit. nach: P. Bornstein, wie Anm. 24, S. 219). 139 Der Nibelungenmythus. Als Entwurf zu einem Drama (1848); Gesammelte Schriften und Dichtungen. Hg. von Wolfgang Golther. o. J . Bd. II. S. 157.
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Z u dieser hohen Bestimmung, Tilger ihrer eigenen Schuld zu sein, erziehen nun die Götter den Menschen, und ihre Absicht würde erreicht sein, wenn sie in dieser Menschenschöpfung sich selbst vernichteten, nämlich in der Freiheit des menschlichen Bewußtseins ihres unmittelbaren Einflusses sich selbst begeben müßten. 140
Natürlich sind Unterschiede nicht zu übersehen. Wagner argumentiert auf der Basis von Feuerbachs Anthropologie und entwirft eine Kunstmythologie, die auf einen bestimmten Symbolismus (auch für das Politische) hinauswill, nicht aber auf eine inhaltliche Verbindlichkeit (oder auch gezielte TheologieKritik) Anspruch machen kann. Damit steht es bei einem Drama wie >Judith< anders, das sich in eine beglaubigte - wenn auch krisenhaft erschütterte religiöse Tradition hineinstellt. Aber man begegnet bei Hebbel und bei Wagner doch einer gemeinsamen Tendenz, einer Jahrhundert-Tendenz, die ebenso als Rückfall hinter die Aufklärung wie als ihre kühne Verschärfung beschreibbar ist: Der Mensch hat die Schuld der Gottheit zu büßen, aber er zieht daraus die Konsequenz, daß er die alte Autorität selbst vor ein Gericht stellen darf.
5. Holofernes oder Das poetische »Kraft«-Gefühl Von dem Mann, gegen den sich Gottes Rettungswerk, ausgeführt durch Judith, gerichtet hat, ist bislang in dieser Untersuchung nur am Rande die Rede gewesen: von Holofernes. Das scheinbare Versäumnis erweist sich als Folge der Problemverschiebung, die das Drama am Ende vornimmt. Zwar droht noch der Schatten des heidnischen Feldherrn herein, insofern nämlich, als er Judith zur Mutter gemacht haben könnte. Aber daß der Feind des von Gott auserwählten Volkes - und darum auch der Feind Gottes selbst - geschlagen worden ist, spielt am Ende beinahe keine Rolle mehr. Nicht Jubelchöre steigen zum Himmel empor, sondern das Zusammenwirken Gottes mit dem Menschen wird vom Menschen aus einer bitteren Bilanz unterworfen. Das dramatische Interesse richtet sich ausschließlich darauf, wie die vom Schicksal geschlagene Judith an der theokratischen Autorität rüttelt, das >Werkzeug< sich gegen den Werkmeister aufrichtet - die Erinnerung an ihre Heldentat ist schon begraben wie der Kopf des Holofernes.
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Ebd. S. 158. - Im ausgeführten Werk wird Wotan, die zentrale Figur der Tetralogie, enthüllen: »Der Fluch, den ich floh, / nicht flieht er nun mich: - / was ich liebe, muß ich verlassen, / morden, was j e ich minne, / trügend verraten, / wer mir vertraut« (Die Walküre, 2. Aufzug; ebd. Bd. V I . S. 42). Der Gott bekennt sich also als jemand, dem nicht zu trauen ist und der, selbst im tragischen Zwiespalt, menschliche Tragik begründet - ersichtlich nicht fern von Hebbels Tragödienkonzeption!
Ein tragischer Problemträger ist der Mann nicht gewesen, der mit tyrannischer Gewalt ins Drama eintrat. Um so reichhaltiger ist die rhetorische Ausstattung der Figur, seit jeher Anlaß zu ausschweifenden Assoziationen, aber auch zu Mißbilligung und Parodie. Schon die zeitgenössische Kritik hat ihre Entdeckungsfreude spielen lassen, etwa moniert, daß Hebbel den Holofernes »auf gut jungdeutsch metamorphosirt« habe, 141 oder »dem Recken« angesehen, »daß er bei Grabbe in die Schule gegangen war«. 142 Julian Schmidt, der Hebbel ohnehin »auf einem Abwege« sah, befand über Holofernes: »ein Richard III., der den Feuerbach studirt hat«. 143 Besonders assoziationsfreudig gibt sich in der späteren Interpretationsgeschichte Klaus Ziegler, der die Figur rückläufig mit dem Sturm und Drang, Heinse, Grabbe und Büchner in Verbindung bringt, in der anderen Richtung aber mit Hinweisen auf Nietzsches »Ubermenschen« sowie auf Wedekind, den Expressionismus und den frühen Brecht (>Baalzitternden< Judith, getragen vom Gefühl der »Kraft«, zur Antizipation der eigenen Göttlichkeit ansetzt, betrachtet Hebbel »Kraft« als das Lebensprinzip in Individualität, Natur und Gottheit.' 58 Dabei ist nicht schon eine eindeutig biologistische oder materialistische Bedeutung zu unterstellen, wenn diese auch tendenziell aufscheinen mag. »Kraft« besagt bei Hebbel in der Regel: Möglichkeit zur Äußerung, zur Wirkung, auch: zur Schöpfung. Wie häufig ist es die künstlerische Selbsterfahrung, von der aus der Begriff seine anschauliche Kontur gewinnt und so auch wieder >metaphysisch< gebraucht werden kann. Schillers Frage nach dem Verhältnis des >Naiven< und >Sentimentalischen< in der Dichtung nimmt daher für Hebbel - in einem Aufsatz von 1847 - die Form an: »Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntniß zu einander?« (W X I 77) Hier wird die Dichtung auf »die schaffende Natur« zurückgeführt und als wechselseitige Durchdringung von »Kraft« und »Erkenntniß« verstanden (W X I 78), das »Bewußtsein« also als Moment des schöpferischen Prozesses anerkannt, soweit es nicht schon die »Form« der »Reflexion« angenommen hat (W X I 79) denn diese droht, wie es 1854 heißen wird, zur »Selbstzerstörung« der künstlerischen Schöpfung zu führen (W X I I 74). Natürlich gibt es gute Gründe, diese Inspirationstheorie als durchsichtige Stilisierung eines Reflexionsdichters par excellence zu nehmen, als den sich Hebbel »so schrecklich genau« kennt (vgl. Τ 3997). Aber sie bezeichnet recht genau die Art, wie der Dramatiker den Subjektivismus des Holofernes aufbaut und gewähren läßt, nämlich als Selbstentfaltung einer irrationalen »Kraft« in eine Vorstellungswelt, ohne daß eine Reflexion hemmend oder brechend einträte, die sie - im Wortsinne - wieder auf das vorstellende Subjekt >zurückbeugt< und ihr so ein persönliches Maß gibt. Daß sich in Holofer-
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Die Individualität existiert durch »die dem Ganzen [ . . . ] geraubte Kraft« (T 2262); der Natur »liegt eine ungeheure, geheimnißvolle Kraft zum Grunde«, die »in ihren Erzeugnissen keineswegs aufgeht« und »immer concentrirt« ist, während die Kraft der Menschheit »unter die Einzelnen vertheilt« und daher ohne »Concentrationsmöglichkeit« ist (T 1765); Gott ist »der Inbegriff aller Kraft« ( T 7 7 ; vgl. dazu weitere Belege in Anm. 100).
nes ein Hang zum Monologischen,' 59 ja zum Lyrischen 1 6 0 durchsetzt, weist die Figur als Exponenten des poetischen »Kraft«-Gefühls aus. Daß diese subjektivistische »Kraft«-Exaltation sperrig aus dem Drama heraussteht, verleiht ihr noch mehr als einen persönlichen oder weltanschaulichen »Bekenntnissinn« (Meyer-Benfey). Darin manifestiert sich die Subjektivität des Dichters, sofern sie sich dem Formpostulat der Tragödie nicht ungebrochen fügen kann. In den Wortkaskaden des Holofernes läßt Hebbel sein poetisches »Kraft«-Gefühl »Sturm [...] laufen«, in der Tat dem »Reiter« vergleichbar, »den seine Rosse verzehren« (W I 65). Nicht nur nihilistisch getriebene Selbstüberhebung findet hier statt, die sozusagen schon auf dem Punkt steht, sich in die Fratze ihrer selbst zu verzerren. Die lyrisch-rhetorische Redundanz des Holofernes antwortet in gewisser Weise auf das schon herausgestellte Problem: daß gattungspoetisch die Unterwerfung unter einen Schicksalsgott erzwungen wird, die inhaltlich nicht mehr bejaht werden kann. Wie Holofernes in seiner >Maßlosigkeit< korrigiert wird durch die Faktizität seines Untergangs, so entspringt umgekehrt seine rhetorische >Maßlosigkeit< einer menschlichen Rebellion gegen die theokratische Autorität - und zwar einer Rebellion des Dichters selbst, die in die sprachliche Gebärde flüchten muß, da sie in die dramatische Struktur nicht eingehen kann. Während der Entstehung von >Judith< notiert Hebbel: »Form entspringt aus der Ausdehnungskraft des Theils, gegenüber der Ausdehnungskraft des Ganzen; sie bezeichnet den Punct, w o Beide einander neutralisiren« (T 1728). Die Überlegung wird >sprechendüberwältigend< siegen, »Satisfaction [...] durch den Untergang des ihr [...] widerstrebenden Individuums« erhalten (W X I 31). Diese Konstellation aber scheint Hebbel produktionsästhetisch unter einen subjektiven Vorbehalt zu stellen, nämlich auf den »Dichter« hin zu relativieren. In diesem zweideutigen Sinne
•5» V g l . K. Ziegler, Hebbel - J u d i t h (s. A n m . 13). S. ι ο 5 ί ί u. i i 3 f f . 160 Darin sieht H. Meyer-Benfey den »Reiz« des Holofernes (wie A n m . 11, S. 120), nachdem er ihn zuvor als »eine gewaltige Bestie« bezeichnet hat (ebd. S. 113). H. Meyer-Benfey macht auch darauf aufmerksam (vgl. ebd. S. 107), daß die G e staltung der Figur sich über Hebbels eigene Warnung hinwegsetzt, »Charactere dadurch zu zeichnen«, daß »sie über ihr eigenes Innere sprechen« ( T 1062).
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geht auf Holofernes das poetische >Gefühl< über, noch über alle gestalteten Konfigurationen als gestaltende »Kraft« zu verfügen, d.h. die Möglichkeit, sich auch noch den Sieg der »Idee« (des strafenden Gottes) insgeheim als Sieg über die »Idee« zuzurechnen. Gewiß: Man mag zweifeln, ob eine rhetorische Gebärde, die ständig ins Leere zu stoßen droht, einen solchen Sinnbezug zu tragen vermag. Aber es handelt sich ja auch um nicht mehr als eine Konnotation, und zwar in einem Drama, zu dem ein gewisser Zug experimenteller Selbsterprobung ohnehin gehört und das nicht in jeder Hinsicht schon bündige Lösungen erreicht, was die Verbindung der tradierten Gattungsform mit der persönlichen Wert- und Ausdruckshaltung des Dichters betrifft. Immerhin zeigt sich eine gewisse Entwicklungslinie: Aus der rhetorischen Redundanz des Holofernes, dieser Spätform romantischer Ironie, wird bei Golo (in >Genovevaapriorische< Formsetzung aufgeworfen werden, erlaubt und fordert die methodische Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes, in diesem Fall die Aufmerksamkeit auf das verschwiegene Mit- und Gegenspiel des Dichters. Wenn Hebbel in späterer Selbstkritik einräumt, »daß (er) dem Holofernes in dem Furor, mit dem (er) das Stück nieder schrieb, nicht überall Zeit ließ, genug Fleisch anzusetzen« (Β IV 152), so führt er die >Unfertigkeit< der Gestaltung, das »hie und da zu nackt« hervortretende »Scelett«, auf die eigene Selbstverstrickung, eben den »Furor« des Dichtens, zurück (wie dann stärker noch für Golo: vgl. Β V $}{.). Wie dieser »Furor« mit der Formproblematik der >Judith< zusammenhängt, wurde anzudeuten versucht. Daß er auch mit gewissen Ressentiments der Geschlechter-Psychologie zu tun haben dürfte, soll damit nicht bestritten werden. Der Subjektivismus erweist sich als das größte Hindernis, als die von innen her aufsteigende Schwierigkeit der frühen Hebbelschen Tragödie. Die Rettung der Kunstform duldet in dem Maße, wie sie sich als ästhetischer Imperativ durchsetzt, keinen »Überschuß« 161 - sie verlangt die Eindämmung
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Im Hinblick auf ein Urteil von Eduard Kulke: » [ . . . ] wenn manch anderer Dichter in seinen Werken sich vollständig ausgibt, so war bei Hebbel im Gegenteile ein so großer Überschuß über seine Leistungen vorhanden, daß man von ihm sagen kann: er war größer als seine Werke« (zit. nach: P. Bornstein, wie Anm. 24, S. 148). Dieses Wort weist sehr tief in die Formproblematik bei Hebbel: um sie zu lösen, muß er oft sein Bestes opfern (vgl. Β III 107). Im Falle des Holofernes - und natürlich seines Nachfolgers Golo - ist, was später als »Oberschuß« außerhalb der
der Subjektivität. Für die spätere Rechenschaft mußte der Protestimpuls in der überbordenden Rhetorik des Holofernes zurück- und diese selbst als der eigentliche Makel hervortreten. Das ganze Drama wurde nach den strengeren Maßstäben der späteren Zeit - sogar im diplomatisierenden Stil der Theaterkorrespondenz - zum »ungezogenen Erstlingskinde« erklärt (Β IV 280). Wenn man von der Pariser Typologie ausgeht (vgl. W X I 40), so bleibt Hebbels >Judith< auf dem Felde der tragischen Theologie letztlich ein »subjectiv-individuelles« Drama. Damit soll nicht etwa die hier strikt gezeichnete Interpretationslinie am Ende durchgestrichen werden, nach der die Gattungsnorm streng - auch gegen das eigene Werterlebnis des Dichters - befolgt wird. Es soll nur heißen, daß den individuellen Reflexen, obzwar gebrochen durch die Gattungsnorm, doch das stärkste dichterische Leben eingegeben wird: nicht nur bei Holofernes, sondern auch bei Daniel und anderen Volksfiguren, schließlich vor allem bei Judith selbst. Hebbel sucht Tragödie durch »den ärgsten Contrast« (Τ i8o2) zu erzeugen, einerseits durch Anknüpfung an eine schicksalhaft wirkende Gottheit, andererseits durch eine psychologische Grundlegung, die weit in geschlechtsspezifische menschliche Besonderheiten hineinreicht. Die Verbindung von Stoffzwang, Formpostulat, persönlichem Bedürfnis und zeitaktueller Thematik ergibt keine ganz abgerundete ästhetische Figur. Aber daß >Judith< in einer Zeit der Dramenmisere mächtig aufragt, bleibt unangreifbar bestehen. Was das stilistische Format des Werkes betrifft, so ist nicht nur eine Forcierung des Rhetorischen (eben bei Holofernes!) zu tadeln, sondern auch die altbiblische Einfärbung der Sprache als eine Kunstleistung ersten Ranges zu würdigen. Die Religionstragödie >Judith< ist in sich viel zu komplex, als daß sie sich zum bloßen Anwendungsfall der Theorie abflachen ließe. 162 Im Gegenteil: Daß Hebbel das Drama (wie dann auch >GenovevaJudith< »nur die dramatische Demonstration seiner Philosophie des Tragischen« biete (Poetik der Tragödie. 1958. S. 92). Ähnlich sah es Franz Zinkemagel (vgl. Die Grundlagen der Hebbelschen Tragödie. 1904. S. I2iff.) und überhaupt die ältere Forschung. Ich hoffe demgegenüber in der Analyse der »Hauptscene« gezeigt zu haben, daß man dem Drama sehr weitgehend noch mit den dramaturgischen Kategorien des Aristoteles beikommen kann. J
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der konkreten Formgebung (und Formbewährung) nicht unbedingt konvergiert. Man hat es nicht zu bedauern, daß auch für den Dichter der >Judith< die Eule der Minerva ihren Flug noch in der Dämmerung begann. Man sollte dem Werk angesichts seiner inneren Unausgeglichenheit freilich auch keine letztgültigen weltanschaulichen Entscheidungen von epochalem Rang entnehmen wollen. Ein Wort bleibt noch zur Einschätzung der entwicklungsgeschichtlichen Sinngebung zu sagen, die der Tragödie - mit Folgen für die Interpretationsgeschichte - bald nach Abschluß der Arbeit in den Brief-Kommentaren für Auguste Stich-Crelinger zuteil wird (vgl. Τ 1958 und 1989). Hebbel will damit zweifellos Eindruck machen. Die Argumentation, die er anschlägt, liegt seiner Tragödie nicht gänzlich fern, bringt aber sicher nicht ihre zentrale Problemstellung zur Sprache. 163 Der universalhistorische Riesenblick, der etwa die Gestalt der Jeanne d'Arc über fast vier Jahrhunderte hinweg mit der Französischen Revolution in eine finale Verknüpfung bringt, 164 kann nicht das dramatische Interesse eines Autors beherrschen, dessen Tragödie nicht einmal den Triumph des altbiblischen Gottes über seinen heidnischen Widersacher als einen Fortschritt zu akzentuieren vermag. Hebbels interpretierender Wink, daß »das Volk der Verheißung« vor einem gewalttätigen Eroberer gerettet werden mußte, weil von ihm »die Erlösung des ganzen Menschengeschlechts ausgehen sollte« (T 1989), ist im Drama selbst nicht verifizierbar. Es bezeichnet die spätere Sicht - und ihre Differenz zum ursprünglichen Werk-, daß die geplante Umarbeitung die Messias-Verheißung hervorheben sollte (vgl. W I 4iif.). Eine solche Absicht impliziert, daß vom hinzugedachten entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund im Original selbst noch keine gestaltbildende Kraft ausgeht. Dennoch bleiben die erwähnten Kommentare, von >strategischen< Zwekken einmal ganz abgesehen, in einer Hinsicht aufschlußreich: sie versuchen ein Legitimationsdefizit auszugleichen, das dem Werk anhaftet. Hebbel sieht, daß die Geschichte das Feld wäre, in dem sich sein Drama rechtfertigen könnte, und deutet damit die Richtung an, die er auch als dramatischer Gestalter schließlich einschlagen wird - nämlich in >Herodes und MariamneJudith< und >Genoveva< das entwicklungsgeschichtliche Deutungsschema ausdrücklich durchbrochen (vgl. Hebbel und Rötscher unter besonderer Berücksichtigung der beiderseitigen Beziehungen zu Hegel. 1923. S. 97 u. I24f.). 164 Vgl. Τ 2064, ferner den Bogen, den Schiller seine Johanna schlagen läßt (Die Jungfrau von Orleans, V. 2099ff.; SW II 758).
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eine räthselhafte Anecdote der urältesten Vergangenheit die bedeutendsten Fragen der Gegenwart« und - wie es jetzt mit zutreffender Einschränkung heißt - »that so den ersten Schritt zu einem höheren historischen Drama« ( W X I I 395).
6. Das >ChristusJudith< ab, bemüht sich aber, die »Anschauung« zu »retten«, aus welcher sein erstes Drama hervorgegangen ist. Die Kritik seines Briefpartners, des christlichen Juristen-Literaten Friedrich v. Uechtritz, sieht er letztlich mehr religiös als ästhetisch motiviert. 1 6 ' Ihr gegenüber macht er deutlich, daß in bezug auf seine Arbeiten nicht von einer vorgegebenen - oder gar vorgeschriebenen - religiösen Einstellung aus geurteilt werden könne: Von meinem Standpuncte aus muß ich selbst Jesus Christus für das Drama reclamiren, und er würde doch nur in so weit Gegenstand desselben seyn können, als er einen ähnlichen Proceß, natürlich ganz anderen Mächten gegenüber, durch machte, wie die Judith (Β V 195). Hebbel spricht keineswegs ins Leere, wenn er Christus als mögliche dramatische Figur ins A u g e faßt. Im März 1863 teilt er dem Verfasser eines ChristusDramas mit, daß er selbst sich »bereits ein Viertel-Jahrhundert lang mit diesem größten aller dramatischen Vorwürfe trage« (Β V I I 3 1 4 ) . 1 6 6 N o c h wenige Tage vor seinem Tod, so wird berichtet, hat Hebbel einschlägige Literatur erbeten: »Ich will das, was die Juden über Christus denken, in Beziehung auf meine Christus-Tragödie in mir aufnehmen.« 1 6 7 Bis in den Tod hat ihn also 165 Vgl. Uechtritz' Brief an Hebbel vom 21. 9. 1854. Hebbels Antwort reagiert auf die Unterstellung, ihm sei es in der >Judith< um »den Stoff in seiner biblischen Ursprünglichkeit« gegangen, und knüpft zudem an Uechtritz' - in bezug auf >Herodes und Mariamne< geäußertes - Wort von der »Ankunft des Gottmenschen in der Menschheit« an (HBF II I97f.). 166
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Es handelt sich um Albert Dulk und sein 1855 - auf der Basis der Straußschen Bibelkritik - geschriebenes Drama Jesus der Christ. Ein Stück für die Volksbühne« (veröffentlicht erst 1865). Überhaupt zeigte sich die Gebrauchsdramatik auch diesem Thema gegenüber wenig skrupulös: Zwischen 1822 und 1918 sind immerhin 45 Christus-Dramen - weitgehend im Anschluß an die Evangelienkritik - in Angriff genommen worden (vgl. Manfred Schradi, Gott-Mensch-Problem und Christus-Darstellung im deutschen Drama des 19. Jahrhunderts. 1953. S. I77f. u. 304). Hebbel konnte sogar, keineswegs zu Unrecht, den Anspruch erheben, mit Judith« die Reihe der Bibeldramen eröffnet zu haben (vgl. Β IV 144 u. VIII 39f.). So das Zeugnis von Ludwig August Frankl (zit. nach: P. Bornstein, wie Anm. 24, S. 379f.), gestützt durch eine entsprechende Erinnerung von Eduard Kulke (ebd. S. 310).
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dieser Dramenplan - neben dem >Demetrius< - in seinem Bann gehalten (vgl. auch Β V I I 287). Rechnet man vom Sterbejahr 1863 »ein Viertel-Jahrhundert« zurück, so gelangt man in die Zeit von Hebbels dramatischen Anfängen. Nach einer Briefäußerung von 1844 ist Christus - wieder in enger Verknüpfung mit >Judith< - geradezu »der Ausgangspunkt« seiner »dramatischen Bestrebungen« gewesen.' 68 Anfang und Ende von Hebbels dramatischem Schaffen stehen demnach im Zeichen des >ChristusParsifal< (1882) als Substitut gelten.
a) Zwischen Entmythologisierung und Mysterium Wenn man, Hebbels eigenen Verweisungen folgend, den Versuch unternimmt, sein >ChristusJudith< zu fassen, sieht man sich schon mitten in die - philologische wie interpretatorische - Problematik versetzt. Der dramatische Christus wäre dann, wie die dramatische Judith, als >Werkzeug< zu denken, von der Gottheit zum >Opfer< gemacht, und zwar bis zur physischen Vernichtung, dem Kreuzestod. N u r wäre dann nicht recht einzusehen, inwiefern Christi »Proceß« vor »ganz anderen Mächten« abläuft als derjenige der Judith (s. o.), die Parallele also ausgerechnet bei der tragischen Instanz der Gottheit enden soll. In dieser Schwierigkeit deutet sich der singulare Charakter des kühnen Unternehmens an, so daß eine Methode von vornherein anfechtbar erscheint, die überlieferten Textfragmente allein von den Strukturen vollendeter Hebbelscher Dramen her zu deuten. 169 Im Zusammenhang der gegenwärtigen Untersuchung soll gefragt werden, wie die Ansätze zu einem ChristusDrama einerseits auf der Linie der >JudithLeben JesuAuflösung< durch die Wissenschaft (und meint also: den als »mythisch« durch die Wissenschaft >entlarvten< Christus)? Und weiter: Worin soll die besondere Möglichkeit des Dramas bestehen, wenn anders doch nicht erst die Strauß-Schule, sondern bereits der Deismus des 18. Jahrhunderts den Heiland »historisch-psychologisch« aufgefaßt hat?' 7 ' Fragen über Fragen. Die sich abzeichnenden Schwierigkeiten der Sache legen es nahe, vor der Erörterung der Fragmente selbst noch einmal Hebbels Religionsdenken zu konsultieren. A m Anfang stand biblische Frömmigkeit. Hebbel erinnert sich 1838, als Knabe über die regelmäßig gelesene »Leidens-Geschichte Jesu Christi« geweint zu haben - bis dann eines Tages zu seinem »Entsetzen« diese Gemütsbewegung ausgeblieben ist (T983). Immerhin ist auch verläßlich belegt, daß
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So Immermann in den >Memorabilien< (Werke [s. Anm. 148]. Bd. V. S. 36if.). A u f seine Forderung, daß sich die Literatur überhaupt in »das realistisch-pragmatische Element« begeben müsse (ebd. S. 379t.), bezieht sich Hebbel im »DramenWort. (vgl. W X I 24). 171 Vgl. die von Reimarus inspirierte »Christuslehre« in Gutzkows Roman (wie Anm. 65, S. 96ff.): Hier wird auch die These vom ursprünglich politischen, dann ins Schwärmertum abgedrängten »Mann namens Jesus« aufgenommen (vgl. ebd. S. iopff.).
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der 15jährige eifrig Klopstocks >Messias< gelesen hat. 1 7 2 Als Nachwirkung Klopstockscher Begeisterung läßt sich das 1835 veröffentlichte, aber vermutlich früher entstandene Gedicht >Das Abendmahl des Herrn!< verstehen, in dem beim Gottesdienst »die flammende Empfindung« des Ich zu »unerforschlicher Verbindung« mit dem Heiland führt (W V I I 122t.). Es kommt die Zeit, in der sich Hebbel der kirchlich-religiösen Welt entfremdet und zu vehementen Attacken gegen das Christentum herausgefordert sieht. Aber während die christliche Religion als »das Blatterngift der Menschheit« verabscheut wird, bleibt Christus selbst für Hebbel wie für andere Religionskritiker »eine hohe - vielleicht die höchste - sittliche Erscheinung in der Geschichte«, nämlich »der einzige Mensch, der durch Leiden groß geworden ist« (Β I 164). Ihm bedeutet, so läßt er Elise Lensing wissen, Christus »vielleicht mehr« als »dem [...] strengsten Ortodoxen«, obgleich er »nie mehr« ist »als ein Mensch« (Β I 192). Sein kritisches Religionsdenken, im Zusammenhang mit >Judith< in den oft verwirrenden Aspekten seiner Genese hier bereits verfolgt, trägt Hebbel, zum bündigen Resultat fixiert, vor allem im späteren Briefwechsel mit Friedrich v. Uechtritz 1 7 3 und dem Pfarrer Ludwig Wilhelm Luck' 7 4 vor. A m Christentum, so gibt er zu verstehen, ehre er den »sittlichen Kern«, während er »mit dessen dogmatischer Seite [...] nicht mehr zu thun habe, wie mit jeder anderen Mythologie« (Β V I 9). Bei dieser grundsätzlichen Unterscheidung wird es in den Briefgesprächen über Religion bleiben (vgl. Β V I 43). Immer wieder versucht Hebbel hinter den Glaubensnormen, die er zu »Anthropomorphismen« erklärt und - als Gebilde von »Phantasie« oder »Intellect« mit »poetischen Schöpfungen« auf eine Stufe stellt (Β V I 342), den bedeutenden sittlichen Gehalt des Christentums auszuzeichnen, nicht ohne bezie-
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Vgl. Emil Kuhs - durch eine >Zeugenaussage< untermauerten — Hinweis (wie Anm. 33, S. 87), ferner: Τ 649. - Später rückte Hebbel allerdings von dieser jugendlichen Begeisterung ab und nannte den >MessiasWaffengang< mit Pfarrer Luck begann. Nach einer Gesprächsnotiz von Emil Kuh hat Hebbel die Briefe an Uechtritz »die wichtigsten konfessionellen Denkmale [s]eines Geistes« genannt (zit. nach: P. Bornstein, wie Anm. 24, S. 44). •74 Zwischen i860 und 1862. - Vgl. zur Korrespondenz mit Luck, einem Jugendfreund Georg Büchners, eine Studie von Joachim Müller mit ausfuhrlichen paraphrasierenden Erläuterungen: Symbol und Glauben. Das Streitgespräch im Briefdialog zwischen Hebbel und Luck. In: HJ. 1977. S. 54-96. (Zur Chronologie und Bibliographie der Briefe: S. 9if.). 148
hungsvoll Christi Wort anzuführen: »[...] an ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen!« (Β V I 37) 1 7 5 Während er nur Spott dafür hat, daß ein Theologe wie Neander »die übernatürliche Zeugung und den übernatürlichen Tod Christi ganz einfach für Thatsachen des christlichen Bewußtseyns« erklärt (Β VII 266; vgl. W VI 456), verweist er um so ernsthafter auf das ihm grundsätzlich Wichtige, nämlich »das Verhältniß des Menschen zur Natur und [...] seine Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von ihren unerbittlichen Gesetzen« (Β VI 39). Auf den »Bekehrungsversuch« des Pfarrers Luck reagiert Hebbel mit sichtlicher Gereiztheit (vgl. Β VII 9). Wenn er konzediert, es sei »schwerer, das Vaterunser zu beten, als alle Schlachten Napoleons zu gewinnen«, so denkt er wiederum nicht an die dogmatische Inhaltlichkeit des Gebets, sondern an seine »ethischen Voraussetzungen« (Β V I I 33f.), daran also, daß in ihm die Selbstverantwortung des Menschen gegenüber der Gottheit zum Ausdruck kommt, was er mehr als 20 Jahre vorher für sich entdeckt hat (vgl. Τ 1334). Die Frage ist nun, inwieweit diese dezidierte Religionskritik schon die theoretische Grundlage für das Projekt der >ChristusLeben Jesugefallene< Maria Magdalena »liebreich« aufnimmt, tut den Schritt, zu dem in gleicher Lage der Sekretär gegenüber Klara nicht fähig ist, weil er vor seine Liebe die männliche Ehre setzt (vgl. W II 52). Aber im >ChristusProjekt< (statt von einem >FragmentGottmenschen< an und beharrt nicht mehr auf der einstigen apodiktischen Festlegung, Christus sei ihm »nie mehr als ein Mensch« (Β I 192). Aber das fragmentarische Corpus enthält auch den folgenden Fixpunkt: »Christus im Besitz von Kräften (magnetisch-electrischen), die er selbst nicht kennt, die ihm im entscheidenden Augenblick bekannt werden und ihn mit Ehrfurcht vor sich selbst erfüllen« (F 2). Soll eine solche Notiz die Richtung auf eine >natürlicheRettung des Judas Ischariot< (von einem gewissen Vortmann), den Hebbel 1835 als Mitglied des Hamburger >Gymnasiasten-Vereins< rezensiert hat (vgl. W I X 24-26; ein Auszug aus Vortmanns Aufsatz bei H. Nagel, wie Anm. 169, S. ιγΓ). In der Theologie hat die heilsgeschichtliche Auslegung des Judas-Verrats eine Tradition, die sich weit zurückverfolgen ließe. In der von ihm besorgten Hebbel-Ausgabe (1865/67). Bd. I V - V I . S. 31 (zit. nach: H. Nagel, wie Anm. 169, S. 6if.).
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Immerhin ist die Vermutung zu stützen, daß für Hebbel im >ChristusFaust< im Spiel ist. Das Tagebuch hatte 1837 in vieldeutiger Kürze notiert: »Faust und Christus, zusammen kommend« (T 666). Und in einem späteren Gespräch hat Hebbel seinen Dramenplan so aufgestellt: Luzifer muß um so viel bedeutender sein als Mephisto, um wieviel Christus größer ist als Faust; und einem Christus gegenüber ist Faust doch eigendich nur eine winzige Persönlichkeit. l 8 °
Deutbare Konturen hat die Skizze der Versuchung Christi durch Satan (F 5) erhalten, die an die Erzählung der Evangelien anschließt.' 81 In der Bibel bietet der >Fürst< der Welt vergebens ihre Macht und Herrlichkeit auf, um denjenigen zur Anbetung zu bringen, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. Hebbels Adaption will offenbar nicht nur die nämliche kosmische Dimension imaginieren, sondern die latente Spannung in ihr aufspüren: »Erd' und Himmel lauschen«, wenn Satan Christus zum Bösen und Christus Satan zum Guten bewegen will. Streitpunkt ist zunächst die kosmische Naturordnung: Schau' hin, die Sterne wanken! Mein Wollen ist das Deine schon! N u n stürz' ich durch Gedanken Ihn selbst von seinem Weltenthron.
Wie Judith nach der Erkenntnis ihrer Schuldhaftigkeit diese in den Kosmos hineinprojiziert und meint, »daß die Sterne lahm geworden sind« (W I 73), so bezieht sich auch Satan auf die astrale Störung, aber aus dem bösen Willen heraus, der sich selbst bejaht. Holofernes legt »seinen Gedanken eine demiurgische Macht bei« und »glaubt zu seyn, was er denkt« (T 1958). 1 8 2 Satan meint - in nochmaliger Uberbietung des sich ohnehin schon überstürzenden >Heiden< - Gott selbst »durch Gedanken« stürzen zu können. Christi Ant-
180 Nach einer Erinnerung von Eduard Kulke (zit. nach: P. Bornstein, wie Anm. 24,
S.311). l8
> Vgl. Mt. 4,iff.; Lk. 4,iff. 182 Dagegen wird für Christus eine nicht nur angemaßte, sondern wirkliche Identität von Bewußtsein und Sein vorgesehen: »Er denkt ungeheure Gedanken und Alles, was er denkt, geschieht draußen in der Welt« (F2). Der Kontrast, den auch M . Schradi so versteht (vgl. wie Anm. 166, S. 278f.), geht noch weiter: Christus ist der aus der »Menschheit« zu gebärende »Gott«, er verwirklicht den »großen Gedanken« des Holofernes (vgl. W I 10), aber eben anders, als dieser - und in ihm sein anthropologisch denkender Autor - es sich vorgestellt hat, nämlich nicht durch eine übermenschliche Steigerung von >Kraft< und >MachtAbfall< verleiten, genauer gesagt: dazu, daß er seinen >Abfall< vom Willen her bekräftigt (denn »abgefallen« ist er schon durch die Individualisierung selbst). Diesen ursprünglichen >Abfall< bestreitet Christus in seiner Antwort nicht: »Ich that's, um D i r zu zeigen, / Daß ich die A l l macht theilen kann [...]« A b e r er weigert sich, durch das Festhalten an seinem individuellen Willen in der schuldhaften Vereinzelung zu verharren eben dadurch widersteht er der Versuchung. Damit klärt sich auch die Rolle Satans, der »viel lieber ganz vernichtet« sein will, als daß er - durch Anbetung Gottes - sein »Wesen tauschen« würde. Diese Logik, nach der um jeden Preis aufs Ganze gegangen werden muß, schließt an die Konzeption einer anderen Hebbelschen Dramenfigur an: es ist Golo, der unter das Gesetz gestellt wird, daß seine »Hölle ganz werde«, denn »kann er nicht ganz selig seyn, so will er doch ganz verdammt seyn« ( Τ 1 4 7 5 ) . 1 8 4 183
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Die Gesprächsführung läßt an Immermanns >MerIin< als geheimes Vorbild denken (vgl. M. Schradis Vermutung: wie Anm. 166, S. 268). Immermanns dramatische »Mythe« bildete aus dem Stoff ein spekulatives Ideendrama, anders als eine heutige Version, die ihn als buntes — und durchaus beziehungsreiches — Spektakel zubereitet (vgl. Tankred Dorst, Merlin oder Das wüste Land. 1981). Bei Immermann verläuft die Auseinandersetzung zwischen Satan und dem von ihm gezeugten, aber gegen ihn aufbegehrenden und in eine Christus-Rolle hineinwachsenden Merlin in den gleichen Koordinaten, die auch Hebbels Entwurf erkennen läßt. Vor allem: Diese Auseinandersetzung stößt vor zur Entdeckung eines Dualismus in Gott selbst, der - obzwar in seinem Wesen »Liebe« — auch Satans »Haß gesetzet« hat (vgl. Werke [s. Anm. 148]. S. 33off. Zitat: S. 337). Wenn Hebbel den >Merlin< Immermanns (1832 erschienen) gekannt hat, dürfte gerade die Verwandtschaft mit eigenen Theorien (vgl. Τ 5540) ein Ansporn zu kunstvollerer Gestaltung gewesen sein, die es mit dem biblischen Archetypus der Versuchung selbst aufnimmt (auf den Immermanns Satan in der Versuchung Merlins anspielt: vgl. a.a.O. S. 333). Vielleicht bezieht sich auf diesen Zusammenhang Hebbels Bemerkung von 1851: »Immermann ist ein tüchtiger Mann, der sich aber wie eine Riese geberdet« (T4895). Im Drama >Genoveva< treibt er dann auch bewußt »die Sünde bis zum Aeußersten« (V. 1695) und bringt sich - mit vermeintlichem »Schurken-Recht« - bis zur Vorstellungsklimax, ein »Gottes-Mörder« zu werden (V. ijsoff.). Im Gegensatz dazu tritt Genoveva unter das Zeichen Christi: »Nicht jammern darf ein Mensch, / Seitdem am Kreuz der Heiland stumm verblich« (V. I48f. - Vgl. 1482fr.).
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Was Hebbel in seiner Schlüssel-Tragödie versucht hat, soll offenbar im >Christusmetaphysischen Experimentator aufweist, den Golo - und in ihm Hebbel - mit Gewalt fingieren muß (aber gegen die allzu sichtbaren psychologischen Faktoren nicht fingieren kann, es sei denn als Spiel). Bleibt Golo »der fallende Mensch«, so ist Satan in steigerndem Kontrast der »fallende Engel«, zum »Teufel« geworden (vgl. Τ 1475). Womit er Christus versuchen will, das ist seine eigene Ichhaftigkeit, die sich nur in der Unterscheidung vom Ganzen realisieren könnte: »Das Böse giebt den Menschen allein individuellen Bestand« (F 3). Christus soll dieser Versuchung offenbar als Mensch ausgesetzt sein sonst wäre sie keine (vgl. Τ 4031). Für die Konfliktsituation, die dem Dramatiker vorgeschwebt haben mag, ist eine Schelling-Reminiszenz von 1857 aufschlußreich: Schellings Vorlesung über das Wort: Er war gehorsam bis zum Tode am Kreuz! Der Philosoph deducirte, daß Christus auch vom Vater hätte abfallen können und verlegte damit den Teufel unmittelbar in Gott hinein [...] (T 5540).
Diese Reminiszenz, später auch der >NibelungenPhilosophie der OffenbarungKreuzes-GehorsamVersuchung< bestehen, die ihm die Möglichkeit zeigt, die Göttlichkeit auch für sich selbst - also nicht für die »Vermittlung« von Gott und Welt - wollen zu können. Aus diesen Zusammenhängen der idealistischen Christologie wird deutlich, was in der Szene auf dem Spiel steht, die Hebbel skizziert. Es darf als wahrscheinlich gelten, daß der Dramatiker das Versuchungsgespräch auf einer solchen Grundlage entwerfen wollte - mit der für ihn wiederum bezeichnenden scharfen Heraushebung des Dualismus in »Gott« selbst, wenn anders die Möglichkeit von Christi >Abfall< bedeuten soll, daß der »Teufel« seinen Ort »unmittelbar in Gott« habe.1®7 Man könnte einwenden, daß Hebbels Gestaltungsansatz wenig erkennen läßt von dem gewaltigen Konflikt, in den Christus nach Schellings Christolo-
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Ebd. S. 48ff. - Dazu ist anzumerken, daß Schelling die gottunabhängige Existenz Christi nicht an seine »Menschwerdung« knüpft, sondern sein Sein »extra patrem« spekulativ »von der Welt her« - sofern sie außer Gott gesetzt ist - versteht, so nämlich, daß sich Christus dieser Unabhängigkeit durch die »Menschwerdung« — bis zum >Kreuzes-Gehorsam< - gerade »entschlägt«. So setzt Hebbel einen ironischen Akzent, wenn er die Erinnerung an Schellings »Eröffnungsrede« anschließt: »Ich hoffe, daß kein Schurke unter uns ist!« (T 5540) Der »Teufel« ist als Repräsentation des selbstbezüglichen Wollens gemeint, des »Gott negirenden Princips« (Schelling, wie Anm. 185, S. 49) also, das nach Schelling zwar aus Gott kommt, aber nicht - wie Hebbel interpretiert - »unmittelbar«, sondern vermittelt über die Schöpfung. Hebbel trägt hier im Grunde aufs neue seine alte Frage vor, ob nicht »mit dem Bösen eine zwiefache Weltwurzel gesetzt« sei (T 2616). Seine Schelling-Rezeption zeigt die gleiche dualistische Beharrung wie schon 1839 (vgl. Τ 1546, dazu S. 8off. dieser Untersuchung). In diesem Z u sammenhang steht auch die Bemerkung, daß es das Drama »leider am öftersten mit der Wiederbringung des Teufels zu thun« habe (T 5449) - wobei das »leider«, wie ein entsprechendes Epigramm deutlich macht (vgl. W V I 3s8), nicht ganz wörtlich zu nehmen ist (vgl. auch Β II 317). J
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gie hineingestellt wird. Aber es ist nicht gesagt, daß die Skizze, die einen schon entschiedenen Christus einem vergeblich versuchenden Satan gegenüberstellt, auch den gedachten Anfang der Szene bieten sollte. Worauf anders als auf einen Konflikt hätte die Auseinandersetzung sonst hinführen können, wenn Hebbel ihr nicht von vornherein alles dramatische Leben vorenthalten wollte? Christus wäre demnach der Mensch, der in der Spannung zum göttlichen Willen in einzigartiger Weise den »Partikularwillen« der Individualität überwinden und - um auch Schellings Gegenbegriff aufzunehmen - in sich den »Universalwillen« zur Wirksamkeit bringen kann, der Mensch also, der beispielhaft »das schlechte Grundgesetz der Existenz bricht« und, den Willen des Universums übernehmend, damit »auch schon aufgehört« hat, »ein Individuum zu seyn« (T 4274), mit einem Wort: der >GottmenschGottwerdung< als dramatisch-tragisches Thema anbieten, das eine Konfliktstruktur nicht ausschließen mußte. Einige Programmpunkte des fragmentarischen Corpus deuten mit Bestimmtheit in diese Richtung. Ausdrücklich wird Christi Status so gekennzeichnet: »Gott, aber seiner erst bewußt werdend« (F 3). Oder es wird skizziert: »Christus: Gott. Die letzte Wonne: mich selbst zu schaffen« (F 3). Schon die erste Notiz legt fest: »Erst, wenn der Tod sich naht, giebt Ch[ristus] den Gedanken an ein irdisches Reich auf und predigt das himmlische. (Umschwung, wie in Hieram) Ueberhaupt, auch in ihm muß Alles w a c h s e n « ( F i ) . Das Gemeinsame mit dem Priester des >Moloch< muß nicht der Betrug mit dem Göttlichen, sondern kann auch das Wachstum des Göttlichen sein, das der »Umschwung« voraussetzt. Dann käme es bei Christus auf diesen Werdeprozeß an (auch für Hieram war eine Rückkehr zum »Glauben« vorgesehen: vgl. W V 258). So ist auch der konzipierte Übergang vom Gedanken an das »irdische« zum Eintreten für das »himmlische« Reich nicht allein Nachhall der positivistischen Religionskritik, sondern er soll - statt zu >entlarven< - das Wachstum des Göttlichen in Christus profilieren. Nimmt man eine solche dramatische Intention an, dann lösen sich einige scheinbare Widersprüche auf wie etwa derjenige zwischen der anfänglichen Ohnmacht Christi beim Tod des Johannes (vgl. F i ) und der Seinsmächtigkeit seiner »Gedanken« (vgl. F 2). Rückt damit das ganze >ChristusChristusMoloch< (s.u.), so sicher resultiert aus der programmatischen Belastung dieses Dramas eben auch, daß es in den Entwürfen steckengeblieben ist. Noch eines kommt hinzu: Ein Christus-Drama, das den »größten aller dramatischen Vorwürfe« (Β VII 314) ernst nimmt, hätte Hebbel auf eine Vermittlungs- und Versöhnungsthematik festlegen müssen, die ihm nicht nur persönlich fern ist, 189 sondern die er als dualistischer Denker hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und Universum geradezu als unmöglich hätte einsehen müssen. Denn der »Riß« in der Welt ist nur als Faktum zu konstatieren, nicht aber in seiner Genese einsichtig zu machen oder gar zu überwinden - wie er dem Hegelianer Heiberg (und überhaupt dem absoluten Idealismus) entgegengehalten hat (vgl. W X I 3if.). Das >ChristusAllzeitlichkeit< gesucht werden (vgl. F 3). Aber das Versuchungsgespräch zeigt, wie der Ausführungsansatz hinter solchen Forderungen des Themas zurückbleibt und, formal gesehen, doch nur die vertraute Konstellation kontradiktorischer Individuen erkennen läßt. Ferner ist nicht zu übersehen, daß ein solches Drama mit den Motiven der Demut, der Erlösung und des Gerichts in die traditionelle Christologie hätte einmünden müssen. Die Skizze bricht ab, als Christus dem Widersacher seine »Strafe« ankün-
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und etwa die entscheidende Problemstellung des Projekts in der Frage beschlossen sieht, wie Christus in den »Werdeprozeß der Gottheit« eingerückt werden könne (vgl. wie Anm. 166, S. 236ff.). Aber das von M . Schradi zum Schlüssel des Ganzen gemachte Notat ist selbst nur eine Frage: »Wenn nicht Gott-Schöpfer, warum nicht Gott-Geschöpf? Wenn nicht ein ungeheures Individuum am Anfang, warum nicht am Ende?« (T 3739) Eine verläßliche Basis für die Deutung des Konvoluts ist von solchen Denkexperimenten her wohl kaum einzurichten. Mit spürbarer Distanz wird schon 1837 notiert: »Die Welt will nicht Heil, sie will einen Heiland: das Vermitteln ist ihr sonderbarstes Bedürfniß« (T904). Der darin sich bekundenden >Vermittlungsfeindschaft< spricht P. Michelsen eine grundsätzliche Bedeutung fur Hebbel zu (vgl. wie Anm. 7, S. i&jff.).
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digt: »Daß Dir Dein Werk zuletzt mißlingt / Und auch Dein treu'ster Sklave / Sich Deinem Joch dereinst entringt!« (F 5) Man kann von hier aus auf die Absicht schließen, den Merlin-Mythos in das Projekt einzubeziehen. Darüber hinaus zeigt sich ein Symptomatisches: Das Drama, das mehr sein sollte als eine bloße Nachdichtung des religiösen Mysteriums (und als ein bloßes Nachspiel der Evangelienkritik), kommt offenbar nicht ohne Voraussetzungen der dogmatischen Theologie aus. Damit verliert es aber die Möglichkeit, sich von ihr zu unterscheiden und durch eine eigenständige Entdeckung des >Gottmenschen< als Kunstform zu rechtfertigen. Was bei dem ganzen Projekt in äußerster Verschärfung (und mit Grauzonen der Unbestimmtheit) abermals sichtbar wird, ist die Logik der Legitimation. Das Drama soll sich gegenüber Theologie wie Religionswissenschaft als die genuine Auffassungsform der Christus-Problematik ausweisen, also seine Entdeckungskraft nicht bloß - wie in >Judith< - auf dem Gebiet der Religionsgeschichte bewähren, sondern das Christentum sogar im Herz- und Kernstück seiner Lehre überbieten. Die überlieferten Ansätze lassen jedoch nicht erkennen, auf welchem Wege Hebbel gegenüber dem größten Religionsthema den Privilegienanspruch des Dramas einzulösen versucht haben kann. Auch die pantheistische Perspektivierung des Themas, dergemäß Gott sich in Christus in der Form des individuellen Bewußtseins erfahren - und so dessen Göttlichkeit begründen - würde, hat offenbar für Hebbel, von der Konsistenzproblematik ganz abgesehen, keine entscheidende Differenzierung von Normen der Offenbarungstheologie ergeben. Die Hervorkehrung des »ethischen Kerns« im Christentum - in den Briefgesprächen über die Religion - zieht zwar eine unterscheidende Linie, rekapituliert aber das dramatische >Christusethische< Christus wäre dramatisch ohne die christliche Dogmatik nicht zu haben gewesen. Man darf sogar vermuten, daß Hebbel - zum Verdruß seiner Gesprächspartner - erst dann so bündig auf den »sittlichen Kern« des Christentums und seines Stifters dringen konnte, als er von dem weit kühneren dramatischen Projekt innerlich schon Abstand genommen hatte, ohne dieses nominell freilich aus Gespräch und Korrespondenz auszuschließen. Der Stellenwert des >ChristusMolochChristusNibelungenMoloch< nicht vollende (vgl. P. Bornstein, wie A n m . 24, S. 224). 158
Aus Hebbels kühnsten Versuchen, die Kraft der Tragödie in der Sphäre der Religion gegen religiöse Vorurteile zu demonstrieren, sind Zeugnisse für die Not der Tragödie geworden.
7. Der »ewige Torso« Daß >Moloch< vom Dichter für lange Zeit unter die »Haupt-Arbeiten« eingereiht worden ist (vgl. Β IV 247), muß angesichts der Themen-Präferenzen in der Hebbel-Forschung eigens betont werden. In den Lebenslauf-Briefen von 1852 erscheint das geplante Drama als »das Hauptwerk« (Β VIII 37 u. V 49), in offiziösen Äußerungen also, die ein Hamburger Planspiel von 1842 unverändert wieder aufnehmen: »Der Moloch muß mein Hauptwerk werden, ich will ihn in der Mitte zwischen antiker und moderner Dichtung halten [...]« (T 2464). Der auf »eine große Tragödie« gehende Plan wird aus Hebbels Selbstkritik an >Judith< und >Genoveva< entwickelt - die beiden ersten Dramen dürfen nach einer kritisch-depressiven Bilanz von 1843 »nur noch [als] Kraft- und Talentproben« gelten, nicht mehr als »Werke«, die in sich vollendet wären (T2641). Weil die ersten Dramen nicht vollauf gelungen scheinen, wird also - auf der gleichen thematischen Linie - der >MolochGenoveva< nach Hebbels eigenen Maßstäben einiges schuldig bleibt, läßt sich dem grandios angelegten, aber eben auch grandios mißlungenen Drama leicht anmerken. Es gibt ein Votum des Dichters selbst, das die Schwäche - im November 1842 - unumwunden eingesteht: »Das Stück ist aus sehr trüben und bitteren Gemüthsstimmungen hervor gegangen, es ist eher ein aufgebrochenes Geschwür, als ein objectives WerkMoloch< Relief zu geben. Schon bevor 1840 in Hamburg die bekannten biographisch-moralischen Wirren um die schöne Emma Schröder einsetzten, stand für Hebbel beim Durchdenken des Stoffes 1839 in München fest, daß Golo dramatisch im Vordergrund stehen müsse (vgl. Τ 1475). Der leidenschaftlich reflektierende Experimentator, der zunächst Genoveva einer Tugendprobe und dann »Gottes Schöpfung« (V. 1706) einer Qualitätsprobe unterzieht, erhält von seinem Dichter alles Feuer, das er in sich entzünden kann - und das ist nicht wenig. Dennoch war auf diesem Wege allein nicht die gewünschte Tragödie zu erzeugen: Es gelang trotz allen Aufwandes nicht, die zur Selbstentlastung
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gewünschte Zwangsläufigkeit der »Verbösung« (T 2615) plausibel zu machen. Also mußte Hebbel auf andere Weise den Gattungscharakter zu retten versuchen, und er tat dies, dem Legendencharakter des Stoffes gemäß, über eine heilsgeschichtliche Sühne-Idee, die einen Rahmen um das Ganze ziehen sollte. Aber diese »Idee« wurde nur als ein Abstraktum, ohne innere Bejahung, herbeigezogen (vgl. Τ 2337) - angesichts von Hebbels negativer Einschätzung des Christentums konnte die gattungspoetische Rechnung im Detail der Gestaltung nicht aufgehen. Zu durchgreifend bleibt die subjektivistische Verstrickung des Dramatikers in sein alter ego Golo, zu äußerlich andererseits die Strukturprägung vom Religiösen her, als daß >Genoveva< als ernsthafte Auseinandersetzung mit der Religionsproblematik gelten könnte. Noch Golos Selbstgericht, das nominell die Anknüpfung »an die Gottheit« (vgl. Τ 2174) herstellt, gerät zur Formel, hinter der das Ich, scheinbar gebeugt, immer noch wichtiger bleibt als die angerufene Instanz selbst (vgl. V 338 jff.). Was sich dramatisch durchsetzt, ist nicht die göttliche Notwendigkeit von Genovevas Leiden und Golos Handeln, sondern der ästhetische Perspektivismus eines Spiels, das auf Glanz und Elend seines Dichters allzu durchsichtig ist. Der >Moloch< soll nun - und darin ist das Moment der Selbstkritik zu erblicken - immunisiert werden gegen die Reflexions-Wucherungen der Subjektivität: daher Hebbels Programmpunkt, sich »nicht zu tief in's Individuelle zu versenken« (T 2464). Hebbel will ernst machen mit dem Religionsthema und versucht, den Plan so fundamental und originell anzulegen, daß kein christliches Dogma unerwünscht dazwischentreten kann. So begleiten höchst ambitionierte Aussagen die lange - und am Ende doch resultatlose Inkubationszeit, betonen immer wieder das Einmalige und Kolossalische des Projekts. »Dieses Drama« - so heißt es etwa - »wird ungeheures Aufsehen machen. Die bloße Idee schon macht Jedem [...] den Kopf wirbeln [...]« (B III 256). Dem Verleger gegenüber macht sich der Dichter stark, dem neuen Drama »auch der Form nach den Stempel der Meisterschaft aufdrücken zu können«. Und er verspricht: »Ich werde mein Aeußerstes thun, denn für dieses Trauerspiel, das die neue Weltbewegung im innersten Keime erfaßt, habe ich meine höchsten Kräfte gespart.«' 9 ' So hoch die Erwartungen in Richtung auf das opus maximum getrieben werden, so mühsam gerät freilich die Ausführung (trotz der von Felix Bamberg eigens dafür geschenkten Adlerfeder). 192 Die Niederschrift beginnt 1845 in Neapel. Zwei Jahre später wird die Anfangsszene in der von Gustav Kühne herausgegebenen Zeitschrift >Europa< publiziert. Doch erst im Juni 1849 gelingt in Wien - mit Hierams großem Monolog (V 469ff.) - der Abschluß des •9' A n Julius C a m p e , 6. 8. 1845 (BZP. S. 66f.). - V g l . Β III ζ6ηί. Julius C a m p e , 11. 8. 1853 ( N H D . S. 86).
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u . 287, f e r n e r : an
ersten Aktes (vgl. Τ 4611). Dann schließt sich die Arbeit am zweiten Akt an, dessen Fertigstellung das Tagebuch unter dem 25. Oktober i8$o verzeichnet (T4734). Einen Tag vorher hatte Hebbel seine Hoffnung ausgedrückt, das Werk bald - »diesen Winter« - vollenden zu können (Β IV 247). Doch diese Hoffnung erfüllt sich nicht, »unerhörte Schwierigkeiten« mit dem Werk schon 1845 vorausgesehen (vgl. Β III 287) - erweisen sich als unüberwindbar. Die im November 1852 gegebene Mitteilung, daß nunmehr »drei Acte vollendet« seien (Β V 73), trifft nicht zu. Es kommt nur noch zu vereinzelten Anläufen, nicht mehr zu kontinuierlicher Arbeit. In welche Grenzzonen sich Hebbel durch das Projekt ziehen läßt, zeigt allein schon der Plan einer Einbeziehung der Musik. Schon in Paris war in der Diskussion mit Felix Bamberg an eine musikalisch-dramatische Form gedacht, die Mitarbeit eines Komponisten (Friedrich Kücken) erwogen worden (vgl. Β III 189). Im November 1853 wird Robert Schumann, der schon als Komponist einer >GenovevaMoloch< gebeten (vgl. Β V 136). Schon im März 1852 hatte Hebbel in München Überlegungen zu einer Verbindung von Musik und Drama angestellt: E s wäre doch ein großer Triumph, wenn ich dieses Stück unter Musik-Begleitung der C h ö r e auf die Bühne brächte; es könnte sich von da an eine neue Periode der Kunst datiren. Denn wenn ich dem Richard Wagner, der das ganze Drama in Musik auflösen will, auch entschieden entgegen treten muß, so w a r ich doch längst überzeugt, daß man die Musik in denjenigen Momenten, w o eine Massenbewegung dargestellt werden soll, mit E r f o l g zu H ü l f e rufen kann und rechnete schon darauf, als ich die ersten Scenen des Moloch in R o m entwarf (Β I V 388).
Davon ist nichts sonst belegt, Chor-Passagen finden sich in dem gesamten Textcorpus überhaupt nicht. Wohin ist Hebbel mit solchen Planspielen geraten? Gewiß: Seit Herder plädieren gewichtige Stimmen für eine Verschmelzung von Musik und Drama, darunter auch Hebbels ästhetischer Mentor Solger. 193 Um die Jahrhundertmitte taucht die Frage auf, ob die Tragödie, wenn es ihr Uberleben als Kunstform gilt, »musikalisches Leben in sich hereinziehen« müsse, mit anderen Worten: ob der von Wagner eingeschla-
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Z u r Entstehungsgeschichte: Heinrich Saedler, Hebbels M o l o c h . Ein Kultur- und Religionsdrama. 1916. S. 2ff. (hier S. J3ff. auch eine Beschreibung und Datierung der handschriftlichen Überlieferung mit einigen Konjekturen zu R . M . Werners Einleitung: W V . S. X X X f f . ) . Stoffliche Anregungen f ü r das D r a m a , das in der »Kühnheit der Combinationen« ( Β IV 6) ganz Hebbels eigene Erfindung ist, dürften neben den Münchner Vorlesungen v o n Görres und Schelling v o r allem v o n Zacharias Werners >Das K r e u z an der Ostsee< (1806) und v o n Grabbes >Hannibal< (1835) ausgegangen sein. Im vierten Gespräch des >Erwin< (K. W. F. Solger, E r w i n . Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst [1815]. H g . v o n Wolfhart Henckmann. 1970. S. 285fr.).
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gene Weg nicht doch der richtige sei. 194 Aus solchen Zeugnissen spricht einerseits die Irritation durch Richard Wagner und zum anderen eben die poetologische Unsicherheit bezüglich des Dramas. Davon wird auch Hebbel erfaßt: Ausgerechnet der Verteidiger des »poetischen«, d.h. auf die geistige Erschließungskraft des gesprochenen Wortes vertrauenden Dramas ruft die Musik »zu Hülfe«. Was er - über ganz handfeste Münchner Theaterinteressen hinaus - im Sinn hat, ist eine Rettungsmaßnahme, die zugleich den Kunstanspruch von Wagners musikalischem Drama auffangen würde.' 95 Wie aber »eine neue Periode der Kunst« im Zeichen der Musik eröffnet werden soll, wenn dieser im Drama nur eine dekorativ-theatralische Aufgabe zufällt, ist nicht einzusehen.'96 Nicht um die Erneuerung des einstigen »Moloch-Konzepts handelt es sich, sondern um einen theoretischen Irrläufer. Wie wenig ernst es Hebbel mit der Verbindung von Musik und Drama ist, wird in aller Deutlichkeit die ambitionslose Art zeigen, in der er sich 1858 des Auftrags entledigt, ein Libretto für den Opernkomponisten Anton Rubinstein zu schreiben (den >SteinwurfMoloch< nicht mehr zu retten. Als Hebbel das Manuskript im Dezember 1861 »einmal wieder« hervorholt, ist es »schon vergilbt« (T 5940). Der Gott, der Menschenopfer verlangt, scheint auch Dramen-Embryos nicht freundlich gesonnen zu sein. Im Brief an Julius Campe muß der Dichter sein »Hauptwerk« zum »ewigen Torso« erklären (Β VII n8f.). Die Bedeutung des >MolochOper und Drama< (1851) —, die allerdings nicht die >Auflösung< des Dramas in Musik propagieren, sondern die Musik als Mittel in den Dienst des Dramas gestellt sehen wollen. Die Äußerungen Hebbels über Wagner sind im allgemeinen darauf angelegt, den Theorieanspruch des Musikdramas abzuweisen und das »poetische Drama« zu verteidigen (vgl. an Ferdinand v. Ziegesar, 27. 4. 1851; B Z P . S. 127. Ferner: Τ 5163, Β V I 191 u. 232f., Β VII 2 1 7 u. Τ 6099). '96 Daß bei der »Verschmelzung von Oper und Drama« (Β V 109) faktisch nur an eine >Begleitung< des Dramas durch Musik gedacht ist - im Grunde also an theatralischen Pomp - , läßt Hebbel gegenüber Robert Schumann durchblicken (vgl. Β V 136). Im übrigen steht sein oben zitiertes musikalisch-dramatisches Planspiel unter dem Eindruck »der vollen Majestät des Beethovenschen Genius« nach einer A u f fuhrung von >Fidelio< (Β IV 387). Die ironische Pointe des Ganzen: Hebbels >MolochMoloch< ab (im Nachwort zu: Werke [s. Anm. 114]. Bd. V. S. 982f.). Ihm folgt Mechthild Keller mit Ausführungen zur »Diskordanz von Stoff und dramatischer Gestaltungsabsicht« (Studien zu Hebbels dramatischer Technik. 1975. S. Ii3ff.). 198 Diese - m. E. doch verkürzende - Betrachtungsweise findet sich bei H. Stolte: Das Molochfragment. Zugleich ein Beitrag zur Beurteilung der Italienreise Friedrich Hebbels. In: HJ. 1962. S. io5f. '99 So z.B. M. Sommerfeld (Hebbel und Goethe [s. Anm. 112]. S. 9f. u. 98), Horst Oppel (Hebbels >MolochChristusMolochSatzungMoloch< im Pariser Zyklenprogramm für das Thema »positive Religion« gesetzt wird, während >Judith< für »Judenthum und Heidenthum« sowie >Genoveva< für »Christenthum« stehen sollen (vgl. an Julius Campe, 2. 6. 1844; A H K . S. 35).
kurzschlüssige Dramaturgie darauf bestanden, daß »die Wurzel des Gewächses« erst mit der Frage nach dem »religiösen oder Schicksalsbegriff« sichtbar werde (vgl. W X i j z i . ) . Im >Dramen-Wort< verweist er auf »die Möglichkeit eines symbolischen Dramas, das den Geschichtsstrom bis in seine innersten Quellen, die religiösen, hinein verfolge« (W X I 35). 202 Damit ist der Ursprungscharakter des Religiösen für das tragische Drama bezeichnet und, freilich verschlüsselt, das >MolochMoloch< gedacht worden sein, wenn die Pariser Theorie den Griechen die Wendung vom »Paganismus« zur »Idee«, zur Anerkennung der »sittlichen Mächte« als große geschichtliche Leistung zuspricht (vgl. W X I 4of.): zum Plan gehört ja auch ein bewußt antikisierendes Moment. Hebbel will also vieles, wenn nicht alles aus einem Götzenkult entwikkeln. Die theoretische Uberlast beschränkt, nicht anders als beim >ChristusJudithMoloch< macht. Vgl. zu dieser Identifizierung schon Herbert Koch, Ueber das Verhältnis von Drama und Geschichte bei Friedrich Hebbel. 1904. S. 5iff. Immerhin findet sich unter den Zeugnissen hochgeschraubter Erwartung — oder Bewertung - 1844 auch die zunächst rätselhafte Bemerkung Hebbels, »die Idee« zum >Moloch< sei »wie ein zweischneidiges Schwert« (B III 62). Der Aporie der >MolochMoloch< liefern sollte, könnte paradoxerweise nur gelingen, wenn die dramatische Gestaltung aus ihrer gattungspoetischen Bindung herausträte: daraus resultieren Größe, Verstiegenheit und Unvollendbarkeit des gesamten Projekts. U m es auch nur für Planung und Korrespondenz zu retten, muß Hebbel es ermäßigen oder gar - wie gesehen - in musikdramatische Irrgänge versetzen. Nicht einmal in der anscheinend plangetreuen Rekapitulation von 1 8 5 2 ist die ursprüngliche Intention gewahrt: Das Drama wird zu veranschaulichen suchen, daß die Pietät, den höchsten Mächten gegenüber, die Wurzel der Welt ist. Hieram, ein Unterfeldherr des Hannibal, entführt aus dem brennenden Karthago das Götzenbild des Moloch und bringt es nach Thüle, aber nicht, weil er den Gott noch verehrt, nur weil er durch den Gott das wilde Volk an sich knüpfen und es, wenn es auf diese Weise cultivirt wurde, gegen Rom bewaffnen will. Sein Plan gelingt, so weit er sittlich war; das Volk unterwirft sich dem Gott und die Früchte dieses großen religiösen Acts bleiben nicht aus, die Fundamente zu den ersten Institutionen der Civilisation werden 1 0 7 gelegt, Staat
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der Skepsis ihres Verkünders. Der Politiker der Rache wird zum Religionsstifter. Das ist so paradox, dass es fast schon blasphemisch erscheint« (Drama und Geschichte im Weltbild Friedrich Hebbels. 1925. S. 150). Was hier entrüstet abgewehrt wird, soll jedoch gerade die »Kühnheit« des Unternehmens ausmachen. Im Hinblick auf Golos erregende Selbstreflexion (vgl. Τ 2508, V. 93ff.), aus der P. Michelsen »die geistige Haltung des Nihilismus« herausgelesen hat (wie Anm. 7, S. 146). Hebbel hat dieses radikale Denkstück, da es die Konsistenz der Tragödie von innen her bedroht hätte, zu deren Rettung ausgeschieden. Aber die Denkhaltung selbst ist durch diese Eliminierung aus >Genoveva< nicht aufgehoben — sie kehrt als untilgbarer Subjektivismus im >Moloch< wieder, wirft über das geplante Religionsdrama den Schatten der Glaubenslosigkeit. Die Konjektur — gegenüber »wurden« - nach Hans Fromm, der auf Grund der Handschrift den Druck des autobiographischen Briefs korrigiert hat (Hebbel und Saint-Rene Taillandier. Z u einer Neuerwerbung des Deutschen Literaturarchivs. In: J S G . 29, 1985. S. 3).
und Kirche treten in ihren Anfängen hervor. Aber in demselben Moment, w o Hieram die Gränze des Sittlichen überschreitet, w o er den Licht und Segen spendenden Gott zum Werkzeug seines Eogismus machen mögte, in demselben M o ment wird er durch den Gott, durch den G l a u b e n des V o 1 k s an diesen, den er wohl gesät hat, den er aber nicht wieder zerstören kann, vernichtet. E r stirbt mit der Ueberzeugung, daß das Göttliche selbst in der rohsten Repräsentation noch mächtiger ist, wie der gewaltigste Mensch, und daß dieser sich beugen muß; sein Werk aber überlebt ihn, so weit es ihn zu überleben verdient und man sieht zum Schluß in eine Welt hinein, die sich mit jedem Tage mehr erhellt und verklärt (Β V I I I 4jf.).
Man erkennt noch die Umrisse der ursprünglichen Problemstellung, aber gleichsam unter einen mildernden und aufhellenden Schleier gebracht: Einst sollte Unerforschtes im Wetteifer mit Philosophie und Wissenschaft dramatisch erobert werden, jetzt sorgt das neue Stichwort »Pietät« - im Verhältnis zum überindividuellen >Höheren< - für einen vertrauteren Klang. Daran lassen sich fraglos lebens- und werkgeschichtliche Veränderungen bei Hebbel ablesen, vor allem eine gewisse Annäherung an die Versöhnungsästhetik im Zuge der eigenen Geschichtsdramatik. Darüber hinaus verweisen Umkonzipierung und schließlich Abbruch des >MolochMoloch< sollte die große Rechtfertigung der Tragödie werden (vgl. B V 7 3 ) , das Werk, in dem Hebbel durch die Verknüpfung der wichtigsten Themen das geschichtliche Recht der dramatischen Form zwingend ausweisen wollte. Diese große Rechtfertigung ist nicht gelungen. Einzelne Themensplitter des >MolochMoloch< (wie Anm. 199, S. 37s).
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II. Tragödie und Gesellschaft: >Maria Magdalena
Maria Magdalena< gegenüber Siegmund Engländer dar. Er kommt auf den Münchner Vorfall zu sprechen, den er selbst 25 Jahre vorher miterlebt hat: die Verhaftung des »leichtsinnigen« Sohnes im Hause seines Mietherrn, eines Tischlermeisters. Ich sah, wie das ganze ehrbare Bürgerhaus sich verfinsterte [...] Da wurde der dramatische »Fehde-Handschuh« gesponnen, [...] den ich nach Hermann Hettner der ganzen Europäischen Gesellschaft hingeworfen haben soll. Bei Gott, ich wußte Nichts davon [...] (Β VII joif.).
Hebbel will damit pointiert sagen, wie klein eigentlich der Stein gewesen ist, der dann im Wasser so riesige Wellen geschlagen hat. Mit der Folge, daß Hebbel für weitere Kreise außerhalb spezieller Kennerschaft zum Dichter der >Maria Magdalena< geworden ist. Während Inszenierungen seiner anderen Dramen eher Ausnahme geblieben und zu Raritäten geworden sind, wird das düstere Schicksal der armen Klara auf unseren deutschen Bühnen immer wieder ausprobiert. 1 Schon Hebbel selbst hat 1852 festgestellt, daß >Maria Magdalena< unter allen seinen Stücken (bis einschließlich >Agnes BernauerHerodes und Mariamne< »sehr weit« hinausgekommen zu sein glaubt (Β VIII 43). Sein bürgerliches Trauerspiel wird von Hebbel also mit keinerlei Privileg ausgestattet. Wenn es in der Rezeptionsgeschichte insgesamt zu Lasten seiner anderen, künstlerisch keineswegs schwächeren Dramen dominiert, so ist dies
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Vgl. Martin Schaub, Friedrich Hebbel. 1\Das Werk auf der Bühnebürgerlicher< Geschichte kritisch aufzuarbeiten. Hebbels wirksamstes Drama, daran ist nicht zu zweifeln, betreibt eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Gesellschaft und erlangt für bestimmte Aspekte des Familienlebens eine bis heute berührende Treffsicherheit. Aber es geht nicht an, in der >Maria Magdalena< lediglich einen Beispielfall sozialkritischer Dramatik (»vom Sturm und Drang zum Naturalismus«) zu sehen. Zu drastisch spottet das Vorwort über die >Dreißig-Taler-DramenMaria Magdalena« zu erinnern. Darüber hinaus gibt es gute Gründe, der Empfehlung Eberhard Lämmerts zu folgen, im U m g a n g mit der ins Dogmatische oder Diffuse geredeten Kategorie »eine vernünftige Karenzzeit« einzuhalten (Bürgerlichkeit als literarhistorische Kategorie. In: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Kocka. 1987. S. 207).
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richtig eine künstlerische, eine formtypologische: die Erneuerung des bürgerlichen Trauerspiels, das er »in Mißcredit gerathen« sieht (W X I 62). Mit Blick auf die ästhetisch ehrenwerte Tradition (also Lessing und Schiller) tut Hebbel im Vorwort den Typus der Gattung ab, der seine Konflikte aus sozialen Antagonismen gewinnt, denn: »Daraus geht [...] unläugbar viel Trauriges, aber nichts Tragisches, hervor [...]« (W X I 62). Natürlich verkennt - wie oft vermerkt worden ist - der Dichter des 19. Jahrhunderts den historischen Stellenwert, den der Standesunterschied im 18. Jahrhundert noch für das gesellschaftliche Leben hatte und also auch für das Drama haben mußte, sofern es sich diesem zuwandte. Hebbel verkennt auch, daß es Lessing und Schiller in ihren bürgerlichen Trauerspielen nicht darum gehen konnte, das »Tragische« im philosophischen Sinne - also als ontologische Wesenheit - zu gestalten, weil sie noch in einer anderen, nämlich wirkungspoetischen Dramaturgie dachten. Der geläufigen Auffassung, daß Hebbels Argument Indikator einer seit dem 18. Jahrhundert durchgesetzten gesellschaftlichen Emanzipation des Bürgertums ist, muß der Hinweis auf den ästhetisch-dramatischen Paradigmenwechsel gegenüber der Frühzeit des bürgerlichen Trauerspiels an die Seite gestellt werden. Dagegen besteht historisch-ästhetische Vergleichbarkeit hinsichtlich der jungdeutschen Tendenzdramatik, vor allem aber hinsichtlich jener Trivialdramatik, mit der Iffland und die Seinen bis zur »Frau Altmeisterin« (B III 208), der besonders emsigen Charlotte Birch-Pfeiffer, die Theater überschwemmen. Ihr dienen familiäre Themen und soziale Probleme als Mittel, um eine „gerührte Sentimentalität" (W X I 62) zu erzeugen. Es ist dieses bürgerliche Rührstück, demgegenüber Hebbel die Möglichkeit des bürgerlichen Trauerspiels verficht, das sich gleichfalls auf die vertrauten alltäglichen Elemente des gesellschaftlichen Lebens beschränkt und dennoch »Tragisches« hervorzubringen vermag (vgl. auch Β IV io6). 3 Daß >Maria Magdalena< für einen solchen Anspruch einstehen kann, zeichnet sie in den Augen ihres Schöpfers aus - eine kritische Generalabrechnung mit dem Bürgertum war dagegen nie beabsichtigt und ist auch nicht geleistet. Dem Vorwort und sonstigen Äußerungen (vgl. Τ 2910) ist zu entnehmen, daß die Tragödienstruktur unverändert der bürgerlichen Alltäglichkeit aufgeprägt werden sollte, im Dramenstil aber einige Konzessionen zu machen
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Noch 1863 erinnert Hebbel an seine einstige »Besorgniß«, daß man die »Maria Magdalena< »für eine Ifflandsche Nachgeburt erklären werde« (Β VII 303). Die »Iffland'sche Weise« hätte - nach Siegmund Engländer - darin bestanden, »Klara mit Leonhard bei der Rückkunft des Sekretairs verlobt oder verheiratet sein [zu] lassen« (Die Aufführung der Maria Magdalena von Hebbel auf dem Hofburgtheater zu Wien im Mai 1848. In: Jahrbücher für dramatische Kunst und Literatur. 1848. Zit. nach: H K . S. 209).
waren. So rügt Hebbel, daß »unsere Poeten, wenn sie sich einmal zum Volk hernieder ließen, [...] die gemeinen Menschen [...] immer erst durch schöne Reden, die sie ihnen aus ihrem eigenen Schatz vorstreckten, adeln [...]« (W X I 6if.). Das dürfte sich auf Satzperioden beziehen, in denen Schillers Luise Millerin vor der Lady Milford das göttliche Recht ihrer Liebe flammend verteidigt oder Miller seine Tochter an das göttliche Gericht mahnt, das über eine Selbstmörderin ergehen wird - Etüden großartiger Rhetorik, die eben deshalb die Dimensionen der kleinbürgerlichen Welt zu sprengen drohen. Aber wenn sich Hebbel somit zum Fürsprecher landläufiger Realismus-Vorstellungen macht, dann kommt die Kritik an den Vorgängern auch als Bumerang auf sein eigenes Stück zurück: zu Recht ist daran erinnert worden, daß »kein Tischler der Welt je so gesprochen hat wie dieser Meister Anton [.. ,]«4 Daß für Hebbel selbst mit der »bürgerlichen Tragödie« Stilprobleme aufgeworfen sind, die nicht schon mit der >Maria Magdalena< als gelöst gelten können, zeigt eine Überlegung von 1847, die für diesen dramatischen Typus »ein Mittleres« zwischen »alltäglicher Prosa« und hier unangebrachtem »Vers« postuliert (vgl. Τ 4276). Damit zeichnet sich einiges von der Kühnheit und Schwierigkeit ab, vor die um 1840 ein dramatisches Unterfangen geraten muß, im »eingeschränktesten Kreis« tragische Grundverhältnisse sichtbar zu machen. Das Kleine und Gedrängte des Lebens, das Alltägliche und auch Schneidende der sozialen Erfahrung fällt nach traditioneller poetologischer Zuordnung in die Zuständigkeit der Komödie. Die alten Standes- und Stilkriterien haben hier für klare Verhältnisse gesorgt - sie lassen sich noch bis in die Umwertungen hinein verfolgen, denen die ältere normative Poetik unterworfen worden ist. Ein Beispiel dafür bietet die Gattungslehre des Stürmers und Drängers Jakob Michael Reinhold Lenz, die ständig schwankt, ob sie sich terminologisch den herrschenden Konventionen fügen und also »Trauerspiel« nennen sollte, was als »Lustspiel« gemeint ist, oder die neue Verknüpfung von >ernster< Sozialproblematik und >komischer< Dramenform nicht auch nominalistisch anzuzeigen hätte.® Die >Anmerkungen übers Theater< (1774) fassen die Tragödie vom Heldenbegriff her, sehen in ihr »die Handlungen um der Person willen« geschehen. Dagegen: Ganz anders ists mit der Komödie. Meiner Meinung nach wäre immer der Hauptgedanke einer Komödie eine Sache [...] Die Personen sind für die Handlungen da -
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So Siegfried Jacobsohn in der Besprechung einer Berliner Inszenierung der >Maria Magdalena< von 1922 (zit. nach: M . Schaub, wie Anm. 1, S. 122). Vgl. für den >Hofmeister< (1774) die Belege bei Peter Christian Giese, Das »Gesellschaftlich-Komische«. Z u Komik und Komödie am Beispiel der Stücke und Bearbeitungen Brechts. 1974. S. i68ff. u. 263.
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für die artigen Erfolge, Wirkungen, Gegenwirkungen, ein Kreis herumgezogen, der sich um eine Hauptidee dreht - und es ist eine Komödie. 6
Hält man diese sich so harmlos gebende Äußerung mit den Lenzschen Dramen zusammen, so erweist sie sich als Hindeutung auf eine sehr ernst genommene gesellschaftliche Problematik, die den autonomen Helden der Tragödie nicht mehr zuläßt. Das Drama drängt in dem Maße, wie es Gegenwartsfragen aufnimmt und soziale Zustände erfaßt (bzw. geändert) sehen will, zur Komödie oder - da es sich nicht um das Lustspiel der alten Art handeln kann - zu Mischformen des Tragischen und Komischen. Als Brecht den >Hofmeister< 1950 einer Bearbeitung unterzog, brauchte er nur Tendenzen deutlicher herauszuheben, die schon das Original zeigt, sofern es mit allen seinen tragischem Zügen als »Komödie« deklariert ist. 7 Der Hebbelschen Lenz-Kritik von 1839 ließe sich nachweisen, daß sie die Stücke im Lichte des Tragischen und der Tragödie mustert und darum im Entscheidenden verfehlt (vgl. Τ i47I). Man mag eine gewisse Ironie darin erblicken, daß Hebbels >Maria Magdalena< selbst in das Licht des Komischen gezerrt worden ist: als Kontrastfolie für Franz Xaver Kroetz, der 1973 eine „Komödie" gleichen Titels »frei nach Friedrich Hebbel« (Untertitel) vorgelegt hat. Der Autor hielt sich an die Motive und Figurenkonstellationen des Hebbelschen Trauerspiels, sprengte einige Aktualisierungen (von Liz Taylor bis Franz Josef Strauß) in die Reden und bestritt diese hauptsächlich mit Dialekt-Kürzeln und allerlei Vulgarismen (»Du Sau!«) - offensichtlich zur Herausbildung schichtenspezifischer sprachlicher Authentizität. A m Schluß spielen Papa, Karl und Peter (der hier die Rolle von Hebbels Sekretär übernimmt) ihren gewohnten Skat, 8 unberührt davon, daß sich die schwangere Marie für vergiftet erklärt - was als Faktum nicht gesichert wird, vermutlich nur das >Falsche< des PathetischTragischen evozieren soll. Denn es geht dem modernen Umarbeiter natürlich darum, die originale Tragödie Hebbels ironisch zu diskreditieren, und irgendwie dürfte ihn dabei auch die heute gängige Vorstellung vom fortschrittlichen Charakter der »Komödie« geleitet haben.
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Zit. nach: Sturm und Drang. Kritische Schriften. Plan und Auswahl von Erich Loewenthal. 3 1972. S. 744. - Vgl. dazu die Erläuterungen von Fritz Martini, Die Poetik des Dramas im Sturm und Drang. Versuch einer Zusammenfassung. In: Deutsche Dramentheorien. Hg. von Reinhold Grimm. 1973. Bd. I. S. 156fr. Vgl. zur Gegenüberstellung im einzelnen P. C . Giese, wie Anm. 5, S. i6off. Nicht Leo (die Pendantfigur zu Hebbels Leonhard), wie Georg Hensel irrtümlich meint - in seiner ansonsten treffenden Charakterisierung der »Nachgeburt« (s. Anm. 3) von Kroetz: Der unterwanderte Hebbel. Über >Maria Magdalena< von Kroetz. In: Theater heute. 14, 1973. Heft 6. S. 34. - Der Stückabdruck: ebd. S. 37-47·
Was aber erwartet nun Hebbel selbst von der Komödie, so daß er ihr die soziale Alltäglichkeit vorenthält und diese wiederum der Tragödie - als Bewährungsfeld - zuordnet? Seine diversen Äußerungen zum Komischen wie zur Komödie, überhaupt die Einschätzung ihrer ästhetischen Wertigkeit zeigen den Theoretiker - wie den Dramatiker - hier auf durchaus eigenen Wegen. Hebbel hält nicht >klassizistisch< die traditionelle Stillehre fest, dergemäß es Sache der Komödie wäre, Torheiten und Laster bloßzustellen und durch solche Spiegelung zur Besserung der Sozietät beizutragen. Mit Bezug auf Plato werden Komödie und Tragödie auf »die gleiche Idee« zurückgeführt (T2393), 9 und in einer Rezension von 1850 wird Schiller als Zeuge einer Wertschätzung angerufen, nach der die Komödie sogar die »letzte Spitze der Kunst« bildet (W X I 3 5 zf.).IO Wie die Tragödie umfaßt sie danach »alle Elemente der Welt«, und sie übertrifft jene noch in dem freieren Ueberblick und der aus diesem entspringenden größeren Gleichgültigkeit gegen die Einzelerscheinungen, die der Tragöde weinend zerbrechen sieht, der Komöde lachend selbst zerbricht (W X I 353).
Nicht die Wirkung der Komödie steht dabei im Blick, sondern die Form selbst wird unter ein derart hochgreifendes Postulat gebracht. Hebbel nobilitiert die Komödie, in dem er ihr - wie der Tragödie - die Beziehung auf die »Grundverhältnisse« des Daseins abverlangt (vgl. Β II i j i f · ) , so daß man von einer metaphysischen Konzeption zu sprechen hat. 11 Die Komödie wird auf »die höheren und höchsten Sphären« verwiesen, die Hebbel nicht einmal von dem bewunderten >Zerbrochnen Krug< erreicht sieht (vgl. W X I 352). Nicht zuletzt ist ein derart hochgespannter Komödienbegriff von dem Bedürfnis nach Abgrenzung von der zeitgenössischen Lustspielpraxis motiviert. 1 1 Diese erschöpft sich nach Hebbels nicht unzutreffender Beobachtung weitgehend in »Possen und Albernheiten« (vgl. W X 366f.) und entspricht
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Vgl. zur - nachträglich festgestellten - Übereinstimmung mit Piatos Gedanken aus dem >SymposionIndividuellen< und >Universellen< stößt, der auch das Phänomen des Komischen nicht auslassen kann. Diese theoretische Auszeichnung hat Folgen für die Gestaltungsweise der Komödie: Sie darf das Komische nicht selbstgenugsam als Abweichung von der Natur aufstellen (und als bloß Lächerliches ausbeuten), sondern sie hat es trotz seiner Abnormität wieder in einen »Zusammenhang [...] mit dem Allgemeinen« zu bringen, also noch die »Verzerrung« aus dem Gesetzlichen hervorgehen zu lassen. Was der frühe Aufsatz >Ueber Theodor Körner und Heinrich von Kleist< (1835) theoretisch über das Komische (im Unterschied zum Lächerlichen) ansetzt (vgl. W I X 57), wird zum Formgesetz der metaphysischen Komödie: sie hat das Komische als »ein Mysterium der Natur« (W X 383) zu behandeln (vgl. Τ 1176). Während das nobilitierte Lustspiel »mit schöpferischer Kraft die komischen Urbildungen der Natur herauf beschwören« soll, fallen die gesellschaftlichen Mißstände der Gegenwart in die Zuständigkeit einer untergeordneten Form des Lustspiels, der »Satyre« - wie Hebbel 1849 die Hierarchie fixiert (W X I 273^). Eine zusammenhängende Darstellung seiner Komödientheorie gibt Hebbel - »fibelhaft deutlich« (Β IV 40) - im 1841 entstandenen KnittelversProlog seines Lustspiels >Der Diamant< (W I 299-318). Die Fronten sind klar: Der Dichter steht zwischen »Muse« und »Aftermuse«, zwischen der schweren Aufgabe, am Einzelnen »das ganze Weltgetriebe« darzustellen (V. n j f . ) , und der Verlockung, unbekümmert um »Formen« und »Normen« durch »Anspiel-Witze« leichthin zu reüssieren (V. 4iiff.). Wie die Entscheidung ausfällt, ist in dieser Gegenüberstellung natürlich schon angelegt: Der Dichter hält dem Geheiß der wahren Muse die Treue, »das Bild der Welt« (V. 378) zu entwerfen, auch wenn es die Zeit in ihrer Sucht nach Selbstbespiegelung nicht haben will, und begnügt sich nicht damit, »ein Bild der Zeit, und ihrer werth« (V. 444) zu geben, obwohl ihm für seine eigenmächtige Redundanz schon die Rache der »Kritik« prophezeit wird (V. 404). Der Prolog bringt mithin, Goethes »Vorspiel auf dem Theater« (zum >FaustDiamant< gibt. Schon im Programm verrät sich der nihilistische Grundzug, den Komik und Komödie für Hebbel nicht anders als Tragik und Tragödie haben. Nicht von ungefähr äußert sich der Dichter 1852 auch dahingehend, daß der >Diamant< »vielleicht noch herber im Kern« sei als die vorangegangenen Tragödien >Judith< und >Genoveva< (Β V I I I 47). Dazu läßt sich teils retrospektiv, teils vorgreifend sagen: Weil das Individuum im Lustspiel, der Gattungsnorm gemäß, nicht mit der ihm möglichen Wertsubstantialität in Erscheinung treten kann, sondern in einer »Verzerrung« (W I X 57) bzw. in »erdwärts gekehrten Richtungen und Bestrebungen« (W X 366) gezeigt wird, kann der über allem waltende »Geist« auch nur »ganz von fern« aufdämmern, wie es der Prolog ankündigt (V. 34iff.). J e weniger dieser »Geist« durch ein wesentliches Handeln des Individuums selbst als das Wesentliche >provoziert< wird, um so mehr nimmt er die Gestalt des »Zufalls« an (V. 176, vgl. W I 353), wird aber in dieser, wenn auch zuletzt ins Freundliche gewendet, dem Nichts zum Erschrecken ähnlich. So glaubt im Lustspiel selbst der Prinz in einem Augenblick der Schwermut die Welt auf den Grund bzw. >Ungrund< des >Nichts< durchschauen zu müssen (W I 374). Die Welt Georg Büchners ist ganz nah, die erhoffte Theaterwirkung im Zeichen einer derart umdüsterten Komik freilich ganz fern. Dem Hebbelschen Lustspiel fehlt es jedenfalls nicht an problematischen Aspekten, wie im einzelnen noch auseinanderzulegen sein wird. Es zeichnet sich ab, daß eine programmatisch dermaßen beschwerte Form nicht darin aufgehen kann, Zeitvorgänge und Zeitprobleme zurückzuspiegeln. Selbstverständlich gibt es auch für den >Diamant< wie überhaupt in künstlerischen Dingen eine Mitgift der Zeitgenossenschaft, wie nicht zuletzt Hebbel weiß (vgl. W X 396). Doch für die hier intendierte Komödienform kann sie schwerlich über den Raster eines sozialkritischen Realismus interpretatorisch geltend gemacht werden - man kommt um den Nachvollzug der konstituti175
ven >Komödien-Metaphysik< nicht herum. Andererseits ist zu beachten, daß Hebbel als Theoretiker die traditionelle Verknüpfung von Lustspiel und G e genwart auch nicht ganz und gar aufgekündigt hat. Dies zeigt sein »Sendschreiben« an Heinrich Theodor Rötscher, der 1851 erschienenen Buchausgabe vom >Trauerspiel in Sicilien< als Vorrede vorangestellt. Hebbel berichtet hier, wie ihm der Vorfall, der dem Stück zugrunde liegt, in Neapel zugetragen wurde und sogleich »zum dramatischen Bilde zusammenrann« (W II 379). Schon die einleitenden Bemerkungen führen in eine andere Welt als der poetisch eingekleidete Lustspiel-Prolog: Statt distanzierter Stilisierung eines komischen Welttreibens herrscht Betroffenheit angesichts des sich zeigenden sozialen Elends vor. Die »Lazzaroni mit ihren gierigen, hungerbleichen Gesichtern«' 3 lassen sich nicht mehr zu LustspielFiguren machen, sondern zwingen den Blick auf »die Kluft, die zwischen den besitzenden und den nichtbesitzenden Classen der Gesellschaft besteht« (W II 378). Und weiter: Der erzählte Vorfall selbst, das Schicksal des Mädchens, das von zwei Gendarmen beraubt und ermordet wird, die Todesgefahr des verspätet eingetroffenen Geliebten, dem man den Mord unterzuschieben versucht, die zufällige Aufklärung des Verbrechens durch einen in der Nähe versteckten Dieb - das alles erscheint Hebbel symptomatisch für »die sittlichen und selbst die politischen Zustände des Landes und Volks« (W II 379). Es verlangt nach dramatischer Bewältigung - aber in welcher Form kann diese versucht werden? Wenn sich die Diener der Gerechtigkeit in Mörder verwandeln und der Verbrecher, der sich zitternd vor ihnen verkroch, ihr Ankläger wird, so ist das eben so furchtbar als barock, aber auch eben so barock als furchtbar. Man mögte vor Grausen erstarren, doch die Lachmuskeln zucken zugleich; man mögte sich durch ein Gelächter von dem ganzen unheimlichen Eindruck befreien, doch ein Frösteln beschleicht uns wieder, ehe uns das gelingt. N u n verträgt sich die Comödie nicht mit Wunden und Blut und die Tragödie kann das Barocke nicht in sich aufnehmen. D a stellt sich die Tragicomödie ein, denn eine solche ergiebt sich überall, w o ein tragisches Geschick in untragischer Form auftritt, w o auf der einen Seite wohl der kämpfende und untergehende Mensch, auf der anderen jedoch nicht die berechtigte sitdiche Macht, sondern ein Sumpf von faulen Verhältnissen vorhanden ist, der Tausende von Opfern hinunterwürgt, ohne ein einziges zu verdienen. Ich fürchte sehr, manche Processe der Gegenwart können, so wichtig sie sind, nur noch in dieser Form dramatisch vorgeführt werden (W II 379f.).
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Ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den der Italienfahrer Goethe 1787 von den Neapolitanern - »Menschen von glücklichem Naturell« - empfangen und weitergegeben hat: Auch die Ärmsten der Armen werden in das Bild eines sorgenfreien, von der Natur begünstigten Lebens aufgenommen (vgl. Italienische Reise, 12. 3. u. 28. 5. 1787; G A X I 218 u. 366ff.). Schon in der unmittelbaren brieflichen Schilderung der sozialen Zustände in Neapel hat Hebbel (am 22. 7. 1845) die Akzente »schneidender« gesetzt (vgl. Β III 248f.).
Um an die letzte Bemerkung anzuknüpfen: Hebbel spricht von seiner Befürchtung, daß wichtige »Processe der Gegenwart« nur noch von einer untergeordneten dramatischen Form aufgenommen werden können. Er begnügt sich also nicht damit, dies lediglich zu konstatieren oder vorauszusagen. Die Besorgnis des interessierten Gattungstheoretikers klingt durch, daß die höchste Form des Dramas in Anbetracht ihrer Inkommensurabilität mit den gegenwärtigen »Processen« funktionslos werden könnte. Der Komplex sozialer Bedürfnisse, Probleme und Kämpfe ist zu wichtig, um vom Drama übergangen werden zu können, andererseits in seinen bewegenden Kräften zu >niedrighohen< Tragödie zu taugen, schließlich aber auch in seinen Wirkungen zu furchtbar, um der Komödie zu »verfallen« (W II 380). Man sieht, wie Hebbel bei diesen Abgrenzungen auf den untergeordneten, nicht den nobilitierten Gattungsbegriff der Komödie rekurriert. Man sieht überdies, wie er die gattungspoetischen Zuordnungen immer von den Möglichkeiten der Tragödie her festlegt. 14 Tragödie und Komödie - in ihren beiden Spielarten - können die sozialen Konflikte nicht fassen, wie sie die neapolitanische Erfahrung in das Blickfeld gerückt hat. In dieser Lage »stellt sich die Tragicomödie ein«, fast wie ein gattungspoetischer Deus ex machina bietet sich eine Mischform an, die ein »tragisches Geschick« in »untragischer Form« darzustellen erlaubt, d. h. von der Notwendigkeit enthebt, im Untergang des Menschen eine zu Recht dominierende »sittliche Macht« aufgehen zu lassen. Die Mischform der »Tragicomödie« ergibt sich dabei keineswegs von selbst, als eine gleichsam natürliche Synthesis angesichts der von Hebbel theoretisch ausgemachten Konvergenz des Tragischen und des Komischen.' 5 Der Fall liegt so, daß realer gesellschaftlicher Problemdruck den Dichter auf den Weg, wenn nicht schon den Ausweg der gattungstheoretischen Innovation und - für die Gestaltung selbst - des formalen Experimentierens nötigt. Die Tragödie und eine ihr insgeheim nachmodellierte >metaphysische< Komödie, die »beiden Sphären des Dramas« (Β II 23) bieten kein Medium, Pro-
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Vgl. Τ 2393, das Epigramm >Die moderne Komödie< (W V I 358) und eine Gutzkow-Rezension von 1849, innerhalb derer die Tragödie doch wieder über die nobilitierte, also von der gesellschaftskritischen »Satyre« unterschiedene Komödie hinausgehoben wird (vgl. W X I 274). A m Synthesis-Modell des »Tragikomischen« sind - unter geschichtsphilosophischen Vorzeichen — die großen idealistischen Ästhetiken Schellings und Hegels orientiert. Von einer »Reziprozität der Zusammenwirkung des Tragischen und des Komischen« für die moderne Tragikomödie geht Karl S. Guthke mit Blick auf Ibsen und Tschechow aus: Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie 1961; Die moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt. 1968 (Zitat: S. 65).
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bleme einer Gesellschaft zu verhandeln, die in sich nach Klassenprivilegien unterschieden, in Lager von Reichtum und Armut aufgespalten ist. Daß sich Hebbel gattungspoetisch auf unvertrautem Gelände sieht, ist sozusagen im Schatten der aufgereckten hegelianischen Kategorien des »Sendschreibens« wohl bemerkbar: an der Art etwa, wie er seinen Versuch in der »Tragicomödie« recht unbestimmt abhebt von einer Gattungskonvention, die sie »zur Parodie verflacht« (W II 379), oder wie er von Heinrich Theodor Rötscher für das >Trauerspiel in Sicilien< gattungstheoretische Hilfe erbittet (vgl. W II 380). Die Gattungsbestimmung »Tragicomödie« für den Einakter geht auf einen Vorschlag von Felix Bamberg zurück: Sie haben in diesem Stücke kein Trauerspiel sondern eine C ο m ö d i e und näher eine T r a g i k o m ö d i e geschaffen. Die Ironie ist hier viel gewaltiger, die Auffassung des verkehrten Lebens viel unendlicher als in Ihrem Diamant: t o l l e r k a n n d i e W e l t k a u m d a r g e s t e l l t w e r d e n [...] wenn Sie meinen Rath nicht verschmähen wollen, so nennen Sie das Stück: C o m ö d i e , oder wenn Sie das Schneidende und Ironische das alsdann in diesem Titel selbst schon liegen würde mildern möchten: T r a g i c o m ö d i e . Das Wesen der letztern ist eigentlich von den Aesthetikern noch gar nicht recht erkannt worden, weil noch zu wenig lebendige Beispiele vorliegen. Sie werden, glaube ich eines liefern und es würde mir Freude machen bei dieser Gelegenheit den Begriff scharf entwickeln zu können.' 6
Rötscher, an den ein solches Ansinnen dann gerichtet wird, hat die erbetene theoretische Hilfe nicht geleistet. Der hegelianische Geburtshelfer von >Herodes und Mariamne< konnte wohl seine klassizistischen Bedenken nicht überwinden und bezeichnete das sizilianische >Trauerspiel< nach der Erstpublikation von 1847 reserviert als »ein tragisches Gemälde« - er scheint anzunehmen, daß es als »Tragödie« gemeint und als solche nicht recht gelungen sei. 17 Mit seinem Vorbehalt steht er nicht allein. Wenn Hebbel selbst im »Sendschreiben« den Betrachter durch die »Tragicomödie« in ein Wechselbad von >GrausenLachen< und >Frösteln< gestürzt sieht, dann ist solche wirkungsästhetische Annäherung an die Sache für ihn durchaus nicht selbstverständlich. In Hebbels theoretischer Unsicherheit wiederholen und verschärfen sich gattungspoetische Probleme, vor die sich schon Lenz gestellt sah: »Komödie ist Gemälde der Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden.«' 8 Hebbel sieht sich nicht einmal mehr in der Lage, den »ernsthaften« Gesellschaftszuständen dramatisch mit einer neudefinierten Komödienform beizukommen. 16
An Hebbel, 28. 1 1 . 1846 (HBF I 282f.). V g l . Hebbels Reaktionen auf diesen »vortrefflichen Brief« (Β IV 244): Τ 3877 u. Β IV 35. - Z u Hebbels Theorieproblemen bei diesem Stück vgl. Gerhard Kaiser, Hebbels >Trauerspiel in Sicilien< als Tragikomödie. In: HJ. 1974. S. i7of. •7 Vgl. an Hebbel, 18. 10. 1847 (HBF II 298). 18 Selbstrezension des >Neuen Menoza< (1774); zit. nach: F. Martini, wie Anm. 6, S. i 5 7 f . 178
Vor solchen Hintergründen wird allererst ersichtlich, was in >Maria Magdalena< auf dem Spiel steht und was das Gelingen besagt, das sich Hebbel nach ihrem Abschluß bescheinigt. Hier hat die Tragödie soziale Problematik bewältigen, an ihr sich bewähren können. Aber sofern diese später in Italien »schneidend scharf« wahrgenommen werden muß, ohne doch territorial begrenzt zu sein (vgl. W II 378), enthüllt sich das Gelingen des bürgerlichen Trauerspiels nachträglich in seiner Ambivalenz. Es ist, näher besehen, durch eine vorgängige Amputation der Probleme erkauft. Der Dramatiker hat sich in >Maria Magdalena< keineswegs unvermittelt an die »Processe der Gegenwart« herangewagt, wenn anders diese eine tragische Form gar nicht mehr zulassen. Er hat vielmehr die Probleme im vorhinein so >gestelltMaria Magdalena< untersucht werden kann, gilt es einen Durchblick durch die beiden Dramen zu geben, die Hebbels bürgerliches Trauerspiel zeitlich und gattungsästhetisch umschließen: das Lustspiel >Der Diamant< und die Tragikomödie >Ein Trauerspiel in SicilienDer Diamant< (entstanden 1841) als auch >Ein Trauerspiel in Sicilien< (entstanden 1846/47) erstmals im Druck. So überrascht es nicht, daß Hebbel beide Arbeiten auch in der Korrespondenz jener Zeit gelegentlich verknüpft und etwa davon spricht, daß das sizilianische >Trauerspiel< den >Diamant< »supplirt« (Β IV 54). Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß beide Dramen auf eine Ebene gestellt und in gleicher Weise auf die Aufgabe der Gegenwartsdarstellung verpflichtet würden.' 9
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Dagegen homologisiert L. Lütkehaus, gestützt auf die Briefaußerungen, hier allzu unbedenklich (vgl. Hebbel. Gegenwartsdarstellung, Verdinglichungsproblematik, Gesellschaftskritik. 1976. S. 31 f.). Seine Erläuterung von Hebbels Monitum über die Inkompetenz jener Kritiker, »die einen S p a t e n zu recensiren glauben, wenn sie eine U h r vor sich haben« (Β IV 44), ist mehr phantasievoll als sacherhellend Hebbel meint doch nur, daß jene Kritiker ein Drama nicht nach der spezifischen Gesetzlichkeit seiner Gattung beurteilten (vgl. auch Β IV 158). Dafür hat L. Lütkehaus selbst ein neues Beispiel geliefert. l
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Wenn ein vorgelegter Sachverhalt »supplirt« werden soll, dann heißt das in der Regel: er ist aus der eigenen Vorstellung des Betrachters zu vervollständigen. 20 Bezogen auf zwei literarische Werke, kann nur >Ergänzung< des einen durch das andere gemeint sein - also ist ihr Unterschied implizit mitgedacht. Die Zusammenstellung von >Diamant< und >Trauerspiel< fordert mithin dazu auf, in der Analogie auch die Differenz zu sehen, zumal das ItalienStück von Hebbel selbst als »ein unicum« bezeichnet wird (Β IV 61, V 55). Die Interpretation sieht sich folglich gehalten, die Frage nach den Zeitbezügen der beiden Stücke unter strikter Beachtung der jeweiligen Formgesetzlichkeit zu stellen. a) Die nobilitierte Komödie Wie also hält es Hebbels Komödie mit der »Gegenwart«, der sie sein Kommentar einmal ausdrücklich zugewiesen hat? 21 Ein Edelstein, zunächst auf einem Bauernhof achtlos weggeworfen und später lediglich seines Glanzes wegen als Kinder-Spielzeug geschätzt (vgl. W I 324), entfesselt eine Versteckund Verfolgungsjagd, die nicht mehr spielerisch, sondern sehr ernsthaft betrieben wird. Dazwischen liegt >nur< dies, daß das Glitzerding in seinem Wert festgestellt worden ist, ökonomisch genauer: in seinem Tauschwert (vgl. W I 330), der schließlich mit nicht weniger als »einer halben Million« veranschlagt wird (W I 3 3 7 f . ) . Eine »Fülle drolliger Gestalten« hatte der Prolog angekündigt, bei denen durch das Spiel die »innerste Natur, / Sonst weg gedrückt und wohl versteckt, / Entschleiert wird und aufgedeckt« (V. i69ff.). Wie der gewissenlose Doktor und sein Hauswirt, der egoistische Richter und sein Untergebener, der Gefängniswärter, sich in ihrer Niedrigkeit enthüllen, das entspricht durchaus den vertrauten Bildern einer Typen- oder Ständesatire. Daß sie alle leer ausgehen und der Bauer Jacob am Ende den Tauschwert des Steins erhält, erscheint in dieser Welt hemmungsloser Besitzgier wie ein letztes Walten der Gerechtigkeit (vgl. Prolog, V. 34iff.), weil der Bauer sich vor den anderen
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So fordert Hebbel zum Verständnis seiner Dramen, daß der Betrachter »aus dem eigenen Vermögen etwas zu suppliren hat« (Β IV 72). Der Begriff des Supplierens wird von Goethe häufig verwendet; er kann auch als Interpretament Goethescher Symbolkunst eingesetzt werden (vgl. etwa Paul Böckmann, Die zyklische Einheit der Faustdichtung. In: Böckmann, Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation. 1966. S. 193-209). Im Pariser Dramenzyklus-Programm v o m 2. 6. 1844: Die »Gegenwart« soll danach durch die geplanten Stücke >Fiat justitia et pereat mundusGenie und Welt< (wahrscheinlich mit dem Tragödienprojekt >Der Dichten identisch) und eben den >Diamant< repräsentiert werden (vgl. A H K . S. 35).
immerhin durch eine natürliche Gutmütigkeit ausgezeichnet hat, die er sich nach dem Ausblick des Prologs auch bewahren wird (vgl. V. inff.). Das Jagdspiel erhält nun dadurch seinen ernsten, ja bitteren Zug, daß es nicht einfach auf einen Gegenstand geht, den Diamanten, sondern auf einen Menschen, der ihn sich einverleibt hat. Der jüdische Händler Benjamin hat den Stein, den er beim Bauern gesehen hat, kurzerhand verschluckt, um seinen Wert für sich selbst zu sichern (vgl. W I 328f.). Wenn ihm später scheint, daß er »den Tod verschluckt« habe (W I 343), so nicht allein der Assimilations- und Verdauungsprobleme wegen, die ein Diamant im Bauch zu schaffen pflegt - die anderen wollen ihm ans Leben, weil sie ihn bedenkenlos mit der Wertsache identifizieren, die er in sich trägt. Da eine natürliche Ausscheidung nicht stattfindet, soll der Stein aus dem Bauch Benjamins herausgeschnitten werden, obwohl der Doktor nicht dafür einstehen kann, daß der Jude die >Operation< überleben wird (vgl. W I 361). Man schickt sich also an, »einen Menschen bei lebendigem Leibe zu schlachten« (W I 365), weil man ihn gänzlich zum Wertgegenstand verdinglicht hat und als Menschen nicht mehr wahrnimmt. Aber Benjamin ist sich selbst gegenüber - mit virtuoser Spiegelfechterei vor dem eigenen Gewissen nicht anders verfahren (vgl. seinen Monolog W I 327ff.). So erscheint die Frage nicht unberechtigt: Ist der Kerl nicht selbst Schuld daran, daß man in ihm nicht mehr einen Menschen sieht, in dem eine Seele sitzt, sondern nur noch einen ledernen Sack, in dem ein gestohl'ner Diamant steckt? (W I 378)
Man kann mit einigem Grund die >Judenfrage< von Hebbels Komödie angespielt sehen, also ein akutes Zeitproblem mit ökonomischen, sozialen und moralischen Aspekten/ 2 Aber detailscharfe Spiegelungen dieses Themas enthält der Text nicht, vom Votum des Prologs (der nichts von einer >Judenfrage< weiß) ganz zu schweigen. Die Darstellung des Juden im >Diamant< hält sich an das stoffliche Vorbild, einen jüdischen Trödelhändler in Jean Pauls >Leben FibelsZur JudenfrageDeutsch-Französischen Jahrbücher< (1843/44), die Marx' Abhandlungen enthalten, nicht an diesen interessiert gezeigt, sondern - mit bemerkenswerter Z u stimmung - an kritischen Aufsätzen von Friedrich Engels (vgl. Β III 73). 181
worden i s t / 3 Wenn man an Shakespeares >Kaufmann von Venedig< denkt, so wird man auf noch weiter zurückreichende motivgeschichtliche Zusammenhänge aufmerksam, so nämlich, daß bei Hebbel das Mordmotiv vom Juden auf die Bürgerleute übergewandert ist. So fordert der dramatische Tatbestand, daß »das Crescendo des Egoismus« 2 4 in einem Juden gipfelt, übrigens nur mit knappstem Vorsprung vor dem skrupellosen Doktor, nicht unbedingt zu einer tiefgreifenden historischsozialen Strukturanalyse heraus, zumal das Motiv der Besitzgier, des Egoismus, für die Komödie seit jeher ein Allerweltsthema abgibt. Die >Judenfrage< wird von Hebbels Stück so aufgegriffen, daß man ihre aktuelle Bewandtnis gerade noch wahrnehmen kann, aber keineswegs in ihrer spezifischen Problematik entfaltet und auch nicht andeutungsweise sozialkritisch generalisiert. Damit deutet sich an, daß dieses Lustspiel nicht als Gesellschaftsmodell seiner Entstehungszeit herhalten kann 2 5 - es wird durch eine solche Erwartung im gleichen Maße verfehlt und überfordert. Nicht anders steht es mit dem Motiv der Armut. Gleich zu Beginn wird es eingeführt und mit der bäuerlichen Sphäre verknüpft: »Wir sind arme Leute und haben gar nicht das Recht, barmherzig zu sein« ( W I 323). So könnte ein sozialkritisches Drama anheben, zu dem auch passen würde, daß die dargestellte Welt durch eine vertikale »Rang«-Ordnung gegliedert ist (vgl. W I
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Vgl. Kap. 7: >Zwimwickler. Der Smaragd< (Werke. Hg. von Norbert Miller. 1959/63. Bd. VI. S. 399ff.). - Wenn ich L. Lütkehaus recht verstehe, will er den Unterschied der »analen« Ausscheidung des Diamanten (bei Hebbel) zu seiner »oralen« Herausgabe (bei Jean Paul) als Kennzeichen einer Ausweitung des Vorgangs »aufs gesellschaftlich Repräsentative« hin verstanden wissen (vgl. wie Anm. 19, S. 59). Aber erlaubt Hebbels Darstellung (vgl. W I 377f.) überhaupt eine eindeutige Feststellung, auf welchem Wege Benjamin seinen Diamanten schließlich los wird? Hebbel selbst spricht immerhin von der »Erbrechungs-Scene« (an Julius Campe, 11. 8. 1853; N H D . S. 88). Im übrigen ist der mögliche Unterschied für das Stück nicht so wichtig, wie es sich im Lichte fortschrittlicher Theorie ausnehmen mag - vorausgesetzt, die Theorie des >Analökonomischen< hat etwas mit Licht und Fortschritt zu tun. Ihm steht »das Decrescendo des Wahns« von der Prinzessin abwärts in der Hofsphäre gegenüber: treffende Prägungen E. Altherrs (wie Anm. 11, S. 87). Dagegen sieht Helmut Martin eine »modellhafte Darstellung sozialer Gegensätze in der Gesellschaft« (»Besitzdenken« im dramatischen Werk Friedrich Hebbels. Studien zu einem historischen Verständnis des Dichters. 1976. S. 91). L. Lütkehaus findet das »Modell« des Stückes so »konkretisiert«: »[...] repräsentiert der agrarische Ausgangspunkt der Handlung nicht nur eine subsistenzwirtschaftliche Folie, die der Tauschwertorientierung der Bürger im Sinne eines synchronen Gesellschaftsmodells gegenübergestellt wird, sondern auch diachronisch ein Stadium der Produktivkraftentwicklung, in dem noch nicht gesamtgesellschaftlich fur den Markt produziert wird« (wie Anm. 19, S. 56). Kein Wunder, daß einen solchen ökonomischen Experten die Laute einer eierlegenden Henne als »Produktionsgegacker« erreichen (vgl. ebd. S. 36).
343)· 2ί Der Bauer nimmt in Erwartung eines leibhaftigen Prinzen den Hut mit den bezeichnenden Worten ab: »Man schämt sich fast, daß man nicht auch den Kopf abnehmen kann!« (W I 369) Dabei weiß Jacob, daß »vornehme Leute« hartherzig zu sein pflegen (W I 32 5), so daß für das Stück Anlaß genug bestünde, solche Kerben zu vertiefen, Ungerechtigkeit anzuprangern und soziale Antagonismen zu beleuchten. Uberhaupt die Konfrontation des Bauern mit der höfischen Sphäre: welch ein Thema für einen zeitkritisch engagierten Dramatiker, welch ein historischer Hintergrund mit der Steinschen Landreform, der Bauernbefreiung, ihren Stockungen in der Restaurationszeit (wie der zähen Resistenz der »Patrimonialgerichtsbarkeit«) böte sich ihm an! Hebbels Komödie nimmt davon überhaupt nichts auf. Wenn am Ende der Bauer belohnt wird, also die Möglichkeit erhält, nun auch »barmherzig zu sein« (s. o.), dann will dieser Bogenschlag als bedeutsamer »Zufall« verstanden werden (vgl. Prolog, V. 176) - ein sozialgeschichtlich signifikanter Vorgang ist dies beileibe nicht. So verabschiedet sich Jacob vom Hof: »Bitte, meine Person nicht übel zu nehmen!« (W I 394) Es steht einer kritischen Betrachtung natürlich frei, Möglichkeiten der Komödie auch artifizielle - durch Hebbel verspielt zu sehen, sofern er im Bauern den individuellen Charakter für eine Verlachkomik ausbeutet, nicht aber den Repräsentanten einer schwer bedrängten Gesellschaftsklasse sichtbar macht. Aber auch dabei müßte noch die leitende Kunstabsicht einer >metaphysischen< Komik beachtet werden. Es gibt zu denken, wie noch Jahre später gegen eine literarische »Bauern-Verhimmlung« Front gemacht, zugleich jedoch eine irreale Verzeichnung der Adelswelt eher entschuldigt wird (vgl. Τ 5*53)· Die Fragen nach Hebbels Intention und nach ihrem Verhältnis zur Ausführung lassen sich zusammenziehen im Hinblick auf Gestaltung und Funktion der höfischen Sphäre. Ihre Absetzung von der >bürgerlichen< Komik der Diamantenjagd ist so bemerklich, ja pedantisch ausgeführt, daß man unwillkürlich an einen älteren poetologischen Kanon erinnert wird. Johann Christoph Gottsched hatte der Komödie ein anderes Personal als der Tragödie zugewiesen, nämlich »ordentliche Bürger oder doch Leute von mäßigem Stande«. Der Aufklärungs-Poetiker konnte, auf eine didaktische Wirkung des in der Komödie ausgestellten Lächerlichen bedacht, noch keinen Grund sehen, an den klassizistischen Trennungen zu rütteln - schließlich war das gesellschaftliche Fundament der alten Poetik noch nicht durch eine bürgerli-
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Sie gilt sogar für die Steine: Unterhalb des Edelsteins rangieren »Quarze, Kiesel und dergleichen« als »bürgerliches Pack« (W I 325; vgl. 344, 349 u. 378). Gesellschaftlich entsprechend wird in der Hofsphäre das Volk - »die Geringeren« qualifiziert (W I 389), der Bauer sogar als Inkarnation des Lächerlichen betrachtet (vgl. W I 392f.)· 183
che Emanzipation verlassen. Der Bürger behielt also das >Privileg< des Komischen: Nicht, als wenn die Großen dieser Welt keine Thorheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären; nein, sondern weil es wider die Ehrerbiethung läuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen. 27
Hebbel zieht nun zwar »die Großen dieser Welt« in die Komödie hinein, aber so, daß er durch die Gestaltungsweise doch den Bedenken Rechnung trägt, die Gottsched einer solchen Transposition entgegenstellt. Könige, Prinzen und Grafen können Komödienfiguren werden, weil sie von der Komik des Lächerlichen ausgespart bleiben, welche die bürgerliche Sphäre beherrscht (bzw. der Idee nach beherrschen soll). Zwar hat man auch bei Hofe Interesse am Diamanten und setzt alles daran, den Edelstein wiederzuerlangen: Die Gesundheit der Prinzessin, der Fortbestand der Dynastie, Wohl und Wehe des Staates hängen davon ab. Doch die Linie, die ins Politische ausläuft und fast schon realgesellschaftliche Kenntlichkeit annimmt, entspringt in einer anderen Dimension. In der Hofsphäre geht es um den magischen Wert des Edelsteins, vergleichbar mit Brentanos >Märchen von Gockel und Hinkel< (wo übrigens der »Zauberstein« auch verschluckt worden ist, und zwar von einem höchst bedeutsamen Hahn). In Hebbels Komödie ist diese magisch-mystische Qualität des Diamanten freilich in ein Zwielicht getaucht. Alles kann auf »Traum und Einbildung« (W I 337) beruhen und nur »Wahngebilde« (W I 352) sein, so vor allem die Vorstellung der Prinzessin, daß sie der »Grauengestalt« des Invaliden mit dem Diamanten ihr »Leben selbst hingeworfen« habe (W I 337). Einen verstörenden »Wahn« hatte der Prolog für die Prinzessin angekündigt (vgl. V. i6iff.), einen solchen stellt das Stück dar, und zwar in offenkundigem Zusammenhang mit dem Verlust des Diamanten. Der Anblick des wiederbeschafften Edelsteins wird die Prinzessin von ihrer Traumversponnenheit heilen und so das gattungsgemäße Liebesglück am Ende möglich machen. Genaugenommen ist es der Anblick des ungeschickt, aber überaus >wirklich< hereintapsenden Jacob, der die Heilung bringt: »Sie kommt zu sich. An der Realität dieses Bauern muß wohl jede fixe Idee sich zerstoßen!« (WI393) Neben den Verzerrungen des - im engeren Sinne - >Komischen< sind auch die Gefährdungen des >Phantastischen< am Ende schadlos ausgestanden, so daß sich - so doch wohl die Intention - der Kreis der >metaphysischen Komödie< geschlossen hat. Es kam Hebbel darauf an, über der >Rüpelkomik
Von Komödien oder Lustspielen!. S. 63iff. Zitat: S. 647 (zit. nach dem Faksimiledruck der 4. Aufl. [1751]· 5 1962).
der bestialischen Diamantenjäger eine Sphäre >gehobener< Bewußtseinskomik zu etablieren, neben die Drastik egoistischer Besitzgier eine seelenvolle, aber wahnverstrickte und insofern noch komödienfähige >höhere< Komik zu stellen. Das Gegeneinander der im Trachten nach dem Diamanten sich unterscheidenden und doch wieder überlagernden Sphären führt auf das Strukturprinzip des Dualismus hin, das die Spezialforschung bis ins Detail des Stücks nachgewiesen hat. 28 Das Ganze läßt an Shakespeares >Sommernachtstraum< denken und ist in mancher Hinsicht Brentanos romantischem Kunstmärchen (zuerst 1815/16) näher als der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Entstehungszeit. Jedenfalls formiert sich der Dualismus von >Realismus< und >Romantik< in Hebbels >Diamant< nicht nach der Logik eines sozialen Antagonismus. Der höfische Kreis ist in seiner Absetzung vom bürgerlichen nicht realhistorisch gezeichnet, sein Trachten nach dem Diamanten kann nicht ohne Gewaltsamkeit als ein A k t der restaurativen Machtpolitik interpretiert werden. Hebbel will auch gar nicht im Sinne Gottscheds auf eine »Ehrerbiethung« vor den großen Herren hinaus, nicht einer feudalistischen Tendenz das Wort reden. Das Künstliche seines Lustspiel-Versuchs besteht vielmehr darin, daß er rein formal auf eine ältere Stilkonvention zurückgreift, ohne sich vom Gegenwartsbewußtsein her ihren sozialen Implikationen deutlicher zu stellen. So wird gemäß metaphysischer Komödientheorie die alte Hierarchie vom >Erhabenen< herab zum >Niederländischen< lediglich ästhetisch nachgestellt, eine märchenhafte Konstellation gebildet, in der die brisanten Probleme des Vormärz kaum wiederzuerkennen sind. Während die bäuerlich-bürgerliche Sphäre mit der Reminiszenz an die napoleonischen Kriege immerhin eine gewisse realhistorische Koordinate erhält, fehlt eine solche - wie auch die mindeste topographische Fixierung - in der feudal-phantastischen Sphäre völlig. Diese wird statt dessen über die an Kaiser Barbarossa gebundene Diamantensage in eine imaginäre Zeitperspektive, in ein Zwielicht von Wahn und Wirklichkeit gerückt. Nicht einmal der Invalide, der bei den Bauern verstirbt, erscheint hier - »nicht todt, nicht lebendig« - als eine reale Figur. Er wirkt eher wie ein Phantasma (vgl. W I 337). Wenn die >große WeltRüpelnDer Diamant< zur eigenen Zeit im Indifferenten bleibt.
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V g l . zu den paarweise gebildeten Figurenkonstellationen E . Altherr (wie A n m . 11, S. 87ff.), Wolfgang Hecht (Hebbels >DiamantTrauerspiel< A u c h das als Tragikomödie deklarierte »unicum« (s.o.) weist zwei hierarchisch angeordnete Sphären auf: Z u r >niederen< gehören Anselmo, das unglückliche Liebespaar Sebastiano und Angiolina sowie auch die beiden G e n darmen Ambrosio und Bartolino - die >höhere< repräsentiert allein »Herr« Gregorio, der Podesta. A u s dem bloß ästhetisch gemeinten Gefälle der K o mödie ist sozialer Klartext geworden - hier werden Kausalitäten von Unrecht gesehen und angeprangert. A i s eines der anvisierten Gegenwartsprobleme erweist sich die »Besitzfrage« (Β I V 8), überdeutlich exponiert in jener Selbstexplikation Gregorios, die dartut, warum ein alter Mann ein junges Mädchen zur Frau will: Er schwärmt für das Gefühl, sie sein zu nennen, Er weiß, daß Viele ihn beneiden werden, Wenn sie, mit Gold und Perlen überhäuft, An seinem Fenster hinter Blumen sitzt, Und dieser Neid ergötzt ihn. War' ich blind, So kauft' ich mir die besten Bilder auf Und hinge sie in einem Saal herum, Den außer mir kein Mensch betreten dürfte; Und wär' ich taub, so setzt' ich die Kapelle Aus allen großen Virtuosen mir Zusammen, die mir täglich spielen müßte, Mir ganz allein, und keinem Andern mehr; Dann hätte Raphael nur für mich gemalt Und Palestrina nur für mich gesetzt, Ja nicht einmal für mich, das wär' doch putzig; Und wenn ich all das Zeug verbrennen ließe, Die heiligen Familien und Messen, So wär's vorbei mit der Unsterblichkeit! Da ich nur alt bin, nehm' ich eine Frau! (V. 6 3 off.) 1 9 Mir ganz allein! Wenn der Siebzigjährige um Angiolina wirbt, so handelt er nach jener Logik, die aus der Beispielfolge spricht: Besitz bedeutet Privileg auf das Schönste, bedeutet die Möglichkeit, dieses Privileg rücksichtslos
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Vgl. auch V. 592ff. - Hätte es diese Manifestationen des Besitzdenkens schon drei oder vier Jahre eher gegeben und hätte der Verfasser der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte< (Paris 1844) sie gekannt - Karl Marx hätte wohl nicht gezögert, sie neben Zitaten aus Goethe und Shakespeare für seine Analyse des Geldund Besitzwesens nutzbar zu machen (vgl. die Ausg. 1968. S. 103fr.). Die »Verkehrung und Verwechslung aller menschlichen und natürlichen Qualitäten« als »die göttliche Kraft des Geldes« (Marx) wird von Hebbel in schneidender Schärfe herausgebracht. Vgl. zu diesen Interferenzen eine eingehende Studie von L. Lütkehaus: Timon oder die verkehrte Welt. Über einen Shakespearischen Motivkomplex bei Marx und Hebbel. In: HJ. 1979. S. 39-64.
durchzusetzen, die Werke großer Kunst der Welt zu entziehen (und der Nachwelt), das Mädchen dem jungen Mann wegzunehmen, den es liebt und der es liebt. »Ich will's! / Ist das genug? - Ich will es, weil ich's will!« (V. 6i4f.) Der Rückgang auf den eigenen Willen erübrigt alle Warum-Fragen, denn auf der Basis des Besitzes genügt schon der pure Willensbefehl - der Anklang etwa an Schillers despotischen König Philipp30 und darüber hinaus an die autonome Subjektivität des Idealismus ist ebenso unüberhörbar wie ihre groteske Verzerrung in Selbstbezüglichkeit und Irrationalismus. Aber wenn »Herr« Gregorio keine Gründe für sein Wollen vorweisen kann, so enthüllt sich an ihm gleichwohl die Psychologie des Besitzstrebens. Es ist nichts anderes als ein Surrogat des versäumten Lebens (vgl. V. 6ojff.), und es verschafft - zumindest in der vorgeführten extremen Form - das Gefühl einer Befriedigung nur im Bewußtsein des Neides der anderen. Losgelöst von praktischen Lebensbedürfnissen, führt alle Besitzanhäufung nur zum Sammeln von »Zeug«, das an sich für den Besitzenden nichts bedeuten kann (vgl. V. 644^). Die Todesahnung, in der sich der Podesta am Ende »schüttelt« (W II 122), deutet auf die letzte Vergeblichkeit alles Besitzstrebens und läßt auch auf diesen »Teufel« (V. 650) noch einen Schimmer des Menschlichen fallen.'1 Doch dies bleibt Andeutung. Dargestellt wird im >Trauerspiel< die Wirkung von Besitz - die Macht über andere (vgl. V. 606). Macht heißt Möglichkeit, nach Belieben über andere zu verfügen, ihre Schicksale zu steuern, Gerechtigkeit so zu üben, daß sie in ihr Gegenteil verkehrt wird. Schon die erste Szene bereitet auf diese bizarre - nach dem Vorwort: »barocke« Konstellation vor: Die Gendarmen, zum Dienst für die »Gerechtigkeit« bestellt (V. 1), enthüllen sich als Lumpen (vgl. V. 34), die vor Raub und Mord nicht zurückschrecken. Der »Herr« Gregorio will die schöne Angiolina und er hat die Macht, seinen Willen durchzusetzen, mag dieser dem Mädchen noch so »toll« erscheinen (vgl. V. 4iof.). Ihr Vater, bei seiner Spielleidenschaft gepackt und so planvoll in Abhängigkeit gebracht (vgl. V. 68 jf.), muß sie dem Alten geben, ja »liefern« (V. 781) - als wäre sie eine bestellte Ware, zu
3° Vgl. die Diskussionsszene (III/10) des >Don Karlos«, V. 3265 (SWII 128). Nicht zu Unrecht sieht Horst Oppel ausgerechnet die Negativ-Figur des Podesta als die dramatisch am weitesten entwickelte des Stücks (vgl. Hebbels Tragikomödie >Ein Trauerspiel in Sizilien«. In: Gedenkschrift fur Ferdinand Josef Schneider. Hg. von Karl Bischoflf. 1956. S. 259). H. Oppels Vergleich mit Hebbels NovellenFigur des Nepomuk Schlägel, der auf seiner »Freudenjagd« den philiströsen Typus in seiner harmlos-humoristischen Spielart verkörpert (vgl. W VIII 25off.), ist freilich unergiebig und ignoriert zudem des Autors ausdrückliche Verwahrung gegen eine solche Assoziation (vgl. W XI 402f.). Lohnender wäre wohl ein Vergleich mit dem Kandaules-Motiv (im späteren >Gyges und sein RingTrauerspiel< mit der Einlösung des gattungstheoretischen Programms der »Tragicomödie« hält. Die Forschung bietet in dieser Frage kein einheitliches Meinungsbild. Die »Tragikomödie« ist sicherlich nicht »als unbewußter Protest Hebbel's gegen die Starrheit und Enge seiner eigenen Theorie« entstanden - in dieser kuriosen Form fällt das Argument auf seinen Urheber zurück, den um jeden Preis systematisierenden Arno Scheunert. 36 Aber läßt sich das sizilianische Trauerspiel· überhaupt als »Tragikomödie« fassen? Oskar Walzel gewinnt aus ihm,
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Daß sich Angiolina die - obzwar notwendige - Trennung v o m Vater als Übertretung eines göttlichen Gebots vorwirft, zeichnet sie menschlich aus (vgl. V. 228ff.). In der Bewertung Angiolinas, die Hebbel selbst einmal »zum Besten« gerechnet hat, was ihm »je gelang« ( W X I 401), argumentieren die Ideologiekritiker ausnahmsweise abweichend: H. Martin findet sie »emanzipierter [ . . . ] als Klara« (wie Anm. 25, S. HI), L. Lütkehaus dagegen - wie Sebastiano - »nicht emanzipiert genug, um direkten Widerstand zu leisten« (wie Anm. 19, S. 118). Hätten die beiden den alten Gregorio also doch erschlagen sollen, dazu Vater Anselmo gleich mit? - Mittlerweile scheint L. Lütkehaus in diesem Punkt vorsichtig von seinem »Bedürfnis« (!) abzurücken, in Hebbels Dramatik dem aktiven Gesellschaftskämpfer zur gegenseitigen Aufmunterung zu begegnen (vgl. Zwischen »nihilistischem Tragismus« und »obligater >VersöhnungTrauerspiels< haben Horst Oppel und Karl S. Guthke geführt. Beide gehen von der Intention auf die »Tragikomödie« aus, und beide sehen das Stück hinter ihr zurückbleiben. Für Oppel reicht »alle zielende Absichtlichkeit« des Dramatikers »nicht hin, um einen tragikomischen Eindruck hervorzubringen. Am Ende bleibt uns nur die Frage: was nun?« 39 Guthke sieht das »Ziel« der »Tragikomödie« von Hebbels Stück nur als »Satire« erreicht40 - er vermißt vor allem das Zugleich von Tragischem und Komischem in den Figuren selbst, die hier entweder tragisch (wie Sebastiano und Angiolina) oder komisch (wie Gregorio oder die Landsoldaten) seien.41 Dagegen bewertet Gerhard Kaiser das sizilianische >Trauerspiel< zwar nicht als »große Dichtung«, aber doch als »die erste formal geschlossene, völlig gelungene Tragikomödie in Deutschland«.4* Die Variable dieser Überlegungen ist der Gattungsbegriff der »Tragikomödie« selbst. Man könnte dem Ansatz von Guthke zweifellos bestimmte normative, beinahe schon regelpoetische Prämissen nachweisen. Gewiß entspricht ein solches Verfahren prinzipiell Hebbels eigenem strengen Gattungsdenken. Aber das sizilianische >Trauerspiel< bildet in der Reihe seiner Dramen die Ausnahme, den mit erkennbarer gattungspoetischer Verlegenheit behandelten Einzelfall, dem mit Strukturkategorien allein nicht beizukommen ist. Die Behandlung der Gattungsfrage für das Italien-Stück tut gut daran, nicht von seinen spezifischen Entstehungsbedingungen abzusehen: daß gesellschaftlicher Problemdruck der Gegenwart eine dramatische Form erzwingt, die - ohne verbindliches Muster - vom Autor erst nachträglich und offenbar nicht ganz befriedigend theoretisiert werden kann. 37
Friedrich Hebbel und seine Dramen. 1913, 2 i 9 i 9 , S. 103. Wie Anm. 1 1 , S. ic>3ff. (mit Bezug auf eine von Hebbel 1841 in einer HeineRezension entwickelte Bestimmung: vgl. W X 417). - Schon Felix Bamberg hatte in dem bereits angeführten Brief an Hebbel (vom 28. 1 1 . 1846) die Kategorie des »Humors« auf das >Trauerspiel< angewendet (vgl. H B F I 282). 39 Wie Anm. 31, S. 260. 40 Hebbels >Trauerspiel in Siziliens Zur Frage der Gattung. In: HJ. 1957. S. 93f. 41 Ebd. S. 87f.: wobei selbstverständlich eingeräumt wird, daß von den »komischen« Figuren »tragische« Wirkungen ausgehen (vgl. auch Τ 4050). 42 Wie Anm. 16, S. 188. — G . Kaiser versucht dem Stück als einer »Tragikomödie der Krise des Idealismus« (ebd. S. 190) ein entwicklungsgeschichtliches Interesse zu verschaffen. 38
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»Kann das denn wirklich auf der Welt gescheh'n?« So fragt Sebastiano an der Leiche der Geliebten (V. 498). Damit kommt nicht eine >welttragische< Perspektive in das Stück, sondern wird das Ausmaß der Bestürzung angesichts der Vorgänge und der sie bewirkenden Zustände angezeigt. Sebastianos Frage führt zunächst auf das Netzwerk des Zufalls. Aber eine solche Antwort allein genügt noch nicht, wie ein genauerer Blick auf die Logik der Abläufe zeigt. Denn wer oder was schürzt die Zufälle zu einem derart fatalen Knoten? Darüber mußte sich Julian Schmidt, in diesem Punkt uneinsichtig (und nicht bloß anderer ästhetischer Meinung), von Hebbel belehren lassen: Ohne den gerade so und nicht anders beschaffenen Gregorio, der dem Anselmo Geld zum Spielen vorschießt, weil er auf seine Tochter speculirt und ihm dann an Zahlungsstatt die Tochter abfordert, wäre das Stück von Anfang bis Ende nicht möglich; Angiolina würde nicht fliehen, wenn ihr Vater sie nicht zur Zwangsehe nöthigte, und Ambrosio und Bartolino würden, anstatt sie zu ermorden, höchstens noch einen zweiten Käfer zertreten; es fällt mit dem Gregorio sogar das Factum weg (W X I 403).
Nur von Gregorio aus ist der Zusammenhang des >Trauerspiels< beschreibbar. Indem Hebbel den pragmatischen Nexus aufrollt, verweist er zugleich auf die gesellschaftskritische >Lehre< des Stücks. Gregorio enthüllt sich als »Menschen-Quäler« (V. 678), dies aber nicht bloß in der Weise der Typenkomödie. Das wahre Skandalon - es bleibt dem Zeitgenossen zu >supplieren< besteht darin, daß ein solcher Charakter als Podesta (d. h. Bürgermeister) sein Unwesen unter gesetzlichem Schutz treiben kann; mithin wird eine gesellschaftliche Einrichtung, die solches ermöglicht, als falsch gezeigt. In dem Maße, wie sich der Betrachter vom bösen Spiel des Zufalls auf seine erste Ursache leiten läßt, entdeckt er die Kausalität einer falschen sozialen Ordnung, nicht mehr und nicht weniger. Die Antwort auf die Frage Sebastianos, ob dergleichen »wirklich« geschehen könne, ergibt sich letztlich von den aufgezeigten sozialen Strukturen her: vom Gegensatz zwischen Armut und Reichtum, der in menschliche Schicksale eingreift (vgl. V. 382^), vom Eigentumsrecht, das einen »Mißbrauch des Besitzes« (W X I 403) nicht ausschließt und menschliche Beziehungen pervertiert, schließlich von den Machtstrukturen des polizeistaatlichen Absolutismus und der patria potestas.4' Daß Hebbel selbst in diesen Hinsichten ein
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Vgl. dazu die auf den deutschen Vormärz bezogene Feststellung des Historikers Werner Conze: »Die nur personal zu verstehende, religiös-politische Herrschaftspyramide einer durchgehenden patria potestas von Gott über den Fürsten und die adligen oder bürgerlichen Hoheitsträger bis hin zu den Häusern der bürgerlichen und bäuerlichen Familien war noch überall im Bewußtsein und in der Realität lebendig« (Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz. In: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848. Sieben Beiträge von Theodor Schieder u.a. Hg. von W. Conze. 1962. S. 219). - Daß »unser Staat [ . . . ] noch
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sehr kritisches Bewußtsein hat und die Wendung »Sumpf von faulen Verhältnissen« ( W II 379) keineswegs für Diffuses einsetzt, läßt sich hinreichend dokumentieren. 44 Was in der Sumpf-Metaphorik an kritischer Implikation steckt, tritt in ihrer ja nicht zufälligen Wiederkehr bei Ibsen (etwa 1884 in der >WildenteVor SonnenaufgangTrauerspiel< bestimmt sich demgemäß als Satire, sofern es ein solches Zerrbild enthüllt. A l s Tragikomödie ist das Stück nur insoweit zu verstehen, als das Schicksal der Liebenden im Blick steht; als Satire erweist es sich, sofern dieses Schicksal nicht einer Notwendigkeit entspricht, sondern durch Defekte der sozialen Ordnung determiniert ist. E s scheint, daß man den experimentierenden H e b bel gattungstheoretisch hier nicht durch überfeine Distinktionen überfordern sollte. Man wird dem »unicum« wohl am ehesten gerecht, wenn man es nicht bloß als eine Vermischung des Tragischen mit dem Komischen, sondern als Wechselspiel von Tragikomödie und Satire auffaßt, als tragikomische Satire. Das tragische Moment kann die Destruktionskraft der Satire steigern, jedenfalls für den denkenden, den >supplierenden< Betrachter, mit dem Hebbel rechnet (vgl. Β I V 72). 4 5 Das unerquickliche wie unerbittliche Stück macht
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immer nicht ein Rechts-, sondern nur ein Polizeistaat ist«, vermerkt im Nachmärz ein glaubwürdiger Zeuge der Zeit selbst, nämlich Hermann Hettner (Das moderne Drama. Aesthetische Untersuchungen. [1851]. Hg. von Paul Alfred Merbach. 1924. S. 156). Hebbel räumt das gleiche 1862 - nachdem Österreich endlich eine Konstitution erhalten hat - retrospektiv ein (vgl. W X 295). Schon die »seltsame Etymologie« des Wortes »Besitzen« weckt seinen kritischen Spürsinn (vgl. Τ 3932). Besonders deutliche Belege: Τ 2722, 2747, 2777, 3541, 5276, 5371 (ein Beispiel aus der großen Politik als »die glänzendste Rechtfertigung« für die Konzeption des Gregorio) u. W X 34of. (ein »sociales Factum« aus der Wiener Gesellschaft mit deutlichen Parallelen zu Gregorios Besitzhandeln). Die Belege werden für die Interpretation des >Trauerspiels< - teilweise unterschiedlich herangezogen von G. Kaiser (wie Anm. 16, S. I74ff. u. I79f.) und L. Lütkehaus (wie Anm. 19, S. I23ff., I29f. u. 207ff.). Das kritische Wohlgefallen, mit dem L. Lütkehaus das Stück kommentiert, endet dann, wenn nach dem »Urteil« über die falsche Zuständlichkeit die fällige »Hinrichtung« - gemäß Hebbels eigener »Henker-Metaphorik« (vgl. Β IV 41) - vermißt werden muß (wie Anm. 19, S. I32f.). Damit wird jedoch dem Stück etwas abverlangt, was in die Zutändigkeit des >supplierenden< Leser-Zuschauers fällt. Eine Satire kann keine Totalität darstellen, wohl aber im Bewußtsein des Lesers gegenwendige Kräfte zu den übertreibend aufgezeigten Mißverhältnissen mobilisieren - solches ist hier intendiert. In der Interpretation des >Trauerspiels< als Satire schließe ich mich - mit anderer Begründung - dem Ansatz von K . S. Guthke an (wie Anm. 40, S. 93f.).
Ernst mit einer Erkenntnis, auf die der Tagebuch-Denker schon 1843 gestoßen ist: »Das Recht des Besitzes hat scheußliche Consequenzen« (T 2747). Auch der Titel des »seltsamen Stücks« (T 3874) und seine topographische Fixierung sind von hier aus zu klären. Spielt der Einakter nur in Sizilien 46 und verweist die Gattungsbezeichnung »Trauerspiel« ironisch auf die Restriktion, die der höchsten Form des Dramas eben durch sizilianische Verhältnisse aufgezwungen wird? Zweifellos bemüht sich das Stück von den Beispielen italienischer Kunst (vgl. V. 282 u. 642^) über die Anspielung auf italienische Geschichte (Napoleons Algier-Feldzug) bis hin zur Nachzeichnung spezifischer Sozialformen (Podesta) um ein gewisses realistisches Lokalkolorit. Andererseits wird in »Pfenningen« gerechnet (V. 593, vgl. 318) - ein monetäres Detail, das nicht übermäßig gewichtet werden soll, 47 aber doch noch andere Geltungsräume für das Italien-Stück assoziieren läßt. Wenn Hebbel 18 jo über Goldonis >Mirandolina< urteilt, daß es als »ein italiänisches [Sittengemälde ...] eben, weil es ganz ein solches ist, bei uns niemals zur vollen Wirkung gelangen kann« (W X I 350), so wird man ihm für sein >Trauerspiel< - ob nun mit Blick auf die Zensur oder nicht - die Absicht unterstellen können, eine derart nachteilige topographische Beschränkung zu vermeiden. Vor allem aber ist dem 1850 niedergeschriebenen Vorwort zum Trauerspiel >Julia< zu entnehmen, wie auch das sizilianische >Trauerspiel< verstanden sein will. Dort wird ausdrücklich von dem Vorhaben gesprochen, »die wankende Gesellschaft in ihrem süßen Traum ewiger Dauer zu stören und sie auf die ihr drohende Gefahr aufmerksam zu machen« (W II 396). Eine solche Irritation soll auch der ungemütliche Einakter bewirken, indem er soziale Mißstände aufzeigt, die nur scheinbar exklusiv für Italien gelten, in Wahrheit aber auch in den deutschen Verhältnissen anzutreffen sind. 48 Als Kommentator in eigener Sache unterstreicht Hebbel den Appellcharakter des Grego-
4 6 So faßt Heinrich Theodor Rötscher das Stück ausschließlich als »Bild des sittlich versumpften u[nd] brutalen Typus« der Sizilianer, ihrer »Volksindividualität« auf (an Hebbel, 18. 10. 1847; H B F II 298). Ähnlich betont Emil Palleske die lokale Bindung des >Trauerspiels< (in seinem >JahrbücherNibelungenTrauerspiels< auch für die gesellschaftliche Situation in Deutschland betont (wie Anm. 2, S. is8f.). Ahnlich argumentieren L. Lütkehaus (wie Anm. 19, S. 114 u. 133) und auch F. Sengle (Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. III: Die Dichter. 1980. S. 390).
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rio, wenn er ihn als »Repräsentanten der modernen Geldmacht« bezeichnet (W X I 402) oder der eigenen »Zeit« als »ihren lieben Sohn« aufdrängt (Β IV 41). Gänzlich im Leeren bleibt diese Kritik wahrhaft nicht. c) Bewertungsprobleme Auf der anderen Seite ist zu bemerken, daß sich mit dem Durchdenken kritischer Tendenzen in Stück und Kommentar für Hebbel eine gewisse ästhetische Verlegenheit einstellt. Immer wieder stößt man im Umkreis des >Trauerspiels< auf Gesten von Distanzierung und Apologetik. So ist ein Unterton des Vorbehalts schon vernehmlich, wenn es in der Entstehungszeit (am 26. November 1846) heißt: »Barocke und furchtbare Elemente, durcheinander gährend, hoffentlich aber durch Form bewältigt [!], werden einen vielleicht nur zu eigenthümlichen Eindruck hervorbringen« (B III 353). Das »Sendschreiben« muß dann einräumen, daß die entstandene Form - als »Tragicomödie« interpretiert - »keine reine ist« (W II 380). Wenn man weiß, was Einhaltung der Formen - und Erprobung ihrer Kapazitäten - für Hebbel bedeutet, so erkennt man in der Konzession der Mischform selbst schon ein halbes Eingeständnis des Scheiterns, des Notbehelfs. Weitere Einschränkungen dieses Sinnes schließen sich an. Dem Hinweis etwa, im >Trauerspiel< »ein Aeußerstes gewagt« zu haben, folgt das Versprechen auf dem Fuße: »[...] jedenfalls ist es mein letztes dieser Art [...]« (Β IV 4of.). Als »ein Gränz-Product« bezeichnet - und entschuldigt - es die Schmidt-Polemik (W X I 399). Der Lebenslauf-Brief an Arnold Rüge widerrät 1852 ausdrücklich eine Theater-Darstellung des - dann ja auch erst 1907 uraufgeführten - Stücks (Β V 54). Man sieht an solchen Äußerungen, daß Hebbel sein eigenes Produkt nicht recht geheuer ist. Sein dramatischer Instinkt hat sich von etwas Neuem anlocken lassen. Aber seine Formgesinnung hat keinen für ihn gangbaren Weg sehen oder auch nur spätere Entwicklungsmöglichkeiten des Dramas ahnen können. Im Grunde steht Hebbel den traditionalistischen Bedenken nicht fern, die gegen sein Formexperiment von den ersten Kritiken bis in die spätere Rezeptionsgeschichte vorgebracht worden sind.49 Anfang 1852 wird Nicht nur Hebbels notorischer Widersacher Julian Schmidt monierte in seinem >GrenzbotenEuropaAgnes BernauerTrauerspiel< hat etwas von einer solchen Herabsetzung, ja von einem Abgleiten in den Untergrund: das macht dem Kommentator Hebbel seine eigene Dichtung immer auch peinlich. Ganz anders steht es zur nicht geringen Verblüffung des Betrachters um Hebbels Selbsteinschätzung des >DiamantJudith< (vgl. Τ 1839) - von seinem dramatischen »Römerzug« (Β II 210), mit größter Bestimmtheit bewertet der Dichter der >Maria Magdalena< ausgerechnet die Komödie als »die beste und sicher die eigenartigste [s]einer Productionen« (Β IV 7). Nicht alle Äußerungen dieser Art sind von diplomatisch-strategischen Zwecken diktiert.50 Hebbel glaubt im >Diamant< »die schwere und der Komödie allein würdige Aufgabe« bewältigt zu haben, »daß für die dargestellten Personen Alles bitterster Ernst ist, was sich für den Zuschauer, der von außen in die künstliche Welt hinein blickt, in Schein auflös't« (T2635). Daraus spricht nur wieder die Theorie der nobilitierten Komödie - wo sonst in der ästhetischen Welt wird auch >Würde< als Norm für das Lustspiel angesetzt? Daß der >Diamant< als Gestaltungsleistung hinter diesem weitgesteckten Ziel zurückbleibt, ist natürlich evident. Eine Handlung, die ersichtlich vom Besitzstreben in Gang gebracht wird, kann sich nicht zum Bild einer Welttotalität ausweiten, und dies um so weniger, als die höfische Gegenhandlung die derbe Realistik der Bürgerszenen de facto nicht kontrapunktisch ergänzt, sondern alles in eine ortlose Märchenhaftigkeit verschwimmen läßt. Das Besitzstreben läßt sich auch nur schwer als eine bestimmte, eben bürgerliche Form metaphysischer Scheinbefangenheit plausibel machen, wenn es sich von den Zeiterfahrungen und Partizipationsansprüchen des Vormärz her ganz anders ausnimmt. Die metaphysische Komödie spiegelt dem Zuschauer eine vertraute Lebenswirklichkeit zurück, will ihm aber partout gleichsam ein Einakter »enttäuschend schwach« sei (im Nachwort zu: F. Hebbel, Werke. Hg. von Gerhard Fricke u.a. 1963/67. Bd. V. S. 972). Dabei dürfte vielfach eine rezeptionsprägende Unterschiebung am Werk sein, die Hebbel selbst schon 1847 beklagt hat: »[...] man nimmt das Stück mir Nichts Dir Nichts als reine Tragödie und bricht den Stab über mich« (Β IV 6if.). Das Festhalten des Tragödienmaßes wird in seiner Vorurteils-Strukturierung besonders in der Studie von H. Oppel deutlich, die im >Trauerspiel< die »Gebärde des ewigen Weltenleids« vermißt (wie Anm. 31, S. 261). 5 ° Vgl. u. a. auch Β II 209, Τ 3961 u. 4168. - Daneben läßt sich freilich auch eine Linie der Selbstkritik verfolgen, die 1843 im Zuge einer Generalabrechnung mit den ersten Dramen beginnt: »[...] der Diamant, vortrefflich in der komischen Hälfte, läßt in der phantastisch-ernsthaften noch Unendliches zu wünschen übrig [...]« (T2641). Ähnlich ist der Tenor der Selbstkritik 1861 in einem Brief an Julius Campe (vgl. Β VII ii8).
195
Fernrohr aufnötigen, während er mit bloßem Auge deutlich genug zu sehen meint. Immerhin lassen solche Schätzungen der Edelstein-Komödie, wenn auch an Intentionen (statt an formalen Resultaten) orientiert, eines erkennen: Hebbel bewegt sich dabei auf vertrautem Kunst-Terrain, demjenigen nämlich, das die Theorie des Tragischen und der Tragödie auch für den Versuch im Lustspiel ausgemessen hat. Dagegen setzt sich das >Trauerspiel in Sicilien< den Gegenwartsfragen gleichsam ungeschützt aus. Hier kann nicht das Fernrohr regieren, dringt vielmehr eine mikroskopierende Sicht durch. Unter dem Druck einer zwar dramatisierbaren, aber nicht mehr tragödienfähigen sozialen Problematik schrumpft die tragische Form nominell auf die Tragikomödie, faktisch aber auf die Satire - und das heißt: auf den Nullpunkt in der Hierarchie der dramatischen Gattung. Der Blankvers bleibt übrig als Relikt dessen, was einstmals mit dem neapolitanischen Ereignis dramatisch beabsichtigt gewesen sein mochte. Im ästhetischen Resultat fungiert er nur noch, vergleichbar dem hochtrabenden Alexandriner in Goethes befremdlicher Diebstahl-Komödie >Die Mitschuldigem (von 1769), als Moment der Verzerrung in satirischer Absicht. 5 1 Hebbel hat im sizilianischen >Trauerspiel< an der Tragödie Maß genommen und ihren Anspruch suspendieren müssen. Was sich hier beobachten läßt - und den Einakter in der Tat zum formgeschichtlichen Dokument von größter Signifikanz macht - , das ist das Versinken der Tragödie vor der sozialen Realität des 19. Jahrhunderts. Dabei steht das formale Experimentieren des Dramatikers keineswegs am Anfang; vielmehr folgt es reaktiv den am »Factum« erfahrenen objektiven Zwängen und Strukturen. 52 Die Tragödie kann sich als Form eines metaphysischen Unversalismus an den konkreten Problemen der Gegenwart nicht bewähren - sie erleidet an ihnen, läßt sie sich ungeschützt auf sie ein, selbst ihre Tragödie. Ein grundsätzliches Dilemma zeichnet sich ab, das tiefer greift als die Frage der Eignung bzw. Nichteignung eines bestimmten >Stoffes< für die tragische Form. Wie steht es angesichts der Reziprozität von sozialer Problematik und tragischer Kunstmöglichkeit um die >Maria Magdalena^ Es ist nun nach dem Verfahren zu fragen, das ein Gelingen der sozialen Tragödie überhaupt möglich gemacht hat, und nach dem Preis, der dafür entrichtet werden mußte.
51
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V g l . ähnlich G . Kaiser, wie Anm. 16, S. i85f. Fritz Martini unterstellt Hebbel die gezielte Absicht, sich hier »von dem Traditionstypus der Tragödie« zu lösen (Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. 1962, 3 i974. S. 160). H. Kraft erläutert die Tragikomödie als »die beabsichtigte Verfremdung des tragischen Prozesses« (wie Anm. 2, S. 153f-)- Solchen Annahmen einer Absichtlichkeit widerspricht die Entstehungsgeschichte mit ihren Theorieproblemen und kaum kaschierten Verlegenheiten.
3· Die Tragödie. Autobiographische Elemente In einer Bestandsaufnahme der faktischen Situation des Dramas um die Jahrhundertmitte postuliert Hermann Hettner mit Entschiedenheit den Formtypus des bürgerlichen Dramas. Zwar läßt er weiterhin die historische Tragödie gelten, aber so, daß er auch sie unter die Forderung »innigster Wahlverwandtschaft zu den Stimmungen und Bedürfnissen des gegenwärtigen Zeitbewußtseins« stellt.53 Den Schwerpunkt setzt der Ästhetiker, indem er das Drama auf die sozialen Probleme der Gegenwart verweist: »In den Kämpfen unserer inneren Charakterentwicklung, in den Geheimnissen des in seinen innersten Grundlagen tief erschütterten Familienlebens, in dem vulkanisch unterhöhlten Boden unserer sozialen Zustände liegen jetzt gerade die tiefsten Tiefen des sittlichen Geistes.« 54 Aus solcher Argumentation - und schon aus der Terminologie - spricht der Glaube, daß die traditionellen ästhetischen Normen mit einem ausgeprägten Engagement für den sozialen Fortschritt verbunden werden können. Die Erwartung, daß »die kommende Dramatik uns weit mehr soziale als politische Kämpfe darstellen« werde, 55 steht für Hettner also nicht im Widerspruch zur Überzeugung von der fortdauernden Verbindlichkeit »fester und allgemeingültiger Kunstgesetze«. 56 Der Ästhetiker macht eine »Tragödie der Gesellschaft« aus, an der sich »die Berechtigung und Lebensfähigkeit des bürgerlichen Drama« zu erhärten hat. 57 Auch hier ist »die Iffland'sche und Kotzebue'sche Erbärmlichkeit« gleichsam der Abstoßungspunkt. So kommt Hettner zu dem »Grundgesetz«, das man in solchen Zusammenhängen als ästhetisch-formale Sicherung zu verstehen hat: »Das bürgerliche Drama ist wesentlich immer bürgerliches Trauerspiel.« 58 In Hettners Typologie des bürgerlichen Trauerspiels wird nun eine »Tragödie der Verhältnisse« von einer »Tragödie der Leidenschaft« unterschieden. 59 Daneben bzw. darüber setzt der synthetisierende Ästhetiker noch eine dritte Möglichkeit, nämlich die »Tragödie der Idee« als »die eigentlich soziale
53
Wie Anm. 43, S. 52. 54 Ebd. S. 80. « Ebd. S. 7jf. 56 Ebd. S. 13. — Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß die eigene Zeit »aller überlieferten bindenden Kunstsitte bar« sei (ebd. S. 12): die Variation einer immer wieder auch von Hebbel angestimmten Klage, Ende 1846 sogar als »feste Ueberzeugung« geäußert, »daß aller K a m p f gegen die in der Literatur eingetretene Barbarei ein vergeblicher ist [...]« (T 3874). 57 Wie Anm. 43, S. 75. 58 Ebd. S. 77. - Von daher versteht sich auch Hettners Ablehnung des Hebbelschen »Trauerspiels in Sicilien< (s. Anm. 49). » Vgl. wie Anm. 43, S. 8iff. l97
Tragödie«. 60 In ihr sind die »Verhältnisse« nicht bloß empirisch reproduziert, sondern auf Prinzipien zurückgeführt; in ihr wirkt nicht bloß eine »subjektive«, sondern die »substantielle Leidenschaft« großer Zwecke - in ihr kann es also zu einer »prinzipiellen Tragik« kommen. 6 ' Unschwer sind die um die Jahrhundertmitte geläufig gewordenen Kategorien Hegels in diesem typologischen Aufriß auszumachen. Hettner orientiert sich auch an einem anderen, und zwar dramatischen Muster: an Hebbels >Maria Magdalena< mit ihrem »tiefen prinzipiellen Gehalt«, einer Dichtung, die »trotz ihrer sehr bedenklichen Mängel von allen Seiten als die bedeutendste Erscheinung unserer jüngsten dramatischen Literatur hervorgehoben« werde. 62 Auch das umstrittene Vorwort wird vom Ästhetiker zitiert, etwa die Mahnung an- und aufgenommen, zu einer sachgerechten Rezeption der M a ria Magdalena< sei nach dem Verhältniß der Anecdote [= Fabel] zu den im Hintergrund derselben sich mit ihren positiven und negativen Seiten bewegenden sittlichen Mächten der Familie, der Ehre und der Moral [...] allein zu fragen (W X I 64).
Wenn Hettner über Meister Anton ausführt, daß er »aus lauter Moralität aufs schwerste gegen die Moral und echt menschliche Sittlichkeit sündigt«, 63 dann hat er mit dem Theoretiker Hebbel »die Dialectik unmittelbar in die Idee selbst hinein geworfen« (W X I 41). So steht das Tischler-Trauerspiel für Hettner als Beispiel einer »Tragödie der Idee«, die zugleich »soziale Tragödie« ist - freilich als das einzige. a) Birnbaum, Brunnen und anderes Tragödie und Gesellschaft - in der Tat formt sich im Zeichen dieses Zusammenhanges 1843 in Kopenhagen der dramatische Motivkeim, den Hebbel 1839 in München fixiert hatte: »Durch Dulden Thun: Idee des Weibes« (T 1516) und: » K l a r a dramatisch« (T1517). Vermutlich ist wiederum der Wetteifer mit Gutzkow, diesmal mit seiner sozialkritischen Dramatik, als motivierender Faktor zumindest begleitungsweise im Spiel. Ende Februar 1843 ringt sich Hebbel - mit Bezug auf seine Behandlung Gutzkows im >Dramen-Wort< - das Urteil ab, »daß er mit vielem Geist die dramatische Form benutzt habe, um die gesellschaftlichen Zustände unserer Zeit zur Anschauung zu bringen [...]« (Β II 222).
60 61 62 63
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Ebd. S. 83. Vgl. ebd. S. 94f. u. iooff. Ebd. S. I05f. Ebd. S. 106. - Z u Hebbels Interpretation seines Interpreten vgl. Β VII 303, ferner die Andeutung einer - uneingestandenen — Abhängigkeit des Hettnerschen Buches vom Vorwort zur >Maria Magdalena« (Β VIII 47).
Z w e i Wochen später erfolgt die Mitteilung über den Beginn der Arbeit an >Maria Magdalena< (Β II 227). 6 4 Inwieweit das Drama dem gattungsgeschichtlich heruntergekommenen »bürgerlichen Trauerspiel« aufhelfen soll, wurde bereits angedeutet. Verglichen mit der Leistung, die G u t z k o w immerhin attestiert wird, will Hebbel natürlich von vornherein auf mehr hinaus: Die dramatische Form soll nicht einfach in den Dienst einer bestimmten sozialkritischen Tendenz gestellt, sondern der beschränkten Sphäre des kleinbürgerlichen Familienlebens - als der kleinsten Zelle des Sozialen - soll eine tragische Struktur abgesehen oder aufgeprägt werden, je nach Blickpunkt. Gelänge dies, dann würde das Werk zur lebendigen Antwort auf jene Frage, die Wilibald Alexis im Zusammenhang mit Hebbel anspornend genug gestellt hat: »Unser gegenwärtiges sociales Leben hat seine eigenthümlichen tragischen Momente; aber w o sind Die, welche Sinn dafür haben?« 65
64
6s
Zur Titelschreibung, die einer philologischen Gewissensfrage nahekommt: Richard Alewyn soll bei der Lektüre von »Zunftgenossen [ . . . ] einen seltsamen Knurrlaut« ausgestoßen haben, »wenn sich in einem Text, der Hebbels >Maria Magdalene< häufiger zitierte, die falsche Schreibung >Maria Magdalena< nicht als einmaliger lapsus calami erwies« (Rainer Gruenter, Erinnerung an Richard Alew y n . In: Merkur. 34, 1980. S. 456). Bei allem gebotenen Respekt vor dem großen Literaturforscher (und seinem Gewährsmann) inuß hartnäckig daraui bestanden werden, daß >richtig< und >falsch< genau umgekehrt anzubringen sind: Nur ein unbeseitigter Druckfehler der Erstausgabe (1844) hat den von Hebbel gewollten biblischen Titel mit dem Endungs-»e« versehen. Wie Hebbel den Titel gelesen haben will, zeigt seine Korrespondenz, die ihn nach meiner Feststellung nur zweimal - wohl auch irrtümlich - mit dem »e« anführt (vgl. Β IV 370 u. V 195), sonst aber stets von der »Maria Magdalena spricht. Der Sachverhalt ist auch schon in der historisch-kritischen Ausgabe geklärt, ohne daß die fällige editorische Konsequenz gezogen worden wäre (vgl. W II 37if.). Wenn in dieser Untersuchung gelegentlich die eingedeutschte Form des Namens zu lesen ist, so nur um des korrekten Zitierens willen, weil viele Autoren den Druckfehler hartnäckig fortschleppen, zuletzt etwa L. Lütkehaus. In seiner >Modellanalyse< hält er am Erstdruck-Titel fest, weil dieser den Gegenwartsbezug des Stücks, das nun einmal »nicht bruchlos in seiner biblischen Symbolik« aufgehe, »angemessener« ausdrücke als die originale lateinische Form (vgl. Friedrich Hebbel. >Maria MagdaleneAufzeichnungen aus meinem Leben< sind in dieser Hinsicht von Belang - ihr dokumentarisches Substrat ist unter der kunstvollen Abschattung des Dunklen gegen das Helle, die für Hebbel die Form der Autobiographie fordert (vgl. Τ 2516), sogar nicht immer leicht auszumachen. Das Tagebuch hält sich mit seinen biographischen Reminiszenzen durchweg näher an der erlebten Wirklichkeit und weiß um die bleibende Fortwirkung einer »trüben Kindheit« und von »gedrückten JünglingsJahren« (T2958) im späteren Leben. Vor allem sind die Erinnerungsfragmente wichtig, die Hebbel am 29. März 1842 niederzuschreiben begonnen hat. Es ist schwierig, diese chiffrierten Kürzel im einzelnen aufzuschlüsseln und in ihrem Lebenskontext wahrzunehmen.67 Doch liegt auf der Hand, daß zwischen Hebbels Erinnerungsarbeit und seiner Gesellschaftstragödie ein nicht nur zeitlicher Zusammenhang besteht: »Die Selbstbiographie diente ihm gleichsam als Palette, von der er nun die Farben auf sein dramatisches Gemälde übertrug.«68 Betrachtet man nur den ersten Abschnitt der >Aufzeichnungen< auf die mitgeteilten biographischen Fakten und atmosphärischen Details hin, so wird man sogleich Korrespondenzen in >Maria Magdalena< assoziieren müssen. Der Birnbaum im Garten des Vaters, gleich eingangs als sehr ergiebig geschildert (W VIII 80), ist ein solcher Farbtupfer im dramatischen Gemälde: Die Raupen haben ihn kahlgefressen, aber der Baum läßt doch noch eine saftige
66
68
V g l . insbesondere Emil Kuh (Biographie Friedrich Hebbels. 1877, 2 I907. B d . II. S. 74ff.), R. M . Werner (Einleitung zu W I I , S. X l l f f . ) sowie - teilweise sehr instruktiv - Paul Zincke (Die Entstehungsgeschichte von Friedrich Hebbels >Maria Magdalenas 1910, Repr. 1974). Abgedruckt als »Material«-Anhang: W VIII 387-400. - Paul Bornstein hat einige dieser Notizen in dokumentarischer Absicht thematisch zu ordnen versucht: »Die Heimat«, »Der Vater«, »Die Mutter«, »Das Leben im Elternhause« usw. (vgl. Der junge Hebbel. Wesselburen - Lebenszeugnisse und dichterische Anfänge. H g . von P. Bornstein. 1925. Bd. I. S. I3ff.). P. Zincke, wie A n m . 66, S. 68.
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Frucht vor die Füße des Meisters Anton fallen (W II 2 jf.). Während dieser sich seine Tochter, ohne auf ihre innere Not einzugehen, rotwangig wünscht (W II 37), wissen die >Aufzeichnungen von einem Nachbarn mit einem »gallig-gelben Gesicht« zu berichten, »den ein Kind schon durch seine rothen Backen beleidigte« (W VIII 82) - das Erinnerungsmotiv schimmert noch durch seine dramatische Variation hindurch. Von einem Tischlermeister ist die Rede, der sich später das Leben genommen hat - Meister Anton wird ihm darin nicht nachfolgen, aber durch seine Drohung mit dem Selbstmord Klaras Tragödie erzwingen. An dem Brunnen, in den sie sich hineinstürzt, ist ein Brett locker (W II 67) - der Brunnen am heimischen Garten, »an dessen Bedachung alle Augenblicke etwas genagelt werden mußte«, löst für den Autobiographen noch in der Erinnerung »ein unheimliches Gefühl« aus (W VIII 82). Mit dem Hinweis auf Begräbniszüge, die am väterlichen Haus in Wesselburen vorbeiführten (W VIII 81), ist auch das Todesmotiv der Tragödie in den bewußt idyllisierenden >Aufzeichnungen< angeschlagen.6' Und wenn Hebbel »die Atmosphäre« seiner Kinderzeit als eine solche charakterisiert, die »nicht enger sein« konnte (W VIII 82), so kehrt auch die Erfahrung lähmender Raumbedrängnis im Trauerspiel wieder.70 Der Gesellschaftsdramatiker ist derart auf seine persönliche Erfahrungswelt fixiert, daß noch der Nußknacker, der das Kind geängstigt hat (vgl. W VIII ioif.), in Karls Monolog seine metaphorische Auferstehung erlebt (vgl. W II 62f.). Aber nicht bloß solche gegenständlichen Motive, solche Raumerfahrungen binden >Maria Magdalena< an Hebbels eigene Lebenswirklichkeit zurück. Folgt man einer Retrospektive vom Februar und Mai 1845, wonach sich der Dichter sieben Jahre mit dem Werk getragen hat (vgl. Β III 210 u. 232), so wird man an den Anfang der Münchner Zeit (Ankunft: 29. September 1836) zurückgeführt. Hebbels Umgang mit Beppi Schwarz, der Tochter seines Mietherrn, hat einige Züge zum Drama beigesteuert.7' Sein Mietherr, ein 69
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Vgl. dort auch den neunten Abschnitt (W VIII 109), ferner die Notizengruppe »Kirche und Kirchhof« in P. Bornsteins Dokumentation (wie Aran. 67, S. 6 i f f . , dazu den Kommentar ebd. S. 255f.). Vgl. dazu die aufschlußreichen Beobachtungen von Martin Stern: Das zentrale Symbol in Hebbels >Maria MagdaleneMaria Magdalena« auch E. Kuh (wie Anm. 66, Bd. I, S. 209).
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Tischler, hieß mit Vornamen sogar Anton: Ist von hier aus das »Tonerl« in der Jugendgeschichte des dramatischen Tischlers (vgl. W II 29) zu verstehen, gleichsam als Zeichen einer bajuwarischen Mitgift an der sonst eher düsternorddeutsch eingefärbten Tragödie? Daß sie in der Verhaftung des Tischlersohns wegen eines Diebstahls, in diesem Vorfall, der »das ganze ehrbare Bürgerhaus [...] verfinsterte«, ihren Anstoß hatte, belegt Hebbels spätere Erinnerung (Β V I I 302f.). In die Beziehungen zwischen Karl und seinen Eltern mischen sich auch bestimmend die Wesselburener Spannungen mit dem eigenen Vater und die Beschwichtigungsversuche der Mutter. Das Hungermotiv in der Jugendgeschichte Meister Antons nimmt wiederum Erlebnisse des jungen Hebbel auf: Wie es dem Tischler scheint, »als ob ich mich im Mutterleibe nur mit Freßzähnen versehen« (W II 28), so erinnert sich der Tagebuch-Schreiber daran, daß der freudlose Vater ihn und den Bruder als »seine Wölfe« tituliert hat, denn »unser Appetit vertrieb den seinigen, selten durften wir ein Stück Brot verzehren, ohne anhören zu müssen, daß wir es nicht verdienten« (T 1323, vgl. W VIII 82f.). Solche Obsessionen werfen noch in die Welt des Dramas ihren Schatten. Völlig durchsichtig ist auch, von welchen Urbildern die dichterischen Figuren selbst abgenommen sind und welche Verschiebungen bzw. Verschmelzungen dabei stattgefunden haben. Durch den Meister Anton blickt »der strenge Vater« (W V I I I 85) von Hebbel selbst hindurch, ausgestattet auch mit einigen persönlichen Zügen des Dichters. Noch für den Meister Gebhard, den Wohltäter des jungen Anton, ist ein biographisches Vorbild auszumachen: der Kirchspielvogt Bühmann aus dem benachbarten Neuenkirchen. 72 Die Mutter des Trauerspiels wurde der eigenen Mutter nachgebildet, der Hebbel nach ihrem Tod im September 1838 im Tagebuch ein Denkmal als »Märtyrin« gesetzt hat (T 1295). Der Dichter selbst ist in Karl, der an der väterlichen Autorität und der familiären Enge leidet, und in Leonhard wiederzuerkennen - auch Hebbel hat in Wesselburen bekanntlich Schreiberdienste verrichtet. In Leonhards Verhältnis zu Klara spiegelt sich die Beziehung zu Elise Lensing, der duldenden Hamburger Freundin, die dem Dramatiker vor allem für die Gestalt der Klara vor Augen gestanden hat (vgl. Β III 231). Schließlich dürfte auch die Zurückführung des Sekretärs auf Hebbels frühverstorbenen Freund Emil Rousseau einiges für sich haben.
7 2 Mit Beziehung auf die entdeckungsfreudige >Detektivarbeit< von E. Kuh (wie Anm. 66, S. 75), in die sich übrigens ein Irrtum über das Drama eingeschlichen hat: Der Apotheker, der zu Leonhards Furcht »nah' am Concurs« ist (W II 26), und Antons einstiger Lehrherr Meister Gebhard werden fälschlich identifiziert.
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b) »Ehre« statt »Armuth« Mit dem Nachweis biographischer Motive in der Stoffschicht von >Maria Magdalena« kann es nicht sein Bewenden haben. Was geschieht mit ihnen unter dem Postulat der tragischen Form, unter dem Druck, diese in der Aufdeckung gesellschaftlicher Realität zu bewähren? Daß Hebbel keine persönliche Problematik mehr ins Zentrum stellt, also keinen Versuch einer Selbsttragisierung unternimmt, unterscheidet sein bürgerliches Trauerspiel vom Golo-Experiment der >GenovevaMaria Magdalena·«, wie gesehen, ansonsten geradezu zwanghaft auf Selbsterlebtes, Selbsterlittenes und Selbstverschuldetes fixiert ist. 1837 notiert Hebbel in München: »Ich träumte mich neulich ganz und gar in meine ängstliche Kindheit zurück, es war nichts zu essen da und ich zitterte vor meinem Vater, wie einst« (T937). Auch die späteren Aufzeichnungen« erwähnen »ängstliche Scenen«, wenn im Hause Brotmangel herrschte (vgl. W VIII 83). Und noch 1861 streift die Erinnerung »den Ehrgeiz unseres Vaters, der seine
73
Vgl. Β II 216 (in bezug auf Adam Oehlenschläger), 261 (in der Kopenhagener Krankheit: »Armuth, gräulichster Fluch!«), 326 (= Τ 288ο), Β III Ii6f. (»Sie bringt den Menschen um Alles«) und eine biographische Notiz, die - im Vergleich mit dem jungen Goethe - darlegt, wie die »Armuth« das »Selbstgefühl« unterdrückt (zit. nach: Der junge Hebbel [s. Anm. 67]. S. 116). Erst 1848 kann Hebbel das Thema der »Armuth« aus einiger Distanz behandeln - er tut dies nominell im Hinblick auf Jean Paul, dem er das »Bedürfniß« abzumerken glaubt, »sich mit diesem Fluch durch eine poetische Verklärung individuell auszusöhnen«, verarbeitet dabei aber sichtlich auch die eigene Biographie, wenn er den »Einfluß« der »Armuth« als so einschneidend bewertet, »daß der Mensch [ . . . ] seine ganze sittliche Kraft aufbieten muß, um ihn wieder zu beseitigen, wenn er nicht Zeit Lebens Unerquickliches hervorbringen will« (W X I 130).
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Armuth [...] ängstlich versteckte, wie der Geizhals seinen Schatz und der gern hungerte, wenn der Nachbar ihn nur für satt hielt« (Β V I I 89). Hebbels Vater war demnach von einem ehrbedürftigen, die Wirkung auf die Außenwelt berechnenden Denken beherrscht (vgl. T. 2523). Aber dieser Zug tritt zurück gegenüber der Fesselung an »die Dürftigkeit, die baare Noth«, dergestalt, daß »die Armuth« geradezu »die Stelle seiner Seele« eingenommen hat (T 1323). Meister Anton ist dagegen bis in den innersten »Nerv« durch die Furcht vor der »Schande« bestimmt (W II 41), die Kehrseite seines Strebens nach ehrenhafter Reputation. Statt der Not, die authentisch gewesen wäre, besetzt der Ehrbegriff das psychologisch-dramatische Zentrum des bürgerlichen Trauerspiels. 74 Dabei hätte nicht nur aus dem persönlichen Erleben heraus Anlaß bestanden, am Grundmotiv der »Armuth« festzuhalten. Faßt man den sozialen Kreis von Hebbels Tragödie, das kleinbürgerliche Handwerk, ins Auge, so belehrt die historische Forschung ausgiebig darüber, daß und warum es seit dem Ende der dreißiger Jahre in Deutschland zu einer »Krisis der Kleingewerbe« und also zu einer »Verarmung der Handwerker« gekommen ist. 75 Unter dem Druck der wachsenden Industrialisierung und der Ausbreitung des Kapitalismus hat die 1810 in Preußen und einigen anderen Gebieten gesetzlich eingeführte Gewerbefreiheit dazu beigetragen, die wirtschaftliche Lage der Handwerker zu verschlechtern. In Nord- und Süddeutschland wurden Elemente des alten Zunftrechts beibehalten oder wieder aufgenommen, ohne daß es gelungen wäre, eine Anpassung an die wirtschaftlich-soziale Entwicklung zu erreichen: D e r organisatorischen Erstarrung entsprachen berufliche Indolenz, A b l e h n u n g alles N e u e n , Beschränkung des B e r u f s auf Meisterkinder usw. [ . . . ] D i e L a g e der Gesellen und Lehrlinge w a r meist noch schlechter als die der Meister, die die Lasten auf die S c h w ä c h e r e n a b z u w ä l z e n suchten - mit schweren sozialen und politischen Folgen [ . . . ] Tatsächlich entstand [ . . . ] seit den 30er Jahren das H a n d w e r k s p r o l e t a riat aus verkrachten Meistern und arbeitslosen Gesellen, das auswanderte oder als Diener und L a u f b u r s c h e v o n Tag z u Tag leben m u ß t e . 7 i
74
Diese Verschiebung w i r d schon v o n E . K u h (wie A n m . 66, S. 7 5 ) und P. Z i n c k e (wie A n m . 66, S . 76Ü.)
konstatiert, freilich nur allgemein als A k t künstlerischer
Gestaltungsfreiheit erläutert. V e r w i s c h t w i r d die D i f f e r e n z dagegen v o n L . L ü t k e haus (wie A n m . 64, S. 46). Sie v e r w e i s t aber sehr b e s t i m m t auf das Konstitutionsproblem der Gesellschaftstragödie und in eins damit auf die selektive B e h a n d l u n g der G e g e n w a r t s p r o b l e m a t i k . 75
V g l . e t w a W i l h e l m Treue, Gesellschaft, W i r t s c h a f t und Technik Deutschlands im 19.Jahrhundert. 1975,
3
I 9 7 8 . S. io6f.; T h o m a s N i p p e r d e y , D e u t s c h e Geschichte
1 8 0 0 - 1 8 6 6 . B ü r g e r w e l t und starker Staat. 1 9 8 3 . S. 2 i o f f . ( w o n a c h Faktoren w i e » B e v ö l k e r u n g s z u n a h m e « und »wirtschaftliche Stagnation« ausschlaggebend ren f u r die Situation des H a n d w e r k s in der »Krisenperiode der 40er Jahre«). 76
204
W. Treue, w i e A n m . 7 5 , S. 107.
wa-
Die historische Grundlage des Tischler-Trauerspiels wäre demnach der Zerfall des Zunfthandwerks. 77 Davon ließe sich indes überzeugender sprechen, wenn das Drama tatsächlich eine ökonomische Kausalität der tragischen Katastrophe entwickeln würde. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie ein Blick auf die Fakten lehrt. Zwar herrscht nicht gerade Überfluß im Hause des Meisters Anton, und es muß gespart werden - auch am Essen - , wenn etwa die Tochter ein Festkleid erhalten soll (vgl. W II 13). Aber wenn Karl, der dies maliziös vermerkt, die Mutter um einen Gulden angeht und abends zwei Stunden länger arbeitet, so tut er dies nicht, weil ihn etwa der Hunger antriebe, sondern weil ihn die Freuden von Wirtshaus und Kegelschieben anlocken (vgl. W II 2jf. u. 33). Die beträchtlichen Schulden, die der leichtsinnige Sohn gemacht hat, kann der Vater offenbar ohne Schwierigkeiten aus eigener Tasche bezahlen - auch der vertretungsweise eingestellte Geselle bringt ihn nicht an den Rand des Ruins (vgl. W II 68). Wenn die Mutter davon spricht, daß sie zeitlebens »den sauren Schweiß« des Vaters »zusammen gehalten« habe, so kann man daraus nicht auf wirtschaftliche Not und ein Herumkriechen am Rande des Existenzminimums schließen. Sondern: Eine düstere Lebenshaltung bildet sich darin ab, wie sie in ihrer christlich-asketischen Reglementierung durch Pflicht und Furcht bei Perhorreszierung jeglicher Herzensfreude für das kleinbürgerliche Tischlerhaus charakteristisch ist - mit Blick auf das Jüngste Gericht als »Lohntag« nach derart lastender Lebensarbeit (vgl. W II 12). Entsprechend gibt Meister Anton die Lebensregel: Der Mensch muß, was er mit schwerer Mühe im Schweiß seines Angesichts erwirbt, ehren, es hoch und werth halten, wenn er nicht an sich selbst irre werden, wenn er nicht sein ganzes Thun und Treiben verächtlich finden soll. Wie können sich alle meine Nerven spannen für den Thaler, den ich wegwerfen will (W II 33f.).
Andererseits: Der Mann, der das Gesetz der außerparadiesischen Existenz ganz verinnerlicht hat und also den einen »Thaler« ehrt, hat gleich tausend »Thaler« dahingegeben (und dahingehen können!), um seinem früheren Wohltäter in der Not zu helfen. Man kann wirklich nicht davon sprechen, daß im Drama die Ökonomie-Problematik durchschlüge, die realhistorisch angezeigt ist. Im Zentrum dieses Trauerspiels ist kein Gregorio möglich, dessen Besitzprivileg »das Factum« hervorbringt (vgl. W X I 403), auch kein Woyzeck, dessen Schicksal auf das engste mit seiner sozialen Deklassierung zusammenhängt. Nicht die »Armuth« treibt Klara in den Tod, sondern die Rechtlichkeit des Vaters, der sich selbst um keinen Preis »verächtlich« wer-
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Vgl. Siegfried Streller, >Maria MagdaleneEuropaAdrastea< (1801/03): Sämmtliche Werke, Hg. von Bernhard Suphan. 1877/ 1913. Bd. X X I I I . S. 390. Ebd. S. 389. - Herder exemplifiziert diese Schwierigkeiten der tragischen Form unter der historischen Bedingung einer nichtheroischen Wirklichkeit an Lessings Mühen in der >Emilia GalottiMaria Magdalena< z u entkräften, w i r d das Stück erklärtermaßen auf eine prinzipielle » U n f ä h i g k e i t « der »bürgerlichen Welt« z u r ü c k g e f ü h r t , »sich in v e r w i c k e l t e n L a g e n zu helfen« ( Β I I 348). Wenn die I n d i v i d u e n den >Grund< des H e b b e l s c h e n D r a m a s bilden, der das tragische Schicksal als seinen >Gegensatz< z u tragen hat, so gilt diese Konstellation f ü r die Gesellschaftstragödie mit besonderer
Dringlichkeit,
w e i l diese G a t t u n g G e f a h r läuft, auf einer »Kleinigkeit« stehen z u bleiben. D i e tragische Substantialisierung der F i g u r e n w e l t w i r d i m Falle des Meisters A n t o n durch einen ins M a ß l o s e getriebenen E h r b e g r i f f erreicht - übrigens z u r späteren Z u f r i e d e n h e i t Schopenhauers, der bei H e b b e l s B e s u c h (im J a h r e 1 8 5 7 ) die >Maria Magdalena< keineswegs mit der v o n ihm f r ü h e r festgestellten M i s e r e des bürgerlichen Trauerspiels verrechnet hat. Sein D r a m a - so gab er H e b b e l z u verstehen - habe Kern und Wahrheit, ob es gleich etwas graß ausgefallen ist und mir das Motiv einer Schwangerschaft ohne Verliebnis mehr als bedenklich und auf der Bühne unerträglich dünkt. Aber namentlich der alte Tischlermeister ist eine lebige Gestalt aus dem
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Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. II, Kap. 37 (Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. v. Löhneysen. 1961/65. Bd. II. S. 56if.).
Vollen. Sie haben da in engem Rähmchen ein Kleinbild dieser verpfuschten, nur mit Bosheit einigermaßen haltbar aufgeleimten Welt geliefert [.. .] 8} Wenn sich Hebbel im Vorwort zu >Maria Magdalena< auf die »sittlichen Mächte der Familie, der Ehre und der Moral« als Konstituentien des bürgerlichen Trauerspiels beruft (vgl. W X I 64), so wird der tragisierende Ansatz besonders mittels des Ehrbegriffs durchgeführt. Über ihn stellt sich, um noch einmal Hettners Terminologie aufzugreifen, die »soziale Tragödie« als »Tragödie der Idee« her. Freilich: Mit dem Ehrbegriff hat es um 1840 eine historisch durchaus prekäre Bewandtnis, die Heinz Schlaffer im Hinblick auf das Drama seit dem späten 18. Jahrhundert aufgezeigt hat. 84 Als aristokratisches Erbe sichert die >Ehre< ihrem Träger ein heroisches Format, prägt ihm jedoch zugleich im bürgerlichen Zeitalter einen anachronistischen Charakter auf. So kann der Ehrenhafte einerseits komisch erscheinen, andererseits aber gerade durch seine unflexible Starrheit, sofern diese eine Absage an die inhumanen Tendenzen der bürgerlichen Geldwirtschaft bedeuten soll, dramatischen wie menschlichen Rang erlangen.®5 Die Linien ins 19. Jahrhundert werden von Schlaffer dann folgendermaßen ausgezogen: Die tragischen Wirkungen, welche noch im bürgerüchen Drama von der Ehre ausgehen, helfen der Schwierigkeit ab, im bürgerlichen Zeitalter Tragödien zu schreiben [...] Auf dem Rücken der Formtradition überlebt der Ehrbegriff seine bürgerliche Kritik [...] Die Tragödie bleibt, sind auch ihre sozialen Voraussetzungen geschwunden, als formaler Gegenstand der Dramaturgie zurück. Dabei scheint ihr die Ehrenproblematik vorzüglich geeignet, Konflikt, Unversöhnlichkeit und unglückliches Ende zu bewerkstelligen [...] Widersprüchlich und unentschieden schwanken die Autoren zwischen der inhaltlichen Kritik solch unaufgeklärter Verhältnisse und der formalen Affirmation tragischer Möglichkeiten. 86
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Nach einem Bericht von Wilhelm Jordan (zit. nach: Friedrich Hebbels Persönlichkeit. Gespräche, Urteile, Erinnerungen. Hg. von P. Bornstein. 1924. Bd. I. S. 437)· Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. 1973. S. 86ff. Paradigmatisch steht dafür die Figur Tellheims in Lessings >Minna von Barnhelm< (vgl. ebd. S. 117fr.). - Zweifel sind wohl angebracht, wenn man Nathans Ringparabel allzu einsinnig auf die ökonomische Basis der bürgerlichen Geldwirtschaft zurückgeführt sieht (vgl. ebd. S. 109 u. 116). Auch geht es nicht gut an, den Derwisch Al-Hafi, der bekanntlich zum Ganges flüchtet, antithetisch auf Nathans angebliche »Dissoziation von Geldprinzip und Menschlichkeit« zu beziehen (ebd. S. Ii6f.), wenn dem Flüchtling ausgerechnet Nathan als »der einzige« in Jerusalem gilt, »der noch so würdig wäre, / Daß er am Ganges lebte« — d . h . zu freier Menschlichkeit berufen wäre (vgl. Nathan der Weise II/9; G. E. Lessing, Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u.a. 1970/79. Bd. II. S. 260). Setzt die Suche nach dem Schatten, den die bürgerliche Gesellschaft wirft, im >Nathan< historisch nicht doch sehr verfrüht an? Wie Anm. 84, S. i23ff.
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Daß diese kritische Analyse tatsächlich einige Züge der bürgerlichen Tragödie im 19. Jahrhundert trifft, steht zumal im Hinblick auf Hebbel außer Zweifel. Sie überspringt freilich die Frage, ob die Tragisierung der »Ehrenproblematik« nicht auch inzwischen historische Anknüpfungspunkte gefunden hat, die nicht dem großen ideologiekritischen Entwurf, sondern allein der sozialgeschichtlichen Kleinarbeit entdeckbar sind. Historisch ist jedenfalls nicht nur mit einer bürgerlichen Kritik des Ehrbegriffs 8 7 zu rechnen, sondern auch mit einem bürgerlichen Anspruch auf Ehre und Ehrbarkeit. 88 Im 19. Jahrhundert erlangt auch der ständische, also das Prinzip der Unterscheidung vertretende Ehrbegriff wieder eine stärkere Bedeutung, wobei das Feld mit seinen rechtlichen, moralischen und sozialen Bezügen zu komplex ist, als daß es sich mit einer einzigen Theorieformel wirklich qualifizieren ließe. 89 Wenn die handwerkliche Ehrlichkeit an Geltung verliert, dann kann gerade die Uberbetonung des Ehrbegriffs durch den Handwerker das sozialgeschichtlich signifikante Faktum ergeben. Im Gegenzug gegen Schlaffer hat Wolfgang Frühwald die »Ehrenproblematik« durch eine literarische Reihe verfolgt, zu der auch Hebbels >Maria Magdalena< gehört. 90 Das Drama wird als Beispiel »modellhafter Verdichtung des Geltungsverlustes ständischer Ehrbarkeit« vorgewiesen, seine tragische Katastrophe auf eine Verwechslung der »Standesehre mit der inneren Ehre·* zurückgeführt. Tatsächlich zeigen die Beziehungen zum »Pocken-Fritz« diese, ja nur berichtet, allerdings per contrarium (vgl. W II 40) - und vor allem zum Gerichtsdiener Adam ein Statusdenken bei Meister Anton, das sich sozialgeschichtlich als starres Festhalten am ständischen, gerade nach >unten< abgrenzenden Ehrbegriff erweist.
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H. Schlaffer bezieht sich dabei vornehmlich auf Hegel und Schopenhauer (vgl. ebd. S. 88ff., 99f. u. 124). So vermerkt etwa Wilhelm Heinrich Riehl um die Jahrhundertmitte, daß »uns heute noch die Begriffe des bürgerlichem und des >Ehrbaren< als sehr nahe verwandt, wohl gar als gleichbedeutend gelten« (Die bürgerliche Gesellschaft [1851]; zit. nach der Ausg. 1976. Hg. von Peter Steinbach. S. 165). In solchem Sinne äußert Hebbel 1856 über sein Epos >Mutter und Kinde »Die Ehre des Bürgerthums ist das Thema« ( A H K . S. 71). Vgl. dazu den materialreichen und differenzierten Aufriß von Friedrich Zunkel: Art. >Ehre, Reputations In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. II. 1975. S. 1-63 (zu den hier interessierenden Zusammenhängen bes. S. 3iff.). Die Ehre der Geringen. Ein Versuch zur Sozialgeschichte literarischer Texte im 19. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft. 9, 1983. S. 69-86. - Zur Frontstellung gegen H. Schlaffer vgl. ebd. S. 72, zur - mit interessanten Aspekten versehenen - Behandlung Hebbels vgl. ebd. S. 8off.
Mit tragischen Folgen: Hätte Meister Anton einst im Wirtshaus seine gesellschaftliche Verachtung des Gerichtsdieners nicht ungezügelt ausbrechen lassen, dann wäre dieser auch nicht »bis auf's Aeußerste« gegen ihn »aufgebracht« worden und hätte kein Motiv gehabt, dem Wunsch des - scheinbar von Karl bestohlenen - Kaufmanns nicht zu folgen, zunächst »ganz in der Stille Nachforschungen anzustellen« (W II 45). So aber sinnt Adam, auf ehrenhafte Reputation auch er bedacht, seit der Wirtshausszene auf Rache (vgl. W II 35) und poltert derart ungestüm ins Tischlerhaus, daß die Mutter den Schreckenstod stirbt. Klara stellt den Zusammenhang her: »Das hat meine Mutter mit einem jähen Tode bezahlen müssen!« (W II 46) Angesichts der >Schuld< Meister Antons am Tod seiner Frau entbehrt es nicht der dramatischen Ironie, wenn er selbst ihren Sarg mit den Worten verschlossen hat: »[...] dieß ist mein Meisterstück!« (W II 37) Klara wird das nächste Opfer seines Reputationsdenkens sein. Im Maße, wie diese Sequenz Hebbels Handwerker unter einem starren ständischen Ehrbegriff enthüllt, muß Schlaffers These abgeschwächt werden, daß die »Ehrenproblematik« nur noch eine dramaturgisch-formale Behandlung zuläßt. Auf der anderen Seite reicht das somit in die Sicht gerückte sozialgeschichtliche Substrat nicht aus, um das rigoristische Maß dieses Ehrbegriffs, seine tragische Fatalität zu erklären. Hier wird ein Größenformat erreicht, das nicht von der zeitgenössischen Realität abgenommen ist, zumal ein Größenkult in dieser Richtung bei Hebbel - von gelegentlichen nostalgischen Wendungen abgesehen - gar nicht aufzukommen pflegt. 91 Letztlich ist Meister Anton mit seinem todbringenden Ehrbedürfnis nicht von ständischzünftigen Bedingungen in ihrem Gegensatz zu merkantilistischen und anderen Zeittendenzen her zu begreifen. 92 Was Hebbel in dieser Figur gibt, ist nichts anderes als eine Reinkarnation des alten tragischen Heldenmusters, freilich so, daß ihm entsprechend der vorgeschriebenen gesellschaftlichen Thematik sekundär bestimmte soziale Merkmale aufgepreßt werden. Die Meisterschaft der Gestaltung sorgt dafür, daß diese Merkmale einigermaßen natürlich und glaubhaft wirken können. Doch sind es in der tragisierenden
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So notiert der Münchner Tagebuch-Schreiber 1836: »Das vornehmste Bestreben der Welt sey darauf gerichtet, keines Herkules zu b e d ü r f e n . Das ist die einzige Klugheitsmaaßregel, die ich der Zeit zugestehe. Es gilt nicht sowohl, einen A u giasstall zu misten, als aufzupassen, daß keiner entstehe!« (T 529) Das klingt schon fast nach der listigen Vernünftigkeit von Brechts Galilei: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat« (Leben des Galilei; Gesammelte Werke in 20 Bdn. 1967. Bd. III. S. 1329). Abweichend von den Meinungen L. Lütkehaus' (vgl. wie A n m . 19, S. 7 i f f . ) und davon wiederum differenziert - W. Frühwalds (wie Anm. 90, S. 8off.). 2JI
Zuspitzung »archaische Ehrgesetze«, die hier ihren Tribut fordern. 93 Die ständisch-zünftige Mentalität könnte dies nicht. Damit soll nicht bestritten werden, daß in diesem Werk gleichwohl mit großer Treffsicherheit so etwas wie eine Pathographie des bürgerlichen Familienlebens geleistet wird. Das Zusammenspiel, aber auch Widerspiel von tragischem Interesse und sozialkritischer Analyse gilt es nun im Detail der Figurengestaltung aufzuzeigen.
4. Vater, Tochter und Bürger Auf die Hand der toten Mutter muß Klara dem Vater schwören, daß sie ist, was sie sein soll. Der Sohn - so scheint es - hat durch seinen Diebstahl und die dadurch ausgelöste Hausdurchsuchung »die Mutter umgebracht«, die Tochter hätte es nun in der Hand, auch den Vater »zu fällen«. Meister Anton ist mißtrauisch geworden, als Klara auf Leonhards Lossagung nicht mit der Gleichgültigkeit oder gar Erleichterung reagiert hat, die der »Lump« eigentlich verdient. Die Tochter: »Vater, Vater, ich kann nicht! [...] Vater, Er ist schrecklich!« Worum es geht, wird nicht direkt ausgesprochen, aber durch Umschreibung oder auch abrupte Verschweigung so suggeriert, daß man einander in der belasteten Situation »wohl« versteht. Vor allem versteht der Zuschauer: Er weiß, daß Klara schwanger ist und daher den Eid in der vorgeschriebenen Form nicht leisten kann - sie würde sich eines Meineids schuldig machen. Er kann daher auch ermessen, was es besagt, wenn Klara in ihrer N o t den Wortlaut verändert und stockend herauspreßt: »Ich - schwöre - Dir - daß ich - Dir - nie - Schande - machen - will!« Und vor allem kann der Zuschauer etwas erkennen, wenn sich Meister Anton damit zufrieden zeigt: »Gut!« (W II 3 j f . ) Statt die Tochter wegen der eigenmächtigen Veränderung der Eidesformel auch nur zu rügen, stimmt der Vater zu, als hätte es gar keine Veränderung gegeben. Hat er sie nicht bemerkt? Vermutlich hätte er ihr auch bei bewußter
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H. Schlaffer, wie Anm. 84, S. 124. - Es verdient in diesem Zusammenhang Beachtung, daß Hebbel 1858 neben einigen seiner historischen Dramen auch die doch — dem Stoffkreis nach - >moderne< iMaria Magdalena< ausdrücklich der »germanischen Welt« zugewiesen hat (vgl. Β VI 216), wie zur Bestätigung des hier stillschweigend introduzierten archaisch-heroischen Maßes. Man braucht nur die von F. Zunkel (wie Anm. 89, S. iff.) gegebene Explikation des germanischen Ehrbegriffs heranzuziehen, um zu sehen, in welcher Welt Meister Anton >eigentlich< beheimatet ist. Auch W. Frühwald macht in >Maria Magdalena< eine »Welt anachronistischer Ehrbarkeit« aus, sieht diese aber ausschließlich als inhaltlich dargestellte Problematik (wie Anm. 90, S. 81).
Registrierung keine Bedeutung zugemessen. Auf jeden Fall überführt die Art, wie Meister Anton die Forderung nach Sittlichkeit durch ein Versprechen der Reputationswahrung als erfüllt ansieht, seine eigene Sittlichkeit einer Veräußerlichung.94 Es kommt ihm nicht auf Klaras moralische Integrität als solche an, sondern auf ihren Schein für die Welt. Vier Tage später95 hat sich an der Lage im Tischler-Haushalt nichts geändert. Aus einer »guten Herberge« scheint unversehens ein »Räuberloch« geworden (W II 38) - jedenfalls »vor dem Angesicht der Welt«, vor dem Forum, das Meister Anton am meisten fürchtet. So kommt er dazu, den ungeheuren Leidensdruck, der ohnehin schon auf der Tochter lastet, noch zu verstärken, indem er für den Fall ihrer Schande »mit schrecklicher Kälte« seinen Selbstmord androht: »In dem Augenblick, wo ich bemerke, daß man auch auf Dich mit Fingern zeigt - [...]« (W II 39f.). Wie ernst er das meint, unterstreicht die Pantomime des Halsabschneidens. Der Eid, den der Vater der Tochter abgepreßt hat, steht fortan unter einer Bedingung, die ihre Lage schließlich ausweglos machen wird. Nichts anderes als die fürchterliche Mahnung hat er ihr zu hinterlassen: »[...] halte Du Deinen Schwur, damit ich den meinigen nicht zu halten brauche!« (W II 42) a) Schwüre gegen Geschäfte Als Klara vor Leonhard tritt, um ihn zur Heirat zu bewegen, ist es die Selbstmord-Drohung des Vaters, die ihrer Bitte eindringliche Kraft gibt: »Er hat's geschworen! Heirathe mich!« (W II 55) Daß der Vater »geschworen« hat, wiederholt sie auf Leonhards Abwiegeln hin, ebenso den flehentlich ausgestoßenen Heiratswunsch, dessen Erfüllung das Verhängnis noch wenden könnte. Aber ob Meister Anton das nun »geschworen« oder nur so dahingesagt hat, macht für Leonhard keinen Unterschied aus. Auch nachdem Klara ihm vor Augen gestellt hat, daß ihr im Falle seiner Weigerung nur der 94
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So versteht H. Kraft die Schwurszene als eine Decouvrierung der »bürgerlichen Sittlichkeit«, weil in Klaras unbeanstandet hingenommener Veränderung »die Forderung ihres Vaters auf ihren eigentlichen Inhalt reduziert« erscheint (wie Anm. 2, S. 108). Z u den Schwurszenen des Stücks vgl. auch die Ausführungen von J o achim Müller (Zur motivischen und dramaturgischen Struktur von Hebbels M a ria Magdalenas In: HJ. 1968. S. s j f f . ) , zur Szene I/7 die eingehende Analyse von L. Lütkehaus (wie Anm. 64, S. 76ff.). Wenn man sich an Karls Angabe hält, daß er nach der Entlassung aus dem Gefängnis an einem Donnerstag ins Elternhaus zurückkehrt (vgl. W II 63) - damit wäre die Zeitphase des zweiten und dritten Aktes bezeichnet, nachdem sich der erste Akt an einem Sonntag zugetragen hat (vgl. W II 13). Jedoch sind nach Leonhards Zeitrechnung seitdem acht Tage vergangen (vgl. W II 57f.). Einer muß sich irren, vermutlich der Dramatiker selbst, dem eine Unstimmigkeit in die Zeitstruktur seines Stücks hineingeraten ist. 213
Selbstmord bliebe, läßt er den Notruf der Schwangeren ungehört. Er behandelt sie vielmehr, als hätte er persönlich damit nichts weiter zu schaffen, wie den bloßen Einzelfall eines nun einmal weltüblichen »Weiber-Schicksals« (vgl. W II 66). In solcher Verallgemeinerung fortfahrend, möchte Leonhard auch der beschworenen Selbstmord-Drohung des Meisters Anton ihren Schrecken nehmen. Vor Klaras Eintreffen hatte er immerhin noch mit Unbehagen an den strengen Tischler gedacht (vgl. W II 54). Jetzt stiehlt sich Leonhard vor der eigenen Verantwortung davon, indem er Meister Anton kundig unter jene »Väter« einreiht, die in gleicher Lage »Flüche«, »Schwüre« und »Gotteslästerungen« ausstoßen und hernach als stolze Großväter wieder ganz friedlich zu werden pflegen. Im Schutz des floskelhaften Plurals soll der Fall Klaras zu einem Allerweltsfall verschwimmen und der Makel allein auf den Vater zurückfallen. Klara kann daraufhin nur resümieren: »O, ich glaub's gern, daß Du nicht begreifst, wie irgend Einer in der Welt seinen Schwur halten sollte!« (WII57) Dieses Wort zieht eine Furche durch die von Hebbel dargestellte bürgerliche Welt. Die eine Figurengruppe, Meister Anton und Klara (und auch der Sekretär), legt sich mit dem Schwören eine Verbindlichkeit auf, von der bis in den Tod nicht abgelassen werden kann - auch dann nicht und gerade dann nicht, wenn dieser Schwur wie für Klara unter einem Zwang steht. Die andere Gruppe, Leonhard vor allem (aber auch Karl), drückt sich an dieser Verbindlichkeit ohne größere Schwierigkeit vorbei. Um die Leistung des Schwurmotivs in Hebbels bürgerlichem Trauerspiel zu fassen, empfiehlt sich ein gattungsgeschichtlich naheliegender Vergleich. Auch in Schillers >Kabale und Liebe< spielt ein Eid eine wichtige Rolle - er wird Luise abgepreßt, damit die Intrige funktionieren kann, mittels derer ihr höheren Orts unerwünschtes Liebesbündnis mit Ferdinand aufgelöst werden soll. Auf die Frage des Präsidenten, was denn ein solcher Eid »fruchten« könne, antwortet Wurm, der über die Mentalitäten Bescheid weiß: »Nichts bei u n s , gnädiger Herr. Bei d i e s e r Menschenart alles - « ? 6 A m Eide scheiden sich die Geister, treten standesspezifische Gesinnungen auseinander, zeigt sich aber auch ein moralisches Gefälle. Luise weiß, daß sie durch den wenn auch erpreßten - Schwur eine unlösbare Verpflichtung eingegangen ist, so daß sie Ferdinand die Wahrheit nicht sagen kann und eine fürchterliche Verkennung seitens des Geliebten hinnehmen muß. Erst »der Tod hebt alle Eide auf [.. .]«, 97 erst unter seinem hereindrohenden Schatten wird Aufklärung möglich, kommt es zum Gericht über die intrigierenden Mächtigen.
96 SW I 802. 97 SW I 855. 214
Auch Klaras jüngere Schwester Rose Bernd (im gleichnamigen Stück von Gerhart Hautpmann) muß einen Eid leisten: sie macht sich eines Meineids schuldig. Vor Gericht weiß sich die Schwangere gegen die vorgebrachten und selbst beschworenen - Beschuldigungen nicht anders zu helfen als mit einer Lüge »unterm Eide«.98 Der moralische Makel, der in diesem falschen Schwören liegt, kommt gegen die »Martern«, die die unglückliche Kindesmörderin zu ertragen hat, gegen die kreatürliche Not derer nicht auf, die in der ganzen Welt nur noch Lug und Trug zu sehen vermag. Kein Zweifel, daß Rose Bernd als Opfer determinierender und sich unheilvoll verknüpfender Zwänge entgegen dem strengen Urteil des Vaters mitleidswürdig wird. Was es mit dem Eid bzw. Meineid an sittlicher Verbindlichkeit auf sich hat, das »schiert« sie nicht und hat auch für ihr Leidensschicksal keine entscheidende Bedeutung." 60 Jahre nach Schillers bürgerlichem Trauerspiel und 60 Jahre vor Hauptmanns »Schauspiel«, das auf die reputierliche Gattungsbezeichnung nicht mehr Anspruch machen kann und will, erlangt das Schwurmotiv in Hebbels >Maria Magdalena< das vergleichsweise größte Gewicht. Hier kommt es nicht im Rahmen einer Intrige zum Zuge, auch nicht in einer - nur berichteten Gerichtsszene, sondern hier ist es der eigene Vater, der das Persönliche in der Beziehung zur Tochter in eine forensische Strenge überführt. Zwar kann Klara, wie gesehen, an der vorgeschriebenen Eidesformel und damit an dem rituellen Zwangscharakter des Schwörens etwas ändern. Aber die mit dem Schwören gegebene Verbindlichkeit bleibt für sie bestehen, ein Letztes, das in seiner Gültigkeit anders als für Rose Bernd nicht hintergangen werden kann. In einem Anlauf kommt Meister Anton vom hypothetisch beschworenen Selbstmord auf sein Existenz-Gesetz: »Ich kann's in einer Welt nicht aushalten, wo die Leute mitleidig sein müßten, wenn sie nicht vor mir ausspucken sollen« (W II 40). Der Eid führt also unmittelbar auf das Ehren-SchandenSchema, das den Vater - der vom Mitleid der Leute um keinen Preis abhängig sein will - rückhaltlos beherrscht und das auch der Tochter rücksichtslos aufgezwungen wird. Stärker als auf die Nachbar-Stücke der Gattungsgeschichte verweist dieser dramatische Perspektivismus auf die schwurbekräftigten Handlungen von >Herodes und Mariamne< oder auf die archaisierten Auseinandersetzungen im zweiten Akt von Wagners >GötterdämmerungMaria Magdalene< im Zusammenhang der jüngsten Hebbelforschung. In: Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion. 43, 1943. S. 42. So L. Lütkehaus, wie A n m . 19, S. 80. - Gleichen Sinnes seine neuere Darstellung: wie A n m . 64, S. 49ff.
" * So Reinhold Zickel, Drama und Geschichte im Weltbild Friedrich Hebbels. 1925. S. 101. - V g l . zur kritischen Diskussion auch H. Kraft, wie A n m . 2, S. 108. 115 So Peter Michelsen, Hebbels >Maria MagdaleneEntlarvung< zu stellen, als wäre seine so rigorose Rechtlichkeit nichts als die Tarnung einer handgreiflichen »Egozentrik« (Michelsen). Die Jugendgeschichte sorgt dafür, daß wir die Genese dieses herben Charakters >verstehen< können. 118 Der Mann, der es »nicht eng genug um sich haben« kann, der - nach Karls haßgeschärfter Hellsicht - am liebsten »seine Faust zumachen und hinein kriechen« möchte (W II 65), hat es mit einer unheimlichen Macht in sich selbst zu tun: mit der Angst. Wo Lücken und Blößen drohen, da sieht dieser Charakter die herbe Not wiederkehren, die ihn geprägt hat. So entsteht das Bedürfnis nach totaler
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L. Lütkehaus, wie Anm. 64, S. 43. - Das in der Tat syntaktisch bezugslose Personalpronomen »ihnen« (im vorletzten Satz des oben gegebenen Zitats) steht demzufolge für die anderen, die Leute >außem. Dies hat - mit Andeutungen autobiographischer Hintergründe — H. Kreuzer überzeugend geleistet (vgl. Die Tragödien Friedrich Hebbels. Versuch ihrer Deutung in Einzelanalysen. 1956. S. 109fr.). Z u psychologischen Parallelen zwischen Meister Anton und seinem Dichter vgl. u.a. Τ 2465, ferner einen späteren Brief Christine Hebbels (an Franz Dingelstedt, 10. 3. 1852), worin dem Dichter-Gatten das »Zeugniß« gegeben wird: » [ . . . ] er ist ganz anders, als er scheint, wenn man ihn nur wenig kent, hinter der etwas schroffen Außenseite verbirgt sich bei ihm ein sehr weiches Gemüth« ( B A H I 304). 22
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Abschirmung gegen das Außen, das Bestreben, das Seine gegen eine potentiell immer feindliche Außenwelt zusammenzuhalten - und sei es nur gegen ihr Gerede und gehe es auch nur um die Kerzen, die man im eigenen »Hause« anzünden darf (vgl. W II 23). So arbeitet Meister Anton »im Schweiß seines Angesichts« (W II 33), um von außen nicht auch nur mit einem Schein von Recht im Anspruch auf das Seine irritiert werden zu können, so werden Askese, Rechtlichkeit und Reputationsstreben zu präventiven Mitteln der Lebenssicherung, so setzt sich die Psychologie der Ehre und der Ehrbarkeit als ultima ratio der mühsamen Lebensarbeit fest. Mag die Hermetik dieses Denkens und Lebens auch eine gewisse standesspezifische Signifikanz aufweisen - im Letzten wirkt sie individualpsychologisch motiviert. Freilich ist es auf der anderen Seite gerade seine perfektionistisch betriebene Selbstbewahrung, die Meister Anton - über das Ehren-Schanden-Schema - der undurchschauten Abhängigkeit vom Außen ausliefert. Was die Jugendgeschichte an psychologischer Annäherung leistet, hat auch eine kritische Interpretation zur Kenntnis zu nehmen. Man darf auf den sich so schrecklich gebärdenden Tischler nicht nach Maßgabe eines mehr oder weniger spontanen Unbehagens dreinschlagen oder an der Figur nur die marxistisch verordnete kleinbürgerliche Misere demonstrieren, will man nicht das Drama aus dem Blick verlieren, das Hebbel nun einmal geschrieben hat. Seine spätere Klarstellung, daß Meister Anton und Leonhard »Gegensätze wie Gut und Bös« seien (Β VI 101), mag man für überzogen oder sonstwie problematisch halten. Aber daß der Tischler sein Vermögen - und zugleich die Mitgift seiner Tochter - opfert, um dem Wohltäter seiner Jugend zu helfen, bleibt selbst als Abtragung einer Dankesschuld eine große Handlung, die den Rahmen des Kleinbürgerlichen sprengt. Und dies um so mehr, als es »ganz in der Stille geschehen« ist und Meister Antons Bericht an den ob solcher Großmut verdatterten Leonhard in keiner Weise auf eine transzendente Belohnung zielt, sondern vor allem die Erschütterung über das Krankheitsschicksal des Meisters Gebhard ausdrückt (vgl. W II 29f.). Auch ist kein Grund ersichtlich, für Meister Anton Hebbels Bewertung der »dem bürgerlichen Kreise ursprünglich eigenen Elemente« völlig zu suspendieren, wonach sie »in einem tiefen, gesunden [!] und darum [!] so leicht verletzlichen Gefühl« gründen. 119 Von Meister Anton heißt es im gleichen 119
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Es schließt sich allerdings, bezeichnend für Hebbels dualistisches Denken, sogleich der Hinweis auf die Kehrseite der bürgerlichen »Elemente« an, daß sie - zweitens in »einem durch keinerlei Art von Dialectik und kaum durch das Schicksal selbst zu durchbrechenden Ideenkreis bestehen« (Β II 348). Wenn Hebbel über die Figuren des bürgerlichen Trauerspiels feststellt, »daß sie eigentlich Alle Recht haben« (T 2926), so bedeutet das - unter der Prämisse ihrer Unfähigkeit zur »Dialectik« (vgl. W X I 62) - zugleich auch das Gegenteil, wie es P. Michelsen durchaus nicht
Zusammenhang - es handelt sich um den Brief an Auguste Stich-Crelinger vom ix. Dezember 1843 - erklärend, »daß er nicht anders kann, wenn er auch mögte«: durchaus mit Bezug darauf, daß er seine Tochter »in den Tod hinein treibt«. Als weiteres Merkmal der dargestellten bürgerlichen Welt und zugleich als Begründung von Klaras Todesschicksal wird schließlich »das Beharren auf den überlieferten patriarchalischen Anschauungen« angeführt. Die Psychologie der präventiven Lückenverstopfung gewinnt demnach ihre fatale, von Hebbel ins Tragische gezwungene Finalität im Element eines sozialen Traditionalismus: Im Brennspiegel der kleinbürgerlichen Familie erhält die Struktur der patria potestas schmerzhafte Kenntlichkeit, die Hebbel in ihrer politischen Spielart der Realität des deutschen Vormärz hat absehen können. Wie der absolutistische Herrscher seine Untertanen zwingt Meister Anton Frau und Kinder - und sicher auch den Gesellen, also das >ganze Haus< - unter sein Diktat, biegt er gewaltsam ihre personale Autonomie auf eine sachähnliche Verfügbarkeit um, mit der Einschränkung freilich, daß ihm das bei Karl nicht mehr recht gelingt. In seinem Bericht über die Wiener Aufführung der >Maria Magdalena< hat Siegmund Engländer gemeint, »daß ein solches Familienleben, auch wenn kein specielles tragisches Ereigniß eintritt, an und für sich schon tragisch sei«.120 Damit wird das Hochwort des Tragischen deskriptiv für Zustände eingesetzt, die »der [...] schreckliche Conservativismus des Lebens« hervorgebracht hat und deren kritische Bekämpfung sozialethische Ehrenpflicht ist. 121 Dies entspricht Hebbels Intention aus dem einfachen Grunde nicht, weil sie das Tragische nicht als abzuschaffende traurige Zuständlichkeit hinstellen, sondern als strukturelles Resultat familiär-sozialer Verhältnisse erzielen will. Was in >Maria Magdalena* so schreckliche Folgen hat, das Patriarchat, darf nicht einfach unter aller Kritik sein und ist es auch nicht. Es darf aber auch nicht unbedenklich affirmiert werden - selbstverständlich bleiben die Zustände im kleinbürgerlichen Tischlerhaus ein Echo auf die vielzitierte Münchner Notiz von 1837, die sich unmittelbar wohl auf einen anderen Anton bezieht: »Es giebt keinen ärgern Tirannen, als den gemeinen Mann im häuslichen Kreise« (T 677).
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im Widerspruch zu Hebbel pointiert hat: »Tatsächlich haben alle unrecht« (wie Anm. J15). Zit. nach: HK. S. 206. HK. S. 207. - Mit Recht sieht L. Lütkehaus bei Engländer den »Beginn der historisch-soziologisch und ideologiekritisch akzentuierten Interpretation«, deren kräftiger Fortschreibung nicht zuletzt seine eigene Anstrengung gilt (wie Anm. 64, S. 152). Immer noch ist es der so schreckliche Konservatismus des Familienlebens innerhalb und außerhalb der >Maria Magdalenas auf den mit kritischer Emphase und aktuellsten Theorie-Helfern (bis hin zur »Anti-Psychiatrie«) gezielt wird (vgl. ebd. S. 99, 142, 148, 154 u. ö.). Ob man den »historischen« Hebbel auf solchen Wegen zuverlässig erreicht, ist eine andere Frage.
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Um in den - ja überaus scharf beobachteten und in ihrer prinzipiellen Bedenklichkeit erfaßten - familiären Verhältnissen die Tragödie zu retten, darf kein Verfahren der Destruktion durchgreifen, muß vielmehr das Schreckliche im Vatersgebaren an ein irreduzibles Größenformat gebunden bleiben. Differenzierende Einzelzüge in der Gestaltung Meister Antons treten hinzu, die für den Eindruck einer reicheren Menschlichkeit sorgen. Von der Jugendgeschichte und von der Gemütsbewegung des herben Mannes bei der Erinnerung an das Schicksal des Meisters Gebhard war bereits die Rede. Daß es nicht nur den befehlenden >Patriarchen< in Meister Anton gibt, sondern auch eine Innenwelt von Empfindsamkeit, zeigt des weiteren Klaras Bericht über seine »Thränen« während der Krankheit der Mutter (vgl. W II 14). Andererseits: Wie schroff verhält sich Meister Anton dagegen zu seiner Frau nach ihrer Rückkehr aus der Kirche (vgl. W II 31), in welch* erbarmungsloser Roilenzuschreibung betont er an ihrem Leichnam das väterliche Privileg (vgl. W II 36)! Die Empfindsamkeit bleibt verdeckt, gleichsam in der Hinterstube Menschlichkeit und Liebe können in dieser Vaterwelt keine volle Präsenz erlangen, sondern sind nur als abgedrängte Phänomene spürbar oder erschließbar. Nur »heimlich« kauft Klara Wein zum Geburtstag der Mutter (W II 64), und es paßt auch ins Bild, daß sie ihr inkognito Blumen bringen läßt (um ihr die freudige Illusion zu schenken, sie kämen von Karl [W II 15]), schließlich auch, daß sie dem Sekretär ihre Liebe nur unter dem Druck der Verzweiflung rückhaltlos gesteht (W II 50). In diesem Drama kann sich Menschlichkeit nicht frei entfalten, nicht einmal offen zeigen. Alles bleibt überschattet von Konvention und Zwang, von der traditionalistischen Vaterherrschaft. Dabei ist für die patria potestas eine sittliche Begründung nicht ersichtlich. Nicht Gesinnung und Gewissen, doch wohl Träger und Prüfstein wahrer Moralität, kommen in Betracht, nicht die spontane Zuwendung zu einem Menschen in Not (die eigene Tochter!) setzt sich durch, wenn es in der Vorstellung des Vaters das gesellschaftliche Ansehen des >Hauses< gilt. Dann genügt ihm nicht mehr die Versicherung, ein »Jeder« wisse, »daß Er der ehrlichste Mann in der Stadt ist« - diese Bemerkung des zweiten Gerichtsdieners ist ihm nur noch Anlaß zu einem Sarkasmus (vgl. W II 35). Es wäre ihm auch kein sonderlicher Trost gewesen, hätte ihm Klara von der »Achtung« berichtet, die ihm der Kaufmann Wolfram zollt (vgl. W II 45). Steht im Fehltritt des Sohnes oder der Tochter die Ehre auf dem Spiel - die Ehre der Familie, über die der Vater wacht - , dann wird sein Sinnen und Trachten vom angstvollen Gedanken an das regiert, was >man< denken oder gar »sprechen« könnte (vgl. W II 40). Die Lücke nach außen öffnet sich, und sie muß um jeden menschlichen Preis gestopft werden. Wenn in der Reputationsbefangenheit der Grundzug bürgerlichen Ver228
haltens in diesem >bürgerlichen< Trauerspiel erblickt werden kann, so zeigt sich darin zugleich die sphärentrennende Grenzlinie: Es gibt für Meister Anton in seinem Kampf um die Familienehre kein Zurück, keine Umkehr angesichts unabweisbarer menschlicher Forderungen. Wolfram bekennt den faulen Fleck im eigenen Hause schließlich unter dem Druck des Faktischen, Leonhard würde sich aus Angst schließlich doch zur ökonomisch unvorteilhaften Heirat bequemen. Für Meister Anton hingegen gilt, was einst von Hebbel gegen Odoardo Galotti eingewendet worden ist, daß er »sich leichter zum Aeußersten, als zu etwas Anderem entschließt« (T 1496): den nämlichen psychologischen Extremismus hat er trotz der einstigen Verwahrung dem eigenen Tragödienvater als Lebensgesetz mitgegeben. Man kann an Meister Anton eine Veräußerlichung des moralischen Bewußtseins diagnostizieren - möglicherweise bis zur Konsequenz einer völligen Amoralität. Aber daß die psychologische Schiene der pharisäerhaften Heuchelei (s.o.) oder eine andere kleinbürgerliche Seelenkleinheit diese Interpretation nicht tragen kann, muß zu denken geben. Wenn die Vatergestalt nach Vischers bewundernder Beobachtung »aus einem Guß« geraten ist, 122 dann nicht, weil an ihr eine soziale bzw. moralische Kritik exerziert worden wäre. Vielmehr ist der standestypische Traditionalismus über die Ehren-Psychologie derart ins Archaische verlängert und somit ins Große gesteigert, daß Meister Anton von einer moralisch argumentierenden Kritik nicht in jenem »Nerv« getroffen wird, der ihn »zusammen hält« (vgl. W II 41). Es ist die Fixierung auf das gesellschaftliche Ansehen und die Besinnungslosigkeit des darauf um jeden Preis abgestellten Verhaltens, die das alte Heldenschema verrät. Die Gestaltungsleistung Hebbels besteht darin, diesen »Riesen« - wie er Meister Anton nicht grundlos im entstehungsgeschichtlichen Kommentar nennt (vgl. Β II 342) - einigermaßen glaubwürdig einer zeitgenössischen gesellschaftlichen Sphäre unterzuschieben und sein außerordendiches Format immer auch als Beschränktheit auszumünzen. So nur scheint dem Dramatiker das Konstitutionsproblem der sozialen Tragödie lösbar, wenn anders der theoretische Begriff der Tragödie nicht aufgegeben werden darf. Gewiß: Die innere Verlängerung des dramatischen Perspektivismus ins Archaische ist als Kunstvorgang zugleich >verdecktModelung< auch im Detail der Gestaltung entdeckt werden. Als Beispiel diene Antons Rekurs auf Bibel und Religion, die Art und Weise, wie sein Gemüt durch »das beklommendüstre biblische [...] Element« (W VIII 400) geprägt erscheint. 122
Wie Anm. 105.
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Der Familienvater sieht darauf, daß die Kinder »Gottes Gebote« achten (W II 24), daß sie »den rechten Weg« wandeln (W II 40). Die biblische Orientierung kann freilich nicht kaschieren, daß es die pure imitatio der Elternwelt ist, auf welche die Kinder verpflichtet werden sollen. Immerhin: Als das Schicksal des vom Konkurs bedrohten Apothekers mit seinen vielen Kindern zur Sprache kommt, ringt sich Meister Anton ein Wort der Anteilnahme ab, allerdings erst auf eine Nachfrage hin, die er als Appell an sein Christentum auffassen muß (vgl. W II 26). Wie dieses Christentum mit der Psychologie der Lückenverstopfung Hand in Hand geht, zeigt eine der eingehendsten Selbstcharakterisierungen des Tischlers, die beim Kirchenerlebnis ansetzt: [...] wenn ich mein Herz erhoben fühlen soll, so muß ich erst die schweren eisernen Kirchthüren hinter mir zuschlagen hören, und mir einbilden, es seien die Thore der Welt gewesen, die düstern hohen Mauern mit den schmalen Fenstern, die das helle freche Welt-Licht nur verdunkelt durchlassen, als ob sie es sichteten, müßten sich um mich zusammen drängen, und in der Ferne muß ich das Beinhaus mit dem eingemauerten Todtenkopf sehen können (W II 25).
Die Sphäre des Hellen und Weiten, überhaupt der Sichtbarkeit wird perhorresziert - daher auch Antons obsessive Erinnerung an das »Microscop«, das die Dinge allzu genau in die Sichtbarkeit zieht (vgl. W II 39). Dagegen bietet die Kirche einen Schutzraum an, der in seiner Enge und Abgeschlossenheit mit der psychologischen Hermetik des Tischlers korrespondiert. Daß es ein künstliches Refugium ist, verrät sich in Meister Antons Schilderung fast schon zu deutlich, denn immerhin bekennt sie den Anteil der eigenen >Einbildung< an der Konstitution eines bergenden Vorstellungsraums und qualifiziert diesen im Grunde als eine Als-ob-Welt. Sogar die Kirchenfenster werden, gleichsam personalisiert, in den nach außen gerichteten Abwehrgestus einbezogen! Heines ironische Attacke auf die protestantischen Kirchen in Norddeutschland, in denen »das Licht so frech [!] durch die unbemalten Vernunftscheiben hineinschießt«,125 erscheint bei Hebbel in einer charakteristischen Abwandlung. Die Erhebung des Herzens bindet sich an eine Atmosphäre der Enge und Schwere, des Verdüsterten und des Todes. Entsprechend sind auch die biblisch-religiösen Wendungen gestimmt, die Meister Antons Sprechen in großer Fülle durchziehen. Ob er sich auf den »Vater Abraham« beruft (W II 30) oder das eigene Schicksal hypothetisch auf das Hiob-Vorbild einspuren läßt (vgl. W II 42): es ist die Welt des Alten Testaments, in der diese Mentalität wurzelt und aus der sie sich immer wieder
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Heinrich Heine, Reise von München nach Genua [= Reisebilder. Dritter Teil 1828]. Kap. 15 (im Trienter Dom). In: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. Bd. II. Hg. von Günter Häntzschel. 1969. S. 345f.
kräftigt. Dazu stimmt die Art, wie Anton nach seinem Bericht eine tröstende Mahnung des Pfarrers zurückgewiesen hat: Der Pfarrer, der mitleidige Mann, der mich gestern besuchte, meinte zwar, ein Mensch habe Niemanden zu vertreten, als sich selbst, und es sei ein unchristlicher Hochmuth von mir, daß ich auch noch für meinen Sohn aufkommen wolle; sonst müßte Adam es sich so gut zu Gemüthe ziehen, wie ich. Herr, ich glaub's gern, daß es den Frieden des Erzvaters im Paradiese nicht mehr stört, wenn Einer seiner UrUr-Enkel zu morden oder zu rauben anfängt, aber raufte er sich nicht die Haare über Kain? (W II 4 of.)
Ersichtlich ist Meister Anton in seinem Element. Der - vermeintliche - Diebstahl des Sohnes wird in maßloser Steigerung (als ginge es um Mord!) zu einem Kain-Fall, damit tritt die Parallele zum »Erzvater« Adam ein, wird das eigene Leben auf altbiblische Dimensionen gebracht. Ist dies »unchristlicher Hochmuth«, wie der Pfarrer meint (mit einem signifikanten Stichwort übrigens, das einmal mehr auf die innere Unterscheidung von bürgerlicher Normalität und tragischer Extremität verweist)? Meister Anton folgt eher einem vorchristlich-patriarchalischen Verhaltensschema, einem solchen, das nur Strenge, Forderung und Rechtlichkeit kennt, nicht hingegen Mitleid, Verzeihen und Liebe. Die Mutter stirbt, indem sie - wie später der Sekretär (vgl. W II 69) - Jesus anruft (W II 34). Klara appelliert an Gottes Gnade und Barmherzigkeit, sie wünscht sich »einen Glauben, wie die Katholischen«, damit sie Gott »Etwas schenken dürfte« (W II 16). Davon hebt sich die alttestamentliche Religiosität des Vaters in ihrer düsteren Askese deutlich ab in ihr kann ein Gedanke ans Schenken oder gar an die Freude über das Glück des Beschenkten gar nicht aufkommen. Der Alte brauchte wirklich nur das Kamisol abzulegen, um unter die Samuel und Samaja in der >Judith< treten zu können. Und in der alten germanischen Welt würde er schon gar nicht als Fremdling empfangen. Nur einmal spielt Meister Anton überhaupt näher auf die Welt des Neuen Testaments an: »Ich trage einen M ü h l s t e i n zuweilen als H a l s k r a u s e , statt damit in's Wasser zu gehen - das giebt einen steifen Rücken!« (W II 27) Aber wie kehrt diese Wendung, deren charakterisierende Bedeutung Hebbel ausdrücklich unterstreicht (vgl. Β II 246), den biblischen Gleichnissinn um! 1 2 4 Nur das Lastende des Bildes wird von dem strengen Mann aufgenommen, der
>24 Vgl. den Wortlaut von Christi Rede (Mt. 18, 5f.). Dem ursprünglichen Gleichnissinn kommt Klara (wer sonst?) in ihrem Gebet nahe, wenn sie sich des Kindes freut, das der Gottesmutter die begehrten Kirschen zum Geschenk gemacht hat (vgl. W II i6f.). Solche Regungen von Milde und Liebe müssen im Drama freilich randständig bleiben. Mit Meister Anton dominiert trotz des Titels ein an das Alte Testament gemahnender Rigorismus. Die Behauptung von M . Stern, daß »der geistige Prospekt dieser Tragödie« der neutestamentliche »Gleichnisraum« sei (wie Anm. 70, S. 229), trifft im Entscheidenden nicht zu.
seine >eiserne< Fassungskraft ja auch noch genugsam unter Beweis stellen wird - der Geist christlicher Liebesfrömmigkeit weht an ihm vorbei. Das neutestamentliche Gleichnis wird von Meister Anton gegen den neutestamentlichen Geist zitiert und führt eigentlich, auch der Bildlichkeit nach, in die Hiobswelt zurück, wo es vom Leviathan [!] heißt: »Sein Herz ist so hart wie ein Stein und so fest wie ein unterer Mühlstein.« 125 Die individuelle Charakterisierung gibt dabei den Durchblick auf das Konstruktionsprinzip des Dramas frei: es galt in der Ausarbeitung ihrer Religiosität den archaischen Grundzug der Figur zu gestalten, um so den Plausibilitätspunkt für eine tragische Schicksalskausalität zu gewinnen. Klara, die dieses Schicksal erleidet, bringt sich selbst dem Vater zum Opfer dar. 12 * Alle wichtigen Stationen ihres Leidensweges in den Todesbrunnen sind markiert durch ausdrückliche Besinnungen auf den Vater, auf seine Ehrenforderung wie seine Selbstmord-Drohung. Nachdem Meister Anton vor der Schande ins Gebirge geflüchtet ist, fleht sie Gott um Erbarmen an nicht für sich selbst, sondern für »den alten Mann«. Klara ahnt bereits, daß ihm »nicht anders zu helfen« sein wird als durch ihren Tod (W II 42). Noch aber scheinen Auswege offenzustehen. Es kommt zur Wiederbegegnung mit dem Sekretär, dem immer noch geliebten Mann: »Da hatte sich wieder was, wie eine Hoffnung, in Dir aufgethan!« (W II 52) - wie Klara bitter resümieren muß, nachdem sie sich auch schon wieder verschlossen hat. Als letzter Versuch, die Katastrophe abzuwenden, bleibt nur noch mit einem Höchstmaß an innerer Selbstüberwindung der erniedrigende Gang zu Leonhard. 127
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Hb. 41, 16. - V g l . Antons Selbstexplikation: » [ . . . ] man hat zum Glück ein steinernes Herz!« (W II 38) Z u diesem Bezug und zu anderen, teilweise auch ein wenig herbeispekulierten Parallelen zwischen Anton und Hiob vgl. M . Garland, wie A n m . 102, S. 21 iff.
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N u r in einem vermittelten — und nicht unproblematischen — Sinne kann man sie mit H. Kreuzer als »Opfer der Gesellschaft« bezeichnen (wie A n m . 118, S. 115). Präzise werden die Verhältnisse von K. M a y erfaßt: » [ · . . ] die Tochter wählt ihren Weg in den Tod, weil sie in der Katastrophe nur noch von ihrem Vater abhängig geworden ist, d.h. von seiner Abhängigkeit, d.h. von seiner Furcht vor der Schande unter den Leuten« (wie A n m . 112, S. 39). Die Behauptung von H. Kraft, daß Klara »letztlich« nicht für den Vater sterbe, sondern für »die in der Person des Vaters verkörperte bürgerliche Ordnung« (wie A n m . 2, S. 119), setzt sich m . E . über die Schwierigkeit hinweg, daß Hebbels Tragödienvater mit seiner archaischheroischen Ausstattung keineswegs differenzlos die bürgerlich-gegenwärtige Welt repräsentiert.
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So ist die Alternative beschaffen: »Er oder der Tod! Wundert's wen, daß ich ihn wähle? Ich that's nicht, dächt' ich an mich allein!« (W II 50) Nichts kennzeichnet ihr Verhältnis zu Leonhard prägnanter als jenes zweifache »Ach!«, das - noch vor der katastrophalen Zuspitzung - sein Kommen (W II 17) und seine Mitteilung v o m Heiratsantrag ihr abpreßt (W II I9f.): ein Interjektionskürzel von wahrhaft Kleistischer Ausdruckskraft!
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Der Entschluß dazu wird im imaginären Dialog mit dem Vater gefaßt: »Ja, Vater, ich gehe! Deine Tochter wird Dich nicht zum Selbstmord treiben!« (W II 53) Wie hier die übermächtige Autorität in der doch monologischen Situation als gegenwärtig erfahren wird, das läßt in der Tat an die regulative Instanz des Uber-Ichs im Bewußtseinsmodell der Psychoanalyse denken. Deutlich erweist sich Klaras Handeln bis zum letzten Entschluß als eine Erfüllung der väterlichen Forderung, die sie im kindlichen Gehorsam verinnerlicht hat - ihre Verbindlichkeit kann wohl reflexiv umspielt, aber nicht aufgekündigt werden. Nur mit einer solchen Selbstdefinition kann sich Klara überwinden, als Bittende vor den verachteten Leonhard zu treten: »[...] nur als Tochter des alten Mannes, der mir das Leben gegeben hat, stehe ich hier!« (W II 55) Als Leonhard der Schwangeren den angedrohten Selbstmord mit dem Argument ausreden will, daß sie damit zugleich die Schuld des Kindesmords auf sich lüde, gibt Klara das Gesetz ihres Handelns zu erkennen: Beides lieber, als Vater-Mörderin! Ο ich weiß, daß man Sünde mit Sünde nicht büßt! Aber was ich jetzt thu\ das kommt über mich a l l e i n ! G e b ' ich meinem Vater das Messer in die Hand, so trifft's ihn, wie mich! Mich trifft's immer! Dieß giebt mir Muth und Kraft in all meiner Angst! (W II 5 9f. )-
Angst und Verzweiflung treiben Klara durch das Stakkato der Ausrufesätze, und doch gewinnt sie angesichts der Unabwendbarkeit ihres Selbstmords »Muth und Kraft«. Es ist die tragische Standardsituation der konfliktbestimmten Wertabwägung, in die das Drama auf alltäglich scheinenden Gängen seine Heldin geführt hat. Klaras Konflikt ist nicht so beschaffen, daß - wie schmerzlich auch immer - eine Neigung der Pflicht untergeordnet werden müßte. Wie sich Klara auch entscheidet: Hier steht Schuld gegen Schuld, hier ist ein Dualismus aufgebrochen, der eine sittlich reine Auflösung nicht mehr zuläßt (vgl. W XI 25 jf.). Auch für sie gilt wie für Luise Millerin: »Verbrecherin, wohin ich mich neige!«128 Bliebe die Tochter am Leben, dann triebe sie als uneheliche Mutter den die öffentliche Schande fürchtenden Vater in den angedrohten Selbstmord, sich selbst in die Schuld an dieser seiner Schuld - tötet sich Klara selbst, dann macht sie sich auch schuldig, aber nur sich »allein«. Sie kann die Entscheidung nicht anders als unter den durch den Doppelschwur geschaffenen Bedingungen treffen, denenzufolge sie sich den zu erwartenden Selbstmord des Vaters zurechnen müßte. Selbstmord und Kindesmord können, obwohl frevelhaft, für Klara nicht gegen den Frevel aufkommen, den der Vatermord bedeuten würde.
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SW I 839. - In >Kabale und Liebe< wird der Selbstmord um des Vaters willen unterlassen, in >Maria Magdalena« erscheint er gerade als Konsequenz der Vaterbindung.
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Das »Vaterrecht« bleibt mithin auch in Hebbels bürgerlichem Trauerspiel »ein weites Wort«, 129 ja es erhält eine tragische Bestätigung. Gegenüber den familiären Strukturen in seinen gattungsgeschichtlichen Vorgängern des 18. Jahrhunderts läßt sich eine Invarianz, sogar eine Verhärtung beobachten, deren sozialgeschichtliche Triftigkeit selbst unter dem Vorzeichen der Restauration fraglich, deren gattungsästhetischer Sinn jedoch um so evidenter ist. Man müßte Klara, die ihre eigene Zwangslage so klar erkennt, eigentlich zutrauen, daß sie auch die Enge und Unfreiheit in der väterlichen Wertorientierung zu durchschauen vermag, und man könnte sogar erwarten, daß sich aus solcher Erkenntnis auch in einem weiblichen Gemüt ein Potential von Kritik an »den überlieferten patriarchalischen Anschauungen« (Β II 348) bildet. Aber tatsächlich steht es so, daß die Tochter ihre Vaterbindung in keiner Weise durchbricht - ihr scheint die bis in den Tod erlittene patria potestas überhaupt nicht als ein Herrschaftsverhältnis bedenklich zu werden, das historisch wie moralisch aus der Ordnung geraten sein könnte. Im Sinne der Logik des Dramas wird man Klaras Entscheidung nur recht verstehen, wenn man ihrer Vaterbindung eine sittliche Verbindlichkeit zuerkennt, die sie nicht in Frage stellen kann oder darf. Was hier zu fragen ist, fällt in die Zuständigkeit des Betrachters - bis hin zu der >subversivenKabale und Liebe< (SW I 793).
auf dessen Hilfe sie rechnen könnte, keine Frau Flamm, die einer Rose Bernd trotz allem zur Seite steht. In der Not des Verstummens kann sich Klaras seelische Innerlichkeit zeigen, die in den dialogischen Situationen blockiert bleiben muß. Wenn sie nach der Rehabilitierung des Bruders »Nichts denken (kann), als: nun bist Du's allein!« (W II 46), so handelt es sich um die besondere Akzentuierung einer eigentlich von Anfang an monologischen Existenz. Hätte Klara der Mutter die Schwangerschaft gestehen sollen, in Anbetracht ihrer Krankheit überhaupt gestehen können? Das Mißtrauen der Mutter, ob im Umgang mit Leonhard nicht doch sittenwidrige Heimlichkeiten unterlaufen (vgl. W II 14), Klaras Obsession schließlich, sie habe - durch ihren >Fehltritt< - die Krankheit der Mutter verschuldet (vgl. W II 19), weisen auch hier nur auf versperrte Türen, auf die Unmöglichkeit, einander zu helfen. Die ersten Gespräche mit der Mutter werden von Klara befangen geführt - erst in der Situation des Alleinseins (am Ende der Szene I/3) stößt Klara, monologisch reflektierend, auf eine erste Weise in ihre eigentliche Problemzone vor. Das gleiche Gefälle von Dialog und Monolog zeigt die Sequenz im zweiten Akt, die mit dem Besuch des Sekretärs beginnt. Obwohl Klara dem Jugendgeliebten innerlich immer noch verbunden ist, weist ihr Gespräch doch ein hohes Maß an kommunikativem Mißlingen auf - bis hin zu einem Dissens im >HauptpunktMaria Magdalena< nicht bloß um den Beispielfall jener selbstverständlichen dramatischen Ökonomie, die als verdeckter Funktionalismus geläufig ist.' 5 ' Sondern: Das Werk muß eine Erkenntnis verschleiern, die in ihm selbst - als Konsequenz - angebahnt ist. Nicht psychologisch oder sozialgeschichtlich, sondern nur sub specie artis läßt sich letztlich begreifen, warum Meister Anton als ein Verblendeter gleichwohl tragisch herausgelesen wird aus der Masse der »Pharisäer« bzw. »Schlangen«, dazu ausersehen, auch noch den härtesten Schlag auszuhalten. Schließlich war das Mädchen, das nun in der Hinterstube abgestellt wird, einmal das »Schooßkind« des Vaters (vgl. W II 65). Ihr Tod muß ihn schwer getroffen haben, aber er verbirgt seinen Affekt und macht auch keine erkennbaren Anstalten, den wenige Stunden zuvor gegen Klara drohend beschworenen Selbstmord ins Werk zu setzen. Vom Interesse der Kunstform aus wird auch einsichtig, warum der Cha>59 Vgl. dazu Max Kommereil, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. 1940, 4 I970. S. 26. 2
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rakter des Alten in jenen Angstrigorismus eingespannt ist, der nur die Abwehr nach außen kennt und den Weg nach innen (in die Sphäre der Verletzbarkeit!) zu blockieren gelernt hat. So nämlich wird eine heroische Haltung dramatisch-psychologisch vorbereitet, die den moralisch-kritischen Attacken des Sekretärs standzuhalten vermag, ohne gänzlich in die Wertnichtigkeit zu versinken. Obwohl der Sekretär, sicherlich auch für Hebbel selbst, mit Erkenntnis und Anklage im Recht ist, soll der letzte Eindruck von Meister Anton bestimmt sein - ihn, seine »Felsenhaftigkeit«, zeichnen ja auch nicht von ungefähr die ersten brieflichen Schilderungen des Ganzen aus. 160 Was bei alledem herauskommt, faßt die von Hebbel affirmierte Formel von »der vollendeten Geschlossenheit der Form« (T 2926). Die »Form« aber ist hier die Tragödie. Um sie zu retten, darf Meister Anton nicht >erkennenTrauerspiel< erfolgt - aber eben die Tragödie kostet. Mit so ausbalancierten inneren Schwierigkeiten soll Hebbels bürgerliches Trauerspiel das im >Dramen-Wort< entworfene Konzept sozialer Dramatik einholen, demgemäß »dieselben Formen, die dem Geschlecht Halt und Bestand geben, das einzelne Individuum in extremen [!] Fällen vernichten können" (W X I 23). 161 Die Logik der Tragödie nimmt in der Sphäre der Gesell-
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V g l . Β II 342 u. 34.8, dazu auch S. 2o6f. dieser Untersuchung. - Das Schlußwort bedeutet keineswegs einen Zusammenbruch, wie O . Walzel interpretiert, nachdem er zuvor über Meister Antons Reaktion auf Klaras Selbstmord zutreffend festgestellt hat: »Auch diesen Mühlstein trägt er steifen Rückens« (wie A n m . 37, S. ioof.). So wird Hebbel 1852 anläßlich von >Agnes Bernauen mißverständlich (nämlich wiederum nur auf den tragischen Extremfall bezogen) darlegen, »daß das Individuum [ . . . ] sich der Gesellschaft unter allen Umständen beugen muß« (Β IV 358). Z u beobachten ist in beiden Fällen, daß die tragödienspezifische Logik dem Sachbereich, dem sie eingeprägt werden soll, vorgeordnet ist. Dabei geht Hebbel die Gesellschaft nicht als Gesellschaftsdenker an, wie - zur Steuerung allzu billiger Urteile aus heutiger Sicht - bereits betont worden ist (vgl. S. 34 dieser Untersuchung). Einerseits stellt er »Gesellschaft« als eine Lebensform neben andere wie »Kunst« und »Wissenschaft« (vgl. Τ 1370), zum anderen neigt er in der Regel dazu, ihre Verfassung nur vom Individuum her zu denken (vgl. Τ 2040). Ein Basis- oder Horizontbegriff im heutigen postmetaphysischen Sinne ist »Gesellschaft« für Hebbel jedenfalls nicht. Den Versuch von Hilmar Grundmann, ausgerechnet in dieser Richtung den Autor für die »Modernität« zu retten, läßt man besser wohl ohne nähere Auseinandersetzung auf sich beruhen (vgl. Hebbels G e sellschaftsbegriff: Die eigentliche Ursache für seine Modernität: In: HJ. 1984. S. 8 5 - 1 0 2 ) .
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Schaft die Form einer Institutionen-Stützung an, der auch die Vernichtung des Individuums nicht widersprechen soll. Die patria potestas wäre als Ordnungsregel der Familie durch das Exempel des Meisters Anton nicht widerlegt, sofern sie statt des bloßen Konventionalismus eine sittliche Selbstbegründung, also vom »äußeren Haken« aus den »inneren Schwerpunct« zu gewinnen vermöchte (vgl. W X I 43). Andererseits paßt >Maria Magdalenas was die konkrete dramatische Durchführung und die menschliche Gewichtung angeht, nicht restlos in einen solchen Theorierahmen. Das Recht des Sittlichen erscheint nicht auf der Seite der Institution, die doch stabilisiert werden soll, und schon gar nicht ihres Repräsentanten, zumal dessen heroischer Rigorismus insgeheim einem archaischen Muster nachgebildet ist. Wenn das »Geschlecht« im Drama selbst durch einen dumpfen Konservatismus und eine pharisäische Moral geprägt erscheint, dann wird eigentlich nichts ersichtlich, was »Halt und Bestand« verdient. Klara, das Opfer, erleidet eine zweifache Verweigerung: vom Herrn der Familie wie vom Herrn der Welt, dem >erhöhten VaterVertauschung< von Hochzeit und Tod in der tragischen Haupthandlung (vgl. W II 31 f.). Solche Beachtung der motivischen Mikrologien des - überaus dicht gewebten — Dramas ist wohl eher angezeigt als die Assoziation der Totengräber-Szene im >HamletNeuen< hält also nicht viel von der Pflichtreligiosität des Vaters. Meister Anton beruft sich - um diesen Gegensatz herauszustellen -
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etwa in der Anfangsszene von Frank Wedekinds »Kindertragödie« >Frühlings E r wachem (1891) gestaltet. V g l . W II 15 u. 23f. - Sehr treffend in diesem Zusammenhang J . Müllers Feststellung: »Das Generationenthema wird mit Vorstellungen aus dem Bereich des Sterbens und des Todes eingekreist« (wie A n m . 94, S. 48). Das Vordringen des Vater-Sohn-Themas, das auch schon im 18. Jahrhundert - vor allem beim jungen Schiller — anzutreffen ist, im Realismus des 19. Jahrhunderts (mit dem Gipfelpunkt Dostojewski!) dokumentiert eine solide motivgeschichtliche Studie von Kurt Κ. T. Wais: Das Vater-Sohn-Motiv in der Dichtung. T l . I: Bis 1880. 1931. - Z u Recht wird im Hebbel-Abschnitt (ebd. S. S4ff.) daraufhingewiesen, daß das Thema im >Molochneue< Perspektive an, verfährt aber nur so, um diese in sich umzukehren: Anders als der Sohn will er sein Wort halten und ihm den versprochenen Anzug schenken (vgl. W II 24). Wenn sich Karl bis zum Wortbruch dem patriarchalischen Diktat zu entziehen versucht, so besagt dies in Anbetracht der sphärentrennenden Funktion des Eidesmotivs auch, daß er vom tragischen Zwang wie von tragischer Auszeichnung freigestellt bleibt. Als moralisches Leichtgewicht kann der abenteuernde Spieler in der Perspektive dieser Tragödie von vornherein nicht gegen die tragischen Repräsentanten aufkommen. 170 Also ist es auch gar nicht denkbar, daß Karl einen Umbruch im sittlichen Bewußtsein zu manifestieren vermöchte, in welcher Vorläufigkeit auch immer. Was freilich in Karl mit authentischer Schärfe zum Vorschein kommt, ist - unterhalb des tragischen Bogens - das Leiden an der Monotonie des in Konventionen erstarrten bürgerlichen Lebens: [...] wir haben hier im Hause zwei Mal zehn Gebote. Der Hut gehört auf den dritten Nagel, nicht auf den vierten! U m halb zehn Uhr muß man müde sein! Vor Martini darf man nicht frieren, nach Martini nicht schwitzen! Das steht in einer Reihe mit: D u sollst Gott fürchten und lieben! [...] Heut' ist Donnerstag, sie haben Kalbfleisch-Suppe gegessen. Wär's Winter, so hätt's Kohl gegeben, vor Fastnacht weißen, nach Fastnacht grünen! [...] Hobeln, Sägen und Hämmern, dazwischen Essen, Trinken und Schlafen, damit wir immer fort hobeln, sägen und hämmern können, Sonntags ein Kniefall obendrein: ich danke Dir, Herr, daß ich hobeln, sägen und hämmern darf! (W II 62ff.)
Gewiß eine bedrückende Ausmalung erstarrter Lebensverhältnisse: Das äußerliche Reglement des Alltags rückt zu einer derart unumstößlichen Verbindlichkeit auf, daß seine Befolgung keinen Unterschied zur Befolgung religiöser Gebote mehr erkennen läßt. Die Religion scheint ihre Kraft darin zu erschöpfen, das monotone Undsoweiter von Leben und Arbeit in Gang zu halten - auch sie trägt also zur Entleerung der kleinbürgerlichen Lebensordnung bei. Mancher Interpret hat sich von Karls bösem Blick ein Licht aufsetzen lassen, in dem sich der Zusammenhang des ganzen Dramas entsprechend ausnimmt. 171 Doch dieser Punkt ist strittiger, als es die Suggestivität der dem
170 Vgl. dazu schon Vischers Bewertung (wie Anm. 105, S. 20). Für K. May bleibt Karl schlichtweg ein »Tunichtgut« (wie Anm. 112, S. 37). Auch H. Kreuzer, der sich um ein abgewogeneres Urteil bemüht, vermag in Karl keinen »Vorboten des Fortschritts« auszumachen (wie Anm. 118, S. I2if.). 171
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Etwa F. Sengle, der die Darstellung des Religiösen in Maria Magdalena< unter dem Titel »Ideologiekritik« rubriziert und Hebbel rühmt: »Listig beschränkt er sich in seinem Gegenstand auf das konventionell-christliche Kleinbürgertum. Gemeint sind aber die gesamten konservativen Grundlagen der christlichen Restaurationskultur« (Der Antiidylliker von Paris bis München. Hebbels Metaphysik und geschichtliche Erfahrung im bewegtesten Jahrzehnt seines Lebens [1843-1852]. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. 3. Folge. 12, 1976, S. 304; ähnlich: Bieder-
kritischen Bedürfnis so erwünscht sekundierenden Schilderung zunächst vermuten läßt. Zu dieser läßt sich eine auffällige Parallele in Moritz' >Anton Reiser< ausmachen: In der Familie des Hautboisten F., wo Anton Aufnahme findet, herrscht »die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche vielleicht nur irgendwo stattfinden kann. Da war nichts, keine Bürste und keine Schere, was nicht seit Jahren seinen bestimmten, angewiesenen Platz gehabt hätte«. Beispiele zur ebenfalls »unverbrüchlichen« Zeitordnung und Religionspraxis in diesem Hause folgen auf dem Fuß.' 72 Erfahrungen dieser Art lösen schließlich in Anton »das Gefühl der durch bürgerliche Verhältnisse unterdrückten Menschheit« aus.' 73 Man darf sich aber nicht damit begnügen, eine Übereinstimmung zwischen Moritz' Roman und Hebbels Drama zu konstatieren. Entscheidend ist, daß sich Karls Erlebnisperspektive als bereits tradiert erweist. Daraus folgt, daß sie nicht den Schlüssel zum Verständnis des ganzen Dramas abgeben kann. Hinzu kommt, daß sich an der realistischen Stimmigkeit von Hebbels Darstellung einerseits und an der Plausibilität von Karls Unmutsausbruch andererseits zweifeln läßt. Immerhin gibt der versierte Ästhetiker Vischer für beide Disproportionen ein Zeugnis ab, dem Hebbel nicht widersprochen hat (vgl. Τ 4192). Das »Leben einer f...] vom herben und beschränkten bürgerlichen Ehrengeiste beherrschten Familie« sei »in seinen Formen ganz falsch dargestellt. Diese Leute sind nicht naiv, nicht wortarm, stumm, geistig gebunden, wie altmodische Bürgersleute [...]«. Und dann zu Karls Schilderung: »Hebbel kann doch nicht meinen, das Bild der Bürgersitte sei durch die paar Beispiele der Hausordnung erschöpft, welche wir von Karl [...] vernehmen; das kommt zu spät, nachdem wir Mutter und Tochter wie ein Buch haben sprechen hören, nachdem wir den kaustisch-pointirenden Vater kennen gelernt haben«. 174 Inwieweit diese Kritik an Hebbels Drama in allen Einzelheiten zutrifft, wäre unter Umständen wieder zu dessen Gunsten zu diskutieren. So wüßte man gern, welches formale Äquivalent für die kleinbürgerliche >Wortarmut< Vischer denn vorschwebt, wenn anders es doch um die dialogische Gattung par excellence geht. Aber der Kritiker ist wohl im Recht, wenn er die situative Stimmigkeit von Karls Lamento in Frage stellt: Es ist eine erlebnisstarke Sicht, die hier die Dinge der Vaterwelt malt, sensibel in der Verzeichnung von
172 173
174
meierzeit. Bd. III [s. Anm. 48]. S. 386). Diese Bewertung verkennt jedoch, daß die Religiosität des Kleinbürgertums fur Hebbel nicht nur Gegenstand der Kritik ist, sondern auch Darstellungselement des tragischen Interesses. K. Ph. Moritz, wie Anm. 100, S. I28f. Ebd. S. 340 (wobei »Menschheit« im Sinne von >Menschlichkeit< zu verstehen ist). - Vgl. zu diesen Bezügen auch M . Stern, wie Anm. 70, S. 236ff. Wie Anm. 105, S. 2 3 t
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Defiziten und Monotonien, aber zweifellos auch übertreibend schon in der Beobachtung - schließlich geht es darum, dem Ausbruchsversuch Relief zu geben. Es fehlt eine entsprechende authentische Bekundung in der Elternwelt, um Karls Darstellung der häuslichen Sitten als Diagnose zu bestätigen. Vor allem: Was sich in diesem Drama zwischen Vater und Tochter begibt, liegt außerhalb von Karls Erlebnishorizont und kann aus ihm heraus in seiner tragischen Finalität auch nicht antizipatorisch überschritten werden. Wir verstehen dabei gut, daß der Sohn der eng und starr gewordenen Vaterwelt entfliehen will. Ob sicfi der Traum von Weite und Freiheit auf See für Karl erfüllen wird, bleibt am Ende offen. Daß in diesem Impuls jedoch die Hoffnung auf eine moralische Erneuerung des Bürgertums Gestalt gewänne, kann nicht ernsthaft erwogen werden. Schon das Faktum, daß Karl am Schluß mit dem Gedanken an einen Rachemord umgeht (vgl. W II 64 u. 69), spricht eindeutig gegen eine solche Heuristik, nicht anders als die dramatische Gewichtung der Figur überhaupt und die atmosphärische Färbung der Schlußsequenz.I7S Während Klara, nachdem sie ihrer häuslichen Pflicht genügt und dem Vater seinen »Abendtrank« bereitgestellt hat, ihre Kraft zum letzten Entschluß und zum Gebet sammelt, stimmt sich Karl singend auf das bevorstehende See-Abenteuer ein. Dem »Gefängniß« der Vaterwelt will er entfliehen, auf das »Glück« des »Muthigen« setzen - von der tragisch gezeichneten Schwester erreicht ihn nur der Eindruck, daß sie »ganz sonderbar« ist (W II 65). Karl versteht Klara nicht, sie kann sich ihm nicht mitteilen, und erst für das Mehrwissen des Leser-Zuschauers ergeben sich aus den Mißverständnissen des Dialogs die hintergründigen Bezüge. Dabei erhält auch die Liedeinlage ihre kompositorisch-symbolische Funktion - und zwar nach beiden Seiten: Sie bringt, schon formal vom gesprochenen Wort abgehoben, das Verlangen des jungen Mannes nach der Gegenwelt zum Ausdruck; und sie berührt sich motivisch in makabrer Doppelsinnigkeit mit der Klara-Handlung. 176 Voller Vorfreude auf die See singt Karl, während Klara zum Brunnen unterwegs ist: 175
Als abwegig ist H . Krafts Versuch zu bewerten, in Karl »die Möglichkeit der Zukunft«, so etwas wie die Öffnung zur »neuen Welt« zu entdecken. Gestützt lediglich auf Friedrichs Ausruf »Ihr entgegen!« und des Sterbenden Bitte an Karl, ihn bei diesem Gang zur toten Klara zu unterstützen (vgl. W II 71), konstruiert der Interpret: »Die Tatsache, daß derjenige, der unter den Vertretern des Bürgertums die größte Einsicht hat, der Sekretär nämlich, sich Karl anschließt, nimmt der Position Karls das Aussehen des Abenteurertums und läßt sie zur realen Möglichkeit werden« (wie A n m . 2, S. 113ff.). So einfach geht das nicht. Die Geste des Sekretärs, der sich ja nicht gut auf den eben noch angeklagten Vater stützen kann, bedeutet eine Verherrlichung Klaras und der sittlichen Gesinnung, die sie in der Selbstopferung bezeugt hat - nicht weniger und nicht mehr. 170 N a c h R. M . Werners einleuchtender Vermutung hatte Hebbel als Gedichteinlage
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War' gern hinein gesprungen, Da draußen ist mein Reich! [...] Ich bin ja jung von Jahren, Da ist's mir nur um's Fahren, Wohin? Das gilt mir gleich! Der Sänger hat mitten im Tagtraum vom »Reich« des Meeres auf die U h r gesehen! »Ja! aber vorher - [ . . . ] Wie viel ist's? N e u n ! « ( W II 68) In die imaginäre Zeit bricht die dramatische Realzeit ein: Klaras Todesstunde wird mit einem Anklang an die Passion Christi markiert, 1 7 7 statt des Aufbruchs auf die große See ereignet sich der Sturz in den engen Brunnen. Die Zeit steht still. Derjenige aber, der vom freien Leben geträumt hat, wird von der »Angst« eingeholt und in den Anblick der tragischen Vernichtung gezwungen - und dieser Anblick ist »gräßlich« (vgl. W II 69t). Der Eindruck muß vorherrschen, daß Karl - statt sich ins N e u e aufzumachen - am Ende nur noch dazu ausersehen ist, Zeugnis für die Tragödie abzulegen, die aus dem Alten kommt. A u c h aus einem anderen Grund taugt die Sohnesfigur des bürgerlichen Trauerspiels schlecht zur Rolle des Erneuerers. Seine Zukunft wird nämlich durch einen Vatertraum vorgezeichnet: Den lieben Karl sah ich in der letzten Nacht mit einer Pistole in der Hand, als ich den Schützen näher in's Auge faßte, drückte er ab, ich hörte einen Schrei, aber vor Pulverdampf könnt' ich Nichts sehen, auch als der Dampf sich verzog, erblickte ich keinen zerschmetterten Schädel, aber mein Herr Sohn war inzwischen ein reicher Mann geworden, er stand und zählte Goldstücke von einer Hand in die andere, und er hatte ein Gesicht - hol' mich der Teufel, man kann's nicht ruhiger haben,
zunächst die 1843 in Paris entstandene Ballade >'s ist Mitternacht (W V I i84f.) vorgesehen und erst in einem zweiten Schritt sein bereits 1836 in München entstandenes Lied >Der junge Schiffen eingeschaltet (vgl. W II 375f., VII 259 u. Β II 3i4f.). Dabei dürften die Motive von Aufbruch und Weite, die in der auf Traum und Tod abgestellten Ballade fehlen, in ihrer Bedeutung fur Karls Wunschwelt, aber auch für die Komplementierung der tragischen Linie den Ausschlag gegeben haben. Angesichts der dichten motivisch-bildlichen Zusammenhänge ist es nicht angängig, einzelne Wendungen des Liedes zu isolieren und etwa zu folgern: »Das bedeutet Neues ohne die Voraussetzungen des Alten« (so H. Kraft, wie Anm. 2, S. 114). Die Wasser-Bildlichkeit bleibt nicht fur Karl reserviert, sondern wird in ihrer Sinnstruktur auch von Meister Anton und Klara — also den tragischen Repräsentanten - mitbestimmt (vgl. John Fetzer, Water Imagery in >Maria Magdalenas In: The German Quarterly. 43, 1970. S. 715-719). 177 Vgl. M . Garland, wie Anm. 102, S. 170. - Anspielgröße dürfte die »neunte Stunde« auf Golgotha im nominellen, nicht im chronologisch-exakten Sinne sein (vgl. Mt. 27, 46; Mk. 15, 34; Lk. 23, 44). Aber es ist L. Lütkehaus sicher darin recht zu geben, daß die Passionsanalogie für Klaras Schicksal keine tröstende A u f hellung erbringt, sondern nur ihre »Gottverlassenheit« unterstreicht (vgl. wie Anm. 64, S. 64). 261
wenn man den ganzen Tag arbeitete und nun die Werkstatt hinter sich abschließt (WII39).
Danach wird der Sohn sein Glück machen - wie ja auch Karl selbst die Vorstellung hat, daß der »Kupfer-Dreier«, den er einsetzt, »vergoldet« zurückkommen wird (vgl. W II 65). Ob das unredlich, gar durch ein Verbrechen geschehen wird? So scheint es der Vater in seinem Traumgesicht geschaut zu haben, nicht ohne an Karl den Ausdruck der Zufriedenheit zu monieren, der ihm nur nach harter Arbeitsfron - eben dem Hobeln, Sägen und Hämmern in der Tischler-Werkstatt - als statthaft gilt. Der Pistolenschuß kündigt auch das Duell zwischen Friedrich und Leonhard an, wie das eigens vermerkte und dadurch auffällige - Fehlen des »zerschmetterten Schädels« im Traum noch verhüllt und ohne Personalbezug auf die schreckliche Wirklichkeit von Klaras Schicksal vorausdeutet (vgl. W II 70). Aber wie weit auch die zukünftigen Ereignisse und Konstellationen im Traum noch verschlüsselt sein mögen - an seiner prognostischen Richtigkeit insgesamt ist nicht zu zweifeln. 178 Karl wird also Glück haben, einen stattlichen Reichtum zusammenbringen und denselben in zufriedener Ruhe genießen können - ebenso wie Laertes als »Kapitalist« und in bester Kleidung Wilhelm Meisters Traumbild bestätigt, in dem der einstige Schauspieler-Genosse »Gold aus einer Hand in die andere« gezählt hat.' 79 Die väterliche Traumvision in >Maria Magdalena< weist dem Sohn, der nicht zufällig schon beim ersten Auftritt mit einer goldenen Kette paradierte, seinen zukünftigen Platz im Goldrahmen des Bürgertums an. Für denjenigen, der seine Sache aufs >Profitieren< stellt (vgl. W II 13), zeichnen sich die Umrisse der Bourgeoisie ab - von der Eroberung einer neuen Welt als einer Leistung des sittlichen Bewußtseins verrät das Zukunftsbild nichts. 180 Die Zeit zeitigt sich in dieser Tragödie nicht als Zukunft, sondern bleibt immer von der Vergangenheit eingefaßt, das Leben vom Tode beherrscht. Das Hochzeitskleid des Eingangsdialogs bringt auch Meister Anton auf das 178
Meister Anton beruft sich nicht zufällig auf den prophetischen Charakter seines Träumens und beweist ihn mit dem Einfall, Klara könnte »in die Wochen gekommen« sein (W II 39). Auch Klara hat >richtig< geträumt, als sie die Mutter »im Sarg« liegen gesehen hat (vgl. W II 16). Z u r Bedeutung von Träumen für Hebbel überhaupt und seine Dramen im besonderen vgl. Tl. I, S. 74 dieser Untersuchung.
•79 Wilhelm Meisters Lehrjahre. Buch VII. Kap. 1 u. 8 ( G A VII 458 u. 510). 180 Anknüpfend an Karls Abschiedswort an den Vater - »Er sieht micht entweder nie wieder, oder Er wird [ . . . ] sagen: Du hast recht gethan!« (W II 68) - hat Emil Kuh, den Aufbruch zur See unterstellend, an der Figur weitergedichtet und aus ihrer Perspektive einen versöhnlichen Ausgleich zwischen Vater und Sohn erdacht: »Ich kehrte mit Gütern gesegnet / U n d redlich zum Vater zurück. / Wir liebten uns nie, doch ich lernte / Ihn e h r e n - dies nannt' er sein G l ü c k « (Huldigungsgedicht >An Herrn Friedrich Hebbel· zum Geburtstag 1852; zit. nach: P. Bornstein, wie A n m . 83, S. 333). Z u schön, um wahr zu sein.
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Thema der Zeit und wie zufällig auch auf dasjenige des Todes (vgl. W I I 31). Ihn »schaudert's vor der Zukunft« (W II 39). Mit dem internalisierten Diktat der Vaterwelt drückt Klara dieses Innehalten vor dem verhängten Zeitprospekt am deutlichsten - und leidvollsten - aus, formal im monologischen Aparte: Mir ist, als war' ich auf einmal tausend Jahr alt geworden, und nun stünde die Zeit über mir still, ich kann nicht zurück und auch nicht vorwärts. O , dieser festgenagelte Sonnenschein und all' die Heiterkeit um mich her! (W II 49)
Wenn sich eine imaginäre Zeiterfahrung in der tragischen Analysis durchsetzt, dann diejenige von der Last der Vergangenheit, die das Gegenwärtige sistiert. Diese Zeitstruktur prägt das Drama, komplementär zur eng geschlossenen Räumlichkeit, bis in das Schlußwort hinein. Was auch vom gesellschaftlichen Hintergrund sichtbar wird, alles erscheint wie endgültig fixiert, so daß daran überhaupt nicht gerüttelt werden kann. Das gilt für die gesellschaftliche Pyramide, den subalternen Aufblick zum Bürgermeister, dem ein Leonhard »demüthig« die Hand küßt (W II 20), und gar zur höchsten und fernsten Spitze, wo »vornehme Herren« und der »König« selbst auf alle Ewigkeit ihren »Zeitvertreib« haben mögen (WII 33), während es mit der »Gerechtigkeit« gegenüber den »Unterthanen« eine durchaus ungeklärte Bewandtnis hat (vgl. W II 42). Man spürt dabei wohl einen Reflex von Vormärz-Unruhen, von dem schiefen Verhältnis zwischen einer parasitären Oberschicht und einer Unterschicht, die sich - hier jedenfalls - an ein asketisches Arbeitsethos fesseln läßt. Aber das Drama gibt gleichsam nur eine kleine Ritze frei zum Durchblick auf die gesellschaftliche Verfassung im Ganzen. Unter dem Formgesetz der Beschränkung wird alles zum Stillstand gebracht: Nichts bewegt sich von der Stelle, nichts macht den Eindruck, anders und besser werden zu können, nichts vom >Durchzug< der Geschichte, nichts auch, woran das supplierende »Vermögen« des Betrachters (vgl. Β IV 72) unmittelbar anknüpfen könnte. Nach einer bekannten Bestimmung macht »ernste Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung« den Realismus aus. 181 Danach ist >Maria 181
So Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 1946, 2 i959. S. 480. - Vgl. ebd. S. 481 die Beobachtung, daß »das bleischwere Trauerspiel« Hebbels vor »gänzlich« unbewegtem Hintergrund ablaufe. Wie diskussionswürdig sein Realismus-Begriff auch ist, wie kritisch seine Einlassungen zur deutschen Literatur auch zu beurteilen sein mögen — mit dem Streiflicht auf Hebbel trifft der große Romanist ins Schwarze. Ganz entsprechend ist der Befund bei H. Kreuzer (wie Anm. 118, S. 123) und vielen anderen, während die marxistischen Interpreten daraus eine kritische Spitze gegen das Stück bilden, etwa Franz Mehring, der ihm seine zeitrepräsentative Bedeutung bestreitet (vgl. Friedrich Hebbel [1912/13]. In: Gesammelte Schriften. Hg. von Thomas Höhle u.a. Bd. XI. 1961. S. 554), oder S. Streller, der das Standard-Argument von der »histo-
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Magdalena< kein Werk des Realismus, weil es die dritte Anforderung nicht erfüllt und den geschichtlichen Fluß zum Stehen bringt. Die Zeitstruktur des Stillstands in Hebbels bürgerlichem Trauerspiel reflektiert das Aporetische des Versuchs, mit der Anwendung tragisierender Gestaltungsprinzipien auf die gegenwärtige Gesellschaft ernst zu machen. Die Zeitwende wird auf analytischem Wege zwar erreicht.'82 Aber sie wird nicht überschritten und insofern nicht bewältigt, weil das Interesse an fortschrittlicher Aufklärung und das Formgebot der Tragödie einander zuwiderlaufen, so jedoch, daß dieses das letzte Wort behält. Es fällt von hier aus auch ein Licht auf die Zurückhaltung, die Hebbels Kommentare so auffällig beobachten, wenn es die Distinktion zwischen der »wahren« und der »falschen« Sittlichkeit gilt (Β II 348): die letztere kann der Tragiker als Gestaltungselement nicht preisgeben. Die »falsche« Sittlichkeit darf also in >Maria Magdalena< als Handlungsgesetz wirken, ohne unter dem Postulat der Tragisierung eindeutig ihrer Falschheit überführt zu werden. Daraus resultiert der Eindruck eines vernichtenden Endes, in dem alle Hoffnung aufgezehrt ist und nur noch der Nihilismus bleibt.' 83 Hebbels Wort von der »tabula rasa« gesteht dieses Dilemma im Grunde ein, ihre Auslegung als >Versöhnung< bleibt ein Schleier, der allzu durchsichtig über die Leere gebreitet ist (vgl. Β IV 124). Die Tragödie der Gesellschaft endet mit einer leeren Tafel, die keine noch so bemühte Interpretation, wenn sie sich an die Logik der tragischen Analyse hält, mit der Leuchtschrift einer besseren Zukunft ausstatten kann. Es macht die Not dieses bedeutenden Werkes aus, daß es seine zwingende Formkraft nur auszuspielen vermag, indem es Möglichkeiten von Aufklärung und Zukunft annulliert, die es doch selbst entwickelt hat.
risch falschen Parteinahme« an- und diese auf Hebbels bourgeoise »Furcht vor dem Kommunismus« zurückfuhrt (vgl. wie Anm. 77, S. ii3f.). Ober solche Bewertungen ließe sich streiten, nicht aber über das ihnen zugrunde liegende Phänomen der geschichtlichen Unbewegtheit in »Maria Magdalena< - trotz des angestrengten gegensinnigen Versuchs von H. Kraft (vgl. wie A n m . 2, S. 121). 182 V g l . schon Gustav Kühnes Diagnose v o m »Wendepunkt alter und neuer Zeit« (im >EuropaJulia< Mehrfach hat Hebbel die Mitte 1845 in Italien begonnene und nach längeren Unterbrechungen 1847 in Wien abgeschlossene >Julia< als »einen zweiten Theil zur Maria Magdalena« bezeichnet.'84 Das Stück gilt allgemein als Dokument eines künstlerischen Tiefstands und wird in der Tat angesichts seiner evidenten Schwächen auch bei wohlwollender Betrachtung nicht zu retten sein.' 85 Die Frage stellt sich jedoch, aus welchem Grunde Hebbel trotz aller Zweifel (vgl. Τ 3806) und trotz der »Last«, die dieses Dramenprojekt ihm aufgeladen hat (vgl. Τ 4312), und schließlich auch trotz der Faszination durch die schon seit Ende 1846 innerlich wachsende Tragödie um »Herodes und Mariamne« (vgl. Τ 3837 u. Β IV γι) die >Julia< zu ihrem merkwürdigen Ende geführt, besser wohl: gezwungen hat. Wenn Siegmund Engländer auf den Abschluß dieses Dramas gedrängt hat (vgl. Τ 4312), dann wohl um der sozialkritischen Brisanz willen, die in ihm steckt. Immerhin spricht Hebbel während der Entstehungszeit davon, es solle »eine schwere sociale Collision dargestellt werden« (B III 321). Mit einem schon apokalyptischen Fanfaren-Donner schlägt das Vorwort zur Buchausgabe des Dramas (1851) das Thema an, den Vorwurf der angeblichen »Unmoralität« aufnehmend: Ich weiß es recht gut, daß mir Nichts widerstrebt, als das allgemeine Mißbehagen, das gewöhnlich zu entstehen pflegt, wenn Jemand die wankende Gesellschaft in ihrem süßen Traum ewiger Dauer zu stören und sie auf die ihr drohende Gefahr aufmerksam zu machen wagt. Ihr sitzt bei einer wohl bestellten Tafel; ich lege den Todtenkopf auf den Tisch und mahne an's Ende (W II 396f.).
Eine gesellschaftskritische Attacke, die in der Aggressivität der Tonart ihresgleichen bei Hebbel nicht hat. Mißliche Erfahrungen mit Theater-Intendanzen, die eine Aufführung der >Julia< hinausgezögert und schließlich hintertrieben haben, geben den Zündstoff (vgl. W II 393ff.)." 86 Hebbels Replik gilt dem gesellschaftlichen Bewußtsein, das er in solcher >Theaterpolitik< wahrnimmt und das er in seinem ebenso bequemen wie selbstgefährdenden Illusionismus bloßstellen will. Wer nur »jubelt und zecht« (W II 397), will Gefahren nicht 184 Vgl. Τ 3874, Β III 353, IV 65 u. 126, auch den Hinweis, daß beide Dramen »auf das Genaueste« zusammenhängen (Β IV 71 u. 78). 185
186
Nicht einmal die einzige neuere monographische Bemühung um dieses Drama, unternommen von Else Brinkmann, kann bestreiten, daß es »mit Recht vergessen worden« ist, und spricht ihm einen »künstlerischen Eigenwert« ab (Friedrich Hebbels >JuliaMaria Magdalena< (vgl. W X I 4 3 u. 47t.), nur eben schriller im Rhetorischen, wird eine sittliche Neubegründung der ausgehöhlten sozialen Institutionen propagiert. Die in Hebbels Augen offenbar auch 1848 ungelöst gebliebene »ethische« Problematik ist nach wie vor im Blick (vgl. Β I V iz6). Mit seinem zweiten Italien-Stück will sich der Dramatiker also nicht erneut in den »Sumpf von faulen Verhältnissen« (W II 379) hinunterziehen, nicht abermals in ein gattungspoetisches Experiment nötigen lassen. Die Vorstellung der >Julia< steht gegen den Anschein des Gegenteils unter dem Leitwort von »Vernunft und Sittlichkeit« (W II 395): Das Drama ist mit seiner sozialkritischen Intention als »Trauerspiel« deklariert und will wirklich nicht bloß wie das tragikomische >Trauerspiel< im Sinne einer Brechung - am Maß dieser Gattungsnorm gemessen sein. Es soll insofern »einen zweiten Theil zur Maria Magdalena« bilden, als es den Schritt auszuführen sucht, den die Tischler-Tragödie unterläßt, nämlich den Schritt über die Zeitwende hinaus in die Zukunft. 1 ® 7 Eine solche Zielsetzung hat Hebbel vor Augen, wenn er das Stück Ende 1845 als »in Form und Gehalt etwas ganz Neues« annonciert (B III 287) und das mühsam abgeschlossene Konstrukt Ende 1847 als »eine ganz neue ethische Lösung des tragischen Verhältnisses« offeriert ,(Β IV 65). Mit anderen Worten: >Julia< soll nicht nur mit >gewagten< Konstellationen der neueren französischen Dramatik wetteifern (vgl. Τ 4312), sondern vor allem das Defizit ausgleichen, das >Maria Magdalena« in der Bewältigung der sozialen Thematik hinterlassen hat. Das neue Stück ist mit allen Zügen des Bemühten und Mißlungenen zugleich die Bestätigung eines solchen Defizits. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt Hebbels >italienische< Tragödie ein gewisses problemgeschichtliches Interesse. Es sind nicht wenige thematisch-motivische Brücken, die beide Gesellschaftsdramen miteinander verbinden. Hier wie dort ist es das Motiv der l8
7 Diese Erweiterung der Intention verwischt O. Walzel, wenn er in >Julia< »mißlungen« sieht, was in >Maria Magdalena< geglückt sei: »den Wendepunkt der gesellschaftlichen Sittlichkeit in die Gegenwart zu legen« (wie Anm. 37, S. 105). Die >Julia< - so sehr sie in der Tat »mißlungen« ist - wäre als Dramenprojekt gar nicht begründet, hätte schon >Maria Magdalena« den »Wendepunkt« gestaltet. Insofern trifft H. Krafts Feststellung zu: »An Hebbels Theorie gemessen, stellt die »Julias verglichen mit der >Maria Magdalena«, den gültigeren Versuch im bürgerlichen Trauerspiel dar; weil nicht nur das Ende des Alten gezeigt wird, sondern auch der Anfang des Neuen« (wie Anm. 2, S. 169). A n H. Krafts Nachzeichnung des Dramas setzt freilich in Erstaunen, daß sie methodisch eine gediegene Kunstleistung unterstellt. Daß für die »Theorie« hier keine plausible dramatische Wirklichkeit einsteht, wird indes jede Interpretation mitreflektieren müssen.
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unehelichen Schwangerschaft, dessen analytische Enthüllung für die Gesellschaft zur sittlichen Probe wird, während Julia selbst »vor Gott ohne Schuld« erscheint (WII165). 1 8 8 In den Figurenkonstellationen lassen sich unschwer Parallelen ausmachen, allerdings auch Unterschiede, die mit der spezifischen Ambition der Fortsetzungs-Tragödie zusammenhängen (und auf die noch einzugehen sein wird). Hier wie dort herrscht der Schein, der die Menschen in den Irrtum treibt wie Julia in bezug auf das Ausbleiben Antonios (vgl. W II i48f.), dessen wahren Grund sie erst später erfährt (vgl. W II i8off.), als sie mit einem anderen die Ehe - »zum Schein« (W II 179) - eingegangen ist. Auch das Generationenthema der Tischler-Tragödie kehrt wieder, freilich diesmal durchkreuzt von anderen Motivlinien wie Familien-Feindschaft (aus >Romeo und JuliaJulia< ist an diversen Anklängen erkennbar, daß >Maria Magdalena< die Folie für den neuen Versuch abgibt, als ginge es immer wieder um die Vergewisserung dessen, worin sie überschritten werden soll. Zeigte schon Klara eine innere Hinwendung zur Welt der Gottesmutter (vgl. W II i6f.), so ist ihre italienisch-katholische Schwester zur »MarienJungfrau« auf dem Rosenfest gewählt worden (W II 128).Der Baum, der ein Zeichen gibt (W II 137, vgl. 2jf.), das »Kainszeichen«, das sich Graf Bertram durch schuldhaftes Tun aufgebrannt glaubt (WII 141, vgl. 41), das gestörte Vaterunser (WII 161, vgl. 67), der >vorarbeitende< Totengräber (WII 153, vgl. 3if.), schließlich der Sarg (WII 134), mit dem ein gespenstisches Scheinbegräbnis inszeniert wird, und noch vieles andere - man gewinnt den Eindruck, daß Hebbel in der >Julia< so zwanghaft auf die >Maria Magdalena< fixiert ist wie in dieser auf die eigene Erlebniswelt. Natürlich ist auch mit Händen zu greifen, daß Tobaldi als - freilich verzerrte - Brudergestalt neben Meister Anton tritt. Auch er richtet sein Verhalten an »den Augen der Welt« aus (W II 158), selbst wenn das die Verleugnung der eigenen Tochter bedeutet. Wie Meister Anton Unannehmlichkeiten in die »Hinterstube« verbannt (W II 71), so hat Tobaldi für solche Fälle ein »Nebenzimmer« parat, nicht ohne von der zur Unzeit zurückgekehrten Tochter noch ein Zeichen zu verlangen, das ihren Schein-Tod bezeugen kann (vgl. W I I 169^). »Ich denke nicht gut von ihr, ich denke gut von mir selbst!« (W II 159): Die Selbstgerechtigkeit kommt bei Tobaldi auf Stelzen daher, wie 188
Die Frage der Schuldzuweisung an Julia bereitet E. Brinkmann erhebliches K o p f zerbrechen, aus dem sie in die Annahme einer >Existenzschuld< flüchtet, die - in der Weise der ersten Konzeption der späteren >Agnes Bernaues (vgl. Τ 4941) - im Übermaß der Schönheit bestehen soll (wie A n m . 185, S. 47fr.). Die unangebrachte, im Text nicht belegbare These verrät jedoch nur, daß die in der A l e w y n Schule verfaßte Arbeit noch zu folgsam auf Scheunerts Pantragismus-Theorie blickt und nicht bestimmt genug die »gesellschaftliche Sittlichkeit« (Walzel) als Problemhorizont des Dramas ins Auge faßt.
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sie der reputationsbedürftige Tischler denn doch nicht bestiegen hat. 189 Der Italiener liebt in der Tochter nicht den wirklichen Menschen, sondern »nur das Bild, das er sich von ihr machte« (W II 135), das Bild seiner verstorbenen Frau nämlich, zu deren lebendem Ersatzsymbol er Julia stilisiert (vgl. W II 160). Die psychologische Verschiebung akzentuiert noch stärker die Bindung an die Vergangenheit, stilisiert die Tochter - allerdings vergeblich als Imitation der Mutter. Antonio, der >Verführer< Julias, ist der Sohn jenes Grimaldi, mit dem Tobaldi als politischer Verschwörer verbündet war, den er aber - nachdem mit Napoleons Herrschaft der richtige Zeitpunkt der revolutionären Tat vergangen war - sich selbst überlassen und sogar verraten hatte, dies freilich nur scheinbar, wie recht kompliziert enthüllt wird (vgl. W II i32ff.). Wichtig für das Drama ist das Rachemotiv, das Antonio aus einer solchen Vorgeschichte zu übernehmen hat, und »die Stellung des außer der Gesellschaft geborenen Menschen« (Β IV 8), die ihm als Mitgift des Schicksals zuteil geworden ist. 190 Den Platz des skrupellosen bürgerlichen Profitjägers in der >Maria Magdalena< nimmt hier also der gesellschaftliche Außenseiter ein, wobei nicht zu übersehen ist, daß Hebbel in der Einkleidung dieses sozialkritischen Motivstranges eine kolportagehafte Räuberromantik bedenklich ins Kraut schießen läßt (vgl. W II i8iff.). Immerhin: In der Liebe zu Julia scheint sich für Antonio die Möglichkeit zur Abschüttelung der Vergangenheit zu eröffnen (vgl. W II 187). Von einem Neuanfang »jenseits des Weltmeers« hat er geträumt, »ein neues Leben« erhofft (WII ij6f.) - bevor die Dramaturgie des unglücklichen Zufalls jene »Verschlingungen« gebildet hat, die gar nicht so »unergründlich« sind, wie es den Figuren innerhalb dieser allzu berechneten Kombinationen erscheint (vgl. W II 173 u. 176). Graf Bertram, der den experimentellen Vorstoß des Dramas recht eigentlich zu tragen hat, tut den Schritt, den in >Maria Magdalena< der Sekretär nicht spontan zu tun vermochte: er kann »darüber [...] weg« (vgl. W II 52), d.h. er kann einer Frau die Heirat anbieten, die von einem anderen schwanger ist, 189
Andererseits wacht Tobaldi mit der gleichen rigorosen Strenge wie Meister Anton über »die Ehre« des eigenen »Hauses« (W II 129). Diese Koinzidenz zwischen dem kleinbürgerlichen Tischler und dem stolzen Italiener mit der politisch-revolutionären Vergangenheit zeigt einmal mehr an, daß der Ehrbegriff in Hebbels Gegenwartsdramen nicht bloß standesspezifisch zu verstehen ist. •9° So kann Antonio sagen: » [ . . . ] mein Loos war entschieden, ehe ich meinen ersten Gedanken dachte!« Darauf Julia: »Wehe der Welt, daß das möglich ist!« Wiederum Antonio: »Und wehe dem Menschen, den es trifft!« (W II 181) Zumindest den Ansatz einer sozialkritischen Motiventfaltung wird man darin erkennen und anerkennen können. H. Martin hält für Antonio gleichwohl nur wieder seinen ideologiekritischen Einheitstadel bereit, indem er den »grundsätzlichen Protest gegen ungerechte Besitzverteilung« vermißt (wie Anm. 2s, S. 116). 268
ohne zuerst an dessen Mitwissertum zu denken. Graf Bertram bewahrt also Julia vor dem Tod, den sie der Schande vorziehen würde. Das unglückliche Mädchen spricht ihn ausdrücklich als »Mann« an, als ginge es dem Drama eigens um die Markierung des Grenzpunktes, der nun doch verschoben werden soll. Bertram stellt Julia die Frage, ob die »Andern« ihren Selbstmord »werth« seien (W II 145), und legt alles darauf an, ihr den Gang »aus der Welt hinaus [...]« zu ersparen ( W I I 151). Deutlich wiederholt sich darin die korrigierende Erkenntnisleistung des Sekretärs, die nunmehr jedoch nicht in ein tragisches Zuspät fällt, sondern ein tragisches Schicksal für Julia gerade verhindern soll. Die Zeitstelle des sittlichen Handelns hat sich gegenüber der >Maria Magdalena< verschoben, freilich auch die Motivation, denn Bertram handelt nicht aus Liebe zu Julia, sondern bringt aus einer Bußgesinnung heraus ein Selbstopfer dar. Als schwindsüchtiger »Melancholicus« (W II 140), der beredt seinen »finstern Gedanken« nachhängt (vgl. W I I 136), mithin als eine durch und durch pathologische Existenz ohne Hoffnung und Zukunft hat der büßende Retter die Gefilde dieses Dramas betreten. Ein verpfuschtes, im Genuß ruiniertes Leben liegt hinter ihm, das ihm nicht einmal das Recht auf den Freitod gelassen hat (vgl. W II i4of.).' 9 ' Als »Jammermensch« vergegenständlicht sich der »Hauptcharacter« (W II 396), nicht ohne sich unter selbstvernichtende Imperative zu stellen: Bilde Dir nicht ein, daß Du Dich zu tief herabsetzen kannst! Du bist solch ein Aber der Menschheit, das sie knirschend hinzufügt, wenn sie ihre Cäsaren und Napoleone aufgezählt hat. Ha, Thaten! Hast Du nicht einst von Thaten geträumt? Aber Du meintest, diese Zeit sei nicht die Zeit der Thaten, als ob's nicht auch eine That wäre, sich bereit zu halten, und nun machtest Du's, wie ein schiechter Soldat, der sich auf seinem Posten langweilt, Du verspieltest Deine Waffen! Schaud're! Schaud're! [...] Und wenn das Auge eines Mädchens freundlich auf Dich blickt, so mußt Du das Deinige schließen und vor ihm zurückweichen; denn nie darfst Du eins zum Weibe machen, Dein eigener Sohn würde Dich dereinst dafür auf Pistolen fodern! Was bleibt Dir? Nichts, als die Hoffnung, daß es vielleicht noch irgendwo ein Loch in der Welt giebt, wo ein Kerl wie Du, der nur noch ein Ding ist, hingestopft werden kann, wie ein Fetzen in einen Fenster-Riß [...] (W II 143).
•91 Dahinter steht die generelle Problematik vom Recht oder Unrecht des Selbstmordes, mit deren Skizzierung E. Brinkmann an die Interpretation Bertrams herangeht (vgl. wie Anm. 185, S. I7ff.). So notiert Hebbel 1839: »Selbstmord ist immer Sünde, wenn ihn eine Einzelheit, nicht das Ganze des Lebens veranlaßt« (T 1827). Diese legitimierende Bedingung erfüllt Bertram mit seiner individualistischen also auf eine »Einzelheit« bezogenen - Eintrittsbilanz noch nicht. Anders reflektiert freilich der Golo-Experimentator Hebbel die Suizid-Frage (vgl. Τ 2292 u. 2310). Doch auch in diesem Umkreis heißt es: »[...] nur der wirft das Leben gern weg, der etwas daran weg zu werfen hat« (T 1475) - und Bertram »hat« nichts mehr. 269
Auch das Vorwort greift das Vererbungs-Argument auf (vgl. W II 396): Wenn Graf Bertram die Ehe mit einem dekadenten Adligen - eine Heirat »zwischen Leben und Tod« - als eine »Mutter der Gespenster« perhorresziert (vgl. W II 142), so ist Ibsens Drama (von 1881), das sich allerdings nicht auf eine Adelsproblematik bezieht, schon bis auf den metaphorischen Titel vorweggenommen. 192 Bei Hebbel ist es »ein vornehmer Herr, ein deutscher Graf« (W II ijif.), der so schonungslos mit sich ins Gericht geht, jemand, der vierspännig vorzufahren pflegt (vgl. W II 163) und Finanzfragen von unteren Chargen gleichmütig regeln läßt, »in Tyrol begütert, und der letzte Sprosse einer der ältesten Familien« (W II 166). Der Held des Fortsetzungs-Trauerspiels kommt - als Aristokrat - aus jener Sphäre, die in der kleinbürgerlichen Enge der >Maria Magdalena< nur ganz entfernt am oberen Rand aufgedämmert ist (vgl. W II 33). Hebbel knüpft mithin, entgegen seiner Pariser Theorie, mit der deutlichen Abhebung der Stände voneinander wieder an das ältere Muster des bürgerlichen Trauerspiels an. Er tut dies aber durchaus als Gegenwartsdramatiker, indem er den Feudaladel in einem degenerierten Zustand vorführt und zugleich an seine gesellschaftliche Verantwortung mahnt. Das Vorwort spitzt diese in der Figur Bertrams versuchte Kombination aus Dekadenzkritik und moralischem Appell kritisch-tendenziös zu (vgl. W II 39 Auch die Metaphorik von Tod und Verwesung, die Bertrams Selbstexplikation durchzieht, läßt nicht den geringsten Zweifel darüber, worauf sie sich bezieht und wie sie gemeint ist.' 93 Die Aristokratie, wie sie gewesen ist, wie sie geworden ist, wie sie sich selbst sieht und wie sie nach sittlichen Maßstäben sein sollte - dieses Geflecht versucht Hebbel in der Figur des ebenso dekadenten wie bußwilligen Dramen-Grafen zusammenzuziehen. Bertram weiß um einen Vorfahren, der in seinem »Ahnenstolz f...] erklärt haben soll, er werde eher um eine Löwin oder eine Bärin werben«, als daß er sich zu einer bürgerlichen Mesalliance herabließe (W II 142). Der Nachkömmling aber trägt die Tradition der Familiendynastie, die seine Identität begründet, nur noch als Last. Die 32 Lebensjahre, die er zählt, wachsen sich in seiner Imagination zu Jahrhunderten aus, in denen große Namen und Taten hervorgetreten sind, aber auch alle geschichtliche Kraft aufgezehrt worden ist (vgl. W II 13 8f.). Wenn es Bertram scheint, als würde sich »die hungrige Zeit« an seinem »dünnen Ich« nähren, so verweist solche Bildlichkeit deutlich auf das Problem der Adelslegitima192
Vgl. E. Brinkmann, wie Anm. 185, S. 22. 193 Vgl. dazu L. Lütkehaus (wie Anm. 19, S. 145f.), zum sozialgeschichtlichen Hintergrund etwa Wilhelm Heinrich Riehls Feststellung einer >ProletarisierungMaria Magdalena« wie >Julia< zu »Skizzen« herab, denen allenfalls noch ein entwicklungsgeschichtliches Interesse zukommt.206 Siegmund Engländer, dem die Sache des Sozialismus und die Sache der Kunst am Herzen liegen, versucht weiterhin beides überein zu bringen, also die »Schlacht« in die »Bilder-Gallerie« zu verlegen oder diese für die »Schlacht« zu öffnen: Ich bleibe dabei daß jene Zustände, mit denen sich der Socialismus beschäftigt kein bloß politisches, also unpoetisches Interesse besitzen, sondern daß dieselben wahrhaft tragisch seien und zwar deßhalb weil sie tief menschlich, ewig, unlösbar, allgemein verständlich sind und mit den höchsten Fragen der Menschheit in Verbindung stehen. Von dem indischen Kastenwesen angefangen, das voll tragischer Seiten ist, und poetisch dargestellt sich ganz auf das jetzige sociale Problem beziehen ließe, von Spartacus, der als tragische Figur den ganzen socialen Inhalt der
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A n Hebbel, 3. 1. 1863 ( B A H II 122). A n Hebbel, 5. 4. 1863 ( B A H II 145). Dagegen weist Hebbel »Agnes Bernaues und >Gyges< als gültige Werke vor, wobei er einen möglichen Einwand seines Adressaten mit der E r w ä g u n g vorwegnimmt, daß man vielleicht »während einer Schlacht den Eintritt in eine Bilder-Gallerie ablehnt«. Darauf heißt es mit klärender Entschiedenheit: »Für mich existirt aber keine andere mehr« (Β VII 282) - was heißen soll: keine andere »Region« als der Kunstraum der historischen Tragödie, der den unmittelbaren Kämpfen und Interessen der Gegenwart entrückt ist. So wird denn auch ausdrücklich betont, daß es sich bei >Agnes Bernauer< nicht um »ein sociales Drama« handle (Β VII 291), nachdem Engländer darin sogar »ein socialistisches Drama« ausgemacht hatte (an Hebbel, 3. 1. 1863; B A H II 122).
Gegenwart erschöpfen würde, von den deutschen Bauernkriegen, in denen eine tragische Welt liegt, bis hinüber auf unsere Tage, in denen dieser ewige, und deßhalb wahrhaft tragische Conflict zwischen Armuth und Reichthum die grellsten Formen angenommen hat, geht ein und derselbe Abgrund durch die ganze Weltgeschichte, ein Abgrund, den die Poesie noch beleuchten muß [.. .] 2 ° 7 Täte sie dies, dann würde sie nicht etwa in einer unpoetischen Wirklichkeit versinken, sondern »eine höhere Perspective« gewinnen. Engländer faßt überall in Geschichte und Gegenwart den Gegensatz zwischen den Lagern »der Privilegirten und der Enterbten« ins Auge. U n d er fordert mit kritischer Emphase: Darzustellen, wie Millionen und Millionen von Menschen Jahrtausende hindurch an dem Fluche mittragen, ausgebeutet zu werden, für Müßiggänger zu arbeiten, auf dem Banquete des Lebens keinen Platz zu finden, kein menschliches Leben zu führen, nicht stolz, nicht uneigennützig, nicht edel sein zu können, mit einem Wort alles höheren, schöneren Lebens, aller Erziehung, alles Genußes beraubt zu sein, darzustellen, wie sich diese Millionen Menschen entweder vor dem Götzen beugen oder wie sie an ihm zu Grunde gehen müssen [...] Alles Dieß darzustellen, ohne in Declamacion zu verfallen, ohne tendenziös zu werden, ohne sich um die Details und die Schlagworte der Gegenwart zu bekümmern, sondern bloß dadurch daß objectiv die ewige Seite dieses tragischen Conflicts schroff hingestellt wird, Alles Dieß darzustellen muß Stoff für ein unsterbliches Bild liefern und Sie sind der Repräsentant und Urheber dieser neuen Poesie, wenn Sie sich auch dagegen sträuben. 2 ° 8 Siegmund Engländer verlangt von der Kunst ein ständiges und ausschließliches soziales Engagement und sieht gerade daraus ihre produktiven ästhetischen Möglichkeiten entspringen - eine Verfügung, die H e b b e l nicht unwidersprochen über sich ergehen lassen kann. D e r Dichter, der seine eigene Gesellschaftsdramatik auf ein Kleinformat heruntergesprochen hat, beantwortet Engländers K o n z e p t »von der socialen Tragödie« damit, daß er seinen eigenen »aesthetischen Standpunct« bekräftigt, nach dem eine sozialkritisch orientierte Dramatik ausgeschlossen ist: Ich kenne den furchtbaren Abgrund, den Sie mir enthüllen, ich weiß, welch eine Un-Summe menschlichen Elends ihn erfüllt. Auch schaue ich nicht etwa aus der Vogel-Perspective auf ihn herab, ich bin schon von Kindheit auf mit ihm vertraut [...] Aber das ist eben die mit dem Menschen selbst gesetzte, nicht etwa erst durch einen krummen Geschichts-Verlauf hervorgerufene allgemeine Misere, welche die Frage nach Schuld und Versöhnung so wenig zuläßt, wie der Tod, das zweite, allgemeine, blind treffende Uebel, und deshalb eben so wenig, wie dieser, zur Tragödie führt. Man kommt von hier aus vielmehr zur vollständigen Auflösung der Tragödie, zur Satire, die der sittlichen Welt ihre schreienden Widersprüche unvermittelt in's Gesicht wirft, und zu allererst die tragische Form selbst und den tragischen Dichter, wie er Sandkörner nachwiegt und den Berg, von dem sie abgesprungen sind, nicht bemerkt oder doch vor ihm die Augen zudrückt. Eine solche Satyre
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Ebd. S. I2i. Ebd. S. I2if. V7
kann nun gar wohl als Komödie hervor treten und ein Versuch, wie mein Trauerspiel in Sicilien, mag er an sich werth seyn, was er will, findet in ihr seine sonst ganz unmögliche Rechtfertigung. Das indische Kastenwesen, der römische Sclavenkrieg mit Spartacus, der Deutsche Bauern-Aufruhr [...] können nur auf dem religiösen oder dem communistischen Standpunct Tragödien abgeben, denn der religiöse kennt eine Schuld des ganzen Menschen-Geschlechts, für welches das Individuum büßt, und der communistische glaubt an eine Ausgleichung. Ich kenne die eine nicht und glaube nicht an die andere (Β VII 293f., vgl. Τ 6287).
Auffällig ist zunächst, wie in dieser späten Sicht das sizilianische >Trauerspiel< erscheint: als eine »Komödie«, die als »Satire« zu rechtfertigen ist, d. h. als direkter Angriff auf die »Widersprüche« der Welt bzw. der Gesellschaft. Aber die Kunstleistung, die damit gegeben sein mag, erhält überhaupt keinen positiven Akzent mehr. Man sieht ein weiteres Mal, mit welcher Reserve Hebbel seinen schärfsten Versuch in sozialkritischer Dramatik betrachtet. Der Anwalt der traditionellen Gattungshierarchie nimmt das Wort, in der die »Satire« ganz unten placiert ist, das tragische Drama aber - inzwischen auf dem weltgeschichtlichen Felde ausgewiesen - die Spitze beansprucht. Es geht unverhohlen um die Apologie der Tragödie, und zwar gegen die ihr von der Sozialproblematik her drohende »Auflösung« in Satire, also um eine Rekapitulation dessen, was Hebbel als Dramatiker wie Theoretiker immer getan hat. Nur wenn dieses formapologetische Interesse als das leitende erkannt ist, kann sich die zusammengedrängte Überlegung Hebbels erschließen, ohne daß freilich ihre wunden Punkte zu heilen wären. Die Bedingungen der Möglichkeit der Tragödie sollen gesichert werden - daher sind Pulverdampf und Elendsgeschrei zu distanzieren, überhaupt alle Faktoren der realen Welt abzurücken, welche die »Bilder-Gallerie« (Β VII 282) der dramatischen Geschichtsräume und die ihr zugehörige Apperzeptionsform gefährden könnten.209 Es ist nicht zu übersehen, daß diesem Argumentationszweck die soziale Problematik in - gelinde gesagt - eigenwilliger Weise unterworfen wird, sofern das »Elend«, statt den Blick auf gesellschaftliche Ursachen zu lenken, auf eine »mit dem Menschen selbst gesetzte [...] Misere« hinführen soll. 210 Darin scheint der Schuldbegriff der einst entworfenen Dramentheorie wieder durchzudringen, sogar in der einstigen Absetzung vom religiösen
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Daß sich für Hebbel damit die ästhetischen Prämissen verschoben haben, zeigt der Rückblick auf den 1847/48 mit Emil Palleske geführten Briefwechsel: Damals hatte Hebbel den »Bilderwerth« des Dramas noch nicht als Legitimationsgrund anerkannt (vgl. Β IV 84; dazu S. I7ff. dieser Untersuchung). Vgl. schon den Einwand Engländers (an Hebbel, y 4. 1863; B A H II 146). - In der Forschung stellt etwa E. Dosenheimer die Überzeugungskraft der Hebbelschen Überlegung in Frage, um dann freilich - ohne ihre gattungspoetische Steuerung zu beachten - die Erklärung ausschließlich in einer politisch-sozialen Umorientierung (von »links« nach »rechts«) zu suchen (vgl. wie Anm. H I , S. 107t).
D o g m a der E r b s ü n d e . 2 1 1 D o c h bei näherer P r ü f u n g stellt sich heraus, d a ß der S c h u l d b e g r i f f in seiner u r s p r ü n g l i c h e n -
metaphysischen -
Bestimmtheit
preisgegeben ist. N a c h der einst d o m i n i e r e n d e n pantheistisch-dualistischen L o g i k m ü ß t e d e r T o d - als Schicksal, d. h. als A u s g l e i c h u n g i m Interesse des G a n z e n - das I n d i v i d u u m als solches treffen, u n d z w a r nicht »blind«, s o n dern gerecht, d a er seinen s c h u l d h a f t e n >Abfall< a u f h e b t . 2 1 2 D i e s e L o g i k des G a n z e n ist in H e b b e l s späterer Ä u ß e r u n g n u r n o c h i n s o w e i t in K r a f t , als sie einen allgemeinen H o r i z o n t gegen die Satire o d e r auch gegen einen »falschen Realismus« festzuhalten e r l a u b t . 2 ' 3 D o c h d a d u r c h w i r d die A r g u m e n t a t i o n i m einzelnen nicht m e h r strukturiert. D i e s e W e n d u n g ist auf die i n z w i s c h e n eingetretene d r a m e n p o e t o l o g i s c h e E n t w i c k l u n g H e b b e l s z u r ü c k z u f ü h r e n . A u f der Basis der H e g e i s c h e n G e schichtsphilosophie hat der historisierende Tragiker mittlerweile die k o n stante K o n s t e l l a t i o n entdeckt u n d gestaltend e r o b e r t , d e r g e m ä ß die V e r k e t 211
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Vgl. W X I 4 u. 30. - »Ich kenne die eine nicht« besagt: Ich erkenne eine religiöse Schuld »des ganzen Menschen-Geschlechts« nicht an. Daneben tritt nun auch die Abwehr des kommunistischen Glaubens an »Ausgleichung« gesellschaftlicher Antagonismen in der realen Welt. Gegenüber der alten Religion und dem neuen Religionsersatz geht Hebbel gleichermaßen auf skeptische Distanz, erweist er sich einmal mehr als der kunstbeflissene Einzelgänger. Daß Hebbel mit seiner späten Erklärung gegen die eigene »tragische Grundanschauung« verstößt, wenn anders er den Tod »nicht mehr als Opfer und Buße des selbstmächtigen Individuums, sondern als blind treffendes Übel auffaßt«, hat bereits E. Altherr gesehen (wie Anm. 11, S. 108; ähnlich: E. Dosenheimer, wie Anm. h i , S. 107). Man halte gegen seine späte Äußerung etwa Hebbels Bemerkung von 1843, daß »außerordentlich wahr« sei, was Heinrich Heine anläßlich Immermanns gesagt hat: »Der Tod [ . . . ] ist nicht so zufallig, als man denkt, er ist das Resultat des Lebens [...]« (Β II 286f.). Vgl. auch noch Τ 4324 (aus dem Jahre 1847). Vgl. dazu die Explikation in einem späteren Brief (vom 1. 5. 1863) an Engländer, wonach der »falsche Realismus [ . . . ] den Theil fur das Ganze nimmt«, der »wahre« hingegen »auch das mit umfaßt, was nicht auf der Oberfläche liegt« (Β VII 343). Nach dieser Unterscheidung, die letztlich Hebbels Differenz zur realistischen Kunstgesinnung überhaupt anzeigt, bleibt der ausschließliche Blick auf die sozialen Verhältnisse ein solcher auf die »Sandkörner«. In der Interpretation von Τ6287 (s.o.) plädiere ich für eine Lesart, die Hebbel nicht unterstellt, er werfe dem »tragischen Dichter« - den er doch verteidigt - »Wirklichkeitsblindheit, ja Erkenntnisverzicht« vor (so H. Kreuzer, wie Anm. 70, S. 469). Daß der Dichter »den Berg [ . . . ] nicht bemerkt oder doch vor ihm die Augen zudrückt«, gilt nur unter der Voraussetzung, daß er sich selbst unter das Gesetz der »Satyre« stellt, also eigentlich aufhört, Tragiker zu sein. Es gilt nicht schlechthin, denn als wahrer Tragiker kann der Dichter »Berg« und »Sandkörner«, also »Ganzes« und »Theil«, gerade in der richtigen Koordination wahrnehmen. So lassen sich die syntaktischen Schlingen immerhin derart entknoten, daß hier einmal nicht die notorische Hebbelsche »Gespaltenheit« (Kreuzer) manifest wird, sondern die Problematik in der Art erkennbar ist, wie Hebbel - in der Tat als »Mann der alten [...] Schule« (Β V I 60) - seinen Universalismus festhält.
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tung der individuellen »Schuld« und des fortschreitenden Geschichtsprozesses, also die »Versöhnung«, dialektisch reguliert ist. Weil die Idee des geschichtlichen Fortschreitens (oder Weiterkommens) schon hinreicht, um die Notwendigkeit einer ständigen Aufhebung der je partikularen, d. h. den Fortschritt befördernden wie letztlich hemmenden Individualität zu begründen, tritt der Tod in den Anblick des »blinden« Schicksalsfaktums zurück, das keiner individuellen Existenz als Nemesis mehr zugerechnet werden muß. Vom Tod führt ebensowenig wie vom sozialen Elend ein Weg zur Tragödie: eine erstaunliche Konsequenz! Wenn andererseits die »Misere« als eine anthropologische Konstante festgehalten wird, so spricht aus der gewaltsamen Abblendung des Sozialen auch eine Skepsis, die zwar eine historische Fortschrittsidee anerkennt, aber ihr nicht ein innerweltliches Telos zu unterschieben bereit ist, heiße dieses nun »Ausgleichung« oder >Paradies auf Erden< oder wie auch immer. Hebbels Geschichtsglaube ist jedoch tragfähig genug, um dramatische Formen zu legitimieren, die sich auf den Verlust und den Gewinn bei geschichtlichen Ubergängen einzustellen versuchen. Wenn Hebbel somit die in den Anfängen konzipierte, aus dem idealistischen Erbe übernommene metaphysische Schuldtheorie überholen kann, so zeigt sich daran deutlich, daß diese Theorie auch an Ort und Stelle nicht eigentlich weltanschaulich gemeint war, sondern im Dienste der gattungspoetischen Legitimation stand. Diese Zusammenhänge galt es zu skizzieren, weil nur vor ihnen einsichtig werden kann, inwiefern die soziale Problematik der Gegenwart als Aufgabenfeld für die Hebbelsche Tragödie ausfällt. Sie verliert - oder erweitert sich in die Dimension des Geschichtlichen. Dieser Perspektivenwechsel ist nicht damit zu erklären, daß der spätere Hebbel zu einem politischen Konservatismus gefunden hätte. Schon in seiner früheren Zeit ist der Dichter trotz kindlicher »Proletarier-Empfindung« 214 nie politischer Revolutionär gewesen, wobei seine Beschäftigung mit den Fragen der Besitzverteilung, der A r beitsorganisation, des Pauperismus und mit den Theorien des sozialen U m sturzes ein Problembewußtsein für die gesellschaftlichen Fragen erkennen läßt, das nur einer bestimmten Parteiensicht als unzulänglich oder rückständig erscheinen mag. Auch in der Spätzeit verliert Hebbel die Sensibilität für das Thema keineswegs. So läßt er sich etwa durch entsprechende Lektüre belehren, daß die korsische Vendetta nicht aus dem italienischen »NationalCharacter« hervorgegangen ist, sondern »aus bestimmt nachweisbaren unsichren und rechtlosen Zuständen«, also aus den sozialen Verhältnissen (vgl. Τ 6i2o). Oder er erkennt an, daß das »Verbrechen« wie der »Heroismus« seine »historisch-sociale Seite« hat (T 6140). In den Wiener Briefen< (seit
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* Biographische Notiz, zit. nach: Der junge Hebbel (s. A n m . 67), S. 54.
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i86i) wird das Verbrechen in seiner sozialen Symptomatik klar herausgestellt oder sogar aus einer sozialen Kausalität abgeleitet (vgl. W X 247 u. 286). Vor allem die brieflichen Schilderungen Londons im Sommer 1862 sind mit zupackenden Beobachtungen gespickt: zur Geldgier, die »hinter Allem« stecke (Β VII 194), zur »Entwicklung des Maschinen-Wesens« und ihrer bedenklichen Auswirkung auf das Los der »Armen« (Β VII 195), überhaupt zur »Kluft [...] zwischen Reichthum und Armuth« (Β VII 197) - der Elendsanblick von Neapel (vgl. W II 378) drängt sich 17 Jahre später auch im Land des fortgeschrittenen Industrie-Kapitalismus auf. Nach seiner Englandreise bezeichnet Hebbel »das sociale Problem« als das »brennendste aller Themen«, um freilich hinzuzufügen, daß er selbst sich seiner nicht annehmen werde (Β VII 207). Siegmund Engländer wird es überlassen. Hebbel behält also durchaus den Sinn für gesellschaftliche Bedingungen und Deformationen - des Menschlichen. Aber er kann den Kunstraum der geschichtlichen Tragödie von dieser Seite her nicht öffnen. Was die Form durch eine solche Barriere ästhetisch gewinnt, steht gegen den Verlust an historisch-realer Authentizität im Gehaltlichen. Die massive Ideologiekritik, die Hebbels späte Absage an die soziale Tragödie ausgelöst hat, kann an offenkundige Defizite seiner Argumentation anknüpfen. 2 ' 5 Aber sie übersieht das Besondere seiner apriorischen Formorientierung wie die Realisierungsprobleme auf dem Felde der Gesellschaftsdramatik. Und kann jemand ernsthaft den Wunsch hegen, Hebbel hätte den Ratschlägen Engländers folgen sollen? Noch während der Arbeit an >Julia< hat der Dramatiker seine »LebensAufgabe« darin erblickt, »den gegenwärtigen Welt-Zustand, wie er ist und ward, darzustellen« (Β IV 7). Dieses Programm bindet Gegenwartsdarstellung und historische Anamnese noch unproblematisch zusammen. Nach Abschluß der >Julia< wird sich der Dramatiker in der Vergangenheit einrichten, in der Dimension also, die dem Formgesetz der Tragödie eine ästhetische Vollendung verspricht, während ihre Gegenwartsbindung eine Frage zweiter Ordnung wird. Der Ubergang zur historischen Tragik schließt nicht kontinuierlich an die Versuche der Gegenwartsdarstellung an, sondern ist durch ein Scheitern in dieser Region vermittelt. Einmal konnten der Gegenwart nur in dem Maße tragische Konfliktfelder abgewonnen werden, wie es gelang, soziale Probleme in sittliche zu überführen - ein Versuch, der mit seinen gebotenen Abstraktionen, Archaisierungen und Konstruktionen vom »gegenwärtigen Welt-Zustand« immer auch wegdrängt. Zum anderen erwies es 21 s
Vgl. die der Marxschen Hegel-Kritik nachgebildete Umkehrungslogik von L. Lütkehaus: »Die Ontologisierung des Tragischen und die Reduktion des Sozialen verkehrt sich in die Reduktion des Tragischen und die Ontologisierung des Sozialen« (wie Anm. 19, S. 268). 281
sich als unmöglich, am Leitfaden einer tragischen Sittlichkeit nicht bloß Wunschprojektionen zu entwerfen, sondern bereits wirklich auf die Normen der Zukunft hinzuarbeiten. 216 Die Koalition von Tragödie und Gesellschaft mußte aufgekündigt werden. Mit der >Julia< ist die Phase des Experimentierens für Hebbel beendet. Die Zeit der ästhetischen Erfüllung beginnt - einer Erfüllung freilich, die für die Tragödie nur noch eine Sache der historischen Vergangenheit sein kann. Dort allein verspricht sich für die Form der Inhalt, der zu ihr paßt.
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Vgl. zu dieser Zeitproblematik im Übergang von der Gesellschaftsdramatik zur Geschichtsdramatik O . Walzel, Das bürgerliche Drama (1914). In: Walzel, Vom Geistesleben alter und neuer Zeit. zig22. S. 214t. - Diesen Ansatz hat H. Kraft aufgenommen und ausgebaut: Die geschichtliche Vergangenheit werde von Hebbel primär aufgesucht, um »Modelle« für Gegenwart und Zukunft zu bilden, die gegenüber den Gefahren eines ungeschichtlichen Projizierens immunisiert sind (vgl. wie Anm. 2, S. I32ff.). Doch sind Hebbels historische Tragödien wirklich >versetzte< Gegenwartsdramen?
III. Tragödie und Geschichte: >Herodes und Mariamne
Judith et Holoferne< beschreibt, spricht Heinrich Heine von der Schwierigkeit, sein »Thema« festzuhalten, »denn da draußen stürmt es wirklich zu laut, und es ist unmöglich, die Gedanken zusammenzufassen, wenn solche Stürme in der Seele widerhallen«. Die Julirevolution von 1830 hat diese »Stürme« entfacht, in den politischen Unruhen drängt sich der Anblick des sozialen »Elends« auf - da will die Versenkung in die ästhetische Bilderwelt nicht mehr gelingen: »Es gehört fast ein Goethescher Egoismus dazu, um hier zu einem ungetrübten Kunstgenuß zu gelangen [...]«' Während 1848 in Wien Belagerungszustand herrscht, die Barrikaden der Aufständischen am Praterstern bombardiert und schließlich von kroatischen Truppen unter dem Kommando des Grafen Jellachin niedergerissen werden, in jenen Herbsttagen also, in denen die Märzrevolution in der österreichischen Hauptstadt unter heftigen Kämpfen erlischt, geht Friedrich Hebbel auf den von Unruhe erfüllten Straßen spazieren. Er dichtet an »einer großen historischen Tragödie« (Β IV 136). Wohl haben ihn die politischen Auseinandersetzungen berührt, Hoffnungen und Befürchtungen in ihm wachgerufen die Korrespondenzberichte, seit den Märztagen für die >Augsburger Allgemeine Zeitung« verfaßt, weisen Hebbel als durchaus engagierten politischen Beobachter aus. Aber die »Stürme« der Politik können ihm den Kunstgedanken keineswegs austreiben. Im Gegenteil: Das Werk, das er unter Barrikadenkämpfen und Bombardement zum Abschluß bringt, gilt ihm »im Element des nach jeder Seite hin Widerwärtigen« als »die einzige Rettung« (T4461), sein dichterisches Talent als »die Schwimmblase«, die ihn »über dem Wasser erhielt« (Β IV 144, vgl. 306). Die Kunst hört in den politischen Kämpfen nicht auf, ihr Recht zu fordern, sie gewährt ihrem Fürsprecher sogar einen Flucht- und Freiheitsraum von - wie es scheint - existentieller Bedeutung. 1
Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. Bd. III. Hg. von Karl Pömbacher. 1971. S. 7of. 283
Es ist die Tragödie >Herodes und MariamneHerodes und Mariamne< von vornherein als »eine historische Tragödie« (Β IV 12) geplant worden ist. Die erste Notiz (vom Dezember 1846) gab dem Projekt bereits den späteren Titel, hob dabei besonders hervor, daß es »das ganze Leben des Herodes« umfassen solle (T3837). Daran Schloß sich im März 1847 der Programmpunkt an: »[...] in den Character des Herodes hinein ist [...] die ganze Bedeutung des Dramas zu legen« (T4004). Begonnen wurde das Werk aber als »Mariamne« (T 3984), welcher Titel auch im Tagebuch-Protokoll der Arbeit dominiert und desgleichen in der Korrespondenz favorisiert wird, 2 einmal mit ausdrücklicher Festlegung Mariamnes als »Haupt-Character« (Β IV 132). Wie oft bei Hebbel zeigt sich also ein Schwanken in der Gewichtung der dramatischen Figuren. Aber dabei wird die Gattungsspezifizierung des Werks mit aller Bestimmtheit ausgesprochen und festgehalten: es handle sich um »eine historische Tragödie im größten Styl« (Β IV 26), um »eine große historische Tragödie« (Β IV 65). a) Geschichte und Drama Daß sich sein »Talent an der Geschichte« entzündet habe, behauptet Hebbel in einer brieflichen Selbstdarstellung 1852 (Β V 46). Das Votum ist jedoch nicht unbesehen hinzunehmen. Es erschließt sich vielmehr als Reprojizierung der inzwischen erreichten Stufe auf das gesamte dramatische Werk seit >JudithHöhenlinie< - die eigentümliche Signatur gibt: es ist die Habsburg-Dynastie als HerrschaftsKonstante über die Jahrhunderte hin, die Kontinuität und Teleologie verbürgt, damit auch dramaturgische Sinnesorganisation ermöglicht, ohne freilich die Bruchlandung in einer nihilistischen Skepsis auszuschließen.3 Ansonsten wird das Geschichtsdrama zum Tummelplatz für allerlei poetae minores - für Hebbel offenbar ein Anlaß zu der charakteristischen Ambition, nun auch für die »historische Tragödie« ein Muster der Gattung aufzustellen (vgl. Τ 4299). Versucht man einige vorläufige Markierungen im Terrain der Hebbelschen Geschichtsdramatik aufzuzeigen, ist am besten wohl bei einem Votum von 1862 anzusetzen, das sich wie ein Fazit präsentiert: [...] das Drama ist nur darum die höchste Form der Kunst und die Tragödie wieder die höchste Form des Dramas, weil das Gesetz des Dramas dem Weltlauf selbst zu Grunde liegt, und weil die Geschichte sich in allen großen Krisen immer zur Tragödie zuspitzt (W XII 328f.).
Nicht immer hat Hebbel so dezidiert von der Tragödientauglichkeit der Geschichte gedacht. So wird noch in der Lenz-Kritik von 1839 festgestellt: »Nur, weil sie kein System hat, ist die Geschichte für uns keine echte Tragödie« (T 1471) - also das genaue Gegenteil der späteren Auffassung. 4 Andererseits stellt Hebbel schon in seiner früheren Zeit Lessings Absage an ein thematisches Geschichtsdrama in Frage, jenes bekannte Diktum, daß »die Tragödie [...] keine dialogierte Geschichte« sei und daß die Geschichte dem Dichter »nichts, als ein Repertorium von Namen« biete, mit dem sich ein gewisser Beglaubigungseffekt erreichen läßt.® Diese Lessingsche Auffassung, die sich literarhistorisch nur aus dem wirkungspoetischen Ansatz seiner Dramaturgie fassen läßt, wird von Hebbel eingeschränkt (vgl. Τ 1502) oder »da3
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So hat Grillparzer >Ein Bruderzwist in Habsburg< nicht veröffentlicht und 1848 testamentarisch sogar zur »Vernichtung« bestimmt (Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Hg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher. 1960/65. Bd. II. S. 1256). Vgl. zur Entdeckung des Habsburg-Themas im Zuge der Arbeit an >König Ottokars Glück und Ende< Grillparzers Selbstbiographie (Bd. IV. S. n8f.), ferner zu Hebbels Schätzung des >Ottokar< (genauer gesagt: der beiden ersten Akte, die »das vortrefflichste historische Trauerspiel« annoncieren, während der Schluß »weit« abfalle) den Lektürebericht vom November 1845 nach der Ankunft in Wien (B III 29of.). Vgl. zu diesem Widerspruch auch Helmut Kreuzer, Die Tragödien Friedrich Hebbels. Versuch ihrer Deutung in Einzelanalysen. 1956. S. 7. Hamburgische Dramaturgie, 24. Stück (Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. 1970/79. Bd. IV. S. 34of.). 285
hin erweitert, daß das Drama dessenungeachtet den höchsten Gehalt der Geschichte in sich aufnehmen kann und soll« (W X I 60). Doch die spätere Gleichschaltung von Drama und Geschichte ist damit noch nicht vorgenommen. Als der eigentliche Wegbereiter des thematischen - und also nicht bloß vom Stofflichen her so erscheinenden - Geschichtsdramas im 19. Jahrhundert hat bekanntlich Herder zu gelten.6 Der Verfasser des Shakespeare-Aufsatzes (von 1773) führt mit seinen dithyrambischen Tiraden eine historisierende Betrachtung des Dramas ein, bringt seine einzelnen Merkmale erhellend mit seinen jeweiligen geschichtlichen Vorgegebenheiten (»Zeit- Vaterlands- Religions- Sittenumstände«) zusammen, entzieht sie damit der Regelung durch die normative Poetik und öffnet das Drama gleichermaßen für die Genieästhetik und für die andrängende geschichtliche Realität. Das Geschichtsdrama des 19. Jahrhunderts lebt, ob nun im nationalen oder universalen Rahmen entworfen, ob optimistisch oder pessimistisch gestimmt, vom Glauben an eine potentielle Sinnhaltigkeit der je aufgesuchten Vorgänge, Konflikte, Innovationen oder Scheiterungen. Es lebt nicht zuletzt von der Uberzeugung, daß das Drama kraft seiner spezifischen Formgesetzlichkeit über eine besondere Affinität zu den geschichtlichen Abläufen verfügt. Geschichte bleibt unter solchen Prämissen nicht bloß ein Lessingsches »Repertorium«, in das der Dichter je nach Zweckmäßigkeit hineingreift oder auch nicht, sondern erlangt umgekehrt Instanzencharakter, kann geradezu zum Äquivalent für den verlorenen Mythos aufrücken.7 Im Horizont solcher Erwartungen kommt es im 19. Jahrhundert auch zu desillusionierenden Brüchen der historischen Dramatik (wie bei Grabbe), zu Zweifeln an ihrer Legitimität (wie bei Grillparzer), schließlich sogar zu Attacken auf sie. Richard Wagner verwirft das Historische als Überfremdung eines ursprünglichen menschlichen Gehalts, den er im Mythos meint ergreifen zu können (und durch sein musikalisches Drama in einem hochproduktiven Symbolismus vergegenwärtigt, dem gleichwohl das Historische seiner Entstehungszeit, ja vielleicht sogar seines ganzen Jahrhunderts eingezeichnet
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Vgl. dazu - und überhaupt zu dem in Rede stehenden Dramentypus - Friedrich Sengle, Das historische Drama in Deutschland. Geschichte eines literarischen M y thos. 1952/74 (zu Herder S. 39ff.). Herders Bedeutung fur die Herausbildung des geschichtlichen Bewußtseins überhaupt arbeitet, immer noch höchst schätzenswert, Friedrich Meinecke in seinem historischen Standardwerk heraus (Die Entstehung des Historismus. 1936, 2 i94ö. Vgl. S. 378ff.). Zur Textbasis der oben gegebenen Skizze vgl. Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. 1877/1913. Bd. V. S. 209ff. Vgl. etwa Benno von Wiese, Geschichte und Drama. In: Geschichtsdrama. Hg. von Elfriede Neubuhr. 1980.
ist).8 Geschichte und Mythos sind von Wagner oppositorisch gefaßt, und daraus ergibt sich beim jungen Nietzsche (in der >Geburt der TragödieUnzeitgemäßen Betrachtungen^ eine radikale Kritik des historischen Bewußtseins. Das Verhalten zur Geschichte, wie es durch den Historismus eingeübt worden ist, weckt Bedenken, weil die Vergangenheit, die es im Bewußtsein immer mehr anwachsen läßt, immer weniger in zukünftige Willens- und Lebensmöglichkeiten umgewandelt werden kann: Das Uebermaass von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.'
Dieser Angriff Nietzsches auf den Historismus erfaßt auch Geschichtsphilosophen (Hegel und Hartmann), die ein unschöpferisches Spätzeit-Bewußtsein erzeugen, das in Ironie und Parodie nur noch seine eigene Ohnmacht verlarvt. 10 Das Geschichtsdrama wäre von solchen Verdikten mitgetroffen, soweit es in einem bloß »antiquarischen« (oder »objektiven«) Verhältnis zur Vergangenheit gründet und ihren Einfluß in die »Kraft der Gegenwart« blokkiert." Freilich: Ein nennenswertes historisches Drama gibt es zum Zeitpunkt von Nietzsches kritischer Analyse in Deutschland schon nicht mehr. Neben solcher Problematisierung des historischen Bewußtseins steht Hebbel keineswegs unberührt. Wie ein Blick auf seine einschlägigen Äußerungen, Einfalle oder Fragen zeigt, ist sein Verhältnis zur Geschichte von Schwankungen und Unsicherheiten bestimmt. 11 Immer wieder läßt sich feststellen, daß ihn - anders als Grillparzer - die Nationalgeschichte innerlich und ästhetisch nicht bindet (vgl. Τ 2946). Aber auch der hegelianische Universalismus wird von Hebbel nicht ohne Vorbehalt übernommen. Während für Hegel die »Weltgeschichte« bekanntlich »der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« ist, 13 stellt Hebbel eben diesen Fortschrittsglauben gezielt in 8
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Vgl. dazu Wagners wichtigste Programmschrift >Oper und Drama« (1851), zu ihrem Indikations wert im Hinblick auf die Entmächtigung des historischen Dramas im späteren 19. Jahrhundert die Bemerkungen F. Sengles (wie Anm. 6, S. 245ff.), zur aktuellen Diskussion von Wagners Werk den Sammelband: Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner >Der Ring des Nibelungen«. Hg. von Dieter Borchmeyer. 1987. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fur das Leben (1874). — In: Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abt. III, Bd. I. 1972. S. 325. Vgl. ebd. S. 303ff.
Vgl. ebd. S. 281fr.
Vgl. F. Sengle, wie Anm. 6, S. 212. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. XII. 1970. S. 32).
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Frage, macht er eine affirmative Berufung auf das »Welt-Gesetz« problematisch und rückt er kritisch von den »Herder-Hegelschen Constructionen des sogenannten welthistorischen Processes« ab (T 3914). Gewiß, ein Aphorismus zeichnet die Geschichte als »das Gedächtniß der Menschheit« aus (T 400 j), und der Kritiker macht es dem Dichter zur Pflicht, sich in den »Schatzkammern« umzusehen, »in denen die Menschheit ihre Schätze aufbewahrt«, und zu diesen rechnet er ausdrücklich auch die »Geschichte« (W X I 121). Aber die früh geäußerte Uberzeugung, daß die Geschichte - als »Inhalt der Menschheit« - »die Quelle alles Trostes, das Fundament aller Hoffnung unsers zweideutigen Geschlechts« sei (Β VIII 16), wird scharf durchkreuzt von einem Einfall wie diesem: »Die Bestialität hat jetzt Handschuh über die Tatzen gezogen! Das ist das Resultat der ganzen Weltgeschichte« (T 842). Und der Inhalt der »Schatzkammer« (s.o.) macht nach einer Notiz von 1859 »zuweilen einen Eindruck [...], als ob sie der Traum eines Raubthiers wäre« (T 5659).14 Vernunft und Fortschritt spielen darin mutmaßlich keine erhebliche Rolle, eher wohl drängen sich Mechanismen der Bestialität und Vernichtung auf, wenn nicht gar schon die Symptome einer »Krankengeschichte von Irren«. 15 Mehrfach stellt sich - naheliegend für einen Dramatiker - der Gedanke an die ausgleichende Kraft der Geschichte bei Hebbel ein (vgl. W X 354, Τ 2253 u.ö.). Doch dieser Gedanke begegnet auch in einer herabgestimmten Wendung: »Die Geschichte bringt alles wieder ins Gleiche, aber wer kann von dem Gedanken an seine Grabschrift leben?« (T 5160) In einer solchen Frage bereitet sich schon Nietzsches Einsicht vor, daß die Geschichte nicht bloß in einer Erkenntnisbeziehung zum Subjekt stehen dürfe. Diese müsse ihrerseits in einen Lebensantrieb verwandelt werden, denn »ein Erkennen, welches das
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Von einer derart aggressiven Skepsis ist bekanntlich auch Schopenhauers Vorstellung eingefärbt: Ihm gilt - mit polemischer Spitze gegen die »Hegelianer« - Geschichte nur als »der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit«, ihr Stoff »kaum noch als ein der ernsten und mühsamen Betrachtung des Menschengeistes würdiger Gegenstand« (Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. II. Kap. 38; Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. v. Löhneysen. 1961/65. Bd. II. S. 567f.). Wenn Herbert Kaiser in Hebbels Geschichtsverständnis »Sinn und Vernunft« vermißt, so bleibt - gerade auch mit Blick auf Schopenhauer - zu fragen, ob man das einfach als kaum verhohlene Kritik an Hebbel vortragen darf (vgl. Friedrich Hebbel. Geschichtliche Interpretation des dramatischen Werks. 1983. Bes. S. 170, 175 u. 191). Müßte nicht eine »geschichtliche Interpretation« beachten, daß es mit »Sinn und Vernunft« im 19. Jahrhundert eine zunehmend problematische Bewandtnis hat, der man nicht einfach mit Gegen-Setzungen entkommen kann? So Gottfried Benns medizinisch desillusionierte Diagnose (Zum Thema Geschichte; Gesammelte Werke in 8 Bdn. Hg. von Dieter Wellershoff. 1975. Bd. III. S. 945)·
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Leben vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben«.'6 Wenn schon 1840 bei Hebbel »die Frage« auftaucht, »ob die Geschichte eine Wohlthat des Menschengeschlechts ist«, so ist Nietzsches Unterscheidung von »Nutzen und Nachtheil« der Historie für das je gegenwärtige Leben bereits angebahnt. Die Vergänglichkeit auch des Größten vom Range Shakespeares und Goethes wird postuliert, »wenn nicht der lebendige Sprudequell der Schöpfung erstickt werden soll« (T 1995). Die Ankündigung eines lebensbezüglichen Denkens ist auch daran erkennbar, daß die »Göttlichkeit« der Geschichte - die in ihrer Unendlichkeit erblickt wird - ohne weiteres mit der Frage nach ihrem »Werth für uns« verbunden wird (vgl. W X 353), der alte Substanzcharakter also von einem neuen Funktionsdenken her gestützt werden muß. Die vielfältigen Äußerungen Hebbels zur Geschichte lassen sich nicht systematisieren, sondern zeigen - nicht anders als seine Einlassungen auf Fragen der Theologie - , welchen Gebrauch er von seiner Denkfreiheit macht und wie er damit zwischen die Positionen von Hegel, Schopenhauer, Burckhardt und Nietzsche gerät. Im Verhältnis zur Individualität kann Geschichte für das Große und Ganze, für das Allgemeine stehen (vgl. W IX 226), für den - pantheistisch verstandenen - »Lebensproceß« (vgl. Τ 1822). Uber die konkrete Erfahrung der Geschichte verrät jedoch, womöglich über Hebbels Selbstverständnis hinaus, die »Mühlen«-Metapher einiges, die sich zweimal prononciert einstellt (vgl. Τ 3048 u. 5992). Von einer einheitlichen Perspektive oder der Dominanz eines Fortschrittsglaubens kann jedenfalls für das Hebbelsche Geschichtsdenken keine Rede sein. Wohl aber davon, daß die Orientierung des Dramatikers Hebbel ab 1847 strikt historisch ist. Der Eintritt »in ein neues Stadium«, in der Selbstbetrachtung schon 1846 vermerkt (B III 337), hat nicht bloß die bekannten biographischen Aspekte (Heirat und Konsolidierung der Lebensverhältnisse). Hebbel betritt eine neue ästhetische Sphäre, indem er sein dramatisches Werk fortan in den Horizont des Hegelianismus rückt. Diese historisierende Wendung der eigenen Dramatik gilt es vor dem Hintergrund eines unruhig flakkernden Geschichtsdenkens wahrzunehmen, um solchermaßen den Neuansatz von >Herodes und Mariamne< ermessen zu können. Schon in Paris war Hebbel - vor allem durch den Kontakt mit Felix Bamberg - die ebenso autoritätsheischend ausgespielte wie mittlerweile (um 1840) schematisierend abgeklapperte Denkform nahegebracht worden, die den Namen des Philosophen als Gütesiegel führt. Man sieht die Folgen am Theorierahmen, den Hebbel um sein bürgerliches Trauerspiel legt, wie schon an der Terminologie dieses Vorworts zu >Maria Magdalenas Die »weltgeschichtliche Aufgabe selbst« (W X I 57), an deren Lösung das Drama - zu seiner Rechtfertigung - mitarbeiten soll, erscheint als solche von hegeliani16
Wie Anm. 9, S. 326t 289
scher Provenienz. Das spekulative Erbe macht sich geltend, wenn der theoretisierende Hebbel »das almälige Fortrücken der Menschheit in der Lösung ihrer Aufgabe« als Blickpunkt für die dramatische Geschichtsarbeit fixiert, wenn er das Drama darauf verpflichtet, den »Gehalt der Geschichte in der Schaale der speciellen Perioden« aufzunehmen, aber von der Zumutung entlastet, kontingente Ereignisströme faktengetreu zu reproduzieren (W X I 59f·)· 17 Auch als Kommentator der Vorgänge des Jahres 1848 greift Hebbel zum hegelianischen Interpretationsraster. Anders als in seiner gleichzeitigen politischen Publizistik, die sich um eine sachnahe Darstellung der verwickelten Vorfälle und Streitpunkte bemüht, drängen in der privaten Korrespondenz neben dem persönlichen Urteil auch die hegelianischen Universalien in den Vordergrund: Die politischen und sozialen Probleme des Vormärz bündelt er über die Parteibildungen hinweg als »morschen Weltzustand« zusammen (Β IV124), so daß er auch eine »ungeheuere Weltcrisis« eingetreten (Β IV103), gar einen »Weltbrand« entfacht sieht (Β IV 141). Hebbel beruft »in der jetzigen großen Crisis« sogar den »Welt-Geist« selbst, setzt ihn in Hegelscher Weise als ein gleichsam personales Subjekt und verschafft sich so eine herausgehobene Wahrheitsinstanz, angesichts derer den streitenden »Partheien« leicht ihre nur »relative Berechtigung« demonstriert werden kann. Nicht zufällig schlägt Hebbel dann von solcher Zeitgenossenschaft die Brücke zur Kunst, läßt er durchblicken, daß noch der widrigste Erlebnis-»Stoff« seine »Mühle« treibe - und spricht er von seinem neuen Tragödienprojekt (Β IV 129). Tatsächlich kann man >Herodes und Mariamne< anmerken, daß das Drama in den unruhigen Tagen von 1848 entstanden ist. Aber dieses Einfangen der Zeitatmosphäre war offenbar nur möglich, weil zuvor schon in der Formanlage des Ganzen für die nötige Stabilität gesorgt worden ist. Das Rad, das Hebbels »Mühle« treibt, steht unter einem gleichsam weltgeschichtlichen Antrieb. Erst jetzt wirkt sich der Hegelianismus vollauf in der Hebbelschen Dramatik aus: nicht bloß darin, daß wie in der Pariser Zeit um das Werk ein entsprechender Theorierahmen gelegt würde (dem im bürgerlichen Trauerspiel noch keine durchgängige Historisierung der inneren Form entspricht), sondern in der Erweiterung der Formkapazität durch das Moment geschichtlicher Spannimg und geschichtlicher Bewegung, freilich auf dem Terrain der Vergangenheit. Es ist bezeichnend, daß Hebbel Ende 1846 auch sein eigenes bisheriges Werk nicht ausgenommen hat, als er vermerkt, daß zu wahrhaft historisieren-
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Entsprechend dem Votum Hegels: »[...] Geschichte ist nur das, was in der Entwicklung des Geistes eine wesentliche Epoche ausmacht« (wie Anm. 13, S. 178).
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der Dichtung »kaum noch die Anfänge« gegeben seien - nachdem er das folgende Programm entwickelt hat: Wie jede Kristallisation von gewissen physikalischen Bedingungen abhängt, so jede Individualisirung des menschlichen Wesens von der Beschaffenheit der Geschichtsepoche, in die es fällt. Diese Modificationen der Menschen-Natur in ihrer relativen Notwendigkeit zur Anschauung zu bringen, ist die Haupt-Aufgabe, die die Poesie, der Geschichte gegenüber, hat, und hier kann sie, wenn die reine Darstellung ihr gelingt, ein Höchstes leisten (T 3865).
Deutlich bereitet diese Überlegung mit ihrer Betonung von historischen »Modificationen« der menschlichen Natur die Konzeption der - bald darauf begonnenen - historischen Tragödie vor. Wie sich überhaupt in der späteren Zeit Hebbels Sinn für die historische Aura der dramatischen Motivik schärft, zeigt zum Beispiel eine i860 vorgenommene Bemängelung von Lessings >Emilia GalottiJulia< als »eine ganz neue ethische Lösung des tragischen Verhältnisses« (Β IV 65) anschließen, als Versuch, die Problemrelikte der sozialen Tragödie experimentierend zu beseitigen. Erst die historische Tragödie, die in einem kaum faßbaren Nebeneinander zur mißratenen >Julia< ab Februar 1847 zu entstehen beginnt, wird die »Lösung des tragischen Verhältnisses« im Geschichtlichen suchen und Hebbels Dramatik damit auf die von Rötscher vorgezeichnete Spur bringen. A m 22. Dezember 1847 berichtet Hebbel, mit >Herodes und Mariamne< befaßt, Rötscher von Motivierungsproblemen, die der von Flavius Josephus überlieferte Stoff für den Dramatiker aufwirft: Aus der Ferne betrachtet, schreckte er mich im Anfang ab; aber aus ganz anderen Gründen, als woraus dieß sonst wohl der Fall ist. Er schien mir schon zu vollendet, zu abgerundet in sich, um dem Künstler auch nur noch so viel Arbeit zu geben, als nöthig ist, wenn er sich begeistern soll, er schien mir geradezu eine derjenigen Tragödien zu seyn, wie sie, obwohl sparsam, in vollendeter Gestalt ohne Beihilfe des Dichters der historische Geist selbst hervorbringt. Nahebei besehen fand ich das freilich etwas anders. Es kommen im Gegentheil in der Geschichte des Herodes Dinge vor, die so unglaublich hingestellt sind, daß wohl der bornirteste Gegner Ihrer hier in Frage stehenden Ansicht nicht verlangen wird, daß der Künstler sie so in den Kreis seiner Darstellung aufnehmen soll und daß ein Dichter, der sich, wie ich, die Aufgabe setzte, eine Tragödie absoluter Nothwendigkeit hervor zu bringen, in Verzweiflung gerathen muß (Β IV 72f.).
Hebbel belegt dies damit, daß nach der historischen Quelle Joseph der Mariamne den ersten Tötungsbefehl des Herodes mitteilt, um ihr dessen Liebe vor Augen zu stellen 26 - welches »verrückte Motiv [...] fast nicht in Vernunft umzusetzen« ist (T4334). Für den Dramatiker bleibt also auch hier genug zu tun, um die »Würde des Gegenstandes« zu bewahren und zugleich das G e 24
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Vgl. dazu eine Studie von Walter Schnyder, deren philologisch gut gestützte Nachweise von Rötschers Einwirkung auf die Entstehung von >Herodes und M a riamne< in der Hebbel-Forschung nicht gebührend beachtet worden sind: Hebbel und Rötscher unter besonderer Berücksichtigung der beiderseitigen Beziehungen zu Hegel. 1923. Bes. S. ioyff. In der Besprechung der ersten Berliner Aufführung auf dem Königsstädtischen Theater (am 27. April 1848), publiziert in den Jahrbüchern für dramatische Kunst und Literatur^ 1848; zit. nach: H K . S. 202. Vgl. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer. Obers, von Heinrich Clementz. o. J . Buch X V . Kap. 3. Abschn. 6. 2
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schehen so zu motivieren, daß es menschliche Einsichtigkeit behält, wenn nicht erst erlangt (vgl. Β IV 7}ί.). Alles dies wird nun auf Rötschers »Ansicht« bezogen: Hebbel offeriert seinen Bericht als »Bestätigung« für denjenigen »Punct« von Rötschers »Theorie, der das Verhältniß der dramatischen Kunst zur materiellen Geschichte betrifft« (Β IV 72). Der hegelianische Ästhetiker hatte 1846 eine Abhandlung >Das Recht der Poesie in der Behandlung des geschichtlichen Stoffes< publiziert, 27 in der er allzu weitgehenden Forderungen nach Faktentreue für das historische Drama entgegengetreten war. In den von Rötscher herausgegebenen Jahrbüchern für dramatische Kunst und Literatur< hatten u. a. Julius Mosen und Melchior Meyr - Hebbels späterer Konkurrent im Stoffgebiet der >Agnes Bernauer< für eine Identität von Dichtung und Geschichte plädiert. Deren Unmöglichkeit belegt Hebbel auf der Linie früherer Auffassungen (vgl. W XI 6) u. a. durch das Joseph-Beispiel (vgl. auch Β IV 6}). Rötscher grenzt in seiner A b handlung die Forderung nach distinkter Entsprechung von historischer Wirklichkeit und historischem Drama auf die großen weltgeschichtlichen Umbildungsphasen ein.28 Manche Begebenheit sei in der Geschichte schon gleichsam poetisch vorgeformt - im übrigen läßt der Ästhetiker dem Dichter alle Freiheit in der Erfindung und Verknüpfung der Pragmata, unter der Prämisse, daß im Ganzen der »Geist f...] der geschichtlichen Wahrheit« respektiert wird. 29 Denn selbstverständlich: Rötscher ist Hegelianer, und für einen solchen darf kein Dichter nach subjektivem Belieben mit den historischen »Manifestationen« des »Weltgeistes« umspringen. 30 Aber er ist bei allem Hang zum Deduzieren doch kunstverständig genug, um aus der Präsenz der »Gottheit« in der Geschichte nicht auch schon eine Art Heiligung jeder historischen Einzelheit abzuleiten. Schon Hegel selbst hat gegen eine gewisse »Kleinkrämerei des Glaubens an die Vorsehung« den großen Blick auf »die Wege der Vorsehung, die Mittel und Erscheinungen in der Geschichte« ausgespielt.31 Entsprechend fordert sein Gefolgsmann vom Drama, daß es den solchermaßen groß angesehenen Prozeß der Geschichte darstellen und also »ein reines A b -
Als Einleitung des dritten Teils von Rötschers »Kunst der dramatischen Darstellung< (Tl. I: 1841; Tl. II: 1844). Hier: S. 3-54. - Vgl. zu Rötschers Abhandlung W. Schnyder (wie Anm. 24, S. I26ff.). 28 Wie Anm. 27, S. 33f. u. 36f. 29 Ebd. S. 30 u. 46f. 30 Vgl. ebd. S. 36 u. 50. 31 Vgl. wie Anm. 13, S. 26. - Bekanntlich hängt es von solcher Erweiterung der Perspektive und also in letzter Instanz von Hegels »Weltgeist«-Apriorismus ab, ob die »Schlachtbank« der Geschichte mit einem vernünftigen »Endzweck« verbunden werden kann oder nicht (vgl. ebd. S. 35). 27
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bild des Weltgeistes in seiner unerbittlichen, alle Einseitigkeiten richtenden Dialektik« aufstellen solle. 32 Vor diesem Hintergrund schließt sich Hebbels zitierter Brief an Rötscher auf, insonderheit die Anerkennung, daß schon »der historische Geist selbst« gleichsam Dramen in nuce schaffen könne. 3 3 E s wird deutlich, daß Hebbel die Anlehnung an die ästhetische Theorie Rötschers sucht. A l s der Dichter 1848 eine Tagebuch-Notiz aus dem Jahre 1845 über Lord Byron (vgl. Τ 3487) in Gustav Kühnes Zeitschrift >Europa< veröffentlicht, fügt er einen Passus über den >Manfred< ein, der sichtlich von Rötschers - inzwischen zur Kenntnis genommener - Abhandlung über die Byronsche Tragödie inspiriert ist. 34 A u c h ist zu vermuten, daß sich Hebbel ausgiebig mit Rötschers kunstphilosophischen Publikationen vertraut gemacht hat. 3 ' Die wiederholte Lektüre der »Abhandlungen über die Wahlverwandtschaften und den Lear« ist jedenfalls bezeugt wie auch ihre Wirkung: »Respect« vor dem »außerordentlichen Kunstbewußtseyn« des Verfassers (Β I V 80). Daß diese Wirkung in die D e tailarbeit an >Herodes und Mariamne< greift, ist gleichfalls dokumentiert. A u c h als Kritiker Hebbels, und zwar seines bürgerlichen TrauerspielsHerodes und MariamneLudovicoAbhandlungen zur Philosophie der Kunst< vereinten in der >ersten Abtheilung< (1837) zwei Stücke: >Das Verhältniß der Philosophie der Kunst und der Kritik zum einzelnen Kunstwerke< (S. 1-72; hier S. 38-41 schon Bemerkungen über Goethes >WahlverwandtschaftenKönig Lear. Trauerspiel in fünf Abtheilungen von Shakespeare< (S. 73-150). Zur Abhandlung über die >Wahl Verwandtschaften« (»zweite Abtheilung«, 1838) vgl. Β IV 70, ferner: S. 33 dieser Untersuchung.
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Schaft einer neuen sittlichen Weltordnung, die sich aus dem Untergang des entarteten Geschlechts mit unerschütterlicher Gewißheit erhebt, einen versöhnenden Abschluß, und entlassen uns mit einem freiem Athemzuge, als Maria Magdalena.' 6 In Rötschers >LearRomeo und Julia< zeigte der mit sicheren Schritten deduzierende Ästhetiker (hier wohl mit der dramatischen Wirklichkeit am deutlichsten im Widerspruch), daß mit dem Tod der Liebenden kein Letztes erreicht sei: Der Untergang der Individuen wird [...], und darin liegt die tiefste Versöhnung des tragischen Konfliktes, zur Geburtsstätte des öffentlichen Wohls, zur Wiedergeburt des politischen Lebens. Damit erhält der Tod der Individuen aber die erhabene Bedeutung eines Opfers für ein sittliches Ganze und der Eindruck, welchen dieser Ausgang hinterläßt, ist ein weltgeschichtlicher. 38 U m einen solchen »weltgeschichtlichen Eindruck« ist es Rötscher letztlich im Drama zu tun. Daher legt er dem Dichter dringlich die Form versöhnender Wendepunkt-Dramatik nahe. 39 Wie Hebbel sich die Versöhnungstheorie des Hegelianers zu eigen macht, wird vom Dreikönigsschluß seiner wohl bedeutendsten historischen Tragödie aus näher zu erörtern sein. Zunächst ist festzuhalten, daß durch Kritik und Appell Rötschers überhaupt eine historisierende Perspektive in die Hebbelsche Dramen-Form hineingelangt (und nicht mehr bloß, wie in den früheren Arbeiten, am Denkrand mitläuft). Wie verbindlich diese Perspektive dem Dichter selbst angesichts seines Werks geworden ist, zeigt unwiderleglich die Massinger-Kritik: Die Transposition von Judäa nach Italien, von Herodes zu Herzog Ludwig Sforza, vom Zeitalter der römischen Duumvirn zu dem Karls des Fünften sei der Kardinalfehler dieser Version des Herodes-Stoffs. Denn sein unverwechselbarer 36 37
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Wie Anm. 25. Wie Anm. 35, S. 89. - Vgl. S. 141 ff. zur entsprechenden Deutung des Schlusses, namentlich des Todes der Cordelia. Als »vierte Abtheilung« der >Abhandlungen zur Philosophie der Kunst« (1842) legte Rötscher Analysen von >Romeo und Julia« (S. 1-97) und >Der Kaufmann von Venedig« (S. 98-182) vor. - Zitat: S. 13 (vgl. auch W. Schnyder, wie Anm. 24, S. io9f.). Was Rötscher am 1. 11. 1848 als ästhetische Auszeichnung von >Herodes und Mariamne« hervorhebt, versteht sich im Lichte der am 17. 12. 1847 erhobenen Aufforderung an Hebbel, nach der »Versöhnung in der Form der Nothwendigkeit« nun diejenige in der »Form der Freiheit« in der Tragödie selbst vollständig zu realisieren, d. h. nicht der Reflexion des Betrachters zu überlassen (vgl. H B F II 308 u. 300). Dabei ist bemerkenswert, daß Rötscher Anfang November 1848 der - noch gar nicht gedichtete - Tragödienschluß mit dem Auftritt der drei Könige nicht vorliegt und der »weltgeschichtliche Eindruck« schon von dem in Mariamnes Untergang sich bezeugenden »Siege der ihrer Unendlichkeit sich bewußten Subjectivität« (ebd. S. 308f.) empfangen wird.
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Geschichtsmoment gehörte [...] mit eben so großer N o t w e n d i g k e i t zu diesem Bilde, wie Syriens Sonne zu Syriens Palmen; er war gar nicht zu entbehren, und das Stück gleicht jetzt einem fremdartig und traurig dastehenden asiatischen Gewächs unter europäischem Himmel. Es ist dadurch nicht etwa bloß farblos geworden, es hat seine Seele selbst eingebüßt, man begreift es nicht mehr (W X I 2 5 jf.).
Die Veränderung der historischen Koordinaten hat den Herodes-Stoff um sein inneres Lebensprinzip (»Seele«) gebracht, seinen menschlichen Gehalt ins Unbegreifliche entstellt. Gewiß, der richterliche Ton des Kritikers will das Sakrileg brandmarken, daß überhaupt jemand in seine Kunstregion einzubrechen gewagt hat. 4 ° Es besteht indes kein Grund, daran zu zweifeln, daß Hebbel für sein eigenes Drama auch meint, was er hier kritisch vorbringt das »Stück« ist es ja, das er durch Massinger / Deinhardstein pervertiert sieht, nichts anderes als sein eigenes, bereits abgeschlossenes! Im Bewußtsein der schon vollbrachten Leistung fordert der Kritiker für den Stoff eine historische Motivation, welche die sonst trotz ihrer documentarisch nachzuweisenden Richtigkeit unglaublich und unwahrscheinlich bleibenden s p e c i e l l e n Ereignisse und Handlungen aus den a l l g e m e i n e n Zuständen der Welt, des Volks und der Zeit hervorgehen zu lassen versteht, die das F i e b e r des Herodes aus der A t m o s p h ä r e , in der er athmete, und diese aus dem d a m p f e n d e n , v u l c a n i s c h e n B o d e n , auf dem er stand, zu entwickeln weiß ( W X I 253).
Im Drama fragt sich Mariamne, ob das verletzende Tun des Herodes einem »Fieber der gereizten Leidenschaft« entsprungen ist, unter dem sein »Innerstes« noch unversehrt geblieben sein könnte (V. i8o}ff.). Dabei handelt es sich um eine für Mariamne - als Frau - kennzeichnende individualpsychologische Sichtweise, die Hebbels nachträglicher Kommentar dadurch erweitert, daß er eine politisch-historische Kausalität für die Pathologie des Herodes betont. 4 ' Und weiter: Man darf die vielzitierte Wendung vom »dampfenden, vulcanischen Boden« nicht isoliert sehen, sondern hat zu ihrem Verständnis einen bestimmten Anspielungskontext mitzuerfassen. Die Wendung taucht auch zeitgleich in Hebbels politischer Publizistik auf und bezieht sich dort auf die Unruhen von 1848 (vgl. W X 156). Aber Hebbel zitiert nicht bloß sich selbst, sondern auch Rötscher, der über die »Stellung« des Herodes und die Motivation seines Handelns gegenüber Mariamne ausgeführt hat: 40
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Wenn Hebbel mit seiner Kritik »in jedermann die Ueberzeugung hervorzurufen« bestrebt ist, »daß der köstliche Schatz noch ganz unberührt daliegt« (W X I 254), so wird damit natürlich die eigene Schatzhebung angekündigt. Die Daten: am 14. II. 1848 Abschluß der Arbeit an >Herodes und MariamneLudovicoHerodes und Mariamne« im Hofburgtheater; Ende 1849 Beginn der Drucklegung des Dramas. Er wird in »fieberischer Leidenschaftlichkeit« vorgeführt (W X I 249), welche Charakterisierung leitmotivisch wiederkehrt (vgl. 251, 253 u. 259): in ihr trifft das Psychologische mit dem Politisch-Historischen zusammen.
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E r steht auf einem Vulkan und fühlt es; dies bringt jene fieberhafte Spannung in ihm hervor. Er kennt seine Größe, seine Bedeutung, aber er weiß auch, wie unterhöhlt der Boden ist, auf dem er steht, wie unterwühlt seine ganze Herrschaft ist. 41 Daß Hebbel den bekannten Ästhetiker in eigener Sache anführt, ist deutlich genug. Im Briefwechsel zwischen den beiden läßt sich eine ausgiebige K o m munikation nicht nur bezüglich des dramenästhetischen Fragenkreises feststellen. 43 Bei allen Distanzierungen, die Hebbel gelegentlich auch vornimmt (vgl. W V I 357), bleibt unzweifelhaft, daß Rötscher eine Mentorenrolle bei der Ausarbeitung jener Kulturstufen-Tragödie spielt, die Hebbel bis zur >NibelungenHerodes und MariamneJahrbüchern< »die Bedeutung des Werkes wenigstens in seinen Grundzügen« darlegen zu können. 4 ^ A m 28. Juli 1849 teilt er mit, daß der erste A k t mitsamt seiner »Einleitung« demnächst erscheinen werde. 4 7 Rötschers Beitrag entwickelt das 42
An Hebbel, 1. 11. 1848 (HBF II 310). - Vgl. den Nachweis auch schon bei W. Schnyder, wie Anm. 24, S. 22 u. I4sf. 43 Auch Theaterfragen (wie Aufführungsmöglichkeiten, Besetzungsprobleme oder Gastspielreisen) spielen eine beträchtliche Rolle. Etliche Briefe Hebbels an Rötscher sind verloren gegangen, nach R. M . Werners Vermutung 1862 beim Brand von Rötschers Büro vernichtet worden (vgl. W X I I 414). Einige weitere Briefe Rötschers — über die bereits von Felix Bamberg in der Edition des Briefwechsels mitgeteilten Stücke hinaus - sind mittlerweile in der Sammlung Moriz Enzingers (= B A H I) greifbar. - Bei Hebbel sind in der Beziehung zu Rötscher zweifellos utilitaristische Motive im Spiel (vgl. Τ 4192). Doch gibt es immerhin auch - nach dem Besuch in Berlin (1851) - durchaus glaubhafte Bekundungen persönlicher Sympathie (vgl. Τ 4930, W X I9if.). Nach 1851 bricht der Kontakt jedoch abrupt ab. 44 Vgl. Rötscher an Hebbel, 18. 10. 1847 (HBF II 298). 4 5 An Hebbel, i. 11. 1848 (HBF II 307ff.) und 7. 11. 1848 ( B A H I i8iff.). 46 B A H I 182. 47 B A H I 196. - Diese »Einleitung« ist abgedruckt in W II (415-417). 298
Werk auf hegelianischen »Grundlinien«, weist abermals auf die »fieberhafte Spannung« des Herodes als ein historisches Symptom hin und akzentuiert schließlich die letzte »Perspective« der »Geburt des Kindes, von dem ein neuer Geist über die Welt ausgeht« (W II 416). Wenn sich die enge Verbindung zwischen Hebbel und Rötscher bis in die Publikationsstrategie hinein verfolgen läßt, so ergibt sich daraus, daß man die Diskussion um >Herodes und Mariamne< nicht gut außerhalb dieses ästhetisch-literarischen Kontextes führen kann. Angesichts der in den letzten Jahrzehnten dominierenden Forschungstendenzen erscheint diese Erinnerung wohl angebracht - daher die relativ ausführliche Nachzeichnung der ästhetischen Kommunikation zwischen Hebbel und Rötscher. Damit kann natürlich nicht jeder Einzelschritt der folgenden Interpretation bereits im vorhinein festgelegt sein, denn ein derart komplexes Drama wie >Herodes und Mariamne< erschöpft sich nicht darin, Rötschers Ästhetik zu reflektieren. Die Differenzlinie bleibt zu ziehen, aber es wäre für die Diskussion schon viel gewonnen, wenn man beachtete, daß es hier etwas zu differenzieren gibt und daß nicht erst der Dreikönigsschluß den Hegelianismus in Hebbels Drama bringt. Natürlich kann ein Dramatiker, der lebenslang gegen Hegels Diktum vom >Ende der Kunst< angegangen ist, allein schon deshalb nicht vorbehaltlos zur Ästhetik der Hegel-Schule stehen. Sogar in einem harmlosen Reisebericht deutet Hebbel 1851 eine reservatio mentalis in dieser Richtung an (vgl. W X 191 f.)· Andererseits kommt er der Hegeischen Geschichtsphilosophie im Kontakt mit Rötscher sehr nahe, wobei die Art seiner Rezeption wohl mit der Selbsteinschätzung seines Verhältnisses zur Philosophie umschrieben werden kann: Meine Schranke [...] besteht darin, daß der spekulative Prozeß als solcher mir ganz und gar verschlossen ist, während mir die Resultate der Philosophie nicht so unbedingt unzugänglich sind. 48
Die »Resultate« also sind es, die Hebbel auf ihre Verwertbarkeit hin betrachten kann, ohne daß dies eine völlige Identifikation im Prinzipiellen bedeuten muß. Der Hegelianer Felix Bamberg erhält von Hebbel 1846 ein Lobeswort dafür, daß er Hegel »zu einem bloßen Ferment (seiner) Entwickelung herabgesetzt« habe (B III 315). Man kann dieses Stichwort, freilich gegensinnig, aufnehmen, um Hebbels eigene »Entwickelung« zu kennzeichnen, die eben 48
An Immanuel Hermann Fichte, 9. 12. 1850 (zit. nach: Friedrich Hebbels Persönlichkeit. Gespräche, Urteile, Erinnerungen. Hg. von Paul Bornstein. 1924. B d . I. S. 568f.). - Vgl. schon eine entsprechende Bemerkung aus dem Jahre 1844 (B III 17), zum Thema »Hebbel und die Philosophie« ferner die ebenso aufschlußreichen wie launigen Streifzüge von Ludger Lütkehaus: Der Philosoph Hebbel und die Widersprüche im Denken des 19. Jahrhunderts — am Beispiel des PhilosophieBegriffs. In: HJ. 1984. S. 1 3 - 3 5 .
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dadurch eine neue Stufe erreicht, daß er nunmehr das sogenannte »Ferment« in das Drama eindringen läßt. Der Hegelianismus wird aufgenommen als eine nicht primär historische sondern ästhetische Größe, und nicht etwa deshalb, weil Hebbel eine solche vernunftorientierte Schematisierung der Geschichte inhaltlich vorbehaltlos bejahen würde, zu schweigen davon, ob er ihre geistesmetaphysische Intention überhaupt nachvollziehen kann. Seine persönliche Auffassung der Geschichte bleibt bis in die späteste Zeit uneinheitlich und gibt, wie gesehen, immer wieder sehr pessimistischen Konterkarierungen eines Substanz- und Fortschrittsglaubens Raum - von einer »Ehrfurcht« 49 kann hier, aufs Ganze gesehen, keine Rede sein. Die »Resultate« der Geschichtsphilosophie, ihre aprioristische Konstruktion des Weltganzen als eines vernunftgeleiteten Evolutionsprozesses werden von Hebbel in der Sackgassen-Situation der >Julia< genutzt im Interesse einer ästhetischen Stabilisierung der unsicher gewordenen hohen Tragödie. 50 Rötschers Ermunterung, die sich nach dem ersten Akt von >Herodes und Mariamne< abzeichnende »ächte Tragödie« nun auch zu vollenden, 51 dürfte Hebbels Kunstwollen im Innersten angestachelt haben. Nicht von ungefähr läuft die Linie solcher Erwartungen in das Fazit des Dramatikers aus, »einen Fortschritt gemacht zu haben« (T 4461). Es dürfte zu Hebbels besonderer Zufriedenheit gereicht haben, von Rötscher die Abstinenz gegenüber politischen Konfessionen (1848!) als ästhetischen Vorzug seiner historischen Tragödie gerühmt zu sehen (vgl. W II 416). Dafür wird er mit einer denn doch ehrenvollen Analogie ausgezeichnet: Die Schlußscene Ihrer Mariamne war am 2 1 ' October noch nicht geschrieben. Haben Sie die Kraft ufnd] die Stimmung gefunden, dieselbe unter dem Donnern der Kanonen zu vollenden? Vielleicht sind die letzten Striche des Gemäldes unter der Gewalt des furchtbaren Ereignisses gemacht worden, wie einst Hegel die letzte
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Nach F. Sengle die »Voraussetzung« des Geschichtsdramas: vgl. wie A n m . 6, S. 2 u. 245. — Das bei Goethe vermißte »gläubige Vertrauen an die Geschichte« (W X I 43) bringt Hebbel selbst nicht auf.
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Dabei bezeichnet es das Hebbelsche Dilemma, daß zwar die universalgeschichtliche Tragödie »für seine Person im literarischen Sinn richtig gewählt« ist, andererseits aber die Befreiung aus der Sackgasse der sozialen Dramatik selbst in eine »geschichtliche Sackgasse« — statt zu Jarry, Wedekind, Brecht und also zu neuen dramatischen Formentwicklungen — führt: so H . Kreuzers abwägende Beschreibung (Friedrich Hebbel. In: Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von B . v. Wiese. 1969, 2 i 9 7 9 . S. 469). V g l . an Hebbel, 18. 10. 1847 und 1. 11. 1848 ( H B F II 298 u. 310) - worin ja die Implikation steckt, daß den bisherigen Dramen von >Judith< bis >Julia< ein solcher ästhetischer Rang noch nicht zukommt. Hebbel, die indirekte Kritik in solcher Wertung wohl spürend, konterte etwas indigniert, daß seine früheren Werke wohl »Stufen« einer Weiterentwicklung, »nichtsdestoweniger aber für sich Spitzen darstellen« (Β I V 148).
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Seite seiner Phänomenologie des Geistes unter dem Donner der Kanonen von Jena daselbst schrieb.' 1
In diesem Stil schildert Hebbel dann ja auch, wie gesehen, die Entstehung der Schlußszene. Man kann im anekdotischen Detail ein Symptomatisches ausmachen: Der Blick über die unmittelbar erfahren Turbulenzen hinweg in die geschichtliche Entwicklung eröffnet den Kunstraum, der - hegelianisch vorstrukturiert - der Tragödie ihre gattungsspezifische Vollendung und Rechtfertigung ermöglicht. Auf dem ästhetischen Gewinn der Form durch das Moment der Historisierung liegt dabei zunächst der Akzent, nicht so sehr auf den Gefahren, die für die Kunstform der Tragödie auf dem Felde der Geschichte lauern. 53 Die Probleme werfen sich dann erst unlösbar auf, wenn der hegelianische Konstruktionsrahmen unter dem Druck des Faktischen bricht: Drängt sich als »das Unsterbliche« auf Erden »die Gemeinheit« auf, kann der »Trost mit einem höheren Weltplan« nicht mehr verfangen, 54 dann ist der Fortgang der Geschichte nicht mehr als eine sinnvolle Weiterentwicklung dramatisch darzustellen. In die Zone solcher Desillusionierung wird Hebbel mit dem >DemetriusHerodes und MariamneHerodes und Mariamnec Tragödie und Geschichte. In: H N S . S. 2Ö4f.). So Jacob Burckhardts skeptische Erinnerung: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hg. von Rudolf Marx. 1963. S. i82f. u. 164. 3°i
ihrem Maß >Herodes und Mariamne< besonders ausgezeichnet"), so bringt Heinz Schlaffer den nämlichen Befund unter ein negatives Vorzeichen: die »Metaphysik der Tragödie« berufe sich »auf das factum brutum der Biologie [...] in dem Augenblick, da die historischen Verfestigungen des >Geschlechtsunterschieds< immer mehr verfallen, Emanzipation beginnt«. Gerade die Auseinandersetzungen zwischen Herodes und Mariamne zeigen dem Ideologiekritiker, daß Hebbel gewaltsam Möglichkeiten eines vernünftigen Ausgleichs durch eine »kunst- und absichtsvolle Technik der Mißverständnisse« blockiert: »Ein Weniges, nämlich poetische Wahrscheinlichkeit, genügte, um den über die Figuren verhängten Bann der Borniertheit zu lösen.« Es folgt die Aufforderung: »Man sehe sich daraufhin III 6 von >Herodes und Mariamne< an.«' 6 Tun wir denn also. Registrieren wir vorweg, daß derlei auf die Dialogstrukturen abzielende Analysen in der Hebbel-Forschung eher marginal geblieben sind. Was in den Dramen an sprachlich-formalen Aspekten gesichtet worden ist, erscheint zumeist eingegliedert in weiter zielende Fragestellungen, die sich fast immer auf Weltanschauungsprobleme beziehen. Es fehlt an Versuchen, die dialogische Kommunikation als solche anzugehen oder auch im Zusammenhang von Stilanalysen näher zu erörtern - ganz im Gegensatz zur Forschungslage, wie sie sich für andere Dramatiker darstellt. 57 Gibt es auf diesem Feld bei Hebbel nichts zu analysieren, fehlt seinen dramatischen Dialogen jene unverwechselbare Eigenprägung über konventionelle grammatisch-rhetorische Strukturelemente hinaus (oder gar im Bruch mit ihnen), die Fragestellungen dieser Art bei Schiller, Kleist und anderen so lohnend macht?' 8 55
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Jn diesem Drama erscheine die Geschlechtertragik bei Hebbel »zum erstenmal ungeschmälert, in restloser Evidenz« (Das zentrale Problem in der Tragödie Friedrich Hebbels. 1925. S. ηιϋ. Zitat: S. 84). Friedrich Hebbels tragischer Historismus. In: Hannelore Schlaffer / Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus. 1975. S. 129 u. 138. Etwa für Lessing, Grillparzer oder Büchner. Einen guten Überblick mit breit gestreuten Beispielen auch aus der Epik bietet - ohne falschen typologischen >Systemzwang< - eine Studie von Gerhard Bauer: Z u r Poetik des Dialogs. Leistung und Formen der Gesprächsfuhrung in der neueren deutschen Literatur. 1969 (wobei Hebbel nur beiläufig vorkommt). - Daß G . Bauer einige unruhige Jahre später als Selbstkritiker aufgetreten ist und gegen »idealistische Abstraktionen« bei der Literatur (ζ. B . Kleist) und gegen alles Fragen nach einer »Poetik« bei der Literaturwissenschaft Front macht, sei lediglich vermerkt (vgl. Absicht, Wirksamkeit und Kunst von Kleists Dialog im >HomburgJahrbücher< geschriebenen - Abhandlung >Ueber den Styl des Dramas< ausdrücklich in Erinnerung gerufen. Ausgehend von dem an ihn adressierten Vorwurf, sein dramatischer Dialog sei »schwerfällig« (vgl. Τ 3824), legt er ausgreifend dar, warum dies nicht anders sein könne (vgl. W X I 65 ff.). Die »Darstellung« unter welche Kategorie das Drama hier gebracht wird - sieht er von der »Relation« (also dem Bericht von einem vorgegebenen Sachverhalt, der übersichtlich gegliedert und leicht faßlich ausfallen kann) grundsätzlich geschieden: Bei jedem Schritt, den sie thut, drängt sich ihr eine Welt von Anschauungen und Beziehungen auf, die zugleich rückwärts und vorwärts deuten, und die sie alle mitnehmen muß; die Lebensäußerungen kreuzen sich und heben sich auf, der Gedankenfaden reißt, bevor er abgesponnen wurde, die Empfindung springt um, das Wort sogar verselbständigt sich und kehrt einen geheimen Sinn hervor, der den gewöhnlichen paralysirt, denn jedes ist ein auf mehr als einer Seite gezeichneter Würfel (W X I 72).
Wenn solchermaßen die Komplexität des dramatischen Dialogs begründet wird bis hin zu »Rauhigkeit des Versbaus, Verwickelung und Verworrenheit des Periodengefüges, Widerspruch der Bilder« und sogar zum Grenzphänomen, »daß auch das Ringen um Ausdruck Ausdruck ist« (W X I 73), dann führt die ganze Selbstverteidigung sehr nahe an die einschlägigen Stilmerkmale des Hebbelschen Dramas, an das Ausgeklügelte auch noch in einem schlichten >Diener-Gespräch< heran. Auf der anderen Seite repetiert die Abhandlung auf ihre Weise nur die Binsenwahrheit der Gattungspoetik, daß die Sprache »das allerwichtigste Element, wie der Poesie überhaupt, so speciell auch des Dramas« sei (W X I 65, vgl. 71) - und Sprache ist in dieser Gattung eben dialogische Sprache. Eine deutlichere Reflexion des sprachlichen Kommunikationsmodus im eigenen Drama läßt sich der Abhandlung, die Hebbel einige »Mühe« gekostet hat (vgl. Τ 3971), nicht entnehmen. Das »klassische Drama« als die Kontrastfolie des »modernen« sieht Peter Szondi durch »die Alleinherrschaft des Dialogs« bestimmt, dergestalt, daß »es nur aus der Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges besteht, daß es nur kennt, was in dieser Sphäre aufleuchtet«.59 Hält man ein solches Resü-
59
matischer Stil. 1940) angesehen werden. Dagegen bleibt Manfred Michaels »Untersuchung der lexischen Stilelemente« in >Herodes und Mariamne< in einer mühsamen Zählerei von Wortquantitäten stecken, ohne daß eine relevante Folgerung zu einem Erkenntnisziel im Sinne des Untertitels - auch nur angestrebt würde (vgl. Friedrich Hebbels >Herodes und MariamneschwierigIphigeniewirklicher< Kommunikation. Kein dramatischer Dialog kann noch glaubhaft zwischenmenschliche »Wahrheit« aufleuchten lassen, wenn reale Verständigung zwischen den Menschen nicht mehr gelingt. Die Szene vor der Tür eines Mietshauses, in der eine Frau, die »auf ein Wörtchen nur« eine frühere Freundin aufsuchen will, in eine quälende >Kommunikation mit der Sprechanlage hineingezogen wird, 6 2 spiegelt gegenwärtige Miß-Verständigungen bedrückend authentisch. Doch schon in Büchners >Dantons Tod< gibt es die Erfahrung der brückenlosen Vereinzelung: »Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren« 63 - mit entsprechenden Tendenzen im dramatischen Dialog. Und Hebbels Meister Anton dürfte nicht ohne Grund über »die Thorheit [...] längst hinaus« sein, fremde Menschen mit seinen eigenen Gedanken erschließen zu wollen (vgl. W II 23). Daß die Verständigung »Anstrengung kostet«, 64 bestätigt sich in einem potenzierten Sinne auch angesichts heutiger wissenschaftlicher Perspektiven. In der Linguistik häufen sich Schemata und Tabellen, die in immer größerer Differenzierung die Abläufe zwischen den Polen von >Enkodierung< und >Dekodierung< faßlich machen sollen. Doch ist der ungeheure Theorieaufwand, der um die Möglichkeit der »Kommunikation« betrieben wird, auch Symptom einer Auszehrung, ein Beleg dafür, daß es in der Sache der Verständigung kein selbstverständliches Gelingen mehr gibt. In der Philosophie ist
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V. io8of. (GA V I 179). Vgl. auch den Hinweis B . v. Wieses: Gedanken zum Drama als Gespräch und Handlung. In: Der Deutschunterricht. 4, 1952. Heft 2. S. 45. So widerfährt es Lotte in der Titelszene von Botho Strauß' Theaterstück >Groß und klein« von 1978 (zit. nach: Strauß, Trilogie des Wiedersehens / Groß und klein. Z w e i Theaterstücke. 1980. S. I9iff.). Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Werner R. Lehmann. Bd. I. 1967. S. 9. So G. Bauer, Z u r Poetik des Dialogs (s. Anm. 57). S. 14.
das eigentlich >häßlicheWende< nur die »Grundlagen« (!) einer kritischen Gesellschaftstheorie >auszudifferenzierenKommunikationZugabeNathan der Weise< analytisch (und natürlich wiederum zuhöchst theoretisiert!) bewältigt (vgl. Dialektischer Dialog. Literaturwissenschaftliche Untersuchung zum Problem der Verständigung. 1975). Dagegen konnte B . v. Wiese seine »Gedanken« (s. A n m . 61) unter souveräner Nichtbeachtung irgendwelcher Theorieproblematik noch einfach an den dramatischen Phänomenen selbst orientieren. Denn dabei bleibt es ja: »Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne« (J. Habermas, wie A n m . 67, Bd. I. S. 387).
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sehen Gewicht der Szene III/6 her ist ihre Auswahl zweifellos gerechtfertigt sie steht an dramaturgisch entscheidender Stelle, des weiteren bringt sie die zwischen Herodes und Mariamne obwaltende >Beziehungsproblematik< in die extremste Zuspitzung. 7 ' Versuchen wir also, in möglichst einfacher, hochgetriebene Komplexitätserwartungen bewußt unterlaufender Linienführung am Leitfaden der Dialogik den Problemgehalt freizulegen: Wie ist das Gespräch pragmatisch eingebunden, welche Modi der Verständigung läßt es erkennen, was kann aus der »Technik der Mißverständnisse« (Schlaffer) interpretierend gefolgert werden? Die »furchtbare Szene« 72 beginnt mit dem Auftritt des Boten, der Herodes - gerade erst aus Alexandria zurückgekehrt - im Auftrag des Antonius ins Feld ruft, nicht an dessen Seite zum alles entscheidenden Kampf gegen Octavian, sondern gegen aufrührerische Araber, deren Zusammenschluß mit O c tavin es zu verhindern gilt (V. i78iff.). Herodes erwägt die erforderlichen politischen Dispositionen, die Einsetzung des Soemus als Stellvertreter in Judäa, und fertigt den Boten für Antonius ab. Er kalkuliert die politischen Faktoren souverän, wie es scheint, beendet aber plötzlich die Instruktion, bevor er die Botschaft für Antonius eigentlich ausgesprochen hat: »Sag' ihm Du weißt's ja schon!« (V. 1800) Der anakoluthischen Wendung folgt auf die Frage des Boten, ob er sonst nichts aufzutragen habe, ein »Nichts! Nichts!« (V. i8o2ff.) - wobei die Verdopplung die gesteigerte innere Erregung verrät. Es ist bezeichnend, daß schon diese Teilkommunikation innerhalb der Szene nicht an ein >normales< Ende führt (eine klare Weisung des Königs), sondern einfach abbricht, und dies, obwohl sie sich auf nichts Geringeres bezieht als den Kampf um die politische Weltherrschaft. Der einleitende Wortwechsel mit dem Boten wird gekreuzt von einem zweiten >Dialog< - zwischen Herodes und Mariamne. Er beginnt nicht als verbale Auseinandersetzung, sondern als Interferenz von Mimik (Mariamnes Ausdruck von Freude und Dank), monologischer Entschlußfassung (durch Mariamne) und monologischer Interpretation bzw. Fehlinterpretation der beobachteten Mimik (durch Herodes). Die Königin freut sich darüber, daß 7" Vgl. zur Gewichtung und Diskussion der Szene Oskar Walzel (Hebbelprobleme. Studien. 1909. S. 8off.), ferner die Interpretation von Klaus Ziegler, die auf eine »Pseudodialogik« abhebt und diese über die spezifische Kommunikationsproblematik hinaus auf ihr Leit-Theorem einer »Antinomie von Wirklichkeit und Wesen« bei Hebbel zu beziehen versucht (Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels. 1938. S. 99fr.). Daß man mit traditionellen Erwartungen von einem dramatischen Dialog hier einigermaßen ratlos bleiben muß, zeigen etwa die Bemerkungen von R. M . Werner (vgl. Einleitung zu W II. S. XLII) oder von P. Bornstein in einem ansonsten immer noch beachtenswerten Beitrag (vgl. Hebbels >Herodes und MariamneHerodes und MariamneVertrauenskrise< in dieser Szene (vgl. V. 1851 u. 1928) und im Drama überhaupt (vgl. V. 474ff.) profilieren den Unterschied zu den einschlägigen Phänomenen in der >Familie Schroffenstein< oder in der >Penthesileapolitisch< kalkulieren (vgl. V. io6ff.): so entsteht das Sicherheitsbedürfnis, das Herodes, schuldhaft und doch psychologisch nachvollziehbar, zu einem Mißgriff im intimsten Lebensbezug verleitet.8' 81
Die Dominanz dieses Themas in >Herodes und Mariamne< hatten zuvor schon P. Bornstein (wie A n m . 7 1 , S. 9) und O . Walzel betont (vgl. Friedrich Hebbel und 2 seine Dramen. 1913, i9i9- S. I07f.). In der neueren Forschung hat vor allem H . Kreuzer diesen Ansatz ausgebaut und differenziert (vgl. etwa die resümierende Porträt-Studie, wie A n m . 50, S. 462).
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Ähnlich Wolfgang Wittkowski: Klara und Mariamne. Kleinstädterin und Königin. In: H N W . S. 150. Einige besonders prägnante Belege zur Geschlechterspannung: Τ 48, 343, 628,
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2ioi, 2309, W XI 6, Β II 338f., Τ 3022, 3475 u. 5648 (vgl. auch Tl. I, S. I03f. dieser Untersuchung). 84
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V g l . Herbert Kraft, Poesie der Idee. Die tragische Dichtung Friedrich Hebbels. 1971· S. 179. In diesem Zusammenhang ist auffällig, wie Herodes im ersten A k t in der Auseinandersetzung mit Mariamne auf das Wortfeld >Sicherheit< rekurriert: vgl. V. 397, 4 1 7 u. 517. — Der Schwertbefehl ist ja nichts anderes als ein Ersatz für die von Mariamne verweigerte Sicherheits-Gewähr: eine Handlung aus einem »Uebermaß von Liebe« (V. 420) heraus, d. h. aber — gemäß dem Z u g der männlichen Natur in »das Unbegränzte« (T. 2309) - über die Liebe hinaus zur Weltbemächtigung hin (vgl. Τ 4189). Bezeichnenderweise fragt Herodes Mariamne hypothetisch, ob sie
Auf solchen Wegen läßt sich bis zu einem gewissen Grad aufschließen, weshalb der Zusammenstoß der beiden in der Szene 111/6 derart disjunktiv gerät: es ist die geschlechtspsychologisch bedingte Fremdheit der beiden >NaturenGeschlechter-Kampf< in Reinkultur (vgl. Τ 3475) wäre die Szene gleichwohl unzureichend erfaßt. Beachtet man die bis ins absichtsvolle Verschweigen und Verstellen gehenden Modalitäten der Auseinandersetzung, dann fällt der hohe Anteil reflektierter Rationalität auf, und zwar für Mariamne in dieser Szene stärker als für Herodes (bei dem sich der Zug des Planens und Berechnens erst im abschließenden Monolog durchsetzt). Zwar sind »Leidenschaften« durchaus spürbar, aber sie strahlen ihre »Hitze« nicht auf den Austausch der Argumente ab. Weil diese einer kalten Verstandeslogik überlassen bleiben, muß in der Tat ein Eindruck von »durchdringender Frostigkeit« entstehen.8Ä Oder einfacher ausgedrückt: Wir haben es mit dem Geschlechter-Problem unter den spezifischen Bedingungen eines Eheverhältnisses zu tun. Und die Geschichte, in deren Horizont dies alles gestellt sein müßte? Tatsächlich sind die »Würfel« (s.o.) auch nach dieser Seite gezeichnet. Zunächst bleibt festzuhalten, daß sich die Auseinandersetzungen der Eheleute unter dem Vorzeichen eines politischen Kampfes im Welt-Maßstab abspielen, den Herodes immerhin noch eine Weile in der Überlegung festhält (vgl. V. 1811 ff.). Freilich: Die Frage, ob Antonius oder Octavian siegen werde, wird danach bis in den abschließenden Monolog von den Intimproblemen der Eheleute verdrängt. Das Historische hat damit aber noch nicht ausgespielt. Es ist auch als konstitutives Element im Aufbau der Figuren und im Perspektivismus ihrer Auseinandersetzungen anzutreffen, es macht ihre Dimensionen allererst verständlich. Darin kennt Herodes seine Gattin genau, daß er jenseits der Liebe ihren »Stolz« als beherrschende Triebfeder einzukalkulieren (vgl. V. i932ff.) und nunmehr ihre »Rache« zu fürchten hat (vgl. V. i95if.). Ohne hier schon in die Diskussion von Mariamnes Motiv einzutreten, läßt sich ihr »Laß Dich denn [...] verkennen!« auch als Rachestrategie einer Stolzen auffassen, die sich vom Mann zu klein genommen sieht und ihm nun ihr wahres Größenformat demonstrieren will. Es ist sehr bezeichnend, wie sie ihr Verhalten nach der Ermordung des Bruders nachträglich qualifiziert (vgl. V. ioi6ff.):
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einen aus Liebe verhängten Tod des Geliebten »verzeih'n« könne (V. 421): er will sogar in der - ihm also durchaus bewußten — Verletzung der Liebe noch sichergehen. Mit Beziehung auf Hegels Überlegung, wie das Thema der »Geschlechterliebe« in »modernen Dramen und anderen Kunstdarstellungen« auftritt (Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821]. § 162. - Hg. von Johannes Hoffmeister. 4 I955. S. 151).
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Sie bereut - vor Alexandra, nicht etwa vor Herodes - , daß sie dem »König und Gemahl / Argwöhnisch und verstockt die Thür verschloß«, und sie fügt hinzu, daß sie ihn statt in »Trauerkleidern [...] / Roth, dunkelroth« hätte sehen können, in der Farbe also, mit der er die Blutschuld eingestanden und zugleich an die Großmut einer Großen appelliert hätte. Argwohn und Verstocktheit, Stolz und Rache - es handelt sich, worüber der hochreflexive Umgang mit ihnen nicht täuschen sollte, im Kern um archaische Motive. Der Stolz ist es, der Mariamne das klärende Gespräch mit Herodes verweigern läßt und sie dazu bringt, sich unbekümmert um Sorgen und Nöte des anderen bis zum gewollten Mißverstehen in sich selbst zu verschließen. Dazu läßt sich eine aufschlußreiche Parallele anführen, und zwar aus Richard Wagners - gleichzeitig mit Hebbels Drama entstandenem - Entwurf >Der Nibelungenmythus< (1848). Wagner konzipiert die Wiederbegegnung zwischen Brünnhilde und Siegfried nach dem Tarnhelmbetrug so, wie er sie dann auch dramatisch gestaltet hat (erst in >Siegfrieds TodGötterdämmerungEuropaNibelungenHerodes und Mariamne< ein überraschend hohes Maß an Anerkennung gezollt (wie einer Tagebuch-Notiz Cosimas vom Februar 1881 zu entnehmen ist: Cosima Wagner, Die Tagebücher. Hg. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. 1976. Bd. II. S. 685).
daß es in die dramatische Phänomenalität merkbar eindringt. Noch deutlicher begegnet man ihm im Umfeld, so etwa im März 1847, als Hebbel mit Bezug auf sein Drama notiert, es sei für dessen »Oeconomie« günstiger, wenn die »Entschlüsse« von den »Characteren« nicht eigens gefaßt würden, sondern »unmittelbar aus ihrer Natur hervor gehen und die gegenseitigen Täuschungen nur aus den gegenseitigen Irrthümern über deren Beschaffenheit und Wesenheit entspringen« (T 4119). Die Überlegung, die in ihrer darstellungstechnischen Ausrichtung natürlich nicht überfordert werden darf, zeigt doch immerhin, wie Hebbel den »Täuschungen« in ihrer tragisierenden Kausalität einen apriorischen Charakter zuweist, während er sie nicht mehr als exemplarische Gefährdungen und Grenzen der menschlichen »Natur« markiert. Die Stimmen, die sich hier vernehmen lassen, kann folglich auch nicht mehr jeder hören, geboren unter jedem Himmel. Entsprechend sichtet Hebbel auch die zentralen Protagonisten seiner Tragödie auf ihre Eignung hin, durch ihre »Natur« bzw. ihre natürlichen »Unterschiede« tragische Konsequenzen anzulegen. Dies geschieht im Juni 1847 anläßlich Laubes Drama >Monaldeschi< (1839), das er erwartungsgemäß als »Machwerk« abtut, wobei er zugleich das Gerüst seiner Kontrafaktur sichtbar macht: Wenn ein glühendes Liebesleben dargestellt worden wäre, gleich gewaltig auf Seiten des Mannes, wie des Weibes und bloß geschlechtlich verschieden, in dem Sinn nämlich verschieden, daß der Mann seiner Natur gemäß über das Weib hinaus liebt und sich durch die Königin der Welt zu bemächtigen sucht, während das Weib sich in den Mann verliert und die Königin von sich wirft, um sich völlig mit ihm zu identificiren, dann wäre ein tragischer Conflict wenigstens möglich gewesen, dann hätten sich Beide im Moment der innigsten Vereinigung durch diesen Geschlechtsunterschied getrennt gefühlt und ihn für einen individuellen genommen, sie hätten sich niemals verständigen, also auseinander gehen, bis zur Vernichtung gegen einander rasen können und doch in ihrer Raserei eben nur die Unauflöslichkeit des überall hervortretenden Dualismus der Welt zur Anschauung gebracht! (T4189)
Nicht jedes Moment dieser kritischen Explikation läßt sich unbesehen auf >Herodes und Mariamne< übertragen, sicher gibt es hier keine eigentliche (»glühende«) Sprache der Liebe und eine »Vereinigung« von Mann und Frau allenfalls als Reminiszenz, antithetisch zur anwachsenden Mißverständigung. Aber der Hauptpunkt gilt hier wie dort: daß aus der natürlichen Verschiedenheit von Mann und Frau »ein tragischer Conflict« hervorgehen und in die »Vernichtung« führen müsse. 89 Und darauf kommt es Hebbel an! Das Historische wird gegen das Psychologische so balanciert, daß eben jene zwangsläufige Gegensätzlichkeit entstehen kann, aus der die Tragödie ihre ästhetische Plausibilität gewinnen soll. 89
Zur Diskussion der >MonaldeschiHerodes und Mariamne< vgl. auch Heinz Schlaffer (wie Anm. 56, S. I2iff.).
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Auch die vorangegangene Dialoganalyse hat nicht umhin können, gewisse Künstlichkeiten in der Führung - und Verweigerung (!) - des Gesprächs als Züge zu registrieren, denen ein defizitäres Moment anhaftet.90 Der tragisierende Kalkül erscheint nicht restlos aufgegangen in ein historisch-psychologisches Kräftespiel, sondern wird als Funktionsprinzip der Darstellung sichtbar. So ist die zu Beginn dieses Kapitels zitierte Kritik, derzufolge Hebbel um der ästhetischen Bewahrung der Tragödie willen sein eigenes BewußtseinsPotential begrenzt, im Grundsätzlichen nicht zu widerlegen.91 Andererseits erweist sich solche Kritik selbst als zu schematisch, wenn sie eine dramatische Auseinandersetzung wie die betrachtete zwischen Herodes und Mariamne mit allen ihren Schwierigkeiten einfach am Modell eines rationalen Diskurses überprüft, ganz abgesehen davon, in welche Komplexitäten die Frage nach seiner Begründbarkeit heutzutage führen muß. Bei aller Problematik, die sich der Dramatiker durch die zähe Verteidigung eines alten ästhetischen Paradigmas aufbürdet, ist seine Behandlung der um 1850 drängenden >Zeitfragen< so unerheblich nicht, daß sie gänzlich vernachlässigt werden dürfte. Bevor das Historische in >Herodes und Mariamne< aufgefächert wird, ist zunächst die Eheproblematik als Merkmal einer akzeptierten Zeitgenossenschaft zu betrachten.
3. Die Ehe als thematisches Zentrum Mariamne, so erklärt Hebbel 1849 sei »schön, wie Judith erhaben« (Β IV 145). Läßt sich der Sachbezug dieser mit den bekannten Grundbegriffen der Ästhetik getroffenen Unterscheidung auf Anhieb nicht verifizieren, so hat sich der Vergleich selbst, die Suche nach inneren Parallelen zwischen Mariamne und Judith schon manchem Hebbel-Betrachter aufgedrängt. Etwa Samuel Lublinski um die Jahrhundertwende, der - vor dem Hintergrund des sich formierenden Zionismus - an einschlägigen Dokumenten interessiert, in >Herodes und Mariamne< ein »Judenstück« und zugleich »eine organische Fortführung« der >Judith< erblickte: Vielleicht legte sich Friedrich Hebbel einmal die Frage vor, wie sich wohl alles gestaltet hätte, wenn Judith und Holofernes, statt sich wechselseitig zu vernichten,
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V g l . auch R. Gruenters Eindruck, daß Mariamnes Schweigen »konstruiert, aufgepreßt, künstlich« wirke: »Mariamne könnte anders handeln, wenn Hebbel sie nicht an die Vorschriften eines fixierten Geschehensprozesses gebunden hätte« (wie A n m . 76, S. 136 u. 138).
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Man sieht die Überlegenheit seines Bewußtseins etwa an der Ironie, mit der er in der >LudovicoMaria Magdalena< oder eben in >Herodes und Mariamne< exakt nach der ironisierten Konvention zu verfahren.
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Mann und Weib geworden wären. Die Antwort lautete dann: Sie wären unendlich glücklich geworden und unendlich elend, hätten sich schließlich doch zu Grunde gerichtet.92
Die Reprojizierung des späteren Dramas in das frühere und umgekehrt das hypothetische Umdenken der >JudithHerodes und Mariamne< eigentlich geht.95 a) Konfessionelles. Literarisch-theoretischer Kontext In der Tat ist damit der Problemkern bezeichnet: Wir haben es mit einer Ehetragödie zu tun, nicht also - wie es eine lange Zeit herrschende Meinungskonvention wollte - mit einer Liebestragödie.96 Der Zieglerschen Konstruktion, daß Herodes und Mariamne deshalb einander vernichten müßten, weil sich die Liebe als ein göttlicher Wert in dieser Wirklichkeit nicht leben läßt, konnte die Beobachtung entgegengehalten werden, daß immerhin in der Rückspiegelung eine glückliche Vergangenheitsgeschichte der beiden aufJüdische Charaktere bei Grillparzer, Hebbel und Otto Ludwig. Litterarische Studien. 1899. S. 41. μ Ebd. S. 58. 9* Vgl. ebd. S. 47ffVgl. ebd. S. 58. 96 Als »Tragödie der Liebe« faßt B. v. Wiese das Drama (wie Anm. 75, S. 605), ebenso H. Kreuzer (wie Anm. 4, S. 283) — um nur zwei Beispiele zu nennen. Mit Recht widerspricht F. Sengle - wohl mit Blick auf K. Ziegler (s. Anm. 71) - einer solchen, die »historischen Bezüge« unterschlagenden Fiktion (Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. III: Die Dichter. 1980. S. 401), weist auch Heinz Schlaffer auf die Eheproblematik als das soziale Substrat der Hebbelschen Tragödie hin (wie Anm. 56, S. 128). 92
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scheine.97 Aber schon eine solche Themenerfassung stimmt nicht, weil es nicht eine »Poesie der Liebe«, sondern von vornherein die »Prosa der Ehe« ist, die in diesem Drama zur Behandlung ansteht.'8 Anders als in Shakespeares >Antonius und CleopatraTristan und IsoldeL'Adultera< (1880) - die Geschichte einer Ehebrecherin ausdrücklich auf Goethes Roman anspielt. Ob man von Fontane aus, indem man ihn einem fortschrittlichen Denken zuschlägt, Hebbel als einen reaktionären Dunkelmann diffamieren kann, bleibe dahingestellt. 11 ' Was Hebbels Reaktion auf die Wahlverwandtschaft e n angeht, so konnte er ihre Wirkungsgeschichte um 1850 natürlich noch nicht überblicken. Aber er spürte, wie Goethes Roman zur Entmächtigung des großen Dramas beitrug, und bekämpfte ihn darum, soweit es sein Sinn für 112
Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch W. Schnyder (wie Anm. 24, S. 72G.), ferner S. 38fF. dieser Untersuchung. Vgl. zu dieser Wirkungsgeschichte J. Kolbe (s. Anm. 110). 114 Vgl. dazu Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. 1975. S. 3Jof. 113
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So der Fontane-Biograph Hans-Heinrich Reuter (vgl. Fontane. 1968. Bd. II. S. 6joff.): eine angesichts von Fontanes reservierter Ibsen-Beurteilung, seiner A b sage an jegliches (also auch >fortschrittlichesEhefrage< doch haltlose Konstruktion, zumal auf der nicht sonderlich tragfähigen Basis der Theaterkritik an >Herodes und Mariamne' von 1874 (s. Anm. 102). In dem Bestreben, Hebbel mit Schopenhauer kritisch auf einen Nenner zu bringen, unterschlägt - oder übersieht - H.-H. Reuter ferner, daß es in dieser Richtung auch Distanzierungen bei Hebbel gibt (vgl. Β VII 232, Τ 6140).
ästhetischen Rang nur gestattete. A l s Kritiker der >Wahlverwandtschaften< bewegt sich Hebbel auf der kategorialen Grundlage von Rötschers Abhandlung, dergemäß Goethes Roman »das moderne Epos der Ehe« ist, »welches unsern gesammten Weltzustand, die Interessen unseres modernen Lebens bis in ihre sittliche Basis der Ehe zurückverfolgt und darin erkennen läßt«." Ä Z w a r sieht der Hegelianer, daß der Roman einen Zwiespalt von »Naturgewalt« und »sittlicher Substanz« darstellt, er sieht auch, daß der Mensch dadurch in einen »tragischen Conflict gesetzt« w i r d . " 7 A b e r er versteht dies dialektisch, sofern die Ehe bei Goethe nur deshalb in ihrer Gefährdung durch die »Naturgewalt der Leidenschaft« gezeigt werde, damit ihre sittlich-institutionelle Verbindlichkeit um so nachhaltiger hervortreten k ö n n e . " 8 Diese den Wahlverwandtschaften entnommene »ewige Wahrheit von der unantastbaren, substantiellen Macht des sittlichen Geistes der E h e « " 9 bringt Rötscher mit Folgen für seinen Leser Hebbel - auch in einer entwicklungsgeschichtlichen Überlegung vor: Wie nur erst durch das Christenthum der Mensch in seinem unendlichen Werthe, in seinem absoluten, über alle Nationalität übergreifenden Begriffe erfaßt worden ist, so hat sich auch diese seine Natur der unendlichen freien Persönlichkeit in den Instituten des sittlichen Geistes bewähren müssen. Sie werden daher erst dadurch, daß dies angedeutete allgemeine Princip in ihnen Gestalt und Leben gewinnt, zu Offenbarungen des christlichen Geistes, wie umgekehrt der letztere sich in der Entfaltung und Hervorbringung zwar verschiedener, aber doch in sich durch die allgegenwärtige Seele zusammenhängender Formen und Organe, als eine lebendige Macht und Energie bewährt. Auch die Ehe ist demnach erst als durch das christliche Princip gestaltet zu ihrer absoluten Bedeutung und höchstem Recht gekommen, indem sie als die Gestalt des sitdichen Geistes erscheint, in der sich zwei gleichberechtigte freie Individuen zu einer sittlichen Einheit durchdringen, deren Grundlage und Ausgangspunkt die freie Hingebung des ganzen Menschen bildet.' i o Gleichen Sinnes - nur nicht auf gar so hohen akademisch-begrifflichen Stelzen daherkommend - ist Hebbels Verteidigung der Ehe als sittlicher Institu116
Die Wahlverwandtschaften von Goethe in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung, ihrem sittlichen und künstlerischen Werthe nach entwickelt. (= Abhandlungen zur Philosophie der Kunst. 2. Abtheilung). 1838. S. 146. - Da fur Hebbels erneute Lektüre dieser Abhandlung der Dezember 1847 als Terminus ante quem zu gelten hat (vgl. Β IV 70), besteht ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang mit dem oben angeführten Notat Τ 4357 (vom Januar 1848). 1.7 Rötscher (s. Anm. 116). S. 20. 1.8 Ebd. S. I7f. " 9 Ebd. S. 16. 120 Ebd. S. 11 f. - Ganz entsprechend wird Rötscher an >Herodes und Mariamnci den Triumph »der freien Subjektivität, welche sich ihres unendlichen Werths, und ihres unendlichen Rechts bewußt ist«, hervorheben (W II 415): eine Folgerung, die im Gegensatz zu W. Schnyder (vgl. wie Anm. 24, S. 72) natürlich nicht unbesehen an Mariamne veranschaulicht werden kann. 3*5
tion: Auch er liest ihre »unermeßliche Bedeutung [...] für Staat und Menschheit« an den Wahlverwandtschaften ab, 121 freilich mit der charakteristischen Einschränkung, daß sie dort nur »räsonnirend angedeutet«, nicht aber eigentlich »zur Anschauung gebracht« worden sei (T4357). Hebbel sieht in Mittlers Credo, daß die Ehe den »Grund aller sittlichen Gesellschaft« bilde und als »der Anfang und der Gipfel aller Kultur« unantastbar sei, 122 die Kernaussage des Romans und vermißt eine klare Zuordnung der eigentlichen Darstellung auf dieses ihr vermeintliches Zentrum hin. In der Tat ließe sich Hebbels erschließbarer Einwand von den Konstellationen des Romans her stützen. Der Graf zum Beispiel, mit der Baronesse in nichtehelicher Verbindung, beklagt als Mittlers Gegenspieler unwiderlegt die Unzuträglichkeit, die mit dem Ehestand als »entschiedene, ewige Dauer zwischen so viel Beweglichem in der Welt« gegeben sei. 123 Und die SympathieBande, die sich unter solchen Auspizien zwischen Eduard und Ottilie, Charlotte und dem Hauptmann spinnen, führen zu »sittlichen Verworrenheiten«, 124 zu Tragik und Tod und entsagender Heiligung, schwerlich aber zu einer ungebrochenen Bestätigung des Mittlerschen Ehe-Evangeliums. Solches war allerdings auch gar nicht von Goethe intendiert, der vielmehr kaum eine Gelegenheit ausläßt, den wackeren und doch so viel Unglück anrichtenden Streiter für die Ehe in eine ironische Beleuchtung zu rücken. Diese wird weder von Rötschers Apotheose der Wahlverwandtschaften noch von Hebbels interessierter Kritik recht wahrgenommen. Für Hebbel >stimmt< ja schon der Problemansatz des Goetheschen Romans nicht, weil die Ehe zwischen Eduard und Charlotte zwischen Konvention und Zufälligkeit steht und der sittlichen Berechtigung ermangelt (vgl. W X I 42). Die mächtige naturhafte Sympathie löst daher ein Band, das eigentlich keines ist. So mag sich der Apologet der Tragödie, vom Gedanken der sittlichen Unantastbarkeit der Ehe nicht ablassend, Goethes widerwillig bewunderte Darstellung für seine Uberbietungs-Ambition zurechtgelegt haben. Das Drama soll mit seiner spezifischen »Concentration« (W X I 61, Β V zz) noch einmal dem Roman den ästhetischen Rang ablaufen. Und dies bedeutet: Nicht ein zufälliges Alltagsverhältnis darf von außen in Gefahr geraten, son121
V g l . Rötscher, w i e A n m . 1 1 6 , S. iof. Goethe, Die Wahlverwandtschaften. T l . I. K a p . 9 ( G A I X 78). - Für Rötscher ist mit diesem A u s r u f (den die heutige Spezialforschung nicht mehr als absolute A u s sage nimmt) einfach »das Evangelium der Ehe« gegeben (wie A n m . 116, S. 39). Ähnlich schon Rosenkranz (wie A n m . 98, S. 74ff.), der im übrigen zustimmend auf Rötscher verweist (ebd. S. VII). 12 3 Goethe, Die Wahlverwandtschaften. T l . I. K a p . 10 ( G A I X 81) - eine U m k e h r u n g des Mittlerschen Postulats, um der Dauer des ehelichen Bundes willen den »Augenblick« mit seinen Anfechtungen »vorübergehen« zu lassen (ebd. T l . I. K a p . 9; G A I X 78). I2 + V g l . ebd. T l . I. K a p . 18 ( G A I X 127), ferner: T l . II. K a p . 8 ( G A I X I99f.). 122
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dem ein wirkliches, von Liebe getragenes Bündnis zwischen Mann und Frau muß von innen her erschüttert werden, um über solche tragische Brechung wiederum die Ehe als sittliche Institution der Gesellschaft zu bekräftigen. b) Liebe und Pflicht. Anti-Eduard Auf den ersten Blick scheint die Tragödie gänzlich durch das Eifersuchtsmotiv bewegt, wie es für eine Liebesbeziehung nicht ungewöhnlich ist. Eine Vertrauensstörung zeichnet sich ab, deren unheilvolle Auswirkungen dadurch noch befördert werden, daß hier eine tiefe innere Bindung zwischen Mann und Frau fortbesteht - bis hin zu mystischen Vorstellungen eines gemeinsamen Todes. Herodes erinnert daran, daß er während einer verjährten Krankheit Mariamnes mit Selbstmordgedanken umgegangen ist, um daran die Forderung zu knüpfen, daß im umgekehrten Fall die Partnerin gleichfalls zum freiwilligen Nachsterben bereit sein müsse, um schließlich sogar - in vorerst noch hypothetischer Steigerung - ein solches Schicksal über die Gattin zu verhängen (vgl. V. 409ff.). Die Wirklichkeit wird dieses Gedankenspiel ein- und überholen, Herodes für Mariamne zum »Tod« werden (V. 2526) und als dieser ihr »Gemahl nicht länger sein« können (V. 2603). Während die scheinbar Schuldige abgeführt wird, hat Herodes die frühere Verbundenheit mit ihr vor Augen und taucht die Reminiszenz in einen bitteren Zynismus: Ha! Ha! Z u der hab' ich einmal gesprochen: Zwei Menschen, die sich lieben, wie sie sollen, Können einander gar nicht überleben. Und wenn ich selbst auf fernem Schlachtfeld fiele: Man brauchte Dir's durch Boten nicht zu melden, D u fühltest es sogleich, wie es gescheh'n, Und stürbest ohne Wunde mit an meiner! Titus, verlach' mich nicht! So ist's! So ist's! Allein die Menschen lieben sich nicht so! (V. 26o 4 ff.)
Bemerkenswert an dieser Rückblende ist nicht allein der >Riß< zwischen idealer und desillusionierter Liebe, nochmals gebrochen durch die Täuschung des Herodes über die innere Wirklichkeit der dem Schein nach so schuldhaften Mariamne, auch nicht die mystische Einheitsvorstellung des gemeinsamen Sterbens selbst bei räumlicher Entfernung 1 2 5 - Herodes beschwört genaugenommen gar keine vergangene Liebeswirklichkeit herauf, sondern nur seine
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Vgl. dazu Ferdinand Joseph Schneider, Mystik in Hebbels >Herodes und M a riamneBegegnungSollen< hinzuzudenken als das einsame Ich, das zwar in der Liebesverbindung seine Isolierung überwinden möchte, aber gerade dadurch, daß es solches als Forderung zu verstehen gibt, aus der geforderten unio auch schon heraustritt?127 Die Liebe erscheint beim Rückverweis auf die hellere Vorgeschichte nicht als eine spontan überwältigende Macht, sondern als Gegenstand der Hoffnung, Berechnung und schließlich einer enttäuschten Bilanzierung, die der Partnerin (vgl. V. 2604) nicht einmal mehr ihren Namen beläßt. Eine solche Perspektivierung des Geschlechter-Verhältnisses weist abermals auf den psychologischen Habitus von Eheleuten und damit auf die spezifische Anlage eines Ehedramas. Man kennt einander (oder glaubt dies doch) und bringt die Partnerschaft unter wechselseitige Forderungen, dergestalt, daß diese Klammer Herodes und Mariamne auch noch in allen Unglückswendungen von Täuschung, Schuld und Mißtrauen aneinander bindet. Der Verlauf der Auseinandersetzungen bestätigt Hegels Bemerkung, daß »die Ehe [...] höher als Glück und Unglück stehen« sollte. 128 Herodes und Mariamne haben auch den wohlmeinenden Mittler gehört, vor allem seine Mahnung, »daß gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander
126 V g l Martin Bubers Prinzip des »Dialogismus« in der Beschreibung von M . Theunissen, wie A n m . 66, S. 243ff. 127
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Entsprechendes gilt für eine parallele Erwägung Hebbels vom Anfang 1847 (also aus der Inkubationszeit seines Dramas): auch hier der »Zauber« wahrer Liebe, aber dem Gedanken der »Probe« unterworfen, der das einsame Ich als Instanz ins Spiel bringt und - wohl nicht ohne biographische Bezüglichkeit — ein Element des Zweifels andeutet (vgl. Τ 3926). Randbemerkung zu seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie«, und zwar zum § 162, der den Begriff der Ehe im allgemeinen Umriß aufstellt (wie A n m . 86, S. 421).
schuldig werden«. 129 Hebbels dramatische Eheleute haben besonders dieses Wort von der Schuld herausgehört und versuchen daraus eine Pflicht für den anderen zu berechnen. Bei ihrer ersten Begegnung im ersten Akt ist von den Perlen die Rede, die der König seiner Gemahlin geschenkt hat. Mariamne kennt ihre »Pflicht« und will sich für das Geschenk »erkenntlich« zeigen (V. 267ff.), nicht ohne mit einigem Selbstbewußtsein zu betonen: »[...] mir däucht, ich habe / Als Weib und Königin ein volles Recht / Auf Perlen und Kleinodien« (V. 3izff.). Natürlich sprechen Mann und Frau nicht »von Perlen nur« (V. jojff.): Wenn diese sich so auffällig bei Mariamne häufen, so kommt darin das schlechte Gewissen des Herodes zum Ausdruck (der ihren Bruder hat ermorden lassen), freilich auch der Wille, das intime Verhältnis zur Gattin vor den Verschattungen des Politischen möglichst abzuschirmen. Das Perlen-Gespräch, die Gefahren für den »Taucher«, der unter Lebensgefahr »in das dunkle Meer« hinunter muß, nur damit Herodes bei Mariamne gut Wetter machen kann (vgl. V. 279ff.): alles läuft mit einer gleichsam demonstrativen Doppelbödigkeit ab, an der nur - in der >Subkonversation< - der Komplex von Mord und Schuld wichtig ist, weil im Verhältnis zu ihm auch das Verhältnis der Eheleute zueinander auf dem Prüfstand steht. Herodes, der König in machtpolitischer Zwangslage, berührt das >eigentliche< Thema mit dem Wort vom »verfall'nen Menschenleben« deutlich (V. 297). Mariamne scheut die gezielte Erörterung (vgl. V. 299^) aus Furcht, die Ermordung des Aristobolus »unvermeidlich«, ja »wohl gethan« finden zu müssen (für die sie später gegenüber Alexandra in der Tat eine Kausalität aufdecken wird, die bei der »Ehrsucht« und »Herrschgier« der Mutter beginnt: vgl. V. io36ff.). Ein Gesprächsklima der Halbheit, der mangelnden Offenheit bildet sich heraus, die Kommunikation schleppt ein Lastendes mit sich (vgl. wiederum Mariamnes Rückspiegelung im späteren Gespräch mit der Mutter: V. i073ff.), von der trostlosen Disjunktion der Szene HI/6 sehen wir erst die Anfänge. Auf Mariamnes Frage, wie jemand »die Schwester lieben und den Bruder tödten« könne, antwortet Herodes, indem er alle Register der politischen Rhetorik zieht. Daß er die Rechtfertigung bewußt im Hypothetischen placiert (durch die dreifache Anapher: »Wir sprechen hier vom Möglichen [...]«), erscheint politisch zweckmäßig, denn Mariamne ist auch »Maccabäerin« und gehört als solche zur innenpolitischen Gegenpartei. Andererseits läuft diese taktische Klugheit im Perönlichen auf eine Vertrauensstörung hinaus, die das Miteinanderreden nur weiter verschattet. So wird der personale
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften (wie Anm. 122): an Ort und Stelle als Votum für die Dauer der Ehe vorgetragen.
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Bezug auch verwischt, wenn Herodes seine Rechtfertigung in die Forderung übergehen läßt, die Schwester des getöteten Bruders - also Mariamne - werde Als Weib aus schuld'ger Liebe zum Gemahl, Als Tochter ihres Volks aus heil'ger Pflicht, Als Königin aus beiden sagen müssen: Es ist gescheh'n, was ich nicht schelten darf! (V.355ff.)
Ein dreifacher Rollenappell, der in einer als unabwendbar deklarierten Forderung (»müssen«) zusammengezogen wird. Die steigernde Anordnung zur »Königin« hin zeigt den versierten Rhetoriker, der Mariamnes Größenstolz umschmeichelt. Aber Herodes weiß auch, daß zunächst in der trauernden Schwester die Gattin anzusprechen ist, die ihrem »Gemahl« Liebe schuldet. Die eheliche Liebe wird hier als Pflicht hingestellt, und die Auseinandersetzung dreht sich um die Frage, bis zu welchem Grade der Mann diese Pflicht gegenüber der Frau geltend machen kann und welche Forderungen sich für ihn selbst aus der ehelichen >Liebes-Schuld< ergeben. Mariamne, die die Ermordung ihres Bruders als politische Präventivhandlung halbwegs schon entschuldigt, ist nicht bereit, die nächste Stufe der Pflichtspirale zu betreten, nämlich Herodes die Versicherung zu geben, ihm im Falle seines Todes nachsterben zu wollen: Man stellt auf Thaten keinen Schuldschein aus, Viel weniger auf Schmerzen und auf Opfer, Wie die Verzweiflung zwar, ich fühl's, sie bringen, Doch nie die Liebe sie verlangen kann! (V. 4 6 5 ff.)
Damit macht Mariamne das geforderte Selbstopfer aus Liebe von einer personalen Selbstbestimmung abhängig. Sie läßt die Forderung einer ehelichen Liebespflicht unangetastet und besteht >nur< darauf, daß ihre Befolgung aus einer freien Entscheidung hervorzugehen habe, nicht aber zwangsverhängt sein dürfe. Herodes hört aus den Worten der Gattin, die das Entscheidende schon hier im Aparte versteckt (vgl. V. 42jff.), nur die Verweigerung heraus. Nach ihrem Abgang mit dem wahrlich herben »Ich kann nicht anders!« (V. 484) als rhetorischem Türenschlag sieht er einigen Grund zu der Frage: »Spricht so ein Weib in dem Moment, / Wo sie den, den sie liebt, und wenigstens / Doch lieben soll — « (V. 498ff.) Wieder dieses Sollen! Als die Liebeserwartung auf die Vorstellung einer Liebespflicht reduziert ist, bricht der Fragesatz ab. Seine Ergänzung fiele nicht schwer (etwa: vielleicht zum letzten Male siehtLudovicoEuropaUnwiederbringlich< für die glückliche Vorgeschichte der Holks nur flüchtige Grautöne, um so kräftigere Farben aber für ihre »Differenzen« und »Auseinandersetzungen« hat. 331
an überhöhender Liebesrhetorik nicht fehlt, prägt sich in der dramatischen Struktur eine moderne Position der Desillusionierung aus: die Liebe als Mittel zur Lebensbewältigung, gesteuert von vorwaltenden Bedürfnissen, hineingezogen in ein kasuistisches Berechnen. Was es nicht richtig gibt, das läßt sich auch nicht schlüssig exponieren. Hebbels thematische Konzentration profiliert sich deutlich im Vergleich mit Friedrich Rückerts Version des Stoffes, die - strikt an Flavius Josephus orientiert - dem Drama >Herodes und Mariamme< (sie!) noch ein zweites mit dem Titel >Herodes und seine Söhne< folgen läßt und die beiden Teildramen unter dem Obertitel >Herodes der Große< zusammenfaßt (erschienen 1844). Nicht genug, daß Herodes hier die geliebte Gattin zu Tode gebracht hat, er läßt auch ihre - und seine - Söhne Alexander und Aristobul hinrichten, schließlich auch denjenigen, der ihn zum Kindermord angestiftet hat: Antipater, seinen Sohn aus erster Ehe, der die Rolle des Intriganten, des »Zwietrachtsteufels« 131 spielt. Zwar treten Mariammes Söhne im ersten, der Hebbelschen Fassung stofflich entsprechenden Teildrama noch nicht persönlich auf, aber die Mutterrolle der Königin erlangt hier ein ungleich größeres Gewicht als bei Hebbel, der den »Kindern« nur eine zweifache periphere Erwähnung zumißt. 1 ' 2 Bei Rückert ist auch Mariammes Großvater Hyrkan, der frühere Hohepriester, noch leibhaftig gegenwärtig, freilich nur so lange, bis Herodes den Greis, von dessen auch hier machtbesessener Tochter Alexandra in eine politische Intrige verwickelt, nach deren Aufdeckung »gelind« (dies immerhin!) abtun läßt. 133 Das ganze Doppeldrama bietet ein breit ausgesponnenes biblisch-historisches Gemälde mit negativem Exempelcharakter aus christlicher Gesinnung: dafür, daß ein königliches Haus zum »Unglückshaus« werden muß, wenn eben die christliche Mäßigung der Leidenschaften unterbleibt. 134 Den Rückertschen Familiengeschichten tritt Hebbels Fassung nicht bloß als die dramatisch bei weitem überlegene gegenüber. Was er wegläßt und wie 131
Vgl. Herodes und seine Söhne, 3. Aufzug (Friedrich Rückert's gesammelte Poetische Werke in zwölf Bänden. Bd. I X . 1882. S. 433). 132 Vgl. V. i89if. - wobei Herodes den Appell Mariamnes, an ihre Kinder zu denken, mit bezeichnendem Schweigen übergeht - und V. 3o88f. - Nach Flavius Josephus hat Mariamne dem Herodes fünf Kinder geboren (Geschichte des Jüdischen Krieges. Obers, von H. Clementz. 1977. Buch I. Kap. 22. Abschn. 2.). Hebbels A b schwächung des Kindermotivs muß nicht nur von der dramatischen Ökonomie her motiviert sein, sondern könnte auch damit zusammenhängen, daß er - darin nun wirklich nicht biologistisch oder staatspragmatisch denkend - den »Zweck der Ehe« nicht schlechterdings in der »Kinderzeugung« sieht (vgl. Τ 4028). 133 V g l . Herodes und Mariamme, 3. Aufzug (wie Anm. 1 3 1 , S. 304ff., der Mordbefehl des Herodes hier S. 308). 134 Ebd. S. 432. - V g l . zur Situation am Hofe des Herodes die neuere, ebenfalls dem Flavius Josephus folgende Biographie von Gerhard Prause, nach der »Spannungen und Streitereien« nicht ausbleiben konnten, »da dieser aus zwei Familien zusam-
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er die Figuren nach ihrer Wichtigkeit staffelt, das verweist auf das Ehedrama als den thematischen Kern des Ganzen. Herodes' jüngerer Bruder Pherores, den Rückert ebenso ins Spiel bringt wie den zweiten Gatten der Salome (nach der Hinrichtung des Joseph), bleibt bei Hebbel ausgespart, während die Figur der Salome fast gänzlich auf ihre dramaturgische Funktion reduziert wird ihre Zurücksetzung durch Herodes, auch die Randständigkeit seiner Mutter akzentuieren die überragende Bedeutung, die die eheliche Beziehung zu Mariamne für ihn einnimmt (vgl. V. ζ6γ8Η.). Wie Hebbel die allzu zahlreiche Verwandtschaft hinauskomplimentiert, erlaubt er sich auch keine romanhaftem Verwicklungen, obwohl der Stoff die Möglichkeit angeboten hat, eine Cleopatra in aller lockenden Weiblichkeit ihr Wesen treiben zu lassen. Es ist nämlich historisch verbürgt, daß die ägyptische Königin zwischen den beiden Schwertbefehlen des Herodes in Judäa weilte, nicht ohne - »von Natur zu unkeuschen Vergnügungen geneigt«, wie Flavius Josephus zu berichten weiß - in Richtung auf Herodes einen Verführungsversuch zu unternehmen, sei es aus sexueller Gier oder aus politischer Berechnung: »Herodes aber, der f...] wußte, daß sie mit ihren Zudringlichkeiten niemanden verschonte, [...] wies [...] ihre Lockungen von sich.«' 5 5 Immerhin, aus solchen interessanten Aktivitäten einer schönen Liebestollen hätte sich etwas machen lassen, wenn nicht ein großes Shakespeare-Format, so doch eine beziehungsvolle Parallele 136 oder eine doppelseitige Gestaltung des Eifersuchtsmotivs. Aber Hebbels Sinn für dramatische Konzentration schließt die femme fatale vom Nil aus und läßt sie nur indirekt im Gespräch anderer vorkommen.' 37 Keine Uberkreuz-Beziehung (nach Art der »Wahlverwandtschaften^, keine Konflikte zwischen Konvention und Gefühlstrieb, zwischen Pflicht und Neigung: Herodes und Mariamne produzieren bei Hebbel ihre Probleme in souveräner Weise gänzlich aus sich, aus den Hoffnungen und Nöten der eigenen Situation, des eigenen Bewußtseins, aus den Vorstellungen der ehelichen Liebesschuld. 138 Sie brauchen, um zur tragischen Katastrophe zu mengesetzte Klan mit den ständigen Eifersüchteleien, Verleumdungen, Intrigen, mit Neid, Überheblichkeit und Arroganz und allen möglichen Komplexen im königlichen Palast zusammenhockte, wobei jeder jeden belauerte« (Herodes der Große. König der Juden [zuerst 1977]. 1980. S. I23f.). 1 3 5 Jüdische Altertümer (s. Anm. 26) XV/4/2. 1 3 6 Von Rückert angedeutet: Herodes und Mariamme, 4. Aufzug (wie Anm. 131, S. 324). 1 3 7 Dies allerdings mehrfach: vgl. V. 315, 830, 987f., 1616, 2087ff., 2335 u. 2580. 138 Vgl, ähnliche, freilich eine »Liebesleidenschaft« ausmachende Beobachtungen bei H. Kreuzer (wie Anm. 4, S. 167). Aufgefallen ist das Besondere der Konstellation vom Biographischen her - seit Mai 1847 ist Elise Lensing zu Gast im Hause Hebbel - auch der Romanautorin Sibylle Knauss, die der leidgeprüften Elise ein literarisches Denkmal aus mitfühlendem weiblichen Herzen erbaut hat: Herodes und M a riamne bilden »ein Paar, das auf wunderbarste Weise mit seinen Problemen allein ist« (Ach Elise oder Liebe ist ein einsames Geschäft. 1981. S. 185).
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gelangen, nicht einmal den wirklichen Ehebruch - das Verdachtsgespenst genügt schon in dieser dramatischen Konstellation, weil die Möglichkeiten der Aufklärung den Beteiligten um der ästhetischen Plausibilität willen nur höchst sparsam zugebilligt werden. Es tritt somit der Fall ein, den Karl Rosenkranz auf dem Terrain der Ehebruchs-Problematik als »reinste tragische Entfaltung« ausgezeichnet hat, daß nämlich »der Ehebruch selbst als That an sich gar nicht existirt, [...] aber nichtsdestoweniger von dem Verdacht des Ehebruchs aus so gehandelt wird, als sei er wirklich vollbracht«.' 39 Nun aber zu dem »Factum«, das alles weitere nach sich zieht und von Hebbel, dem es schließlich um »eine Tragödie unbedingtester Nothwendigkeit« (T4334) geht, sogleich in seiner anstößigen Zufälligkeit durchschaut wird und gerechtfertigt werden muß (vgl. Τ 4051): dem ersten Schwertbefehl des Herodes. Wie er dazu kommt, erschließt sich aus der Bündelung der ihn bedrängenden Faktoren in einem bestimmten Augenblick. Herodes hat um des eigenen politischen Uberlebens willen den Bruder seiner Gattin töten lassen und muß nun - ihres Vertrauens nicht mehr sicher - erfahren, daß sein römischer Oberherr Antonius Interesse an Mariamne nimmt (V. zi^ff.). Alexandras gezieltes Bildgeschenk tut seine Wirkung - und zu diesem (offenbar enthusiasmierten) Antonius sieht sich Herodes bestellt, um über den Tod des Aristobolus Rechenschaft abzulegen! So erläßt er den Schwertbefehl als eine gewaltsame Geste der Verfügung, nachdem Mariamne die geforderte Versicherung der Gattenliebe bis in den Tod verweigert hat. Das Moment des Zufälligen ist an diesem Entschluß unübersehbar. Daß es sich um eine perverse Uberspannung ehelicher Liebesforderung handelt, bedarf nicht des Nachweises. Doch angesichts einer komplexen Situation (Druck und Unsicherheit!) wie auch der historisch-politischen Prägung dieser dramatischen Welt (Despotismus!) wird man nicht pointiert von der Liebe eines Verbrechers sprechen können' 40 - womit die Tragödie in sich zusammenfiele. Die vielen Kritiker des Herodes fassen das Eifersuchtsmotiv meist isoliert, als negative Charakter-Eigenschaft oder als ideologisch bedenkliches Indiz eines vor nichts zurückschreckenden Besitzanspruchs. Jedoch: Man muß die Situation, in der sich alles abspielt, miterfassen und Herodes (als König und Gatten) ein Recht der Selbstbehauptung schon zubilligen, ohne darum - was auch gar nicht im Sinne des Dramatikers wäre - das moralische Fiasko seiner Handlungskonsequenz zu bestreiten. Daß der Mißgriff des Todesbefehls auch eine historische Pathologie anzeigt, steht auf einem anderen Blatt. Es genügt schon eine differenzierte, die Situation nicht
'S» Wie A n m . 98, S. ηι(. ,4 ° So R . Gruenter, wie Anm. 76, S. 1 3 1 . 334
ausblendende Wahrnehmung, um das eifersüchtige Gebaren des Herodes in seiner psychologischen Schlüssigkeit zu erkennen.141 Bevor Mariamne aus Joseph das trübe Geheimnis herausgefragt hat, sieht sie immerhin - trotz der aufgetretenen Irritationen - noch Anlaß genug, Herodes vor der Mutter als den »Mann« zu rühmen, »der jeden andern Mann, / Wie er sein Schwert nur zieht, zum Weibe macht [...]« (V. io66f.). In dem Heroenpreis steckt auch eine ebenso nüchterne wie wichtige Anerkennung, die am leichtesten von der Massinger-Kritik aus verdeutlicht werden kann. An Ludovicos Statur nimmt Hebbel auch deshalb Anstoß, weil er - »in Saus und Braus« - »den Geburtstag seiner Gemahlin« feiert, »während eine über seine ganze Zukunft entscheidende Schlacht [...] geschlagen wird« (die dann auch prompt verloren geht). Dagegen setzt Hebbel seine Uberzeugung vom rechten Mann am rechten Ort: Herodes hätte diesen Geburtstag ohne Zweifel dadurch am Besten zu feiern geglaubt, daß er an der Schlacht Theil genommen und durch Aufbietung aller seiner Kräfte das seinem Weibe, wie ihm selbst, drohende Schicksal abzuwenden gesucht hätte; das wäre für einen Mann, an dessen Heldennatur man glauben soll, sogar unbedingt nothwendig gewesen (W X I 254).
Was hat der Mann auch in einer häuslichen Feier verloren, wenn dem ganzen Haus Gefahr droht? Er sollte vielmehr alles daransetzen, diese Gefahr »abzuwenden«, und darf sich dieser Pflicht um keinen Preis entziehen - wie Antonius beispielsweise, der für seine Ausschweifungen mit Cleopatra politisch im Kampf gegen Octavian bezahlen muß, was Herodes sogleich so scharfsinnig wie zutreffend prophezeit (vgl. V. iJ7ff.) Er selbst läßt sich ein solches Versäumnis nicht zuschulden kommen, geht zu Antonius, als er mit höchst ungewissen Auspizien gerufen wird, und zieht in die Schlacht, in der auch sein Schicksal mitentschieden wird. Nicht nur der Idumäer handelt so, der Emporkömmling, der sich gegen die Makkabäer und Pharisäer und Römer seiner Haut zu wehren hat - Herodes bewährt sich dabei als der »Mann«, der den Forderungen der Wirklichkeit nicht ausweichen kann und will, und das schließt seine Pflichten als König wie als Gatte ein. Damit wird auch deutlich, inwiefern Herodes als Gegenfigur zum Eduard der >Wahlverwandtschaften< angelegt ist, dem Hebbels Theoriehelfer Rötscher »Mangel an innerer Haltung und an dem f...] sittlichen Ernst und Eifersucht »im höchsten Grade« attestiert schon Flavius Josephus dem Herodes (wie Anm. 132, Abschn. 3. S. 81). Grillparzer, der 1822/23 Pläne eines HerodesDramas (>Die letzten Könige von JudaGenovevavergessen< (s. o.) kann, zeigt allein schon die Irritation der persönlichen Beziehung an. Mariamne gibt, freilich in höfischer Öffentlichkeit, durchaus absichtsvoll das Echo zur eingetretenen Vertrauensstörung: »Was befiehlt der König? / Ich bin entboten worden und erschien!« (V. ij68f.) Falsche Töne also, falsche Anreden, eine rollenbezogene Rhetorik statt des persönlichen Wortes: man wird aufmerksam darauf, wie hier überhaupt die Dinge perspektivisch ins Gleiten kommen, so daß sie sich in der Beobachtung kaum noch einheitlich übersehen lassen. Für Mariamne mag das noch möglich sein, wenn sie sich vor ihrem Gatten zurückhaltend, ja abweisend gibt, dann aber vor der Mutter rückhaltlos zur Gattenliebe bekennt, bis hin zum zuvor verweigerten »Schwur« auf das freiwillige Nachsterben (vgl. V. io86ff.). Doch wie steht es mit Herodes? Der gleiche Mann, der Mariamne gesteht, er könne ohne die Versicherung ihrer Liebe nicht »kämpfen«, also politisch handeln (V. 39jff.), scheint in seinem allerersten Entschlußmonolog (I/2) nur sich allein zu kennen: zehnmal >Ich< in 13 Versen (vgl. V. aj3ff.), eine Selbstfixierung, die sich keineswegs durch den Gedanken an eine geliebte Frau aufbrechen läßt, ohne den doch nach dem späteren Votum alle politische Selbstbehauptung sinnlos wäre! Ohne Mariamne und ohne die Anläufe zumindest einer Liebesrhetorik schimmert in diesem Monolog die kahle Wahrheit einer Einsamkeit durch, in der Liebe allenfalls als Liebesbedürfnis gekannt wird. Man wundert sich schon gar nicht mehr, wenn man weiter beobachtet, wie Herodes seine eigene Ehefrau dem Schwager Joseph als »die kühne Maccabäerin« mit Thron-Ambitionen bedenklich macht (vgl. V. 544ff.) und den Schwertbefehl mit einem Appell an den politischen Selbsterhaltungstrieb des Stellvertreters versieht (vgl. V. 6ooff.), ohne auch nur anzudeuten, daß Mariamne für ihn nicht bloß eine solchermaßen auszurechnende politische Figur ist. Gewiß, auch seine Selbsterhaltung steht auf dem Spiel, und im übrigen muß keinen Dritten näher angehen, was Eheleute miteinander verbindet. Aber Herodes bringt es fertig, von einer »Schlange« zu reden, die es zu »zertreten« gilt, wenn es die Situation verlangt (V. 638^): und dieses Bild vom gefährlich-widerwärtigen Kriechgetier - Hebbels Obsessions-Metapher par excellence - stellt sich vom Gedanken an Mariamne her ein! Es scheint, als sähe er auch schon die eigene Gattin aus jenem »Schlangenklumpen« hervorzüngeln, auf dem er sich in seiner politischen Unsicherheit wähnt (vgl. V. 258). Spricht so ein Mann von dem Weib, das er doch liebt? Zumindest ist festzuhalten, daß der Politiker in Herodes die Dinge wahrlich auseinanderhalten, die eigene Gattin zweckrational zu einer politischen Schachfigur objektivieren kann, nachdem die emotionale Seite der Sache mit einigen gestammelten Andeutungen abgetan scheint (V. 6i8ff.). Dennoch
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wäre es verfehlt, die Liebe zu Mariamne für etwas nur Vorgetäuschtes anzusehen, das eine Psychologie der Entlarvung in Gang setzte. Was der - hier bewußt scharf beleuchtete - Perspektivismus der >falschen< Anrede und des >falschen< Darüberredens im ersten Akt indes erkennbar macht, ist der Grundzug des Berechnens in und mit der ehelichen Liebe. Wenn Hebbel der konkurrierenden Version Massingers einmal entgegenhält, daß sie den Betrachter »aus der heißen Region der Leidenschaft [...] in die kalte der Berechnung« verschlage (W X I 256), so fällt ein solcher Einwand als kritischer Bumerang auf sein eigenes Drama. Weil der innere Anfangspunkt im Verhältnis des Herodes zu Mariamne nicht die Liebe eines Antonius, eines Tristan ist, sondern das Bedürfnis eines Gehetzten nach dem Lebenshalt, fällt er im Krisenfall sogleich in die Mentalität des Berechnens, des Forderns und des Verfügens. Weil ihm die Ehefrau schuldig zu bleiben droht, was die Pflicht ihr doch vorschreiben müßte, wird sie mit einem Besitzanspruch belegt, den sie in der zweifachen anagnorisis als eine frevelhafte Verdinglichung unter Anklage stellt (vgl. V. 1382 u. 2202f.). c) Verteidigung der »Hölle« Bevor Mariamne, als vermeintliche Ehebrecherin auf Betreiben des Herodes zum Tode verurteilt, den Gang nach Golgatha antritt, führt sie ein letztes Gespräch mit Titus. Den Römer hat sie dazu ausersehen, »Zeugniß« abzulegen von der Wahrheit (V. 3006): daß sie die Pflicht zur ehelichen Liebe und Treue nie verletzt hat. Von Titus läßt sich Mariamne, nachdem sie ihn in ihre Wahrheit eingeweiht hat, denn auch bestätigen, daß sie den Tod zu Recht sucht, weil sie »mit Dem« nicht mehr leben kann, der in ihr »nicht einmal Gottes Ebenbild mehr ehrt« (V. 3iojff.) - womit auch die unausgesprochene Möglichkeit verworfen wird, ohne den Gatten weiterzuleben. Den römischen Hauptmann läßt Mariamne wissen: Dich [...] hab' ich darum auserwählt, Weil D u schon immer, wie ein eh'rnes Bild In eine Feuersbrunst, gelassen-kalt Hinein geschaut in uns're Hölle hast. (V. 3 002ff.)
Darin hat man mit Recht eine Figuration des Augustus gesehen, der gerade den Welt-Machtkampf gegen Antonius gewonnen hat, zumal sich noch die symbolträchtige Schlußszene anfügt, in der Titus den zusammenbrechenden Herodes auffängt. 148 Die »Hölle« wäre demnach der zerfallende jüdisch>48 Vgl. F. Sengle, wie Anm. 6, S. 218. - Eine historische Interpretation der HöllenMetapher (mitsamt einer emphatischen Ausrufung Mariamnes als »Todesengel der Geschichte«) findet sich bei Reinhold Zickel: Drama und Geschichte im Weltbild Friedrich Hebbels. 1925. S. iiof.
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orientalische Geschichtskreis, von dem sich die römische Welt in ihrer historischen Überlegenheit abhebt. Nicht zufällig hat das Drama, das in solcher Bildlichkeit eine Summe zieht, mit dem Motiv der Feuersbrunst begonnen. Wie damit auch schon das Ehethema angeschlagen ist - in der Geschichte der jungen Frau, die aus Gattenliebe in den Tod geht so bewahrt auch die Höllen-Metapher bei aller historischen Valenz einen Reflex der persönlichen Problematik. Die »Hölle«, das ist zunächst die Ehe, wie sie das Drama vorgeführt hat als eine unauflösliche Kette, die Mann und Frau bis zur gegenseitigen Vernichtung aneinander schmiedet. Auch dafür wird Titus als Zeuge geladen, ein in die Tragödie hineinkomponierter Zuschauer nach dem Vorbild eines Gordon oder Shrewsbury (vgl. V. 26/iff.), nicht zuletzt auch ein Platzhalter der >modernen< Empfindung in der historischen Fremde dieser dramatischen Welt. Die Ehe als »Hölle«: Ein halbes Jahrhundert nach Hebbels Drama wird Strindberg das Thema als »Totentanz« choreographieren. Wie Herodes und Mariamne (vgl. V. 2904ff.) sind Edgar und Alice im Liebeshaß »zusammengeschmiedet und können nicht loskommen voneinander«.149 Ihre Haßausbrüche, die gezielten Herrschafts- und Bosheitsspiele haben Methode - das Leben der beiden Geschlechterkämpfer »«ist die Hölle«, l $ ° und zwar ohne tröstende Aussicht auf Befreiung und Erlösung. Nach dem Tod des Kapitäns fühlt Alice, daß damit auch ihr Leben »zu Ende« ist und daß sie der »Vernichtung« entgegengeht.1'1 Die Entsprechung bei Hebbel fehlt nicht: Herodes wird vor dem Gerichtsverfahren, welches Mariamne den Tod bringen soll, von der schaudernden Mahnung angegangen, daß er »in ihr« sich selbst »vernichten werde« (V. 273 8f.). 152 Man sieht bei Strindberg in brutaler Nacktheit freigelegt und bis in eine Metaphysik »des Bösen« getrieben,1 s } was auch schon beim Vorgänger zwischen privater Obsession und historischem Spürsinn hervorzutreten beginnt. Bei Hebbel bleibt der Geschlechter-Dualismus im psychologischen Fluidum des Liebeshasses freilich noch überlagert von komplexen Motivationen theoretischer, historisch-ethischer und nicht zuletzt gattungsästhetischer Provenienz. Es gehört zu diesem Gesamtbild, daß der sittlich-institutionelle Charakter der Ehe noch stärker betont wird als in der Nachfolge, wobei diese prononcierte Verteidigungshaltung die Prägung durch Hegeische Denkfor-
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Totentanz (1901), zit. nach: August Strindberg, Dramen. Übers, von Willi Reich. o.J. S. 101. •5° Ebd. S. 110. - V g l . 114, I32f., 155 u.ö. • 5 ' Ebd. S. 193. 152
Dieser Bezug ist allerdings schon in der Quelle angelegt (vgl. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer [s. A n m . 26] X V / 7 / 2 ) . • S3 V g l . Strindberg, wie A n m . 149, S. 136.
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men erkennen läßt: die konservative Reaktion auf eine in ihrer Brisanz (Feuermotiv!) erfahrene gesellschaftliche Fraglichkeit. 1 ' 4 Nun ist es kaum möglich, in einer literarhistorischen Untersuchung Reizthemen vom Schlage der Geschlechter- und Eheproblematik unbekümmert um gegenwärtig hochgehaltene Theorieansätze zu diskutieren. In den unterschiedlichen »Geschlechtscharakteren« sieht die moderne Soziologie bekanntlich keine natürliche Gegebenheit mehr, sondern »ein für die bürgerliche Gesellschaft generell typisches Funktionselement«, das sich hinter dem »Natur-Argument« lediglich verschanzt: Die Dissoziation von Heim und Welt, von Familie und Öffentlichkeit sei es, die zur Zuweisung - oder zur Anerziehung - unterschiedlicher Eigenschaftskomplexe bei Frau und Mann führt.' 5 5 Auch die kritische Theorie hat sich »der weiblichen Selbstentfremdung in der patriarchalischen Welt« angenommen und »das Joch« in den Blick gerückt, »das die männliche Eigentumsordnung dem weiblichen Charakter auferlegt«.' 56 So konnte der Verdacht kritische Hochkonjunktur erhalten, das Patriarchat sei als Verhinderung weiblicher Emanzipation wie als Sperre zum wahrhaften Liebes- und Eheglück schlechterdings die Wurzel allen Übels. Wenn nicht der Mann als Individuum, so scheint doch das Prinzip der Männlichkeit, nämlich der hinter der Zweckrationalität sich auswirkende Machtwille, an allem schuld. Es konnte nicht ausbleiben, daß solche kritische Perspektiven auch in die Hebbel-Forschung eingedrungen sind. Allerdings zeigen solche Versuche in erster Linie die Schwierigkeit, das Hebbelsche Drama und die begleitende Theorie mit der >modernen< Proble154
Eine Parallele zu solcher Argumentationsstruktur läßt sich in Thomas Manns A b handlung >Über die Ehe< (1925) erkennen. Hier werden Strindbergs Schreckensrituale »bei nur leichter Beobachtung der meisten Ehen« bestätigt, aber nur, um diesem >Ist-Zustand< die konservative >Soll-Forderung< um so entschiedener entgegenzusetzen. Nach ausgiebiger Musterung von mancherlei gefährlich lockenden Regionen (Ästhetizismus, Todessympathie, Homoerotik) fordert sich der Autor schließlich doch ein Plädoyer für die Urgegebenheit der Ehe, ihre »individuelle und institutionelle Widerstandsfähigkeit« ab. Die Nähe zu Hebbel rührt nicht zuletzt daher, daß auch Thomas Mann sich auf Hegel stützt, dessen Begriffskonstruktionen er vor lauter gezwungener Zustimmung zum Inhaltlichen die Qualitäten des Vergnüglichen und sogar des Zarten (!) zuerkennt (vgl. Th. Mann, Reden und Aufsätze. 1965. B d . I. S. 128-144). Eine Aufführung von >Herodes und M a riamne< - dieses »groß ersonnenen Werkes« - hat Thomas Mann am 28. 1. 1920 übrigens »ergriffen«: ein interessantes wirkungsgeschichtliches Detail (vgl. Tagebücher 1 9 1 8 - 1 9 2 1 . Hg. von Peter de Mendelssohn. 1979. S. 374). • 55 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen. Hg. von Heidi Rosenbaum. 1979, 2 i98o. S. 1 6 1 - 1 9 1 . •s 6 M a x Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (zuerst 1947). 1969. S. 81 u. 114 (mit einer Kritik an der christlichen Verklärung der Ehe zur Herzens Vereinigung).
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matisierung des Patriarchats in eine historisch akzeptable Verbindung zu bringen. Die Theorie Hebbels verlangt vom Drama, auf »die neue Form der Menschheit« hinzuwirken, »in welcher Alles wieder an seine Stelle treten, in welcher das Weib dem Manne wieder gegenüber stehen wird, wie dieser der Gesellschaft, und wie die Gesellschaft der Idee« (W X I 44). Der Passus (aus dem Vorwort zu >Maria Magdalenatiefer< greift als alle Theorie, 1 ' 8 so kommt man nicht an der schlichten Konstatierung vorbei, daß es quer steht zu modernen Forderungen nach Abschaffung des Patriarchats und weiblicher Emanzipation. Was sich auf Schritt und Tritt aufdrängt, das ist - diesseits der modernen soziologischen Funktionstheorie - der Glaube an je spezifische Normen für »Mann« und »Weib«. Wenn sich Mariamne nach dem Erleiden eines männlichen Gewaltaktes zur Wehr setzt, so will sie nicht auf den Bruch mit der Gesetzesnorm der Ehe hinaus und schon gar nicht emanzipatorisch die >Sphäre< des Weiblichen ins Öffentliche ausweiten - da ist Mutter Alexandra vor, die »alte Schlange« für Herodes (V. 245), das Schreckensbild des politisierenden Wei157
Mit Beziehung auf Wilhelm Emrich, Friedrich Hebbels Vorwegnahme und Ü b e r windung des Nihilismus. In: Emrich, Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur. Studien. 1965. S. 1 4 7 - 1 6 2 . Z u m betreffenden Passus vgl. S. i5off. Wie hier Hebbels Diktum entstellt wird, um die gesuchte »neue Form« (W X I 44) auf die - angebliche - spezifisch weibliche »Absolutheit des Bewußtseins« hinlenken zu können, läßt sich schon daran erkennen, daß der Vergleich nicht a 1 s Vergleich interpretiert wird. Der Dramatiker des 19. Jahrhunderts wird von W. E m rich vereinnahmt für eine apokalyptische Betrachtung der »Hölle, die unsere gegenwärtige Wirklichkeit ist« (a.a.O. S. 147) - und das wird durch höchst eigenwillige Ausführungen über >JudithNibelungenGrünen Heinrich< einmal das »schreckliche Prinzip« zur Sprache, »das die beiden Geschlechter als zwei sich feindlich entgegenstehende Naturgewalten betrachtet, w o es heißt, Hammer oder Amboß sein, vernichten oder vernichtet werden«. l 6 } Äußerungen dieser Art, in denen sich ein Befremden über die Handlungsformate großer tragischer Dramatik bekundet, ließen sich in beinahe beliebiger Menge beibringen. Wir finden eine solche reservatio mentalis sogar in Hebbels Ehetragödie selbst, und zwar in der Haltung des Titus - als des hineinkomponierten Zeitgenossen - im letzten Gespräch mit Mariamne: Ja, Königin, unheimlich ist Dein Thun Und, ich verhehl's nicht, selbst Dein Wesen mir, Allein ich muß den Heldensinn verehren, Der Dich vom Leben scheiden läßt [...] (V. 2966H.)
Mariamne läßt ihn »in ihr Innerstes« schauen, so daß er ihrem selbstvernichtenden Tun vor Herodes den Stempel der »Nothwendigkeit« aufprägt (V. }20jf{.). Aber bevor er dieses Zeugnis ablegt, wird Titus vom Eindruck des >Unheimlichen< in Mariamnes Heroismus angegangen, bleibt seiner »Bewunderung« des sich im testamentarischen Gespräch endlich eröffnenden »Wesens« das Moment des >Schaudernden< beigemischt (vgl. V. 3051). Das ist 162
Vgl. in diesem Zusammenhang die rechtswissenschaftliche Bewertung Martin Neufelders, nach der Hebbel - anders als im Einsatz für die Pressefreiheit, mit dem er 1848 »seiner Zeit weit voraus« gewesen sei — hinsichtlich des Eherechts bis zum juridischen »Kern« nicht vorgedrungen ist und folglich auch die »sozialrechtliche Funktion« der Ehe im Staat offen läßt (Die Rechtsauffassung Friedrich Hebbels. Ein Beitrag zu den Grundlagen einer Rechtsordnung. 1969. S. I09f. u. 13 rf.). 16 3 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (2. Fassung 1879/80). Tl. III. Kap. 11 (>Die Malen).
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eine durchaus ambivalente Haltung, in der Hebbel offenbar die vorausgesehene Befremdung der zeitgenössischen Reaktion auf seine Tragödie in diese zu integrieren versucht, um jenen Konsens zu erreichen, der in der ästhetischen Natur der Sache nicht mehr verbürgt sein kann. Die ganze Operation verrät freilich abermals, daß die hier aufgestellten Größenformate für die Figuren und ihre Handlungen erst in der Differenz zu den zeitgenössischen Standards, also in der historisierenden Fiktion möglich werden. Im bürgerlichen Trauerspiel wurde Meister Anton vom Kantor (vgl. W II 37), Klara vom zweckrational kalkulierenden Leonhard als »verrückt« hingestellt (vgl. W II 60). In der historischen Tragödie braucht Größe nicht mehr als Verrücktheit verfremdet zu werden, darf das »Uebermaß« (V. 420) als solches hervortreten. Als Herodes von der Selbstmörderin in der Feuersbrunst hört, ist seine erste Reaktion: »Sie wird verrückt gewesen sein!« (V. 24) Als er danach über ihr Motiv, die Gattenliebe, aufgeklärt wird, erscheint sie ihm als »der Frauen Königin« (V. 33). Die nüchterne Herabwertung ist annulliert durch die Nobilitierung des freiwilligen Liebestodes, über die wiederum psychologisch der Mechanismus der Verschuldung in Gang kommt. Was Herodes von Mariamne erwartet und nach ihrer Weigerung über sie verhängt, ist - gemessen an seiner ersten Reaktion auf das Tun der Selbstmörderin - eine Verrücktheit. Wenn diese als solche nicht erscheint, so sehen wir daran den Perspektivismus des Verschiebens ins Große, dem Hebbels historische Dramatik entschieden folgt. Das kann und soll nun nicht heißen, hier werde die Gegenwartsproblematik im Zuge eines Eskapismus preisgegeben. Sicherlich kann man im Drama nicht das ganze Realitäts-Panorama der Jahrhundertmitte wiederfinden. 164 Aber von den bereits erörterten Fakten der privaten Biographie Hebbels ganz abgesehen, fehlt es in der Umschrift des Dramas an Spuren der Gegenwart durchaus nicht, bleibt die »Realität« als Kontrollinstanz sogar programmatisch im Spiel (vgl. Τ 4334). Dazu gehören, von Helmut Kreuzer in glücklicher Entdeckung nachgewiesen, frappierende Parallelen zu Eifersuchts-Exzessen und blutbesiegelten Todesschwüren, die der Pariser Polizeiarchivar Peuchet 1838 aus seinem reichen Erfahrungsschatz mitgeteilt hat. 165 Wirklichkeiten solcher Art kann wohl keine dramatische Phantasie übertrumpfen. Nicht minder bezeichnend für den Realitätsbezug der Tragödie von Herodes 164
165
Der fleißige Wortindex-Ersteller M . Michael kommt zu der Feststellung, daß in >Herodes und Mariamne< »bestimmte Realitätsschichten ausgeklammert« blieben: »Erfahrungen in der agrarischen und industriellen Produktion, die fur die überwiegende Mehrheit von Hebbels Zeitgenossen von zentraler Bedeutung gewesen sein müssen, spielen in Hebbels Drama offensichtlich gar keine Rolle« (wie Anm. 58, S. 37). Das mußte endlich einmal in dieser Deutlichkeit gesagt werden. Z u Peuchets Memoiren. - Ein Hinweis auf Hebbel-Parallelen. In: HJ. 1964. S. 13 of. 345
und Mariamne, freilich in einem komplexeren Sinne, ist das Vorgehen eines französischen Herzogs, der »seine Frau [...], jung, schön und geistreich, Mutter von neun Kindern, [.. .]auf gemein-meuchelmörderische Weise um's Leben gebracht« hat (T 4236). Hebbel wird im August 1847 - während er an seinem Drama arbeitet von dieser Mordgeschichte sichtlich gefesselt. Natürlich interessiert er sich für das Motiv dieser grausigen Tat und hält fest, daß sie »nicht aus Eifersucht und momentaner Uebereilung, sondern aus pecuniairen Gründen« erfolgt ist, wegen der »zerrütteten Finanzen« des Herzogs und im Hinblick auf die »Erbschafts-Ansprüche« seiner Frau. Man sieht dabei dem Dramatiker förmlich zu bei der Motiveinschätzung: ein Mord aus Eifersucht könnte unter Umständen mit menschlichem Rang vereinbar sein, nicht hingegen ein Mord aus Geldgier, aus »den gemeinsten merkantilischen Interessen«. Vier Tage später setzt Hebbel im Tagebuch noch einmal an, um die Differenzlinie zu ziehen: »Was söhnt uns mit dem Verbrecher aus, obgleich darum noch nicht mit dem Verbrechen? Die Kraft!« (T4237) Die hat ein meuchelmörderischer Adliger der Gegenwart nicht, der aus Niedertracht gehandelt hat und vor Gericht »auf die kläglichste Weise« auftritt. Kraft aber hat ein Herodes, der seine Gattin aus einer nur eingebildeten Eifersucht in den Tod treibt und sich noch in der Verblendung als >große Natur< beweist - wenn er sich eigens auf seine »Kraft« beruft (V. 2857), so hören wir das innerdramatische Echo auf die angeführte Tagebuch-Reflexion. Damit zeigt sich das Hebbelsche Ehedrama in seiner Nähe und Ferne zur Zeitgeschichte. Im Faktischen ist der Mordfall, von dem die Zeitungen berichten, durchaus mit dem Geschehen in der Tragödie vergleichbar. Um so mehr sieht sich Hebbel herausgefordert, den Unterschied vom Motiv her zu betonen. Und wenn er den Mord aus Geldgier als »Zeichen der Zeit« interpretiert (T4236), so heißt dies, daß das tragische Ehedrama nur in bewußter Abständigkeit von solchem Handlungsniveau ermöglicht werden kann, also in einer historisierenden >Modelung< der gegenwärtig bestimmenden, doch ästhetisch unproduktiven »merkantilischen Interessen«. Nicht, daß es dem Text des Dramas an solchen Reflexen der »mercantilischen Welt« (T 3646) fehlte. Judäas Satellitenstatus gegenüber »dem Römer« wird ziemlich handfest vom fälligen »Zins« her bezeichnet (vgl. V. 8o9ff.). Vom »Kaufpreis« wird in bezug auf Mariamne gesprochen (V. 992) und spricht sie schließlich sogar selbst (V. 3096ff.). Aber das bleibt metaphorischer Bodensatz, für eine kritische Wahrnehmung als offenbar nicht gänzlich zu unterdrückende Mitgift der Wirklichkeit auffällig, 166 im übrigen aber ohne konstitutive Funktion selbst für die Ausarbeitung der Verdinglichungsproblematik. 166
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Vgl. dazu die freilich vom Historischen völlig absehenden Aktualisierungen von Peter Schütze (Die maskierte Idee. Betrachtungen anhand >Herodes und MariamneMaria Magdalena< von der patriarchalisch geordneten Familie, in >Julia< von der Ehe, deren unantastbare Gültigkeit den Angelpunkt der künstlichen Konstruktion bildet. Es gilt auch von der Ehetragödie an der christlichen Weltwende: Herodes und Mariamne sind in einem Bund zusammengeschlossen, dem eine moderne sittliche Verbindlichkeit eignet - weil es eine Befreiung voneinander nicht geben kann, muß aus dem Wachstum ihres Unglücks eine Tragik der Personen resultieren. Die Verteidigung der Tragödie verbietet den frontalen Angriff auf die Ehe als Institution und verlangt die ästhetische Affirmation der »Hölle«. Es ist nun zuzusehen, inwieweit das »historische« Moment, nach Hebbel zum Verständnis des Dramas unerläßlich (vgl. Τ 4581), für neue Bewegung sorgen kann.
4. Bewegung und Beharrung Daß das Geschehen um Herodes und Mariamne immer auch als ein geschichtliches verstanden sein willl, folgt nicht erst aus dem Auftreten der drei Könige am Schluß. Schon die eröffnende Audienz-Szene läßt erkennen, wie die Vorgänge in einen historischen Horizont gerückt, d. h. auf einen Wandel hin angelegt sind. Die Wiederkehr des zu Antonius geschickten Boten wirft die Frage auf, was nun das »Wichtigste« (V. 2) für Judäa und Herodes ist, der sich abzeichnende Machtkampf der römischen Duumvirn oder die nächtliche Feuersbrunst (die den König auf seine intime Lebensproblematik führen wird). Die Auftritte des Pharisäers Sameas, des galiläischen Gefolgsmannes Serubabel und des römischen Hauptmanns Titus vervollständigen das politische Bild. Die Situation wirkt ruhelos und gespannt. Herodes, so scheint es, hat sich nach allen Seiten zu wehren. Selbst eine freundliche Bemerkung, mit der ihm ein Galiläer als Soldat empfohlen wird, der >eigentlich< »ein Römer«» sei, gleichsam nur »aus Verseh'n / Durch ein ebräisch Weib zur Welt gebracht [...]« (V. 74f.), weist auf einen Hintersinn, nämlich auf die politisch-historische Überlegenheit der Römer gegenüber den Juden. Auch die Beiläufigkeit, mit der Titus davon spricht, am Verhalten seines Wachsoldaten »ein [...] Zeichen für die Zukunft« (V. 98) abzulesen, hat es in sich. Als »eigentliches Thema des Stücks« versteht Michael Post nicht die Geschlechter- oder Eheproblematik, sondern »die Ablösung der Epoche des alttestamentalischen Judentums durch die jüdisch-römische Ära der Messias347
herrschaft«. 167 Die »Ehetragödie« wird in dieser Sicht zur Einkleidung für das »Geschichtsdrama«. Diese These ist nicht so neu, wie sie ihr Vertreter hinstellt, während er sein Verhältnis zur Forschungsgeschichte überhaupt nicht markiert. Doch sie verdient insoweit Beachtung, als sie dazu auffordert, die historischen Bezüge des Dramas ernst zu nehmen, die man - mit der Zeitangabe »Um Christi Geburt« (W II 197) auf den Weg gebracht - aus der Interpretation nicht gut ausschließen kann. Posts Vorgehen, das »Geschichtsdrama« lediglich aus der »Ehetragödie« herauszuschälen, kann für die Disposition der folgenden Überlegungen freilich nicht maßgebend sein. Einmal ist die Ehethematik von Hebbel in eine gewollte historische Indifferenz getaucht, um ihre Geltung für die Gegenwart nicht zu gefährden. Zum anderen trifft die Behauptung Posts nicht zu, das »Geschichtsdrama« habe bis auf zwei »Schlüsselszenen« - »Sameas im Kerker, Auftritt der drei Könige« - »keine eigenen Bilder«. 168 Was bedeuten denn die Auftritte des Sameas im zweiten und vierten Akt, seine Dispute mit Alexandra, was schließlich charakteristische Motive und Metaphern wie das auf Judäa gemünzte Insekten-Bild (V. 2361)? Auch die innenpolitisch-außenpolitischen Konflikte gehören zum historischen Spektrum von Hebbels Tragödie. Hier ist anzusetzen, um die Bedeutung des Geschichtlichen für die moralisch-psychologischen Dimensionen des Geschehens - im Politischen wie im Privaten - zu fassen. a) Der König als Reformator In der Szene II/i hat Mariamnes Mutter Alexandra den Pharisäer Sameas zu Gast. Ihn zieht sie in ein politisches Machtspiel hinein, mit dem sie auf Antonius, den römischen Oberherrn Judäas, zielt und offenkundig den Sturz des Herodes, ihres verhaßten Schwiegersohns, betreibt. Sie rechnet auf die Leidenschaftlichkeit des Römers und will ihn - über das »Bild« des Aristobolus - für Mariamne entzünden (vgl. V. 83iff.). Andererseits weiß sie, daß Antonius den Herodes als Stabilitätsfaktor in dem brodelnden Judäa schätzt. Also muß sie im Land Unruhen schüren, so daß die in Antonius erregte Eifersucht gegen Herodes auch durchgreifen kann (vgl. V. Sjoff.). Dies wiederum ist der dem Sameas zugedachte Teil des politischen Aktionsprogramms, das die Makkabäer wieder an die Macht bringen soll. Aus alledem ergibt sich ein detailliertes Bild der politischen Situation und der in ihr wirksamen historischen Tendenzen. Der Emporkömmling Herodes
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Das Geschichtsdrama in der Maske der Liebestragödie. Eine Interpretation zu Hebbels >Herodes und MariamneRömer-Politik< inhaltlich zugestimmt wird, sorgt die Art des Redens für eine eigentümliche Depotenzierung der Person (vgl. V. 23 57ff.). Dagegen wirken die gegenläufigen Kommentare bei aller Brechung (Sameas' Orthodoxie!) einfach durch ihre unmittelbare Präsenz mächtiger, als stünde den Gegnern des Herodes das größere Rederecht zu. Haben sie im geschichtlichen Kräftespiel nicht doch die stärkeren Bataillone auf ihrer Seite? Die außerordentliche Komplexität von Hebbels Darstellungsweise geht daran auf, wie das Volumen des Individuums gemäß seiner Stellung im historischen Prozeß modifiziert wird. Die Geschichte stellt sich als das immer Größere dar, das der einzelne mit seinem Handlungsbewußtsein niemals völlig unter sich bringen kann. Herodes ist zwar historisch im Recht, wenn er die Gesetzesreform betreibt, aber er unterliegt einer Täuschung, wenn er in
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Eine Formulierung Johann Gustav Droysens: Grundriß der Historik, § 9 3 (zit. nach: Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. H g . von Rudolf Hübner. 1937, 7 i 9 7 2 . S. 365).
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Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der G e schichtsphilosophie. 1953, 7 i 9 7 9 . S. I78f.
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diesem politischen Handeln die dem jüdischen Volk gegebene Messias-Verheißung glaubt auffangen zu können. Damit wird er in das Geschehen hineingezogen, das er zu lenken meinte, und durch das nun seine Intention, aber befreit von seiner negativen Einseitigkeit, verwirklicht werden kann. Die Wendung von der jüdischen Geschichte zur Weltgeschichte folgt aus der Ankunft des Messias als einem geschichtlichen Ereignis, das die Grenzen jener selbstbezüglichen Rationalisierung gesprengt hat, wie sie von Herodes als anmaßende Kraftgebärde berichtet wird (vgl. V. 204if.). Am Ende wird Sameas seinen königlichen Widersacher übertreffen, indem er allen ihm angetanen Qualen standhält und den Selbstmord, zu dem man ihn bringen will (und der für ihn Frevel wäre), verweigert (vgl. V. 2747ff.). Die Geschichte spielt dem verknöcherten Traditionalisten prophetische Wahrheit zu, setzt ihn in den Stand, die Geburt des Messias »aus dem Stamme Davids« zu verkünden (vgl. V. ι γ γ φ . ) . Herodes hatte sich einst vorgenommen, aus dem feindlichen »Pharisäerpöbel« um der politischen Klugheit willen keinen »Märt'rer« zu machen (vgl. V. w^ff.). Am Ende haben ihn die Umstände zu eben dieser Handlung gezwungen - aus dem Martyrium des Sameas erwächst die Messias-Verkündigung. Damit wird Herodes zum >falschen< Erneuerer, zum weltgeschichtlichen Verlierer gestempelt. Hebbels christlich gesinnter Korrespondenzpartner Friedrich v. Uechtritz hat daran Anstoß genommen, daß ausgerechnet »der starre, aufruhr- und verschwörungslustige Sameas« zum Träger der Messias-Verheißung gemacht worden ist.' 79 An diesem Monitum zeigt sich die Differenz einer religiösdogmatischen Betrachtungsweise zu jenem geschichtlichen Denken, aus dem Hebbels Drama gebildet ist. In >Herodes und Mariamne< geht es nicht darum, auf der Linie des früher und später verfolgten religionsdramatischen Großprojekts (>MolochChristusPoetik und Hermeneutik< V.] Hg. von Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel. 1973. S. 321).
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durchaus einem gesetzesstarren Pharisäer zugeordnet werden, der noch jener >alten Welt< angehört, die durch das neue Gesetz Christi überwunden wird.' 81 Wenn Hebbel 1850 seine Besorgnis ausdrückt, »daß man die relative Berechtigung, die ich dem Christenthum hier [in >Herodes und MariamneList der Vernunft< - beherrschten »Weltbühne« nur »in den größten Umgestaltungs-Epochen« überhaupt »das Ethische« hervortrete, dann aber »gleich nach dem Sieg entstellt« werde (Β V 313 = Τ 5448). Dieser Kommentar entspricht der Religionskritik von Heine, der »das Christentum der ersten Jahrhunderte« in polemischer Ironie gegen das »kläglich morsche Glaubensskelett« der modernen »Staatsreligionen« auszeichnet,' 82 oder auch von Gottfried Keller. 183 Vor allem: Er stimmt mit der Gegebenheit des Dramas selbst zusammen, mit der Dominanz eines entwicklungsund wirkungsgeschichtlichen Denkens, wie es von Herodes vertreten wird freilich mit jener Brechung zum Geschehen hin, das den geschichtlichen Täter als >Werkzeug< eines übergreifenden geschichtlichen Prozesses ausweist. Von diesem Verhältnis erfaßt Herodes schließlich in seiner Anklage des »Schicksals« einiges (vgl. V. 3269). Offenkundig folgt Hebbels dramatische Behandlung des historischen Individuums, die Verknüpfung seiner immer nur partikularen Antriebskräfte mit transindividuellen Zweckbestimmungen, in letzter Instanz dem Formulierungsmuster von Hegels Geschichtsphilosophie. 184 181
Hebbels Text nötigt nicht zu einer Entscheidung des jüdisch-christlichen Exegeten-Problems, ob durch die Erscheinung Christi die Forderung nach Gesetzeserfüllung (Mt. 5, 17) oder »des Gesetzes Ende« (Rom. 10, 4) markiert ist bzw. wie beide Aussagen homologisiert werden können.
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Die Stadt Lucca [= Reisebilder. Vierter Teil 1830]. Kap. 14. In: Sämtliche Schriften (s. A n m . 1). B d . II. Hg. von Günter Häntzschel. 1969. S. 518. 18 3 »Wenn die persönlichen Gestalten aus einer Religion hin weggezogen sind, so verfallen ihre Tempel, und der Rest ist Schweigen«: so in der Erzählung »Das verlorene Lachem (1874), die ein windiges modernes Reformchristentum mit dem sektiererisch fortlebenden Urchristentum konfrontiert. 184 Es ist der Mangel von M . Posts Deskription des Dramas, daß die hegelianischen Kategorien völlig suspendiert sind (der N a m e Hegel taucht in seiner Studie überhaupt nicht auf). So wird Herodes die Zukunftsrichtung seines Handelns bestritten und dann wieder zugesprochen (vgl. wie A n m . 167, S. 49 u. 52f.), ohne daß die Vermittlung dieser Momente überzeugend gelänge. Mit Hegels Konzeption, daß
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Der Blick auf den fortschrittlich denkenden, freilich in der Reichweite seines Handelns auch wieder begrenzten Politiker Herodes darf natürlich den Tyrannen nicht auslassen, der »mit verfall'nem Menschenleben« wuchert (V. 296L). Das eine muß das andere nicht ausschließen: Wer als Politiker den Fortschritt will, kann sehr wohl in der Praxis des Herrschens die eingespielten Mechanismen gewaltsam verteidigen. 185 Und er kann wohl auch das Prinzip des Despotismus, die unbedingte Befehlsanmaßung über Menschen, gegen die eigene Gattin ausspielen. Gewiß ist Herodes darin auch historischer Exponent, der mit der Ausweitung der Befehlsanmaßung ins Persönliche auf das Unsichere seiner Lage reagiert. Andererseits weisen ihn die Gewissensskrupel, die er selbst innerlich Mariamne gegenüber einräumen muß (vgl. V. ijiof.), einer modernen Moralität zu. So ist es ein bezeichnender Zug, daß Herodes den zweiten »Blutbefehl« verhängt hat, indem er vor Soemus - nach dessen nicht anzuzweifelndem Zeugnis - »heuchlerisch« und »unwürdig« die Augen niederschlägt (vgl. V. 2i8/ff.). Wenn man dazu das gleichgerichtete Gespräch mit Joseph suppliers in dem Herodes die eigene Gattin in das Zeichen der Schlange gestellt hat (vgl. V. 638), so kann man sich die Unterredung mit Soemus, die nur in rückspiegelnder Erinnerung auftaucht, hinreichend vorstellen. Ganz abwegig ist die Erinnerung an den meuchelmörderischen Due de Choiseul (vgl. T 4 2 } 6 f . ) hier nicht, zumal den potentiellen Mörder, wie seine Gebärden verraten, sein eigenes Gewissen richtet. Als menschenverachtender Despot verfällt der politische Reformator dem Untergang. b) Mariamnes Motiv Einen »Einschlag in den Zettel der Weltgeschichte« hat Josef Körner das »Privatunglück der Liebenden« genannt. 186 Mariamne wird von diesem Interpreten als »heiliges Kampfopfer« der Idee von Menschenwürde und freier Subjektivität geadelt.' 87 Das eine ist so unbestreitbar wie fraglich das andere. Tatsächlich bedarf es, um der Gestaltung Mariamnes beizukommen, einer besonderen Wachsamkeit. Daran hat man es in den letzten Jahrzehnten auch nicht fehlen lassen - mit der Folge, daß sich das Bild der tragischen Heroine
»Individuen« und »Völker«, »indem sie das Ihrige suchen und befriedigen, zugleich die Mittel und Werkzeuge eines Höheren und Weiteren sind« (wie Anm. 13, S. 40), kommt man den von Hebbel gestalteten Phänomenen besser auf den Grund. Dies muß durchaus nicht bedeuten, daß man den Dramatiker noch auf Hegels apriorische Vernunft-Gewißheit festlegen sollte. 185 Anneliese Werner ζ. B . verheddert sich an diesem Punkt (vgl. Hebbels Verhältnis zur Geschichte in seinem Denken und Dichten. 1952. S. 99fr.). 186 Anm. 174, S. 210. - Z u m Teppich-Bild vgl. Hegel, wie A n m . 13, S. 38. 187 Wie Anm. 174, S. 2 1 2 . 357
einigermaßen verdüstert hat. Andererseits müssen alle Versuche als problematisch gelten, die von Hebbel hergestellte Verbindung ihres persönlichen Schicksals mit einem historischen Sinn stillschweigend zu suspendieren. Natürlich ist allein die persönliche Problematik zwischen den Eheleuten unmittelbar präsent, dazu noch ausgestattet mit Reflexen der modernen Situation. Dies kann jedoch nicht bedeuten, daß es auf ihre historische Integration überhaupt nicht ankäme. Die Vervielfältigung des Verdinglichungs-Motivs im vierten Akt ist ein nicht wegzudisputierendes Indiz für das Gegenteil.188 Nachdem Soemus die Aufklärung über den zweiten Tötungsbefehl des Herodes und das Motiv seiner inneren Gehorsams-Verweigerung gegeben hat, zieht Mariamne selbst die Parallele, indem sie mit Beziehung auf Herodes feststellt: [ . . . ] D u stehst zu ihm, wie ich, D u bist, wie ich, in Deinem Heiligsten Gekränkt, wie ich, zum Ding herabgesetzt! E r ist ein Freund, wie er ein Gatte ist. (V. 220lff.)
Dreimal »wie ich«, dreimal der transpersonale Sachverhalt: Der Verletzung der Gattin durch Herodes entspricht die Kränkung des jungen Freundes, der sich - als bloßes >Werkzeug< genommen - in seiner Männlichkeit und Menschlichkeit mißbraucht sieht (vgl. V. 2i84ff. u. 2234^). Von einer modernen Sensibilität aus wird historisch mit dem orientalisch-jüdischen Despotismus abgerechnet: Herodes gehört nach Hegels Einteilungsschema zum orientalischen Bewußtsein, dem noch nicht aufgegangen ist, »daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist«, und dem die Freiheit daher als Despotie des e i n e n Herrschers gilt. Dagegen setzt Hegel den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« bei den Griechen und Römern und schließlich in der germanisch-christlichen Welt: das »Bewußtsein« arbeitet sich durch, »daß der Mensch als Mensch frei [ist], die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht«.'89 Wir sehen hier die Grundlage für das Person-Pathos von Mariamne und Soemus. Die Dreier-Konstellation des Dramas erinnert an >Genoveva< (1840/41): Der Gatte gibt seinem jüngeren Freund einen Auftrag, der die Gattin betrifft. Der Unterschied besteht darin, daß Genoveva im Legendendrama Golo zu »Obacht« und »Schutz« anvertraut wurde (vgl. W I, V. 85), Mariamne hingegen im historischen Drama unter das Schwert des Soemus gestellt wird (vgl. V. i956ff.). Die Liebesglut, die Golo zur Raserei und phantastisch inszenier-
188 v g l . ebd. S. i86ff., 192 u. 234. - H . Kaiser liest dagegen schon an der puren Wiederholung des Schwertbefehls die Wendung ins Geschichtlich-Objektive ab (vgl. wie A n m . 14, S. 77). • 89 V g l . w i e A n m . 13, S. 3if.
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ten Prüfung von Genoveva bzw. Gottes Schöpfungswerk trieb, erfaßt nicht mehr das dramatische Zentrum, sondern facht allenfalls ein kleines Feuer am Rande an. 1 9 0 Der Schwerpunkt der Dreier-Konstellation ist versetzt: es geht nicht um den Liebesanspruch des Jüngeren, der sich über eine bestehende Ehebindung hinwegsetzen will, sondern es geht um diese Ehebindung selbst und den >GeistDritte< nicht romanhafte Verwicklungen schürzen, sondern als historischer Seismograph fungieren soll. An Soemus erweist sich Herodes eben als historischer Exponent, während sein Verdinglichungs-Frevel, träfe er Mariamne allein, ein moralisches Desaster bliebe. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß Soemus gegenüber der Quelle dem König politisch angenähert wird, vor allem aber, welches Maß an menschlicher Noblesse er bei Hebbel erhält. 191 Daß der bewundernde Anhänger dem Herodes die Gefolgschaft aufkündigt, als er ihn die Grenze zum Verbrecherischen überschreiten sieht, ohne ihm seinen »Abscheu« (V. 2195) auszudrücken, macht ihn auch zu einem Nachfolger von Schillers Octavio Piccolomini. Das taktierende Verschweigen der wahren Gesinnung - also ein Vertrauensbruch - rechtfertigt sich im Falle des Soemus gleichfalls als Präventiv-Maßnahme: Im >Wallenstein< gilt es, einem machtpolitisch motivierten Verrat zuvorzukommen, in Hebbels Tragödie ein durch den Verdinglichungs-Frevel gefährdetes Leben zu schützen. 192 Neben Mariamne und Soemus gibt es noch ein drittes Beispiel von Verdinglichung: die Artaxerxes-Szene (IV/4). Der Sklave, den »das alte Amt« am Hofe des Satrapen dazu bestimmt hatte, mit dem eigenen Puls die »Zeit« zu messen, also in der Seinsbestimmung als »Uhr« völlig aufzugehen (vgl. V. 226/H.), rückt durchaus in eine Reihe mit der stolzen Königin und dem edlen Jüngling. Hebbel hat wohl den Namen, nicht aber die Episode selbst den Quellen entnommen. Möglicherweise geht die Sklaven-Szene auf eine
190 V g l , γ 2255f. u. 3233ff. - Dagegen ist das Liebesmotiv bei Gyges, dem SoemusNachfolger im späteren Drama, wieder verstärkt, dem Goloschen Phantasiezauber angenähert (vgl. W III, V. 699ff.). 191
Bei Flavius Josephus verrät Soemus, seiner Stammeszugehörigkeit nach Ituräer — und nicht Galiläer wie bei Hebbel - Herodes' Befehl aus taktischem Opportunismus an Mariamne. Vgl. Jüdische Altertümer (s. Anm. 26) X V / 7 / 1 , dazu auch Hayo Matthiesen, >Herodes und MariamneHerodes und MariamneRichtige< ersetzt: die Überlegung, daß Herodes, weil er sich hypothetisch zum »Henker« (V. 2150) seiner Gattin aufgeworfen hat, dieses »Amt« nun auch faktisch aufgezwungen werden müsse. Wie Mariamne sodann ihr Verstellungsspiel anlegt und durchführt, beim >Larven-Fest< die Ungetreue und vor Gericht die Uneinsichtige vorgaukelt, das zeigt bis in den Argumentationsverzicht hinein die Struktur von Vergeltung, von Rache. Deutlich wird dies auch bei der Probe auf das tragische Exempel, als Mariamne - gegenüber dem schiedsrichterlichen Titus - noch einmal auf die Scheideweg-Situation (IV/3) zu sprechen kommt: Ich griff zu meinem Dolch, und, abgehalten Vom rasch versuchten Selbstmord, schwur ich ihm [Herodes]: D u willst im Tode meinen Henker machen? 209
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Die Replik wird stillschweigend übergangen von D . Barlow (vgl. wie A n m . 195, S. 214), A . Bönig, der unter dem Theoriegeleit von Ernest Borneman zwar das Patriarchat kritisiert, aber leider nicht recht zum Drama hinfmdet (vgl. wie A n m . 76, S. 83f.), und etlichen anderen Interpreten, denen sie nicht ins Konzept paßt.
D u sollst mein Henker werden, doch im Leben! D u sollst das Weib, das du erblicktest, tödten Und erst im Tod mich sehen, wie ich bin! (V.3o37ff.)
Wer in dieser Kalkulation nicht die Logik der Vergeltung erkennt (und das Bild der großen Liebenden ungetrübt durch das Drama hindurchträgt), der muß schon einen sehr gefestigten Glauben mitbringen. In geradezu choreographischer Exaktheit enthüllt sich Mariamnes Handeln als Rachewerk: die Verkannte zwingt dem mißleiteten Ehemann eine Verkennung ihres Wesens auf (vgl. V. 2836ff.), die Verdinglichte verdinglicht den Verdinglicher. Das Motiv des Selbstmords, der über den täuschenden Schein arrangiert wird, trifft man bei Hebbel auch in der Lyrik an, nämlich in der frühen Romanze >Ritter Fortunat (1833). 2 1 0 In der Ehetragödie betreibt Mariamne planmäßig ihre Vernichtung durch den Mann, um ihn, der sie in ihrem Größen- und Ehrenanspruch mißachtet hat, selbst zu erniedrigen - der von ihr inszenierte Schein bereitet den Schlag vor, die genauestens programmierte nachträgliche Aufklärung des Herodes führt ihn a u s . 2 " Zu bedenken ist nun allerdings, daß Hebbel diese Rachestruktur zwar eindeutig gestaltet, aber auch verschleiert hat. Die Handschrift der Tragödie ließ Mariamne bei der oben zitierten Rekapitulation ursprünglich »wie vom Rachegeist«, die Theaterbearbeitung sie dann »wie von höh'rer Macht getrieben« sein (vgl. W II 471). Man sieht an der endgültigen Version (vgl. V. 3037^) eine Personalisierung, aber vor dem Entschluß zum Schwur im Licht der Vorstufe auch noch die Leerstelle, die das eingestandene Rachemotiv einst ausgefüllt hatte, allerdings gleich schon ins Transpersonale getrieben und durch den Irrealis abgeschwächt. 112 210
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Dabei verdient Beachtung, daß die Verstellung der Frau — die hier aus verschmähter Liebe handelt - und die aus ihrer Verkleidung folgende tödliche Katastrophe die Differenz zu Hebbels Vorbild bei Uhland (>Ritter ParisNibelungenGyges und sein RingHerodes und Mariamneauflösenideologische< Funktion, näher zu diskutieren. 2 1 9 In unserem Zusammenhang ergibt sich ein Aufschluß für das notwendige Selbsträchertum der Mariamne: sie erfährt einen gewaltsamen Eingriff in die Personsphäre als Zerstörung des Ganzen und kann daher nicht anders als durch einen Rückschlag >antwortenweltschmerzlicher< und schroffer im Ton, gegenüber Elise Lensing über »die weibliche Natur« ausgelassen (vgl. Β II 339). Dabei dürften heute die Bedenken überwiegen, wie sie ζ. Β . A. Bönig schon wieder eindimensional eingeschliffen vorträgt (vgl. wie Anm. 76, S. 84). Was den zeitgenössischen Konsens im weiteren Sinne angeht, so sieht man Hebbels Geschlechter-Psychologie in diesem Punkt etwa bei Georg Simmel bestätigt, der in einer dezidierten Analyse des weiblichen Vorstellungslebens zu dem gleichen B e fund kommt (vgl. Z u r Psychologie der Frauen [1890]. In: Simmel, Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Hg. von Heinz-Jürgen Dahme und Klaus Christian Köhnke. 1985. S. 28f.). Damit steht nur scheinbar im Widerspruch, wie Charlotte (in Goethes >WahlverwandtschaftenWilhelm Meisters LehrjahrePunktualität< des weiblichen Fühlens und Erlebens: Ergibt sich aus dem einzelnen Teil naturhaft die Reproduktion eines Lebensganzen, so ist darin auch jene >Krisenanfälligkeit< impliziert, die Hebbels Tragödie aus der weiblichen Psychologie herausholt.
troffen wird (vgl. V. 1084^). Hat der Mann den »Schein« für ihr »Wesen« genommen (V. 3053), dann ist dies für die Frau nicht Anlaß - auch nicht im rekapitulierenden Gespräch mit Titus - , nach den Bedingungen solchen Verkennens zu fragen (seiner leidenschaftlichen Eifersucht, seinem politischen Druck und Selbsterhaltungs-Willen, ihrem die Schwierigkeit potenzierenden Schweigen). Mariamne ist nach dem zweiten Schwertbefehl nur noch vom Racheantrieb erfüllt, der die Verletzung im Einzelnen zur Zerstörung des Ganzen hochtreibt. Es reicht noch zu einer desillusionierten Absage an die »Welt des Scheins« (V. 3076^), nicht aber zu einer Reflexion, ob nicht die Mißgriffe ihres königlichen Gatten durch diese konditioniert sind. Das Bewußtsein, alles sei zu Ende, bestimmt folgerichtig das bittere Fazit: »[...] wenn's der Zweck des Lebens ist, / Daß man es hassen und den ew'gen Tod / Ihm vorzieh'n lernen soll, so wurde er / In mir erreicht« (V. 3o68ff.). Das sagt Mariamne »müde«, also ganz und gar nicht >erhoben< wie eine Märtyrerin, die in ihrem Untergang von einem Besseren wüßte, das überlebt. Wie Herodes (vgl. V. 44jff.) hält sie vom Unsterblichkeitsglauben der Pharisäer - und später der Christen - nichts (vgl. V. 2979). Auch sie ist völlig areligiös und nimmt keine Zuflucht zur freundlichen Illusion einer Transzendenz: entsprechend ihrem historischen Status, aber auch der Religionskritik des 19. Jahrhunderts. Nicht von ungefähr wird Mariamne - durch den wohlmeinenden Titus - mit einer geradezu materialistisch zu nennenden Charakter-Determination in Verbindung gebracht (vgl. V. 32i7ff.). Von welcher Seite man es auch betrachtet: Ihre Vernichtungs-Anstrengung läßt überhaupt nichts Tröstliches mehr übrig. Der Wunsch, im Granitsarg in »des Meeres Abgrund« versenkt zu werden (»Damit sogar mein Staub den Elementen / Für alle Ewigkeit entzogen sei!« [V. 3074^]), bringt Mariamnes Verneinungs-Nihilismus in seine extremste Manifestation. Hebbel hat später (1857) die in diesem Wunsch zum Ausdruck kommende »furchtbare Resignation« als Berührungspunkt mit der erst zu dieser Zeit gelesenen Philosophie Schopenhauers reklamiert (Β VI 13): mit einigem Recht, denn die Verneinung eines sinnlos gewordenen Weltgetriebes ist die letzte Sinnmöglichkeit, die sich willenhaft noch ergreifen läßt. Was sich darin bei Mariamne in letzter Aufgipfelung bezeugt, ist eine heroische Handlungskraft, die ihr die Tragödie im kaum verhüllten Dissens mit GegenwartsStandards zuspielt. Daß seine Gattin, die ja »nicht weinen kann« (V. 490), stark genug ist »für einen echten Haß«, attestiert ihr Herodes halb bewundernd, halb besorgt (vgl. V. 1586^). Sehr aufschlußreich für die personalemotionale (eben >weiblicheDemetriusHerodes und Mariamne< die außerordentliche Sorgfalt in der Quellenauswertung, die >Dichte< der Faktur und - auf der Kommentar-Ebene - die Betonung der »Notwendigkeit« alles Geschehens (vgl. Β IV 2θ7 u. ö.) Indizien in dieser Richtung. Vor dem Hintergrund von Hebbels Geringschätzung des buntscheckigen >Tatsachen-Wustes< für die dramatische Geschichtstreue (vgl. W X I 5f.) läßt die angestrengte Bemühung um das Faktische eigentliche nur den Schluß auf eine Strategie der Kontingenz-Eindämmung zu. Dazu stimmt in anderer Weise auch, daß Hebbel vom apriorisch vorgreifenden Wissensanspurch, den er über den Hegelianismus tradiert hat, anders als im Ästhetischen (disqualifizierende Abferti-
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Z u m Begriff der »sittlichen Mächte« vgl. Hegels Rechtsphilosophie § 145 (wie Anm. 86, S. I42f.). Z w a r lassen sich bei Droysen diverse Wendungen gegen Hegel und die Geschichtsphilosophie auffinden. Aber zu Recht bemerkt Jörn Rüsen dazu: »In der Kritik an Hegel stellt sich das Motiv seiner Philosophie bei Droysen wieder her«: nämlich die Vermittlung von Vernunft und Wirklichkeit, geschehender und begriffener Geschichte (Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der G e schichtstheorie J . G . Droysens. 1969. S. 19). Z u diesen Zusammenhängen vgl. auch die klärende Darstellung von H . - G . Gadamer (wie Anm. 229, S. 195fr.). So K . Löwith in seiner Beschreibung von Jacob Burckhardts Geschichtsauffassung (wie A n m . 178, S. 176; vgl. 28). Zur postulierten »Kontinuität geschichtlicher Entwicklung« als »Voraussetzung der historischen Methode« vgl. J . Rüsen (wie Anm. 233, S. 60). Eine Wortprägung von Hermann Lübbe. Vgl. auch dessen Votum gegen eine mißbräuchliche politisch-ideologische Inanspruchnahme Hegels durch die späteren Vertreter einer »Geschichtsplanverwaltung« (Geschichtsphilosophie und politische Praxis. In: Geschichte [s. Anm. 180]. S. 223fr.). Z u r skeptischen, schon von Jacob Burckhardt betonten Ablehnung der Geschichtsphilosophie vgl. im übrigen die vehemente Polemik von Karl R. Popper (Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen [= Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II], dt. 1958, 3 i973) und die vergnüglichen Spiele von Odo Marquard (Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. 1973). 3 77
gungen!) bei der Ausformulierung geschichtlicher Probleme in der Regel einen maßvollen Gebrauch macht. 2 ' 6 Hebbel, so ist eingewendet worden, denke als Dramatiker nicht wahrhaft geschichtlich, sondern beute die Historie nur zu ästhetischen Zwecken aus, um aus voraufklärerischer Dunkelheit die für das Formgebot der Tragödie geeigneten Inhalte zu gewinnen/ 37 Wenn man sich die Darstellung Mariamnes vergegenwärtigt und sich überdies erinnert, daß Hebbel selbst später die Präsentation historischer Dramen mit dem »Eintritt in eine Bilder-Gallerie« vergleicht (Β VII 282), so erscheint die These keineswegs unzutreffend. Sie erfaßt den komplexen Sachverhalt jedoch insgesamt nicht zuverlässig, ignoriert die Gegenwartsbindung des Geschichtsdramas wie auch die in ihm erkennbar gestalteten Ansätze eines wahrhaft geschichtlichen Denkens. Allein schon die Akribie in der Ausarbeitung des innerdramatischen Vergangenheits-Horizonts - bis in die Familiengeschichte eines Sklaven (vgl. V 2297ff.) - ist ein Beleg dafür, wenn anders sich historischer Sinn nach Jacob Burckhardt zunächst einmal »im Vergleichenkönnen zwischen verschiedenen Vergangenheiten unter sich« erweist. 2 ' 8 Mit dem Historismus teilt Hebbel die Problematik, Hegels Geschichtsphilosophie nicht fortführen und doch die Anknüpfung an sie nicht vermeiden zu können. Die Konvergenz erstreckt sich bis in die Aporie, daß in der Geschichte eine Antwort auf Fragen der Gegenwart gesucht wird, aber eigentlich nicht gefunden werden kann. Die Vergangenheit besteht aus jeweils individuellen, also unübertragbaren Konstellationen - ihre >Lehre< kann die Gegenwart nicht oder jedenfalls nicht direkt angehen. Die christliche Weltwende ist ein einmaliges Ereignis, mit keiner späteren Epoche in eine nähere Beziehung zu bringen. Wir haben noch einen Blick auf Hebbels Versuch zu werfen, das Beispiel der Vergangenheit dennoch zu einer Lehre für die Gegenwart zu machen.
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In diesem Z u s a m m e n h a n g ist auch Hebbels begeisterte Kant-Lektüre A n f a n g 1847 zu vermerken, w o b e i er sich zunächst den »physikalischen Aufsätzen« ( T 3 8 8 6 ) , dann der »herrlichen« Geschichtsphilosophie w i d m e t ( T 4 1 1 2 ) . Immerhin neigt er unter diesem Eindruck dazu, alle nachkantische Philosophie abzuwerten (vgl. Τ 3886 u. 3914). Das Gedankenspiel könnte locken, eine Hebbelsche Geschichtstragödie auf kantischer Grundlage sich auszumalen: w o m ö g l i c h mehr v o n der persönlichen Überzeugung geprägt, weniger fiktionalistisch, dafür mit noch stärkerer Betonung v o n Skepsis, aber w o h l auch u m den Preis ästhetischer M i n d e rung. V g l . Heinz Schlaffer, wie A n m . 56, S. I30f.; ähnlich H. Kaiser, w i e A n m . 14, S. J9if. (mit Blick auf »den gesamten bürgerlichen, poetischen Realismus«). Historische Fragmente aus dem Nachlaß. In: Burckhardt-Gesamtausgabe. I929ff. B d . VII. H g . v o n Albert Oeri u. E m i l Dürr. S. 283. - V g l . ebd. S. 228 (das »unterscheidende Vergleichen« zwischen »Vergangenheit und Gegenwart« als das eigentliche historische M o m e n t , das »die bloße geschichtslose Gegenwart« durchbricht).
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j. Die knapp vollbrachte »Versöhnung« In der >GenovevaHerodes< geschieht's, die heiligen drei Könige treten auf und tauchen alle Gräber in Morgenroth« (Β V 5 jf.). Mariamne, Joseph und Soemus wurden hingerichtet, Tötungsbefehle über Sameas (vgl. V. zyyofi.) und die Kinder von Bethlehem (vgl. V. 33o8ff.) verhängt; auch Antonius und Cleopatra kann man als weltgeschichtliche Verlierer noch auf die Totenliste der Tragödie setzen. Die >Morgenröte< auf allen diesen »Gräbern« soll ein Zeichen für den Aufgang einer neuen geschichtlichen Welt sein. Dem Hegelianer, der übrigens einige Jahre vorher das Schema der historischen Tragödie durch Hebbel nicht erfüllt gesehen hat, 1 ' 9 kann signalisiert werden, daß endlich im eigenen Werk das Problem der »Versöhnung« gelöst ist. Die Art, wie Hebbel diese formale Vollendung offeriert (als >AuftrittJudith< bis >Maria Magdalena< (zit. bei P. Bornstein, wie Anm. 48, S. 214). 240
Wie Anm. 13, S. 29. - Vgl. zur durchgängigen Verwendung der Theater-Metapher ebd. S. 34, 44, 99, 129, 133, H3, 343. 370, 379, 54° " · ° ·
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leicht diesen Herodes schreiben.«241 Das Drama ist demnach am Problem des Schlusses gescheitert. Dabei weiß Grillparzer natürlich um die religions- und weltgeschichtliche Bedeutung Jesu Christi; er wundert sich, daß Flavius Josephus davon »keine Notiz nimmt«.242 Im >Bruderzwist in Habsburg< ist eine Vison gestaltet, in der Kaiser Rudolf in entrückter Synästhesie einen »Nachklang von der Weihnacht« erfährt, den menschgewordenen Gott vor Augen hat, den »Stern« auch, der die »Weisen« zur Hütte von Bethlehem geführt hat. 243 Die inspirierte Darstellung feiert den heilsgeschichtlichen Gnadenerweis Christi ganz im Sinne der christlichen Religion. Um so bemerkenswerter, daß Grillparzer trotz der chronologischen Suggestion keinen Gedanken an die Möglichkeit gewendet hat, sein Herodes-Drama historisch mit dem Anfang des Christentums zu verknüpfen. Die Differenzlinie zu Hebbel zieht der Anhalt am Hegelianismus, den der eine große Dramatiker verschmäht und der andere für sein historisches Drama sucht. Manches wegwerfende Urteil der Hebbel-Interpreten über den Dreikönigsschluß resultiert daraus, daß dieses hegelianische Gestaltungselement zu schematisch - eben als >hegelianisch< - gesehen worden ist, so daß der Blick gesperrt war für die durchaus differierenden Züge, die es in seiner Verwendung durch Hebbel erhält. Daher ist für die Interpretation der Szene zunächst eine Funktionsanalyse am Leitfaden dreier Fragen angezeigt: Wie hängt die Szene thematisch-motivisch mit dem gesamten Drama zusammen? Wie läßt sich ihr Darstellungs-Modus mit dem ästhetischen Postulat der »Versöhnung« und dem intendierten historischen Charakter in Verbindung bringen? Wie wird schließlich in der Zeitwende der Vergangenheit diejenige miterfaßt, die mit dem Ereignis von 1848 in der Gegenwart zu bewältigen ist? Zunächst zur thematisch-motivischen Verklammerung, die man in den Interpretationen kaum beachtet sieht. Die drei Könige, die sich als fremdartige Gestalten aus weit entfernten Weltregionen bei Herodes einfinden, hatten »denselben Stern geseh'n« (V. 3165), das Himmelszeichen über Bethlehem, welches dem »Kind« - dem »Wunderknaben« für Herodes (V. 3295) - »in's Leben« geleuchtet hat (V. 3170).244 Das ist eine vergleichsweise konventio241
Sämtliche Werke (s. A n m . 3). Bd. II. S. 1100 S. 1 0 9 1 - 1 1 0 2 ) . V g l . dazu auch A n m . 141.
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Sämtliche Werke (s. A n m . 3). Bd. III. S. 94of. (eine wohl auf i860 zu datierende Notiz). — Allerdings findet sich eine Erwähnung Christi (»ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf«) im Testimonium Flavianum< (Jüdische Altertümer [s. A n m . 26] X V I I I / 3 / 3 ) . Es ist jedoch strittig, ob dieser Passus von Flavius Josephus selbst stammt, und eher wahrscheinlich, daß er in späterer Zeit in sein Werk hineingefälscht worden ist.
243
Grillparzer, Sämtliche Werke (s. A n m . 3). Bd. II. S. 430. Das Neue Testament (Mt. 2, iff.) spricht nicht von »Königen«, sondern - im griechischen Text - von »magoi«, was >Weise< (Luther), aber auch >Wahrsager
Hermannsschlacht< wird nicht allein der Sieg des Germanen-Fürsten über Varus zum Zeichen einer Zeitwende, sondern auch der Bericht, den der sterbende Augustus (!) von Herodes (!) über den »Wunderknaben« (!) in der Krippe von Bethlehem erhält. Die drei Könige und der »Stern«, der ihnen »gewinkt« hat, fehlen in diesem Bericht nicht. 24 ' Auch in Rückerts >Herodesfalsche< ebräische Geburt (vgl. V. 74t.) ebenso gehört wie das Gerücht vom unbekannten Sohn des Herodes (vgl. V. 2}j6iL), das antithetisch auf den Messias - als den >wahren Sohn< - verweist. Auf die Frage des ersten Königs, ob ihm nicht »ein Sohn« geboren worden sei, muß Herodes antworten: »O nein! Mir starb mein Weib!« (V. 3i3f.) Diese Verschränkung von Geburt und Tod führt das Individuelle wiederum ins Epochengeschichtliche. Daß Mariamne auf »Golgatha« stirbt (V. 2808), hat Hebbel nicht aus der Quelle aufgenommen, sondern um der Verknüpfung ihres Todes mit der Passionsgeschichte willen hinzugesetzt. Die Vollzugsmeldung des Henkers - »Es ist vollbracht!« (V. 3179)248 - stellt eine weitere Passionsanalogie für Mariamne her, über deren Berechtigung angesichts der inneren Wirklichkeit zu streiten wäre (oder eigentlich nicht mehr). Der gleiche Joab, der anfangs zwischen Herodes und seinem römischen Oberherrn vermittelt hat, setzt am Ende das Zeichen für die Zukunft: »[...] Moses ward gerettet, / Trotz Pharao!« (V. 33iiff.) Der »Wunderknabe« wird also »gerettet« werden - trotz der »Bethlehemitischen Kindermetzelei«, mit der Herodes den Kampf gegen »den gewaltigsten, unheimlichsten seiner Feinde« aufnimmt (vgl. W X I 252). Herodes bricht zusammen - sein stärkster Gegner, das Kind aus Davids Stamm, wird siegen. Unbelangt von der letzten, schon von Vergeblichkeit gezeichneten Kraftanspannung des alten Despotismus, wird es einen neuen Geist in Welt und Geschichte tragen - jenen Geist der »Achtung vor dem Menschenbild« (T 576), an dem es in der Tragödie der Eheleute und auf der vorgeführten orientalisch-jüdischen Geschichtsstufe überhaupt gefehlt hat. Nach ihren Maßstäben muß die Haltung der drei Potentaten, die sich in Freiheit einem »Kind« unterwerfen (vgl. V. 3i/off.), höchst befremdlich wirken. Sie ist ein Zeichen, daß der »König aller Könige« (V. 3166) geschichtlich siegen wird. An diesem schwierigen, im weltgeschichtlichen Fluchtpunkt fraglichen Ubergang hat Herodes per contrarium teil: Indem er sich gewaltsam zu behaupten versucht und somit dem »höchste[n] Lebensgesetz für Staaten und Individuen« (T2335) gehorcht, entbindet er durch seinen Widerstand letztlich nur die Kräfte des Neuen. In Mariamne hat er sich um die wahre »Krone« seines Lebens gebracht. Nun soll ihm die Königskrone »an Weibes 248
Christi letztes Wort am Kreuz (nach Jh. 19, 30).
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Statt« - als Liebesersatz also - »gelten« (vgl. V. 3282ff.), die nackte Machtpolitik libidinös besetzt werden: eine Wendung, die mit der Situation Alberichs (in Wagners >Ring des NibelungenAnhängsels< nicht bestätigt finden. Die textinternen Bezüge sollte man schon wahrnehmen, will man die Leistung dieser Szene bewerten. Kaum anders stellt sich der Sachverhalt dar, wenn man zweitens - auf die Gestaltungsweise blickt. Offenbar hat man Hebbel ein Nachlassen in der Farbzeichnung als Kunstmangel angekreidet, das er gerade aus Kunstverstand gewollt hat. Jedenfalls ließ er Felix Bamberg im August 1850 wissen: »Ihre Bezeichnung der heiligen drei Könige als sprechende Wachs-Figuren trifft ganz meine Intention, die hier auf den Holzschnitt-Styl
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Bei Hegel wird zwar die Langfristigkeit der Christianisierung Europas (acht Jahrhunderte!) nicht übergangen, aber für diese Einräumung der Durchsetzungs-Mühen gibt die spekulativ-theologische Deutung Christi den erforderlichen systematischen Halt: »Dieses neue Prinzip ist die Angel, um welche sich die Weltgeschichte dreht« (wie A n m . 13, S. 386). Das bleibt ohne Nachwirkung bei Hebbel, fur den Christus vielmehr in die Kette der historischen Begebenheiten einrückt. Nicht zu Unrecht stellt D . Gerth zur Schlußszene fest, daß es in ihr mehr um »den reinen Machtanspruch« gehe als um eine »eigentlich sittliche Antithese zu Herodes« (wie A n m . 80, S. 120). Die semantische Beobachtung zu V. 3 1 7 2 - »Nicht liebt, verehrt, anerkennt, sondern >beugtDramenWort< leitet die »Versöhnung« einzig aus der »Maaßlosigkeit« ab, derzufolge das Individuum notwendig »auf seine eigene Zerstörung hinarbeiten muß«: darin eben liege »die Versöhnung, so weit im Kreise der Kunst darnach gefragt werden kann« (W X I 29). 2H Die Formulierung verrät den Widerwillen, den offiziösen Terminus überhaupt aufnehmen zu müssen (vgl. W X I 64): Der dualistische Denker sperrt sich gegen ein leeres Harmonisieren im
° Vgl. Bambergs Brief an Hebbel v o m 1 2 . 5 . 1 8 5 0 (HBF I 327f.). Daß der von Hebbel akzeptierte Vergleich in prekäre Grenzzonen der Kunst fuhrt, zeigt Schopenhauers Meinung, »Wachsfiguren« könnten »nie eine ästhetische Wirkung hervorbringen« und seien »daher nicht eigentlich Werke der schönen Kunst« (wie A n m . 1 4 , S. 5 2 4 ) . 251 Ästhetik. H g . von Friedrich Bassenge. o.J. Bd. II. S. 5 5 0 . 2 2 s Ebd. S. 5 5 1 . Ebd. Bd. I. S. 555; vgl. Bd. II. S. 5 7 9 f r . 254 Als Kontext ist die Kontroverse mit Johan Ludvig Heiberg, dem dänischen Kritiker und Hegelianer, mitzusehen: dieser hatte Hebbel »noch auf dem abstracten Standpunct« lokalisiert, »wo die Vermittlung ihm ein Geheimniß ist« (W X I 4 3 5 ) . 2S
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Drama, sofern ihm kein »Gemeinsames, Lösendes und Versöhnendes« hinter den je denkbaren »Zweiheiten« vorstellbar ist (T 2197), auch nicht im Feld geschichtlicher Abläufe. Nach den mit Adam Oehlenschläger in Kopenhagen geführten Disputen notiert Hebbel Anfang 1843: »[...] ich will nur die Versöhnung der Idee, er will die Versöhnung des Individuums, als ob das Tragische im Kreise der individuellen Ausgleichung möglich wäre!« (T 2634) Immerhin wird damit »Versöhnung« als Element des Tragischen selbst - und nicht als metatragische Auflösung - gesehen, also eine zumindest terminologische Annäherung an die idealistische Ästhetik vollzogen. Noch 1841 hatte Hebbel »alle Tragik« ausschließlich »in der Vernichtung« gesehen (Β II 111). Dieser Nihilismus dringt noch einmal 1848 im Kommentar zu >Maria Magdalena< durch (vgl. Β IV 124), während 1851 eine Äußerung über die kleine dramatische KünstlerEtüde >Michel Angelo< so ironisch gehalten ist, daß deren versöhnlicher Charakter unglaubwürdig wird (vgl. Β IV 28if.). Wenn Gyges einräumt, daß Rhodope durch Sühne allein »noch nicht versöhnt« wäre (W III, V. 1394), so verrät diese ausdrückliche Nicht-Gleichsetzung einiges auch über Hebbels innere Barriere gegenüber dem Versöhnungsdenken. Immerhin: Die briefliche Autobiographie für Arnold Rüge kann die - in >Herodes und Mariamne< - gestaltete »Versöhnung« melden. Hebbel nutzt den Terminus sogar, um seine eigene dramatische Entwicklung zu periodisieren. Dabei hält er der früheren Position insofern die Treue, als er die »Ausgleichung« der »Conflicte« nur »im Allgemeinen« für möglich erklärt, nicht hingegen »in den Individuen, welche sie vertreten« (Β V 55). Dies besagt: die »Versöhnung« als befreiende, erhebende Wirkung auf das erschütterte Gemüt des Beschauers soll durchaus über den Untergang des tragischen Individuums zustande kommen, indem das »Allgemeine« (T 2634), die » N o t w e n digkeit« (T 3487) siegt, die »Idee« also »Satisfaction« erhält (W X I 31), so jedoch, daß dieser Sieg als Sinngebung für die Katastrophe im Drama selbst sichtbar werden muß. Es ist nicht zu bestreiten, daß es für die etwas mühsame Annäherung an die idealistische Tragödien-Norm auch das Motiv der kompositorisch-formalen Abrundung gibt, welches freilich nicht abgetrennt von der Spätwirkung Hegels bzw. des Hegelianismus zu sehen ist. In Paris betont Hebbel, daß »in der dramatischen Kunst die Versöhnung immer über den Kreis des speciellen Dramas hinaus fällt« (T 3168), also der Reflexion des Zuschauers aufgegeben ist. Doch gleich das folgende Notat, das von einer Aufführung der >Antigone< ausgeht, macht dieses >Inkomplette< der dramatischen Form bedenklich: [...] im Allgemeinen sehe ich jetzt deutlicher ein, wie früher, daß die Tragödie am Chor ein wesentliches Element verloren hat, denn f...] wie kahl ist der Schluß unserer Stücke, wenn die Helden weggemäht und höchstens die Leichen-Bestatter und die Klageweiber übrig geblieben sind, und welch eine schwere Arbeit wird dem
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Geist, der endlich ausruhen mögte, noch ganz zuletzt in dem Reproduciren der nicht plastisch hervortretenden Idee zugemuthet [...] (T 3169)
Hebbel sieht im dualistisch geprägten Drama also auch einen Mangel an ästhetischer Präsenz. Der Wunsch geht auf eine formale Abrundung über die tragische Katastrophe hinaus, so daß nicht mehr die Reflexionsbereitschaft des Zuschauers gefordert wäre, um das nur Implizierte - wie den Aufgang einer »neuen Welt« in Golos Sündenverstrickung - zur affirmativen Vorstellung zu vervollständigen. Durch solches Bedürfnis disponiert, konnte Hebbel die vom Hegelianismus gezeigte Möglichkeit einer geschichtlichen »Versöhnung« akzeptieren, ohne in einen offenen Widerspruch zu den alten Anschauungen zu geraten. 2 ' 5 Rötschers Appell, »innerhalb der dramatischen Bewegung schon die ganz vollbrachte Versöhnung zu offenbaren«, 256 regulierte in der Tat die Gestaltung von >Herodes und Mariamnewertethischer< Beflissenheit angeschlossen (vgl. wie A n m . 82, S. 148). Allen diesen - und etlichen anderen - Deutungsvorschlägen ist gemeinsam, daß sie sich auf die Frage nach dem g e s c h i c h t l i c h e n Modus der nur skizzenhaft gehaltenen Schlußszene gar nicht einlassen.
Christentums her höchst bedenklich erscheinen. Doch das Drama läßt diesen Punkt wohlweislich im Dunkel, bringt das christliche Ethos, das die Rache verbietet, nicht nachträglich in Kollision mit Mariamnes Psychologie, die sie gefordert hat. Zwar versucht Hebbel in gewissen Grenzen, die Ehetragödie in die Geschichtstragödie zu überführen. Doch der Kernbereich des Ganzen bleibt der Logik der historischen >Aufhebung< entzogen - die Tragödie soll ihre anthropologische Basis behalten. Wir sind damit bei der Frage angekommen, in welcher Weise das Wendepunkt-Drama die aktuelle Situation seiner Entstehungszeit miterfaßt. Von der »Vulcan«-Metaphorik der >LudovicoWintermärchenRegeneration< ansetzen. Es ist bezeichnend, daß Droysen auf die Herausforderung der Gegenwart, den Übergang zur Zukunft zu finden, zunächst mit einem Rückblick auf vergleichbare Fälle der Vergangenheit reagiert. Wie der Historiker verfährt auch der historisierende Dramatiker Hebbel: er appliziert auf die 48er Problematik einen Fall der Vergangenheitsgeschichte, dem ein Zeichen abgedes Herodes verletzt, die Ungläubigen aber hätten bei einer Aufführung in Berlin die Heiligen Drei Könige mit lautem Gelächter begrüsst« (Ueber das Verhältnis von Drama und Geschichte bei Friedrich Hebbel. 1904. S. 53ff.). Der Auftritt soll jedoch weder die religiöse Pietät verletzen noch den Religionskritikern Stoff geben, sondern ein geschichtliches Zeichen für die Weltrettung in der Katastrophe setzen. 263
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Z u r Charakteristik der europäischen Krisis. In: Droysen, Politische Schriften. H g . von Felix Gilbert. 1933. S. 326 u. 328.
* Ebd. S. 330. Ebd. S. 335f. - V g l . dazu Günter Birtsch, Die Nation als sittliche Idee. Der NationalstaatsbegrifF in Geschichtsschreibung und politischer Gedankenwelt Johann Gustav Droysens. 1964; Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches G e schichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus. In: Historische Zeitschrift. 2 3 1 , 1980. S. 2 6 5 - 3 2 4 .
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sehen werden soll, wie es in der Gegenwart weitergehen, ein »neues Leben beginnen« könnte (W X 114). Der hegelianisch konzipierte, aber restringiert ausgeführte >Übergang< innerhalb der historischen Tragödie soll die vom Gegenwartsbewußtsein her unsicher erscheinende Geschichte stabilisieren, indem sie den Nachweis von Kontinuität in einer vergleichbaren Krise der Vergangenheit führt. Fazit: Die Schlußszene leistet, was sie leisten kann. Daß sie nicht unmittelbar sinnfällig spricht, gehört zu ihrer vom Betrachter mitzureflektierenden konstitutionellen Schwierigkeit. Sie kann die Zukunft nicht auftrumpfend vorwegnehmen, sondern muß sie vergleichsweise ungestaltet andeuten; sie kann aber auch nicht den innergeschichtlich dargestellten Übergang ohne jede Differenz auf die Bedürfnisse der Gegenwart zuschneiden. Die Transposition ist Sache des >supplierenden< Betrachters. 1 ^ Ihm wird über die historische Anamnese ein Beispiel des geschichtlichen Weitergehens und darin eine Möglichkeit für die eigene Gegenwart zugespielt - mehr läßt »die für Jedermann unberechenbare Geschichte« (W XI 288) nicht zu. Daß es am Ende der Tragödie ein Blick auf die Vergangenheitsgeschichte - die Rettung des Moses-Knaben - ist, der die Zukunft >rettetgebundenes< Interferenz-Phänomen. Mit der alten Tragödie erreicht Hebbel den Vorhof des >epischen TheatersAgnes Bernauer< oder Politisch-tragische Kasuistik Die Dramatik der Zeitenwende ist kein Privileg Hebbels oder der hegelianischen Ästhetik. Auch Grabbe und Grillparzer haben dramatische Abläufe auf historische Ubergänge hin angelegt, in der jeweils »neuen Zeit« kaum verhüllt 266
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Z u Hebbels Forderung nach dem >supplierenden< Leser vgl. Β IV 7if., zum Z u sammenhang H. Kraft, wie Anm. 84, S. i88ff. Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß die Szene v o m Inszenatorischen her die »Crux« des ganzen Dramas bildet, weil der intendierte Stil des »Krippenspiels« kaum >passend< auf der Bühne realisiert werden kann (vgl. Marie Louise Hiller, Friedrich Hebbels »Herodes und Mariamne« auf der Bühne 1849-1925. 1930, Nachdr. 1978. S. I2f.). Dies bestätigt wiederum nur, daß Hebbel kein Theaterdichter ist. Mit der theatralischen Handlichkeit von >Herodes und Mariamne< steht es insgesamt wohl nicht so einfach, wie F. Sengle anzunehmen scheint (vgl. wie Anm. 96, S. 402).
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die eigene Gegenwart aufgerufen: mit kritischem Ressentiment gegen die das Heroische untergrabende Händler- und Krämer-Gesinnung der eine,268 mit einer Verabschiedung der »Helden« und »Gewaltgen« in biedermeierlicher Genügsamkeit der andere.269 Schon Goethe hatte die Ausschau nach einem »Wendepunkt der Staatengeschichte« als Weg zum geeigneten dramatischen Stoff bezeichnet.270 Dürrenmatts >Romulus der Große< (1949) - als »ungeschichtliche Komödie« deklariert - bringt den historisch-dramatischen Formtypus schließlich auf ein parodistisches Niveau herunter: Das römische Weltreich wird liquidiert, es lebe die Hühnerzucht. Hebbel hat die Wendepunkt-Dramatik in >Gyges und sein Ring< (entstanden 1853/54) und in der >NibelungenHerodes und Mariamne< aufgestellten Schemas handelte - die nicht auf das Christentum ausgerichtete Zeitwende im >Gyges< bietet eine produktive Variation, das klassizistisch stilisierte Drama überhaupt eine Fülle von Motiven und Themen, die sich psychologisch, gattungsästhetisch oder kritisch-dialektisch aufgreifen lassen. Die Hebbelschen >Nibelungen< geben zwar grausame Exzesse der Menschenschlächterei, aber in wohlabgewogener Konfiguration auch Gegenbilder der Mäßigung, die wiederum über das christliche Ethos aufscheinen: ein Werk mit grandiosen Zügen, das literarhistorisch keineswegs nur der nationalgeschichtlichen Nibelungen-Begeisterung des 19. Jahrhunderts zugeordnet werden kann. 27 ' Der zur Diskussion reizende Sonderfall in Hebbels historischer Dramatik ist >Agnes Bernaues, Ende 1851 in nur drei Monaten niedergeschrieben, offenkundig auf das Münchner Hoftheater berechnet (und dort auch am 25. März 1852 uraufgeführt). Das Neue und Ungewöhnliche an diesem Drama zeigt sich daran, daß es in der Reflexion der tragischen Katastrophe auf die Ausarbeitung einer geschichtlichen Versöhnung verzichtet, und dies, obwohl das Schicksal der schönen Augsburger Baderstochter in das 15. Jahrhundert fällt, der Stoff also Möglichkeiten genug geboten hätte, einen Uber268 269
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So im >Napoleon< (1831) und im >Hannibal< (1835). So in >König Ottokars Glück und Ende< (1823), einem Drama, dessen Stoff ins 13. Jahrhundert gehört (vgl. Sämtliche Werke [s. Anm. 3]. Bd. I. S. 1044). Die gegen Ottokar - und Napoleon - gerichtete Heldenkritik übernimmt der zweite Rudolf im zweiten Habsburg-Drama (vgl. ebd. Bd. II. S. 428f.), einer Zeitwenden-Gestaltung, die auf Verlust und Chaos zuläuft, als Menetekel für die Gegenwart wirken muß. So in >Dichtung und Wahrheit< über die Entstehung von >Egmont< (Buch X I X ; GA X 833). Vgl. zum Herauszwingen neuer Aspekte W. Emrich, Hebbels >Nibelungen< — Götzen und Götter der Moderne. 1974; zur positiven Neuwertung mit historischer Fundierung F. Sengle, wie Anm. 96, S. 406ff.
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gang des Spätmittelalterlichen ins Neuzeitliche zu konzipieren. Spuren eines historisch-sozialen Wandels sind auch vielfältig im Drama ausgestreut: so wird das Emporkommen der »Zünfte« durch den »Patricier« mißliebig vermerkt (vgl. W III 149 u. 151 f.) oder mit der Erinnerung an die Zeit, als der Bader »noch zu den Unehrlichen« zählte, die geschichtliche Bewegung markiert (vgl. W III 157). Nicht ein Ausblick auf eine Staatsform, in der ein »Menschenopfer« (Β IV 341) wie das dargebrachte nicht mehr erforderlich wäre, soll mit dem furchtbaren Geschehen versöhnen. Die Versöhnung wird vielmehr an den Akt der sittlichen Anstrengung gebunden, mittels derer der Individualismus zugunsten der übergeordneten Belange der Gesellschaft zurücktritt: Herzog Albrecht kommt über den Schmerz des Glücks Verlustes im Bewußtsein der ihn fordernden Fürstenpflicht hinweg.272 Ungewöhnlich für Hebbel und abweichend vom angespannten Universalismus seiner anderen historischen Tragödien ist in der >Agnes Bernauer< auch die Beschränkung auf einen Stoff der Nationalgeschichte, eigentlich sogar der bayerischen Landesgeschichte. Mit diesem Terrain hatte er allenfalls in seinen noch unsicheren dramatischen Anfängen im Zuge der Bewunderung Uhlands geliebäugelt (vgl. W X 37iff.). Doch literarische Praxis ist daraus nicht geworden. Im Gegenteil: 1843 wird den »Hohenstaufen«-Dramatikern (Immermann, Grabbe und vor allem Ernst Raupach mit seinem ab 1835 erscheinenden Riesenzyklus) eine überlegene Abfertigung erteilt (vgl. Τ 2946). Kaiser, die Deutschland »zerissen und zersplitterten, statt es zusammen zu halten und abzuründen«, taugen nicht als historische Repräsentanten für das Drama; »Poeten« aber, die sie dazu aufblähen, kennen »das eigentliche Lebens-Element des Dramas gar nicht«. Und nun die >Agnes Bernaues, statt welthistorischer Telelogie eine nationalhistorische Kleinmünze, dazu noch die Begrenzung des vom Stoff angebotenen Wandlungspotentials: wie paßt das zu den Hebbelschen Maßstäben? Zieht man die Kommentare zu Rate, die der Dichter seinem Drama in der Korrespondenz reichlich nachschickt, so ist es die Ausrichtung auf die aktuelle politische Situation nach 1848, die das Ausbleiben einer spezifisch historischen Auffassung des Problems aufschlüsseln kann. Zwei Jahre vor der Aufführung hatte Hebbel Bauernfelds Schauspiel >Franz von Sickingen< gerade deshalb kritisiert, weil sein Protagonist »zu lebhaft vom Jahre 1850 träumt«, so daß die historischen und aktuellen Konstellationen von »Fürstenherrschaft« und »Adelsherrschaft« durcheinander geraten seien. Demgegenüber wird die Hingabe des Dichters »an die Geschichte« als Weg empfohlen, auf dem sich auch eine »Symbolisirung unserer gegenwärtigen Zustände« erreichen ließe (vgl. W XI 343f.). Andererseits: >Agnes Bernauer< bewegt sich nach dem Lebenslauf-Brief an Rüge »auf dem politischen Boden« und behandelt Vgl. O . Walzel, wie Anm. 81, S. Ii8f.
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»das brennendste Thema der Zeit« (Β V 54). Das klingt nicht nach Abstinenz gegenüber den »gegenwärtigen Zuständen«, sondern läßt eher vermuten, Hebbel habe sich in diesem Falle doch einmal an der historischen Einkleidungs-Technik versucht, um eine aktuelle >Botschaft< unterzubringen: die »ernste, bittere Lehre« von der notwendigen Subordination des »Individuums« unter die »Gesellschaft«, für die er freilich »von dem hohlen Democratismus unserer Zeit keinen Dank erwarte« (Β IV 3j8f.). Dem Zusammenhang von politischer Argumentation und tragischer Struktur in der >Agnes Bernauer< soll im folgenden nachgefragt werden. 273 Es liegt an der Natur des Gegenstandes, daß dies einem Stich ins Wespennest gleichkommt. Schon mit der Münchner Uraufführung setzen publizistische Auseinandersetzungen um die Geschichtstreue des Dramas, seine politische Tendenz, die Uberzeugungskraft seiner Schlußpartie ein, werden Fakten, Interpretationen, Bewertungen und Mutmaßungen so eifrig kombiniert, daß der ganze Komplex sich auch im historischen Rückblick kaum entwirren läßt. Auch Hebbel ist daran beteiligt, indem er einen längeren Zeitungsartikel lanciert, der mit dem Nachweis eines tragischen Rechtsproblems dem Vorwurf des »Servilismus« - vor den Wittelsbachern - entgegentreten will. 274 Diese kontroverse Rezeption lokalisiert das Drama in den Koordinaten von Politik und Tragik, in denen wir es aufsuchen wollen. Der »Hauptpunct«, den Hebbel gegen »den wackeren Vorgänger« Törring und den abqualifizierten Konkurrenten Melchior Meyr betont (vgl. Β IV 346), ist die eindeutige und alleinige Verantwortung von Herzog Ernst für die Tötung der bürgerlichen Schwiegertochter.275 Nicht Recht, sondern eviden273
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Die Überlegung setzt frühere Arbeiten des Verfs. fort: Hebbels Dramatik. In: Handbuch des deutschen Dramas. Hg. von Walter Hinck. 1980. S. 25of.; Das gebeugte Individuum. Z u m Verhältnis von politischer und tragischer Problematik in Hebbels >Agnes Bernauen. In: HNW. S. 45-62. Der Artikel in der Leipziger illustrierten Zeitung< (vom 26. 6. 1852) ist nach R. M . Werners plausibler Vermutung »von Hebbel f . . . ] bis ins einzelnste beeinflusst« (Β VIII 104; abgedr. ebd. 1 0 4 - 1 1 2 ) , denn er gibt eine Sammlung aller in Hebbels Briefen über >Agnes Bernauen aufzufindenden Argumente. Der publizistische Streit um das Drama ist dokumentiert von Karl Pörnbacher (Friedrich Hebbel, Agnes Bernauer. Erläuterungen und Dokumente. 1974. S. 85-109). Im konservativen >Bayerischen Landboten< (vom 30./31. 3. 1852) war der Verdacht geäußert worden, Hebbel habe mit der Entlastung des Herzogs Ernst vor allem dem bayerischen Fürstenhaus schmeicheln wollen (vgl. a.a.O. S. 95): eine Meinung, die zuletzt F. Sengle aufgenommen hat (vgl. wie Anm. 96, S. 393ff ). Joseph August Graf von Torring hatte eine bayerisch-patriotische Version des Stoffs geboten (Agnes Bernauerinn. Ein vaterländisches Trauerspiel. 1780), in der Agnes' Tod nicht v o m regierenden Herzog angeordnet wird, sondern auf eine — allerdings im wohlverstandenen Sinne des Herzogs geübte - Privatrache zurückgeht. Ähnlich motiviert M e y r in seinem - erst 1862 unter dem Titel >Herzog Albrecht< veröffentlichten - Drama, das Hebbel in der bei ihm üblichen Manier
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tes Unrecht wurde geübt - nach den Gesetzen des 15. wie des 19. Jahrhunderts. Die Rechtsberufungen, die der Unterzeichnung des Todesurteils vorangehen und seiner Vollstreckung nachfolgen, sind semantisch zweideutig und juristisch überaus wackelig: Herausforderungen an den kritischen Spürsinn der Interpreten, die Konsistenzmängel des Dramas offenzulegen. 276 Der Appell an »die Gewalt des Rechts«, mit dem Ernst seinen rebellierenden Sohn zum Einhalten bewegen will, zielt recht durchsichtig auf sein Dynastiebewußtsein: »[...] fasse einen Entschluß, daß Du vor Deinen Ahnen nicht zu erröthen brauchst, füge Dich!« (W III 232f.) Dabei weiß der alte Herzog genau, daß es mit den politischen Taten der Vorfahren in Wahrheit nicht zum besten steht, daß sie Bayern durch eine »ganze Reihe von Thorheiten« heruntergewirtschaftet haben und daß seine eigene Politik nur noch in Stück- und Flickwerk bestehen kann (vgl. W III 175). Angesichts dieser vom Drama selbst gezeichneten Realität wirkt Emsts Rekurs auf den Wittelsbacher-Stolz in der Tat schönrednerisch, paßt auch nicht recht zu der freilich in rhetorischem Glanz ausgemalten »Bedürftigkeit« der außerparadiesischen Existenz im folgenden Rede-Aufschwung (vgl. W III 233^) - die eigentliche Adresse dürfte dabei nicht Albrecht, sondern die Münchner Königsloge sein. Auch in der Regensburger Turnier-Szene nimmt sich Emsts Umgang mit dem Recht zweifelhaft aus: dafür, daß er Albrecht von der Thronfolge ausschließt, weil er mit der Augsburger Bürgerstochter in einer sakramental geschlossenen Ehe lebt, wird keinerlei rechtliche Begründung gegeben (vgl. W III i9jff.). Gesetzt aber, es handelte sich wirklich um einen Rechtsakt (und nicht um einen Gewaltakt aus Staatsräson): Warum versucht Emst später dem - doch schon abgesetzten - Sohn noch »die förmliche Entsagung abzudringen« (W III 205)? Was das Rechtsgutachten betrifft, das der Herzog nach dem Tod des Ersatz-Thronfolgers hervorziehen läßt, um den Gewaltakt gegen Agnes Bernauer zu rechtfertigen, so ist eigentlich nur ein Fazit möglich: »eine juristische Ungeheuerlichkeit«.277 Weit sprechender als alles, was Kanzler Preising über die Qualität des Gutachtens wie seiner Verfasser anzuführen weiß (vgl. W III i99ff.), wirkt das klägliche Schweigen, das einer der drei »großen Juristen«, nämlich Emeran Nusperger zu Kalmperg, gegenüber dem Opfer beobachtet: statt auf Agnes' Fragen klärende Antworten zu gekritisch zerzaust, nachdem ihm der Münchner Intendant Franz Dingelstedt das Manuskript zugesandt hatte (vgl. Β IV 345ff. u. 354f.). 276 V g l Karl Schultze-Jahde, Motivanalyse von Hebbels >Agnes Bernaues. 1925; Heinrich Meyer-Benfey, Hebbels >Agnes Bernauer«. 1931; H. Kreuzer, Hebbels >Agnes Bernaues (und andere Dramen der Staatsraison und des politischen N o t standsmordes). In: H N S . S. 286f. 277 So Karl Böhrig, Die Probleme der Hebbelschen Tragödie. 1900. S. 56. - Allerdings hat M . Neufelder versucht, die Notwendigkeit des Rechtsgutachtens juristisch zu erhärten (vgl. wie A n m . 162, S. 92f.).
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ben, kann der Nachfolger Justinians nur dem Häscher winken (vgl. W III 22lf.). Mit gutem Grund stellte Uechtritz, ein professioneller Jurist, die Frage nach der Tragfähigkeit des Rechtsgutachtens. 278 Hebbel, der es nicht in den Quellen vorgefunden hat, räumt ein, daß er sein Drama auch im Falle einer anderen Uberlieferung »schwerlich darauf gebaut« hätte (Β V 206). Das bewußt altertümelnd gehaltene Gutachten dient dem historischen Kolorit und soll vermutlich auch - eine konstitutionelle Bindung des Fürsten ist historisch ausgeschlossen - Assoziationen absolutistischer Willkür fernhalten. Freilich, seinem Drama und der Position des Herzogs hat der Dichter damit einen Bärendienst erwiesen, weil sich auf diesem Weg gerade nicht eine rechtliche Begründung für den »mörderischen« Eingriff »in die heiligsten Rechte der Individualität« (Uechtritz) erreichen ließ. Dem zurückschaudernden Korrespondenz-Partner versucht Hebbel seinen Standpunkt »auf der Seite des alten Herzogs« und damit dessen Rechtfertigung plausibel zu machen: Ich glaube, daß es Momente giebt, w o das positive Recht zurück treten muß, weil das Fundament erschüttert ist, auf dem es selbst beruht. Nageln Sie mich nicht an diese meine Worte, ich bin nicht der Mann der Definitionen, der Philosoph Jacobi drückt sich einmal [...] vortrefflich darüber aus [...]
Nicht aus Jacobis >AllwillWoldemar< hatte er sich 1836 notiert: »Große und weise Männer hätten zu allen Zeiten behauptet, daß es Fälle gäbe, w o die heiligen Bildnisse der Gerechtigkeit und Milde auf einen Augenblick verhüllt werden müßten. Die Moral selbst unterwärfe sich alsdann einer vorübergehenden Hemmung ihrer G e s e t z e , damit ihre P r i n c i p i e n erhalten würden« (T532). 2 7 9 Es folgt an Ort und Stelle die Bemerkung: »Für solche Ausnahmen, solche L i c e n z e n h o h e r P o e s i e , hätte die Grammatik der Tugend keine bestimmte Regel [...]« - man kann sich vorstellen, daß Hebbel den Ausspruch Jacobis nicht erst nachträglich zum Kommentieren genutzt, sondern sein Drama von vornherein auf eine solche Differenz angelegt hat. Andere Äußerungen Hebbels zum Rechtskonflikt in der >Agnes Bernauen weisen in die gleiche Richtung, so die Apostrophierung des Opfers als »Antigone der modernen Zeit«, wenn anders »auch hier ein Zusammenstoß 2?8
Vgl. an Hebbel, 21. 11. 1854 (HBF II 2o6f.).
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Der Passus ist einer indirekten Rede Woldemars entnommen, die in Jacobis erstmals 1779 erschienenem, später umgearbeitetem - Roman mit anderen Hervorhebungen als in Hebbels Notiz versehen ist (Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. 1812/25, Nachdr. 1976. Bd. V. S. I09ff.). Vgl. zu dieser Bezugnahme Hebbels auch Norbert Müller, Der Rechtsdenker Friedrich Hebbel. Leben und theoretische Auseinandersetzung mit dem Kreis des Rechts. 1974. S. 74. - Eine Reminiszenz an den Jacobi-Passus findet sich auch in der >NibelungenAgnes Bernaues und dem >Prinzen von Homburg< sowie dem >Käthchen von Heilbronn« Ε. E. Schmid, wie Anm. 104, S. 124fr
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Dir!« (W III 23 j ) 2 8 ' Der Fürst »schlief nur in ihm«, jetzt ist er aufgewacht aufgewacht aus dem jugendlichen Paradies-Traum vom Leben, innerlich bereit, die gegebene (und brüchige!) Wirklichkeit als Bewährungsfeld des Handelns anzunehmen. Nicht im Gedanken an Bayern findet Albrecht »Trost«,28Agnes Bernaues im Lichte eines seltsamen Anachronismus. Übrigens auch nach Hebbels eigenen Maßstäben: Das 1848 erwogene Dramenprojekt >Ein Todesur285
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Die zugehörige Gebärde des Niederkniens übersehen viele Interpreten, so ζ. B . zuletzt Paul Michael Lützeler (vgl. Friedrich Hebbels »Agnes Bernauerc Ein G e schichtsdrama zwischen Politik und Metaphysik. In: HNW. S. 76f.). Was mancher Kritiker sich wünscht, das wird hier in höchst eigenwilligem U m g a n g mit dem Text als Tatbestand behauptet: daß der junge Herzog als der große Innovator recht bekomme, der alte aber ins Unrecht gesetzt werde. Mit solchen Verdrehungen wird >Agnes Bernaues wohl nicht zu retten sein. So bei Törring (s. A n m . 275, zit. nach: Deutsche National-Litteratur. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Joseph Kürschner, Bd. 138: Das Drama der klassischen Periode I. o . J . S. 70). Ernst verweist Albrecht über sein Banner nicht auf Bayern, sondern auf »das deutsche Volk« (W III 233), ohne daß man daran eine gezielte Hindeutung auf den deutschen Nationalstaat ablesen könnte. Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. 1983. S. 604 u. 600.
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theil< (vgl. Β IV ιι8) sollte die Rechtsungleichheit von Bürgertum und Adel behandeln und den Absolutismus problematisieren (vgl. die Entwürfe W V i44ff.); die Pflichtverletzung des 1848 nach Innsbruck geflüchteten Kaisers wird darin markiert, daß er den Staat absolutistisch als seine »Privatdomäne« betrachtet (W X 133), statt sich durch die tätige Bemühung um die Staatsordnung zu legitimieren. Von solchen Bedenklichkeiten und Forderungen geht nichts in die »Agnes Bernauer< ein: Der aus dem Spätmittelalter aufgegriffene tragische Fall wird so konstruiert, daß aller Nachdruck auf der tragischen Rechtfertigung des Fürsten liegt - ein Äquivalent für die Forderung einer Konstitution sucht man vergebens, eine historisierende Relativierung der Problemlösung unterbleibt, die den Fall an Hebbels eigenen Liberalismus hätte heranführen können. Auf den »monarchischen Pol« ist die Rechtsproblematik des Dramas ausgerichtet (vgl. Β VIII 107), scheinbar aus Treue zur historischen Realität, faktisch aber in einer kompromittierenden Loyalität zu den alten Mächten. Das alles folgt nicht aus einer kühl kalkulierten ideologischen Taktik, sondern aus der Inkommensurabilität der Tragödienform zum politisch-historischen Kräftespiel der Zeit. Wie Hebbel als politischer Publizist einen offenbar versehentlich abgegebenen Todesschuß auf einen unbeteiligten Zivilisten zu einer »großen Principienfrage« erhebt und das »Opfer« für unvermeidlich erklärt (vgl. W X 67), so will er die Prinzipien-Tragik des Dramas in eine Prinzipien-Lehre für die aktuelle Politik überführen - und landet, gebunden an den Formulierungszwang der Tragödie, im Lager der Konservativen. Seine politischen Begleit-Kommentare zur >Agnes Bernauer< reagieren eigentlich auf dieses Dilemma, indem sie die »politische Demonstration« (Β V 108) wegreden wollen, die das Drama in der Tat nicht sein soll und doch ist. Die Kasuistik des extrem zugespitzten Einzelfalls führt von sich aus nur zu einem sittlichen Prinzip. Sobald dieses mit der politischen Macht gleichgeschaltet wird, bildet sich das >falsche< Repräsentationsverhältnis heraus. Dabei betreibt das Drama, um es zu wiederholen, entgegen dem rhetorischen Anschein keinerlei Staatsapotheose, sondern gesteht durchaus einen Fiktionalismus ein, der »das an sich Werthlose« in einem Als-ob-Denken zum »Werth« stempelt (vgl. W III 234). Daraus müßten - oder könnten zumindest - kritische Konsequenzen für die Fürstenherrschaft gezogen werden, doch diese bleiben stecken zugunsten einer tragisch-sittlichen Nobilitierung, die politisch die Fürstenherrschaft bestätigt. Daß die Fürstenerziehung, die Albrecht zuteil wird, in den gleichen Koordinaten verläuft wie 40 Jahre vorher bei Kleist oder 70 Jahre vorher bei Goethe - im >IlmenauOttokar< hinüber) als der gute >Wirtschafter< gerühmt wird, der aus dem Kleinen das Große zieht (vgl. W III 175). Daß Ernst an »die Tausende« denkt, die im »Vertrauen« auf ihn das Land mit fleißiger Arbeit emporgebracht haben (vgl. W III 203), zeigt ihn - historisch eigentlich unstimmig - als den Vertreter eines modernen sozialen Bewußtseins. In Fontanes >Stechlin< (Kap. 38) erzählt Pastor Lorenzen die Geschichte des amerikanischen Leutnants Greeley: er hatte auf einer Nordpol-Expedition ein Mitglied der Gruppe hinterrücks erschossen, das sich über die vereinbarten Rationen hinaus heimlich am immer knapper werdenden Proviant bedient und damit die ganze Gruppe gefährdet hatte. Die Umstände schlossen einen offenen Kampf oder eine gewöhnliche Bestrafung aus - also war das Interesse der Majorität nur durch einen Notstandsmord zu schützen. Die Geschichte soll nicht das »herkömmliche« Heldentum zeigen, sondern einen sozialen Heroismus, der im Bewußtsein der Verantwortung für ein Kollektiv gegebenenfalls auch zu einer furchtbaren Verschuldung bereit ist. Die Gesinnung von Hebbels Herzog Ernst ist derjenigen von Fontanes Notstandsmörder verwandt - und Lorenzen hätte auch die Geschichte der Agnes Bernauer erzählen können. Aber im Roman gibt es einen Kontext, der dem hineingezogenen Extremfall seinen spezifischen Sinn anweist: die Frage nämlich nach dem Recht des Neuen gegen das Alte und umgekehrt. Bei Hebbel muß der kasuistisch zugespitzte Fall so verteidigt werden, daß das soziale Motiv in der Rhetorik der Schlußszene und überhaupt im Strukturzwang der Tragödie beinahe unkenntlich wird. 288
Es fehlt nicht viel - aber immerhin doch einiges - daran, daß >Agnes Bernauen bruchlos in die Suada von Thomas Manns Naphta (im >ZauberbergAgnes Bernauen unter dem Nationalsozialismus feststellen muß (vgl. die Belege bei K. Pörnbacher, wie A n m . 274, S. ii3ff.). Man kommt an der Konstatierung nicht vorbei, daß das Drama nicht ausreichend immunisiert ist gegen solche mißbräuchliche Zustimmung.
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Am Ende nennt Ernst die auf sein Geheiß getötete Agnes »das reinste Opfer, das der Nothwendigkeit im Laufe aller Jahrhunderte gefallen ist« (W III 234). Das Attribut des >Reinen< weist doppelsinnig auf die Schuldlosigkeit des Opfers - Agnes hat sich nicht »selbst befleckt« (W III 222) - wie auch auf die Zwangslage des Opferers, den kein anti-bürgerliches Ressentiment gedrängt hat (vgl. Β VIII 107). Zu denken gibt der Superlativ, der das tragische Opfer - beim Wort genommen - noch über die Christus-Passion stellt. Wie kommt Ernst dazu, schließlich ein von christlicher Mementomori-Stimmung erfüllter Herrscher? Offenbar spricht hier der Dramatiker durch ihn hindurch, der sich der erreichten Zwangsläufigkeit der tragischen Struktur abschließend vergewissert (vgl. auch Τ 4982). Daß Hebbel die angestrebte Lückenlosigkeit der Motivation nicht ganz erreicht hat, läßt sich nachweisen. Dafür nur ein Beispiel: der EdelsteinVergleich, mit dem Preising in der Kerkerszene Agnes zum Verzicht auf Albrecht und zum Rückzug ins Kloster bewegen will, um ihr Leben zu retten (vgl. W III 219). Das Kostbarste, das die Leidenschaften entzündet, zu »Raub, Mord und Todtschlag« verlockt, den »allgemeinen Untergang« herbeizuführen droht: ist das Agnes' Fall? Bei aller Bildkraft verschleiert diese Version die wahre Zuspitzung der Situation, denn Agnes erhält damit keine dezidierte Klarstellung, warum Albrecht »auf den Thron steigen« muß, ohne seine bürgerliche Gemahlin miterheben zu können (W III 220) - weil nämlich andernfalls der Bürgerkrieg droht.289 Gewiß, sie untersteht weiblichen Normen und verteidigt ihre persönliche Liebesbindung mit Albrecht, die ihr alles ist (»[...] Ihr seid ein Mann und wißt nicht, was Ihr fordert!« [W III 218]). Aber es kann bei ihrem menschlichen Rang nicht zweifelhaft sein, wie sie in vollständiger Kenntnis der drohenden Notlage reagiert hätte: sie hätte sich zur Entsagung durchgerungen. Auch in >Genoveva< gibt es die Edelstein-Räuber-Metaphorik als Trugrede, mit der die Frage der Willensfreiheit übersprungen werden soll (vgl. W I, V. 832^). Was dort Golo betreibt, um im Verlangen nach Genoveva die Zwangsläufigkeit des Verbrechens zu suggerieren, das fällt hier - in der >Agnes Bernauer< - auf den Dramatiker selbst zurück. Er speist das Opfer mit einem >uneigentlichen< Bild ab, um ihm eine volle Aufklärung vorzuenthalten, die eine zwar schmerzliche aber untragische Lösung möglich gemacht hätte. Hebbel gibt der Auseinandersetzung zwischen Agnes und Preising nicht das an sich mögliche Bewußtseins-Potential mit, um die tragische
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Auch W. Wittkowski bewertet Preisings Verschweigen dieses ausschlaggebenden Arguments als »eine künstlerische Gewaltsamkeit«, ohne freilich die Ebene der Charakteranalyse zu verlassen und die tragödienapologetische Strategie zu erfassen (vgl. Menschenbild und Tragik in Hebbels >Agnes Bernaues. In: GermanischRomanische Monatsschrift. N.F. 8, 1958, S. 248). 403
Zwangsläufigkeit nicht zu gefährden - man sieht jedoch die Spur dieser künstlichen Verdunklung. Man mag auch ein Tröstliches darin sehen, daß nicht einmal der penibelste Motivations-Künstler des deutschen Dramas das »Menschenopfer« (Β IV 341) restlos zu begründen vermag. Es ist kein Zufall, daß Hebbel die Zeitgemäßheit der >Agnes Bernauer< publizistisch betonen ließ oder selbst betont hat (vgl. Β VIII ίο6). Es handelt sich bei aller sorgfältigen Quellenarbeit im einzelnen nicht eigentlich um ein Geschichtsdrama im Ganzen, das vom Gesetz des Wandels durchherrscht und zur Gegenwart in eine Differenz gesetzt wäre. Vielmehr wurde das Faktum der Vergangenheitsgeschichte für ein politisches Muster beansprucht, das die 1848 in Bewegung geratenen Rangfragen für das »Individuum« und die »Gesellschaft« gültig entscheiden sollte (vgl. Β IV 358). Dies aber bedeutete faktisch einen neuen Versuch in der Gegenwartsdramatik, in dem sich die Probleme der vergangenen Sozialdramen wieder einstellen mußten: Bindung an geltende Normen, ihre Identifizierung mit tragischen Prinzipien, schließlich Konzessionen an die alten Mächte, die ihrer inhaltlichen Bestätigung zum Verwechseln ähnlich sehen mußten. So demonstriert dieser Versuch, der Prinzipien-Dramatik über die politische Thematik Anerkennung und Plausibilität zu verschaffen, abermals das Legitimationsdefizit der Hebbelschen Tragödie - und in diesem Fall ihr Unzeitgemäßes.
7. Das sinkende Schiff Nicht nur die Universalgeschichte und die bayerische Landesgeschichte hat der historische Dramatiker Hebbel aufgesucht. Eines seiner Projekte befaßt sich mit der »russischen Geschichte«:2'0 der >DemetriusNibelungenDemetrius< gab Emil Kuh 1864 aus dem Nachlaß heraus. Als spielte er, anfangs zumindest, mit der kalkulierten Überraschung des Freundeskreises und als genösse er selbst einen Reiz des Exotischen, offeriert Hebbel in seiner Korrespondenz das »russische Stück« (Β VI 95), die »russische Tragödie« (Β VI 241) oder einfach den »Russen« (Β VI 228). In erster Linie handelt es sich indes um Schiller-Nachfolge: der große Vorgänger hatte 1804/05 an einer >DemetriusDemetrius< sollte Hebbel besorgen. Das Theaterprojekt zerschlug sich, und Hebbels >Demetrius< führte weit von Schiller weg, markierte ein Neues innerhalb seiner historischen Dramatik und ein letztes Scheitern. a) Schiller-Nachfolge und Gestaltungsprobleme In der Rückbeziehung auf Schiller konnte Hebbels Arbeit am >Demetrius< von der ursprünglichen Zielsetzung her einzig ihre »Berechtigung« finden (vgl. Β VI 205). Andererseits sieht er sich gezwungen, »die Vollendung des Schillerschen Fragments« für unmöglich zu erklären, und muß er sich auf den »Vorsatz« zurückziehen, den »großen dramatischen Grundgedanken [zu] adoptiren und selbstständig durch[zu]führen« (Β VI 211). Der Nachfolger stellt sein Konzept so vor, daß er »Schillers Ziel« ansteuere, ohne »Schillers Weg« einzuschlagen, und deutet an, daß ihm »Motive aus der wirklichen Geschichte« wichtiger seien als dem Vorgänger (vgl. Β VI 204f.). Schon Ende 1857 notiert Hebbel, daß er dem »Schillerschen Demitrius« (sie!) »eine ganz andere psychologische Grundlage« geben müsse (T 5620). Auch die andersartige Einbeziehung der historischen Faktizität nutzt Hebbel, um die Differenz der Intentionen zu markieren: Schiller sei »ohne Zweifel einzig und allein von dem allgemein menschlichen Moment« des >DemetriusDemetriusDemetriusDemetrius< Hebbels »ältester dramatischer Gedanke«, der ihn schon als 17jährigen beschäftigt hat (Β VI 244); nach dem Jahres-Rückblick 1857 war er als i8jähriger mit dem Stoff befaßt (vgl. Τ 5620). Es ist die Zeit um 1830/31, in die das >MirandolaRäubern< entwickelt und nach einer Erinnerung von 1858 sein »erster dramatischer Gedanke« (Β VI 144). Immerhin: Anfang und Ende von Hebbels Dramatik wiederholen Anfang und Ende von Schillers Dramatik. Die innere Beschäftigung mit dem >Demetrius< hat über die Jahre hin Spuren hinterlassen (vgl. Τ 1047, 2231, 4566, Β III 299). Das Fragment bis zur Szene II/3 und eine Inhaltsangabe der nicht ausgeführten Szenen (in: Sämmtliche Werke. Bd. XII. S. 293-368). Mit Auszügen aus den Vorstufen (Supplemente zu Schillers Werken. Bd. III. S. 299-347). Erst seit der durch Gustav Kettner besorgten, auf die Handschriften zurückgehenden Ausgabe von 1894 ist das >Demetriusbetrogenen BetrügersDemetrius< nachzuweisen (vgl. Demetrius - Schiller und Hebbel. In:JSG. 3, 1959. S. 142fr.). Vgl. zu den Interpretationsproblemen die auf »alle Aspekte« angelegte, freilich im fraglichen Punkt etwas unschlüssige Studie von Fritz Martini (Demetrius. In: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hg. von Walter Hinderer. 1979. S. 3i6ff.). 2 9 9 Zit. nach der Nationalausgabe (s. Anm. 295). S. 170. 3°° Ebd. S. 92. 297
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nen Leidenschaften durchgesetzten Selbstbestimmung, die doch den Idealisten im Sinne Schillers ausmachen müßte. Viele weitere Belege ließen sich anschließen, die in die gleiche Richtung weisen. Für den Schluß des Dramas hat der Dichter den Auftritt eines Kosaken erwogen, der zufällig an das Zaren-Siegel gelangt ist und nun auf den Einfall gerät, die Person des falschen - Demetrius zu spielen. Der Auftrittt dieses potenzierten Rollenspielers »kann die Tragödie schließen indem er in eine neue Reihe von Stürmen hinein blicken läßt und gleichsam das Alte von neuem beginnt«. 301 Das Geschichtsbild erscheint in pessimistischer Färbung unter dem Gesetz der Wiederkehr des Schlechten, der Dramatiker Schiller in einer Grenzposition, unterwegs zu Büchner, Grabbe - oder eben Hebbel. Für die Version einer realistischen Wendung< des späten Schiller spricht einiges, in der Addition möglicher Einzelzitate sogar erdrückend vieles. Dennoch ist Vorsicht geboten: einmal deshalb, weil der fragmentarische Status des überlieferten Textes solche weitreichenden Umbruch-Spekulationen eigentlich verbietet (Prämissen müssen nicht immer deutlich expliziert werden), und zum anderen, weil der Idealismus bei Schiller weder zur Geschichtserfahrung noch zum dramatischen Inhalt gehören muß. Aus der Abhandlung >Uber das Erhabene< geht klar hervor, daß Geschichte - zumindest für den Kantianer Schiller - unter die Kategorie der >Natur< fällt, also von vornherein keine Sinnerwartungen erfüllen kann, 302 und ferner, daß »die tragische Kunst« ihre idealisierende Wirkung nicht unbedingt in der Sphäre der Darstellung erreichen muß. 3 ° 3 Es genügt, wenn der Zuschauer dazu gebracht wird, sich angesichts eines negativen Exempels auf eine intelligible Selbstbestimmung zurückzuziehen, die allein idealistisch ist. Daß Schillers dramatisches Verfahren auf Wirkungen im Zuschauer hinzielt, zeigt gerade das >DemetriusWallensteinDemetrius< vorgesehen gewesen: das Unglück negativer, dabei mit gewinnender Menschlichkeit ausgestatteter Helden soll den Zuschauer zu der Reflexion veranlassen, ob das Glück nicht auf einem anderen Wege gesucht werden sollte, den das »Geistergesetz« in ihm anzeigt. 30 ' Mit diesem wirkungsästhetisch angelegten, d. h. auf einen Dialog zwischen Drama und Zuschauer zielenden Verfahren tut sich die Schiller-Forschung schwer, weil sie den Idealismus immer nur inhaltlich manifestiert sehen möchte - und dann oft nicht finden kann. 310 Auch Hebbel hat in diesem Punkt seine Schwierigkeiten. 1838 legte er sich die Frage nach der »Idee« des >Wallenstein< vor (vgl. Τ 1029), 1847 registrierte 307
Ebd. S. 189. - P. Szondi schließt aus der Wendung m . E . verfehlt: »So sind es des Demetrius Tugenden selbst, die ihn in Betrag und Verderben stürzen« (wie Anm. 298, S. 472). Auf seinen Spuren folgert Dieter Arendt, daß mit dem »Versinken der Idee« im >Demetrius< Schillers »ein heroischer Realismus« beginne (Demetrius - der heimliche Prinz und die Weltgeschichte. [Bemerkungen zu Schillers und Hebbels Demetrius-Tragödie]. In: HJ. 1985. S. 17). Solche Konsequenzen sind keineswegs angezeigt. 308 So Schiller in der Vorrede zur >Braut von Messina« (SW II 817). i°9 Vgl. Ober das Erhabene (SW V 805). 310 Vgl. zum >Demetrius< etwa B . v. Wiese (wie A n m . 75, S. 269fr.), F. Martini (wie Anm. 298, S. 337ff.) oder die von Schillers Kategorien-Paar des >Naiven< und >Sentimentalischen< ausgehenden Überlegungen von Wolfgang Binder, die den »befremdliche[n] Verzicht auf einen Akt der sittlichen Freiheit in der Katastrophe« aufwendig - und doch nicht schlüssig - im engeren Horizont der Charaktergestaltung zu begründen versuchen (Schillers >DemetriusDemetrius< implizit miterfassende wirkungsästhetische Schiller-Interpretation hat Alfons Glück vorgelegt (Schillers >WallensteinDemetrius< »erst die volle Tiefe der Idee ergründete«. 3 " Verrät sich darin die Problematik seiner eigenen, in die gleiche Zeit fallenden Bemühung um den >DemetriusGeschichte des Russischen Reichs< (deutsche Ausgabe 1820-33), daneben vor allem Prosper Merimees >Episode de l'histoire de Russie, le faux Demetrius< (1852, deutsch 1853). 3 1 2 Von einschlägigen Informationsbedürfnissen geleitet, läßt sich Hebbel 1858 zu einer freundlichen Besprechung des Romans >Die Fürstin der siebenten Werst< (von A . Th. von Grimm) herab, dem er die »Darstellung der russischen Zustände« nachrühmt, darunter auch die offenbar resistente Praxis, ins »Irrenhaus« nicht bloß »die Geisteskranken«, sondern auch »die Unbequemen« zu stecken (vgl. W X I I 211). Auch Schillers Kollektaneen und Entwürfe zeigen das Bemühen um die »Herbeiführung vieler historischer Daten«, 3 ' 3 gekreuzt freilich von der Sorge, diese könnten das Drama allzu sehr überwuchern: »Alles was um des Ganzen willen nothwendig wird, muß auch um seiner selbst willen daseyn und interessieren.« 3 ' 4 Bei Hebbel ist die historische Motivation der Figuren und Figurengruppen deutlich ausgeprägt: so die Machtpolitik der Bojaren 3" 3'2 3'3 3 '+
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Zit. nach: W e r k e (s. A n m . 193). B d . V. S. 439· Z u Quellenfragen im einzelnen vgl. H. Matthiesen, w i e A n m . 292, S. 1 3 0 - 1 8 1 . Nationalausgabe (s. A n m . 295). S. 91. Ebd. S. 188. - Z u r Funktion des historischen B e i w e r k s bei Schiller v g l . F. Martini, w i e A n m . 298, S. 320 u. 327.
gegenüber dem jeweiligen Zaren (vgl. V. 1690Π. u. ji67ff.), so die Bedrohung des Reichs durch die Tartaren als Rechtfertigung für den Thron-Usurpator Boris Godunow (vgl. V. 86off.). Zeichnet sich bei Schiller stärker ein persönliches Rachemotiv des »fabricator doli« gegen Boris ab, 3 ' 5 so ist es bei Hebbel die Jesuiten-Intrige, also Kirchenpolitik, die die ganze Demetrius-Handlung zusammenhält. In Otrepiep, dem nützlichen und verräterischen Handlanger, soll nicht bloß ein individueller Charakter, sondern der wendige, nie recht zu fassende Sapojedische Kosak gezeichnet werden (vgl. V. i205ff.). 3IÄ Freilich: Die historisch fundierende Motivation ist bei Hebbel eine Intention, die nicht vollständig ausgeführt - gegen das Drama billigerweise nicht als Bewertungskriterium geltend gemacht werden kann. 3 ' 7 Daß Schillers Konvolut auf ein großes Drama hindeutet, ist bekannt. Hebbels >Demetrius< sieht man in der Regel nicht mit jener Aufmerksamkeit behandelt, die der eigenständige Ansatz auch im Vergleich mit Schiller verdient. Immerhin ist das Drama, freilich ohne den letzten Feinschliff im Detail, bis weit in den fünften Akt gediehen (an Umfang >Herodes und Mariamne< gleich). In der Silhouette einzelner Szenen, überhaupt des ganzen vierten Aktes mit der Peripetie durch Barbara, zeichnet sich ein Meisterwerk ab. Daß es nicht gelungen ist, liegt letztlich wohl nicht an der Entstehungsgeschichte und Hebbels Krankheit. Die Arbeit an den >Nibelungen< war im März i860 abgeschlossen, doch erst dreieinhalb Jahre später nahm der Dichter den >Demetrius< wieder auf - zu spät, um ihn noch vollenden zu können, wenn er ihn überhaupt hätte vollenden können. Der fragmentarische Status weist auf Gestaltungsprobleme, die Hebbel auch offen eingesteht. Bis zu Schuiskois Eingreifen (in II/9) war die Ausarbeitung im ersten Anlauf gediehen. Seitdem >ruhte< der >Demetrius< »wie ein Stein«, wie Hebbel Ende 1862 vermerkt (T 6052). Einige Wochen später bezeichnet er »die Hauptschwierigkeit« so: es sei »unermeßlich schwer, im Demetrius die unglaublich verwickelte Handlung auf wenige große Gruppen zurück zu führen und diese zu einer eng geschlossenen Kette zu gliedern« (Β VII 296). Es handelt sich nicht um eine unglückliche Stoffwahl. Hebbels Gestaltungsproblem resultiert vielmehr aus seiner Ambition, die dramatische Motivation aus der historischen Realität - der »russisch-polnischefn] Welt« (Β VII 299) selbst zu entwickeln, ohne a priori ein hegelianisches Schema hineinzubilden. Dieser Ansatz hatte ein Uberborden des kontingent Faktischen zur Folge, das die tektonische Bauform nicht bewältigen konnte. Das Prinzip »Concen315
Vgl. Nationalausgabe (s. Anm. 295). S. 103, 108 u. 216. - Erwogen wird aber auch »ein Religionseiferer« (S. 94) oder eine Zurückfuhrung der »Hauptintrigue« auf »die Catholiken, besonders die Jesuiten« (S. 131). 316 Vgl. H. Matthiesen, wie Anm. 292, S. 175. 317 Vgl. entsprechend Eduard Castle, Der falsche Demetrius in der Auffassung Schillers und Hebbels. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. 1930. S. 252f. 411
tration« (Β V 22), bei >Herodes und Mariamne< bewährt, führt im >Demetrius< zu einem Scheitern. An Hebbels letztem Fragment läßt sich abermals der Krisenstatus, die Zukunftslosigkeit seiner Tragödie ablesen. 3 ' 8 b) Die ewige Wiederkehr des Gemeinen Daß die Handlung des >Demetrius< sich in Rußland abspielt, hatte für Schiller - nach der Meinung Julius Glasers - keine sonderliche Bedeutung: »Wer kannte damals Rußland und das orientalisch-slavische Christenthum - wie es ohne Zweifel im Hintergrund I h r e r Arbeit stehen wird!« 3 ' 9 Die historische Bemühung Schillers wird damit unterschätzt, die sekundäre Funktion aber wohl zutreffend erfaßt, die das Historische in seinem Drama erhalten hätte. Die Erwartung, die der Freund gegenüber Hebbel äußert, nimmt offenbar Maß am Wendepunkt-Drama, an >Herodes und MariamneHerodes und Mariamne< letztlich auf den Kontrast, die andersartige Bewertung des historischen Kräftespiels - eine Zurücknahme deutet sich an. Im >Demetrius< ist keine kompositorische Ausrichtung auf einen Wendepunkt erkennbar, an dem sich innerhalb der geschichtlichen Vorgänge selbst ein versöhnlicher Prospekt auftun könnte. 310 Schiller scheint mit dem Gedanken gespielt zu haben, sein Drama mit dem Anbrach der Romanow-Ära enden zu lassen, mit der historisch nach den vorangegangenen Wirren eine Phase der Stabilität begonnen hat. 321 Bei Hebbel hält Schuiskoi gleichsam den Aussichtspunkt besetzt, an dem sich ein solcher Ausblick hätte ergeben können - was der nächste Thron-Besitzer als Zukünftiges antizipiert, ist nichts anderes als die Fortschreibung von Betrug und Machtpolitik (vgl. V. i648ff.). Der Torso enthält jedoch noch eine zweite Chance für die Bildung einer historischen Perspektive. Demetrius selbst ist es, der in großartiger Rhetorik das Recht des Eroberers ausmalt (vgl. V. 30iiff.) - um aber ernüchtert hinzuzufügen, daß »dieses Bild« auf ihn nicht passe: »Ritt ich den Blitz? Ich ritt ein Manifest, / Ich sprach mein Erbtheil an, und mit dem Recht / Erlischt der Anspruch« (V. 3024ff.). Er ist kein Herodes, der sich das Recht des Herrschens durch sein Handeln verdient zu haben glaubt. Demetrius pocht nur auf sein Erbrecht und läßt seinen Anspruch konsequent fallen, als ihm durch seine leibliche Mutter Barbara - eröffnet wird, daß er nicht der legitime Zarensohn ist, der er zu sein glaubte. Seine Bereitschaft, auf die Macht zu verzichten, hat ihm bei manchem Interpreten den Tadel eingebracht, daß er im Privatmenschlichen stecken bleibe und über seinem privaten Spiel den politischen Ernst versäume.322 Was ist davon zu halten? 320
Dagegen unterstellt D. Arendt das Wendepunkt-Schema, um es mit eigenen »möglicherweise gewagten« - »Fragen« auszufüllen, die in erster Linie auf einen Abgesang an die Fürstenherrschaft und auf die Volkssouveränität zielen (vgl. Anm. 307, S. 37ff.). Hebbels Fragen sind dies ersichtlich nicht. 321 Vgl. Nationalausgabe (s. Anm. 295). S. looff. u. i83f. (hier freilich im Planspiel auch die Unsicherheit verratenden Fragen: »Romanow? [ . . . ] Wo ist Romanow indeßen?«). 322
Vgl. etwa H. Stolte, der dabei überraschend auch das Theorem einer »Existentialschuld« aufgreift (wie A n m . 318, S. 32ff.), und D. Arendt (wie Anm. 307, S. 32fr.).
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Das Vorspiel exponiert - Autobiographisches liegt auf der Hand - die stolze, ja charismatische Natur des Demetrius, dem es nicht gegeben ist, Demütigungen hinzunehmen, mit Bauer, Knecht und Bettler gleichgestellt, mit einem Küchenmädchen verbandelt, von einem polnischen Edelmann herablassend behandelt zu werden. Sein Aufstieg vom »heimathlosen Vagabonden« (V. 5) zum Thronprätendenten eines Riesenreiches trägt Züge des Abenteuerlichen, des Traum- und Märchenhaften. Die Huldigung, die dem Zarewitsch zuteil wird, bringt das Gesetz zum Vorschein, nach dem er angetreten. Er faßt nämlich die plötzliche (und als Intrige noch nicht durchschaute) Erhöhung nicht eigentlich als politischen Aufstieg auf, sondern als Rechtsgewähr. Der Außenseiter, zu groß geraten für die ihm zugemessene Rolle beim Woiwoden von Sendomir, daher in ständigem Dissens mit der Welt, dankt für »das Recht, zu sein, wie ich nun einmal bin« (V. 593). Das klingt zunächst nach Stolz auf das endlich lebbare Größenformat, erweist sich aber bald als Ausformung eines durch und durch rechtlichen Charakters: dieser Demetrius will nur das, was ihm zusteht. Auf dem Schlachtfeld vor Nowgorod zieht er sich - von Mniczek - einen Tadel zu, weil er sich nicht mit dem »Ruhm des Feldherrn« (V. 1185) begnügt, sondern tapfer selbst mit Hand an legt. Der Appell an die Pflicht der »Majestät«, die sich schonen muß, um das Opfer der Tausende nicht sinnlos zu machen, bringt die politische Vernunft zu Gehör (vgl. V. i275ff.). Aber Demetrius ist es offenbar wichtiger, sein »Recht zu prüfen« (V. 1256), sich »selbst einzusetzen« (V. 1264), wenn es die Arbeit gilt, die für ihn getan wird. Wenn man will, kann man im Zarewitsch ein bürgerliches Ethos der Tätigkeit entdecken, das historisch eigentlich nicht >paßt< und politisch völlig verfehlt erscheint. U m so deutlicher kommt heraus, daß Demetrius von Rechtsfragen und Rechtsprüfungen bewegt wird - und praktische Konsequenzen nicht scheut. Dazu stimmt auch die demonstrative Gesetzestreue, mit der sich der Zarewitsch (vgl. V. 1 j8zff.) seinen zwielichtigen Bundesgenossen - und Nachfolger - Schuiskoi ebenso zum Feind macht wie zuvor Boris Godunow (vgl. V. 9o8ff.), dem Demetrius eine schon auffällige Anerkennung zollt, die Hebbel als Kommentator unterstreicht (vgl. Β V I 225^). Dabei handelt es sich keineswegs um einen bloßen Formalismus, sondern um ein »Rechtgefühl«, das den ehrenvollen Vergleich mit einer »Goldwaage« wohl verdiente 323 und das sich gerade dann zeigt, wenn nicht einfach eine Gesetzesvorschrift abgerufen werden kann. So läßt Demetrius aus Pietät den Kindersarg in der Zaren-Gruft, obwohl diese Duldung seinem Thronanspruch schadet (vgl. 228 jff.), so begnadigt er - inzwischen desillusioniert - den Fürsten Schuiskoi, weil er sich für das Todesurteil nicht mehr berechtigt glaubt - Mniczek sieht 323
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Wie Michael Kohlhaas in Kleists Erzählung (Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. 8. Aufl. 1985. Bd. II. S. 14).
die auf Demetrius zurückschlagende Folge dieser Begnadigung voraus (vgl. V. 3043«·)· Diese Bumerang-Struktur, daß Handlungen der Großmut Demetrius selbst treffen, gehört zu den für Hebbel typischen Zuspitzungen gegenüber Schiller. Eine spontane Geste der Menschlichkeit für eine alte Frau, die im Gedränge von Moskau gestürzt ist (vgl. III/6), führt zu einer Aufklärung, die Demetrius zwar seine Mutter finden, aber seinen Thronanspruch verlieren läßt. Auf einen solchen Umschlag ist auch die auf den Schluß deutende Notiz abgestellt: »Marfa erscheint in höchster Liebe für Demetrius, ihn zu retten, dies führt seinen Tod herbei« (W VI 462). Daß Demetrius zwar Zarensohn ist, aber »Bastard« und als solcher ohne Thronrecht (vgl. V. 2866f.),'24 bringt ihn in die größte Nähe und zugleich in die größte Ferne zu seinem Ziel. Als wäre dem Demetrius Schillers, der »mit dem Bewußtseyn, daß er ein Betrüger« ist, in den Kreml einzieht, 32 ' eine Antwort zu erteilen, spricht er sofort seine Bereitschaft zum Verzicht auf die »Krone« aus: Als Iwans Sohn hatt' ich ein Recht auf sie, Ich griff nach ihr und zwang sie auch herab. Jetzt seh' ich, daß ich ein Betrogner bin, Was bleibt mir übrig, als sie weg zu werfen, Wenn ich nicht auch Betrüger werden will? (V. 2 9 6off.)
Man kann diese Haltung unpolitisch nennen, auch wohl unrealistisch nach Maßgabe der historischen Üblichkeiten. Es ist die Ausprägung einer Rechtlichkeit, die sich nicht beflecken will. »Gehörig zuzugreifen« (V. 1931) - das ist die Sache des Demetrius nicht, diese Unfähigkeit zeichnet ihn aber auch aus in seiner politisch-historischen Welt. Schillers Idealismus, bei ihm selbst das Telos kunstvoller ästhetischer Zubereitung, hat sich bei Hebbel in ein individuelles moralisches Format zusammengezogen, dem die »unheilvolle Macht« (V. 2675) suspekt ist. Darin rückt Demetrius abermals mit Boris zusammen, der »die leidige Gewalt« beklagt (V. 822) und ihre schrecklichen Exzesse bei Iwan nicht aus der Erinnerung verliert. In solchen Zusammenhängen ist der Handlungsverzicht des Demetrius nach der anagnorisis zu sehen, nicht bloß als eine >Fehlleistungpoetischer< Ausmalung bleiben muß: Wie sich Demetrius' Einzug in Moskau mit Boris' Leichenzug verschränkt, so deutet das Schicksal des Thronräubers Godunow an, was im Falle des kalkulierten politischen Betrugs mit dem Betrüger ge324
Die Fügung wurde schon von Schiller erwogen, aber dann verworfen (vgl. Nationalausgabe [s. Anm. 295]. S. 86). w Ebd. S. 184.
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schehen würde. Ein Eroberer-Charisma wäre in den Machenschaften der Schuiskoi und Otrepiep folgenlos versunken. Die Geschichte, wie sie sich hier malt, lohnt den heroischen Kampf nicht mehr; die resignative Absage Schopenhauers an den Lauf der Welt klingt nach. 326 Gemäß der Absicht, die »Charactere« aus dem »Volksboden« hervorwachsen zu lassen (vgl. Β VI 233), läßt Hebbel diesmal viel Volk aufmarschieren: Es gibt »Massen-Bewegungen« auf dem Schlachtfeld von Nowgorod (W VI 51), das Lager »wimmelt / Von Völkern aller Art« (V. 1492^), bei Demetrius' Einzug in Moskau säumt das Volk die Straßen, und als Hintergrund für die Geschehnisse des unvollendeten fünften Aktes sind »Volksgruppen, die sich immer vermehren« (W VI 130), in Stellung gebracht. Wie sich die kleine Welt (Bauernnöte!) am Rande der großen Politik abzeichnet (vgl. V. i745ff.), entspricht dem Vorbild der Volksszenen Shakespeares und Grabbes. Daß sich das Volk als Souverän aufzurichten beginnt, läßt sich nicht feststellen eher seine Apathie angesichts des Tuns der Großen: »Was kümmert's uns?« (V. 32J4) Resignation gibt auch hier den Ton an: Mir gilt's so gleich, was für ein Czar regiert, Wie, welch ein Sternbild im Kalender steht! O b Venus oder Mars: das Jahr ist immer Dasselbe, und die goldne Zeit bleibt aus. (V. 225lff.)
Was die Oberen tun, läßt die Unteren gleichgültig, rückt für sie in den Gleichlauf einer desillusionierten Welt. Dem entspricht, daß die Bojaren bis zur Niedertracht ihre Privilegien verteidigen (vgl. V. iÖ9off.) und daß Schuiskoi zwar die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern propagiert (sie wurde 1861 gewährt), doch dieses volksfreundliche Votum nur als TreppenArgument für den Wunsch nach Aufhebung von Beschränkungen der Adelsrechte vorbringt (vg. V. i$y6ff.). Die Berufung auf das »Volk der Reußen« (V. 2100) geschieht rhetorisch-ideologisch und läßt nicht im mindesten einen Ansatz erkennen, eine neue Legitimationsform von Herrschaft zu entwickeln und mit der Demetrius-Problematik zu verbinden. In Wilibald Alexis' Roman >Der falsche Woldemar< (1842) rechtfertigt der falsche Fürst sein Rollenspiel von den wohlverstandenen Interessen von Land und Volk her. 327 Dagegen bleibt in Hebbels russischer Tragödie eine solche Möglichkeit der Sinngebung außer Betracht - vom Volk und von Demetrius aus. Das Bild dieser historischen Welt läßt sich auch an den vorwaltenden Metaphern ersehen, die vielfach auf den Komplex >Theater- und Rollenspiel· 3 2 6 V g l . den Hinweis von H . Stolte, wie A n m . 318, S. 2sf. 327
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V g l . bes. die Kapitel II/5 (>Das FürstenwortDer R u f des HermList der Vernunft< zeigt sich nicht einmal von fern. Das Bedeutende und Ehrliche am >Demetrius< ist gerade darin zu erblicken, daß idealistische Voraussetzungen für die Geschichte nicht mehr beansprucht werden und diese >nackt< erscheint als Kampf der Kräfte in ewiger Wiederkehr, der nicht mehr in eine teleologische Ausrichtung gestellt werden kann. Wie Hebbel im - 1863 entstandenen Gedicht >Diocletian< den lebensmüden Kaiser desillusioniert auf ein Leben blicken läßt, das »zwar bunt« scheint, aber sich in Wahrheit nur »wiederholt« (W VI, V. 9), so herrscht in seinem letzten historischen Drama eine Kontinuität des Schlechten. Von alledem sticht Demetrius durch ein exzeptionelles moralisches Format ab: Wie für Boris Godunow (vgl. V. 848) wäre auch für ihn, den falschen Prinzen, der Griff nach der Krone der nach »der goldnen Schlange«, dem Inbild der Verführung. Es macht die Tragik dieses Rechtlichen aus, daß er, spontan zum Verzicht bereit, dem Zwang des Wirklichen nicht entgeht. Die Austauschbarkeit des Manifests, mit dem er seinen Rechtsanspruch verkündigt hat und zugleich seinem Gegenspieler eine Rechtfertigung zuspielt (vgl. V. 87jff.), ist ein Zeichen dafür, wie die individuellen Signaturen im geschichtlichen Kräftespiel verschwimmen. So kann Demetrius nicht einmal dem Thron entsagen, sondern muß den Kampf fortsetzen, die »CzarenMaske weiter tragen« (V. 3058), weil er Mniczek und die Seinen nicht im Stich lassen darf. In dieser Auseinandersetzung aktiviert Mniczek Argumente von Schillers Wallenstein, ohne vom Nachfolger Max Piccolominis noch einmal ideali318
Vgl. auch V. 1939, 2047, 2129 u. 2936, schon bei Schiller (Nationalausgabe [s. Anm. 295]. S. 48 u. 2i7f.).
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stisch überboten werden zu können. Demetrius darf sein »Herz nicht fragen«, er muß »handeln« (V. 2405) ohne Rücksicht auf seinen eigenen Gewissensspruch, weil Mniczek - um es auf den entscheidenden Punkt zu bringen investiert hat (vgl. V. i476ff.) und nun seine »große Wechsel-Rechnung« (V. 2987) präsentiert. Der Woiwode von Sendomir ist nicht allein der politisch qualifizierte Mentor, als den man ihm den >unpolitischen< Demetrius gern gegenüber stellt, sondern vor allem der Geschäftsmann, der in dem Handel auf seinen Vorteil sieht. Die Pflicht gegenüber dem Freund - bzw. dem investierenden Partner, der nicht an den »Bettelstab« (V. 2982) gebracht werden darf - ist der Pflicht zum moralischen Handeln vorgeordnet. In diesem Zusammenhang fällt das für den Hebbelschen Dualismus bezeichnende Wort von den »gespaltnen Kräften«, auf denen »der Himmel selbst« ruht (V. 2990). Demetrius muß also weitermachen: das ist seine Tragik, in der ein höherer Sinn nicht mehr aufleuchten kann. Die Verstrickung in das Wirkliche, die auch die reinsten Hände schmutzig macht, ist im Hinblick auf Demetrius vielfach akzentuiert, am deutlichsten dadurch, daß die pragmatische Konstellation ihm jenem Mit- und Gegenspieler am meisten annähert, von dem ihn seine Moralität am weitesten entfernt: dem nützlichen Betrüger und späteren Widersacher Otrepiep. Der frühere Mönch und spätere Kosak, der bei Bedarf auch wieder die Mönchskutte überstreift, wird durch sein Rollenspielen und quirliges Intrigieren fast eine Symbolfigur für die auf das Schmierentheater heruntergekommene Geschichtswelt. Und dieser Otrepiep ist der Doppelgänger des Demetrius, sein »Schutzgeist« sogar (V. 2632), der ihm den Weg zum Zarenthron durch schmutzigen Betrug gebahnt hat (vgl. V. 26}2ff.). Es entspricht der Logik dieses Doppelgängertums, daß Demetrius nach Hebbels Planung von Otrepiep - seinem kompromittierenden Schatten - erstochen werden sollte.329 Das letzte Wort, das Demetrius im Dramen-Fragment spricht, gewinnt unter solchen Aspekten einen testamentarischen Rang. Nachdem er sich entschlossen hat, um der Pflicht gegen Mniczek und Marina willen den legitimen Thronerben zu spielen, und während die Bojaren zur Huldigung den Kreml-
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Vgl. Christine Hebbels Zeugnis (nach R. M . Werner, Einleitung zu W VI. S. X X X I ; Emil Kuhs Mitteilung, zit. bei P. Bornstein [s. Anm. 48]. B d . II. S. 47). Die Fortsetzer des Hebbelschen >Demetrius< gestalten den Schluß durchweg so und lassen dann Otrepiep - das Werkzeug, das ausgedient hat- durch Schuiskoi fallen bzw. beziehen ihn in die Huldigung fur den neuen Zaren ein: so Ludwig Goldhann, in dessen Komplettierung Hebbels Drama zuerst aufgeführt wurde (1869 in Berlin), M a x Martersteig (zuerst 1893), Heinrich Teweles (1895), Otto Harnack (1910) und andere. Mehr als stofflich-theatralische Abrundung mit zweifelhafter Authentizität, was die Nähe zu Hebbels Intention betrifft, bieten die Fortsetzer naturgemäß alle nicht.
Saal betreten, kündigt er den Seinen an, daß »der Spaß« ein baldiges Ende nehmen müsse (V. 3068), und spricht dann das letzte Wort: Ich bin der Kapitain von einem Schiff, Das scheitert; rasch in's sich're Boot mit Euch, Dann zünde ich die Pulverkammer an. (V. 3o 7 2ff.)
Die Szene entspricht mit dem Kontrast von äußerem Schein und innerer Wahrheit in Schillers Szenar dem »Einzug des falschen Demetrius als wirklicher Czar zu Moskau, mit dem Bewußtseyn, daß er ein Betrüger«. 330 Bei Hebbel sammelt sich die nicht mehr sinnfähige Tragik des Demetrius in der Schiffbruch-Metapher: pflichtgemäß auf die Rettung der Mannschaft bedacht, nimmt der Kapitän für sich den Untergang nicht bloß in Kauf, sondern setzt ihn offenbar planmäßig ins Werk. 33 ' Denn worauf sonst kann das Anzünden der »Pulverkammer« hindeuten als auf einen großen Abgang, einen heroischen Selbstmord? Wenn aber die Auskunft über das geplante Ende des Demetrius zutrifft, daß er hinterrücks erstochen werden sollte, stellt sich die weitere Frage: 332 Wie paßt das zur Ankündigung der Selbstauslöschung als einer letzten Aktivität - oder soll beides gar nicht zueinander passen? Von der gegebenen Textbasis her müssen solche Fragen in das Reich der Spekulation führen, ins Lockende und Unwägbare. Nicht Hebbels letzter Wille sollte umrätselt, sondern Demetrius' letztes Wort bedacht werden. Das Schiffbruch-Gleichnis bringt nicht bloß ein Scheitern des Helden ins Bild, sondern verrät auch einiges von den Schwierigkeiten, die das Drama selbst bedrängen. Um dieser Bedeutung der Metapher beizukommen, müssen wir ein wenig weiter ausholen.333 Das Bild der Seefahrt ist ein Lebensbild, das eine Vorstellung von der Daseinsbewegung im Ganzen entwirft - mit der Grenzüberschreitung ins Unsichere und Gefährliche. Hans Blumenberg hat die Geschichte der gebräuchlichen Daseinsmetapher knapp und instruktiv nachgezeichnet: ihre Konfiguration bei Horaz, bei welcher der Zuschauer den beobachteten 330
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Dies sei der »am höchsten hervorragende Punkt oder der Gipfel der Handlung«; auf ihn »fällt das höchste Licht der Darstellung« (Nationalausgabe [s. Anm. 295]. S. 178). Vgl. eine Entsprechung in Alexis' >Der falsche Woldemarc »Sterb' ich im Schlachtgetümmel, was gibt's besseren Tod für einen Kaiser, als daß er stirbt, um seine Getreuen zu retten!« (Kap. IH/8: >Der sterbende Kaisen) Wie auch für Schillers Plan: »Er wird erstochen und fallt edel« (Nationalausgabe [s. Anm. 295]. S. 186). J . Müller beschränkt sich in der Behandlung der Schiffbruch-Metapher auf den Nachweis ihrer pragmatischen Stimmigkeit (vgl. Bemerkungen zur Kernproblematik und dramatischen Dialektik von Hebbels >DemetriusTassoWallensteinDemetrius< ein: Der »stürmevolle Reichstag« des Beginns führt bald zu der gebräuchlichen Wendung, daß »wilder Sturm das Schiff des Staats bewegt«. 337 Die Entwürfe sind voll von Meer- und Wogen-Bildern: Das Glück trägt den subjektiven Prinzen< auf seiner großen Fahrt - und läßt ihn am Ende doch sinken.338 In den Sambor-Szenen sinnt Demetrius im Gefängnis: »Mit vollen Segeln lief ich in das Meer / Des Lebens, unermeßlich lags vor mir« 339 - das scheinbare Ende, dem sich die Erhöhung anschließen wird, die der Hoffnung auf Glück und Größe eine wiederum nur scheinbare Erfüllung gewährt. Diese Wendung gibt den Metaphernsinn vor, den auch Hebbels Demetrius in seinem Abschiedswort ausdrückt: als tragische Bilanzierung, die auch Schillers Bildansatz miterfaßt. Versucht man das Bildfeld des Wassers bzw. der Schiffahrt bei Hebbel aufzufächern, so tritt die geläufige Lebensbedeutung heraus, zeigt sich aber auch die Anknüpfung an eine ältere poetisch-ästhetische Tradition.340 Das Lebensbild - »wie ein Schiff auf stürmischem Meer« - setzt Hebbels Hilferuf-Brief an Uhland im August 1832 ein (vgl. Β VIII 2). Ein Brief aus Wien, im Juni 1846 die Heirat anzeigend, hebt zwar die erfreuliche Lebenswendung von »Glück und Versöhnung« der »meisten Menschen« ab, bringt aber die neue Einstellung doch wieder den Üblichkeiten nahe: »[...] ich habe doch endlich auch das Schiff, worauf ich fahre, betrachten gelernt, statt des Oce334
33s 337
338 339 3+°
H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. 1979. Zitat: S. 64. Vgl. ebd. S. 66ff. (mit Beziehung auf Jacob Burckhardt). Vgl. Die Piccolomini, V. 204iff. (SW II 405). Nationalausgabe (s. A n m . 295). S. 7 u. 24. Vgl. ebd. S. 94, 169, 182, 220 u . a . (wie z . B . die Sturm-Bilder und die NausikaaBezüge). Ebd. S. 24of. So gibt Ernst Robert Curtius etliche Belege dafür, daß bei den R ö m e r n die Schifffahrt eine Metapher fur das Abfassen eines poetischen Werks ist (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 1948, 8 I973. S. I38f.). D e n Schiffbruch als Bild fur ästhetisches Scheitern kennen die römischen Dichter freilich nicht: »So etwas ist Sache des Philosophen« (H. Blumenberg, wie A n m . 334, S. 15) — oder auch des tragischen Dichters in Notzeiten der Tragödie.
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ans, der es trägt« (B III 327). Die Wendung, im Tagebuch auch als Maxime formuliert (vgl. Τ 3572), zeigt wie viele versöhnlich gestimmte Äußerungen Hebbels eine Spur von gepreßter Künstlichkeit. Vor allem: Der Dichter wird gar nicht umhin können, auch weiterhin das Meer in seiner ganzen Größe und Gefährlichkeit ins Auge zu fassen. Die frühe Lyrik - wie >Der junge Schiffer< (W VI i4jf.) und >Schiffers Abschied< (W VI 148) - bietet den Bildkomplex in optimistischer Färbung. Aber das ist nur die Aversseite, die erwartungsvolle Situation vor dem Aufbruch, wenn es nur das »Fahren« gilt: »Wohin? Das gilt mir gleich!« Das Lied wird auch in das bürgerliche Trauerspiel hineingezogen und dient dort nur dem kontrapunktischen Kontrast zu Klaras Brunnensturz, der für die enge und ausweglose Kleinbürger-Welt charakteristischen Variation des Wasser-Bildes (vgl. W II 65ff.). Judith bezeichnet ihr Beten als »ein Untertauchen in Gott« (W I 19). In die Reihe der tragischen Beispiele gehört auch Hagens düsteres »Totenschiff«-Menetekel in der >NibelungenMeer und SchiffahrtPrinzen von Homburg< angebracht (vgl. dort V. 651).
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zum anderen die spezifische Gestaltungsproblematik beim >Demetrius< in Rechnung stellt, dann erweist sich das Bild vom Schiffbruch auch als Notruf der Tragödie. Dem Dichter, der sich auf die empirische Geschichte einläßt, macht das »Welt-Getümmel« (V. 1553), der Andrang »der schwellenden Ueberfülle der Materie« (Β VI 225) zu schaffen, weil er an eine Idee, die das alles organisieren könnte, nicht mehr glaubt. Ohne festen Halt droht sein Unternehmen ins Bodenlose zu versinken. So ist Hebbels >Demetrius< ein Zeugnis für den »Todeskampf der Tragödie« 342 in der neueren Zeit geworden. Ein solches allerdings, das den Abschied von der Kunstform, die sich am Ende nicht mehr verteidigen ließ, schwer macht.
U2
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So Nietzsche in der >Geburt der Tragödie« im Hinblick auf Euripides (wie Anm. 9, S. 72).
Namenregister
Adorno, Theodor W. 341 Aischylos 14 Alberti, Leopold 95 Altherr, Ernst 173, i8if., 185, 190, 279 Alewyn, Richard 199, 267 Alexander der Große 135 Alexis, Wilibald (Pseudonym für: Wilhelm Häring) γ{., 92, io6, 199, 416, 419 Anders, Hans-Joachim 49 d'Arc, Jeanne 97, 144 Arendt, Dieter 409, 413, 419 Aristophanes 174 Aristoteles 34f., 89^, 143, 244 Auerbach, Erich 263 Baltzer, Otto 83, 92, 136 Balzac, Honore de 323 Bamberg, Felix 21, 33, i6of., 178, 190, 218, 289, 298f., 320, 384^, 388 Barlow, D . 361, 364^ Bauer, Gerhard 302, 304, 3iof. Bauernfeld, Eduard von 393 Beck, Adolf 56 Beethoven, Ludwig van 162, 256 Benjamin, Walter 39 Benn, Gottfried 288 Berghahn, Klaus L. 35 Bertaux, Pierre $6 Beutler, Ernst 201 Binder, Wolfgang 409 Birch-Pfeiffer, Charlotte 32, 170 Birck, Sixt 92 Birtsch, Günter 390 Bischke, Gisela 130, 363 Blaustein, Leopold 128 Blumenberg, Hans 16, 419^ Bodenstedt, Friedrich 406 Böckmann, Paul 180 Böhme, Jacob 82
Böhrig, Karl 395 Bönig, Alois 309, 364, 368 Böttger, Fritz ioof. Borneman, Ernest 364 Bornstein, Paul 92, 135, 20of., 306, 312, 323, 362, 387 Brecht, Bertolt 4 - 6 , 93, 96, 135, 137, 172, 211, 275, 300 Brentano, Clemens i84f. Brinkmann, Else 265, 267, 269t. Broch, Hermann 200 Buber, Martin 328 Büchner, Georg 7, 35, 119, 13$, 148, 175, 284, 302, 304, 408 Bühmann 202 Bührig, Marga 22, 302f. Bulwer, Edward 242 Burckhardt, Jacob 289, 301, 373, y r j i . , 420 Byron, George Gordon (»Lord Byron 417 Dulk, Albert 145 Duller, Eduard 135 Durzak, Manfred 79, 89, 138 Eichholz, Ehrenreich 34 Ekhof, Konrad 275 Eloesser, Arthur 169, 240 Emrich, Wilhelm 342, 361, 392 Engels, Friedrich 31, 181, 207 Engländer, Siegmund 11, 46, 168, 170, 227, 242, 265, 2 7 6 - 2 7 9 , 281 Enzinger, Moriz 298 Ernst, Paul 45 Eschenmayer, Karl Adolf von 97 Euripides 422 Fenner, Birgit j6f., 61, 342, 362 Ferdinand I., österreichischer Kaiser (1835-48)351 Ferdinand II., römisch-deutscher Kaiser ( 1 6 1 9 - 3 7 ) 137 Fetzer, John 261 Feuerbach, Ludwig 58, ii2f., i2if., I34f., 164 Fichte, Johann Gottlieb 135 Fischer, Alexander 96 Flaubert, Gustave 324 Flavius Josephus 293, 3 3 1 - 3 3 3 , 335, 340, 349, 359, 3 7 9 - 3 8 1 Fontane, Theodor 35, 136, 271, 319, 324, 331, 402 Fouque, Friedrich Baron de la Motte248 Fourie, Regine 82 Frankl, Ludwig August 145, 407 Frenkel, Joachim 82, i n Freud, Sigmund j6f., 94 Freytag, Gustav 36f., 59, 222 Fricke, Gerhard 12, 73, 119 Friedrich, W. (Pseudonym für: Wilhelm Friedrich Riese) 245 Frisch, Helga 74 Fromm, Hans 56, 166 Frühwald, Wolfgang 2 1 0 - 2 1 2 , 221 424
Gadamer, Hans-Georg 374, 377 Gans, Eduard 292 Garcia Märquez, Gabriel 93 Garland, Mary 124, 218, 232, 248, 261 Gerhäuser, Emil 162 Gerlach, Ulrich Henry 44 Gerth, Dieter 73, 76, 129, 133, 311, 320, 362f., 366f., 384 Giese, Peter Christian i 7 i f . Glaser, Julius 158, 412 Glockner, Hermann 26 Glück, Alfons 409 Goethe, Johann Wolfgang von 7, 10, 12, 2I
> 35. 37 - 43> 56» 7*>f-> 96> " 9 f · . i j i f . , 174, 176, 180, 186, 196, 203, 241, 245, 247, 262, 275, 283, 289, 295, 300, 304, 3 2 3 - 3 2 6 , 328f„ 336f., 368, 392, 401, 404f., 420 Görres, Joseph 161 Goldhann, Ludwig 418 Goldoni, Carlo 193 Gottsched, Johann Christoph 1 8 3 - 1 8 5 Grabbe, Christian Dietrich 37, 119, 135, 139, 146, 161, 284, 286, 381, 39 I _ 393> 408, 4i6f. Greiffenhagen, M . 102 Grillparzer, Franz 7, 63, 77f., 146, 284-287, 302, 32of., 335, 379f., 39if., 398, 402 Grimm, August Theodor von 410 Grimm, Hermann 406 Grimm, Reinhold 5 Gripp, Helga 305 Grosse, Julius 83 Gruenter, Rainer 199, 3 0 9 ^ 316, 334 Grundmann, Hilmar 254 Gruppe, Otto Friedrich 406 Guthke, Karl S. 43, 177, 190, 192 Gutzkow, Karl 14, 29^, 32, 50, 70, 82f., 96-102, 104, nof., 116, 147, I98f. Habermas, Jürgen i6f., 19, 114, 305 Hacks, Peter if., 4 Hallmann, Johann Christian 361 Hamburger, Käte 1 Hardtwig, Wolfgang 390 Hardy, Swana L. 78 Harnack, Otto 418 Hartmann, Eduard von 287 Hartmann, Nicolai 52 Hauff, Hermann 99
Hauptmann, Gerhart 43, 192, 215, 310 Hausen, Karin 341 Haym, Rudolf 48 Hebbel, Antje Margaretha 202 Hebbel, Christine 225, 237f., 318-320, 368, 418 Hebbel, Claus Friedrich 202-204 Hebbel, Emil (»Ariel·) 368 Hecht, Wolfgang 18 5 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 8, 13, 21-29, 33, 35 f ·. 37-39. 46f-, 49f·. 56, 58, 60, 63f„ 75, 81, 177, 198, 210, 279, 281, 287-294, 299-301, 313, 328, 34of„ 355-358, 361, 365, 373f., 376f„ 3 7 8f., 384-387, 397f., 417 Hegel, Karl 292 Heiberg, Johan Ludvig 29, 46-48, 50, 52, 104, 157, 385 Heidsieck, Arnold 6 Hein, Jürgen 94, 136 Heine, Heinrich i3f., 22, 58, 60, 97, 190, 230, 279, 283, 356, 389 Heinse, Wilhelm 135 Heintz, Günter 99t. Hempfer, Klaus W. 63 Hensel, Georg 172 Herder, Johann Gottfried 49, 119, 161, 207, 286, 288, 376 Hettner, Hermann 36, i6if., 168, 192, '94, i97f·. 209> 271, 372. 375 Herodes I., jüdischer König (40-4 v.Chr.) 333, 335, 349 Heyse, Paul 8 Hiller, Marie Louise 391 Hilzinger, Klaus Harro 57 Hochhuth, Rolf 105 Hölderlin, Friedrich 271 Hoffmeister, Karl 4o6f. Hofmann, H. 16 Homer 11 Horaz 419^ Horkheimer, Max 341 Hugo, Victor 59, 64 Ibsen, Henrik 7, 177, 192, 270, 320, 324. 343 Iffland, August Wilhelm 36, 170, 197 Immermann, Karl 13jf., 147, 153, 279, 32I> 343. 393 Jacobi, Friedrich Heinrich 135, 396 Jacobsohn, Siegfried 171
Janke, Wolfgang 89 Jarry, Alfred 300 Jaspers, Karl 45, 304^ Jean Paul (Pseudonym für: Johann Paul Friedrich Richter) 23, 104, i8if., 2 ° 3 . 359fJellachin (Jelacic de Buzim), Josip 283 Jordan, Wilhelm 209
Kaiser, Georg 94 Kaiser, Gerhard 178, 188, 190, I92f., 196 Kaiser, Herbert 61-63, 288, 342, 358, 362, 374, 378 Kaiser, Joachim 5 Kant, Immanuel 378 Karamsin, Nikolai 410 Kaufmann, R. J. 6 Kayser, Brigitte 50 Keller, Gottfried 113, 207, 344, 356 Keller, Mechthild 22, 163 Keller, Werner 163, 165, I94f., 360 Kerner, Justinus 97 Kettner, Gustav 406 Kierkegaard, Sören 132^ Kinder, Hermann 31 Klein, Julius Leopold 365 Kleist, Heinrich von 7, 21, 63, 68, 75, 163, 232, 302, 309, 365, 399, 401, 4M. 421 Klinger, Friedrich Maximilian 242 Klopstock, Friedrich Gottlieb 148 Knauss, Sibylle 333 Koch, Herbert 165, 389^ Körner, Gottfried 11, 406 Körner, Josef 352, 357, 362, 367 Kolbe, Jürgen 39, 321, 324 Kommerell, Max 78, 89, 253 Korn, Benjamin 245 Kotzebue, August von 36, 197 Kraft, Herbert 67, 78, 112, 133, 135, 163, 169, 193, 196, 213, 224, 232, 247, 26of., 264, 266, 273, 282, 312, 36of., 373, 391, 406 Kreuzer, Helmut 22f., 45, 62, 65, 71, 75, 85, 97, 103, 1 0 8 - n i , 118, 131, 201, 225, 232, 235f., 242, 248, 258, 263, 274, 279, 285, 300, 309, 312, 317. 333. 34$. 3^2, 370. 388. 395. 397*· Krieger, Murray 15 42 J
Kroetz, Franz Xaver 172 Kücken, Friedrich 161 Kühne, Gustav 27, 70, i n , 160, 163, 194, 207, 242, 264, 275, 295, 314, 331, 406 Küng, Hans 131 Kuh, Emil 27, 83, 93, 96, 135, 139, 148, 151, 158, 200-202, 204, 217, 220, 262, 272, 292, 319, 397, 404, 406, 418 Kulke, Eduard 79, 133, 142, 145, 148, 152, 219t Kurella, Alfred 5 Kutscher, Artur 37, 135, 381
Mann, Thomas 341, 353, 402 Marat, Jean-Paul 104 Marcuse, Ludwig 139, 291 Marquard, Odo 17, 377 Martersteig, Max 418 Martin, Helmut 182, 189, 268 Martini, Fritz 22, 36f., 40, 59, 63^, 172, 196, 237, 407, 409f. Marx, Jenny roof. Marx, Karl 16, 31, 102, 181, 186, 207, 281 Massinger, Philip 295-297, 314, 331,
Lämmert, Eberhard 169 Landau, Marcus 38gf. Laube, Heinrich 295, 315 Le Brun de Charmettes, PhilippeAlexandre 248 Lehmann, Werner R. 59 Lenau, Nikolaus 271 Lensing, Elise 20, 50, 74, 100, 116, 120, 148, 202f., 223, 320-322, 333, 368 Lensing, Max 115, 368 Lenz, Jakob Michael Reinhold i7if., 178, 236f., 242, 285 Lessing, Gotthold Ephraim 35, 47, 74, I03f., 132, 170, 207, 209, 229, 239, 251, 285t, 291, 302 Liepe, Wolfgang 20, 50-52, 74, 82, 113, 135, 137, 388 Löwith, Karl 3J4f., 377, 388 Lublinski, Samuel 3i6f. Luck, Ludwig Wilhelm i48f. Ludwig, Otto 36, 146, 241, 273, 398 Lübbe, Hermann 377 Lütkehaus, Ludger 21, 27, 70, 89, 94, 110, 123, 130, 179, 181, 186, i88f., I92f., 199, 204, 211, 213, 218, 221, 223-225, 227, 235, 240, 245, 251, 261, 270, 272f., 275, 281, 299 Lützeler, Paul Michael 400 Lukrez 420 Luther, Martin 128, 38of., 4i2f. Lunatscharskij, Anatolij 7
335. 339. 363> 381, 387-389 Matt, Peter von 36 Matthiesen, Hayo 359, 381, 4o6f., 4iof. May, Kurt 39, 224, 232, 240, 258, 309, 3i7f· Mayer, Hans nof. Meetz, Anni 20 Mehring, Franz 263, 372 Meinecke, Friedrich 286 Menzel, Wolfgang 99f. Merimee, Prosper 410 Meszleny, Richard 292 Metternich, Klemens, Fürst von 372 Meyen, Eduard 96f., 106, 135 Meyer-Benfey, Heinrich 75, 85, 87, 96f„ 119, 126, 139, 141, 395 Meyr, Melchior 195, 294, 394f. Michael, Manfred 303, 345, 363, 373 Michelsen, Peter 22f., 31, 46f., 54, 68, 74, 117, 119, 157, 166, 224-227, 2 39. 25S> 292> 366 Montaigne, Michel de 399 Moritz, Karl Philipp 98, 217, 259 Mosen, Julius 294 Müller, Adam 76f. Müller, Friedrich (>Maler Müller 47. 49. 6 h 8f., 83, 9of., 104, 126, 130, 140, 144, i7of., 173, 187, 2i4f., 233f., 244, 251, 257, 2 75> 3 02 > 359» 370. 404-413» 415» 417-420 Schillings, Max von 162 Schings, Hans-Jürgen 35, 409 Schlaffer, Heinz 8, 25, 29, 6 3 - 6 5 , 209-212, 302, 306, 310, 315, 317, 378 Schlegel, August Wilhelm 35, 77f. Schmid, Eduard Eugen 319, 365, 399 Schmidt, Dieter 137 Schmidt, Julian 8, 10, 28, jif., 59, 135, 191, 194, 222, 273 Schneider, Ferdinand Joseph 327 Schnyder, Walter 144, 293-296, 298, 324f. Schopenhauer, A r t h u r 35, 6if., 119, 133, 208-210, 216, 242, 288f., 324, 369. 376» 385. 416 Schoppe, Amalie 217 Schradi, Manfred 145, 150, i52f., 1 j6f. Schröder, E m m a 159 Schröder, Friedrich Ludwig 275 Schubert, Gotthilf Heinrich 58, 74 Schütze, Peter 1, 168, 256, 346 Schultze-Jahde, Karl 395 Schulz-Streeck, Karlheinz 173, 185 Schumann, Robert i6if. Schwarz, Anton 168, 20if., 227 Schwarz, Josefa (>Beppi