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German Pages 547 [548] Year 2010
Goethes »Wahlverwandtschaften«
Goethes »Wahlverwandtschaften« Werk und Forschung Herausgegeben von Helmut Hühn unter Mitarbeit von Stefan Blechschmidt
De Gruyter
Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstanden.
ISBN 978-3-11-021505-2 e-ISBN 978-3-11-021506-9
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Goethes Wahlverwandtschaften : Werk und Forschung / edited by Helmut Hühn. p. cm. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-021505-2 (alk. paper) 1. Goethe, Johann Wolfgang von, 1749-1832. Wahlverwandtschaften. I. Hühn, Helmut. PT1971.W4G635 2010 833‘.6--dc22 2010037695
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Seilstück von der englischen Marine, im Glas, 1813. Klassik Stiftung Weimar, Museen. GNV 0010.
»Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst«. Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman, II, 5
Inhalt
EINLEITUNG Wirklichkeit und Kunst. 200 Jahre Goethes Wahlverwandtschaften Helmut Hühn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EINSAME MENSCHEN Einsamkeit und Entsagung in Goethes Wahlverwandtschaften Ernst Osterkamp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
DARSTELLUNGSEXPERIMENT UND »ROTER FADEN« Goethes Wahlverwandtschaften – neu gelesen Klaus Manger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Ein poetisches Entrée? Goethes Wahlverwandtschaften im Kontext des Sonettzyklus von 1807 und der Pandora-Dichtung Jochen Golz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Das unsichtbare Labyrinth. Zur Parkgestaltung und Architektur in Goethes Wahlverwandtschaften Harald Tausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 »Auf das Leben bezügliche und vom Leben abgezogene Maximen«: Beobachtungen zu Ottilies Tagebuch Andreas Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Ein »tragischer Roman«? Überlegungen zu einem Romanexperiment Helmut Hühn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
BILD UND WIRKLICHKEIT »… überall nur eine Natur …«. Spinozas Ethik als Schlüssel zu Goethes Wahlverwandtschaften? Birgit Sandkaulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
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Inhalt
»Ein Zeichen sind wir, deutungslos«. Über die Funktion des dekonstruktivistischen Schriftbegriffes für Goethes Wahlverwandtschaften Jan Urbich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Von Klapp-Bildern und Kipp-Figuren. »Tournez s’il vous plaît« – ein Schlüsselmotiv in Goethes Wahlverwandtschaften Reinhard Wegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Zum Problem gesellschaftlicher Vorurteile und individueller Denkstörungen in Goethes Wahlverwandtschaften. Eine psychoanalytische Untersuchung Hermann Beland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
FREIHEIT UND DETERMINATION Wissen sie, was sie tun? Literatur, Ethik und Handlungstheorie Temilo van Zantwijk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Die Wahlverwandtschaften – Versuch einer wissenschaftshistorischen Perspektivierung Olaf Breidbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
GESELLSCHAFTLICHE UMBRÜCHE – UNGELÖSTE KONFLIKTE Von der »Dazwischenkunft eines Dritten« – Geschlechterbeziehungen in Goethes Wahlverwandtschaften Nicole Grochowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Goethe als Gesellschaftskritiker. Zur Symbolisierung sozialen Wandels in den Wahlverwandtschaften Marko Kreutzmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 »Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden« – Gesellschaftlicher Umbruch und Reformpolitik als zeithistorischer Hintergrund des Romans Die Wahlverwandtschaften Gerhard Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Das Werk im Schmerz. Anmerkungen zum Motiv des Kopfschmerzes Benigna Carolin Kasztner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Inhalt
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ORDNUNGEN AUF ZEIT »… eine Repositur für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene«. Wer schafft Ordnung in den Wahlverwandtschaften? Stefan Blechschmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Verfehlte Geburtstage und verpatzte Feste. Zeitkultur in den Wahlverwandtschaften Michael Maurer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Zeit und Zeitkultur in Goethes Wahlverwandtschaften Susan Baumert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
IRRITATIONEN: WERK UND WIRKUNG »Durch und durch materialistisch« oder »voll innern heiligen Lebens«? Zur zeitgenössischen Rezeption der Wahlverwandtschaften Jutta Heinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Goethes Erben. Wahlverwandtes bei Handke, Walser, Wellershoff Nikolas Immer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
VOM RECHT DER GEGENWART Das »ungeheure Recht« der Gegenwart. Übereilung, Mode und Verdrängung der Gegenwart als Symptome eines verfehlten Zeitbewusstseins in Goethes Wahlverwandtschaften Elisabeth von Thadden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
ANHANG Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EINLEITUNG
Wirklichkeit und Kunst 200 Jahre Goethes Wahlverwandtschaften Helmut Hühn
Ein literarisches Werk von höchstem Rang ist im Oktober 2009 zweihundert Jahre alt geworden: Goethes Wahlverwandtschaften. Der Roman verknüpft Naturforschung und Wissenschaftsgeschichte, Zeitdiagnostik und das Nachdenken über die Möglichkeiten der Kunst als Erkenntnismedium, die Analyse des sozialen Wandels und die Erfassung der sozialen Konflikte, ethische und anthropologische Reflexion, psychologisches und psychopathologisches Erkennen in einer komplexen dichterischen Formensprache. Wie kein anderes Erzählwerk des beginnenden 19. Jahrhunderts steht der Roman im Spannungsfeld von Kunst und Literatur, Philosophie und Wissenschaften. Das Bemühen, einen ›Sehepunkt‹ zu gewinnen, der die eigene geschichtliche Gegenwart und deren Entstehung vor dem Hintergrund der Französischen Revolution begreiflich machen kann, bestimmt das Romanexperiment von Anfang an. Das Werk ist ein Teil des kulturellen Ereignisses, das sich mit den Namen Weimar und Jena verbindet, und zugleich eine Form seiner künstlerischen Selbstreflexion. Selbstreflexion verlangt Abstandnahme. Es ist die Distanzgewinnung, die allererst die Möglichkeit einer Klärung der Erfahrungen gewährt. Literatur ist ein Medium solcher Distanzgewinnung. Bis heute sind die Wahlverwandtschaften einer der meistinterpretierten Romane der deutschen Literaturgeschichte. Die Geschichte der Goethe-Philologie spiegelt sich in der Wirkungs- und Forschungsgeschichte ebenso wie die Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft. Bis in die Gegenwart hinein taugen die Wahlverwandtschaften als »obligater Probierstein«1 der Deutungen und wissenschaftlichen Moden, sind sie zugleich Gegenstand kreativer künstlerischer Rezeption2 und Anverwandlung. Wo stehen wir heute – nach 200 Jahren Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte – in unserem Verständnis des Romans? 1
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Alexander Honold, Blinde Wahl: Goethe. In: Ders., Der Leser Walter Benjamin: Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000, S. 107–158, hier S. 109; vgl. zur Kritik wichtiger Interpretationsmodelle Thomas Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation. Theoretische Grundlagen – kritische Analysen. Tübingen 2005. Vgl. den Forschungsbeitrag von Nikolas Immer in diesem Band; zur literarischen Transformation von Motiven aus den Wahlverwandtschaften in der Lyrik Paul Celans vgl. Jean Bollack, Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur, hrsg. von Werner Wörgerbauer. Göttingen 2006, S. 386–388.
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Erfüllt dieses Werk heute noch seine künstlerische Bestimmung, zum »Nachdenken aufzuregen«?3
I. Herausforderungen Die moderne Literaturwissenschaft hat die Wahlverwandtschaften »das undurchdringlichste und vielleicht vieldeutigste Buch« genannt, »das Goethe geschrieben hat«.4 Das Werk beunruhigte die zeitgenössischen Leser, ja empörte und verstörte sie.5 Was war nicht alles ›anstößig‹ an diesem Roman, der zunächst als Novelle geplant und für das Erzählkorpus der Wanderjahre vorgesehen war: Dem Vorwurf, dass die Ehebruchs-Darstellung ›unmoralisch‹ (oder ›unchristlich‹) sei und dass das Buch möglichst nicht in die Hand von jungen Mädchen gelangen solle,6 tritt noch die Hegel-Schule mit ihren Interpretationen Mitte des 19. Jahrhunderts entgegen. Ein Kritiker wie Friedrich Heinrich Jacobi, der in der Gesamtkonzeption eine »Himmelfahrt der bösen Lust«, eine »scheinbare Verwandlung […] der Fleischlichkeit in Geistlichkeit«7 zu erkennen glaubt, hält Goethe einen naturalisierenden Materialismus vor: »Dieses Göthesche Werk ist durch und durch materialistisch oder, wie Schelling sich ausdrückt, rein physiologisch«.8 Diese Vorwürfe zeigen, dass schon die zeitgenössischen Leser große Schwierigkeiten haben, sich in ein Verhältnis zum Ganzen der Darstellung zu setzen. Die Darstellung vergegenwärtigt die Komplexität eines »sittlichen Falle[s]«,9 aber sie lehrt keine Moral, sondern vertieft die Widersprüche, die sich bei der Beurteilung des Falls stellen.10 Der
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Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Bildungstrieb. WA II, 7, S. 73. Vgl. Benno von Wiese, Anmerkungen des Herausgebers zu ›Die Wahlverwandtschaften‹. HA 6, S. 653; David E. Wellbery, ›Die Wahlverwandtschaften‹ (1809). Desorganisation symbolischer Ordnungen. In: Paul Michael Lützeler / James E. McLeod (Hrsg.), Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart 1991, S. 291–318, hier S. 291: Wellbery spricht davon, dass er sich »diesem Roman wie keinem zweiten der deutschen Literatur unterlegen fühle«. Vgl. Norbert W. Bolz, Einleitung. In: Ders. (Hrsg.), Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 7–20, hier S. 8; Peter von Matt, Glück als Ziel des Weltalls und der Literatur. In: Heinrich Maier (Hrsg.), Über das Glück. Ein Symposion. München, Zürich 2008, S. 149–195, hier S. 182. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption des Romans wie zur Prägung der Deutungsgeschichte insgesamt die Untersuchung von Jutta Heinz in diesem Band. Vgl. auch den Brief von Christoph Martin Wieland an Elisabeth Gräfin von SolmsLaubach, 15. Juni 1810. In: Heinz Härtl (Hrsg.), ›Die Wahlverwandtschaften‹. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Berlin 1983 [=Härtl], Nr. 377, S. 158. Manche Zeitgenossen beirrte bereits die Nacktheit der jungen Frau nach der Rettung in der eingeschobenen Novelle von den »Wunderlichen Nachbarskindern«. Friedrich Heinrich Jacobi an Friedrich Köppen, 12. Januar 1810. In: Härtl, Nr. 305, S. 113. Ebenda. Vgl. Goethes Selbstanzeige des Romans im Morgenblatt für gebildete Stände, Tübingen, 4. September 1809. In: Härtl, Nr. 138, S. 50f., hier S. 51. Vgl. zu dem eminenten Problem, ob die Darstellungsform des Romans eine Zuschreibung von Handlungen überhaupt erlaubt, den Beitrag von Temilo van Zantwijk in diesem
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Roman vergegenwärtigt mit den Mitteln der Literatur existentielle Probleme und Konflikte der geschichtlichen Gegenwart, der »Epoche von 1806«,11 ohne dass er Lösungen oder gar Handlungsanweisungen mitliefern würde. Nicht nur die Erzählkomposition im ganzen,12 auch relevante Details des Gedichteten selbst verursachen bis in die Gegenwart hinein enorme Verständnisschwierigkeiten: Da ist das »apprehensive Wunderkind«13 Otto, in das die Protagonisten des Romans nicht nur alles zu projizieren scheinen, was in ihnen rumort, ihre Wünsche wie ihre Vorurteile; und doch bekräftigt auch der Erzähler an einer Stelle, dass dieses von Charlotte und Eduard gezeugte Kind die Züge des Hauptmanns und die Augen der Ottilie habe, und spricht von einer »doppelte[n] Ähnlichkeit«.14 Jacobi bringt das »Aergerniß« präzise auf den Punkt, wenn er an Friedrich Köppen schreibt: »Die zwiefache Aehnlichkeit des Kindes und ihre Ursache, hat uns im höchsten Grade empört, und diese Angelegenheit ist doch die Seele des Buchs«.15 Das Phänomen der doppelten Ebenbildlichkeit steht paradigmatisch für die das ganze Werk durchziehende Verrätselung und für das erzählerische Insistieren auf der Vieldeutigkeit der Wirklichkeitsbezüge, die, so scheint es, bis heute Leser und Interpreten verunsichert. Walter Benjamin, dessen Wahlverwandtschaften-Essay neue Maßstäbe für die Interpretation gesetzt hat, spricht von dem Bedürfnis des Lesers, Halt zu gewinnen gegenüber einer Romanwelt, »die wie in Strudeln kreisend versinkt«.16
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Band. Eine Maxime, die Goethe im Rahmen der Arbeit an der Konzeption des Faust notiert, lautet (Erstes Paralipomenon [ca. 1800]. WA I, 14, S. 287): »Die Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen«. Brief von Goethe an Zelter, 6. November 1830. WA I, 48, S. 4. Vgl. den Brief von Christoph Martin Wieland an Elisabeth Gräfin von Solms-Laubach, 15. Juni 1810. In: Härtl, Nr. 377, S. 158f.; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke in zwanzig Bänden, Band 13. Hrsg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, S. 384f. Vgl. den Brief von Goethe an Carl Friedrich von Reinhard, 31. Dezember 1809. WA IV, 21, S. 153: »Das Publicum, besonders das deutsche, ist eine närrische Karricatur des dêmos es bildet sich wirklich ein, eine Art von Instanz, von Senat auszumachen, und im Leben und Lesen dieses oder jenes wegvotiren zu können was ihm nicht gefällt. Dagegen ist kein Mittel als ein stilles Ausharren. Wie ich mich denn auf die Wirkung freue, welche dieser Roman in ein paar Jahren auf manchen beym Wiederlesen machen wird. Wenn ungeachtet alles Tadelns und Geschreys das was das Büchlein enthält, als ein unveränderliches Factum vor der Einbildungskraft steht, wenn man sieht, daß man mit allem Willen und Widerwillen daran doch nichts ändert; so läßt man sich in der Fabel zuletzt auch so ein apprehensives Wunderkind gefallen, wie man sich in der Geschichte nach einigen Jahren die Hinrichtung eines alten Königs und die Krönung eines neuen Kaisers gefallen läßt. Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene«. Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman II, 8. WA I, 20, S. 300; vgl. ebenda II, 11. WA I, 20, S. 341: »[…] und was noch mehr in Verwunderung setzte, war jene doppelte Ähnlichkeit die sich immer mehr entwickelte. Den Gesichtszügen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr dem Hauptmann, die Augen ließen sich immer weniger von Ottiliens Augen unterscheiden«. Friedrich Heinrich Jacobi an Friedrich Köppen, 12. Januar 1810. In: Härtl, Nr. 305, S. 112f. Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: Gesammelte Schriften, Band I, 1, hrsg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974,
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Die rätselhafte »zwiefache Aehnlichkeit« des Kindes korrespondiert zudem einer der merkwürdigsten Ehebruchsdarstellungen der Weltliteratur: einem »doppelte[n] Ehebruch durch Phantasie, der den Knoten des Stücks ausmacht«:17 Während des Aktes der Zeugung ist die Einbildungskraft Charlottes, so lässt der Erzähler wissen, allein auf den Hauptmann, die Eduards ausschließlich auf Ottilie gerichtet: In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durch einander. Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben.18
Eine Quelle der Irritation bis heute, wie die Auslegungsgeschichte zeigt. Die Faszinationsgeschichte der Wahlverwandtschaften scheint – bei allen geschichtlichen Differenzen in der Rezeptionshaltung der Leser und der Ausbildung der Verstehenshorizonte – nach wie vor zugleich eine Geschichte des Erschreckens. Irritationen in Anbetracht des Erzählten wie der Erzählweise führen aber ins Zentrum der Probleme, die der Roman vor Augen stellt. Betroffenheit bei den zeitgenössischen Lesern erzeugt nicht nur, dass im Roman, wie Jacobi glaubt, »keine Figur« erscheint, an der man »ein wahres Wohlgefallen haben könnte«.19 Haupt- wie Nebenfiguren scheitern in diesem Roman auf schmerzliche Weise. Drei Menschen kommen zu Tode, ohne dass dramaturgisch damit, wie es scheint, die Intention, ein kathartisches Gefühl zu erzeugen, verbunden wäre.20 Wilhelm von Humboldt, in der genauen Wahrnehmung und Beschreibung von Kunstwerken versiert, schreibt kurz nach Erscheinen des Romans, es sei eine Tendenz im Ganzen, die zerreisst, ohne wieder durch Versetzung in’s Unendliche zu beruhigen. Die Charaktere entfernen sich von der Bahn gewöhnlicher Pflichten, und gehen doch nicht recht ins Idealische über.21
Achim von Arnim drückt die Bestürzung aus, in die ihn und auch seinen Freund Clemens Brentano die Lektüre versetzt hat:
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S. 123–201, hier S. 129; Benjamin will methodisch nicht an dem »Sinn des Dichters«, sondern an dem »entschiedeneren seines Werks« anknüpfen (ebenda, S. 140). Friedrich Heinrich Jacobi an Friedrich Köppen, 12. Januar 1810. In: Härtl, Nr. 305, S. 113; vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 13. WA I, 20, S. 358. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 11. WA I, 20, S. 131; Hervorhebung H.H. Friedrich Heinrich Jacobi an Friedrich Köppen, 12. Januar 1810. In: Härtl, Nr. 305, S. 113. Mit Blick auf Ottilie protestiert Bettine von Arnim gegen die tödliche Entsagung (Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. In: Werke und Briefe, Band 2. Hrsg. von Walter Schmitz / Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt am Main 1992, S. 317): »Wir tun unrecht, zu glauben, dazu müsse der Leib abgelegt werden, um in den Himmel zu kommen«. Wilhelm von Humboldt an Friedrich Gottlieb Welcker, 23. Dezember 1809. In: Härtl, Nr. 281, S. 88.
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Ich will von etwas andern Schmerzlichen reden, um mir die Grillen zu verjagen, von Göthes Wahlverwandtschaften. Clemens kam ganz tückisch verstört davon, wie Göthe sich hinsetzen könne, den Leuten so viel Kummer zu bereiten.22
Die Lebensläufe und Geschicke, die in diesem Werk erzählt werden, sind so bitter, dass schon die ersten Rezensenten von einem »tragischen Roman« gesprochen haben. »[D]aß es zu bösen Häusern hinausgehn muß, sieht man ja gleich im Anfang«, soll Goethe im Haus des Verlegers Frommann in Jena über seinen Roman gesagt haben.23 Durch die »Dazwischenkunft eines Dritten«24 und einer Vierten löst sich nicht nur die Zweierverbindung einer Ehe auf. Im Quartett gefährlicher, ja wahnhafter, weil die Wirklichkeit ausblendender Neigungen und Glücksansprüche kommt es zur tödlichen Katastrophe. Der Schluss des Romans lässt das eine Liebespaar, Charlotte und den Hauptmann, wie »Schatten in der Vorhölle« zurück, während die beiden anderen, Ottilie und Eduard, »vereinsamt dahinsterben«25 und erst im Liebestod wieder miteinander vereint scheinen. Eine, wenn man so will, transzendente Lösung der vielen ungelösten Konflikte rückt in den Schlusssätzen des Werkes in den Blick: So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.26
Die Deutung dieses Bildes polarisiert bis heute. »Er sei zu Kreuze gekrochen, haben die einen Interpreten dem 60jährigen Autor vorgeworfen, er habe Christlich-Nazarenisches nur parodiert, die anderen«.27 Nicht erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machen Interpreten wie David Friedrich Strauß die Differenz von Autor und Erzähler geltend und vermuten, dass ein solches ästhetisches Hindeuten auf ein dereinstiges gemeinsames Wiedererwachen der Verstorbenen »nur ein Reflex ohne Rückhalt in den Überzeugungen des Dichters oder des ihm ebenbürtigen Lesers« sei.28 Goethe hat in Selbstzeugnissen zum Roman das Leidvolle dieses Werkes nicht verschwiegen. Der Roman drücke »das schmerzliche Gefühl der Entbeh22 23
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Achim von Arnim an Bettine Brentano, 5. November 1809. In: Härtl, Nr. 223, S. 70. Friedrich Johannes Frommann, Das Frommannsche Haus und seine Freunde. Jena 21872, S. 111, Anm.; zitiert von Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 16), S. 135. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. WA I, 20, S. 12. So Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 16) S. 188; vgl. auch den Brief von Johann Friedrich Rochlitz an Goethe, 5. November 1809: »In den letzten tragischen Situationen ist etwas so Ungeheures, und doch so Nahes, daß es Einen hinreißt, wie Lears Geschick. […] – Ist es befriedigend, daß Charlotte und der Major am Ende stillschweigend aufgegeben werden?« In: Härtl, Nr. 222, S. 68–70, hier S. 69. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 18. WA I, 20, S. 416. Wolfgang Frühwald, Der ›romantische‹ Goethe. Esoterik und Mystik in dem Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹ und im ›West-östlichen Divan‹. In: Hans-Werner Eroms / Hartmut Laufhütte (Hrsg.), Vielfalt der Perspektiven. Wissenschaft und Kunst in der Auseinandersetzung mit Goethes Werk. Dokumentation des Goethe-Symposions an der Universität Passau vom 17. bis 19.11.1982. Passau 1984, S. 165–177, hier S. 168. David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß (1872). In: Karl Robert Mandelkow (Hrsg.), Goethe im Urteil seiner Kritiker, Teil 3. München 1979, S. 9.
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rung« aus, heißt es in den Ausführungen zu dem Jahr 1807.29 In den Tag- und Jahres-Heften 1809 notiert der Autor, niemand verkenne »an diesem Roman eine tief leidenschaftliche Wunde, die im Heilen sich zu schließen scheut, ein Herz das zu genesen fürchtet«.30 Ludwig Tieck hat die Wahlverwandtschaften einmal ironisch und tiefsinnig zugleich »Qualverwandtschaften« genannt.31 Dabei beginnt alles so scheinbar heiter, geradezu idyllisch in der kleinen Welt der Wahlverwandten, die ganz auf die Veredlung der Natur, auf die Perfektionierung und Ästhetisierung des Lebens abgestellt scheint. Die Denkungsart, die das Handeln der Eheleute anleitet, ist eng, ja egozentrisch: »bloß damit wir uns selbst leben, bloß damit wir das früh so sehnlich gewünschte, endlich spät erlangte Glück ungestört genießen möchten«.32 Eduard vermeint gar, sein »ganzes Dasein gleichsam abschließen«33 zu können. Langsam, zuerst kaum bemerkt, stellt sich im Fluss des Erzählens eine Atmosphäre der »Bangigkeit«34 ein und legt sich über das Ganze. Noch ehe die Bedrohung wirklich empfunden ist, schreitet bereits, unerbittlich und unaufhaltsam, die Logik der Selbstzerstörungsprozesse voran und führt die Katastrophe herbei. Alles gerät aus dem Lot. Es ist in der Tat »das Formgesetz […] der entgleitenden Balance«35, das diesen Roman kennzeichnet. Für die Analyse der Übertragungsprozesse, mit der die Zeitgenossen auf den Roman reagiert haben, ist nicht unwesentlich, dass das Werk selbst konfrontativ angelegt scheint in seiner Kritik des realitätsfernen gesellschaftlichen Bewusstseins wie in seiner Kritik des gegenwartsflüchtigen Kunstbetriebs: »Der Zeit« gelte »der eigentliche Angriff der Wahlverwandtschaften«,36 hat Paul Stöcklein herausgestellt. Der Vollzug der Katastrophe hebt jenes wahnhafte soziale Denken, »in einen frühern beschränktern Zustand könne man zurückkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder in’s Enge bringen«,37 nur umso schärfer hervor. Goethe selbst hat – mit dem Abstand von 18 Jahren – die zeitgenössische Aufnahme seines Werkes, eher resigniert, so beschrieben:
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Vgl. Goethe, Tag- und Jahres-Hefte, 1807. WA I, 36, S. 28. Tag- und Jahres-Hefte, 1809. WA I, 36, S. 43. Hans Gerhard Gräf, Goethe über seine Dichtungen. Versuch einer Sammlung aller Äußerungen des Dichters über seine poetischen Werke. Erster Theil: Die epischen Dichtungen, Band 1. Frankfurt am Main 1901, S. 448, Anm. 2; vgl. Tagebuchnotiz Riemers vom 11. August 1810 [nach Kolportage von Bettine Brentano]. In: Härtl, Nr. 394, S. 166. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. WA I, 20, S. 10. Ebenda, I, 2. WA I, 20, S. 15. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 21. Juli 1827. MA 19, S. 238f.: »Diese Furcht nun kann doppelter Art sein, sie kann bestehen in Angst, oder sie kann auch bestehen in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie z.B. in den ›Wahlverwandtschaften‹«. Werner Schwan, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Das nicht erreichte Soziale. München 1983, S. 39. Paul Stöcklein, Stil und Geist der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Ewald Rösch (Hrsg.), Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Darmstadt 1975, S. 215–235, hier S. 235. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 13. WA I, 20, S. 144f.
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Die Kunden erlauben wohl dem Schneider hier oder dort ein gewisses Tuch auszunehmen, den Rock aber wollen sie auf den Leib gepaßt haben, und sie beschweren sich höchlich, wenn er ihnen zu eng oder zu weit ist; am besten befinden sie sich in den polnischen Schlafröcken des Tags und der Stunden, worin sie ihrer vollkommensten Bequemlichkeit pflegen können; da sie, wie du dich wohl erinnern wirst, sich gegen meine Wahlverwandtschaften wie gegen das Kleid des Nessus gebärdet haben.38
Zu provozieren scheint das Kunstwerk bis heute. Dass die Probleme seiner Interpretation im Laufe der Wirkungsgeschichte einvernehmlich gelöst werden, war nicht zu erwarten, der ›Konflikt der Interpretationen‹ vielmehr vorherzusehen, der auch im vorliegenden Band weitergeführt wird. Mit dem Theorem von der »unendlichen Auslegung«39 hat schon die zeitgenössische Kunsttheorie im ›Ereignisraum‹ Weimar-Jena ein neues Selbstverständnis für die Reflexion und Erklärung von Kunstwerken ausgebildet, das zugleich ein neues Verständnis der prinzipiell unabschließbaren Deutungsgeschichte ermöglicht. Doch 200 Jahre nach Erscheinen der Wahlverwandtschaften beunruhigt, dass selbst innerhalb der einzelnen Interpretengenerationen viele der Grundfragen nicht hinreichend aufgeklärt scheinen: Um welche Art von Roman handelt es sich überhaupt (um einen ›Liebes-‹, einen ›Ehe-‹, einen ›Kunst-‹, einen ›Gesellschafts-‹, einen ›Geschlechter-‹,40 einen ›Gegenwarts-‹ oder ›Zeitroman‹), wie ist die »durchgreifende Idee« zu bestimmen, nach der das Werk, dem Autor zufolge, gestaltet ist,41 und wie lassen sich die zentralen Problemgehalte beschreiben, die es zum Thema der künstlerischen Auseinandersetzung macht? What is particularly striking about Die Wahlverwandtschaften, however, is the lack of agreement within almost every age about even the novel’s most basic elements. Goethe’s contemporaries argued over whether it was a moral or immoral book and whether the style was romantic or classic. Such major interpretive disagreements were not only characteristic of Goethe’s time, but have marked nearly every generation of scholarship. Because the novel has never experienced a consistent interpretative reading on even its main points, the study of its reception illustrates perhaps
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Goethe an Zelter, 21. November 1827. WA IV, 43, S. 179. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transscendentalen Idealismus (1800). Sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart, Augsburg 1856–1861, Abteilung I, 3, S. 620: »So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege«. Vgl. Gottfried Gabriel, Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte. In: Ders., Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991, S. 147–161. Die Bedeutung der Darstellung der Geschlechterbeziehungen im Roman für den Aufweis der Konfliktlagen der Gesellschaft untersucht Nicole Grochowina in ihrem Beitrag. Vgl. Goethes Gespräch mit Eckermann, 6. Mai 1827. In: Härtl, Nr. 539, S. 327: »Das einzige Produkt von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine Wahlverwandtschaften«. Zur Forschungsgeschichte der Rekonstruktionsversuche der »Idee« vgl. auch Jeremy Adler, »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Chemie seiner Zeit. München 1987, S. 17–31.
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Helmut Hühn better than any other work by Goethe the shifts in the cultural and intellectual atmosphere over the past two hundred years.42
II. Morphologie sozialer Konflikte In einem Brief an Carl Friedrich Zelter vom 24. Juli 1809 fordert der Dichter ausdrücklich dazu auf, »die eigentlich intentionirte Gestalt«,43 die allen Einzelheiten zugrunde liegt, nicht aus dem Blick zu verlieren. Ein Gespräch mit Goethe am Vormittag seines 59. Geburtstages, nach den ersten Monaten der Arbeit an dem Roman, hält der Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer so fest: Mit ihm über den neueren Roman, besonders den seinigen [gesprochen]. Er äußerte: Seine Idee bei dem neuen Roman Die Wahlverwandtschaften sei: soziale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen.44
Goethe wählt die Darstellungsform symbolischer Verdichtung. Versucht wird eine symbolisch erzeugte Objektivierung der sozialen Verhältnisse und Konflikte, über deren Reflexion die Leser auf sich selbst zurückkommen können. Die Kunst bildet die unmittelbare Wirklichkeit nicht ab. Sie will Distanz zu ihr schaffen und sie gerade in diesem Gegenüberstehen sichtbar machen, indem sie einen eigenen Anschauungs- und Denkraum bildet.45 Dieser Denkraum soll in neuer Weise wirklichkeitstauglich machen. Bewusst wird nur ein ›Ausschnitt‹ von Welt in den Blick gerückt, ein anonymisierter Schauplatz bis in die Details der Topographie und der Landschafts(um)gestaltung hinein als »symbolisches Local«46 gestaltet, werden eine kleine Zahl von komplementären Haupt- und Nebenfiguren kunstvoll angeordnet47 und wird eine überschaubare Handlung mit zwei parallelen Strängen in ihrer inneren Konsequenz vorgeführt. Mittels symbolischer Verdichtung soll die »durchgreifende Idee«48 Gestalt gewinnen. Symbolische Verdichtung verlangt Beschränkung, Reduktion auf das Wesentliche und radikale Engführung. Zugleich beansprucht sie in solcher Konzen-
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Astrida Orle Tantillo, Goethe’s ›Elective Affinities‹ and the Critics. Rochester 2001, S. XIIIf. Brief von Goethe an Carl Friedrich Zelter, 26. August 1809. In: Härtl, Nr. 124, S. 48. Friedrich Wilhelm Riemer, Tagebuch. Karlsbad, 28. August 1808. In: Härtl, Nr. 32, S. 33. Vgl. Ernst Cassirer, Geist und Leben. Leipzig 1993, S. 51. Vgl. Goethe, Paralipomena, Vorarbeiten und Bruchstücke. WA I, 47, S. 290; Stefan Blechschmidt, Der Schauplatz von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß (Hrsg.), »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 28–35. Vgl. Johann Friedrich Rochlitz an Goethe, 5. November 1809. In: Härtl, Nr. 222, S. 68: »Bewundernswerth und äußerst kunstreich finde ich dabey, daß die Personen nur in Gruppen einander entgegengestellt sind; daß nun die Theile jeder Gruppe, wie billig, einander nicht wenig verwandt, und doch so […] consequent geschieden sind, ja auch in dieser Verschiedenheit wieder so geistreich unter sich gruppirt erscheinen«. Vgl. Goethes Gespräch mit Eckermann, 6. Mai 1827. In: Härtl, Nr. 539, S. 327.
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tration über sich hinaus zu verweisen wie die »symbolischen Gegenstände«, die als besondere zugleich »eminente Fälle« sind, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern.49
Selbst das eminente, das herausragende Kunstwerk kann nach Goethe nur eine »gewisse«, d.h. nur eine eingeschränkte Totalität beanspruchen. Auch die Kunst kann das Ganze einer immer nur partiell erfahrbaren Welt nur im objektivierten Besonderen aufscheinen lassen. Der Roman versucht die sozialen Verhältnisse und Konflikte in den Blick zu rücken, sie durch Symbolisierung kenntlich und fassbar zu machen. Von »Verhältnissen« spricht der Dichter hier in einem ganz weiten, von »sozial« in einem primär zwischenmenschlich-gesellschaftlichen Sinn:50 Das Lebensgefüge und die Dynamik des Sozialen sollen mittels einer ästhetischen Fiktion erschlossen werden. Die Bandbreite des literarisch Vergegenwärtigten reicht von den Problemen in dem Selbstverhältnis der einzelnen Figuren51 zu dem ›Konfliktuösen‹ in den dargestellten Ehe-, Eltern-, Freundschafts-, Liebes-, Geschlechter- und Generationenverhältnissen. An ihnen, also in indirekter Weise, soll aufgewiesen werden, in welchem Zustand sich die Gesellschaft befindet und durch welche Konflikte sie in der geschichtlichen Gegenwart gekennzeichnet ist. Die literarische Morphologie sozialer Konflikte zentriert sich um den Widerstreit von Wunsch und Realitätserfahrung, von Leidenschaft und gesellschaftlicher Konvention, von Moral und Vorurteilsbildung. Goethe studiert die individuellen wie gesellschaftlichen Konflikte dort, wo sie sich ausdrücken. Er studiert sie wie ein Naturforscher gestaltvergleichend, morphologisch. Die morphologische Betrachtungsweise »[r]uht auf der Überzeugung daß alles was sey sich auch andeuten und zeigen müsse«.52 Das ist der Grundsatz der Goethe’schen Naturforschung wie seiner Dichtung und Darstellungstheorie. Von der Exposition des Ganzen im ersten Kapitel des ersten Buches an vergegenwärtigt der Roman die Konflikte über ihre vielfältigen Ausdrucksformen. Auch die seelischen Konflikte, die die Hauptfiguren erleiden, manifestieren sich von Anfang an im Äußeren, in allem, was sie tun und lassen, auch wenn dies erst beim mehrfachen Lesen des Romans deutlich wird. Das Eheverhältnis ist entfremdet schon vor der »Dazwischenkunft des Dritten«, die von Charlotte geschaffene neue »Mooshütte« scheint bereits beim ersten Besuch Eduards »etwas zu eng«.53
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Vgl. den Brief von Goethe an Schiller vom 16./17. August 1797. WA IV, 12, S. 244. Vgl. Manfred Engel, Der Roman der Goethezeit, Band 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993, S. 319, Anm. 176. Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 4: »An allen Naturwesen, die wir gewahr werden, bemerken wir zuerst, daß sie einen Bezug auf sich selbst haben«. WA I, 20, S. 48. Paralipomena [1796]. WA II, 6, S. 446. Die Wahlverwandtschaften I, 1. WA I, 20, S. 5.
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Die sozialen Konflikte, die Goethe in den Blick nimmt, drücken sich in den Problemen der individuellen Figuren und ihrer Lebensläufe aus. Das Verfahren der symbolischen Repräsentation in den Wahlverwandtschaften verdankt sich der Einsicht, dass die Umbrüche der Realgeschichte sich schon in den seelischen Irritationen, Verwirrungen und Katastrophen der individuellen ›Fallgeschichten‹ ankündigen. Die Verhältnisse der Umbruchszeit, die Goethe als eine beschreibt, die durch Gegenwartsflucht das problemlösende Gestalten verfehlt und versäumt, dringen bis in die Seele der literarischen Handlungsträger ein, bis in das scheinbar Privateste. Der Roman führt anhand der konkreten Lebensläufe der literarischen Figuren und des an ihnen sichtbar gemachten Scheiterns54 wie anhand des Symptomatischen der zeitgenössischen Moden und wissenschaftlichen Debatten in die Probleme von Gesellschaft und Geschichte ein: »[E]s ist der großartige Blick auf diese verwirrte Zeit«, schreibt der Rechtshistoriker Friedrich Karl von Savigny und gehört damit zu den Lesern, die die zeitgeschichtliche und -kritische Leistung des Romans emphatisch herausstellen.55 Indem das Kunstwerk einzelne prägnante Erfahrungen objektiviert, zielt es auf die Möglichkeit exemplarischer Verallgemeinerung. Die geschilderte Auflösung einer individuellen Ehe weist über sich hinaus auf kollektive Verhältnisse: Sie erscheint symptomatisch für die Auflösung zwischenmenschlichgesellschaftlicher Bindungen, die »in’s lose Weite hinausgetrieben«56 werden. An der Auflösung einer Ehe lässt sich das ganze Geflecht sozialer Verhältnisse und Konflikte vorführen, ist doch die Ehe als Institution ein zentraler gesellschaftlicher Vermittlungsort von Natur und Kultur, von Natur und Moral.57 Der Dichter spricht im Roman ein Besonderes aus, so kann man die Pointe der symbolischen Darstellung charakterisieren, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder,
wie Goethe nicht ohne Humor hinzufügt, »erst spät«.58
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Vgl. auch Inge Stephan, »Schatten, die einander gegenüberstehen«. Das Scheitern familialer Genealogien in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹, hrsg. von Gisela Greve. Tübingen 1999, S. 42–70. Friedrich Karl von Savigny an Friedrich Creuzer, 25. Dezember 1809. In: Härtl, Nr. 284, S. 89; Achim von Arnim an Bettine Brentano, 5. November 1809. In: Härtl, Nr. 223, S. 71; vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ [1809/10]. In: Härtl, Nr. 421, S. 199–202, hier S. 201; vgl. Heinrich Voß an Charlotte von Schiller, 12. November 1809. In: Härtl, Nr. 230, S. 73. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 4. WA I, 20, S. 54. Zur Analyse des Erzähldetails der Kopfschmerzen als Indikator für den Konflikt von Natur und Kultur vgl. den Beitrag von Benigna Carolin Kasztner in diesem Band. Goethe, Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, hrsg. von Harald Fricke, Nr. 6.17.1. FA I 13, S. 368.
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III. Versuchsanordnungen Um die Gestaltenlehre sozialer Konflikte zu erzählen, bedient sich der Dichter in den Wahlverwandtschaften der kühnen Rückübertragung eines »Gleichnisses« aus der Naturforschung. Die »fortgesetzten physikalischen Arbeiten« haben, wie es in der Selbstanzeige des Werkes heißt, den »seltsamen Titel« des Romans veranlasst.59 Goethe hatte in den gemeinsam mit dem Physiker Thomas Seebeck gehaltenen Physikalischen Vorträgen,60 die der Konzeption des Romans unmittelbar vorangehen, die Begriffe der Polarität und der Steigerung entwickelt. Diese Vorträge gehen von den Erscheinungsformen des Magnetismus aus, den Goethe als ein elementares Phänomen begreift.61 Der Magnet vermittelt die Anschauung der Polarität, von + und –, von Anziehen und Abstoßen; die Anschauung der Polarität wird, das zeigen die Notate, »auf die übrigen Gebiete übertragen: auf die Elektrizität, die Chemie, die Optik«.62 Das von Humphry Davy entdeckte Phänomen der chemischen Elektrizität und der Elektrolyse beschäftigt den Naturforscher Goethe in jenen Tagen bis in den Nachvollzug der Versuchsanordnungen hinein.63 Inmitten der erhaltenen Stichworte zu den Physikalischen Vorträgen heißt es am 6. April 1808: »Romanen Motive«.64 Goethe hat also wenige Tage vor den ersten Schematisierungen zu dem geplanten Roman am 11. April nicht nur über den Phänomenbereich der natürlichen Anziehungs- und Abstoßungskräfte, sondern auch über Romanmotive nachgedacht, die sich daraus ergeben könnten. Die titelgebende Vorstellung von der »Wahlverwandtschaft«, der »attractio electiva«, hatte Goethe schon 1796 – kritisch – als eine anthropomorphe Rede- und Denkweise reflektiert. Der Begriff bezeichnet die Reaktionsweise chemischer Stoffe, die eine alte Verbindung aufgeben und aufgrund von ›näherer Verwandtschaft‹ die Verbindung mit einem neuen Stoff eingehen. Goethe meldet bereits 1796 Vorbehalte gegen die vermenschlichende Denkart an, die den chemischen Stoffen »die Ehre einer Wahl bei solchen Verwandtschaften« zuschreibt, wo oft nur »äußere Determinationen« Trennungen und Verbindungen zustande bringen.65 Im Roman wird die problematische Perspektive um-
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Vgl. die Selbstanzeige (Anm. 9). In: Härtl, Nr. 138, S. 51. Physikalische Vorlesungen 1808. MA 9, S. 919–922 (mit dem Kommentar S. 1404f.). Sprüche. HA 1, S. 306: »›Magnetes Geheimnis, erkläre mir das!‹ Kein größer Geheimnis als Lieb’ und Haß«. Vgl. Uwe Pörksen, Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25 (1981) S. 285–315, hier S. 295. Vgl. den Brief von Goethe an Friederike Sophie Caroline Augusta Wolzogen, 24. Februar 1808. WA IV, 20, S. 18f. Vgl. Physikalische Vorlesungen 1808 (Anm. 60), S. 921; Peter von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten. Der Absolutismus der Liebe in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Heinrich Meier / Gerhard Neumann (Hrsg.), Über die Liebe. Ein Symposium. München, Zürich 2001, S. 263–304, hier S. 273ff. Vorträge, über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie. Zur Morphologie. Ersten Bandes, drittes Heft. LA I 9, S. 202f.; vgl. zu der sprachkritischen Haltung, die Goethe
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gekehrt, insofern aus der »chemischen Gleichnißrede« eine Anwendung für den »sittlichen Fall« erfolgt, d.h. eine Rückübertragung – aus dem Bereich der Chemie in den der sozialen und sittlichen Verhältnisse – vorgenommen wird.66 Die Kühnheit des Gleichnisses wird in dieser Rückübertragung noch gesteigert. Kühn war es bereits, das Moment der electio, der Wahl, im Naturkontext anzusetzen, d.h. die naturgegebene Verwandtschaft chemischer Stoffe nach Art der freien Wahl von Personen zu fassen; kühner wird es, das Moment der »Verwandtschaft«, der attractio, versuchsweise auf soziale Verhältnisse anzuwenden. Die Figur der »doppelten Wahlverwandtschaft«, der »attractio electiva duplex«, wird als Modell benutzt, simultane Scheidungs- wie Vereinigungsprozesse zwischen individuellen Charakteren zu erzählen. Zugleich soll auf diese Weise anhand einer Fiktion geprüft werden, inwiefern die Naturlehre zum Instrument einer Erkundung des Zwischenmenschlich-Gesellschaftlichen taugt. Lässt sich die menschliche Welt, die innere, die soziale wie die geschichtlichpolitische, unter der Gesetzlichkeit der Natur fassen? Lassen sich Modelle sozialer Prozesse in der Naturforschung entdecken und so naturgesetzliche Elementarprozesse und physique sociale miteinander kurzschließen? 67 Das hohe Risiko des vergleichenden »Witzes«, das die literarische Versuchsanordnung ermöglicht, wird der Prüfung durch die behutsame »Urteilskraft« der Leser unterstellt.68 Das soziale Experiment, das der Roman mit Blick auf die Leser verfolgt, zielt auf die Frage, inwiefern sich Personen in der »einen Natur«69 erkennen und deren Gesetze in sich wiederentdecken können, und zwar so, dass die Naturbasis menschlichen Lebens anerkannt wird, aber zugleich keine unzulässige ›sphärenvermengende‹ Naturalisierung desselben geschieht.70 Der Roman ist ein Wagestück. Der Dichter exponiert den kühnen Versuch einer Naturlehre der sozialen Verhältnisse und ihrer Konflikte. Die literarische Experimentalanordnung ist eine, die in ihrer bewussten Einbeziehung des
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in der Phase der Wahlverwandtschaften einnimmt, den Brief an Wilhelm von Humboldt vom 22.8.1806: »Die Formeln der Mathematik … der Astronomie, der Cosmologie, Geologie, Physik, Chemie, Naturgeschichte, der Sittlichkeit, Religion und Mystik werden alle in die Masse der metaphorischen Sprache eingeknetet, oft mit gutem und großem Sinne genutzt; aber das Ansehen bleibt immer barbarisch. … sehr üble Folge, daß man das Symbol, das eine Annäherung andeutet, statt der Sache setzt… und sich auf diesem Wege in Gleichnissen verliert« (zitiert nach: Pörksen [Anm. 62], S. 297, Anm. 41). Selbstanzeige (Anm. 9). In: Härtl, Nr. 138, S. 51; vgl. zur Interpretation der Selbstanzeige auch meinen Beitrag in diesem Band. Vgl. zu diesem Problem wie zur Modellierung der experimentalen Anordnung auch den Beitrag von Olaf Breidbach in diesem Band, der die Verbindung zur Experimentalforschung der Gefühle bei Marivaux herstellt; mit Blick auf die Romantiker: Andreas Göbel, Naturphilosophie und moderne Gesellschaft. Ein romantisches Kapitel aus der Vorgeschichte der Soziologie. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 5 (1995) 253–286. Vgl. Immanuel Kant, Anweisung zur Menschen- und Weltkenntniß, hrsg. von Friedrich Christian Starke. Leipzig 1831, ND Hildesheim u.a. 1976, S. 109: »So wie der Witz unser Denken dreust und waghaft macht, so macht die Urteilskraft verlegen und behutsam«. Vgl. Goethe, Selbstanzeige (Anm. 9). In: Härtl, Nr. 138, S. 51. Vgl. Pörksen, Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik (Anm. 62).
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Rezipienten über die Darstellung affektgeleiteter Figuren nach dem Selbstverständnis der Subjekte fragt. Es geht in diesem Experiment um eine Klärung der Erfahrungen anhand und mittels einer dichterischen Fiktion. Ich spitze zu: Wie können und wie wollen wir uns selbst verstehen: determiniert oder mit endlicher Freiheit? Wie weit reicht unsere Freiheit? Welche Handlungsspielräume besitzen wir? Die Klärung der Erfahrung über das Medium des literarischen Werkes soll sich in zwei Schritten vollziehen: Der Dichter spricht »breitere Verhältnisse« »darstellend aus«,71 die Leser, die in die Rolle der Beobachter rücken, können die dargestellten Phänomene und Phänomenzusammenhänge prüfen72 und auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen mit reflektierender Urteilskraft darauf antworten.73 Eine experimentale Ordnung zeigt sich auch in der Organisation des Erzählens selbst. Gehört es »zur Phänomenalität von Phänomenen«, dass sie niemals in einem einzigen Darstellungsraum sondern stets in einer ganzen Flucht hintereinander geschalteter, [sich] ineinander spiegelnder und zueinander in Spannung stehender Darstellungsräume zum Vorschein74
kommen, so erzeugt der Roman über der Ebene der erzählten Begebenheiten einen komplexen Zusammenhang dichterischer Verweisungen und Spiegelungen. Auch der Leser studiert die Textphänomene, deren Zusammenhang er selber herstellen muss.75 Wie der Naturforscher wird er herausgefordert, Details des Textgewebes und seiner Bedeutungsgebungen zu gewahren, Zusammenhänge zu sehen und herzustellen, Zwischenglieder im Geiste zu ergänzen.
IV. Symbolische Distanzierung und symbolische Erkundung des Wirklichen Wie lässt sich das Romanprojekt – mit dem Zeitenabstand von zweihundert Jahren – in der Perspektive gegenwärtiger Forschung verorten? Die Vergegenwärtigung der Einheit und der Totalität des Wirklichen ist ein Kernproblem von Kunst, Literatur, Wissenschaft und Philosophie um 1800. Die Totalität des Wirklichen stellt sich nach Goethe dar, aber sie entzieht sich zugleich, wie die Konzeption der Urphänomene zeigt, als ›unerforschliche‹ dem erkennenden
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Vgl. den Brief von Goethe an Carl Friedrich Zelter, 30. Oktober 1809. In: Härtl, Nr. 215, S. 66: »faßt man aber breitere Verhältnisse ins Auge, so mag man wohl noch manches darstellend aussprechen«. Vgl. Der Versuch als Vermittler von Object und Subject. WA II, 11, S. 21–37, hier 32. Vgl. den Brief von Goethe an Zelter, 1. Juni 1809. In: Härtl, Nr. 79, S. 41: der Roman sei »ein Mittel«, »mich mit meinen auswärtigen Freunden wieder einmal vollständig zu unterhalten. […] Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt«. Georg Picht, Der Begriff der Natur. Stuttgart 1989, S. 456f. Vgl. Joachim Schulte, Chor und Gesetz: zur »morphologischen Methode« bei Goethe und Wittgenstein. In: Ders., Chor und Gesetz: Wittgenstein im Kontext. Frankfurt am Main 1990, S. 11–42; vgl. zur Experimentalkultur der Zeit auch Sabine Schimma / Joseph Vogl (Hrsg.), Versuchsanordnungen 1800. Zürich 2009.
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Zugriff. Es scheint die Aufgabe der Kunst, im Besonderen darzustellen und aufscheinen zu lassen, was mit dem Anspruch intersubjektiver Verallgemeinerungsfähigkeit auftreten kann. In der Epoche der Wahlverwandtschaften lässt Goethe die Prämisse von der Einheit des Wirklichen in der Vielheit der Perspektiven nicht einfach fallen. Ein relativierender Perspektivismus der ›Vorstellungsarten‹ ist aber Thema und Prinzip der Erzählform des Romans, die der unhintergehbaren Pluralisierung von Weltwahrnehmung und Weltdeutung Ausdruck verleiht. Wie lässt sich literarisch eine Sicht auf die Welt im ganzen artikulieren, wenn die Individuen immer nur partiale Wahrnehmungen, Kognitionen und Deutungen von Welt vollziehen und wenn auch die wissenschaftlichen Modelle der Weltbeschreibung und -deutung zwar alle auf dieselbe Realität Bezug nehmen, aber widersprüchliche Strukturierungen und Ordnungen der Phänomenvielfalt entfalten, die, mindestens partiell, nicht ineinander übersetzt werden können? Die Wirklichkeitsdarstellung des Werkes kombiniert ganz unterschiedliche Arten von erzählter Welt in dem Interesse, die Formen der verschiedenen Wirklichkeitsbezüge sowie ihrer Rationalitäten morphologisch zu studieren und auf diese Weise Zusammenhänge des Wirklichen zu entdecken und aufzudecken. Der Roman evoziert die Bildlichkeit des griechischen Mythos genauso wie die eines christlichen Heiligenkultes und führt sie mit alten und zeitgenössischen Denkformen der Wissenschaft zusammen. Er zeigt im Erzählen die Präsenz und Deutungsmacht mythischer Weltbilder genauso wie die Versuche emanzipatorischer Befreiung von ihnen. Die alten Denkmuster der Alchimie überlagern sich im Text mit neuen und sogar mit Paradigmenwechsel herbeiführenden ›brandneuen‹ Denkformen der zeitgenössischen Naturforschung wie der Affinitätstheorie von Claude-Louis Berthollet.76 Auch das historisch Verworfene, das Fragliche wie das Unerkannte und nicht Gewusste machen einen genuinen Gegenstand des literarischen Erkenntnisinteresses aus. Die Bedeutung, die der zeitgenössisch intensiv diskutierte »thierische Magnetismus«77 und die Gesamtanlage des Romans, die Gestaltung der Hauptfigur Ottilie und für die Provokation der doppelten Ebenbildlichkeit (mit den verkehrten Eltern) besitzt, ist kaum zu unterschätzen. In den Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft von 1807 konnte Goethe lesen: Die Einbildungskraft der Zeugenden wirke im Zeugungsakt; sie sei es, die den Fötus gleichsam ›formiere‹.78 Im Fal-
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Vgl. Christoph Hoffmann, »Zeitalter der Revolutionen«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 417–450. Vgl. Michael Holtermann, »Thierischer Magnetismus« in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 164–197; Jürgen Barkhoff, Tag- und Nachtseiten des animalischen Magnetismus. Zur Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe. In: Peter Matussek (Hrsg.), Goethe und die Verzeitlichung der Natur. München 1998, S. 75–100. Karl Eberhard Schelling, Ideen und Erfahrungen über den thierischen Magnetismus. In: Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft, Band 2, hrsg. von Adalbert Friedrich Marcus / Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Tübingen 1807, S. 3–29, hier S. 15f.; vgl. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkennt-
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le des kleinen Otto rekurriert die Romanerzählung aber nicht nur auf zeitgenössische Theorien somatisierender Einbildungskraft, sondern entwickelt zugleich an diesem Gegenstand die Psychodynamik der Projektion. So wird ein zentrales Element des Gedichteten, die Erscheinung des kleinen Otto, gleichzeitig in zwei unterschiedliche Ordnungs- wie Erzählmuster einbezogen. Die Literarisierung des Mesmerismus führt in den Wahlverwandtschaften dazu, dass das »anthropologische Phänomen des Unbewussten« so grundsätzlich diskutiert wird, wie »es in der deutschen Literatur vorher wohl noch nie geschehen ist«.79 In der literarischen Ausbalancierung differenter Weltansichten liegt ein heiteres Spiel der Erzählform,80 aber auch ein ernsthaftes Studium der unterschiedlichen Gestalten symbolischer Welterschließung. Der Erzähler des Romans schaut gleichsam durch die unterschiedlichen Brillen von Mythos, Religion, Moral, Naturlehre, Wissenschaften und Kunst, um zu erkunden, was auf diese Weise an Wirklichkeit sichtbar gemacht werden kann und was nicht. Die Wirklichkeit wird mit dem Instrumentarium der Vorstellungsarten geordnet, aber sie bleibt als ganze unverfügbar. Die Wirklichkeitsdarstellung des Romans hebt darauf ab, dass die Realität als ganze sich den Ordnungen des Denkens, des Glaubens, des Handelns und der Kunst – und damit den Ordnungsversuchen der Subjekte – nicht fügt. Das Kunstwerk reflektiert die unterschiedliche Weltwahrnehmung und -deutung im Horizont einer unverfügbaren Wirklichkeit, macht diese selbst zum künstlerischen Thema. Dies bestimmt das Ganze seiner dichterischen Darstellung. Ergreift der Leser die ihm angebotene Rolle eines Beobachters der Versuchsanordnung, so stellt sich ihm schon mit Blick auf die literarischen Figuren eine Reihe zentraler Fragen: Wie nehmen die Protagonisten die »Gegenwart des Wirklichen«81 wahr, und wie deuten sie diese? Welche Aspekte der Wirklichkeit nehmen sie wahr, und welche drängen sie an den Rand? Welche verallgemeinernden Deutungen der Wirklichkeit im Ganzen geben sie in welchen spezifischen Situationen? Welche Überzeugungen vertreten sie im Verlauf des Geschehens? Auf welchen stillschweigenden und latenten Voraussetzungen beruhen ihre Selbst- und Weltdeutungen, auf welchen emotionalen Bedürfnissen82 und Motiven? Es ist die literarische Darstellung, die reflektierbar macht, welche Leerstellen und blinden Flecken sich in den Prozessen der Wahrnehmung und Deutung
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niß und Menschenliebe. Vierter Versuch. Leipzig, Winterthur 1778, S. 69; Friedrich H. Hufeland, Ueber Sympathie. Weimar 1811, S. 118. von Matt, Versuch (Anm. 64), S. 270; vgl. zur psychoanalytischen Erschließung der Romanprobleme den Beitrag von Hermann Beland in diesem Band. Zum Spiel mit Namen, Buchstaben und Zahlen vgl. Heinz Schlaffer, Namen und Buchstaben in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Norbert W. Bolz (Hrsg.), Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 4), S. 211–229; Jochen Hörisch, Der Takt der Neuzeit. Die Schwellenjahre der Geschichte. Stuttgart 2009, S. 86–89. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 5. WA I, 20, S. 253. Vgl. ebenda, II, 18. WA I, 20, S. 413: »Jedes Bedürfniß dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nöthigt zum Glauben«.
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zeigen. Die Erzählkunst des Romans vergegenwärtigt, welche Wirklichkeitsverhältnisse die Haupt- und Nebenfiguren eingehen, was sie sehen und was sie nicht sehen wollen. Der Urteilskraft der Leser wird es anheim gestellt, zu erkunden, in welchem Zusammenhang das erzählte Scheitern der Protagonisten mit den erzählten Wirklichkeitswahrnehmungen und -deutungen steht. Ein zentrales Problem, das der Roman in diesem Zusammenhang aufwirft, ist die Verbildlichung der Wirklichkeit. In Bildern wird die Welt erzeugt, die einsame wie die gemeinsame. Es sind besonders die Affekte, die die Bilder der Wirklichkeit produzieren. Aber auch die Vorurteile, die individuellen wie gesellschaftlichen, zeigen sich als besondere Quellen der Imagination. Durchleuchtet wird im Roman ein imaginäres ›Treibhaus‹ von Affekten und Vorurteilen,83 aus dem nur eine kommunikative Vernunftfreiheit herausführen könnte, die auch im anderen bei sich selbst wäre. Eine solche besitzt keiner der Protagonisten. In den erzählten Bildern des Romans treten nicht nur die Sehweise der Bildproduzenten, sondern auch deren Selbstbilder zutage. Die Darstellung hebt andererseits auf den Realitätsgehalt der Bilder ab. Kein einzelnes Bild kann das Ganze der unverfügbaren Wirklichkeit zeigen. Die Differenz und Diskrepanz von Bild und Wirklichkeit muss, das zeigt sich auch im kunst- und bildtheoretischen Diskurs des Romans, festgehalten werden gegen alle In-eins-Bildungen der Einbildungskraft.84 Sonst sind die Subjekte in ihren Bilderwelten gefangen und es droht die Gefahr, das Bild für die Sache selbst zu nehmen, d.h. Idolatrie. Gefangen sind die Subjekte, wenn ihr Wirklichkeitsverhältnis projektiv ist, wenn eigene Vorstellungen, Wünsche und Gefühle unbewusst in die Außenwelt hineinverlegt werden.85 Die selbstproduzierten Bilder können sich in einer Weise verselbständigen und verfestigen, dass die lebendige Betrachtung der Wirklichkeit und damit die Korrektur der falschen Bilder unmöglich wird. Man kann die Wahlverwandtschaften als eine umfassende Kritik an der »›Eideologisierung‹, der verbildlichten Festschreibung der Wirklichkeit«,86 lesen.
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Vgl. zu diesem zentralen Problemkomplex des Romans den Beitrag von Birgit Sandkaulen in diesem Band. Vgl. zu den zeitgenössischen philosophischen Debatten Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798, 21800) § 28. Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Band 7. Hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften u.a. Berlin 1907, S. 167: »Die Einbildungskraft, so fern sie auch unwillkürlich Einbildungen hervorbringt, heißt Phantasie«; Schelling, Philosophie der Kunst [1802/03], § 22. In: Sämmtliche Schriften (Anm. 39), I, 5, S. 386: »Das treffliche deutsche Wort Einbildungskraft bedeutet eigentlich die Kraft der Ineinsbildung, auf welcher in der That alle Schöpfung beruht«. Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 4. WA I, 20, S. 47: »aber der Mensch ist ein wahrer Narciß er bespiegelt sich überall gern selbst; er legt sich als Folie der ganzen Welt unter«. So Fritz Breithaupt, Jenseits der Bilder. Goethes Politik der Wahrnehmung. Freiburg im Breisgau 2000, S. 9; die Kippbilder des Romans, die Reinhard Wegner in diesem Band untersucht, demonstrieren die Unmöglichkeit solcher Festschreibung der temporalen Wirklichkeit.
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Diese Kritik schließt auch die bedenkliche Kunstintention ein, die »Wirklichkeit als Bild«87 erscheinen zu lassen. Zu den Grunderfahrungen, die in den Roman eingehen, gehört die einer radikalen Verzeitlichung und Historisierung. Es ist die Realität der Zeit, die sich nicht nur »über die Menschen«, sondern selbst »über die Denkmäler […] ihr Recht nicht nehmen« lässt.88 Die »Geschichte des Menschen«,89 so führt es das Vorwort zur Farbenlehre aus, stelle den Menschen dar. Der Einbruch des historischen Bewusstseins in die Naturforschung90 führt zu der wissenschaftsgeschichtlichen Einsicht: die »Geschichte der Wissenschaft« sei »die Wissenschaft selbst«.91 Aber Goethe erkennt 1806 auch schmerzlich die Historizität der politischen wie der kulturellen Muster und Ordnungen. Er gewahrt in dieser Zeit die Geschichtlichkeit der Erkenntnis- und Orientierungsversuche in der Kunst, auch die seiner eigenen künstlerischen Versuche. Auch die symbolischen Objektivierungen von Kunst und Kultur lassen sich als historisch bedingte und durch die jeweilige Gegenwart konstituierte Ordnungen und Deutungen verstehen. Kulturelle Muster können ihre Evidenz verlieren, sie können sich ›verbrauchen‹: »Die Humaniora«, so notiert der Dichter etwa während der Entstehung der Wahlverwandtschaften, wirkten »seit fast einem Jahrhundert nicht mehr auf das Gemüt dessen, der sie treibt«.92 Im Medium der künstlerischen Darstellung, die sich durch ihren selbstreflexiven Charakter auszeichnet, soll eine Reflexion der einander widerstreitenden Ordnungen und Vorstellungsarten des Wirklichen möglich werden. In den Roman werden die gesellschaftlichen Erkenntnis- und Wissensformen nicht um ihrer selbst willen eingeflochten. Sie werden integriert, weil sie einen geschichtlichen Wandel indizieren und eine spezifische geschichtliche Erfahrung und Aneignung von Welt zeigen, die der Roman in den Horizont einer künstlerischen Morphologie der unterschiedlichen Wirklichkeitsverhältnisse rückt. Umgekehrt kündigt sich im literarischen Schwebezustand der Weltbilder, den Goethes Roman erzeugt, bereits jener »Weltbildzerfall«93 ein, der im frühen 19. Jahrhundert seinen Ursprung hat. Wenn die Zeit eine Realität ist,94 dann kann sie auch nicht stillgestellt werden, wie dies nicht nur an der sich etablierenden Kunstmode der »lebenden Bilder« im Roman vorgeführt wird; dann hilft weder das Ausweichen in Vergangenheit oder Zukunft noch die Flucht in den imaginären Schein einer
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Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 6. WA I, 20, S. 271. Ebenda, II 2. WA I, 20, S. 215. Vorwort zur Farbenlehre. MA 10, S. 13. Vgl. Elisabeth von Thadden, Erzählen als Naturverhältnis – ›Die Wahlverwandtschaften‹. Zum Problem der Darstellung von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines »Roman über das Weltall«. München 1993. Goethe, Vorwort zur Farbenlehre. MA 10, S. 13. Vgl. den Brief von Goethe an Knebel, 25. November 1808. WA IV, 20, S. 223. So Frühwald, Der ›romantische‹ Goethe (Anm. 27), S. 170. Zur Flucht in die Zeitlosigkeit vgl. den Beitrag von Susan Baumert in diesem Band.
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»andern Welt«.95 Dann sind alle Ordnungen der Subjekte letzten Endes solche auf Zeit.96 Goethe begreift die geschichtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen als Herausforderung an die Orientierungsleistung der Kunst. Der Anschauungs- und Denkraum, den die Wahlverwandtschaften erzeugen, soll den analytischen Blick auf die eigene Gegenwart als das Ganze dessen, was ist, schulen und schärfen. Das Kunstwerk unternimmt mit den Möglichkeiten symbolischer Artikulation den Versuch einer Distanzierung von der unmittelbaren, bedrängenden Gegenwart. Was symbolisiert werden kann, das kann auch mit Abstand betrachtet werden. Das Narrativ der Wahlverwandtschaften konfrontiert die Leser in seiner Wirklichkeitsdarstellung aber auch mit der Grenze solcher Symbolisierungsfähigkeit und damit mit einer Realität, die von den Menschen als »ultimate fact«97 akzeptiert werden muss. Gerade in diesem Realismus98 scheint ein Moment bleibender Aktualität des Werkes zu liegen. Was die geschichtliche Gegenwart betrifft, so notiert Goethe am 18. Mai 1808 in seinem Tagebuch: »›Es ist Niemand seiner Zeit gewachsen‹«.99
V. Laboratorium des Denkens Das vorliegende Buch entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. An vielen von Goethes Werken lässt sich eine höchst individuell gestaltete Form der Inter- und Transdisziplinarität erkennen. Was die Wahlverwandtschaften betrifft, so scheint dieser Roman in der Universalität des Transfers von gesellschaftlichem Wissen in Literatur und von Literatur in gesellschaftliches Wissen geradezu eine inter- wie transdisziplinär orientierte Erkenntnisform zu verlangen, wenn eine integrale Lektüre mit Erfolg versucht werden soll. Mit Goethe zu sprechen:
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 5. WA I, 20, S. 253; vgl. auch den Brief an Zelter, 3. Mai 1808. MA 20. 1, S. 175: »Man sieht wohl, daß man nach und nach seine ganze Vorstellung verändern, die Hoffnung auf die Rückkehr des Alten völlig aufgeben, und sich für die übrige Zeit seines Lebens wo nicht erneuen, doch umwenden müßte«. Vgl. zu diesem bedrängenden Problem die Beiträge von Stefan Blechschmidt und Elisabeth von Thadden in diesem Band. Vgl. Ernst Cassirer, Language and art II (1942). In: Symbol, Myth, and Culture, hrsg. von Donald Phillip Verene. New Haven 1979, S. 193ff.: »Man is surrounded by a reality that he did not make, that he has to accept as an ultimate fact. But it is for him to interpret reality […] and this task is to be performed in different ways in the various human activities«. Klaus Henrich spricht von einem »traumatischen Realismus des Romans«: »Das Bewußtsein ist keine hinlängliche Waffe«. Zur Faszination der ›Wahlverwandtschaften‹ heute. In: Gisela Greve (Hrsg.), Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 54), S. 11– 41, hier S. 19. Goethe, Tagebucheintrag, 18. Mai. 1808. In: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe, Band III, 1: 1801–1808. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Jochen Golz u.a. Stuttgart, Weimar 2004, S. 439.
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Es gilt also auch hier was bei so vielen andern menschlichen Unternehmungen gilt, daß nur das Interesse mehrerer auf Einen Punct gerichtet etwas Vorzügliches hervorzubringen im Stande sei.100
Der Punkt der Konzentration im vorliegenden Band ist ein einzelnes Werk, dessen Erzählform und ästhetische Gestalt,101 dessen Poetik102 und Struktur,103 dessen thematisches Engagement und dessen Spannungen in der Vielfalt der Perspektiven erschlossen und gedeutet werden. Die akademischen Disziplinengrenzen sind nachgerade hinderlich, wenn es darum geht, die geistigen Energien, die sich in einem solchen Werk zeigen, herauszuarbeiten. Versucht werden Neulektüren, die zur Einsicht in Zusammenhänge an der Schwelle von Goethes Alterswerk,104 zur kritischen Reflexion von zentralen Deutungsmustern der Goethe-Philologie105 sowie zur Aufklärung der jüngeren Forschungsgeschichte führen.106 Die Beiträge nähern sich dem Roman mit den Mitteln ihrer Fachdisziplinen, aber sie versuchen zugleich – auf der Basis der gemeinsam geleisteten Erkenntnisarbeit –, ihn fächerübergreifend aufzuschließen. Trotz des Goethe’schen Kunstgriffes einer weitgehenden Anonymisierung des Schauplatzes und der Romanzeit konnten viele sprechende literarische Details ausfindig gemacht werden, die zeitgeschichtliche Tendenzen, Konfliktgehalte107 und Debatten im ›Ereignisraum‹ Weimar-Jena kennzeichnen und ausdrücken. Wenn Eduard – im ersten Satz des Romans – »frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme«108 bringt und dies, wie sich erst später herausstellt, auf eine dilettantische Weise tut, dann steht auch dieses unscheinbare Detail im zeitgeschichtlichen Kontext einer Ökonomisierung der Obstkultur,
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Der Versuch (Anm. 72), S. 25. Vgl. den Beitrag von Klaus Manger in diesem Band, der die Temporalstrukturen der Darstellung und die Bedeutung des Erzählpräsens in den Mittelpunkt seiner Untersuchung rückt. Die Poetik des Romans erörtert Andreas Grimm in seinem Beitrag mit Blick auf Goethes Verständnis von »Maximen«. Vgl. den Beitrag von Harald Tausch in diesem Band, der die intertextuelle und intermediale Basis des Romans untersucht und auf diese Weise auch den Entstehungsprozess des Werkes neu perspektiviert. Vgl. den Beitrag von Jochen Golz, der den Werkzusammenhang herausarbeitet, welcher die Wahlverwandtschaften mit dem Sonett-Zyklus von 1807 und der Pandora verbindet. Vgl. den Beitrag von Ernst Osterkamp, der das für Goethes Spätwerk wichtige Problemfeld der Entsagung neu erschließt. Vgl. den Beitrag von Jan Urbich in diesem Band, der auf dem Wege über die Kritik dekonstruktivistischer ›Lektüren‹ des Werkes die »soziale Hermeneutik« des Romans herausarbeitet. Vgl. zum Verhältnis von zeitgeschichtlichen Hintergründen und literarischer Transformation die Beiträge von Marko Kreutzmann und Gerhard Müller in diesem Band; zur Verbindung von literarisch-philosophischer Theoriebildung im ›Ereignisraum‹ WeimarJena, wie sie Goethes Wahlverwandtschaften mit Blick auf die Phänomene von Devianz und Alterität leisten, und dem realen institutionellen Umgang mit ›Irren‹ oder ›Wahnsinnigen‹ in Weimar um 1800 vgl. das noch unveröffentlichte Manuskript von Joachim Bauer / Gerhard Müller, Irrengesetzgebung in Sachsen-Weimar-Eisenach. Es erscheint in: Joachim Bauer / Olaf Breidbach / Hans-Werner Hahn (Hrsg.), Universität im Umbruch. Stuttgart 2010. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. WA I, 20, S. 3.
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wie sie im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach in jenen Jahren betrieben wurde. Die »verfehlten Geburtstage und verpatzten Feste«, die in den Wahlverwandtschaften erzählt werden, heben sich prägnant hervor, wenn man sie vor den Hintergrund der zeitgenössischen Festkultur rückt.109 Umgekehrt können im fächerübergreifenden Gespräch nicht nur Referenzialisierbarkeiten des Werkes entdeckt und bedacht, sondern auch formale Elemente des Romanmodells neu beleuchtet werden, in denen sich die Züge der Zeit ›niederschlagen‹. Im Anschluss an die Hegel’sche Dialektik von Form und Inhalt des Kunstwerkes hat Peter Szondi die Aufgabe einer historischen »Form-Semantik« entfaltet.110 Das Wahlverwandtschaften-Projekt111 hat von der geleisteten Arbeit des Sonderforschungsbereichs enorm profitieren können, wie das Werk umgekehrt einen eminenten Gegenstand bildet für die Zusammenführung der zentralen Problemfelder der ›Ereignisforschung‹: der historischen, der wissenschaftsgeschichtlichen und der ästhetisch-philosophischen. Der Roman ist ein Teil, der ein bezeichnendes Licht auf das Ganze des »Ereignisses Weimar-Jena« wirft. Er reflektiert mit den Mitteln der Literatur den Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, seine Erzählform basiert auf dem Übergang von der statisch-klassifikatorischen zur genetisch-morphologischen Naturanschauung in der Naturforschung, und er diskutiert – mit ganz neuer Radikalität – die Veränderungen in den Fragen der Weltauffassung, die sich im Laboratorium der klassischen, romantischen und idealistischen Debatten in Philosophie und Kunst abzeichnen. Dass in dem ›Ereignis‹, das sich mit den Namen Weimar und Jena verknüpft, Impulse der Aufklärung zusammengeführt, überprüft und auch experimentell in die soziale und wissenschaftliche Praxis überführt wurden, darf als eines der Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs gelten.112 Wie die künstlerischen Orientierungsversuche des Romans im Problemfeld konfligierender Deutungsmuster sich mit dem Engagement einer kritischen Aufklärung über die Aufklärung selbst verbinden, kann der Leser des Bandes an vielen Stellen entdecken. Die Aufweisung der Grenzen der Vernunftfreiheit springt gerade angesichts des »chimärischen Freiheitsstrebens«,113 das die Gestalten des Romans ergriffen hat, ebenso ins Auge wie die Kritik der Vorstellung von der sinnlich-vernünftigen bzw. natürlich-geistigen ›Doppelnatur‹ des Menschen. Der Roman vergegenwärtigt, wie sich angesichts der Metaphysikkritik einerseits und der zunehmenden Verwissenschaftlichung und damit auch Separierung der Disziplinen andererseits die Fragen nach dem Menschen und seinem Weltverhältnis inhaltlich und methodisch ganz neu stellen.
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Wie dies Michael Maurer in seinem Beitrag unternimmt. Vgl. etwa Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880–1950). Frankfurt am Main 1963, S. 11f. Zu diesem Projekt gehörten eine Literatur-Ausstellung, eine Ringvorlesung, wissenschaftliche Tagungen und die öffentliche Lesung des gesamten Romans durch Jutta Lampe, Gottfried Gabriel, Klaus-Michael Kodalle, Peter Stein und Hanns Zischler. So die Darstellung des Forschungsprogramms in dem Finanzierungsantrag 2007–2010. Jena 2007, bes. S. 16–25. Vgl. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 16), S. 170.
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Die vorliegenden Beiträge bilden ein Gemeinschaftswerk, das nicht der Selbsttäuschung unterliegt, in irgendeiner Sache abschließen zu können.114 Betrieben wird das Geschäft der wissenschaftlichen Verständigung und Selbstverständigung, indem ein begrifflich unausschöpfbares Werk der Weltliteratur im Lesen115 und Interpretieren neu erkundet und das »Wissen über die eigne Sprache, Geschichte, Literatur und Kunst«116 dabei überprüft, vertieft und vermittelt wird. Klassisch sei ein Text, so artikulierten es die Jenaer Romantiker, wenn er wieder und wieder gelesen, wenn jede Generation von neuem herausgefordert wird und in der Auseinandersetzung mit ihm zu keinem Ende kommt.117 Das Gesamtprojekt stand unter der Leitung des Herausgebers. Bei der Konzipierung und Realisierung hatte er in Stefan Blechschmidt einen tatkräftigen Ratgeber. Für Förderung und Unterstützung ist dem Vorstand des Sonderforschungsbereichs, insbesondere dessen Sprecher Olaf Breidbach, Dank zu sagen, ebenso wie der Klassik Stiftung Weimar, der Goethe-Gesellschaft in Weimar und dem Freundeskreis des Goethe-Nationalmuseums e.V. Für vielfältige Anregung und Kritik möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen des Sonderforschungsbereichs, namentlich bei Jutta Heinz, Gottfried Gabriel, Jochen Golz, Klaus Manger, Temilo van Zantwijk und Reinhard Wegner, wie bei Katrin Grünepütt, Frank Böhling und Johannes Korngiebel bedanken. Allen, die an der Entstehung des Bandes beteiligt waren, insbesondere den Autorinnen und Autoren, sei herzlich gedankt. Jena, April 2010
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Vgl. Goethe, Der Versuch (Anm. 72), S. 33. Vgl. den Brief von Christoph Martin Wieland an Charlotte Geßner, 10. Februar 1810. In: Härtl, Nr. 328, S. 137: »Das Buch muß (wie Goethe selbst sagt) dreimal gelesen werden […]«. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Bedeutung der Geisteswissenschaften im politischen Leben. In: Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte, hrsg. von Florian Keisinger / Stefen Seischab. Frankfurt am Main, New York 2003, S. 48–50, hier S. 48. Vgl. etwa Friedrich Schlegel, Fragmente zur Literatur und Poesie. Erster Teil [1797], Nr. 671. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abteilung 2, Band 16. Hrsg. von Ernst Behler u.a. Zürich, München, Paderborn, Wien 1981, S. 141.
EINSAME MENSCHEN
Einsamkeit und Entsagung in Goethes Wahlverwandtschaften Ernst Osterkamp
Dorothea Hölscher-Lohmeyer (1913–2008) zum Gedächtnis
Natürlich wäre Goethes Roman1 ein völlig anderes Buch, wenn sich sein Autor dazu entschlossen hätte, ihm anstelle des auf eine naturwissenschaftliche Versuchsanordnung verweisenden Titels Die Wahlverwandtschaften den sozialpsychologisch begründeten Titel Einsame Menschen zu geben, den acht Jahrzehnte später Gerhart Hauptmann einem seiner Jugenddramen gab. Gewiss: In einer Kultur der Geselligkeit wie derjenigen Weimar-Jenas um 1800 wäre der Titel Einsame Menschen undenkbar gewesen. Aber andererseits: Undenkbar und unerhört war Goethes gesamter Roman – und dies auch deshalb, weil er das katastrophale Scheitern aller Geselligkeit in einer modernen Welt der gestörten sozialen Bezüge vor Augen führt. Aus diesem Grund wäre der Titel Einsame Menschen Goethes modernem Experimentalroman, in dem Charlottes im zweiten Kapitel zögernd und widerwillig gesprochener Satz »Laß uns den Versuch machen«2 den Weg in die Katastrophe eröffnet, durchaus angemessen gewesen. Aber Goethe war nicht Gerhart Hauptmann; ein solcher Titel wäre ihm viel zu eindeutig gewesen für das vieldeutige soziale Experiment, von dem sein Roman erzählt. Und doch sind die Protagonisten der Wahlverwandtschaften, die wechselseitige Sympathie in einer komplexen Kultur der Geselligkeit zusammenführt, vier tief einsame Menschen, die, durch Neigung und Begehren einander zugetan, sich am Ende des Versuchs, den sie mit sich durchführen, so sehr verinseln, dass zwei von ihnen sterben und die beiden anderen so erstarrt und schicksalslos zurückbleiben, dass der Roman von ihrem
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Die hier entwickelte Lektüre von Goethes Roman schließt an Überlegungen zum Thema der Einsamkeit in Goethes Spätwerk an, die ich am 7. September 2007 in Weimar im Rahmen der Tagung »Ereignis Weimar-Jena um 1800« zur Diskussion gestellt habe; in erweiterter Fassung wurden sie als Festvortrag anlässlich der Jahresfeier der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz am 9. November 2007 wiederholt: Ernst Osterkamp, Einsamkeit. Über ein Problem in Leben und Werk des späten Goethe. Mainz, Stuttgart 2008 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jg. 2008. Nr. 1). Für den Druck wurde die Fassung des am 2. Dezember 2008 im Rahmen der WahlverwandtschaftenRingvorlesung in Jena gehaltenen Vortrags beibehalten. Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 2. MA 9, S. 300.
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einsamen Fortleben nichts mehr zu erzählen weiß. Die folgenden Bemerkungen wollen die Aufmerksamkeit auf die Thematik der Einsamkeit in Goethes Roman lenken und sie mit jener seelisch-sittlichen Strategie einer positiven Bewältigung problematischer menschlicher Verhältnisse konfrontieren, die seit den Wahlverwandtschaften in Goethes Werk eine so prominente Rolle gewinnt: der Entsagung. Die Bereitwilligkeit, mit der die Goethe-Forschung diese vom Dichter selbst in seinem Werk entwickelte Strategie des einverständigen Verzichts als Königsrückzugsweg aus problematischen Beziehungen akzeptiert hat, verstellte den Blick auf den Schmerz der Einsamkeitserfahrung, den sein Spätwerk auf vielfache Weise gestaltet und der durch Entsagung nicht getilgt werden kann. Ich werde im Folgenden zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zum Problem der Einsamkeit in Leben und Werk des späten Goethe machen und anschließend vor diesem Hintergrund die darstellerische Vermittlung von Einsamkeit und Entsagung in den Wahlverwandtschaften in den Blick nehmen. Dass die Intensität und Dichte, womit das Spätwerk insgesamt und die Wahlverwandtschaften insbesondere Einsamkeitserfahrungen zur Darstellung bringen, auf die tiefe biographische Verankerung dieser Problematik im Leben des späten Goethe verweisen, scheint mir außer Frage zu stehen.
I. In einem mit den Künstlern und dem Publikum seiner Zeit bitter hadernden Rückblick auf die im Jahre 1805, dem Todesjahr Schillers, durchgeführte letzte Weimarische Kunstausstellung hat Goethe die düstere Prognose formuliert: »die Weimarischen Kunstfreunde, da sie Schiller verlassen hat, sehen einer großen Einsamkeit entgegen«.3 Eine große Einsamkeit: Die Enttäuschung über das desaströse Scheitern seines mit Hilfe der Weimarischen Preisaufgaben unternommenen Versuchs zur Erneuerung der Kunst aus dem Geist der Antike verband sich bei Goethe mit dem Schmerz über den Tod Schillers zu einem umfassenden Verlassenheitsgefühl, das sich in dem ständig wachsenden Bewusstsein einer grundsätzlichen Distanz zum Zeitgeist verdichtete. Dieses Bewusstsein intensivierte sich in dem Jahrzehnt nach Schillers Tod durch den Verlust weiterer Weggefährten und Freunde: Herzogin Anna Amalia 1807, Carl Ludwig Fernow 1808, Christoph Martin Wieland 1813, Goethes Frau Christiane 1816 und so fortan. Der Preis für Goethes virtuose Fähigkeit, andere zu überleben, bestand darin, dass Einsamkeit zu einem zentralen Thema seines Alters wurde: die Einsamkeit des Zurückgelassenen und die freiwillige Einsamkeit desjenigen, der sich den Zumutungen des Zeitgeists zu entziehen suchte. Es war dies freilich kein öffentlich verhandeltes Thema. Goethe hat dafür gesorgt, dass die Wendung von der »großen Einsamkeit« zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, und ›einsam‹ und ›Einsamkeit‹ sind auch im Spätwerk des Dichters keine prominenten Vokabeln. Seiner Leserschaft gegen-
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Letzte Kunstausstellung. WA I, 36, S. 266.
Einsamkeit und Entsagung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹
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über hat er es vorgezogen, stattdessen lieber die Notwendigkeit der Entsagung als einer ethisch begründeten freiwilligen Resignation aus einer umfassenden Lebensteilhabe dichterisch zu plausibilisieren, und die Germanistik hat, der Goethe’schen Selbstdeutung wie so oft bereitwillig folgend, die Entsagung als eine Kunst des – um Arthur Henkels berühmte Studie Entsagung aus dem Jahre 1954 zu zitieren – »heiteren Geltenlassens und des gelösten Verzichts«4 geradezu zum zentralen Glaubensartikel des Goethe’schen Altersevangeliums erhoben und damit den Schmerz seiner tatsächlichen Einsamkeitserfahrung zum Verschwinden gebracht. Was er an die Öffentlichkeit nicht dringen lassen wollte, hat Goethe aber den engsten Freunden gegenüber immer wieder als seine durch das Entsagungskonzept nicht zu bewältigende Empirie der Einsamkeit thematisiert, am ungeschütztesten wohl in den Briefen an Carl Friedrich Zelter, dem er nach dem Tod Schillers schrieb: »Ich sehe also jetzt nur jeden Tag unmittelbar vor mich hin, und tue das Nächste ohne an eine weitre Folge zu denken«.5 In diesem Satz deutet sich bereits die Doppelstrategie zur Bewältigung der Verluste an, in der sich Goethe in seiner Einsamkeit nach dem Tod Schillers einzurichten begann: Die eine bestand darin, die Einsamkeit für sich als eine Existenzform zu akzeptieren, die ihm in seinem schriftstellerischen und wissenschaftlichen Werk den produktiven Widerstand gegen den Zeitgeist ermöglichte, die andere in der pragmatischen Erledigung des »Nächsten« im Zeichen jener verkürzten Zeithorizonte, die die konkrete Erfahrung, aber auch die Erwartung des Todes nahelegte – eine Erfahrung und Erwartung, die Goethe zugleich in seiner Resistenz gegenüber politischen Maximalprogrammen und geschichtsphilosophischen Globalentwürfen bestätigte. Diese Verbindung von Einsamkeit als produktiver Lebensform und pragmatischer Tätigkeit im lokalen wie temporalen Nahbereich charakterisiert die Existenz des späten Goethe. Goethe hat nie in einem sozialen Sinn einsam gelebt; Familie, Amt, weite Bekanntenkreise, die Verankerung in Stadt und Region, literarische und wissenschaftliche Verbindungen weltweit haben dies ausgeschlossen. Die Einsamkeit, in die er sich seit dem Tod Schillers versetzt fühlte, bezeichnet vielmehr die Empfindung der geistigen Isolation in seiner eigenen Zeit und den Verlust des Einklangs mit den tragenden intellektuellen Bewegungen der Epoche. Goethes »große Einsamkeit« begründet sich also dreifach: In ihr verdichten sich die Erfahrungen desjenigen, der sich mehr und mehr von seinen Generationsgenossen verlassen fühlte, dessen epochale Lebensbedingungen sich fundamental von denen unterschieden, unter denen er aufgewachsen war, und dessen Selbstverständnis in entschiedener Opposition zum Zeitgeist stand. Um das Jahr 1805 gelangten diese drei Dimensionen seiner Erfahrung zu entschiedener Entfaltung und riefen in ihm jenes Schwellenbewusstsein hervor, das den
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Arthur Henkel, Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman. Tübingen 1954, S. 2. Zur gegenwärtigen Diskussion um den Begriff der Entsagung bei Goethe vgl. den von Hans-Jochen Gamm verfassten Artikel ›Entsagung‹. In: Goethe-Handbuch. Hrsg. von Bernd Witte u. a. Band 4/1. Stuttgart, Weimar 1998, S. 268–270. Goethe an Carl Friedrich Zelter, 1. Juni 1805. MA 20.1, S. 98.
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Beginn seines Alters markiert und im Gefühl der Vereinsamung Ausdruck fand. Für die Vertreter der jungen Generation war Goethe damals derjenige, der immer schon dagewesen war: das ewige Vorbild, der ewige Gegner. Es fällt auf, dass Goethe nach Schillers Tod keine freundschaftliche Verbindung zu einem Vertreter der jüngeren Generation mehr aufgebaut hat, ja, dass er in allem, was er fortan unternahm, nach neuen Bundesgenossen ernsthaft nicht mehr Ausschau hielt – bis hin zu der radikalen Entscheidung, seine ab 1816 erscheinende Alterszeitschrift Über Kunst und Altertum fast ganz allein zu schreiben. Dauerhaft enge Beziehungen hat er nach Schillers Tod nur noch zu bewährtesten Freunden – Carl Friedrich Zelter, Wilhelm von Humboldt, Johann Heinrich Meyer – unterhalten, aber auch diese Freundschaften standen im Zeichen des Imperativs, Distanz ertragen zu können, ja zu müssen. Der späte Goethe war einer, der gelernt hatte, die Welt auf Distanz zu halten, und dies auch deshalb, weil, wie er aus Teplitz am 23. Juni 1813 an Zelter schrieb, »man in dieser jetzt zerrissenen Welt nicht mehr weiß wem man angehört. Schon 8 Wochen bin ich hier, lebe einsam, friedlich«.6 Den Effekt von Goethes Strategien zur aktiven Bewältigung seiner Einsamkeit bildete also nicht deren Aufhebung, sondern deren Transformation aus einem auferlegten negativen Schicksal in einen selbstgewählten Zustand der schöpferischen Abgeschiedenheit, der freiwilligen Isolation von störender Gesellschaft und unerbetenen Besuchern, von lästigen Zerstreuungen und Abhaltungen, die Einübung der Einsamkeit also als einer produktiven Lebensform. Die Zeugnisse für diese positive Akzeptanz von Einsamkeit als schöpferischer Zurückgezogenheit von den Alltagsgeschäften, den gesellschaftlichen Anforderungen und den Zumutungen des Zeitgeists rhythmisieren die Alterskorrespondenz mit den engen Freunden. Freilich haben die Freunde die entschiedene Neigung des späten Goethe, sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen, nicht ohne Sorge betrachtet; so schrieb der urbane und weltoffene Wilhelm von Humboldt am 30. Juli 1819 über Goethe an seine Frau Caroline: Das einzige, was ich mit einer Art Schmerz an ihm bemerkte, ist, daß er doch in seinem einsamen Leben sich so in sich zu vertiefen, in allen seinen Ideen, ohne in neuere Ansichten einzugehen, ehern zu werden und sich so zu beschränken scheint.7
II. Es ist zu fragen, welche Konsequenz die Goethe’sche Einsamkeit als zunächst erzwungene und dann freiwillig gesuchte Distanz zum Alltag, zur Gesellschaft und schließlich zum Zeitgeist für sein schriftstellerisches Werk besessen hat. Tatsächlich lässt sich Goethes Spätwerk sowohl thematisch als auch formal als große Poesie der Einsamkeit lesen. Auf dem Gebiet der Lyrik setzt Goethes 6 7
Goethe an Carl Friedrich Zelter, 23. Juni 1813. MA 20.1, S. 324. Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. von Anna von Sydow. Band 6: Im Kampf mit Hardenberg: Briefe 1817–1819. Berlin 1913, S. 580.
Einsamkeit und Entsagung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹
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Alterswerk mit dem im Winter 1807/08 entstandenen Zyklus von 17 Sonetten ein, der das Zeugnis der zum Scheitern verurteilten Leidenschaft des alternden Dichters gegenüber der achtzehnjährigen Wilhelmine Herzlieb ist, die der Dichter selbst später in den Tag- und Jahresheften als einen Effekt seiner Vereinsamung nach dem Tod Schillers charakterisiert hat. Die Achse des Sonettzyklus bildet der Imperativ zur Entwöhnung – und tatsächlich verwendet Goethe hier noch das sehr viel körperlichere Verb »entwöhnen« anstelle des ethisch aufgeladenen Begriffs »entsagen« – von der zum Ideal verklärten Geliebten; das Lebensalter schreibt ihm sein »Geschick«, die Entfernung von der jungen Frau, zwingend vor, und danach sublimiert sich diese Liebe in das Glück der Erinnerung und die Leidenschaft in den Glanz ihrer formalen Bewältigung im Sonett: »Was man Geschick nennt, läßt sich nicht versöhnen, / Ich weiß es wohl und trat bestürzt zurücke«.8 Zurück in die Einsamkeit. Figuren der Einsamkeit stehen im Zentrum von Goethes Spätwerk. Goethes dramatisches Spätwerk wird 1808 von dem Festspiel Pandora eröffnet, dessen Hauptfigur ein Einsamer ist: Epimetheus, den seine Frau Pandora, die allegorische Verkörperung der Schönheit, verlassen hat und der sich nun, melancholisch auf sich selbst zurückgeworfen, in einer modernen Welt zurechtfinden muss, die von der instrumentellen Vernunft, wie sie sein Bruder Prometheus verkörpert, und von kriegerischen Gewaltverhältnissen bestimmt wird. Goethe hatte bei der Konzeption des Stücks fest geplant, ihm einen zweiten Teil unter dem Titel Pandorens Wiederkunft hinzuzufügen, dessen Inhalt eben derjenige sein sollte, den der Titel versprach: die Versöhnungsphantasie der Rückkehr Pandoras in die Wirklichkeit. Aber diesen zweiten Teil des Dramas, den er schon genau schematisiert hatte, hat Goethe dann doch nicht mehr geschrieben: Das Schöne kehrt nie mehr in die Welt zurück, Epimetheus, der Repräsentant des sentimentalisch-selbstreflexiven Menschen der Moderne, bleibt auf immer einsam in der von Gewalt und Nützlichkeitsdenken geprägten Wirklichkeit zurück. Die Prognose auf die »große Einsamkeit«, der die Weimarischen Kunstfreunde nach dem Tode Schillers entgegensehen, hatte Goethe nicht lange vor der Niederschrift des Dramas formuliert, und es ist auch diese große Einsamkeit, die sich in dem Stück reflektiert. Es verabschiedete alle Illusionen des klassischen Jahrzehnts über eine Erneuerung der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus dem Geist der ästhetischen Erziehung und musste gerade deshalb Fragment bleiben: das unvollendete Drama Pandora als Poesie der Einsamkeit. »Pandora sowohl als die Wahlverwandtschaften drücken das schmerzliche Gefühl der Entbehrung aus, und konnten also nebeneinander gar wohl gedeihen«,9 so schrieb Goethe in den Tag- und Jahresheften zu 1807 und bezeichnete damit die enge Verwandtschaft im Problemgehalt der beiden Werke, die sein dramatisches und sein erzählerisches Spätwerk eröffnen. Der erste Satz, den eine der Figuren des Romans spricht, ist Eduards an den Gärtner
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Goethe, Reisezehrung. MA 9, S. 15. Tag- und Jahreshefte. MA 14, S. 198; zur Pandora und zum Zusammenhang der beiden Kunstwerke vgl. auch den Beitrag von Jochen Golz in diesem Band.
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gerichtete Frage »Hast du meine Frau nicht gesehen?«,10 und er erscheint wie eine ironische Kontrafaktur der Klagen des Epimetheus um seine Gattin Pandora. Eduard und Charlotte, das nach langen Jahren des Entbehrens endlich verbundene Ehepaar, gehen bereits nach einem Jahr des gemeinsamen Lebens getrennte Wege, ohne dass ihnen dies bewusst geworden wäre. Der Roman aber weiß von der ersten Seite an genau, wie gefährdet die innere Einheit dieser äußerlich so harmonischen Ehe schon ist, und identifiziert Symptome der Entfremdung, wo die Beteiligten selbst nur Glück und Eintracht gewahren. Der Roman führt das Ehepaar als ein getrenntes ein, wobei es nicht allein um eine räumliche Trennung geht, in der jeder allein an seinem Ort für sich arbeitet, sondern der räumlichen Trennung entspricht eine innere, seelische, denn Eduard und Charlotte wissen vom jeweils anderen nicht, womit er oder sie gerade beschäftigt ist. Sie sehen einander nicht nur nicht, sondern sie wissen in einem sehr konkreten Sinne auch nicht voneinander. In diesem Licht verliert die banale Frage, mit der Eduard sich dem Leser vorstellt, alle Harmlosigkeit: »Hast du meine Frau nicht gesehen?« Denn wie wenig Eduard selbst seine Frau sieht, verdeutlicht der Roman nun mit der Antwort des Gärtners, die zugleich die Topographie der Wahlverwandtschaften zu entwerfen beginnt, die eine Topographie der scheiternden Geselligkeit ist: Drüben in den neuen Anlagen, versetzte der Gärtner. Die Mooshütte wird heute fertig, die sie an der Felswand, dem Schlosse gegenüber gebaut hat. Alles ist recht schön geworden und muß Ew. Gnaden gefallen. Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche, über deren Turmspitze man fast hinwegsieht; gegenüber das Schloß und die Gärten.11
Das ist eine höchst umständliche Antwort auf eine schlichte Frage, die sich ebenso gut mit der knappen Replik ›Sie leitet die Abschlussarbeiten an der neuen Mooshütte‹ hätte beantworten lassen. Dass der Erzähler eine derart ausgreifende Antwort vorzieht, lässt sich nicht hinreichend damit erklären, dass er dem Gärtner die ersten Schritte bei der Ausführung der Topographie der Wahlverwandtschaften übertragen möchte. Denn die Antwort des Gärtners entwirft nicht nur die Charakteristik der Landschaft, sondern sie entwirft zugleich erste Züge der Charakteristik Eduards, der offensichtlich all das nicht weiß, was der Gärtner ihm mitzuteilen hat, wobei dem Gärtner ebenso offensichtlich genau bewusst ist, dass Eduard die Tatsachen, die er ihm mitzuteilen hat, bisher unbekannt geblieben sind, und dies wiederum deutet darauf hin, dass dem Gärtner, wie anderen Untergebenen auch, aufgefallen sein muss, dass die Eheleute im Alltagsleben getrennte Wege gehen und deshalb wenig voneinander wissen. Charlotte ist seit Tagen oder auch Wochen damit beschäftigt, mit mehreren Leuten eine Mooshütte zu errichten; Eduard aber weiß nicht nur nicht, dass die Mooshütte heute fertig wird, er kennt auch deren genaue Lage nicht, und er weiß deshalb auch nicht, welchen Ausblick man von ihr hat; er war also an der Auswahl des Bauplatzes nicht beteiligt und hat auch die Bauarbeiten nie
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Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 1. MA 9, S. 286. Ebenda.
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inspiziert, obgleich er doch, wie er in seiner Antwort auf den Gärtner sagt, »einige Schritte von hier […] die Leute arbeiten sehen«12 konnte – ein Signal für die Distanz, aus der er seine Frau, deren Hauptbeschäftigung die Errichtung der Mooshütte bildet, wahrnimmt. Mehr noch: Wie sich in dem anschließenden Gespräch mit Charlotte in der Mooshütte zeigt, hatte er bis zu diesem ersten Besuch auch keinerlei Vorstellungen über die Größe und die Architektur des Baus. Dabei hätte ihn niemand gehindert, den Bauplatz früher zu besuchen und sich mit seiner Frau, ohne in ihre Wünsche über Ort und Anlage des Baus einzugreifen, auszutauschen, denn Charlotte wollte Eduard mit der Errichtung der Mooshütte ja keineswegs eine Überraschung bereiten. Worüber hat, so muss sich der Leser fragen, dieses Ehepaar in den vergangenen Wochen eigentlich miteinander geredet, worüber hat es sich unterhalten, wenn Eduard das wichtigste, womit sich Charlotte beschäftigt, in all diesen Tagen nahezu unbekannt geblieben ist und er so wenig Interesse dafür aufgebracht hat, dass er nicht einmal wenige hundert Meter um eines kurzen Besuchs willen hat zurücklegen mögen. Diese irritierende Frage lässt sich nicht mit dem Hinweis erledigen, dass die in aristokratischen Ehen herrschenden Gepflogenheiten nicht an dem Ideal der bürgerlichen Intimität gemessen werden können, das eine universale Teilhabe der Partner am Seelenzustand und am Tun und Treiben des je anderen voraussetzt. Denn Charlotte und Eduard haben sich doch gerade nach ihren asymmetrischen ersten Ehen dazu entschlossen, gemeinsam eine vollkommen symmetrische Ehe einzugehen, die ganz diesem Ideal ungestörter Intimität folgen soll, und sich deshalb für die Einsamkeit des Landlebens entschieden. Es war Eduard, der, wie Charlotte ihm in der Mooshütte nach dessen Vorschlag, den Hauptmann ins Schloss ziehen zu lassen, in Erinnerung ruft, dies Programm vollkommenster Intimität in sozialer Isolation aufgestellt hatte: Du wolltest von allen Unruhen, die du bei Hof, im Militär, auf Reisen erlebt hattest, dich an meiner Seite erholen, zur Besinnung kommen, des Lebens genießen; aber auch nur mit mir allein.13
Charlotte hat sich diesem Zwang zur Intimität gebeugt und dabei durchaus ihre soziale Isolation durch den radikalen Schritt in Kauf genommen, ihre Tochter Luciane und ihre Nichte Ottilie in ein Internat zu geben, um dem narzisstischen Intimitätsbegehren ihres alten Freundes und neuen Mannes entgegenkommen zu können: Das alles geschah mit deiner Einstimmung, bloß damit wir uns selbst leben, bloß damit wir das früh so sehnlich gewünschte, endlich spät erlangte Glück ungestört genießen möchten. So haben wir unsern ländlichen Aufenthalt angetreten. Ich übernahm das Innere, du das Äußere und was ins Ganze geht. Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegen zu kommen, nur für dich allein zu leben; laß uns wenigstens eine Zeit lang versuchen, in wie fern wir auf diese Weise mit einander ausreichen.14
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Ebenda. Ebenda, S. 290. Ebenda.
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Das ist der Entwurf einer absoluten Intimität, in der jeder Ehepartner sein Leben durch die uneingeschränkte Teilhabe am Leben des je anderen defi niert: die Ehe als ein durch symbiotische Verschmelzung herbeigeführter gemeinsamer Seelenhaushalt, dessen Ökonomie durch die bürgerliche Rollenverteilung stabilisiert wird: Die Frau kümmert sich um das Haus, der Mann um das Erwerbsleben, in diesem Fall um die Erträge der Ländereien. Der Roman macht durchaus plausibel, wie es zu diesem übersteigerten Intimitätsverlangen beider Ehepartner hat kommen können: bei beiden durch die langjährige Einsamkeit in ihnen ungemäßen Ehen. Diese soll nun durch ein Höchstmaß an Intimität kompensiert werden, um deretwillen beide neue Formen von Einsamkeit auf sich nehmen: Eduard, weil sein Narzissmus Exklusivität erzwingt, Charlotte, die diesem Narzissmus durch die Trennung von Tochter und Nichte zu entsprechen sucht. Wem der Begriff des Narzissmus ahistorisch und im Übrigen übertrieben erscheint, sei daran erinnert, dass es Eduard ist, der schon im vierten Kapitel dem Menschen generell eine Diagnose stellt, die eine Selbstdiagnose ist: »der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst«.15 Narzissmus aber und Einsamkeit stehen in einem Bedingungsverhältnis; der Narziss nimmt nur sich selbst wahr und sieht in dem anderen nur sich selbst. Auch dies trägt zu der Erklärung bei, weshalb diese sich auf eine symbiotische Existenz verpflichtenden Ehepartner einander schon nach kurzer Zeit nicht mehr wahrnehmen. Es ist der Zwang zur Intimität, der in den Wahlverwandtschaften zu einer neuen Vereinsamung in der Ehe führt. Denn die Wünsche der Ehepartner laufen auseinander und können doch, weil dies zur Aufhebung des Scheins der Intimität führen würde, nicht geäußert werden. Die Ehe zwischen Eduard und Charlotte steht von Anbeginn unter einem Kommunikationsproblem, gerade weil die exklusive Kommunikation zwischen den Ehepartnern zu ihren programmatischen Voraussetzungen zählt: »Bedenke«, so sagt Charlotte zu Eduard in der Mooshütte, als er ihr von seinem Plan, den Hauptmann zu holen, berichtet hat, »daß unsre Vorsätze, auch was die Unterhaltung betrifft, sich gewissermaßen nur auf unser beiderseitiges Zusammensein bezogen«.16 Der Zwang zur exklusiven Kommunikation hat aber offenbar bereits zu einem Kommunikationskollaps geführt, wie die Tatsache zeigt, dass die wichtigsten Anliegen der Ehepartner in die Unterhaltung nicht einbezogen werden: im Falle Charlottes der Bau der Mooshütte, im Falle Eduards die Aufhebung der ehelichen Symmetrie durch deren Ergänzung zu einer sozialen Trias. Charlotte baut an einer Architektur der Einsamkeit, die Raum für zwei Leute hat und damit als architettura parlante das Programm ihrer Ehe in einen Baukörper übersetzt, aber Eduard interessiert sich nicht dafür; er hat »schon einige Zeit etwas auf dem Herzen […], was ich dir vertrauen muß und möchte, und nicht dazu kommen kann«.17 Warum kann er nicht dazu kommen, wenn er doch fort-
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Ebenda, I, 4. MA 9, S. 313. Ebenda, I, 1, MA 9, S. 291. Ebenda, I, 1. MA 9, S. 287.
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während allein mit ihr ist und seine Unterhaltung exklusiv auf sie beschränkt? Er kann deshalb nicht dazu kommen, weil er weiß, dass sein Wunsch gegen den von ihm selbst formulierten Zwang zur Intimität verstößt und aus diesem Grund nicht ausgesprochen werden darf, was wiederum dazu führt, dass er sich vor Charlotte verschließt: nicht wahrnimmt, was sie tut, weil sie nicht wahrnehmen darf, was er denkt und wünscht. Das Programm der absoluten Intimität schlägt in eine neue Vereinsamung in der Intimität um, weil sich die Differenz der Wünsche nicht aufheben lässt; es ist gerade die Absolutheit der Ansprüche an den je anderen, die diesen sich vor dem Partner zu verschließen zwingt und ihn damit für den vertrautesten Menschen zu einem Rätsel macht. »Hast du meine Frau nicht gesehen?« So fragt derjenige, der sie schon längst nicht mehr sieht. Aber eine analoge Entwicklung hat sich auch bei Charlotte vollzogen; sie hat sich, wie sie ihm beim zweiten Gespräch gesteht, sogar mit Gewalt vor Eduard verschlossen, um ihre Wünsche in Bezug auf Ottilie nicht aussprechen zu müssen: »Ich habe dir bisher auch etwas verborgen. Ich befinde mich in einer ähnlichen Lage wie du, und habe mir schon eben die Gewalt angetan, die ich dir nun über dich selbst zumute«.18 So leben denn Charlotte und Eduard in intensivster Zweisamkeit und leben doch zugleich getrennt voneinander in der Einsamkeit ihrer je eigenen Innenwelten. Wem diese These übertrieben erscheint, der möge sich an die tiefe Verwunderung Eduards erinnern, als er im zweiten Kapitel scheinbar zufällig den sonst von ihm gemiedenen Weg über den Kirchhof ergreift und dabei zum ersten Mal dessen aufwendige Neugestaltung durch Charlotte bemerkt: eine Umgestaltung, die in ihrer ästhetischen und sozialen Programmatik so tiefgreifend ist, dass sie, wie der Leser zu Beginn des zweiten Teils erfährt, zu juristischen Klagen führt. Nur der Schlossherr Eduard, für den allein Charlotte dem Programm dieser Ehe entsprechend lebt und der allein mit Charlotte leben will, hat von dieser fundamentalen Veränderung, die in das soziale Leben des gesamten Dorfes eingreift, bisher nichts bemerkt, obgleich sie doch die vereinbarte Aufgabenverteilung in dieser Ehe, derzufolge sie für das Innere, er für das Äußere zuständig ist, grundsätzlich unterläuft. Offensichtlich hat sich das Ehepaar niemals über dies Projekt unterhalten – aber wenn es sich darüber oder über die Mooshütte nicht unterhalten hat, über was von grundsätzlicher Bedeutung spricht es dann überhaupt? Der Zwang zur Intimität hat jedenfalls schon zu Beginn des Romans in eine Kommunikationskatastrophe und damit in eine erneute Vereinsamung der Protagonisten geführt, die überhaupt erst den Wunsch nach sozialer Ergänzung durch andere erklärt. Ihren symbolischen Ausdruck findet diese Situation in der Fertigstellung der Mooshütte im ersten Kapitel: Die Architektur der Einsamkeit steht und ist bezugsfertig. Sie schiebt sich in der Topographie der Wahlverwandtschaften zwischen das Schloss als die Architektur der Entfremdung, in der fortan Männer und Frauen unterschiedliche
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Ebenda, I, 2. MA 9, S. 294.
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Flügel beziehen, und das neue Lusthaus,19 das, wie es der desaströse Ausgang des im Roman durchgeführten sozialen Experiments verlangt, von denjenigen, für die es gebaut wird, nicht mehr bezogen werden kann. In diese Topographie, deren Mitte die »kleine Einsiedelei«20 bildet, ziehen mit dem Hauptmann und Ottilie zwei weitere Einsame ein. Die ungeduldige Frage, mit der Eduard in der Mooshütte Charlottes Zustimmung zur Einladung an den Hauptmann erzwingen will: »Was ich im Garten leiste, du im Park, soll das nur für Einsiedler getan sein?«,21 findet damit auf ironische Weise eine positive Antwort: Dies alles wird tatsächlich am Ende nur für Einsiedler getan sein. Eduard stellt den Hauptmann explizit als einen Einsamen vor, als einen hochqualifizierten Mann, den seine erzwungene Untätigkeit in »tiefsten Mißmut« versetzt hat: »es ist eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreifach in seiner Einsamkeit empfindet«.22 Und als eine Einsame wird, vor allem im Bericht des Gehülfen über ihr Scheitern in der Prüfung im fünften Kapitel, auch Ottilie eingeführt: elternlos, von ihrer Tante getrennt, ohne Freundinnen, eine Außenseiterin als Schülerin wie in ihrem Sozialverhalten. Es sind also zwei Einsame, auf die Charlotte und Eduard, die beiden in ihren Intimitätsansprüchen vereinsamten Ehepartner, ihre Hoffnungen auf eine schöne Geselligkeit richten. Diese Hoffnungen erfüllen sich bekanntlich nicht: Statt vom Reiz der Geselligkeit erzählt der Roman in vielfacher Brechung vom Schmerz der Einsamkeit. Tatsächlich ist die Phänomenologie der Einsamkeit, die Goethes Roman entwickelt, in ihrem seelischen Reichtum und in der Differenziertheit der Empfindungen umso staunenswerter, als der Roman ja nie seine Figuren aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen, denen sie angehören, entlässt. Es charakterisiert gerade die Modernität von Goethes Roman, dass der Ort der Einsamkeit in ihm die Gesellschaft ist – und dass dies die Protagonisten des Romans auch längst wissen, weil es ihrer realen Erfahrung entspricht. Charlotte ist es, die die Erfahrung, dass die moderne Gesellschaft durch Entfremdung und Isolation charakterisiert wird und dass deshalb jeder in ihr ein Einsamer bleibt, im ersten Kapitel des zweiten Teils ausspricht, im Aufbau des Romans also in genauer Entsprechung zur Fertigstellung der Mooshütte als der Architektur der Einsamkeit, so dass hier nun die Erfahrung der Einsamkeit im Nahbereich von Ehe und Familie in der Erfahrung der Einsamkeit im gesellschaftlichen Ganzen ihre Entsprechung findet: Gedenkt man, wie viel Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich, wie wenig wir ihnen, wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zu Mute! Wir begegnen
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Zur Veranschaulichung verweise ich auf das von Stefan Blechschmidt entworfene Modell zum Schauplatz der Wahlverwandtschaften in dem Ausstellungskatalog: »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hrsg. von Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß. Weimar 2008, S. 100–102. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 10. MA 9, S. 357. Ebenda, I, 1. MA 9, S. 291. Ebenda, S. 288.
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dem Geistreichen ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten ohne von ihm zu lernen, dem Gereisten ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen. Und leider ereignet sich dies nicht bloß mit den Vorübergehenden. Gesellschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten Glieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Völker gegen ihre trefflichsten Fürsten, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.23
Dies lässt Goethe Charlotte – von der schon im dritten Kapitel gesagt wird, sie habe einzusehen gelernt, dass sie in einer Welt lebe, »wo Gleichgültigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind«24 – genau in der Mitte des Romans sagen und überträgt damit die Sozialdiagnose, die er anhand der kleinen Welt des Schlosses vornimmt, auf die gesamte Welt der Moderne, die als eine Welt der universalen Entfremdung erscheint: Je dichter die Menschen miteinander kommunizieren, umso mehr schließen sie sich voneinander ab, je näher sie einander kommen, umso weniger wissen sie voneinander, je bekannter sie miteinander werden, umso fremder werden sie sich – die Gesellschaft der Moderne als Ort der Einsamkeit. In emblematischer Verdichtung bildet die hermetische sozialpsychologische Versuchsanordnung der Wahlverwandtschaften diese Analyse der modernen Sozialverhältnisse ab: Je dichter sich die Sozialstruktur der Schlossgesellschaft auffüllt, umso stärker sinken deren Bewohner in die Einsamkeit zurück; je intensiver sich der Wunsch nach Geselligkeit und sozialer Teilhabe zu realisieren sucht, umso tiefer führt er in die Einsamkeit. Ihre so ironische wie tragische Zuspitzung erfährt diese Situation im »doppelten Ehbruch«, den Charlotte und Eduard in der Nacht begehen, in der das Kind Otto gezeugt wird: In ihm durchdringen sich untrennbar die unbedingte Sehnsucht nach Intimität – nach Aufhebung der Einsamkeit – und absolute Entfremdung. Und auch hier ist es Eduard, der den modernen Begriff der Entfremdung aus dem Wortlaut des Romans bestätigt, als er im Rückblick auf die verhängnisvolle Nacht zu Ottilie sagt, dass damals »Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz« drückten.25
III. Dass der Wunsch nach Geselligkeit und intensivster sozialer Teilhabe in die Einsamkeit führt, gilt ohne Einschränkung für alle Teilnehmer an dem sozialen Experiment, das die vier Bewohner des Schlosses miteinander, aneinander und gegeneinander durchführen. Es ist nicht nötig, an dieser Stelle die Bedingungen und Komponenten der Versuchsanordnung der Wahlverwandtschaften noch einmal vorzuführen. Ich möchte mich stattdessen auf die Dynamik der Vereinsamung konzentrieren, in die ausnahmslos alle Teilnehmer an dem von ihnen in Gang gesetzten Versuch hineingerissen werden. Ihre Katastrophe
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Ebenda, II, 2. MA 9, S. 406f. Ebenda, I, 2. MA 9, S. 309. Ebenda, II, 13. MA 9, S. 495.
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vollzieht sich als Prozess wachsender Vereinsamung eines jeden von ihnen. Die Beschreibung des chemischen Experiments hatte genau diesen Effekt vorweggenommen. »Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott!« So reagiert Charlotte mitleidsvoll auf das, was den chemischen Elementen widerfährt, und antizipiert damit zugleich dasjenige, was ihrer aller harrt: »In dem gegenwärtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsäure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben muß«.26 Am Ende des Romans treiben sie alle sich wieder im Unendlichen – dem Ort der absoluten Einsamkeit – herum; die Erweiterung und Neuordnung der Schlossgesellschaft hat – um eine weitere Wendung Charlottes zu zitieren – jeden »der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben«:27 eine der bedrückendsten Benennungen für den Prozess der Vereinsamung, die jemals gefunden worden ist. Was es heißt, »ins lose Weite hinausgetrieben« zu werden, zeigt sich zuförderst an Eduard, diesem Dilettanten des Lebens und übrigens auch des Sterbens. Gerade er, dieser Virtuose der Geselligkeit, der sich keinen Wunsch zu versagen gelernt hat, sucht in der Situation, als sich unüberwindbare Widerstände der Erfüllung seines größten Wunsches in den Weg stellen, die Einsamkeit mit solcher Konsequenz auf wie keine andere Figur des Romans; immerhin verabschiedet er sich für fast die Hälfte der Erzählung aus der Handlung. Das erklärt sich gewiss auch aus seinem Narzissmus, der es nicht erträgt, das vor Augen zu haben, was ihm versagt ist, und für den die Alternative zur Wunscherfüllung nur der Tod sein kann – auch die Einsamkeit als der soziale Tod. Dennoch überraschen die Konsequenz und die Bewusstheit, mit der Eduard sich der Einsamkeitserfahrung stellt. Eduard hat es in seiner ersten Ehe und an der Seite Charlottes gelernt, allein zu sein; der Erzähler stellt ihn mit Bedacht den Lesern zu Beginn des ersten Kapitels in einer Situation vor, in der er allein ist, und allein ist er auch zu Beginn des zweiten Kapitels: »Eduard fand sich allein auf seinem Zimmer«.28 Die Einsamkeit des Vorwerks, in die er sich im sechzehnten Kapitel zurückzieht, hat jedoch eine andere Qualität. Eduard, vom Erzähler im achtzehnten Kapitel als »einsamer Freund«29 apostrophiert, von Mittler hingegen »wegen seines einsamen Lebens« getadelt, erträgt sie mühelos, weil sie für ihn nur ein Zwischenstadium zwischen Versagung und Erfüllung ist und damit der ideale, weil ungestörte Ort einer luxurierenden Wunscherfüllung in der Phantasie; solange er mit Ottilie das Leben nicht teilen kann, lebt er eben mit ihr ein imaginäres Leben: »Immer bin ich mit ihr beschäftigt, immer in ihrer Nähe«.30 Er wiederholt damit eine Imagination, der schon Charlotte zum Opfer gefallen ist – die der einsamen Symbiose mit der Geliebten: »aber auch nur mit mir allein«, wie Charlotte gesagt hatte.31 In dem Moment aber, in dem diesem Phantasma die Grundlage entzogen wird, also
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Ebenda, I, 4. MA 9, S. 317. Ebenda, S. 318. Ebenda, I, 2. MA 9, S. 293. Ebenda, I, 18. MA 9, S. 394. Ebenda, S. 395. Ebenda, I, 1. MA 9, S. 290.
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nach Ottilies Entschluss, ihm nicht anzugehören, und dann nach ihrem Tod, geht Eduards Fähigkeit, Einsamkeit zu ertragen, sofort verloren. Er stirbt nicht aus der Kraft des Entschlusses, Ottilie nachzusterben, sondern er stirbt an dem, was ihn, als noch Hoffnung war, am Leben gehalten hatte: an der Einsamkeit – und sein Tod ist die bittere Travestie auf den ersehnten Heldentod in der Mitte der Schlacht: der erbärmliche Tod eines Einsamen inmitten von Fetischen, auf die er seine gesamte Lebenskraft übertragen hat. Der Weg Ottilies, die »als eine arme Waise in der Welt geblieben« war,32 führt aus der absoluten Einsamkeit in die absolute Einsamkeit. Der Roman erzählt von jener kurzen Phase im Leben Ottilies, in der es ihr aufgrund der Liebe zu Eduard möglich erschien, aus der Einsamkeit, in der sie sich längst nach den von ihr selbst gegebenen Gesetzen eingerichtet hatte, doch noch auszubrechen, aber ebendies lastet sie sich dann am Ende als ihren Beitrag zur Katastrophe an: »ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen«.33 Und gerade weil Ottilie ihre Gesetze gebrochen hat, zu denen auch die Pflicht gehört, Einsamkeit ertragen zu können, empfindet sie die neue Einsamkeit, in die sie die Erfahrung der Liebe stürzt, doppelt schwer. »Charlotte fühlte den Zustand mit und ließ sie allein. Wir wagen nicht ihren Schmerz, ihre Tränen zu schildern, sie litt unendlich«.34 So heißt es nach der Abreise Eduards und wenige Seiten später: Ottilie hingegen verlor alles, man kann wohl sagen, alles: denn sie hatte zuerst Leben und Freude in Eduard gefunden, und in dem gegenwärtigen Zustande fühlte sie eine unendliche Leere, wovon sie früher kaum etwas geahndet hatte.35
Früher: in jener Zeit, da die Einsamkeit für sie noch ein Schutz war. Den hat sie nun verloren, und umso schutzloser ist sie ihrer neuen Einsamkeit preisgegeben. Der Roman wird nach Eduards Abreise rhythmisiert von Szenen gesteigerter Einsamkeitserfahrung im Leben Ottilies, so als sie von den Reden des Lords an den Zustand Eduards im Krieg erinnert wird und daraufhin beschließt, alles zu seiner »Wiedervereinigung« mit Charlotte beizutragen: »Ottilie fand Raum sich in der Einsamkeit auszuweinen. Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen, als diese Klarheit«.36 Während Eduard in seiner Sehnsucht nach dem »Untergang«37 in die Kommunikationskatastrophe des Krieges flüchtet, zieht Ottilie sich unter dem Schock der neuen Einsamkeitserfahrung, der sie wehrlos preisgegeben ist, so sehr »in sich zurück«, also in den Schutz der inneren Einsamkeit, dass sie schon am Ende des ersten Teils »nichts weiter zu sagen«38 weiß und fortan vor allem in Form ihres Tagebuchs mit sich und der Welt kommuniziert, bis sie am Ende des Romans ganz ins Schweigen zurücktritt: in den Kommunikationsverzicht als Ausdruck ihres durch kein Argument 32 33 34 35 36 37 38
Ebenda, II, 15. MA 9, S. 502. Ebenda. Ebenda, I, 17. MA 9, S. 388. Ebenda, S. 393. Ebenda, II, 10. MA 9, S. 473. Ebenda, I, 18. MA 9, S. 401. Ebenda.
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mehr außer Kraft zu setzenden Entschlusses, in die Bahn der Einsamkeit zurückzutreten. Wie dringend sie dieses Schutzes der inneren Einsamkeit bedarf, zeigt ihr Tod, der allein durch Kommunikation herbeigeführt wird: durch die unbedachten Worte Mittlers, des Kommunikationsmediums zu Pferde. Entgegengesetzt stehen die Verhältnisse bei Charlotte: Während Ottilie zu Beginn des Romans den Schutz der Einsamkeit verlässt, hat sie sich aus dem Schutz der Gesellschaft begeben, um Eduards Intimitätsbegehren entsprechen zu können, eine Entscheidung, die sie mit zunehmender Vereinsamung bezahlt. Das Wunder differenziertester Seelenschilderung, das Goethe im Falle Ottilies gelungen ist,39 wiederholt sich im Falle Charlottes, der seelisch-sittlich gefestigtsten Figur des Romans, die dennoch den Schmerz des ihr Widerfahrenen, ohne ihn je öffentlich sichtbar werden zu lassen, in ihrem Inneren umso härter durchleidet. Der Prozess der Vereinsamung setzt ein in dem Augenblick, in dem der Hauptmann eintrifft und die Männer sich ihren Geschäften zu widmen beginnen: »so fühlte sich Charlotte täglich einsamer. Sie führte ihren Briefwechsel […] lebhafter, und doch gab es manche einsame Stunde«.40 Sie wird sich ihrer Leidenschaft für den Hauptmann in dem Augenblick bewusst, als sie erfährt, dass er in fremde Dienste treten und sie ihn also verlieren wird, so dass sie als Liebende bereits eine Verlassene ist; es ist der Ort der Einsamkeit, die Mooshütte, die ihr, der emotional kontrolliertesten Gestalt des Romans, nun die Möglichkeit gibt, in dessen ausdrucksstärkster Szene die Fassung zu verlieren: Mit einer notdürftigen Verbeugung wandte sie sich weg und eilte hinunter nach der Mooshütte. Schon auf halbem Wege stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und nun warf sie sich in den engen Raum der kleinen Einsiedelei und überließ sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von deren Möglichkeit sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste Ahndung gehabt hatte.41
Für das Gefühl der Verlassenheit, das Charlotte in dieser Situation ergreift, findet Goethe den stärksten Ausdruck: Ausgesetztsein. »Es schien ihr, der Freund führe sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen«.42 Tatsächlich bleibt Charlotte von diesem Augenblick an eine Alleingelassene, die nähere persönliche Beziehungen zu einem Dritten nicht mehr aufbaut – nicht einmal zu ihrem Kind, zu dem der Roman Ottilie eine engere Verbindung entwickeln lässt als Charlotte selbst. Fortan zieht sie, die auf den Hauptmann Verzicht geleistet hat und auf die Rückkehr Eduards nicht mehr zu hoffen wagt, sich in jene innere Einsamkeit zurück, die es ihr erlaubt, die äußeren Geschäfte zu erledigen, ohne noch seelische Gefährdungen an sich heranzulassen: Charlotte, so heißt es im dritten Kapitel des zweiten Teils, »ging, um ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, um ihre Betrachtungen und Sorgen, die sie niemanden mitteilen konnte, für sich durchzuarbeiten«.43 So bleibt sie bis zum Schluss: einsam, in sich verschlossen, eine Stütze in der moralischen Ordnung 39 40 41 42 43
Vgl. auch den Beitrag von Hermann Beland in diesem Band. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 3. MA 9, S. 306f. Ebenda, I, 10. MA 9, S. 357. Ebenda, I, 12. MA 9, S. 367. Ebenda, II, 3. MA 9, S. 412f.
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suchend und findend, alles für sich durcharbeitend, weil niemand ihr liebend und helfend zur Seite tritt. Am Ende ist sie so einsam und, als von Schicksalsschlägen gehärtete moralische Instanz, auf sich selbst zurückgeworfen, dass der Roman sie nach dem Tod Ottilies und Eduards gleichsam vergisst und sie in die Schicksalslosigkeit entlässt – wie übrigens den Hauptmann auch, den Goethe als seelisch-sittliche Komplementärfigur zu Charlotte konzipiert und demgemäß aus der Einsamkeit aufsteigen lässt, um ihn am Ende wieder in der Einsamkeit verschwinden zu lassen. So erzählt der Roman in vierfacher Brechung vom Schmerz der Einsamkeit und spendet für ihn keinerlei Trost – keinen Trost zumal für diejenigen, die aus schönen Verbindungen »ins lose Weite« hinausgetrieben werden. Denn die Einsamkeit ist in diesem Roman der gescheiterten Geselligkeit nicht mehr wie in der Literatur des 18. Jahrhunderts ein Ort der Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen, eine Stätte der zarten Melancholie, eine Möglichkeit der Selbstfindung und des Selbstgenusses – sie ist in den Wahlverwandtschaften nichts als Verlust und deshalb trostlos. Dies wissen und erfahren sämtliche an dem Versuch Beteiligten in aller Schärfe; für sie ist die Einsamkeit bestenfalls ein Ort der Selbststabilisierung im Bewusstsein des Verlusts, vor allem aber ein Ort des gesteigerten Sehnens und des gesteigerten Schmerzes. Es gibt in den Wahlverwandtschaften – wie es die Gesetze des gesellschaftlichen Experiments vorschreiben – keine Flucht in die Einsamkeit; die Dichte und Universalität der modernen Vergesellschaftungsprozesse lassen solche Fluchtorte nicht mehr zu. Niemand weiß dies genauer als Ottilie, die in Fragen der Einsamkeit über die größte Erfahrung verfügt; als sie den Entschluss gefasst hat, in die Pension zurückzukehren, sagt sie zu Charlotte: »Die Einsamkeit macht nicht die Freistatt […]. Die schätzenswerteste Freistatt ist da zu suchen, wo wir tätig sein können«.44 Das ist die moderne Lösung: die Entscheidung gegen die vita contemplativa in der Einsamkeit und für die vita activa innerhalb des begrenzten Umkreises, in dem menschliche Tätigkeit sich praktisch entfalten kann – aktive Lebensbewältigung also anstelle passiver Lebensflucht. Diesen modernen Weg zu gehen aber macht Eduard der Geliebten unmöglich, und so endet der Roman in der tödlichen Universalisierung der Verlusterfahrung: Einsamkeit also als soziales Verhängnis, nicht als Möglichkeit der Konfliktlösung.
IV. Wo aber hätte es denn innerhalb des sozialen Experiments, das in dem Roman angestellt wird, eine Lösung geben können, die anders ausgesehen hätte als der Weg, den der Roman tatsächlich geht: also die Akteure aus ihrer hermetischen Versuchsanordnung herauszutreiben in die »lose Weite« ihrer Einsamkeit, die auch nicht gemildert wird durch die vom Schlusssatz eröffnete Perspektive auf ein gemeinsames Erwachen in der Transzendenz? Bei dieser Frage nun setzt
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Ebenda, II, 15. MA 9, S. 505.
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das Spiel mit der Entsagung ein, das die Germanistik zu spielen bis heute nicht aufgehört hat. Die Entsagung ist in den Wahlverwandtschaften der Versuch, ein Problem, das chemisch, also naturgesetzlich, begründet wird, einer moralischen Lösung zuzuführen. Zwei Menschen haben sich aus psychologisch gut nachvollziehbaren, moralisch aber keineswegs zwingenden Motiven in einer Ehe verbunden und fühlen sich nun aus Gründen der Chemie, neutraler gesagt, aus genetischen Gründen, unüberwindbar zu anderen Partnern hingezogen. In solchen Fällen ist eine freie moralische Willensentscheidung erforderlich, und sie kann doppelt ausfallen: Sie kann einerseits der Chemie zu entsprechen suchen, wogegen in symmetrischen Konstellationen wie in derjenigen der Wahlverwandtschaften in der Regel nichts spricht, oder sie kann sich den Imperativen der Chemie verschließen, was ohne die Bereitschaft zum schmerzhaften Verzicht nicht möglich ist. Der zweite Lösungsweg ist derjenige der Entsagung, und Charlotte ist es, die mit ihm im zwölften Kapitel nach dem »lebhaften Kuß«,45 den ihr der Hauptmann versetzt hat, zu spielen beginnt. Sie erinnert sich des Schwurs, den sie Eduard geleistet hat, und dann heißt es: »Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern vorüber«.46 »In heitern Bildern«: So steht es da, und dies bereits zeigt, dass der Lösungsweg der Entsagung, so wie ihn Charlotte hier noch imaginiert, dem Ernst der Situation nicht angemessen ist. Dem Leser muss dies spätestens vom zweiten Kapitel des Romans an klar sein: »Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt«,47 so heißt es dort, und deshalb erwägt dieser Narziss die Möglichkeit der Entsagung im Ernste auch an keiner Stelle des Romans. In seinem langen Gespräch mit dem Major nach der Rückkehr aus dem Krieg, als er sich in dem Recht seines Begehrens durch sein Überleben bestätigt sieht, spricht er, dessen Frau sich das Entsagen »in heitern Bildern« ausmalen konnte, vom »traurigen Entsagen«,48 das zu akzeptieren er sich weigert. Dabei bleibt es, und erst, als Ottilie stirbt, verlischt mit dem Objekt seines Begehrens sein Begehren selbst, und damit löscht es auch ihn, dessen Identität schließlich mit dem auf Ottilie gerichteten Begehren identisch geworden war, in wenigen Sätzen aus. Sein Autor hat Eduard also so entworfen, dass mit ihm das Konzept der Entsagung unmöglich zu realisieren ist. Der Hauptmann auf der anderen Seite wird nicht gefragt, ob ihm, der sein Begehren mit einem »lebhaften Kuß« manifestiert hat, dessen Begehren mithin lebhaft ist, der Weg der Entsagung wirklich gemäß sein kann. In dieser Hinsicht konzipiert ihn der Roman als eine abhängige Variable von Charlotte; als diese sich im sechzehnten Kapitel dazu entschließt, ihm »rein und völlig«49 zu entsagen, wird damit auch der Hauptmann »rein und völlig« auf den Entsagungsweg gestoßen. Er rebelliert, anders als Eduard, nicht dagegen, gibt sich
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Ebenda, I, 12. MA 9, S. 368. Ebenda, S. 369. Ebenda, I, 2. MA 9, S. 293. Ebenda, II, 12. MA 9, S. 491. Ebenda, I, 16. MA 9, S. 382.
Einsamkeit und Entsagung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹
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deshalb aber doch keineswegs damit zufrieden, zum Akteur von Charlottes Entsagungsstrategie zu werden. Als er Charlotte nach dem Tod des Kindes Eduards Bitte um Scheidung überbringt und sie zustimmt, da nützt er sofort die Chance zum Körperkontakt und zur Signalisierung seines Begehrens: »Er drückte seine Lippen auf diese liebe Hand. Und für mich, was darf ich hoffen? lispelte er leise«.50 So spricht nicht, wer den Weg der Entsagung gehen will. Charlottes Antwort ist trotz ihrer reinen und völligen Entsagung sibyllinisch: »Wir haben nicht verschuldet unglücklich zu werden; aber auch nicht verdient zusammen glücklich zu sein«.51 Ihre Antwort zeigt zumindest eines: dass ihr Entschluss zur Entsagung relativ ist und sie die Möglichkeit, glücklich zu sein, auch für sich selbst noch nicht völlig ausschließt. Denn einem wird sie, wie sich zeigt, bis zum Schluss nie wirklich entsagen: Eduard. Kaum hat sich Ottilie auf den Weg zurück in die Pension gemacht, lässt sie Ottilies Zimmer, die zuvor Eduards Zimmer gewesen sind, leerräumen, um den verlorenen Zustand ihrer Ehe wiederherstellen zu können: »Die Hoffnung ein altes Glück wiederherzustellen flammt immer einmal wieder in dem Menschen auf, und Charlotte war zu solchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genötigt«.52 Zu Hoffnungen genötigt: diese Wendung kündet von der Not der Einsamkeit, des »Entbehrens und Entsagens«,53 auch und gerade bei Charlotte. Die Strategie der Entsagung geht deshalb auch bei ihr selbst nicht auf, denn sie kennt die Qual der Entbehrung als Gewalt einer nach innen gewendeten Leidenschaft wie sonst nur Eduard. Als sie von Ottilies unverrückbarem Entschluss erfährt, »Eduarden zu entsagen«,54 gibt sie dieser Qual dadurch Ausdruck, dass sie eine Strategie entwickelt, Ottilie für immer von Eduard fernzuhalten, indem sie sie vor den psychodynamischen Folgen einer Wiederbegegnung warnt: In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach außen erstreckte, nach innen wenden.55
Diese nach innen gewendete Leidenschaft ist es, die Charlotte bis zum Ende zu Hoffnungen nötigt. Wenn sie dem Hauptmann entsagt – dem sie unter dem Druck Eduards übrigens noch kurz vor dem Tod Ottilies ihre Hand zusagt56 –, dann doch immer mit dem Ziel, Eduard zurückzugewinnen. Entsagung ist also im Falle Charlottes keine selbstlose Strategie oder eine Strategie der Selbstlosigkeit, sondern sie ist durchaus eine erotische Strategie aktiver Einsamkeitsakzeptanz mit dem Ziel einer langfristigen Einsamkeitsvermeidung. Nur: Diese Strategie geht im Falle Charlottes nicht auf, wie das Konzept der Entsagung nirgends in den Wahlverwandtschaften aufgeht. Die Männer machen es sich nicht zu eigen, für Charlotte trägt ihre Entsagung keinerlei Gewinn davon au50 51 52 53 54 55 56
Ebenda, II, 14. MA 9, S. 500. Ebenda, S. 501. Ebenda, II, 15. MA 9, S. 509. Ebenda, II, 5. MA 9, S. 431. Ebenda, II, 15. MA 9, S. 507. Ebenda. Vgl. ebenda, II, 17. MA 9, S. 515.
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Ernst Osterkamp
ßer demjenigen, dass sie am Ende des Romans die Folgen der Katastrophe gleichsam als moralische Instanz organisieren kann, und Ottilie exekutiert das Konzept der Entsagung schließlich mit tödlicher Konsequenz. Sie hat sich lange dagegen gesträubt. Auch nach Eduards Abreise lässt Ottilie sich nicht auf die Vorstellung der Entsagung ein: »Ottilie hatte Eduarden nicht entsagt« – und hat gerade deshalb das Gefühl einer »unendlichen Leere« und die Empfindung, »alles« verloren zu haben.57 Deshalb auch sind die Amplituden ihrer zwischen absoluter Liebe und absoluter Entbehrung ausgespannten Seelenbewegung nicht weniger extrem als diejenigen Eduards, wobei ihr allerdings nicht wie diesem die Möglichkeit zur Flucht gegeben ist: »Sie war nie so reich und nie so arm gewesen«.58 Zwar denkt sie nach der Geburt des Kindes erstmals über die Möglichkeit des Verzichts nach, um ihre Liebe »völlig uneigennützig« werden zu lassen: »Sie wünschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich fähig ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wieder zu sehen, wenn sie ihn nur glücklich wisse«.59 Aber sie entsagt ihm dennoch keineswegs. Dies geschieht erst, als sie, kurz vor dem Schluss des Romans, im Schoß Charlottes liegend, erfährt, dass sie von ihrem Gesetz und ihrer Bahn abgewichen ist, und sofort beschließt, auf Eduard zu verzichten: »sie hatte sich in der Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung des völligen Entsagens verziehen, und diese Bedingung war für alle Zukunft unerläßlich«.60 Von dort an gibt es aber keine Zukunft mehr, denn der Entschluss zur Entsagung ist, Ottilie selbst unbewusst, mit dem Entschluss zu einem verkappten Selbstmord identisch. Denn Ottilie mutet sich das Unzumutbare zu: Sie kann zwar in einem moralischen Willensakt der Leidenschaft widerstehen, aber die Leidenschaft selbst wird dadurch nicht gemildert, wie sich daran zeigt, dass Eduard und Ottilie fortan von einer »seligen Notwendigkeit«, einer »unbeschreiblichen, fast magischen Anziehungskraft«61 immer wieder zusammengeführt werden. Die Bewältigung dieses Zwiespalts zehrt alle ihre Kräfte auf, zumal der Kommunikationsverzicht den sozialen Selbstmord und der Nahrungsverzicht den physischen Selbstmord vorbereitet; und so stirbt sie denn schon bald nach ihrem Entschluss als wehrloses, weil hoffnungsloses Opfer einer Strategie der Entsagung.
V. So entfaltet das Konzept der Entsagung in den Wahlverwandtschaften eine tödliche Konsequenz; es treibt seine Opfer weiter in die soziale Isolation und lässt sie sich dort in der Einsamkeit ihres Inneren verzehren. Entsagung ist in Goethes Roman keine Strategie zur Vermeidung von Einsamkeit, sondern eine zur Intensivierung der Einsamkeit. Durch Entsagung wird in der experimen57 58 59 60 61
Ebenda, I, 17. MA 9, S. 393. Ebenda, II, 9. MA 9, S. 465. Ebenda, S. 466. Ebenda, II, 15. MA 9, S. 504. Ebenda, II, 17. MA 9, S. 517.
Einsamkeit und Entsagung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹
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tellen Versuchsanordnung der Wahlverwandtschaften kein einziges Problem gelöst, sondern durch den Entschluss zur Entsagung wird allenfalls die Ausweglosigkeit der Situation akzentuiert. Entsagung können sich in den Wahlverwandtschaften nur diejenigen leisten, die sich dazu entschlossen haben, in der sozialen Bindungslosigkeit zu existieren, um so die Welt besser genießen zu können – Menschen also wie der Lord, der die einsamen Frauen auf ihrem Schloss besucht: »Nun glaub’ ich, sagte er, auf dem rechten Wege zu sein, da ich mich immerfort als einen Reisenden betrachte, der vielem entsagt, um vieles zu genießen«.62 Aber das ist eine wohlfeile Maxime, mit der sich keines von Charlottes oder Ottilies Problemen lösen lässt. Sie wollen keine Reisenden sein, sie wollen Bindung durch Liebe, und dabei nützt ihnen die Idee der Entsagung nicht im Geringsten. Man sollte sich von der positiven Bedeutung, die das Konzept der Entsagung in den späteren Werken Goethes, etwa in Dichtung und Wahrheit oder in den Wanderjahren, gewinnt, nicht dazu verleiten lassen, seine positiven Wirkungen in den Wahlverwandtschaften zu überschätzen. Es gibt sie dort nicht, an keiner Stelle. Der Zwang zur moralischen Entscheidung intensiviert hier nur den Schmerz der Verlusterfahrungen insofern, als der Entsagende sie damit selbst herbeigeführt hat und sich deshalb auch selbst für den Schmerz, den er sich zufügt, verantwortlich machen muss. Goethes großer Roman propagiert nicht die Entsagung, sondern er stellt die Probleme der menschlichen Vergesellschaftung in aller Radikalität und damit auch Trostlosigkeit dar – und zu diesen Problemen gehört es auch, in schwer oder gar nicht lösbaren sozialen Konfliktsituationen ethische Entscheidungen treffen zu müssen. Die Entscheidung darüber, wie wir uns zu entscheiden haben, nimmt uns der Roman aber keineswegs ab, denn die Wahlverwandtschaften sind gerade deshalb ein moralischer Roman, weil sie an keiner Stelle moralisieren, also das Verhalten ihrer Figuren moralisch beurteilen oder gar verurteilen. Deshalb bieten sie auch nicht die Entsagung als Strategie der universalen Konfliktlösung in hochproblematischen sozialen Konstellationen an. Sie zeigen allenfalls, dass Entsagung für bestimmte Personen mit einer spezifischen seelischen Disposition ein Rettungsmittel sein kann. Und sie führen die Höhe des Preises vor Augen, den derjenige zu zahlen hat, der sich dieses Rettungsmittels zu bedienen sucht.
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Ebenda, II, 10. MA 9, S. 472.
DARSTELLUNGSEXPERIMENT UND »ROTER FADEN«
Goethes Wahlverwandtschaften – neu gelesen Klaus Manger
Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren; es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin. Aus Makariens Archiv (1)
Einen der meistinterpretierten Romane der deutschen Literaturgeschichte neu zu lesen, ist kein leichtes Unterfangen. Zwar lesen wir dank unserer eigenen Entwicklung, wenn wir uns an eine erneute Lektüre machen, teils in Kenntnis anderer Werke, teils in Kenntnis neuer Forschungsergebnisse, teils, weil sich unser eigener Blick geweitet hat, neu. Aber gelegentlich scheint es, als hätten wir, was wir lange zu kennen glauben, als ein neues Werk vor uns. Vielleicht kann ein so konzises Werk wie Goethes Wahlverwandtschaften besonderen Anspruch darauf machen, selbst in kürzeren Zeitabständen wie ein neues Werk gelesen zu werden. Das muss mit seiner Gestaltung zu tun haben, der ein Geheimnis innezuwohnen scheint. Weshalb sonst sollte Goethe so umfänglich dafür schematisiert, redigiert, formuliert haben?1 Und durch Zerstörung der Vorarbeiten zu einer Art »Selbstverrätselung« beigetragen haben? 2 Angesichts der immensen Forschungen und Forschungsperspektiven zu diesem zweihundertjährigen Roman ist zu sagen, dass er schwerlich überforscht werden kann. Die Weltmeere lassen sich durch Überfischen plündern. Werke der Künste hingegen bewahren ihren Reichtum selbst gegenüber den abstrusesten Theoriebildungen und wollen unter allen Verkrustungen immer neu entdeckt werden. Selbstverständlich können Kunstwerke Rätsel aufgeben. Soweit sich in ihrer Gestaltung Verstehen und Verstandenes verdichten, sind sie das Gegenteil von einem Rätsel. Und wir tun gut daran, wenn wir uns beispielsweise einem Roman nähern, seine komplexen Strukturen prinzipiell von jener Komplexität, die sich darin mehr oder weniger vielschichtig mimetisch abbildet, zu unter-
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Vgl. Hans Gerhard Gräf, Goethe über seine Dichtungen. Versuch einer Sammlung aller Äußerungen des Dichters über seine poetischen Werke. Erster Theil: Die epischen Dichtungen. Band 1. Frankfurt am Main 1901, S. 362–488: Die Wahlverwandtschaften. Norbert Bolz, Artikel ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte u. a. Band 3: Prosaschriften. Hrsg. von Bernd Witte / Peter Schmidt. Die naturwissenschaftlichen Schriften von Gernot Böhme. Stuttgart, Weimar 1997, S. 152–186, hier S. 157a.
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scheiden. Diese »poetologische Differenz«3 gilt es schon deshalb zu unterscheiden, weil literarische Werke vielfach an andere literarische Werke anknüpfen und gelegentlich davon profitieren. Um das mit Bezug auf Die Wahlverwandtschaften zu konkretisieren, lohnt sich, wie in dem folgenden Zitat anklingt, ein Umweg. »Ein junger Mann, der, statt seines wahren Nahmens, einsweilen von Falkenberg heißen mag«.4 Damit beginnt Baron von Werdenberg seine, Wielands Hexameron von Rosenhain (1805) abschließende Erzählung: Die Liebe ohne Leidenschaft. Dieser Baron unter anderem Namen, der nicht Eduard heißt, erzählt seine »Anekdote«, die sich am Ende als seine eigene Geschichte herausstellt, schon deshalb, wie er betont, als ›wahre Geschichte‹.5 Ihr geht gleichfalls eine »Anekdote« unter dem Titel Freundschaft und Liebe auf der Probe voraus, die in der Fiktion der Rahmenerzählung von Nadine von Blumau erzählt wird.6 Die Erzählerin erweist sich am Ende der Schlusserzählung als deren Protagonistin, die dort Julie Haldenstein heißt und sich als Baronin von Werdenberg herausstellt. Das aber bedeutet, dass die beiden letzten Erzähler im Hexameron es zugleich als Protagonisten beschließen. Der Baron erzählt, wie gesagt, seine eigene Geschichte, die ihn mit der unter dem Namen Julie Haldenstein auftretenden Nadine von Blumau verbindet, nachdem sich ihre Liebe als von allen Verunreinigungen frei erwiesen hat. Anders gesagt, läuft Wielands Hexameron, das ursprünglich als Pentameron und zwischenzeitlich als Dekameron geplant war,7 in dieser Form in die historische Gegenwart der Rahmenerzählung aus, womit es sich von Boccaccios Decamerone (1349–1353) nur darin unterscheidet, dass die Erzählenden selbst Protagonisten sind. Zugleich reagiert Wieland damit auf ein anderes Erzählwerk, das bald zehn Jahre vorher gleichfalls nach Boccaccios Vorbild Rahmen- und Binnenerzählungen bietet, nämlich Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), aber mit dem explizit »Märchen« genannten Schlussteil gegenläufig zu Wielands Ankunft in der Realität »durch ein Product der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche« ausläuft.8 Wir haben folglich einmal eine Refraktion in die Realität und einmal eine in die Fiktion vor uns. Beide Refraktionen aber sind selbst fingiert. Schließlich geht es auch und vor allem um die Kunst des Erzählens. 3 4
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Vgl. Horst-Jürgen Gerigk, Lesen und Interpretieren. Göttingen 2002, S. 17–40. C. M. Wieland, Freundschaft und Liebe auf der Probe und Die Liebe ohne Leidenschaft. Zwey Erzählungen aus dem Pentameron von Rosenhain. In: Taschenbuch auf das Jahr 1804. Herausgegeben von Wieland und Goethe. Tübingen [1804], S. 58. ND Leipzig 1982 mit einem Nachwort von Peter Goldammer. Ebenda, S. 56 (vgl. S. 4) und S. 57 (vgl. S. 85). Ebenda, S. 6–53. Im Hexameron von Rosenhain heißt Nadine von Blumau dann Nadine von Thalheim. Vgl. Christoph Martin Wieland, Sämmtliche Werke (C1). Band 38. Leipzig 1805, S. 217 und 283; vgl. auch Anm. 41. Vgl. Peter Haischer, Das Hexameron von Rosenhain. In: Jutta Heinz (Hrsg.), WielandHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2008, S. 333–344, hier S. 333 zur Entstehungsgeschichte und zu den Drucken. – Vgl. Marguerite de Navarre, Heptaméron (1542–1549); Giambattista Basile, Pentamerone (1634–1636). Goethe an Schiller, 17. August 1795: WA IV, 10, S. 286.
Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ – neu gelesen
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Es lohnt sich, Wielands Erzählung Freundschaft und Liebe auf der Probe, die nach einhelliger Meinung als Anregung von Goethes Wahlverwandtschaften gilt,9 zusammen mit der Schlusserzählung Die Liebe ohne Leidenschaft10 kurz zu betrachten. Zum einen beruht Goethes Anregung durch Wieland auf beiden Erzählungen, schon weil der Anfangssatz des Barons: »Ein junger Mann, der, statt seines wahren Nahmens, einsweilen von Falkenberg heißen mag«, ein Muster für den Anfangssatz der Wahlverwandtschaften abgibt. Zum anderen werfen die beiden »Anekdoten« die Nebenfrage auf, ob und inwieweit in ihrem Gefolge auch Goethes Roman als Anekdote zu begreifen ist. Denn nach Wielands Vorbild scheint doch, wie noch zu klären sein wird, der Liebestod am Ende der Wahlverwandtschaften gleichfalls eine wahre Geschichte zu beglaubigen. Jedenfalls setzen sich diese Erzählungen von der Erbaulichkeit der contes moreaux ab, auch wenn sie – von Goethes Unterhaltungen über Wielands Hexameron bis zu Goethes Wahlverwandtschaften – moralische Geschichten sind bzw., wenn auch ohne Belehrung, einen moralischen Kern enthalten.11 Bei Boccaccio ist das nicht anders. Die Goethes Roman am nächsten kommende Erzählung Freundschaft und Liebe auf der Probe erzählt von dem Liebestausch zweier Paare, der durch das französische Scheidungsrecht 1792 begünstigt und u. a. nicht durch ein Lebendes Bild, sondern durch ein Gemälde ausgelöst wird, das die eine Partnerin als Göttin Pallas vorstellt, an deren Schönheit Tiresias erblindet sein soll.12 Eine mit dem Tausch einhergehende Entzauberung lässt die Paare diesen Tausch als »große Thorheit« begreifen und durch einen »Rücktausch« die alte Ordnung wieder herstellen.13 Nadine, die Protagonistin der letzten Erzählung, erweist sich schon darin mit deren Erzähler, dem Baron von Werdenberg alias Falkenberg, verwandt, dass sie die Vorstellung ihrer Protagonistinnen nach dem gleichen Modell eröffnet bzw. dieses Modell hierdurch vorgibt: »Selinde (wie ich die jüngere von ihnen nennen will)«.14 Das Modell ist, auch wenn bei Wieland in Klammern steht, was Goethe zwischen Gedankenstriche setzt, zu erkennen. Mit dem ersten Satz unterscheidet sich Goethe jedoch zugleich auch von dieser mündlichen Erzählsituation, deren unterhaltende Binnenerzählung auf den Rahmen verweist. Zwar nimmt Goethe auch das ›Nennen‹ auf, verbindet jedoch mit dem repräsentativen »wir« einen anderen Anspruch: »Eduard – so nennen
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Haischer, Hexameron (Anm. 7), S. 340. Wieland, Sämmtliche Werke (Anm. 6), S. 287–321. Vgl. ebenda, S. 219 und 279f., die Kommentare in der digressiven Rahmenerzählung des Hexameron. Wieland, Freundschaft und Liebe auf der Probe (Anm. 4), S. 29. Hierzu auch im ND Leipzig 1982 das Nachwort von Peter Goldammer, bes. S. 32. Vgl. Wieland, Sämmtliche Werke (Anm. 6), S. 250. Vgl. Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon [...]. Leipzig 1770. ND Darmstadt 1967, Sp. 2377–2380, hier: 2378. Wieland, Freundschaft und Liebe auf der Probe (Anm. 4), S. 50 und 52. Vgl. Wieland, Sämmtliche Werke (Anm. 6), S. 276 und 279. Wieland, Freundschaft und Liebe auf der Probe (Anm. 4), S. 7. Sämmtliche Werke (Anm. 6), S. 222.
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wir einen reichen Baron im besten Mannesalter«.15 Man kann darin noch eine Anknüpfung an die mündlichen, seit Boccaccio fingiert mündlichen Erzähltraditionen erkennen. Von besonderer Bedeutung scheint dabei jedoch das Wieland und Goethe verbindende Präsens. Darauf ist zurückzukommen. Die Nachbarschaft bzw. der Quellencharakter von Wielands Erzählung für Goethes Roman wird auch durch Goethes ursprüngliche Absicht berührt, zunächst eine der Anekdote benachbarte Novelle für den Wilhelm Meister zu schreiben,16 die sich dann zum Roman verselbständigt hat. Dass Goethe kein schlechter Kenner seiner Zeitgenossen im Allgemeinen und Wielands im Besonderen war, weiß man. Schließlich hat er auf Wielands Empfehlung reagiert und seine Iphigenie in Verse umgearbeitet17 oder, kaum dass er seinen Oberon (1780) gelesen – von Dichter zu Dichter –, Wieland einen Lorbeerkranz zukommen lassen.18 1804 geben Wieland und Goethe gemeinsam das Taschenbuch auf das Jahr 1804 heraus, das jene beiden Erzählungen aus dem damals noch Pentameron genannten Werk vorabdruckt.19 Die Erzählungen sind Goethe folglich bekannt. Publikationsgeschichtlich ist vielleicht nicht uninteressant, dass jenes Taschenbuch, genauso von Frommann in Jena gedruckt, bei Cotta in Tübingen wie die fünf Jahre später herausgekommenen Wahlverwandtschaften erschienen ist. 1805 wird Wielands Hexameron vollständig in seinen Sämmtlichen Werken bei Göschen in Leipzig veröffentlicht.20 Das schon beachtete Präsens ist in Nadines Erzählung durchgehalten: »Selinde (wie ich die jüngere von ihnen nennen will) vereinigt«, »Klarisse (so mag die zweyte der beiden Freundinnen heißen) kann, wenigstens neben Selinden, für keine Schönheit gelten«, »Es ist« usw.21 Wer die beiden Freundinnen beisammen sehe, werde »auf den ersten Anblick Selindens Liebhaber und Klarissens Freund«.22 In Eleganz der Sprache stehen die Weimarer Boccaccio kaum nach. Die Wielandische Disposition wird, wie von diesem vorletzten Blick auf Wielands Erzählung aus unschwer zu verfolgen, von Goethe mit den Gestal-
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 1. WA I, 20, S. 3. – Der Text des Romans folgt in der Weimarer Ausgabe der Ausgabe letzter Hand: Band 17. Stuttgart, Tübingen 1830. – Vgl. Wilhelm Meisters Lehrjahre VI. WA I, 22, S. 310: »Philo, so will ich ihn nennen«. Vgl. Gräf, Goethe über seine Dichtungen (Anm. 1), S. 363f. Vgl. Goethes Brief an Herder aus Rom, 13. Januar 1787. WA IV, 8, S. 134, sowie Gräf, Goethe über seine Dichtungen (Anm. 1), S. 176f. Vgl. Goethes Brief an Wieland vom 23. März 1780. WA IV, 4, S. 196. Das Taschenbuch auf das Jahr 1804 gibt Wieland als Verfasser der beiden Erzählungen an, während die Erstausgabe des Hexameron in Band 38 der Sämmtlichen Werke Wieland als Herausgeber kennzeichnet. Die Ausgabe der Sämmtlichen Werke erschien in 36 Bänden und 6 Supplementbänden, Leipzig 1794–1802, in vier parallelen Formaten (C1-4). Die Fortsetzung mit den Bänden 37–39, darunter dem Hexameron in Band 38 (1805), erschien allein in der Wohlfeilen Ausgabe (C 1: Oktav). Zu Wielands Anteil an Goethes Roman vgl. Gräf, Goethe über seine Dichtungen (Anm. 1), S. 417. Wieland, Freundschaft und Liebe auf der Probe (Anm. 4), S. 7, 9, 10. Wieland, Sämmtliche Werke (Anm. 6), S. 222, 225, 226 mit abweichender Absatzbildung. Wieland, Freundschaft und Liebe auf der Probe (Anm. 4), S. 9f. Sämmtliche Werke (Anm. 6), S. 225.
Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ – neu gelesen
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ten von Charlotte und Ottilie in eine andere Dimension gelenkt. Das heißt, er findet bei Wieland wohl ein Erzählmodell vor, das seinerseits schon auf die Unterhaltungen reagiert hat, das Goethe jetzt jedoch nicht nur überbietet, sondern für die Radikaldimension seines aus der mündlichen Erzähltradition herausgetriebenen Erzählens nutzt. Die vier Freunde und ihr zweymahliger Weiber- und Männer-Tausch gaben sodann (wie man denken kann) reichen Stoff zu allerley ernsten und scherzhaften Anmerkungen und Einfällen[.]
Und einer der Beteiligten war, wie Wielands Rahmenerzählung geradezu das Angebot einer Weiterbehandlung unterbreitet, der Meinung: eine von Nadinens Geist überschattete Schriftstellerin könnte diese Anekdote zu einem der artigsten Romane ausspinnen, die seit manchem Jahr in unsrer romanreichen, wiewohl sehr unromantischen Zeit zu Tage gefördert worden.23
Goethe gestaltet bekanntlich ein den Novellencharakter sprengendes Aggregat, in dem auktoriales Erzählen, in wörtlicher Rede wiedergegebene Gespräche, ein personaler Erzähler, erlebte Rede, Briefe, Tagebuchnotizen sowie eine Novelle ihren Ort haben. Dieses Aggregat will – gemäß der u. a. von Schiller in seiner Jenaer Antrittsrede benannten universalhistorischen Methode – zum System, »zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen«, erhoben werden.24 Dazu ist der Leser herausgefordert, woraus eine gewisse Komplementarität von Produktion und Rezeption spricht. Er sieht sich aber nicht nur heterogenen Textanteilen gegenüber, sondern bekommt es auch in den homogenen Textteilen mit hochkomplexem Erzählen zu tun. Der Leserlenkungsprozess wird nach Wielandischem Vorbild von Goethe insofern programmatisch erleichtert, als er nicht nur mit der Eröffnung zum Ausdruck bringt, wer hier das »Nennen« hat – »nennen wir« – , sondern es zugleich auch in präsentischem Gestus demonstriert, dem, wie noch zu zeigen sein wird, der Roman verhaftet bleibt: »Eduard – so nennen wir«. Damit wird der Blick auf das Reagenzglas freigegeben, in dem sich die folgenden Prozesse, diese eigentümliche Chemie der Liebe, ereignen. Und am Ende des Romans, wo im letzten Absatz ein Bild für die Zukunft gestiftet wird, indem die Liebenden im Gewölbe nebeneinander ruhen, das an zwei andere Liebende erinnert, an Romeo und Julia, die gleichfalls in einem Gewölbe, jedoch nach einem ganz anderen, wohl tragisch zu nennenden Liebestod zur Ruhe gekommen sind,25 an diesem Ende fragt sich der auktoriale Erzähler:
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Wieland, Freundschaft und Liebe auf der Probe (Anm. 4), S. 53. Vgl. Wieland, Sämmtliche Werke (Anm. 6), S. 280. Vgl. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789). In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Band 17. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, S. 373. Vgl. Shakespeare, Romeo und Julia V, 3. – Vgl. Kurt May, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als tragischer Roman. In: Ewald Rösch (Hrsg.), Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Darmstadt 1975 [Wege der Forschung CXIII], S. 263–271.
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Klaus Manger Was sollen wir, bei diesem hoffnungslosen Zustande, [...] gedenken [...]. Endlich fand man ihn [jenen erstgenannten Eduard] todt. [...] und wie er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.26
Da ist er nochmals, ein letztes Mal, der Nenner und Erzähler, der hier, in der verdeckten Rahmenkonstruktion, allerdings ins Präteritum wegtaucht. Er bedarf dieses erzählerischen Griffes ins Imperfekt, um zum Schluss die Refraktion in die Zukunft, gewissermaßen aus dem Reagenzglas hinaus, bewerkstelligen zu können. Zunächst: »So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt über ihrer Stätte«. Sowie dann mit dem letzten Satz ein Blick in die Zukunft: »welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen«.27 In Anlehnung an die zum Schluss von Wielands Hexameron beobachtete Refraktion in die Realität beobachten wir hier gleichfalls eine durch ihren Tod zusätzlich beglaubigte Wirklichkeit der Liebenden. In Parallele zum Schluss der Unterhaltungen, Goethes Märchen, wird mit dem letzten Satz der Wahlverwandtschaften eine Refraktion in die Fiktion vollzogen. Freilich ist es eine aus der innerfiktional fingierten Realität. Die nazarenische Kapelle mag die Anmutungsqualität christlich tröstlicher Heilsgewissheit assoziieren lassen. Rituell oder dogmatisch gedeckt ist diese Folgerung, auch wenn Eduards Tod entgegen der Mutmaßung kein Selbstmord war, so wenig wie die Bestattung Werthers, die kein Geistlicher und entgegen der Vorlage auch kein Vortragskreuz begleitete.28 Auch bei Ottiliens Bestattung ist neben dem Blumenschmuck, dem von einem Glasdeckel geschlossenen Sarg und der immerbrennenden Lampe kein Zeichen zu erkennen, das auf Auferstehung und Erlösung hindeutete.29 Ein einziges Mal heißt der Begräbnisort auch »Auferstehungsfeld«.30 Selbst das tote Kind Otto, zum einen in »wollne Tücher« eingehüllt, zum anderen unter »grünseidne[r] Decke«,31 wird mit keinen Heilszeichen versehen sowie »[g]anz in der Stille« nach der Kapelle gesendet.32 Die sonderbare Situation ist zum Schluss des Romans die, wenn wir uns vergewissern, was im Reagenzglas dieses Experimentalromans vor sich gegangen, dass in einer völlig undramatischen Sprache sich Verhältnisse entwickelt haben, die ein Ehepaar zeigen, das zunächst durch die Einwilligung in die Scheidung, schließlich durch den Tod des Ehemannes zerrissen ist, die zwei innig befreundete Frauen zeigen, die sich beide als Mörderinnen bezichtigen und deren Jüngere dafür mit dem Tode büßt; Verhältnisse, in denen die Mutter allein übrig bleibt, die am Tod des Kindes schuldig gewordene Selbstmörderin am Ende eine »Heilige« genannt und der gedankliche Ehebrecher, der in Liebe zu der inzwischen dahingegangenen Heiligen verging, »selig« genannt wird. Über dem Liebesgewölbe des Todes, wo die geliebte Ottilie
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 18. WA I, 20, S. 415f. Ebenda, II, 18. WA I, 20, S. 416. Werther. WA I, 19, S. 191. Die Wahlverwandtschaften II, 18. WA I, 20, S. 411. Vgl. ebenda, II, 2. WA I, 20, S. 209. Ebenda, II, 14. WA I, 20, S. 364f. Ebenda, II, 15. WA I, 20, S. 372.
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sowie Vater und Sohn Otto eine Alleinbestattung erhalten haben, errichtet die überlebende Charlotte ansehnliche Stiftungen für Kirche und Schule.33 Eine Schriftstellerin könnte, wie es in Wielands Freundschaft und Liebe auf der Probe heißt, diese Anekdote zu einem der artigsten Romane ausspinnen, »die seit manchem Jahr in unsrer romanreichen, wiewohl sehr unromantischen Zeit zu Tage gefördert worden«.34 Diese Anregung lösen Die Wahlverwandtschaften ein. Sogar Wielands Modell, eine Hauptgestalt der Rahmenerzählung zum Protagonisten einer Binnenerzählung zu machen, greift Goethe auf. Nach beendeter Erzählung der Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder ist Charlotte »höchst bewegt«, weil die ihr bekannte Geschichte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarin »wirklich zugetragen« hat.35 Aber was machen sie aus den Liebeswirren, die die wohl auch in einem höheren Sinne ›wahre Geschichte‹ vor unseren Augen ausbreitet? Wielands Refraktion in die Wirklichkeit scheinen Goethes ›harte Fügungen‹ gleichfalls zu folgen. Vor dem Hintergrund der Zeitereignisse nach 1800 – genannt seien nur die Folgen der Französischen Revolution, der Untergang des Alten Reiches, der Wirbelwind Napoleon, ohne das weiter zu verfolgen – beziehen sich Wieland und Goethe offenbar auf die Poetisierungsprogramme der jüngeren Generation der Romantiker, auch auf ihre vom Adel auf das Bürgertum übertragene Libertinage, der sie den existentiellen Ernst reiner Liebesverhältnisse entgegensetzen.36 Die sinnlich-sittliche Konstitution des Menschen lässt selbst in dem von Wieland vorgeführten Liebestausch nur den Rücktausch ersehnen. Die menschliche Disposition erlaubt keine Verschiebungen wie bei »Schachfiguren«, von denen Thomas Mann spricht.37 Goethe treibt demgegenüber das in der einen Natur vonstatten gehende Experiment bis in die inneren Verletzungen, körperlichen Kränkungen und in die Todeszone. Darin bekundet sich eine tiefe Einsicht in die Probleme der Psychosomatik. Goethe übersteigt das Format der Anekdote, wie sie Wieland vorgibt, weil der Wirklichkeitsbezug zwar erhalten bleibt, auch der Gestus des mündlichen Erzählens, und dieser sogar im Präsens: »nennen wir«. Nur der Umfang passt nicht mehr zu der erwartbaren Kürze der Anekdote. Vom Beginn des Romans an, da der Blick auf den aufpfropfenden Eduard im Frühjahr fällt, bis hin zum Ende, da die Liebenden im Gewölbe ruhen, ist ein temporaler Grundzug im Präsens zu erkennen, der auch Wielands Erzählungen beherrscht. Dort ist das wie bei Boccaccio der unterhaltenden mündlichen Erzählsituation verpflichtet. Wie ist es in Goethes Roman? Um das beantworten zu können, bedarf es ein wenig der Statistik, auf die zurückzukommen ist. 33 34 35 36
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Vgl. ebenda, II, 18. WA I, 20, S. 416. Wieland, Freundschaft und Liebe auf der Probe (Anm. 4). Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 11. WA I, 20, S. 336. Vgl. Klaus Manger, Dichter und Schriftsteller: Schreibende Bürger, Nationalautoren und Weltbürger im Ereignisraum von Weimar und Jena um 1800. In: Gonthier-Louis Fink / Andreas Klinger (Hrsg.), Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800. Frankfurt am Main 2004, S. 155–200, bes. S. 159–166. Thomas Mann, Zu Goethe’s ›Wahlverwandtschaften‹ (1925). In: Ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band 9. Frankfurt am Main 21974, S. 174–186, hier S. 179.
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Wir bewegen uns als Menschen, als Lebewesen in einem unendlichen Zeitstrom mit mehr oder weniger gleichbleibender Fließgeschwindigkeit. Bei besonderen Wahrnehmungen halten wir inne; wenn jemand geboren wird, nennen wir das ein freudiges Ereignis, und wenn jemand stirbt, sagen wir, das Leben geht weiter. Dem können Fiktionen gegenüber liegen, die, wie Aristoteles sagt, einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss haben.38 Mit dem vergegenwärtigenden Zeitabschnitt der Wahlverwandtschaften, da Eduard anfangs plötzlich vor uns auftaucht und dann unsere Aufmerksamkeit bis zu seinem Ende auf sich zieht, blicken wir auf einen Ausschnitt menschlichen Lebens, der uns zu Zeugen spezieller, konkreter Entwicklungen und Verwicklungen macht, deren Brisanz uns gewissermaßen in Großaufnahme vor Augen geführt wird. Es ereignet sich vor unseren Augen wie in einem Reagenzglas, wie »hinter Glas«, sagt Paul Stöcklein.39 Und dieses Naherücken in Großaufnahme ist einem erzählerischen Kunstgriff zu verdanken, der aus der von Boccaccio begründeten Gattungstradition von Rahmen- und Binnenerzählung herrührt.40 Deshalb sind die den Wahlverwandtschaften vorausgegangenen gesprächsgeprägten Erzählwerke der Unterhaltungen und des Hexameron nicht unbedeutend. Aber Goethe geht darüber hinaus und transponiert deren Erzählduktus in die Romanform, die somit eine multiperspektive Vergegenwärtigung in Großform darstellt.41 Statistisch sieht das so aus: die zweimal 18 Kapitel des Romans verteilen sich annähernd symmetrisch.42 In der Mitte wird explizit jener Kunstgriff der erzählerischen Vergegenwärtigung reflektiert, da der Roman hier an die Grenze von Ottiliens Innerem gelangt und der Erste Teil deshalb schließt: »Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewährt uns ihr Tagebuch, aus dem wir [d.i. das Wir des Anfangs: »nennen wir«] einiges mitzutheilen gedenken«.43 Nun könnte man erwarten, dass der Zweite Teil unmittelbar mit Auszügen aus dem Tage38 39
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Aristoteles, Poetik 1450 b. Paul Stöcklein, Wege zum späten Goethe. Dichtung, Gedanke, Zeichnung. Interpretationen um ein Thema. Darmstadt 31970, S. 13. Vgl. Peter Michelsen, Wie frei ist der Mensch? Über Notwendigkeit und Freiheit in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Jahrbuch 113 (1996), S. 139–160, hier S. 140. Die Bezüge des Romans zu den mündlichen Erzähltraditionen einerseits und zu Goethes autobiographisch geprägtem‚ ›lebendigen Archiv‹ andererseits sind unterbelichtet. Vgl. jetzt Stefan Blechschmidt, Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte. Heidelberg 2009. – Außerdem Peter Stocker, Artikel ›Rahmenerzählung‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 3. Berlin, New York 2003, S. 214–216. Vgl. Heinz Schlaffer, Artikel ›Anekdote‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 1. Berlin, New York 1997, S. 87–89; Walter Ernst Schäfer, Anekdotische Erzählformen und der Begriff Anekdote im Zeitalter der Aufklärung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 104 (1985), S. 185–204. In der zitierten Weimarer Ausgabe, Band 20, umfassen die beiden Teile 196 und 219 sowie in der Erstausgabe von 1809 306 und 340 Seiten. – Vgl. Edith Aulhorn, Der Aufbau von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ (1918). In: Ewald Rösch (Hrsg.), Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Darmstadt 1975 [Wege der Forschung CXIII], S. 97–124. Außerdem Judith Reusch, Zeitstrukturen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Würzburg 2004. Dazu die Rezension von Olav Krämer. In: Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 337–339. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 18. WA I, 20, S. 196.
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buch fortfährt. Die Konstruktion des Romans verlegt die Auszüge jedoch erst in das zweite Kapitel, wo der erste Satz der präsentischen Aufzeichnungen kunstvoll, wenn auch an dieser Stelle unverfänglich und oberflächlich unerkennbar den Romanschluss alludiert. Denn Ottiliens erste mitgeteilte Reflexion lautet: »Neben denen dereinst zu ruhen die man liebt, ist die angenehmste Vorstellung welche der Mensch haben kann, wenn er einmal über das Leben hinausdenkt«.44 Damit ist auch implizit der unmittelbar vorher bedachte rote Faden der Neigung und Anhänglichkeit ausgelegt, der, wie es – in einer der zahlreichen poetologischen Selbstreflexionen des Romans – heißt, »alles verbindet und das Ganze bezeichnet«,45 wohlgemerkt auch dieses im Präsens. Wenn Helmut Hühn im Katalog zu der den Wahlverwandtschaften gewidmeten Weimarer Ausstellung bemerkt: »Der Zusammenhang des Erzählens, und damit der des ganzen erzählten Werkes, stellt sich – wie bei einer Melodie – erst sukzessive her«,46 so liegt das Geheimnis dieses Sich-Herstellens in der vergegenwärtigenden Erzählform, die, das sei schon einmal angedeutet, den Leser an der Hand hat. Den Zweiten Teil des Romans, in dem, versetzt ins zweite Kapitel, Ottiliens Tagebuch erstmals auftaucht, eröffnet eine gleichfalls in präsentischem Duktus gehaltene Erzählerreflexion: Im gemeinen Leben begegnet uns oft was wir in der Epopöe als Kunstgriff des Dichters zu rühmen pflegen, daß nämlich, wenn die Hauptfiguren sich entfernen, verbergen, sich der Unthätigkeit hingeben, gleich sodann schon ein zweiter, dritter, bisher kaum Bemerkter den Platz füllt, und indem er seine ganze Thätigkeit äußert, uns gleichfalls der Aufmerksamkeit, der Theilnahme, ja des Lobes und Preises würdig erscheint.47
Die Stelle, auch auf den Romananfang beziehbar, bereitet den Auftritt des Architekten vor, der im folgenden für die Ausgestaltung von Kirche und Grabstätten nützlich wird und damit gleichfalls auf den Romanschluss vorausweist. Dar über hinaus aber reflektiert die Eröffnung auch den Kunstgriff des Dichters, in der unendlichen Fülle des Kommens und Gehens die Auf- und Abtritte der Protagonisten sowie ihre Anziehungen und Trennungen, eben generell ›Wahlverwandtschaften‹, zu regeln. Wir ahnen den Aufwand, den das Schematisieren der Konstruktion gekostet hat – und dann vor allem jenen, der zu treiben war, um die Spuren zu verwischen, damit das Künstliche natürlich erscheine. Und wir erkennen zusehends, von welcher Bedeutung für den Roman das verdichtete Präsens ist. Kein Erzählwerk Goethes, seine Autobiographie eingeschlossen, ist dank der hier wörtlich zu nehmenden Präsentation so wirklichkeitsnah, so aktuell wie
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Ebenda, II, 2. WA I, 20, S. 213. Ebenda, II, 2. WA I, 20, S. 212. Helmut Hühn, Vom »roten Faden«. In: »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hrsg. von Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 106. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 1. WA I, 20, S. 199.
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Die Wahlverwandtschaften. Was sich in ihnen ereignet, ereignet sich inmitten der mitgelieferten Vorgeschichten – wie vielfach in Gedichten – jetzt, im Augenblick der Lektüre. Deshalb ist nicht unerheblich, welche Erzählanteile das Präsens wirklich hat. Die vier Briefeinlagen im Ersten und die zwei Briefeinlagen im Zweiten Teil, darunter »Eduard an Charlotten« (I, 16) sowie »Eduard an Ottilien« und »Ottilie den Freunden« (II, 16, 17), stehen naturgemäß im Präsens, genauso wie die sechs Einschübe »Aus Ottiliens Tagebuche« (II, 2, 3, 4, 5, 7, 9). Daneben enthält der Roman zahlreiche wörtliche Redeanteile, die in die Unmittelbarkeit von gegenwärtigen Gesprächen versetzen. Und in den präteritalen Erzählanteilen finden im Ersten Teil nahezu 30 und im Zweiten Teil an die 50 präsentische Wechsel statt, so dass insgesamt die präsentische Erzählstruktur deutlich überwiegt. Selbstverständlich verlangt die Temporalstruktur in ihrer linearen Entfaltung Rückblicke auf die Vorgeschichte, Nachzutragendes aus simultanen Abläufen oder Ergänzungen mit Rückgriffen auf geschichtliche Voraussetzungen. Wenn wir uns indessen die Spezifik dieses literarischen Kunstwerks vor Augen führen, so bleibt der präsentische, der vergegenwärtigende Grundzug ein Charakteristikum von Goethes Roman. Schon um das zu beobachten, ist er neu zu lesen. Trotz des nah bzw. unmittelbar eingenommenen Beobachterstatus, den der Leser zu Goethes Wahlverwandtschaften einnimmt, wird er, wo die Tempuswechsel oder Textartenwechsel auftauchen, nicht illusionistisch vereinnahmt. Anders gesagt, resultiert die Beobachtbarkeit des prozessualen Geschehens nicht aus einer (schon gar nicht filmischen) Illusionstechnik, sondern aus einer vielfach digressiven Reflexionstechnik. Auf diese treffen wir am deutlichsten in der Spiegelung der Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern, aber auch in den Maximen und Reflexionen von Ottiliens Tagebuch. Im Kontext einer Komödienbetrachtung heißt es, wir sehen die Heirat als letztes Ziel eines durch mehrere Akte hindurch verschobenen Wunsches. Und da dieses Ziel erreicht ist, fällt der Vorhang. »In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fortgespielt«.48 Die Fiktion des Romans rückt tatsächlich nah an die Wirklichkeit heran bzw. stellt sie unmittelbar dar. Deshalb reihen sich Ehereflexionen an die Komödienbetrachtung, die zwar komisch scheinen, aber nicht ohne Realitätsbezug sind. Etwa ob eine Ehe nur für fünf Jahre geschlossen werden solle, oder ob eine Ehe tatsächlich erst dann für unauflöslich gelten solle, wenn entweder beide Teile (oder wenigstens der eine Teil) zum drittenmal verheiratet wären.49 Die kontextuelle Tragweite solcher scheinbar absurden Überlegungen, denen gegenüber die Schicksalsverhältnisse des Romans eine ganz andere Sprache sprechen, ist dennoch sofort bemerkbar, weil wir dadurch auf die Vorgeschichten des Handlungsrahmens gewiesen werden. Aus dieser Vorgeschichte wissen wir von Charlottens früherer Verbindung, die der mit Eduard vorausliegt und aus der die Tochter Luciane hervorgegangen ist.
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Ebenda, I, 10. WA I, 20, S. 111. Ebenda, I, 10. WA I, 20, S. 112 und 114.
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Ihre aktuelle Verbindung ist die mit Eduard, aus der das Kind Otto hervorgeht. Und die dritte Verbindung, die dann als unauflöslich zu gelten hätte, wäre die mit dem Hauptmann bzw. Major. Mit dem gleichfalls jung verwitweten Eduard selbst verhält es sich ähnlich. Charlotte hatte seine neuerliche Verbindung mit Ottilie schon einmal angebahnt, ihn dann jedoch selbst zum Mann genommen. Da sie neuerdings in die Scheidung einwilligt, stünde der Weg für Eduard-Otto mit Ottilie offen, wenn diese nicht ein Gelübde getan hätte, das diesen dritten Anlauf in scharfem Antagonismus zur Komödie nur in der Unauflöslichkeit des Liebestodes besiegelt. In Ottiliens Tagebuch findet sich eine Bemerkung, die sich als ein poetologisches Motto über Goethes Roman setzen ließe. Es lautet: »Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst«.50 Der Roman als Schachspiel wäre ein Ausweichen. Aber die schicksalhafte Verknüpfung von Personen mit anderen Personen, auch nur für vergleichsweise kurze Zeit, lässt das ganze Ausmaß menschlichen Lebens bis in Extremsituationen verfolgen, auch wenn in dem Passepartout der Romanerzählung keiner durch äußere Gewalteinwirkung zu Tode kommt. Selbst ein heilsgeschichtlicher Fluchtpunkt wird vermittels eines der Lebenden Bilder in diesen Kunstraum mit einbezogen. Ottilie als »scheinbare[.] Mutter« mit Kind,51 in ›corregiescity‹, wo »alles Licht vom Kinde« ausgeht,52 gibt das »schöne Gebilde«, für das der Künstler sich vorgenommen hatte, das »erste Nacht- und Niedrigkeitsbild in ein Tag- und Glorienbild zu verwandeln«.53 Der auf das Schloss gekommene Gehülfe, der dieses lebendigen Gemäldes ansichtig geworden ist, wehrt sich gegen solche Vermischung des Heiligen mit dem Sinnlichen. Demnach sollte man sich offenbar kein Bild von Gott machen. Oder in seinen Worten: »Das Höchste, das Vorzüglichste am Menschen ist gestaltlos, und man soll sich hüten es anders als in edler That zu gestalten«.54 Wir sehen aber, wie sich die sinnlichen, die religiösen, die geschichtlichen oder künstlerischen Bezüge hereindrängen, wie sie, da es um menschliche Wahrnehmung und Darstellung geht, sich miteinander verdrillen, dass selbst der rote Faden immerzu verloren zu gehen droht. Die Frage wird unausweichlich: Liegt das am Roman oder am Leser? Oder hat der Autor, der sagt, er habe hier nach einer »durchgreifenden Idee« gearbeitet,55 mit den Wahlverwandtschaften eine »verstandene Welt«56 gestaltet, die zwar aus dem Laboratorium Aufklärung
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Ebenda, II, 5. WA I, 20, S. 262. Ebenda, II, 6. WA I, 20, S. 272; vgl. auch den Beitrag von Reinhard Wegner in diesem Band. Ebenda, II, 6. WA I, 20, S. 271. Vgl. Laurence Sterne, Tristram Shandy III, 12. Vgl. Correggios Ölgemälde »Heilige Nacht« (Dresden). Ebenda, II, 6. WA I, 20, S. 273. Ebenda, II, 7. WA I, 20, S. 278. Gespräch mit Eckermann vom 6. Mai 1827. In: Gräf, Goethe über seine Dichtungen (Anm. 1), S. 482. Horst-Jürgen Gerigk, Unterwegs zur Interpretation. Hinweise zu einer Theorie der Literatur in Auseinandersetzung mit Gadamers ›Wahrheit und Methode‹. Hürtgenwald 1989, S. 201–225.
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herrührt, aber aufgrund ihrer dauerhaften Aktualität auch für den Leser des 21. Jahrhunderts eine Herausforderung bedeutet? Selbst in den mit größter Sorgfalt gestalteten Wahlverwandtschaften, deren unter die Lupe genommener, analysierter Gesellschaftsausschnitt, wie übrigens Wielands Erzählungen bzw. Anekdoten auch, irgendwo zwischen den Experimentalstücken von Pierre Carlet de Marivaux57 und Anton Tschechow58 anzusiedeln ist, ist nicht alles Mitgeteilte gleich bedeutungsvoll. Aber alles ist mit einem bedeutungsvollen Wort aus dem Roman »wechselseitig« beziehungsreich: »Jede Anziehung ist wechselseitig«.59 Mit typisch Goethe’schen Komplementärformeln könnten wir auch sagen, mehr oder weniger seien seine Gestalten bildend gebildet, liebend geliebt, umfangend umfangen oder erkennend erkannt. Wir können beispielsweise gedanklich unermesslich umfangen – mythisch, kosmologisch, kosmogonisch, heilsgeschichtlich usw. – und bleiben doch von der Natur umfangen, wie uns die im Roman auch nahegebrachte Endlichkeit veranschaulicht. Das Neue ist, dass Goethe dieses Phänomen auf einer doppelten Ebene, der der Produktion wie der der Rezeption, reflektiert. Das scheint ihm beim Schematisieren die größte Konzentration abverlangt zu haben. Musils Fragment vom Mann ohne Eigenschaften (1930ff.) ist dieser zeitraubenden Mühe wegen nicht fertiggestellt worden.60 Und Arno Schmidts Zettels Traum (1970) verdrillt sogar drei lineare Erzählstränge, wenn wir die Ränder nicht marginalisieren wollen.61 Goethes Ebene der Produktion müssen wir hier nicht weiter verfolgen. Mit dem Kunstgriff der Vergegenwärtigung bezieht er in die Attraktions- und Repulsionskräfte den gesamten von ihm beobachteten Lebensraum der Menschen mit ein, der sich beispielsweise über die Fakultäten des menschlichen Wissens systematisieren ließe.62 Die unterschiedlichsten Fächer stoßen im Roman auf Wiedererkennbares, der kunstgeschichtlich, historisch, sozialgeschichtlich, naturwissenschaftlich, medizinisch, theologisch ergiebig ist, ohne dass das
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Zum Marivaudage und zur Befreiung aus der Sprache der Konvention zu einer Sprache des Herzens vgl. Frédéric Deloffres, Une Préciosité Nouvelle. Marivaux et le Marivaudage. Etude de Langue et de Style. Paris 1955; Brigitte Alsleben, Marivaux und die deutsche Bühne des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main, Bern 1977. Zum undramatischen Drama des Alltags bei Tschechow vgl. etwa Maria Deppermann, Anton Tschechow. ›Onkel Wanja‹. In: Bodo Zelinsky (Hrsg.), Das russische Drama. Düsseldorf 1986, S. 147–161, hier S. 160 zur dramatischen Pointe des Fehlgriffs oder zur Größe des Verhinderns. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 7. WA I, 20, S. 287; vgl. ebenda, II, 10. WA I, 20, S. 327 (in der Novelle) oder I, 1. WA I, 20, S. 6, 13, und II, 13. WA I, 20, S. 353 u. ö. sowie die Erläuterung der chemischen ›Wahlverwandtschaften‹ I, 4. WA I, 20, S. 52–57. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman [1930ff.]. In: Gesammelte Werke I. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978. Arno Schmidt, Zettels Traum. Stuttgart 1970. Vgl. z. B. Christoph Martin Wieland, Geschichte der Abderiten. Sämmtliche Werke (Anm. 6), Band 19 und 20. Vgl. Wieland-Handbuch, S. 295–305. – Vgl. Jeremy Adler, »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Chemie seiner Zeit. München 1987; Gabriele Brandstetter (Hrsg.), Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Freiburg im Breisgau 2003.
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Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. Das »Menschengebild« trage am »vorzüglichsten und einzigsten das Gleichniß der Gottheit an sich«, hält Ottiliens Tagebuch fest.63 Und welche Bedeutung auch die Schlüsselwissenschaft der Aufklärung, die Anthropologie, noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat, geht aus dem im Roman zitierten Essay on man (1734/35) von Alexander Pope hervor: »das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch«.64 Goethes Ausschnitt ist universal repräsentativ, wenigstens auf der Produktionsebene. Wie verhält es sich, so ist ergänzend bei dieser Relektüre von Goethes Roman zu fragen, auf der Rezeptionsebene? Spielt diese für Goethe überhaupt eine Rolle? Da ist wohl die größte anzunehmen. Das wäre bei dem neben Wieland in hohem Maße gattungsbewussten Autor auch nicht anders zu erwarten. Sonst könnte man sich zudem die Vielfalt seiner Deutungsmöglichkeiten gar nicht erklären. Anziehung und Abstoßung auch des Lesers sind bei der erzählmagischen Vergegenwärtigung besonders groß. Der Leser bemerkt sofort, wie wechselseitig beziehungsreich das Erzählte ist. Dafür bringt er das von Goethe beobachtete Vermögen mit, aus welchen Gründen auch immer diesen Beziehungsreichtum zu verfolgen. Die Neurowissenschaften sprechen heute von einem »kognitiven Imperativ«, der den Menschen auf Erkenntnis und Zusammenhangerkenntnis leitet.65 Das führt in einen Prozess des Confabulierens. Wir ordnen die auf uns eindringenden Assoziationen, Eindrücke, Handlungsverknotungen nicht unbedingt linear an, sondern sie überlagern sich und konfligieren miteinander. Das kann zu tumultähnlichen Szenen führen, in denen wir Mühe haben, Herr oder Frau der Lage zu bleiben. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel bietet Goethes Roman: Soeben hat Ottilie das Kind aus dem Wasser gezogen, als es aufgehört hat zu atmen. Da fährt der Bericht im Präsens fort: »Eben hört man Charlotten vorfahren«.66 Wer hört das? Und wie will, wer vorfahren hört, auch schon wissen, dass es Charlotte ist? Der Erzähler bezieht in seine zuspitzende Konstruktion ein, dass jetzt die Mutter mit ihrem toten Kind konfrontiert wird. Es entsteht so, wie die Goethe’sche Konstruktion nahelegt, für den Zusammenhangssucher ein Gegenentwurf auch zum Lebenden Weihnachtsbild. Die erschöpfte Ottilie ist aufs Angesicht über den Teppich hingestürzt. Ein Mädchen stürzt Charlotte mit Geschrei und Weinen entgegen. Indem obendrein der Chirurg hereintritt, erfährt sie alles auf einmal. So eine Szene, so ein Zusammentreffen sind typisch für die Gestaltung. Mittlers Wort vom greisen Simeon und vom Geistlichen Tod veranschaulicht das, oder Ottiliens Auftauchen, als gerade von Ehebruch die Rede ist.67 Charlotte verhält sich hier – wie der Leser – rezeptiv. In diese Situation, in der sie geradezu stoische constantia bewahrt, in diese Trauerszene kommt obendrein der Major, um Charlotte den durch Eduard ausgelösten Zweck seines
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 7. WA I, 20, S. 293. Ebenda; vgl. Alexander Pope, Essay on man II, 2. Vgl. Die Wahlverwandtschaften I, 1. WA I, 20, 8. – Vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen. Grundkurs Soziobiologie. München 2007. Vgl. ebenda, II, 14. WA I, 20, S. 363. Ebenda, II, 8. WA I, 20, S. 301; II, 18. WA I, 20, S. 404.
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Kommens zu gestehen. Es geht ausgerechnet jetzt um seine Verbindung mit Ottilie, wobei der Major auf seine eigene Verbindung mit Charlotte hofft. Tatsächlich willigt sie in die Scheidung ein, bezichtigt sich aber dabei, das Kind durch ihr Zaudern und Widerstreben getötet zu haben. Es seien gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornehme, sagt sie. Dem Major bleibt sie die Antwort schuldig und setzt hinzu: »Wir haben nicht verschuldet unglücklich zu werden; aber auch nicht verdient zusammen glücklich zu sein«.68 Wenn wir nochmals auf die Temporalstrukturen des Romans zurückblicken, ist nicht zu verkennen, dass Die Wahlverwandtschaften auf eine ganz spezifische Weise ein Zeitroman sind. Zwar bietet Goethe auch das von ihm beobachtete Gesellschaftsbild, es hätte aber des enormen Konstruktionsaufwandes nicht in dem Maße bedurft, wenn nicht zugleich die Dissoziierbarkeit von Vergangenheit und Gegenwart in Natur und Kultur, wie sie dem Menschen eigen ist, in erheblichem Maße vorgeführt würde. In Abwandlung des berühmten Parmenides-Wortes muss man deshalb sagen, Denken, Fühlen und Sein sind hier nicht dasselbe.69 Die Perspektive des Erzählredaktors macht das unmissverständlich deutlich. Die als »doppelte[r] Ehbruch«70 charakterisierte Vereinigung der Eheleute lässt Eduard nur Ottilie in seinen Armen halten, während Charlotte der Hauptmann vor der Seele schwebt: »und so verwebten [...] sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durch einander«.71 Die Stelle ist so bedeutend, weil Inneres und Äußeres, Einbildungskraft und Wirklichkeit, Abwesendes und Gegenwärtiges auch poetologisch reflektiert erscheinen, wie aus dem auf lat. textum bezogenen »verwebten« sichtbar wird. Die innere Neigung, die Einbildungskraft hätten »ihre Rechte« in der Lampendämmerung sogleich über das Wirkliche behauptet. Damit ist die Wucht von Poetisierungsvermögen und Fiktionsbereitschaft klar bezeichnet. Demgegenüber droht das Wirkliche ins Hintertreffen zu geraten. Aber sofort meldet sich mit einem adversativen »doch«, durch das konjunktionale »Und« betont, das Redaktorpräsens zu Wort: »Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben«.72 Die Beobachtersituation macht nicht nur die vorübergehende Entfernung der Liebenden aus ihrer Wirklichkeit transparent, sondern holt in weitem Vorgriff auf die natürliche Wirkung, die gezeitigte Frucht der Liebe, das ungeheure Recht der Gegenwart 68 69
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Ebenda, II, 14. WA I, 20, S. 368. Vgl. Parmenides, Fragment 3. In: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch-Deutsch. Hrsg. von Hermann Diels und Walther Kranz. 3 Bde. Dublin, Zürich 121966, Band 1, S. 231; Parmenides, Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente, griechisch und deutsch, hrsg. von Uvo Hölscher. Frankfurt am Main 1969, S. 17. – Vgl. Johannes Twardella, Experimente im Treibhaus der Moderne. Versuch einer kommunikationstheoretischen Analyse von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Neophilologus 83 (1999), S. 445– 460; Giovanni Sampaolo, »Proserpinens Park«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Selbstkritik der Moderne. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Stuttgart, Weimar 2003. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 13. WA I, 20, S. 358. Ebenda, I, 11. WA I, 20, S. 131. Ebenda; vgl. auch den Beitrag von Elisabeth von Thadden in diesem Band.
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gedanklich in diesen Kontext. In ihm treten innere Neigung und äußere Wirksamkeit klar auseinander. An dieser Stelle tritt gerade in der Augenblicksüberschneidung von körperlicher Vereinigung und gedanklicher Entzweiung die Wirkmächtigkeit der Natur am stärksten zutage, weil sie sich mit dem aus der Vereinigung hervorgehenden neuen Leben Bahn bricht. Natürliche Metamorphosen lassen sich weder rückgängig noch ungeschehen machen. Das ist das Ungeheure am Recht der Gegenwart. Darin wird deutlich, wie weit Phantasie und Erfahrung auseinander treten können, ohne dass sich der der lebendigen Natur zu zollende Tribut mindern ließe. Wie hier die Gegenwart, lässt sich später im Roman die Zeit ihr Recht nicht nehmen. Es geht um die Zeitlichkeit des Menschen. Die ersten Mitteilungen »Aus Ottiliens Tagebuche« denken über das Leben hinaus. »Zu den Seinigen versammelt werden« sei ein so herzlicher Ausdruck.73 An dieser Stelle deutet er noch unmerklich bereits auf das Romanende voraus. Abgetretene Grabsteine und über ihren Grabmälern zusammengestürzte Kirchen könnten einen das Leben nach dem Tode als ein zweites Leben glauben machen, in dem man leicht länger verweile als in dem »eigentlichen lebendigen Leben«. Aber auch dieses Bild verlösche, lautet der schonungslose Einwand gegen das Transzendieren. »Wie über die Menschen so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen«.74 In diese allmächtige Zeit graben sich die Temporalstrukturen des Romans ein. Sie sind Spuren wie auch immer gelebten Lebens. Auf der einen Seite entsteht auf natürlichem Wege neues lebendiges Leben, auf der anderen Seite stehen die Leistungen der Kultur, die Architektur, bildende Kunst, Denkmälerpflege. Während Frauen mehr auf Zusammenhänge, denken Männer mehr auf das Einzelne und Gegenwärtige.75 Leben, lebende Formen, Lebendigkeit sollten Ziel des Künstlers sein. Grabstättenbildnisse aber erinnern Charlotte, weil sie auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes verweisen, »wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren«.76 Das Recht der Gegenwart lenkt auf die Besonderheit eines individuellen Lebens, das aus Sicht seines Beobachters gleichwohl im allgemeinen Gang der Natur gebunden bleibt. Diese Spuren der vier sich im Kind Otto kreuzenden Biographien verwebt der Roman zu einer Einheit, indem er die flüchtigen Berührungen zwischen Attraktion und Repulsion verfolgt. Indem der Leser diese vom beobachtenden Redaktor gelegten Spuren verfolgt, wird ihm nicht nur eine Entscheidung für das lebendige Leben nahegelegt, sondern auch verdeutlicht, dass dieses nur als gegenwärtiges, zu gewärtigendes seine ganze Strahlkraft erhält. Die aus ihrer Bahn geschrittene Ottilie dagegen, die, wie sie entsagungsvoll das Zusammenhängende77 bedenkt, ihre Gesetze gebrochen hat, sieht ihre neue Bahn nurmehr als Todesweg vorgezeichnet.78 73 74 75 76 77 78
Vgl. ebenda, II, 2. WA I, 20, S. 213–215. Ebenda, II, 2. WA I, 20, S. 215. Ebenda, I, 1. WA I, 20, S. 8. Ebenda, II, 1. WA I, 20, S. 206. Vgl. ebenda, I, 1. WA I, 20, S. 8. Ebenda, II, 14. WA I, 20, S. 370. – Vgl. Sheila Dickson, Two sides of an anorexic coin in ›Die Wahlverwandtschaften‹ and ›Die Verwandlung‹: Ottilie as Heilige, Gregor as Mistkäfer. In: Orbis litterarum 54.3 (1999), S. 174–184.
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Goethes spezifische Gestaltung des Zeitromans ist zugleich eine Demonstration. Hinter der in Assoziationen, Projektionen, innere Neigung, Einbildungskraft auseinandergefalteten prallen Gegenwart steht das entschiedene hic et nunc des Augenblicks, dem auszuweichen einem Herkules am Scheideweg verführerisch erscheinen mag.79 Sicher sei Anhänglichkeit »an irgend einen Mann« ein sehr hübscher Zug an den Frauen, aber diese gute Eigenschaft, mutmaßt die Baronesse, besitzen vielleicht die Männer noch mehr. Genau deshalb habe eine Freundin aus früherer Neigung möglicherweise mehr Gewalt über einen Mann wie den Grafen als »die Freundin des Augenblicks«.80 Derlei genaue Beobachtungen sind Legion. In ihnen tritt des Verfassers anthropologische Kenntnis genauso zutage wie seine aufklärerische Praxis, metamorphotische Spuren im Zusammenleben der Menschen zu verfolgen. Dabei das Präsens des Augenblicks als Dominante in der Gestaltung zu behaupten, heißt, der Gegenwart ihr ungeheures Recht einzuräumen. Die Transzendierungen, Fiktionsbildungen, Ausflüchte in Surrogate oder Formen des Eskapismus vermeiden die Glücks- bzw. Unglücksmomente, die aus bewusst erlebter Gegenwart resultieren. Das lebendige Ich sieht sich unendlich ausgesetzt, immerzu ein anderes sein zu wollen oder zu sollen. Die »Repositur für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene«81 führen wie der Roman in eine Aporie. Einerseits entfernen sie den Archivbenutzer vom Augenblick. Andererseits erwirken sie ihm überhaupt erst die Möglichkeit der Annäherung, da sie allem Wechsel ein Dauerhaftes, wenigstens vorübergehend, abringen: »die Gunst der Musen | Unvergängliches verheißt«.82 Die unterschiedlichen Kontexte, die von den Gestalten innerhalb des Romans durchlebt und durchlitten werden, führen aufgrund der erzählerisch erzeugten Unmittelbarkeit nahe an den Leser heran. Dieser Leser hat wohl seine eigenen außerfiktionalen Kontexte, die er durchlebt und durchleidet. An der Hand des Erzählers vermag er jedoch auf das innerfiktionale Geschehen zu reagieren. Sei es, dass er in jener Situation, da Charlotte mit dem Tod ihres Sohnes konfrontiert wird, den Kopf über ihre Selbstbezichtigung schüttelt, oder sei es, dass er sich über die situationsblinde Impertinenz des Majors empört. Sei es, dass er sich über den merkwürdig abwesenden Baron Eduard wundert, der selbst seiner Vaterschaft davonzulaufen scheint, wo er doch wissen müsste, dass Vaterschaft überhaupt nur auf Überzeugung beruhe.83 Oder sei es, dass
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Vgl. Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970 [Medium Aevum, 21]. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 10. WA I, 20, S. 116f. – Vgl. Andreas Kolle, Daimon und Augenblick. Über Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Wolfgang Lange u. a. (Hrsg.), Temporalität und Form. Konfigurationen ästhetischen und historischen Bewußtseins. Heidelberg 2004, S. 111–146. Ebenda, I, 4. WA I, 20, S. 42. Vgl. Goethes Gedicht Dauer im Wechsel (1803). WA I, 1, S. 119f. – Vgl. dazu Klaus Manger, Das Ereignis Weimar-Jena um 1800 aus literaturwissenschaftlicher Sicht. In: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse. Band 139, Heft 5. Leipzig 2005, S. 9–12. Vgl. Wilhelm Meisters Lehrjahre VIII, 6. WA I, 23, S. 228.
Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ – neu gelesen
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ihn das verstummende Entsagen Ottilies in höchstem Maße befremdet, weil es, wie wir aus Goethes Autobiographie wissen, etwas so Unnatürliches sei, »daß der Mensch sich von sich selbst losreiße«.84 Das innerfiktionale Confabulieren, dem sich der Leser gar nicht entziehen kann,85 lässt die Romangestalten beinahe unmerklich, also ohne spektakuläre historische Ereignisse, in ihre Tragödien hineinschlittern und macht dieses dämonische Geschehen86 dem außerfiktionalen Leser, der sich selbst in eigenen Verwicklungen befinden mag, im Reagenzglas transparent. Die »Gleichnißrede« von den Wahlverwandtschaften87 veranschaulicht so mikro- wie makrostrukturell im sozialen Nucleus eine Weltparabel.
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Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. WA I, 28, S. 218. Peter Michelsen, Wie frei ist der Mensch? (Anm. 39), S. 148, spricht von einer »mächtigen lyrischen Prosa«. Vgl. Ottilies Wort vom »feindselige[n] Dämon«: Die Wahlverwandtschaften II, 17. WA I, 20, S. 394. Vgl. ebenda, I, 4. WA I, 20, S. 47.
Ein poetisches Entrée? Goethes Wahlverwandtschaften im Kontext des Sonettzyklus von 1807 und der Pandora-Dichtung Jochen Golz
I. Mächtiges Überraschen Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale, Dem Ozean sich eilig zu verbinden; Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen, Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale. Dämonisch aber stürzt mit einem Male – Ihr folgten Berg und Wald in Wirbelwinden – Sich Oreas, Behagen dort zu finden, Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale. Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet, Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken; Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben. Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.1
Das vorstehende Gedicht entstand im Dezember 1807 in Jena, und es eröffnet 1815 in der zweiten Cotta-Gesamtausgabe von Goethes Werken eine Gruppe von insgesamt 17 zwischen Dezember 1807 und Juni 1808 niedergeschriebenen Sonetten. Der strengen Kunstform des Sonetts hatte sich Goethe erst nach 1800 zugewendet, befördert durch die Vermittlungstätigkeit August Wilhelm Schlegels, der durch Übersetzungen aus den romanischen Sprachen und eigene Sonette (in der Nachfolge Gottfried August Bürgers) diese Dichtungstradition einem deutschen Publikum erschlossen hatte.2 Befördert wurde Goethes So-
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Johann Wolfgang von Goethe, Mächtiges Überraschen. MA 9, S. 12. Über die ältere Forschungssituation orientiert verlässlich Hans-Jürgen Schlütter, Goethes Sonette. Anregung – Entstehung – Intention. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1969. Die neueste Arbeit (Katrin Jordan, »Ihr liebt und schreibt Sonette! Weh der Grille!« Die
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nettdichtung ebenso durch das Beispiel Zacharias Werners, der die Geselligkeiten im Frommannschen Hause und insbesondere die Huldigungen für Wilhelmine Herzlieb durch eigene Sonette belebt hatte, so dass sich auch Goethe in einem poetischen Konkurrenzverfahren, wenngleich nicht ohne ironische Distanz zu diesem Treiben, einer »Sonettenwut«3 ergab, wie er in Sonett XI, Nemesis überschrieben, formuliert hat. Das alles ist bekannt und muss nicht näher ausgeführt werden, und auch an immer wieder aufflackernden Spekulationen, welche autobiographischen Bezüge denn im Einzelnen für die Gedichte ermittelt werden könnten, sollte man sich nicht engagiert beteiligen.4 Karl Mickel ist beizupflichten, wenn er sagt, dass in Goethes Sonetten der poetische Gedanke sozusagen nackt, auf seinen eigentlichen Gehalt reduziert, ohne begleitende Assoziationen hervortrete.5 Ähnlich, und zwar auf die Pandora bezogen, hatte bereits Wilhelm von Humboldt im Brief vom 28. Dezember 1808 an seine Frau geurteilt: Das Neue und Schöne ist, daß alle Urtöne der Leidenschaften, der Gefühle, alle Elemente der menschlichen Gesellschaft darin vorkommen, und mit einer Reinheit, ja man kann sagen Nacktheit dargestellt sind, daß daraus selbst eine ungeheure Größe hervorgeht.6
Titel und letzte Zeile des Gedichts zusammengenommen geben einen wichtigen Hinweis. Mächtiges Überraschen und »ein neues Leben«. Dass dieses Gedicht in der Tat ein neues Leben des Dichters ankündigt, sei als These formuliert, und die Schlusswendung erweist sich möglicherweise als kryptische Anspielung auf Dantes Vita nuova.7 Neues Leben: Ncht allein Lebenszuversicht in alltäglichem Sinne ist damit markiert, sondern neu einsetzende künstlerische und wissenschaftliche Kreativität und damit Befreiung aus einer Lebenskrise. Deren Symptome hatten mancherlei Ursachen: im Persönlichen eigene Krankheit, der Tod Schillers und damit der Verlust des einzigen wirklich Vertrauten, des Weiteren die auch einen Goethe nicht verschonende Krisis des Mannes von fünfzig Jahren, im größeren historischen Kontext die im Gefolge der napoleonischen Eroberungskriege einhergehende Aufhebung eines »fieberhaften« Friedenszustandes, in welchem, so Goethe, »wir uns einer problematischen Sicherheit hingaben«,8 und die danach sich einstellende unsichere politische Verfasstheit Sachsen-Weimars.
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Sonette Johann Wolfgang von Goethes. Würzburg 2008) widmet sich insbesondere dem Verhältnis von Text und Prätext und erwies sich für mich nur bedingt produktiv. Goethe, Nemesis. MA 9, S. 18. Paradigmatisch für eine solche Betrachtungsweise die ältere Arbeit von Hans M. Wolff, Goethe in der Periode der ›Wahlverwandtschaften‹ (1802 – 1809). München 1952; zu den Sonetten vgl. vor allem S. 141–151. Vgl. Karl Mickel, Die Entsagung. In: Schriften 5. Gelehrtenrepublik. Beiträge zur deutschen Dichtungsgeschichte. Halle 2000, S. 61–76, dort vor allem S. 71–73. Brief von Wilhelm von Humboldt an seine Frau Caroline, 28. Dezember 1808. MA 9, S. 1152. Zur Dante-Rezeption Goethes vgl. Emil Sulger-Gebing, Goethe und Dante. Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte. Berlin 1907. Goethe, Tag- und Jahres-Hefte, 1806. MA 14, S. 164.
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Mächtiges Überraschen: In der Überschrift ebenso wie in der Schlusszeile gibt sich subjektives Befinden zu erkennen. Es hat den Anschein, als ob Goethe selbst das Wiedergewinnen von Kreativität als zwar erwartbaren, dennoch ihn selbst überraschenden Vorgang empfunden habe. Der dazwischen sich vollziehende lyrische Vorgang fasst den neuen Impuls in objektive Naturbilder. Bereits im Jugendgedicht Mahomets Gesang hat Goethe sein Künstlertum dem Wachsen und Strömen eines Flusses von der Quelle bis zur Mündung verglichen, in Bildern des bewegten Wassers nicht nur die eigene Originalität gefeiert, sondern gleichwohl auch deren Quellen und Zuflüsse (individuelle Disposition, Dichtungstradition, historische Erfahrung) ins Bild gebracht. Dieser Genese nun bedarf es bei dem reifen Dichter nicht mehr. Was sich in Mahomets Gesang eingangs als »Felsenquell«9 darstellt, kommt im Sonett sogleich als »Strom« zur Erscheinung, der sich dem Ozean »eilig zu verbinden« strebt und in seinem Lauf nicht aufzuhalten ist. In der zweiten Strophe aber wird das Wirken einer dämonischen Gegenmacht aufgerufen, personifiziert in der Bergnymphe Oreas, die hier nicht auf die Funktion einer schützenden Naturgottheit begrenzt ist, sondern deren Wirken Störungen im natürlichen wie geschichtlichen Verlauf symbolhaft veranschaulicht. Ungewöhnlich und bedeutsam genug, dass Goethe hier das Wort »dämonisch« in einen poetischen Text integriert und ihm durch die Spitzenstellung eine herausgehobene Bedeutung gibt. In unserem Kontext kann nur ein Hinweis auf die so oft erörterten Dimensionen des Dämonischen Platz haben.10 Aus meiner Sicht verweist Goethe hier wie auch andernorts auf jene ihn subjektiv bedrängenden und beunruhigenden, gleichwohl in ihrer naturgegebenen Tatsächlichkeit objektiv akzeptierten historischen Vorgänge, als deren bewunderte Inkarnation ihm Napoleon erschien. Indessen hemmt und begrenzt das dämonische Wirken der Nymphe Oreas den Lauf des Stroms. Was dem Strom aber bleibt, ist seine vorwärtsströmende entelechische Kraft, ein in der Wellenbewegung veranschaulichter produktiver Antrieb, der sich selbst im Zustand des Zurückdeichens als »Wellenschlag am Fels« Geltung verschafft. Hatte Goethe im Gedicht Grenzen der Menschheit die Welle als Sinnbild eines göttlich gelenkten Geschicks verstanden, dem die Menschen ausgesetzt sind (»Uns hebt die Welle / Verschlingt die Welle / Und wir versinken«11), so ist sie hier Sinnbild zwar gestauter, gleichwohl lebendiger und wirksamer menschlicher Energie. Auch wenn Goethe diese wiedergewonnene schöpferische Energie in schönen Bildern dankbar feiert, so erweist er sich in diesem Gedicht gleichermaßen als Repräsentant der Ordnung und des Maßes. Denn, paradox formuliert, erst das Eindeichen des Stroms lässt den Wellenschlag am Fels blinken. An dem von Oreas hingetürmten Felsen erst kann sich die Kraft der Welle entfalten. In der Begrenzung, so hieß es in einem früheren Sonett
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Mahomets Gesang. MA 1.1, S. 518. Über den Begriff des ›Dämonischen‹ orientiert der Artikel von Theo Buck. In: GoetheHandbuch, Band 4/1. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke / Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998, S. 179–181; dort auch weiterführende Literaturangaben; vgl. auch den Beitrag von Stefan Blechschmidt in diesem Band. Goethe, Grenzen der Menschheit. MA 2.1, S. 46.
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(»Natur und Kunst …«), zeige sich erst der Meister.12 Es hätte in der Logik des Gedichts liegen können, den Strom das Hindernis gewaltsam überwinden, ihn den Weg zum Ozean finden zu lassen. Doch die Bildlichkeit des Gedichts wird sozusagen stillgestellt. Zeichen von Dammbruch und Überflutung, von Chaos, Anarchie und Zerstörung werden aus dem poetischen Zusammenhang verbannt. Die Vermutung sei aber erlaubt, dass in der Fluss- und Seemetaphorik des Sonetts sich schon jene Teich-, Fels- und Seelandschaft der Wahlverwandtschaften ankündigt, die dort das Romangeschehen in seinem Zusammenhang von räumlicher Geschlossenheit und naturhaft-katastrophischer Störung und Zerstörung so wesentlich strukturiert. Am 22. Juni 1808 sandte Goethe aus Karlsbad sechs Sonette an seinen Berliner Komponistenfreund Carl Friedrich Zelter. Im Begleitschreiben nahm er zunächst Bezug auf die von Johann Heinrich Voß entfachte Polemik gegen die Form des Sonetts. Dann heißt es: »Den beikommenden Gedichten dieser Art wünsche ich bei Ihnen eine desto beßre Aufnahme. Nur bitte ich inständig sie nicht aus Händen zu geben«.13 Nr. 5 in der Zelter-Auswahl ist Entsagung überschrieben; in der bei Cotta erscheinenden Werkausgabe von 1815 erscheint dasselbe Gedicht als Nr. 6 unter dem Titel Reisezehrung. Entwöhnen sollt’ ich mich vom Glanz der Blicke, Mein Leben sollten sie nicht mehr verschönen. Was man Geschick nennt, läßt sich nicht versöhnen, Ich weiß es wohl und trat bestürzt zurücke. Nun wußt’ ich auch von keinem weitern Glücke; Gleich fing ich an von diesen und von jenen Notwend’gen Dingen sonst mich zu entwöhnen: Notwendig schien mir nichts als ihre Blicke. Des Weines Glut, den Vielgenuß der Speisen, Bequemlichkeit und Schlaf und sonstge Gaben, Gesellschaft wies ich weg, daß wenig bliebe. So kann ich ruhig durch die Welt nun reisen: Was ich bedarf, ist überall zu haben, Und Unentbehrlichs bring ich mit – die Liebe.14
In meinen Augen zeigt die Varianz der Titel einen Wechsel der Intentionen an. Legt der erste Titel den Akzent auf Einschränkung und Liebesverlust, so hebt der zweite das Beständige und Dauernde hervor. Goethe, der am Beginn des Zyklus in objektiven Naturbildern einem neuen Leben Geltung verschafft hat, gibt sich nunmehr als sprechendes, dieses neue Leben reflektierendes Ich zu erkennen, freilich in einer Kargheit und Nüchternheit, die potentiellen subjektiven Überschwang mäßigt und bändigt. Unbeschönigt wird der Lebenssituation
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Das Gedicht endet mit den Zeilen: »In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, / Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben«. (MA 6.1, S. 780) Brief von Goethe an Carl Friedrich Zelter, 22. Juni 1808. MA 20.1, S. 183. Reisezehrung. MA 9, S. 15.
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des alternden Dichters gedacht, dem physische Attraktivität abgeht und der den »Glanz der Blicke« nicht mehr auf sich zu ziehen vermag. Ein solches Lebensgeschick ist nicht durch Trost, durch Illusion zu versöhnen. Es sind Erkenntnis und Erkenntnischoc, die sich hier miteinander verbinden. Noch hadert das Ich mit seinem Geschick. Ein Leben ohne den »Glanz der Blicke« scheint ihm nicht lebenswert, und so will es sich nicht nur dem »Glanz der Blicke«, sondern in einem Zuge auch von alltäglichen Lebensnotwendigkeiten überhaupt entwöhnen. Doch die Situation im Gedicht changiert zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit. Goethe nutzt die Gelegenheit, eigene Untugenden ironisch zu reflektieren: »Des Weines Glut« – ich muss hier kein Klischee bemühen –, »den Vielgenuß der Speisen« – Christianes gute Küche hatte den Dichter starkleibig werden lassen –, »Bequemlichkeit und Schlaf und sonstge Gaben« – der Gefahr der »Bequemlichkeit« hatte Goethe zeitweilig nicht widerstehen können; Schlafentwöhnung ist zwar ein Zeichen von Verliebtheit, führt aber, ins Extrem getrieben, zum Erlöschen des Lebens. Auf Gesellschaft schließlich hat der Dichter niemals verzichten können; dass sie hier im Gedicht abgewiesen wird, verweist noch einmal auf die Gewalt der Krise, die den Einsamen erfasst hatte. Welchen Ausweg aus solcher Lebenskrise, ja Lebensmisere hält das Gedicht bereit? Das zweite Terzett gibt darauf Antwort. Äußerlich sind die Zeilen auf einen Ton ruhig bilanzierender, nüchterner Resignation gestimmt. Ob das Ich seine Bedürfnisse auf der Lebensreise tatsächlich radikal einzuschränken gedenkt, wird offen gelassen; hingegen tritt in der Schlusszeile eine dem bisherigen lyrischen Vorgang zuwiderlaufende überraschende Alternative zutage: das Postulat einer Liebe, die dem Ich des Gedichts unentbehrlich bleibt. Nicht mehr abhängig ist dieses Ich vom »Glanz der Blicke«, ihm selbst ist eine Liebe zu eigen, die keiner individuellen Partnerschaft bedarf, sondern sich als Macht des Eros schlechthin erweist, jener Macht, die in Goethes Sicht die Welt erschaffen hat und ihren Bestand verbürgt. Diese Auffassung gehört zum Kernbestand von Goethes Weltbild, sie bildet die Substanz der Liebesstrophe in Urworte. Orphisch ebenso wie die der Verse am Schluss von Faust II. Dass dieser Gedanke aufs Engste mit Goethes Spinozismus zusammenhängt, ist in der Forschung oft zur Sprache gebracht worden.15 In unserem Gedicht tritt Goethes Liebeskonzept in karger Lakonie zutage. Doch die vier Silben »Unentbehrlichs« in der Schlusszeile wiegen schwer. Sie können als Signal genommen werden für das Experiment der Wahlverwandtschaften, wo Leidenschaft und Eros in dem hier skizzierten allgemeinen Sinne ebenfalls auf die Probe gestellt werden.16 15 16
Vgl. den Artikel zu ›Spinoza‹ von Martin Bollacher. In: Goethe-Handbuch, Band 4/2. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke / Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998, S. 999–1003. Immer noch unentbehrlich: die Studie von Jeremy Adler, »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Chemie seiner Zeit. München 1987. Als aktuellste Publikation zum thematischen Umkreis zu nennen: Peter von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten. Der Absolutismus der Liebe in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Über die Liebe. Ein Symposium. Hrsg. von Heinrich Meier / Gerhard Neumann. München, Zürich 2001, S. 263–304.
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Was sich hier nur als lakonisches Bekenntnis des lyrischen Ichs Geltung verschafft, wird in anderem Kontext als Kernimpuls von Goethes Liebesauffassung kräftiger entfaltet. Im Sonett VII, in der Sendung an Zelter noch Jähe Trennung, später mildernd Abschied überschrieben, erinnert die lyrische Situation an die Elegie Alexis und Dora. Erst in der Trennung wird der Liebende, vom Ufer des Meeres sich entfernend, seiner Liebe sich gewiss. Doch wo in Goethes Elegie sich ein Liebesbund befestigt, treten im Sonett Erinnerung und Sehnsucht, die vorübergehende Verstörtheit des Ichs aufhebend, an die Stelle realen Beieinanderseins: Und endlich, als das Meer den Blick umgrenzte, Fiel mir zurück ins Herz mein heiß Verlangen; Ich suchte mein Verlornes gar verdrossen. Da war es gleich, als ob der Himmel glänzte; Mir schien, als wäre nichts mir, nichts entgangen, Als hätt’ ich alles, was ich je genossen.17
Der Liebende, in seinem ›heißen Verlangen‹ auf sich selbst zurückgewiesen, glaubt dem Himmel nahe zu sein, glaubt sich im Besitz seiner Liebe. Das Gedicht hat einen offenen Ausgang. Ob die Vereinigung des Liebenden mit der verlorenen Geliebten Glück bedeutet, eine Steigerung der Liebe ins Geistige und Dauernde, in den Eros anzeigt, bleibt in der Schwebe. Von hier aus, so meine ich, ist es nur ein Schritt zur Schlusssequenz der Wahlverwandtschaften, in der Ottilie, der vorher oft das Attribut »himmlisch« zugewiesen wird, eine Heilige, Eduard selig genannt wird und beide, im Tode vereinigt, beieinander ruhen. Einige von Goethes Sonetten sind, worauf die Überschriften verweisen, Rollengedichte. Ist man geneigt, das Sonett Abschied Eduard (genauer: dem Eduard des letzten Romankapitels) als Sprecher zuzuordnen, so können die drei im Zyklus folgenden Sonette Die Liebende schreibt, Die Liebende abermals und Sie kann nicht enden dem Typus Ottilie zugeordnet werden. Schriftliche Kommunikation als Liebeszeichen, wie sie in allen drei Gedichten thematisiert wird, spielt auch im Roman eine wesentliche Rolle. Insbesondere das Sonett Die Liebende abermals scheint mir Ottilies verschlossenes Wesen, deren makellose, in sich vollendete Erscheinung die Romanfiguren in ihren Bann zieht, deren Inneres sich in der intim-privaten Mitteilung durch Brief und Tagebuch zu erkennen gibt, und gleichermaßen ihr uneigennütziges Lieben, wie es sich in ihrem Handeln und in ihrer Rede artikuliert, vorausweisend zur Sprache zu bringen. Warum ich wieder zum Papier mich wende? Das mußt du, Liebster, so bestimmt nicht fragen: Denn eigentlich hab’ ich dir nichts zu sagen; Doch kommt’s zuletzt in deine lieben Hände.
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Goethe, Abschied. MA 9, S. 15f.
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Weil ich nicht kommen kann, soll was ich sende Mein ungeteiltes Herz hinüber tragen Mit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen: Das alles hat nicht Anfang, hat nicht Ende. Ich mag vom heut’gen Tag dir nichts vertrauen, Wie sich im Sinnen, Wünschen, Wähnen, Wollen Mein treues Herz zu dir hinüber wendet, So stand ich einst vor dir, dich anzuschauen Und sagte nichts. Was hätt’ ich sagen sollen? Mein ganzes Wesen war in sich vollendet.18
Schließlich, und damit sei der Sonettkreis geschlossen, kündigt sich darin auch bereits die Dialogpoesie des West-östlichen Divans an. In den beiden Quartetten des Sonetts XV spricht das Mädchen, in den beiden Terzetten der Dichter: Mädchen Ich zweifle doch am Ernst verschränkter Zeilen! Zwar lausch’ ich gern bei deinen Sylbespielen; Allein mir scheint, was Herzen redlich fühlen, Mein süßer Freund, das soll man nicht befeilen. Der Dichter pflegt, um nicht zu langeweilen, Sein Innerstes von Grund aus umzuwühlen; Doch seine Wunden weiß er auszukühlen, Mit Zauberwort die tiefsten auszuheilen. Dichter Schau, Liebchen, hin! Wie geht’s dem Feuerwerker? Drauf ausgelernt, wie man nach Maßen wettert, Irrgänglich-klug miniert er seine Grüfte; Allein die Macht des Elements ist stärker, Und eh’ er sich’s versieht, geht er zerschmettert Mit allen seinen Künsten in die Lüfte.19
Seine Einwände gegen den Dichter formuliert das Mädchen im Zeichen redlicher Liebesgewissheit. Erhoben wird der Vorwurf äußerlicher Kunstfertigkeit, durch die der Dichter seine »Wunden« zu verbergen, durch »Zauberwort« sie zu heilen sucht. Dadurch aber schirmt er sich ab, zieht sich hinter sein Gedicht zurück, wird dem anderen unkenntlich. Seine Antwort kleidet der Dichter in kunstvoll-preziöse Formeln. Als warnendes Beispiel benennt er den »Feuerwerker« (zunächst ist der Sprengmeister im Bergbau gemeint, im zweiten Terzett eher der wirkliche Feuerwerker), der zwar seine Kunst beherrsche, aber sich mit allen seinen Künsten in die Luft sprengen könne, wenn er die Macht des Elementaren falsch einschätze. Hinter der Maske freundlich-herablassender Ironie verbirgt sich der existentielle Ernst des Künstlers, ist die Warnung wahr-
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Die Liebende abermals. MA 9, S. 16f. MA 9, S. 20.
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zunehmen vor der Macht des Elementaren (hier: der Liebe), ein Plädoyer für dessen Bändigung in der Kunst und, wie man mit Blick auf die Wahlverwandtschaften hinzufügen kann, auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Vermutung liegt nahe, dass das Feuerwerksmotiv aus den Sonetten in den Roman hinübergewandert ist. Dort erweist sich das Feuerwerk, das Eduard zu Ottilies Geburtstag veranstaltet, als Zeichen von dessen leidenschaftlicher Willkür und Maßlosigkeit. Ungeachtet der katastrophischen Vorgeschichte, die allen die Lust an dem Spektakel verleidet hat, lässt Eduard die Raketen nur für Ottilie und sich abbrennen – eine geradezu gespenstische Szenerie, in der die geltende Ordnung außer Kraft gesetzt, dem Elementaren Spielraum gelassen wird: ein Zeichen auch künftigen Unheils, das dann beim zweiten geplanten Raketeneinsatz tatsächlich eintritt.
II. Am 25. Oktober 1807 waren zwei junge Wiener Schriftsteller, Leo von Seckendorff und Joseph Ludwig Stoll, bei Goethe zu Besuch und baten ihn um einen Beitrag für ihre neubegründete Zeitschrift Prometheus; Goethe entsprach der Bitte, ungewöhnlich genug, sehr bereitwillig. Die Arbeit am Text der Pandora wurde im November 1807 begonnen und im Mai 1808 abgebrochen; ihr schloss sich unmittelbar die Entstehung der Wahlverwandtschaften an.20 Eine geplante Fortsetzung, die Pandorens Wiederkunft hätte enthalten sollen, kam über ein Schema nicht hinaus. Ursache für das Abbrechen waren vermutlich Querelen in Wien zwischen den Herausgebern und ihrem Verleger. Goethe wies seinem Festspiel noch in den letzten Lebensjahren einen besonderen Rang zu, indem er den Text an den Schluss des letzten Bandes der Ausgabe letzter Hand stellte. »Ich habe«, so schrieb er am 2. Juni 1831 an Thomas Carlyle, »mit einer poetischen Masse geschlossen, weil denn doch die Poesie das glückliche Asyl der Menschheit bleiben wird«.21 Im Falle der Pandora konnte Goethe an ein älteres Konzept anschließen; zudem bot sich ihm Gelegenheit, im Gewand der antiken Mythologie ihn bedrängende gegenwärtige Probleme zu gestalten. Nicht zuletzt lag es in seiner Absicht, in einer Zeit politischen Zerfalls, Umbruchs und Neubeginns nach dem Sinn und den Aufgaben von Kunst und Wissenschaft zu fragen.22 Die antike Mythologie gehörte zu jenem Bildungsfundus, den Goethe seit Jugendtagen für seine Poesie abrufen konnte und nur im Falle sehr spezieller Hand20
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»Pandora sowohl als die Wahlverwandtschaften«, so heißt es in den Tag- und Jahresheften für 1807, »drücken das schmerzliche Gefühl der Entbehrung aus, und konnten also nebeneinander gar wohl gedeihen« (MA 14, S. 198). Brief an Thomas Carlyle, 2. Juni 1831. WA IV, 48, S. 211. Solide Informationen bei Gottfried Diener, Pandora. Zu Goethes Metaphorik. Entstehung, Epoche, Interpretation des Festspiels. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1968. Anregend und perspektivreich immer noch Wilhelm Emrich, Technisches und absolutes Bewußtsein in Goethes ›Pandora‹. In: Ders., Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur. Studien. Frankfurt am Main 1965, S. 117–128.
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habung durch Lektüre z.B. von Benjamin Hederichs Kompendium Gründliches mythologisches Lexikon konkretisieren musste. In der Pandora erprobt Goethe ein höchst komplexes Verfahren, in das Festspielgenre aktuelle historische Bezüge aufzunehmen und gleichwohl am Ende die dem Festspiel eigene ästhetische Harmonie gegen alle Widerstände herzustellen.23 Das gelingt nicht zuletzt dank eines Ensembles mythischer Figuren, in denen Tendenzen der Epoche zur Erscheinung gelangen, und dank einer Formensprache, deren Reichtum im Wechselspiel einer dramaturgisch höchst sinnvollen metrischrhythmischen Struktur in Goethes Werk ihresgleichen sucht. Auch wenn, dieser Seitenblick sei gestattet, in Goethes Wahlverwandtschaften Gestalten aus der antiken Mythologie als handelnde Figuren nicht eigens aufgerufen, sondern nur mit gutem Grund assoziiert werden können, so sehe ich gleichwohl einen Zusammenhang zwischen der sehr bewussten Handhabung der mythologischen Überlieferung in der Pandora und einer mythischen Hintergrundstruktur in den Wahlverwandtschaften, wie sie jüngst in der Abhandlung von Giovanni Sampaolo exemplifiziert worden ist. Aus meiner Sicht stellt Sampaolos Studie einen ernsthaften und in vielem überzeugenden Versuch dar, jenen von Riemer in seinem Tagebuch vom 28. August 1808 notierten Vorsatz Goethes, »soziale Verhältnisse und die Konflikte derselben symbolisch gefaßt darzustellen«,24 vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte im Rekurs auf Goethes mythopoetischen Vorrat im Aufbau des Romans nachzuvollziehen.25 Gleichermaßen aber lässt sich die Riemer gegenüber bekundete Intention auf das Festspiel Pandora übertragen. Eine Differenz ist allerdings darin auszumachen, dass Goethe seiner These im Roman dank eines kleinen, differenziert angelegten Figurenensembles und einer zwar äußerlich begrenzten, doch an Figurenbeziehungen unerschöpflich reichen wie symbolisch verdichteten Handlung andere Spielräume eröffnen konnte als in der relativ strengen Form des Festspiels, dessen szenische Fixierungen und metrische Bindungen eben jenen Spielräumen Maß und Ordnung auferlegten. Blicken wir zunächst auf die Szenerie in beiden Werken. Über die Wahlverwandtschaften ist übereinstimmend zu lesen, dass die Haupthandlung an einem gesellschaftsfernen Ort situiert sei, der teils den Charakter eines Asyls, zugleich den eines locus amoenus, aber auch den eines Hades besitze.26 Überdies erweist sich der Ort des Romans als Exemplum kultivierenden Eingreifens, als 23
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Vgl. dazu Uwe Japp, Generische Formen. Goethes »Festspiel« ›Pandora‹. In: Jeux et fêtes dans l’œuvre de J. W. Goethe. Hrsg. von Denise Blondeau / Gilles Buscot / Christine Maillard. Strasbourg 2000, S. 21–31. Zitiert nach: MA 9, S. 1215. Giovanni Sampaolo, »Proserpinens Park«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Selbstkritik der Moderne. Stuttgart, Weimar 2003. In der souveränen Zusammenschau von historischen und ästhetischen Aspekten stellt Sampaolos Studie gegenwärtig in meinen Augen die überzeugendste Gesamtinterpretation dar. Ältere sozialgeschichtlich fundierte Studien erweisen sich im Licht von Sampaolos Untersuchung als überholt, so etwa die von Hans Rudolf Vaget, Ein reicher Baron. Zum sozialgeschichtlichen Gehalt der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 123–161. Vgl. Sampaolo, »Proserpinens Park«, passim.
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Abspiegelung soziokultureller Umbruchprozesse und interpersoneller Konflikte. Nicht anders ist es generell im Festspiel Pandora, dessen Szenerie freilich nicht die Variabilität der Romanlokalitäten besitzt, sondern einen festgefügten Rahmen aufweist, »im großen Styl«, wie es eingangs heißt, »nach Poussinischer Weise gedacht ist«.27 Gleichwohl begegnen wir keinem vorgeschichtlichen Naturzustand, sondern einem – wenngleich auf früher Menschheitsstufe situierten – Ort kultureller Prägung. Die Parallelwelten des Prometheus und Epimetheus bieten sich eingangs szenisch dem Betrachter dar, zur Linken die des Prometheus, eine hochaufgetürmte Gebirgswelt mit »natürliche[n] und künstliche[n] Höhlen«, alles zwar noch »roh und derb«, jedoch findet sich auch »regelmäßig Gemauertes, vorzüglich Unterstützung und künstliche Verbindung der Massen bezweckend, auch schon bequemere Wohnungen andeutend, doch ohne alle Symmetrie«.28 Die letzte Bemerkung verweist darauf, dass die menschliche Bautätigkeit zwar unmittelbaren Nutzen bezweckt und schon dadurch eine Kulturleistung darstellt, aber des Sinnes für Schönheit noch ermangelt. Zur Rechten die Welt des Epimetheus, eine weitläufige Fluß-, Seeund Meereslandschaft. Die Landschaftselemente aus Goethes Sonett Mächtiges Überraschen, so hat es den Anschein, sind hier in einem Bühnenbild als Prometheus- und Epimetheus-Welt parallel einander zugeordnet. Gegenüber der Prometheus-Sphäre besitzt die Welt des Epimetheus einen höheren Kulturstatus. Die Bautätigkeit hat bereits »ein ernstes Holzgebäude nach ältester Art und Konstruktion« hervorgebracht. »Neben dem Hauptgebäude« befinden sich »kleinere ähnliche Wohnungen mit vielfachen Anstalten von trockenen Mauern, Planken und Hecken, welche auf Befriedigung verschiedener Besitztümer deuten«.29 »Fruchtbäume« signalisieren die Existenz »wohlbestellter Gärten«, signalisieren uns die Bedeutung, die Goethe generell menschlicher Planung und Gestaltung im Bereich der Garten- und Landschaftskultur dann auch und vor allem in den Wahlverwandtschaften beimisst.30 Mit dieser Szenerie ist ein Spielraum für die Handlung geschaffen. Selbst den »Meereshorizont«,31 aus dem sich am Ende Eos erheben wird, hat Goethe bereits seinem Bühnenbild hinzugefügt. Den in der Szenerie zur Anschauung gelangenden kulturellen Fortschritt auf Seiten des Epimetheus hervorzuheben, ist insofern nicht unwichtig, als in der Forschung die Meinung vorherrscht, nur beim Menschenvater Prometheus, dem der Tagessphäre zugehörigen homo faber, dem Technokraten, dem Repräsentanten einer modernen Arbeitswelt, seien Fortschritt, Nutzen und Naturunterwerfung anzutreffen, während Epimetheus, der gedankenvolle nächtliche Träumer, tatenlos nur der Vergangenheit und einem Traum von Schönheit nach-
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Goethe, Pandora. MA 9, S. 151. Ebenda. Ebenda, S. 152. Zum kulturgeschichtlichen Kontext vgl. Michael Niedermeier, Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, ›Gartenrevolution‹ in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Berlin, Frankfurt am Main 1992. Goethe, Pandora. MA 9, S. 152.
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sinne. Von Anbeginn jedoch hat Goethe für eine Balance der Kräfte gesorgt, hat er dem zerstörerischen, auf Vernichtung der Naturressourcen zielenden Tun von Prometheus’ Gefolge das behutsame Kultivieren im Reich des Epimetheus gegenübergestellt. Der »Hämmerchortanz«32 der Schmiede, die im Dienst des Prometheus stehen, preist die vier Elemente und deren rücksichtslose Indienstnahme für menschliche Tätigkeit. Von der gepeinigten Erde heißt es: Erde sie steht so fest! Wie sie sich quälen läßt! Wie man sie scharrt und plackt! Wie man sie ritzt und hackt! Da soll’s heraus. Furchen und Striemen ziehn Ihr auf den Rücken hin Knechte mit Schweißbemühn; Und wo nicht Blumen blühn, Schilt man sie aus.33
So sehr sich hier schon ein beinahe ›grünes Bewusstsein‹ Geltung verschafft, so sollte doch nicht außer Acht gelassen werden, dass Goethe andernorts den Bergbau nicht als Peinigung des Natursubjekts anklagt, sondern ihn als menschenfreundliches Tun feiert. Werfen wir einen Blick auf die Wahlverwandtschaften, so haben wir ein extremes Beispiel für eine rücksichtslose Unterwerfung der Natur in Lucianes zerstörerischem Treiben,34 während andere menschliche Eingriffe in die Natur eher eine epimetheische Tendenz aufweisen, in ihrer Begrenztheit und Unzulänglichkeit zugleich aber einen spezifisch modernen Charakter besitzen. Eduards Bemühungen um die Pfropfreiser erweisen sich ebenso wie seine anderen kultivierenden Handlungen in den Augen des sachkundigen Gärtners als Übungen eines Dilettanten. Ähnliches lässt sich von Charlottes gartenarchitektonischen Etüden sagen, die wiederum in den Augen des Hauptmanns, eines homo faber von bescheidenerem Zuschnitt als Prometheus, als Dilettantenwerk erscheinen. Goethes Haltung solchem Tun gegenüber bleibt ambivalent. Zwar konzediert er, dass all dem ein Impuls zugrunde liegt, Natur und Kultur zusammenzuführen, doch auf die Gefahren eines solchen Dilettantismus, eingeschlossen die einer gewaltsamen Zerstörung der Natur, lenkt er ebenso den Blick. Die Intention, Natur und Kultur zur Synthese zu führen, ist der Pandora von Anbeginn eingeschrieben. Dem Chor der Schmiede folgt ein Hymnus des Prometheus auf kultivierende menschliche Tätigkeit – ein Gegengesang wird angestimmt zur eben akzentuierten brutalen Ausbeutung der Natur, der in den
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Ebenda, S. 157. Ebenda, S. 157f. Vgl. Birgit Jooss, Lebende Bilder als Charakterbeschreibungen in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Erzählen und Wissen: Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hrsg. von Gabriele Brandstetter. Freiburg 2003, S. 111–136.
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Appell mündet: »Drum bleibt am Tagwerk vollbewußt und freigemut«.35 Sodann kündigt Prometheus seinen Schmieden die Ankunft der Hirten an, für die sich die Produkte der Schmiede einerseits in der Alltagspraxis als unentbehrlich erweisen, andererseits aber auch ein ästhetisches Bedürfnis befriedigen (hier: das Zuschneiden einer Rohrflöte ermöglichen): »Denn eurer Nachgebornen Schar sie nahet schon, / Gefertigtes begehrend, Seltnem huldigend«. Das Tun der Hirten steht im Zeichen eines behutsamen Umgangs mit der Natur und schließt die Bewahrung von deren Schönheit ein: »Wie sich der Fels beblüht, / Wie sich die Weide zieht, / Treibet gemach!«36 In den Versen des dritten Hirten deutet sich so etwas an wie eine Harmonie von Tätigkeit und Schönheit: Wer will ein Hirte sein, Lange Zeit er hat; Zähl’ er die Stern’ im Schein, Blas’ er auf dem Blatt. Blätter gibt uns der Baum, Rohre gibt uns das Moor; Künstlicher Schmiedegesell Reich’ uns was anders vor! Reich’ uns ein ehern Rohr, Zierlich zum Mund gespitzt, Blätterzart angeschlitzt: Lauter als Menschensang Schallet es weit; Mädchen im Lande breit Hören den Klang.37
Prometheus aber, nicht nur Repräsentant eines (positiv akzentuierten) technischen Fortschritts, sondern auch Repräsentant der Realpolitik, entlässt die Hirten mit der Vorhersage künftiger kriegerischer Konflikte, eines bellum omnium contra omnes: »Entwandelt friedlich! Friede findend geht ihr nicht«.38 Seinen Schmieden erteilt er den Befehl, statt nützlicher Geräte Waffen zu fertigen: »Drum Schmiede! Freunde! Nur zu Waffen legt mir’s an, / Das andre lassend, was der sinnig Ackernde, / Was sonst der Fischer von euch fordern möchte heut«. Die voraufgehende Regieanweisung: »Die Hirten verteilen sich unter Musik und Gesang in der Gegend«39 erhält so den Charakter eines ästhetischen Vorscheins, dem noch keine Dauer beschieden sein kann. Unter anderen Vorzeichen erscheint das Verhältnis von Natur und Kultur in den Wahlverwandtschaften. Können wir dem Hirtengesang in der Pandora den Status einer frühzeitlichen Vision von der Synthese widerstreitender Kräfte zubilligen, so ist eine solche Synthese in der modernen gesellschaftlichen Verfasstheit des Romans40 nicht mehr möglich. Die kultivierende Tätigkeit von
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Goethe, Pandora. MA 9, S. 159. Ebenda. Ebenda, S. 160. Ebenda. Ebenda. Vgl. auch den Beitrag von Helmut Hühn in diesem Band.
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Eduard auf der einen, von Charlotte und dem Hauptmann auf der anderen Seite hat kein gemeinsames Ziel, trägt nicht die Tendenz zur Synthese in sich, sondern verfolgt im Gegenteil unterschiedliche Intentionen, die sich zu einem Konglomerat teils koinzidierender, teils widerstreitender Kräfte bündeln. So entsteht im Laufe des Romans keine in sich harmonische, von der großen Welt abgeschottete idyllische Sphäre als pars pro toto. Die Park-, Garten- und Seelandschaft wird teils funktional in den Gang der Handlung im Sinne erzählerischer Notwendigkeit eingebunden – und erweist sich zudem als Spiegel von außen hereindringender moderner soziokultureller Umbruchprozesse –, teils verwandeln sich die absichtsvoll zusammengefügten Naturelemente in Unheilszeichen. Sie werden Teil des konsequent sich vollziehenden tragischen Romangeschehens, das sich vom Tod des Kindes im See an in seinem Verlauf beschleunigt. Die im Roman aufscheinenden, absichtsvoll hineinkomponierten Schönheitszeichen selbst haben eine durchaus ambivalente Funktion. Ein zwiespältiges ästhetisches Arrangement stellt Charlottes neue Friedhofsordnung dar, weil sie sich rigoros über die Tradition, über die Würde der Toten hinwegsetzt. Die von Luciane veranlassten lebenden Bilder reflektieren, das hat die Forschung nachgewiesen, die historisch-politischen Verhältnisse der Moderne;41 generell erweist sich Lucianes veloziferisches Treiben als fehlgeleiteter Schönheitstrieb. Doch auch die vom Architekten arrangierte weihnachtliche Praesepe-Darstellung mit Ottilie als Gottesmutter im Mittelpunkt kann nicht unbefangen als Schönheitszeichen, als Synthese von sinnlicher und sittlicher Schönheit genommen werden; der Erzähler hält sich mit seinem Urteil zurück, doch die beiläufige Bemerkung von der »frommen Kunstmummerei«,42 im Zeichen antiromantischer Kunstgesinnung formuliert, ist deutlich genug. Am Ende erhält die Kapelle das Signum von Schönheit und Würde als Ort, an dem die Liebenden im Tod vereinigt ruhen. Doch auch die ästhetische Signatur der Kapelle erweist sich als ambivalent; sie erscheint einerseits als Ausdruck ausgewogener funktioneller Harmonie, wie sie einem Sepulchralraum zukommen sollte, andererseits gibt sich darin ein (vom Erzähler nicht unkritisch kommentierter) romantisierender Zeitgeschmack zu erkennen.43 Für die Ausgestaltung eines prospektiven Schönheitsideals nach dem Beispiel der Pandora bot sich in Goethes Roman Raum nur in der die Handlung des Romans beschließenden ›Auferstehung‹ Ottilies. Epimetheus, »Nachtwandler, Sorgenvoller, Schwerbedenklicher«, wie ihn sein Bruder Prometheus liebevoll-besorgt anredet, sieht im Traum seine Tochter Elpore, die Hoffnung, erscheinen und erhofft im Traumdialog mit ihr der »Liebe Glück, Pandorens [ihrer Mutter, J. G.] Wiederkehr«.44 Doch zunächst wird er aus seiner schönen Traumwelt gerissen, als seine zweite Tochter Epi-
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Vgl. Gisela Brude-Firnau, Lebende Bilder in den ›Wahlverwandtschaften‹. Goethes ›Journal intime‹ vom Oktober 1806. In: Euphorion 74 (1980), S. 403–416. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 6. MA 9, S. 445. Vgl. Michael Mandelartz, Bauen, Erhalten, Zerstören, Versiegeln. Architektur als Kunst in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 118 (1999), S. 500–517. Goethe, Pandora. MA 9, S. 161f.
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meleia, die sinnende Sorge, den »Hauch des Mörders«45 Phileros im Nacken fühlend, ihn um Schutz anfleht; symbolisch hat Goethe Hoffnung und Sorge zugleich dem Epimetheus zugewiesen. Der hinzutretende Prometheus bestraft seinen Sohn Phileros, weil nur ihm, dem absoluten Herrscher, das Macht- und Gewaltmonopol zukommt: Ich halte dich! – An diesem Griff der starken Faust Empfinde wie erst Übeltat den Menschen faßt, Und Übeltäter weise Macht sogleich ergreift. Hier morden? Unbewehrte? Geh zu Raub und Krieg! Hin, wo Gewalt Gesetz macht! Denn wo sich Gesetz, Wo Vaterwille sich Gewalt schuf, taugst du nicht.46
Der Sohn, so gibt Prometheus zu erkennen, hat zwischen Reue oder Selbstbestrafung (mit dem eigenen Tod) zu wählen: »Bereuen magst du oder dich bestrafen selbst«.47 Nachdem sich Phileros und Epimeleia entfernt haben, werden die Themen Liebe und Schönheit, wie sie vorher schon in den Reden Elpores, Epimeleias und Phileros’ zur Sprache gebracht worden waren, im Dialog zwischen Prometheus und Epimetheus, der in den zentralen Partien in die Stichomythie übergeht, aus wechselnden Perspektiven am Beispiel der Pandora, jener »Hochgestalt aus altem Dunkel«,48 erörtert. Aus der Sicht des Prometheus erweist sich deren Schönheit für den Menschen als gefährliche Verlockung; zur Dienerin, nicht zur Gefährtin sei die Frau dem Manne bestimmt. Für Epimetheus war Pandora eine ideale Partnerin, die ihn erst seiner selbst bewusst werden ließ: »Ich gab mich selbst ihr, gab mich mir zum ersten Mal!«49 Der gleiche Gedanke findet sich im West-östlichen Divan: »Wie sie sich an mich verschwendet, / Bin ich mir ein werthes Ich; / Hätte sie sich weggewendet, / Augenblicks verlör ich mich«.50 Die Differenz der Anschauungen wird an dem Wort Kleinod sichtbar. Während Epimetheus das Bild der Geliebten als »Kleinod« fasst (»Die Schmerzen selbst um solch ein Kleinod sind Genuß«), reduziert Prometheus den Begriff auf das technisch Machbare: »Kleinode schafft dem Manne täglich seine Faust«.51 Als die Brüder im zweiten Teil des Dialogs das Erscheinungsbild Pandoras imaginieren, insistiert Prometheus auf der technischen Kunstfertigkeit des von Hephaistos geschmiedeten Gebildes, während der liebende Epimetheus dessen Anmut und Schönheit preist. Sein Erinnern an Pandora mündet in einen Hymnus auf Liebe und Schönheit, der den Gegenstand des Erinnerns weit hinter sich lässt:
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Ebenda, S. 164. Ebenda, S. 166. Ebenda. Ebenda, S. 171. Ebenda, S. 173. West-östlicher Divan. MA 11.1.2, S. 77. Pandora. MA 9, S. 170.
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Der Seligkeit Fülle die hab’ ich empfunden! Die Schönheit besaß ich, sie hat mich gebunden; Im Frühlingsgefolge trat herrlich sie an. Sie erkannt’ ich, sie ergriff ich, da war es getan! Wie Nebel zerstiebte trübsinniger Wahn, Sie zog mich zur Erd’ ab, zum Himmel hinan. […] Sie steiget hernieder in tausend Gebilden, Sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden, Nach heiligen Maßen erglänzt sie und schallt, Und einzig veredelt die Form den Gehalt, Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt, Mir erschien sie in Jugend-, in Frauen-Gestalt.52
Pandora, gleich Helena eine von Sehnsucht gespeiste Phantasmagorie, erscheint Epimetheus in ihrer Formung durch die bildende Kunst als Repräsentantin der Schönheit, als gestalthafte Repräsentantin auch der Macht des Eros, welcher die von Prometheus verkörperte politische Gewalt zu bändigen vermag; die Antinomie von Gewalt und Gestalt in poetischen Kontexten Goethes hat jüngst Ernst Osterkamp zum Gegenstand einer eigenen Studie gemacht.53 Für Prometheus sind Liebe und Schönheit Störfaktoren in einer technisch-rational durchorganisierten Arbeitswelt, reduziert sich Künstlertum auf das handwerklich Mach- und Formbare; für Epimetheus bilden Liebe und Schönheit, im Kunstgebilde der Pandora zur Erscheinung gelangend, den Antrieb aller Lebensbewegung, garantieren deren Fortbestand selbst. Umso schmerzlicher ist der Augenblick des Entsagens, da Epimetheus sich im Erinnern des Verlustes der Pandora bewusst wird: »Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist, / Fliehe mit abegewendetem Blick!«54 Hier ist nicht der Raum, die Entsagung des Epimetheus, in der zweifellos auch Goethes persönliches Entsagen offenkundig wird, in Beziehung zu setzen zum Divan-Gedicht Wiederfinden und zu Strophen der Marienbader Elegie.55 Was Goethes Liebesdichtung ihren besonderen Rang verleiht, ist der Umstand, dass nicht nur die Stimme des Mannes, sondern auch die Stimme der Frau sich darin gleichberechtigt Geltung verschafft. Hier sind es die Stimmen der Töchter des Epimetheus, Elpore und Epimeleia, die im Konsonieren mit dem Vater dem Liebesthema seine umfassende Bedeutung geben. Epimeleia, Opfer der Eifersucht des Phileros, stimmt eine Liebesklage an; sie beklagt die Endlichkeit und Vergänglichkeit ihres persönlichen Glücks, während doch die Liebe selbst, darin der Natur gleich, unendlich und ewig sei:
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Ebenda, S. 173. Vgl. Ernst Osterkamp, Gewalt und Gestalt. Die Antike im Spätwerk Goethes. Basel 2007; zur Pandora insbesondere S. 19–29. Goethe, Pandora. MA 9, S. 176f. Sehr erhellend die jüngste, textgenaue Interpretation von Fritz Egli, Liebe – Leidenschaft – Aussöhnung. Zum Stellenwert der ›Aussöhnung‹ in Goethes ›Trilogie der Leidenschaft‹. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2008, S. 153–206.
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Jochen Golz Ach! warum, ihr Götter, ist unendlich Alles alles, endlich unser Glück nur! Sternenglanz und Mondes Überschimmer, Schattentiefe, Wassersturz und Rauschen Sind unendlich, endlich unser Glück nur.56
Einem solchen Bekenntnis zur Macht der Liebe korrespondiert die vorausgehende Rede der Elpore an die Zuschauer, die als ein überpersönliches Bekenntnis der Frau zu lesen ist. Der Menge, deren »wildbewegte Wünsche« aus »überdrängten Herzen« kommen, ruft sie zu: Ach! was wollt ihr von der Zarten? Ihr Unruh’gen, Übermüt’gen! Reichtum wollt ihr, Macht und Ehre, Glanz und Herrlichkeit? Das Mädchen Kann euch solches nicht verleihen; Ihre Gaben, ihre Töne, Alle sind sie mädchenhaft. Wollt ihr Macht? der Mächt’ge hat sie. Wollt ihr Reichtum? Zugegriffen! Glanz? Behängt euch! Einfluß? Schleicht nur. Hoffe Niemand solche Güter; Wer sie will, ergreife sie.57
Elpore, Verkörperung der Hoffnung, weist die Menge in die Schranken. Hoffnung – hier verstanden im Sinne des Erlangens von Liebe und Schönheit – kann ihr nicht zuteil werden. Das Streben nach Macht, Reichtum, Glanz und Einfluss ist Signatur der Moderne, Ausdruck subjektiven Wollens des ellenbogenbewehrten Individuums; die so erlangten Güter bleiben aber Lebensgüter einer unteren Kategorie. Die in solchem Wollen sich manifestierende Willkür stellt in Goethes Sicht eine Gefahr für die Gesellschaft dar, und das zugrundeliegende Problem hat ihn unausgesetzt beschäftigt, bis hin zum absichtsvollen Wortspiel Willkür – des Willens Kür im zweiten Teil des Faust.58 Elpore hingegen hat sich als Aufgabe gestellt, »[n]ach Liebenden zu blicken«; ihre »Gaben«,59 das Verheißen von Liebe und Hoffnung, sind nicht durch pures Wollen zu erlangen, sie fallen dem für die Liebe disponierten Individuum zu, wie es sich im phantasmagorischen Dialog zwischen Epimetheus und Pandora zu erkennen gibt. In der korrespondierenden Doppel-Erscheinung von Elpore und Epimeleia ist ein Vor- und Leitbild für die Ottilie der Wahlverwandtschaften zu sehen. Im Roman erscheint Ottilie als ein Wesen von makelloser Schönheit, der alle 56 57 58
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Goethe, Pandora. MA 9, S. 168. Ebenda, S. 163f. Vgl. Hans-Jürgen Schings, Willkür und Notwendigkeit. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Kritik an der Romantik. In: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft 1989. Berlin 1990, S. 165–181. Vom gleichen Verfasser, Faust und der »Gott der neuern Zeit«. Goethe als Kritiker des Faustischen. In: Goethe-Jahrbuch (der GoetheGesellschaft in Japan) 43 (2001), S. 33–43. Goethe, Pandora. MA 9, S. 162f.
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Personen als einem »Augentrost«60 insgeheim huldigen, ohne zunächst einen Besitzanspruch anzumelden. Macht, Reichtum, Glanz und Einfluss werden in ihrer Gegenwart bedeutungslos. Ottilie kommt, darin Elpore gleichend, allen entgegen, weiß sich in alle Ansprüche zu schicken, lässt eigenes Begehren nicht aufkommen. Gleichermaßen ist ihr wie der Epimeleia sinnende Sorge zu eigen. Eduard missdeutet als Zeichen von Liebe, was doch in Wahrheit zunächst Empathie im Zeichen einer naturgegebenen inneren Harmonie ist: Ottilies Anpassungsmanöver beim Begleiten von Eduards dilettantischem Flötenspiel, das perfekte Kopieren seiner Handschrift. Selbst ihre Verschlossenheit legt er gleich anfangs willkürlich als »angenehmes unterhaltendes«61 Wesen aus. Eduards leidenschaftlichem Werben verschließt Ottilie sich nicht, vermag aber nicht zu erkennen, dass sich darin seines Willens Kür zu erkennen gibt. Sie glaubt in ihm den zur Liebe disponierten Mann zu finden, erwidert seine egoistisch besitzergreifende Leidenschaft als uneigennützig und wahrhaft Liebende, bleibt auch zunächst darin in sich getrost, ihre Bahn, ihren Daimon, nicht verlassen zu haben. Das verleiht ihr eine innere Sicherheit und Ausgewogenheit, die ihrer Hoffnung auf Vereinigung mit dem Geliebten das stärkste Unterpfand liefert. Als diese Hoffnung durch die Geburt des Sohnes von Charlotte und Eduard erlischt, erlischt gleichwohl ihre Liebe zu Eduard nicht, doch sie verwandelt sich aus einem vertrauten psychophysischen Beieinandersein in eine Wirkung in die Ferne, bei der Ottilies Liebe, im Zeichen des Eros allen eigenen Anspruch aufgebend, nunmehr dem Geliebten allein zugewendet ist. »Ottilie«, so heißt es im Roman, »fühlte dies alles so rein, daß sie sich’s als entschieden wirklich dachte und sich selbst dabei gar nicht empfand. Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein, ward es ihr auf einmal klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig uneigennützig werden müsse; ja in manchen Augenblicken glaubte sie diese Höhe schon erreicht zu haben. Sie wünschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich fähig ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wieder zu sehen, wenn sie ihn nur glücklich wisse. Aber ganz entschieden war diese für sich, niemals einem andern anzugehören«.62 Liebe und Hoffnung sind zu diesem Zeitpunkt noch in eine fragile Balance gebracht. Zerstört wird sie erst dann, als Eduard, die sich selbst auferlegten Gebote verletzend, zu Ottilie und dem Kind am See vordringt und die Geliebte in die Arme schließt. Die oft zitierte Passage sei auch hier wiedergegeben: Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg. Sie wähnten, sie glaubten einander anzugehören; sie wechselten zum erstenmal entschiedene, freie Küsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich.63
Sternschnuppen, im Roman wie in der Natur selbst im August niedergehend, gelten allgemein als Glücksboten, doch hier erweisen sie sich als Unheilszeichen; die menschliche Katastrophe folgt auf dem Fuße. Das Kind ertrinkt im
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Die Wahlverwandtschaften II, 6. MA 9, S. 326. Ebenda, S. 325. Ebenda, II, 9. MA 9, S. 466. Ebenda, II, 13. MA 9, S. 496.
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See; schuldlos und schuldig zugleich ist Ottilie an seinem Tod. Im Dialog mit Charlotte erlangt sie wieder ein Bewusstsein ihrer selbst, ihrer humanen Würde; »ich vernehme«, so vertraut sie Charlotte an, »wie es mit mir selbst aussieht«. Voraus aber geht das Bekenntnis: »Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren«, dem sich der Vorsatz anschließt: »Eduardens werd’ ich nie! Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin. Ich will es büßen«.64 Bevor ich mich dem Ausgang der Liebesgeschichte von Ottilie und Eduard zuwende, sei der Blick noch einmal auf das Pandora-Festspiel zurückgelenkt. Es liegt im Wesen eines Festspiels, dass Katastrophisches aufgefangen wird, am Ende ein harmonisches Schlussbild zur Erscheinung gelangt. Eine radikale Konfrontation von vita activa und vita contemplativa, wie sie von der Forschung immer wieder benannt wurde, hat Goethe dadurch von vornherein vermieden, dass er die Repräsentanten beider Lebensformen, Prometheus und Epimetheus, als Brüderpaar agieren lässt und objektiv vita activa und vita contemplativa als gegenseitig sich bedingend exemplifiziert hat; Denken und Tun sind in Goethes Verständnis als Systole und Diastole, Synkrisis und Diakrisis im Zeichen von Polarität und Steigerung unauflöslich verbunden.65 Teilnehmend tröstet Prometheus den trauernden Epimetheus: »Zerrinne nicht, o Bruder, schmerzlich aufgelöst! […] Guter, weine nicht!«66 Und im Folgenden wird die vita activa des Prometheus sogar ausdrücklich aufgewertet, als dieser seinem larmoyanten Bruder, dessen Besitz in Flammen steht, mit dem eigenen Heer tatkräftig beisteht. Freilich bleibt auch das Sammeln der »schwarmgedrängte[n] Schar« des Prometheus ein ambivalenter Vorgang. Zum »Verderben« wie zum »Schutz«67 hält sich sein Heer bereit. Die Verse der Krieger hat Goethe später in sein Festspiel Des Epimenides Erwachen übernommen und so ihren Charakter als Abspiegelung napoleonischer Kriegsführung noch zusätzlich herausgehoben. Eine Feldherrnnatur von napoleonischem Zuschnitt ist auch Prometheus, der seinen Truppen zwar Hilfe bei der Feuersbrunst befiehlt, zugleich aber das gleichermaßen beruhigte wie eroberte Territorium ihrer Plünderung anheimgibt: »Auf! rasch Vergnügte, / Schnellen Strich’s! / Der barsch Besiegte / Habe sich’s!«68 Zeitgeschichte ist im symbolisch hochverdichteten Festspiel paradoxerweise unmittelbarer und direkter in den poetischen Kontext einbezogen als im Wahlverwandtschaften-Roman, wo die Außenwelt zwar ihre Wirkung im Roman geltend macht, aber als Schauplatz des Geschehens nicht in Erscheinung tritt. Eduards Anwesenheit im Kriege, von dessen realem Verlauf dem Leser so 64 65
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Ebenda, II, 14. MA 9, S. 502; vgl. auch den Beitrag von Hermann Beland in diesem Band. In § 739 des Didaktischen Teils der Farbenlehre heißt es: »Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind« (MA 10, S. 222). Pandora. MA 9, S. 177f. Ebenda, S. 178. Ebenda, S. 181.
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gut wie nichts vermittelt wird, ist im Wesentlichen ein Zeugnis subjektiven Wollens, bei dem die Entfernung vom Schauplatz letztlich den Charakter der willentlichen Auslieferung an ein säkularisiertes Gottesurteil annimmt. Epimetheus, Repräsentant der vita contemplativa, geht vom Schauplatz ab, nachdem er seinen Vorsatz artikuliert hat, mit dem Heer des Prometheus »[z]orn’gen Wettkampf« zu »erneun«,69 sich und die Seinigen zu befreien. Eine Balance beider Lebensformen ist so zumindest verheißen. Das Schlussbild wird vom Dialog zwischen dem Menschenvater Prometheus und Eos, der Morgenröte, beherrscht. Prometheus kündigt das Auftreten der Eos in Versen an, die Analogien zum Eingangsmonolog von Faust II aufweisen: So tritt sie lieblich hervor, erfreulich immerfort; Gewöhnet Erdgeborner schwaches Auge sanft, Daß nicht vor Helios Pfeil erblinde mein Geschlecht, Bestimmt Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht!70
Eos wiederum erweist sich nicht nur als göttliche Lichtbringerin, sondern als Repräsentantin schöpferischen Lebens schlechthin – eine Rolle, die Goethe der Morgenröte auch in dem grandiosen Divan-Gedicht Wiederfinden zuweist, dort allerdings in einem ungleich weiteren geistigen Horizont. »Von dem Meere heraufsteigend«,71 so in der Regieanweisung angekündigt, stimmt Eos einen Hymnus an auf die ›wimmelnde Tätigkeit‹ der Fischer, Schwimmer und Taucher, deren Tun jedoch, wie der nachfolgende Dialog mit Prometheus erweist, nicht allein praktischen Zwecken gehorcht. Denn es gilt, den ins Meer gesprungenen Phileros zu retten. Prometheus, von Reue gepeinigt, will seinen Sohn dem Leben wiedergeben,72 doch Eos weist ihn in seine menschlich-irdischen Schranken: Deine Klugheit, dein Bestreben Bringt ihn diesmal nicht zurück. Diesmal bringt der Götter Wille, Bringt des Lebens eignes, reines, Unverwüstliches Bestreben Neugeboren ihn zurück.73
Phileros wird von Fischern und Schwimmern aus dem Wasser geborgen, Delphine tragen ihn wie Arion an Land, und sein Erscheinen leitet »des Tages hohe Feier«74 ein. Vordem ein ungestüm liebender, tatendurstiger Jüngling, verwandelt sich Phileros dank göttlichen Einwirkens in ein göttergleiches Wesen, Eigenschaften der Aphrodite (er erhält den Beinamen Anadyomen) und des Dionysos in sich vereinigend. Phileros hat die Wasserprobe, Epimeleia die 69 70 71 72 73 74
Ebenda, S. 179. Ebenda, S. 181. Ebenda. Eine Analogie zum Schluss von Wilhelm Meisters Wanderjahren liegt auf der Hand, vgl. MA 17, S. 686f. Pandora. MA 9, S. 182. Ebenda, S. 183.
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Feuerprobe bestanden – Goethes Versuch, Mozarts Zauberflöte fortzusetzen, lag nur wenige Jahre zurück. In der »gottgewählte[n]« Stunde vereinigen sich die Liebenden, versöhnen sich Irdisches und Himmlisches: So, vereint in Liebe, doppelt herrlich, Nehmen sie die Welt auf. Gleich vom Himmel Senket Wort und Tat sich segnend nieder, Gabe senkt sich, ungeahnet vormals.75
In diesen Versen der Eos gibt sich zu erkennen, dass vita contemplativa und vita activa, Wort und Tat, nunmehr verkörpert in Epimeleia und Phileros, aufeinander zugeführt werden und zu einem Ausgleich gelangen – im Zeichen der Liebe, die ihre Wirkungsmacht im eigentlichen von oben erhält. Ebenso erweist sich das Schöne als göttliche Gabe. Eine Balance von nützlicher Tat, Liebe und Schönheit kommt so in der Vision der Eos zustande, deren Beständigkeit sich nicht menschlicher Tätigkeit allein, sondern in letzter Instanz dem Wirken der Götter verdankt. Blickt man auf die Gegenrede des Prometheus, so ist darin ein hohes Maß an Einsicht in die Realität menschlichen Handelns nicht zu verkennen, wie sie auch dem damaligen Erkenntnisstand Goethes entsprochen haben wird: Neues freut mich nicht, und ausgestattet Ist genugsam dies Geschlecht zur Erde. Freilich frönt es nur dem heut’gen Tage, Gestrigen Ereignens denkt’s nur selten; Was es litt, genoß, ihm ist’s verloren. Selbst im Augenblicke greift es roh zu; Faßt, was ihm begegnet, eignet’s an sich, Wirft es weg, nicht sinnend, nicht bedenkend, Wie man’s bilden möge höhrem Nutzen. Dieses tadl’ ich; aber Lehr’ und Rede, Selbst ein Beispiel, wenig will es frommen. Also schreiten sie mit Kinderleichtsinn Und mit rohem Tasten in den Tag hin. Möchten sie Vergang’nes mehr beherz’gen, Gegenwärt’ges, formend, mehr sich eignen, Wär’ es gut für alle; solches wünscht’ ich.76
In dem Appell der letzten drei Zeilen verschaffen sich, so kann man schlussfolgern, Goethes realpolitische Maximen Geltung. Letztlich bleibt die Spannung zwischen der Vision der Eos und dem Arbeits- und Verstandesethos des Prometheus, das in seinem objektiven So-sein zur Geltung gebracht wird, unaufgehoben. Die abschließenden Verse der Eos bekunden es: Was zu wünschen ist, ihr unten fühlt es; Was zu geben sei, die wissen’s droben. Groß beginnet ihr Titanen; aber leiten
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Ebenda, S. 184. Ebenda.
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Zu dem ewig Guten, ewig Schönen, Ist der Götter Werk; die laßt gewähren.77
Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass in den Sonetten und in der Pandora die Schwelle zum Alterswerk überschritten wird, sich ideelle und motivische Zusammenhänge herstellen mit den Wahlverwandtschaften, dem Divan und der Faust-Dichtung. So erweisen sich der Sonett-Zyklus von 1807 und die Pandora in vieler Hinsicht als Präludium insbesondere der Wahlverwandtschaften.
III. Abschließend soll noch einmal die Frage gestellt und andeutungsweise beantwortet werden, ob die am Ende der Pandora so inständig ins Bild gesetzte Vision einer Synthese von Natur und Kultur in den unmittelbar danach entstandenen Wahlverwandtschaften eine Fortsetzung gefunden hat.78 Kultivierende, intentional nach den Gesetzen von Eros und Schönheit formierende Tätigkeit ist im Roman in vielerlei Spielarten anzutreffen. Park- und Gartengestaltung zählen dazu ebenso wie Charlottes Ästhetisierung des Friedhofs, die Restaurierung und Ausmalung von Kirche und Kapelle durch den Architekten gemeinsam mit Ottilie, Lucianes lebende Bilder oder das Praesepe-Arrangement des Architekten. In welchem Verhältnis Natur und Kultur zueinander stehen, wo die Grenze zu ziehen ist zwischen dilettantischem Bemühen und ästhetischer Kreativität, welche ambivalente Funktion die Elemente von Kunst im Roman besitzen, darauf hat die Forschung Antworten gegeben. Doch sind sie alle zuzuordnen oder beizuordnen der Intention des Romans, »soziale Verhältnisse und die Konflikte derselben symbolisch gefaßt darzustellen«. Sowohl in den Sonetten als auch in der Pandora werden gegenwärtige soziale Verhältnisse durchaus zur Sprache gebracht; auch in diesen Texten lässt sich »die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben«.79 Doch was dort in hochsymbolischer Verdichtung zur Erscheinung gelangt und dem Leser sehr stark die Kunst des Supplierens abverlangt, kann im Roman am Ende nur in Gestalt eines ästhetischen Vorscheins entfaltet werden. Letztlich behaupten Eros und Schönheit ihr Maß und ihr Gesetz auch im Roman, sinnbildlich in dem »reinen Zusammensein«80 von Ottilie und Eduard im Leben und im Tode und im Bewahren von Ottilies idealer Schönheit. Am
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Ebenda, S 185. Die bislang fundierteste und schlüssigste Darstellung der Naturproblematik in Goethes Wahlverwandtschaften ist in meinen Augen die Studie von Elisabeth von Thadden, Erzählen als Naturverhältnis – ›Die Wahlverwandtschaften‹. Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines »Roman über das Weltall«. München 1993; besondere Aufmerksamkeit verdient die perspektivreiche Auseinandersetzung mit der Forschung in der Einleitung, S. 11–34. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 12. MA 9, S. 364. Ebenda, II, 17. MA 9, S. 517.
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Schluss der Wahlverwandtschaften könnten die bereits zitierten Verse der Eos mutatis mutandis auf Ottilie und Eduard bezogen werden: So, vereint in Liebe, doppelt herrlich, Nehmen sie die Welt auf. Gleich vom Himmel Senket Wort und Tat sich segnend nieder, Gabe senkt sich, ungeahnet vormals.
Im Festspiel erwächst die Synthese aus einer hochbewussten ästhetischen Konstruktion, in die Wirklichkeit nur insoweit Eingang findet, als sie diese Konstruktion nicht beschädigt. In anderer Weise, dem Anschein nach eher verdeckt, doch genauerem Hinsehen sehr wohl zugänglich – das bezeugt insbesondere die Studie von Sampaolo –, ist moderne soziale Realität in den Roman einbezogen, und der Weg, den Goethe wählt, um die in der Moderne entgleitende Balance von realem Handeln, Liebe und Schönheit im Roman aufzufangen, ihn nicht in einer absoluten Katastrophe enden zu lassen, ist das Kunstprinzip der Ironie, eines freien Spiels mit Form und Gehalt.81 Aus meiner Sicht lässt sich für Eduards Hinsterben, das seinem nunmehr geläuterten Verlangen nach Vereinigung mit der Geliebten entspringt, der Appell der Mater gloriosa an Gretchen in Anspruch nehmen: »Komm, hebe dich zu höhern Sphären, / Wenn er dich ahnet folgt er nach«.82 Überhaupt weisen die Anleihen, die Goethe im Roman und insbesondere an seinem Ende bei Traditionen der katholischen Kirche nimmt, auf die Bildwelt am Schluss von Faust II voraus. Eine Abstufung zwischen Ottilie und Eduard ist analog zur Gretchen-Faust-Konstellation wahrzunehmen; an die Unterscheidung der katholischen Kirche zwischen Heilig- und Seligsprechung ist zu denken, wenn man am Schluss liest: Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.83
Über all dem, einbezogen auch die Wunderereignisse um Ottilies Tod und Bestattung,84 waltet eine souveräne Ironie, die Liebe und Schönheit unverändert als ideelle Bezugsinstanzen aufruft, alles Reale aber in der Schwebe hält und mir es verbietet, den Schlusssatz des Romans in einer einsinnigen Interpretation aufzulösen. In meinen Augen ist es der offene Schluss schlechthin.
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Dazu erhellend Jochen Schmidt, Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, besonders in den ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 165–175. Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Verse 12094f. MA 18.1, S. 351. Damit korrespondierend Goethes Äußerung im Brief an Zelter vom 29. Januar 1830, daß er in seinen Wahlverwandtschaften »die innige, wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen bemüht war« (MA 20.2, S. 1312). Die Wahlverwandtschaften II, 18. MA 9, S. 529. Zum geistesgeschichtlichen Kontext von Hagiographie und Körperdarstellung vgl. Irmgard Egger, Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen. München 2001, insbesondere S. 140–144.
Das unsichtbare Labyrinth Zur Parkgestaltung und Architektur in Goethes Wahlverwandtschaften Harald Tausch
I. Zur Problematik der nachträglichen Veranschaulichung des Romans – am Beispiel der Neuen Höhe von Johann Gottlob Quandt Die Geschichte der Versuche, die Welt von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften zu veranschaulichen und zu diesem Zweck Ansichten zu zeichnen oder Karten zu skizzieren, ist lang. Wer sich hierin übt, kann sich sogar auf Goethe berufen, der sich gerade in der Zeit der Niederschrift seines Romans mit dem Nibelungenlied beschäftigte, sich von dieser ihm zunächst fremden Welt faszinieren ließ und daher mehrfach versuchte, sich durch das Zeichnen von Schauplatzkarten in dieser »Dichtung ohne Reflex«1 zu orientieren. Die Suggestion von Anschaulichkeit, die von Goethes höchst reflexivem Roman Die Wahlverwandtschaften ausgeht, verführte demgegenüber schon bald dazu, dessen vergleichsweise begrenzten Schauplatz nicht etwa nur zu kartieren, sondern nachzubauen. Anders als die Figur des Uncle Toby in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy sollte Johann Gottlob von Quandt sich allerdings nicht damit begnügen, einen bestimmten Schauplatz der Weltgeschichte miniaturisiert in seinem Garten zu simulieren. Quandt versuchte vielmehr, den gesamten Umfang des Besitzes eines gewissen Barons namens Eduard überhaupt erst zu erwerben, dann mit seiner Gemahlin zu beziehen und schließlich nach und nach im Sinne des Romans zu erweitern. Er wollte den bis dahin allein im Medium der Literatur überlieferten Landschaftspark des Romans nachstellen und insbesondere die für diesen Park zentrale Architektur – das »neue[n] Gebäude auf der Höhe«2 – errichten, um sich gleichsam unter Goethes Augen in einer von Goethe erfundenen Welt einzurichten. Ein gewisses Anrecht zu diesem Versuch konnte Quandt für sich in Anspruch nehmen. Immerhin hatte er den Weimarer Dichter ausgerechnet im Jahr
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Vgl. Goethes Tagebuch vom 16. November 1808. WA III, 3, S. 399. Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman II, 10. MA 9, S. 468.
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1808 in Karlsbad kennengelernt, als dieser intensiv an dem Roman arbeitete.3 Wie Quandt sich zeitlebens gerne erinnern sollte, hatte Goethe ihm eines Morgens am Brunnen, noch vor dem Eintreffen anderer Gäste, seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht zu erkennen geben Quandts Erinnerungen Meine Berührungen mit Goethe hingegen, was er, der junge Mann aus Leipzig, dem mit zwei Bechern Sprudel vollauf beschäftigten Dichter eigentlich zu sagen hatte.4 Nur spekulieren lässt sich, dass es seine soeben begonnenen privaten Architektur- und Kunststudien waren, die das Thema für das vermutlich leicht einseitige Gespräch abgaben. Als Liebhaber der älteren deutschen Kunst aus der Reformationszeit interessierte sich Quandt nämlich beispielsweise für die Kunstschätze der Kirche zu Annaberg, denen er denn auch 1811 seine erste Veröffentlichung in der Zeitung für die elegante Welt widmen sollte. Die Spekulation, dass die Unterhaltung mit Goethe diese Kunstschätze berührte, wird gestützt durch eine Formulierung, zu der Quandt hier – wohlgemerkt nach dem Erscheinen des Romans – fand, eine Formulierung, die ohne den berühmten Schlusssatz der Wahlverwandtschaften kaum denkbar ist: Jahrhunderte hindurch waren diese heiligen Bilder durch Poussins, Bouchers und anderer falsche Größe und Grazie verdrängt worden. Vielleicht, daß sie es nicht auf immer sind und in das Leben der Kunst zurückkehren, gleich jenen Heiligen, die nicht gestorben waren, sondern nur Jahrhunderte hindurch ruhten und in einer bessern Zeit erwachten.5
Goethes Roman beeindruckte Quandt offenbar so tief, dass er dessen letzten Satz wie unter Zwang an einer wichtigen Stelle seiner ersten Publikation nachempfand. Der Roman hinterließ diesen Eindruck, so darf man vielleicht spekulieren, weil Quandt sich ganz offensichtlich von der Erinnerung daran nicht mehr lösen konnte, den Dichter zur Zeit der Niederschrift persönlich gesprochen zu haben. Sollte er dem Dichter mit einer beiläufigen Mitteilung über die Bildwerke zu Annaberg vielleicht sogar die Idee zum letzten Satz seines Romans eingegeben haben? Diese Spekulation würde jedenfalls erklären, in welchem Ausmaß die Wiederholung der Goethe’schen Welt für Quandts weiteres Leben bestimmend werden sollte. Nicht Weimar an sich, sondern Goethes Welt geriet Quandt nämlich zum Modell für das, wofür er seit 1820 in Dresden das erhebliche Leipziger Familienkapital einzusetzen suchte: einen bürgerlichen, ein sächsischen Kunstverein, der sich bei insgesamt doch beträchtlichen
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Vgl. im Folgenden Bernhard Maaz, Goethe bei Quandt. Die Fresken auf der Schönen Höhe. In: Johann Gottlob von Quandt. Goetheverehrer und Förderer der Künste 1787– 1859. Dittersbach 2002, S. 73–92; sowie Walter Schmitz / Jochen Strobel, »... ich bin auch ein Vereiner«. Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottlob von Quandt und der Sächsische Kunstverein. In: Dies. (Hrsg.), Von den herrlichsten Kunstwerken umgeben ... .Der Briefwechsel zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Johann Gottlob von Quandt. Dresden 2001, S. VII–LXXI. Johann Gottlob von Quandt, Meine Berührungen mit Goethe. In: Schmitz / Strobel, Briefwechsel (Anm. 3), S. 230–242, hier S. 233. [Johann Gottlob Quandt,] Kunstschätze in der Kirche zu Annaberg im sächsischen Erzgebirge. In: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 200, 7. Oktober 1811, Sp. 1593–1598, hier Sp. 1597.
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geschmacklichen Differenzen als Fortsetzung dessen verstand, was Goethe einst gewollt haben soll. Als Quandt zwanzig Jahre nach der ›Berührung‹ in Karlsbad, vorbereitet durch enge Kontakte zu Johann Heinrich Meyer im Jahr 1815,6 wieder in unmittelbaren Briefkontakt zu Goethe trat, ein gemachter Mann unterdessen, immens wohlhabend, in den Adelsstand erhoben und fast allmächtiger Vorsitzender eines Kunstvereins, der Preisaufgaben für bildende Künstler ausschrieb, warnte Goethe ihn daher bald davor, auf dem Gebiet der Kunstförderung ähnliche Fehler, wie er selbst sie in Kauf genommen habe, noch einmal zu begehen.7 Diese Warnung fruchtete aufs Ganze gesehen jedoch nicht – im Gegenteil. Die Erinnerung an den Karlsbader Sommer des Jahres 1808 begann jetzt, nach 1828, wohl gerade deswegen auf eher unheimliche Weise Besitz von dem Sammler und Kunstmäzen zu ergreifen, der schon 1823 eine halbrunde Halle seines Stadthauses einer soeben erworbenen Goethe-Büste aus der Hand von Rauch ›geweiht‹ hatte,8 weil er sich von Monat zu Monat einmal mehr im Besitz eines Briefes aus der Feder des größten Dichters der Deutschen fühlen durfte. Im Mai 1830 – Quandt hatte soeben im Februar Kaufverhandlungen über ein Adelsgut vor den Toren Dresdens eingeleitet – besuchte er Goethe ein zweites Mal in Weimar. Anlass, über die Wahlverwandtschaften zu sprechen, gab es bei diesem Treffen, bei dem zudem Friedrich Wilhelm Riemer und Kanzler von Müller anwesend waren, sicherlich auch. Die Erkenntnis, wie sehr das frühe und das neuerliche Gespräch auf Quandt einwirkten, wird Goethe aber doch überrascht haben, als er am 6. November 1831 eine umfängliche Sendung aus Dresden erhielt, die aus einem Brief, zwei Zeichnungen, einer Versteinerung und einem beigelegten Einblattdruck mit einer von Quandt gehaltenen Rede bestand. Wie aus dem Brief hervorging,9 hatte Quandt beschlossen, auf dem erst nach seinem Besuch in Weimar im November 1830 endgültig erworbenen Rittergut Dittersbach gleich ein, wie er es nannte, ›neues Haus‹ aufführen zu lassen. Er wählte dazu die höchste Anhöhe der Gegend als Standort. Die Gründung jenes Lustgebäudes, so Quandt, »gab zu einem recht heiteren Feste Veranlassung«,10 nämlich der feierlichen Legung des Grundsteines. Quandt selbst hatte aus diesem Anlass eine Rede gehalten, deren Text Goethe einem dem Brief beigelegten Einblattdruck Bei Legung des Grundsteins auf Schönhöhe ohnweit Dittersbach am 12. September 1831 entnehmen durfte:
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Quandt hatte über seinen Fund altdeutscher Gemälde auf dem Speicher der Leipziger Nicolaikirche nach Weimar berichtet und verschiedene Materialien an Meyer gesendet, die unmittelbar in Goethes Text Nachricht von altdeutschen in Leipzig entdeckten Kunstschätzen eingingen; vgl. MA 11.2, S. 299–302 und Kommentar. Vgl. Goethes Brief an Quandt, Weimar, 10. Dezember 1828. WA IV, 45, S. 78. Rainer G. Richter, Die Beziehungen zwischen dem Kunst- und Künstlerfreund Johann Gottlob von Quandt und dem Sächsischen Hofmaler Carl Christian Vogel von Vogelstein. In: Johann Gottlob von Quandt. Goetheverehrer (Anm. 3), S. 27–41, hier S. 36. Johann Gottlob von Quandt an Johann Wolfgang von Goethe (mit mehreren Beilagen), Dresden, 6. November 1831. In: Schmitz / Strobel, Briefwechsel (Anm. 3), S. 141–148. Ebenda, S. 143.
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Harald Tausch Indem wir diesen Stein der Erde anvertraun, um zu unsrer Lust ein Haus darauf zu gründen, von dessen Gipfel wir die Wälder, Fluren, Dörfer, Städte umher noch freier überschauen können, (wie denn der Mensch immer strebt, sein Daseyn durch Erweiterung seiner Genüsse auszudehnen) fühlen wir uns gedrungen, an die zu denken, welche dereinst diesen Stein finden werden, wenn der stattliche Thurm, die festen Zinnen und starken Mauern des Gebäudes, welches wir aufführen wollen, kein Zeugniß von uns mehr geben.11
So begann Quandt seine salbungsvolle Rede, die je länger je mehr wie eine Parodie des betreffenden Teils aus Goethes Roman anmutet12 – nur dass Quandt seine Parodie auch tatsächlich baute und seine Rede so ernst nahm, dass er sie eigens drucken ließ, um sie versenden zu können, nein: um sie Goethe senden zu können. Quandt hatte offenbar begonnen, das Lusthaus und um dieses herum den Landschaftspark der Wahlverwandtschaften als maßstabsgetreues Modell nachzubauen – fast, als hätte er eine Karte dieses Romans in Händen gehabt, etwa von Riemer gezeichnet, mit dem er in freundschaftlichem Briefkontakt stand. Bei der Grundsteinlegung des neuen Hauses der »Schönen Höhe« – einem selbstverständlich wie im Roman zweistöckigen Bau – hatte man sogar einige Andenken in die Höhlung unter dem Grundstein eingelassen, wobei man des berühmten Romanvorbildes ausdrücklich zu gedenken nicht versäumte. Als einziges kleines Malheur empfand Quandt, wie er Goethe brieflich anvertraut, dass eine junge schöne Frau einen Ring versenkte, der ein Andenken in einem mehrfachen Sinne war. Sie hatte diesen ihr fremden Ring mit einer zierlichen Haarflechte nämlich vor Jahren unter den Sachen ihres Mannes gefunden – offenbar ein Andenken an eine ihr bis dahin unbekannte, hoffentlich frühere Liebste desselben. Seither trug sie, die rechtmäßige Gattin, diesen Ring als Andenken ihres Sieges über die Unbekannte. Nun aber, anlässlich der Grundsteinlegung, nahm sie den Ring von ihrer schönen Hand, forderte ihren Gatten auf, ihn noch einmal zu betrachten, und warf ihn in die von Quandt prompt eigenhändig mit einer ungeheuren Steinmasse bedeckte Aushöhlung. Begraben sollte das Ding offenbar sein, und erinnern sollte der Gatte sich fortan an das Bild des Begrabenseins seiner verheimlichten Vorliebe. – Was aber begrub der mit Clara Bianca Meißner verheiratete, zuvor vergeblich die Weimarerin Adele Schopenhauer umwerbende Quandt unter dem Grundstein? – Nichts anderes als einen der ihm als Andenken so werten Briefe von Goethe!, so fährt Quandt auf unbefangene Weise in seinen brieflichen Mitteilungen an Goethe fort, offenbar sich selbst nicht ganz im klaren darüber, welchen Wunsch er damit dem geduldigen Papier anvertraute. Damit Goethe sich zudem ein Bild von Dittersbach machen könne, ließ Quandt von einem Künstler zwei Zeichnungen anfertigen, die er mit der nächsten Post nach Weimar sandte. Am Bildrand dieser Kunstwerke, die für das Können der vom Sächsischen Kunstverein geförderten Künstler paradigmatisch einstehen mögen, sind die Orte, die sich – wie die neugegründete Schöne Höhe – auf den Roman beziehen, mit Hinweispfeilen von Quandt angegeben (Abb. 1). 11 12
Ebenda, S. 146 (aus der gedruckten Beilage). Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 9. MA 9, S. 342ff.
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Abb. 1: Traugott Faber: Ansicht von Rörsdorf mit Schloss Dittersbach von der Nordseite. 1831. Aquarell mit gezeichneter Umrandung mit Feder in Schwarz, 25,7 × 39,4 cm. Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Standort Goethe-Nationalmuseum. Ident.Nr. 216076, Schuchardt I, S. 336, Nr. 76.
Quandt schrieb Goethe einmal, er schrieb ihm ein weiteres Mal. Keine Antwort. Am 11. Dezember 1831 heißt es in einem dritten Brief: Ew. Excellenz geehrtes Schreiben vom 29 Novbr, welches an den Hofrath Winkler gerichtet war, sollte einen Brief an mich enthalten, der sich aber nicht darinn befand.13
Endlich kam die Antwort. Fraglich allerdings, ob Quandt hörte, was da zwischen den Zeilen stand, als Goethe maliziös darauf hinwies, dass Quandt – »von den herrlichsten Kunstwerken umgeben«,14 so beginnt der Brief – es ja wohl selbst war, der die Standorte für diese beiden Zeichnungen ausgesucht habe, und in diesem Ton weiter ausführte: so würde es Sie gewiß unterhalten, wenn es möglich wäre, Ihnen auf einem Blatt darzustellen, wie ich mir das liebe Dittersbach, die neugegründete Schönhöhe und das benachbarte Stolpe zusammengedacht [nämlich: vor Eintreffen der Zeichnungen]; es gäbe ein Bild, das den steilen Darstellungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sich zur Seite stellte. Hier aber ist alles so anmuthig, die Höhen so mäßig, das flächere Land so hübsch bewegt, daß man begreift wie seit vielen Jahren eine
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Johann Gottlob von Quandt an Johann Wolfgang von Goethe, Dresden, 11. Dezember 1831. In: Schmitz / Strobel, Briefwechsel (Anm. 3), S. 151. Johann Wolfgang von Goethe an Johann Gottlob von Quandt, Weimar, 18. Dezember 1831. Ebenda, S. 152.
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Harald Tausch bedeutende Besitzung sich hier gründen und zusammenhalten können, wovon uns die topographischen Wörterbücher hinreichend belehren [...].15
Wer, wie Quandt, das Mittelmäßige an den ihm vorgelegten Preisaufgabenblättern von Künstlern gerne mit scharfen Worten geißelte, hätte eigentlich für die implizite Botschaft dieses Briefes ein Ohr haben sollen. Immerhin hatten die Weimarischen Kunstfreunde gerade 1807 und 1808, also nach dem Scheitern der Preisaufgaben in Weimar, ersatzweise Besprechungen unter dem Titel von Unterhaltungen über Gegenstände der bildenden Kunst als Folge der Nachrichten von den Weimarischen Kunstausstellungen zu veröffentlichen begonnen, in denen unter anderem Gartenkunst und Landschaftsmalerei gewürdigt wurden, darunter Paul Brils steile und »kühne« Landschaftskompositionen aus dem 16. Jahrhundert, und zwar für die von ihm so wohlgetroffenen Abgründe, Wasserstürze, enge Täler, himmelansteigende Gebirge, gewagte Brücken und Stege, Mühlen in den wunderbarsten Lagen, Schlösser, die Zauberwohnungen ähnlich, auf unzugänglichen Felsen trotzen.16
Vielleicht wollte Quandt die intertextuellen und intermedialen Hinweise, die allesamt auf die Inkommensurabilität von Goethes Roman abzielen, nur nicht hören, da ihm eine solche Einsicht erschwert hätte, ferner mit dem Pfund seiner Beziehungen zu Goethe zu wuchern, wenn er im Sächsischen Kunstverein wieder einmal unter Androhung seines Rücktritts seine kunstpolitischen Absichten durchsetzen wollte. – Wie aber darf man Goethes implizite Botschaft deuten? Worauf gründet sich Goethes Ironie gegen diese verhübschende, mittelmäßige, bildungsbürgerliche Verflachung der Landschaft seines Romans? Da Quandt just die Grundsteinlegung für das Lusthaus ins Zentrum seines Briefes stellt, sei es erlaubt, vorab ein Schlaglicht auf diese Szene zu werfen. Wie zuletzt Michael Mandelartz überzeugend gezeigt hat, tritt gerade an dieser Grundsteinlegung am klarsten zutage, dass nichts in den Wahlverwandtschaften so ist, wie es scheint.17 Die Rede des Maurers benennt eingangs drei Punkte, die bei allem Bauen zu befolgen seien – Goethes Roman führt hingegen nach und nach vor, dass keine dieser drei Grundregeln beachtet wird. Am rechten Fleck stünde es, so der Redner, wäre der Hausherr der ihm obliegenden Pflicht der Bezeichnung der Stelle nachgekommen; der aber hatte es Ottilie überlassen, die Stelle zu bezeichnen. Um vollkommen ausgeführt zu sein, so die nächste Grundregel, bedürfe es vieler Gewerke, doch noch sehr viel später ist es nur »nahezu«18 bewohnbar, es muss notdürftig für die Frauen
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Ebenda. Unterhaltungen über Gegenstände der bildenden Kunst als Folge der Nachrichten von den Weimarischen Kunstausstellungen. MA 9, S. 533–562, hier S. 560. Vgl. auch die 1808 publizierte Fortsetzung Neue Unterhaltungen … ebenda, S. 579–598: Die beiden Veröffentlichungen stellen wichtige Kontexte aus der Entstehungszeit der Wahlverwandtschaften dar. Michael Mandelartz, Bauen, Erhalten, Zerstören, Versiegeln. Architektur als Kunst in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 118 (1999), S. 500–517. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 10. MA 9, S. 469.
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eingerichtet werden, nachdem Charlotte einen »Abschluß« »da« »machte«, »wo man mit Vergnügen wieder von vorn anfangen konnte«.19 Für eine solide Gründung bedürfe es schließlich einer Grundsteinlegung als »Hauptangelegenheit des ganzen Unternehmens«.20 Doch hat man offenbar aus Ungeduld schon vor der Grundsteinlegung begonnen, an der entgegengesetzten Ecke »die Mauern aufzuführen«.21 Zudem erfolgt die feierliche Niederlegung des Grundsteins auf einem Untergrund, der nicht geebnet wurde. Es verwundert daher nicht, dass dieser Neubau, der im Unterschied zum ererbten alten Schloss von vornherein mit hohen Erwartungen befrachtet und symbolisch mit Bedeutung ausgestattet wird, zum Einsturz verurteilt ist, da er eines soliden Fundamentes entbehrt. Ein körperlich begehbares Symbol sollte das neue Haus im Roman sein. Es sollte mit allen Sinnen wahrnehmbar sein und doch auch Unsinnliches bedeuten. In dieser Hinsicht hat es mancherlei Ähnlichkeit mit Goethes eigenem Symbolbegriff aus der Zeit der Herausgabe der Propyläen und der Zusammenarbeit mit Schiller. Schon durch seine Lage auf einer erhabenen Höhe sollte es autonom gewählte Blickbeziehungen ermöglichen, die den Blick eher in die Tiefe der neu erschlossenen Landschaft führen als zum unbefragt ererbten Besitz zurückleiten würden – das alte Schloss ist von hier aus ja nicht zu sehen. Das Prospektive des Weimarer Klassizismus, der sich durchaus als Bruch mit der Tradition verstand, wird auf diese Weise in einer Architektur verbildlicht. Doch nicht allein der Bruch mit der nächstliegenden Vergangenheit definiert das neue Haus. Vielmehr sollte es durch einen wohl erwogenen und festlich inszenierten Rückgriff auf eine weiter zurückliegende Vorvergangenheit fundiert werden; bei der Grundsteinlegung werden nämlich auffälligerweise Münzen und Wein, also Gegenstände, die ursprünglich auf die mediterrane Antike hindeuten, unter den Grundstein versenkt. Statt der Fortschreibung der Tradition des Schlosses hatte man mit der Neufundierung auf einer nur ›symbolisch‹ benötigten, ansatzweise entsemantisierten Antike, für deren assoziative Evokation ein paar Münzen, ein paar Flaschen alten Weines ausreichen, letztlich etwas ganz Neues gesucht: einen Ausblick über die gegenwärtig umgebende Landschaft, der die Beschränkungen dieser Landschaft gleichsam überspringt, um in der »Höhe«, da »der Blick oben freier« wird, die eigene Brust fühlen zu lassen, wie sie sich »erweitert«22 – an die Begrifflichkeit von Schillers philosophischer Lyrik zu denken, ist hier durchaus geboten. Und doch ist dieses neue Haus noch vor seiner Vollendung zum Einsturz verurteilt. Eduard dringt darauf, dass Ottilie die goldene Kette, die das Porträtmedaillon ihres Vaters trug, unter die für den Grundstein bestimmten Kleinode legt, die nur unter der Bedingung der Zerstörung des Hauses wieder zum Vorschein kommen sollen. Dieses Kettchen liegt am Ende des Romans wieder vor
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Ebenda, I, 17. MA 9, S. 390. Ebenda, I, 9. MA 9, S. 343. Ebenda, S. 346; vgl. auch den Beitrag von Elisabeth von Thadden in diesem Band. Ebenda, I, 3. MA 9, S. 303.
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den Augen des Lesers, ohne dass ihm erläutert würde, wie das zuging.23 Ein Fehler Goethes? Oder gibt es Umstände – wie etwa den Einsturz des Lusthauses –, die der Erzähler des Romans entweder bewusst verschweigt, mitzuteilen unterlässt oder die sich seiner Kenntnis entziehen? Die Rede, die der Maurer in gebundener Rede hält und die der Erzähler sich und uns in Prosa übersetzt, ist ganz offensichtlich als Modell für diese perspektivische Begrenztheit des Erzählers zu verstehen: Denn nicht nur mit Blick auf die erzählte und diegetisch aufgezeigte Welt, in der die Bauten und Gärten des Romans ihren Platz finden, widersprechen die drei Punkte allen Grundregeln des Bauens, sondern auch mit Blick auf den Sprecher selbst, also den so überaus wohlgeputzten Maurer. Die Rede hält nämlich – wie man unter der Überzahl von schmückenden Beiwörtern und Verzierungen fast übersieht, weil die wichtigste Information erst nach der Rede nachgereicht wird – nicht etwa der Meister, wie er sollte, sondern ein hierfür weder zuständiger noch ausgebildeter Geselle.24 Die Rede führt somit innerhalb des Romans vor, dass auch der Roman als Ganzes von einer Stimme vorgetragen wird, deren behaupteter Übersicht über die von ihr vorgetragenen Zusammenhänge man nicht ungeprüft Glauben schenken sollte: Es ist nicht Meister Goethe, der hier spricht, sondern die Stimme eines Erzählers, der Teil der von ihm erzählten Welt ist. Bedenkt man nun diese Differenz zwischen dem veranschaulichenden Gestus des Erzählers, der Übersicht zu haben prätendiert, und dem zu veranschaulichenden deiktischen Grund, auf welchem die Figuren agieren, dann wird man jeden Versuch einer nachträglichen Kartierung der Romanwelt als zum Scheitern verurteilt ansehen müssen. Gerade aufgrund ihrer Sorgfalt bei der Nachzeichnung der Wege, die von den Figuren im Rahmen der Textlandschaft begangen werden, kam schon Stefanie Geißler-Latussek zu dem Ergebnis, dass der Roman unauflösliche Widersprüche in sich trägt.25 Etwas anderes wäre es freilich, wenn man Goethes eigene Vorzeichnung zu dem Roman besäße. Stefan Blechschmidt hat jüngst eine solche Zeichnung aus Riemers Nachlass vorgewiesen.26 Tatsächlich hat Riemer in seinem Tagebuch bezeugt, dass Goe-
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Ebenda, II, 18. MA 9, S. 520. Erstmals bemerkt von Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹. Frankfurt am Main 1986, S. 200f. Buschendorf deutet die hierfür notwendige »Zerstörung des Lusthauses« im Sinne einer vom frühneuzeitlichen Melancholiediskurs fundierten »virtuellen Aufhebung«, da das Lusthaus für die irdische Liebe einstehe, wie sie von der Renaissance verstanden worden sei. Buschendorfs Deutung geht davon aus, dass Goethes Roman »die poetische Reflexion auf ein entschwundenes Ideal« zur Sinnfigur habe (S. 64). Diese Deutung ist zu modifizieren, indem die Trauerarbeit auf die jüngstvergangenen Anstrengungen zur Wiederbelebung der Antike bezogen, nicht also vom Neuplatonismus der Renaissance her verstanden wird. Vgl. hierzu abermals Mandelartz, Bauen (Anm. 17). Stefanie Geißler-Latussek, Der Landschaftsgarten in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Erneuter Versuch einer Kartographie. In: Goethe-Jahrbuch 109 (1992), S. 69–76, hier S. 76. Stefan Blechschmidt, Der Schauplatz von Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹. Kartographischer Zugang und modellhafte Vergegenwärtigung. In: Ernst-Gerhard Güse u.a. (Hrsg.), »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlver-
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the gemeinsam mit ihm eine Karte zu den Wahlverwandtschaften gezeichnet habe. Allerdings fragt man sich, wie es möglich ist, dass genau an jener Stelle dieser Karte, an der Ottilie das neue Haus zu bauen vorschlägt, das Kürzel für Leipzig eingetragen ist (Abb. 2)?
Abb. 2: Friedrich Wilhelm Riemer [?]: Skizze zu Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«. Graphit, Tinte, Papier, 24,3 x 19,1 cm. Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, GSA 78/539,2.
wandtschaften‹. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 28–35, hier S. 31 der von Stefan Blechschmidt und Helmut Hühn aufgefundene Plan.
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II. Ein Intertext: Das versteckte Labyrinth Hirschfelds Nicht um den Versuch einer nachträglichen Kartierung, sondern um das Auffinden vorbereitender Materialien für den Roman soll es den folgenden Ausführungen gehen. Die Entstehungsgeschichte des Romans soll in bestimmten Punkten aufgehellt werden, indem bislang unbekannte Kontexte im Gartenund Architekturdiskurs der Zeit aufgezeigt, Goethes unmittelbare Anteilnahme daran nach Möglichkeit nachgewiesen und punktuell die Auswirkungen dieser Anteilnahme im Roman plausibilisiert werden soll. Die Struktur des Romans soll auf dieser intertextuellen Basis als diejenige eines versteckten Labyrinthes gedeutet werden. Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob es denn einen Garten gebe, der als Vorbild für denjenigen in Frage kommt, der im Roman mehr als nur eine Rolle im Hintergrund spielt. Schwierig ist diese Frage insbesondere angesichts der augenfälligen Artifizialität des Romans. Wie sollte ein so form- und sprachbewusster literarischer Text sich unmittelbar nachahmend auf ein Vorbild aus der Architektur- und Gartengeschichte beziehen? Die existierenden Versuche, ein solches Vorbild aufzufinden, überzeugen nicht recht, da sie sich der Frage nach der Leistung eines solchen Vorbilds für die Spezifika der Romanwelt nicht stellen.27 Fritz Ebner hat etwa an Schloss Ziegenberg gedacht, da hier ein unter Goethes Beteiligung zustande gekommenes Denkmal des dreifachen Glücks an eine empfindsame Konstellation dreier einander liebend verbundener Menschen erinnerte.28 Allerdings lag Schloss Ziegenberg sehr hoch, höher als seine Umgebung; eine Anhöhe vis-à-vis, auf der man in halber Höhe eine Mooshütte und oben ein neues Haus hätte errichten können, gab es hier nie, um von der umgebenden Landschaft ganz zu schweigen, die nichts mit der vom Roman evozierten gemein hat. Andere Forscher, wie Goethes Biograph Heinrich Meyer, haben an Drakendorf bei Jena gedacht, wo die von Goethe in dieser Zeit auf merkwürdigste Weise umworbene Silvie von Ziegesar beheimatet war, ohne zu überzeugenderen Ergebnissen hinsichtlich Park und Architektur zu gelangen.29
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André François-Poncet, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Versuch eines kritischen Kommentars. Mainz 1951, S. 109–116. Kritisch zu den hier aufgelisteten Identifikationsversuchen bereits Claudia Brosé, Park und Garten in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Park und Garten im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal, Würzburg und Veitshöchheim 26.–29. September 1976, Heidelberg 1978, S. 125–129, hier S. 129. Wilhelm Christoph Diede zum Fürstenstein ließ der Freundschaft zwischen seiner Gattin, seiner Schwester und ihm selbst ein von Oeser entworfenes und von Klauer ausgeführtes Denkmal setzen, an dessen Inschrift Goethe sich 1781/82 beteiligt hatte. Vgl. Fritz Ebner, Dem dreyfach gefesselten Glyke. Schloß Ziegenberg und Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Ders., Goethe. Aus seinem Leben. Reden, Vorträge, Zeitbilder. 2. Auflage. Darmstadt 2002, S. 172–189; bereits am Ende des 19. Jahrhunderts haben verschiedene Forscher an Ziegenberg gedacht, vgl. François-Poncet, Versuch (Anm. 27), S. 109. Heinrich Meyer, Goethe. Das Leben im Werk. 2. Auflage. Stuttgart 1967, S. 533–571.
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Etwas ganz anderes wäre es jedoch, wenn Goethe sich nicht auf ein gebautes Vorbild bezogen hätte, sondern sich auf freie Weise von der Beschreibung eines ihm gerade nicht aus eigener Anschauung bekannten Gartens dazu hätte anregen lassen, ein tendenziell subversives Verweisungsspiel zwischen Texten in Gang zu setzen:30 etwa in dem Sinne, dass er sich intertextuell durch eine gewisse Zahl von deiktischen Hinweisen auf ein bekanntes Paradigma der Gartenkunsttheorie – allgemein zugänglich, allgemein bekannt, allgemein gerühmt – bezogen hätte, um gerade durch die Nicht-Übernahme anderer Elemente desselben Paradigmas die Einbildungskraft des Lesers zu reizen. Für eine solche Form der Bezugnahme kommt nun tatsächlich jener zeitgenössische Garten in Betracht, den der bekannteste Gartentheoretiker der damaligen Zeit, der Kieler Professor Christian Cay Lorenz Hirschfeld, in seiner fünfbändigen Theorie der Gartenkunst eingangs im systematischen Teil »Gärten in Deutschland« als einziges Beispiel und somit als prominentes Muster eines deutschen Landschaftsgartens aufgenommen hatte: Ascheberg am Plöner See.31 Dieses Adelsgut verfügte 1779, als der erste Band von Hirschfelds Theorie erschien, über einen »kleinen Kunstgarten«, »der noch in der alten Manier angelegt ist«.32 Als »beste Parthie« dieses nach barocken Prinzipien angelegten Gartens erwähnt Hirschfeld »eine Seitenallee von vier Gängen von hohen und schattenreichen Linden«33 – man vergleiche eine entsprechende Passage in den Wahlverwandtschaften, in welcher der Gehülfe durch den großen alten Schloßgarten gegangen war und die hohen Lindenalleen, die regelmäßigen Anlagen, die sich von Eduards Vater herschrieben, bewundert hatte.34
Entsprechend der Gesamttendenz seiner Theorie, die einen ›natürlichen‹ Gartenstil in Modifikation des englischen Vorbildes bevorzugt, streicht Hirschfeld lobend heraus, dass man diesen »kleinen Kunstgarten« zu Ascheberg bald »vergißt«, um demgegenüber auf einem ansehnlichen, mit Waldung bedeckten »Berge die freyen und höhern Ergötzungen der Natur zu genießen«.35 Die Worte, die Hirschfeld über einen unmittelbar von dem barocken ›Kunstgarten‹ den Berg hinaufführenden Weg findet, wirken wie eine vorwegnehmende Zusam-
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32 33 34 35
Im Sinne von Michael Worton / Judith Still (Hrsg.), Intertextuality. Theories and Practices. Manchester, New York 1990. Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst. 5 Bände in 2 Bänden. Mit einem Vorwort von Hans Foramitti. Hildesheim, New York 1973, Band 1, S. 75–81. Von besonderem Reiz für die Einbildungskraft dürfte sein, dass Hirschfeld – wie meist – keinen Ansichtsstich von diesem Park bietet, weswegen auch wir auf Bebilderung verzichten. Zu unserer These passt gut, dass Goethes Verhältnis zu Hirschfeld von seiner ersten Äußerung aus dem Jahr 1769 an auf einen ironischen Ton gestimmt war, er nannte ihn nämlich Friederike Oeser gegenüber den »Anatomicker der Natur«, vgl. Susanne Müller-Wolff, Ein Landschaftsgarten im Ilmtal. Die Geschichte des herzoglichen Parks in Weimar. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 127. Hirschfeld, Gartenkunst (Anm. 31), S. 77. Ebenda. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 8. MA 9, S. 458. Hirschfeld, Gartenkunst (Anm. 31), S. 77.
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menfassung dessen, was in den Wahlverwandtschaften über den von Charlotte angelegten Schlängelpfad, seine Vorzüge und seine Mängel ausgeführt wird: Der Hauptweg, der den Berg hinaufführt, ist eben, bequem und schlängelnd; überhaupt sind die Gänge mit einem guten Geschmack angelegt; sie richten sich immer nach der Beschaffenheit des Bodens, und laufen in abwechselnden edlen Krümmungen, ohne Ziererey, fort. Die Aussicht nach dem See ist gleich verschlossen. Indem man fortsteigt, steigt auch die Erwartung der Eröffnung eines Prospects, und diese Erwartung wird nicht befriedigt.36
An Stelle der erwarteten freien Aussicht trifft man Hirschfeld zufolge nämlich »fast auf der Höhe [...] eine mit Stroh überzogene Hütte an«, eine »einfache[] Architektur, inwendig mit Baumrinden ausgeschlagen. Zwey Ruhebänke machen ihre ganze Auszierung«.37 Als größter Mangel dieser Hütte, die wie ein unmittelbares Vorbild für Charlottes Mooshütte wirkt, wird »die etwas eingeschränkte Aussicht« beklagt, die »nach der Landgegend« geht: »man erblickt ein Dorf und einige eingezäunte Felder«,38 statt dass man den See in der Landschaft zu sehen bekommt. Der Grund für dieses Vorenthalten einer freien Aussicht auf den unregelmäßig sich in die Landschaft erstreckenden Plöner See ist, dass der sich hinauf schlängelnde Weg stets »in einer allmähligen Erhöhung«39 – also etwa auf der Höhenlinie der Strohhütte – verbleibt, ohne zu jener »Höhe« hinaufzuführen, die an sich »eine einzige ganz offene Aussicht, die herrlich und ausgedehnt ist« böte, »aber eine größere Wirkung thun müßte, wenn die Oeffnung mehr erweitert würde«.40 Statt die vorfindliche Bewaldung zu belassen, die auf dem »ebenen, runden Platz«41 oben die Aussicht nur einschränkt, schlägt Hirschfeld vor, ein für diesen Platz bereits erwogenes, doch dann fallengelassenes Bauprojekt doch noch auszuführen: »Wenn es, wie man sagt, im Vorschlag gewesen, auf diesem Gipfel des Berges einen Tempel anzulegen: so wäre die Lage dazu ungemein günstig«.42 Hirschfeld schlägt einen der Sonne gewidmeten Tempel
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Ebenda. Ebenda, S. 78. Ebenda. Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 78. Ebenda. Ebenda. Zwar kann man angesichts der tatsächlichen Lage von Ascheberg kaum davon sprechen, dass es vom neuen Haus aus eine Aussicht auch »in die Gebirge« gebe, wie Ottilie in den Wahlverwandtschaften sagt (I, 7. MA 9, S. 338). Doch wie man sieht, scheut der in Kiel tätige Hirschfeld nicht davor zurück, vom »Gipfel des Berges« Ascheberg zu sprechen, den es tatsächlich gibt. Sucht man kein ›realistisches‹ Vorbild in der Natur, sondern einen intertextuellen Bezug, spricht dieser mögliche Einwand also nicht gegen die These, dass der am Rand der sogenannten Holsteinischen Schweiz gelegene Garten von Ascheberg – in Hirschfelds Beschreibung – dieser Bezugsgarten ist. Überdies bediente bereits Friedrich Matthisson 1794 in seiner Seereise nach Kopenhagen sich des Ausdruckes »Schweizerprospect« mit Blick auf die Lage; zitiert nach: Margita Marion Meyer, Der Ascheberger Gutsgarten. Seine Geschichte und neue Aspekte der verschiedenen Herrenhausbauten im 18. und 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Heimatkunde im Kreis Plön 26 (1996), S. 6–32, hier S. 7.
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vor, der »in der Ferne eine lebhafte Wirkung haben« müsste:43 ein »Werk«, »das bis jetzt das einzige in diesem Lande wäre«.44 Das Lusthaus der Wahlverwandtschaften, das auf der freie Aussicht gewährenden Höhe oberhalb der Mooshütte projektiert wird, scheint hier zumindest in Umrissen präfiguriert, zumal der Vorschlag, den Tempel der Sonne zu weihen, wie eine Vorwegnahme des halb utopischen Charakters dieses Architekturentwurfes wirkt. Allerdings befand sich zu Ascheberg – folgt man Hirschfeld – eine spektakuläre Gartenarchitektur, die in den Wahlverwandtschaften nicht ausgestaltet ist. Ist man nämlich auf der »andern Seite des Berges« den Berg hinuntergestiegen, erreicht man unten von einer »Bank« aus, die dazu »einladet, eine große weite Aussicht zu genießen«,45 nach wenigen Schritten einen Irrgarten: Hier tritt man, ohne Gefahr sich zu verirren, in einen zauberischen Irrgarten, den die blühende Phantasie eines Geßners in der Stunde, da ihn die ländliche Muse einweihete, nicht einladender schildern kann.46
Da man sich in diesem aus niederem Gehölz gebildeten Irrgarten, wie Hirschfeld sofort betont, nicht verirren kann, handelt es sich – wie auch folgende Stelle nahelegt – offenbar um ein Labyrinth aus mehreren Umgängen, die allesamt ohne die Möglichkeit der Abweichung auf ein Zentrum hinführen: Lange leitet der Weg, in einer allmähligen Rundung sich windend, in diesem entzückenden Revier, wo die Liebe von jedem Zweige athmet, umher.47
Diese Nicht-Übernahme einer so literaturnahen Gartenarchitektur lässt aufhorchen. Sollte Goethe sich vor allem deswegen auf Hirschfelds Paradigma eines deutschen Gartens bezogen haben, um in seinem Roman eine Leerstelle zu markieren? Ist die Nicht-Übernahme des Labyrinthes als Gartenarchitektur etwa als Hinweis darauf zu verstehen, dass das Labyrinth auf einer anderen Ebene des Romans eine umso bedeutendere Rolle spielt? Sollte ein Labyrinth gar dem gesamten Roman als ein unsichtbarer Grundriss zu Grunde liegen? – Denkt man an den Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre aus dem Jahr 1795/96 zurück, für dessen Fortsetzung unter dem Titel von Wanderjahren die Novelle von den Wahlverwandten ursprünglich vorgesehen war, dann wäre diese Annahme mehr als plausibel, denn den Lehrjahren hatte Goethe tatsächlich die Idee eines Liebeslabyrinthes unterlegt, indem er an ein bestimmtes, ihm von seinen Italienreisen her bekanntes Vorbild dachte: den Irrgarten von Giardino Giusti in Verona.48 Zudem weisen die Lehrjahre darauf hin, dass Goethe das 43 44 45 46 47
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Ebenda. Ebenda, S. 79. Ebenda. Ebenda, S. 80. Ebenda; zu Goethes Distanzierung von Hirschfeld kommt hinzu, dass er dessen Referenzautor Geßner als »Idol der poetischen Dilettanten identifizierte«, vgl. Hans Rudolf Vaget, Um einen Tasso von außen bittend. Kunst und Dilettantismus am Musenhof von Ferrara. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 232–258, hier S. 249. Vgl. Harald Tausch, Labyrinthe der Aufklärung. In: Hans Adler / Rainer Godel (Hrsg.), Formen des Nichtwissens der Aufklärung. Formes du non-savoir au siècle des lumières.
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Aussparen des Bedeutsamen auch ausdrücklich reflektierte: »was der Zuschauer nicht sieht, was er sich vorstellen muß, ist wie ein Hintergrund, vor dem die spielenden Figuren sich bewegen«,49 heißt es dort bewusst doppeldeutig, indem sowohl auf das vordergründige Agieren auf der Theaterbühne als auch auf das hintergründige Agieren der Turm-Gesellschaft angespielt wird. Allerdings wäre das Labyrinth der Wahlverwandtschaften im Vergleich zu demjenigen aus den Lehrjahren unkenntlicher geworden. Statt dem Roman eine spezifische Struktur zu verleihen – einen Grundriss, auf welchem die Figuren irren –, wäre dieses Labyrinth ganz im Sinne der Parkgestaltung der Figuren des Romans, welche künstliche Beschränkungen des Blicks ästhetisch zu überspielen sucht, ›invisibilisiert‹ worden. Wie in Ascheberg, wo das Labyrinth in den Jahren nach Hirschfelds Publikation tatsächlich aufgegeben worden zu sein scheint, wäre das Labyrinth ›unsichtbar‹ geworden.50 Wie in diesem einst betretbaren Labyrinth, wo man lediglich »fühlt [...], daß man in der Schöpfung der Liebe wandelt«,51 wie Hirschfeld noch sagt, würde es sich bei dieser unterdessen unsichtbaren Gartenarchitektur nicht um einen Irrgarten, sondern um ein Labyrinth im strengen Sinne handeln: eine Struktur, die einen unaufhaltsamen, einen sich mit jedem Umgang beschleunigenden Sog auf ein Ziel hin entwickelt, indem sie den Aktionsradius der Handelnden auf eine nur durch halbbewusste Perzeptionen am Rande des Gesichtsfeldes wahrzunehmende, doch jederzeit fühlbare Weise zunehmend einschränkt und verengt. Der Umstand, dass diese Struktur nie offen als solche benannt wird, wiewohl auf sie mehrfach ange-
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Forms of Ignorance in the Enlightenment. Akten der internationalen, interdisziplinären Tagung, Halle/Saale 20.–24. August 2008 [im Druck]. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre V, 5. MA 5, S. 297. Auch die Zitiertechnik der Lehrjahre – man denke an den Saul-Vergleich am Romanende – lässt das Eigentliche in vielerlei Hinsicht ungesagt; vgl. Lothar Bluhm, »Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis’«. ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ zwischen ›Heilung‹ und ›Zerstörung‹. In: Lothar Bluhm / Achim Hölter (Hrsg.), »daß gepfleget werde der feste Buchstab«. Festschrift für Heinz Rölleke zum 65. Geburtstag am 6. November 2001. Trier 2001, S. 122–140. Weiterentwickelt hat Goethe diese Theorie in der Selbstauslegung seiner generischen »Ballade«, vgl. Max Kommerell, Gedanken über Gedichte. 3. Auflage. Frankfurt am Main 1956, S. 313. Wilhelm von Humboldt besuchte Ascheberg 1796 und kommentierte den Besuch in seinem Reisetagebuch, ohne allerdings ein Labyrinth zu erwähnen: Albert Leitzmann (Hrsg.), Tagebuch Wilhelm von Humboldts von seiner Reise nach Norddeutschland im Jahre 1796. Weimar 1894, S. 82f. Auch Meyer erwähnt es 1816 nicht mehr: Friedrich Johann Lorenz Meyer, Darstellungen aus Nord-Deutschland, Band 2. Hamburg 1816, S. 147–155; Meyer berichtet interessanterweise – was heute in Zweifel gezogen wird –, dass der verstorbene Besitzer von Ascheberg, Graf Ranzau, Jean-Jacques Rousseau »eine Zuflucht« anbieten ließ, indem er »nach dem Modell der Häuser in Rousseaus Thal, Motier Travers, eine wohnliche Hütte bauen und daneben einen Kohlgarten anlegen« ließ; ebenda, S. 152. Die bisher bekannt gewordenen Pläne und Ansichten lassen keine Schlüsse auf Lage und Gestalt des Labyrinthes zu, das von der Forschung merkwürdigerweise nicht thematisiert wird. Vgl. einführend Margita Marion Meyer, Ascheberg. In: Adrian von Buttlar / Margita Marion Meyer (Hrsg.), Historische Gärten in SchleswigHolstein. Heide 1996, S. 158–165; Georg Eggers (Hrsg.), Chronik der Gemeinde Ascheberg. Ascheberg 2006, S. 44–48. Für hilfreiche Hinweise und Material danke ich Jutta Totz. Hirschfeld, Gartenkunst (Anm. 31), S. 80.
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spielt wird, dürfte darin begründet sein, dass der Roman einen Erzähler aufweist, der sich so sehr um Distanz, Mäßigung und Stilisierung bemüht, dass er den Sog des unsichtbaren Labyrinthes nach Kräften verleugnet.
III. Abschied vom Klassizismus. Garten und Park im ersten Teil des Romans Der Vorhang des Romans öffnet sich, der Erzähler zeigt mit einer Geste, die primär ihn selbst als Wissen und Übersicht behauptende Rollenfigur konturiert, die sekundär aber auf die Fiktionsbewusstheit des Lesers zielt – eine Mischung, die Goethe den moralischen Wochenschriften Englands abgeschaut haben könnte52 –, wie Eduard im engeren Bereich des Hausgartens in auffällig symbolisierender Weise Propfreiser auf Baumstämme bringt. Eduard versucht sich in einer spezifischen Umschrift der Situation von Jean-Jacques Rousseaus Roman La Nouvelle Héloïse an der Revitalisierung einer Ehe, die, zu spät geschlossen, im Zeichen der Entsagung steht, und daher offenkundig einer Auffrischung bedarf; allerdings agiert er diesen Impuls stellvertretend durch eine Hybridisierung im Garten aus.53 Dem Gärtner verdanken wir die Beschreibung, dass demgegenüber Charlotte mit Erfolg ihrerseits an einem verschönernden Parkgebäude arbeite, das heute fertig werde: die Mooshütte auf halber Höhe der Felswand gegenüber des Schlosses, eine Hütte, in deren Fenstern man gefällige Bilder von Schloss und Umgebung erblickt. Der Weg, den Eduard zu dieser Mooshütte nimmt, belegt, dass der Baron es vor allem zu meiden sucht, den Kirchhof zu betreten, was er kann, da es zwei alternative Wege sind, die in die von Charlotte verantworteten neuen Anlagen führen. Da er sich notgedrungen dem anderen Weg anvertraut, wird er durch einen von seiner Gattin gebahnten sanften Schlängelweg hinauf geleitet, der im Sinne des empfindsamen Gartens allerlei Bänke, Treppen und eine Mooshütte aufweist. Räumliches trennt das Paar somit schon zu Beginn, gerade indem der nähere Bereich um Schloss und Garten von beiden auf strukturell ähnliche Weise als symbolischer Raum bespielt wird. Wenn Eduard alsbald konstatieren wird, dass ihm die Hütte »zu eng«54 scheine, ist dieser den gehobenen Konversationston des Erzählers fast ungebührlich verletzende Ausruf also zumindest assoziativ vorbereitet dadurch, dass schon Eduards Weg hierher kein frei gewählter, sondern ein im Negativen durch die Verdrängung des an Tod und Zeitlichkeit gemahnenden Kirchhofgartens, im Positiven durch die Bahnung eines Felsstiegs in seiner Schrittfolge festgelegter Weg ist: festgelegt nicht von einem unabweislichen Schicksal, fest-
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Vgl. etwa The Tatler, Nr. 79, Tuesday, October 11, 1709: »My Sister Jenny’s Lover, the honest Tranquillus, (for that shall be his name) has been [...]«; The Tatler. Ed. by Donald F. Bond, Volume 2. Oxford 1987, S. 3. Anneliese Botond, ›Die Wahlverwandtschaften‹. Transformation und Kritik der neuen Héloïse. Würzburg 2006, S. 18f. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. MA 9, S. 287.
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gelegt auch nicht durch fremde Autoritäten, denen man zu folgen hätte, sondern festgelegt durch das, was ein mit großer Gestaltungsfreiheit ausgestattetes Paar sich im Jetzt als einen Lebensraum zu schaffen sucht, in dem jeder Schritt auf vorhersehbare Weise auf Wünschbares trifft.55 Eduards Ausruf, der gesamte nun folgende Dialog zeigt freilich, dass es um diesen Wunsch nicht eben zum besten steht.56 Und Charlotte? Ihre Mooshütte wird dadurch charakterisiert, dass dieses rein äußerlich betrachtet doch Naturnähe, ja fast Rousseauismus symbolisierende, kleine Parkgebäude, das schon dadurch den Bruch mit der Tradition des Bauens sucht, dass es im Sinne der Empfindsamkeit sich außen einfach wie die Natur zeigt, innen aber mit Reichtum überrascht, letztlich doch von der Referenz auf das traditionellere, gleichsam immer schon vorhandene, jedenfalls von Eduard in der gegenwärtigen Gestalt ererbte Schloss lebt.57 Im Zentrum der gerahmten Ausblicke, die die Fenster bieten, findet sich dieses alte Schloss: vernünftig gebaut wohl, doch vielleicht gerade deswegen beiden Eheleuten nicht mehr genügend. Wie Eduard, der den Kirchhof meidet, meidet Charlotte nicht nur das Schloss, sondern auch die Kirche; sie hat eine mittlere Höhe am Hang für ihre Hütte gewählt, von der aus die Kirche nicht zu sehen ist – nur der Kirchturm spitzt noch ins Bild. Doch im Bildzentrum der durch die Fenster der Hütte wie durch Rahmen ausgeschnittenen Landschaftsgemälde, die zur Peripherie hin eine gewisse Offenheit suggerieren, ruht nach wie vor das alte Schloss. Charlotte sieht zurück, oder sie sucht sentimentalisch auf das Eigene zurückzuschauen und auf eine erstaunlich distanzierte Weise zu genießen, was sie eher als ein durch den Fensterblick gerahmtes Bild aus der Ferne denn als Bewohnerin des alten Gebäudes selbst zu ertragen scheint.
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Im Anschluss an Hans Blumenberg formuliert Gabriele Brandstetter: »Im Erzählen findet die Semantisierung jener ›Verlegenheitsstelle‹ statt, die zwischen Kontingenzerfahrung und Providenzerwartung aufbricht.« Gabriele Brandstetter, Poetik der Kontingenz. Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1995, S. 131–145, hier S. 132. Diesem zutreffenden Befund soll hier nur modifizierend hinzugefügt werden, dass das symbolisierende Providenzkonstrukt der Figuren meines Erachtens auf den Klassizismus Weimars gemünzt ist, der nunmehr durch den Einbruch des Realitätsprinzips in Gestalt einer vom Erzähler zwar nicht mehr beherrschbaren, doch eben darum von ihm nach Kräften verleugneten Kontingenz konfrontiert wird. In den Ausruf Eduards, dass die Hütte »zu eng« sei, scheint eine Erinnerung Goethes an den Besuch des Parks von Hohenheim eingegangen zu sein. Als Goethe diesen Park am 1. September 1797 gemeinsam mit Johann Heinrich Dannecker besuchte, wollten ihm die sämtlichen Parkarchitekturen nämlich deswegen nicht gefallen, weil sie »theils einen engen, theils einen Repräsentationsgeist verrathen. Die wenigsten von diesen Gebäuden sind auch nur für den kürzesten Aufenthalt angenehm oder brauchbar«; WA III, 2, S. 113 [Hervorhebung H.T.]. Vgl. zum Kontext Ute Klostermann / Günter Oesterle / Harald Tausch, Vom sentimentalen zum sentimentalischen Dörfle. Der Garten von Hohenheim als Modell divergierender Erinnerungskonzepte bei Hirschfeld, Rapp und Schiller. In: Wolfram Martini (Hrsg.), Architektur und Erinnerung. Göttingen 2000, S. 129–158. Vgl. zur Fundierung dieses Diskurses in der englischen Gartenkunst Norbert Miller, Die beseelte Natur. Der literarische Garten und die Theorie der Landschaft nach 1800. In: Helmut Pfotenhauer (Hrsg.), Kunstliteratur als Italienerfahrung. Tübingen 1991, S. 113–191.
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Eduard und Charlotte wollen zu Beginn des Romans, so gibt der Erzähler zu erkennen, offenbar endlich selbstbestimmt leben, nachdem sie beide lange Zeit fremdbestimmt waren. Jeder von beiden war schon einmal verheiratet, genauer: verheiratet worden, und die Kirche hatte ihren Segen dazu gegeben. Schlimmer noch: Beide hätten früh schon ein Paar werden wollen, vielleicht sogar können, doch diesem Wunsch stellten sich die Usancen des 18. Jahrhunderts entgegen. Nun sind diese Hinderungsgründe entfallen, und mit ihnen haben beide die äußeren Bedingungen in der Hand, um ihren früheren Wunsch zu leben. Beide wollen, jeder auf seine Weise, das Versäumnis ihres Lebens rückgängig machen, beide wollen die langjährige Fremdbestimmung geradezu vergessen, um endlich autonom bestimmen zu können, in welchem äußeren Rahmen das neue Leben gemeinsam so stattfinden soll, dass jeder Tag ein Feiertag und somit das Leben ein selbstbestimmtes Kunstwerk wird oder sogar mehr als dies: ein begehbares, mit Leben erfüllbares, fast soziales Kunstwerk ›Garten‹ – jedenfalls für zwei Bewohner. Doch wie sich schon über den ersten Schritten der beiden durch die von ihnen geschaffene Parklandschaft zeigt, hat der Versuch, dieses Modell zu leben, schon seit längerem, jedenfalls bevor der Erzähler den Vorhang hebt, zu scheitern begonnen. Und dies nun wahrlich nicht mehr aus äußeren Gründen. Vielmehr zeigt sich auf Schritt und Tritt, ohne dass dies ausgesprochen werden müsste oder könnte, dass es gerade keine äußerlichen Gründe sind, die das Projekt des sentimentalischen Wiederanknüpfen-Wollens an die einstige Wunschintention von innen heraus scheitern lassen. Das frühere Denken in Kategorien des Besitzens hat in der Seele Charlottes Spuren hinterlassen, und auch Eduard ist nicht so jugendfrisch mehr, wie er es gerne wäre. Wenn Eduard alsbald den Menschen als einen wahren Narziss bezeichnet, ohne zu sehen, wie narzisstisch er selbst agiert, wenn Charlotte ihrem Gemahl mit Blick auf dessen Inanspruchnahme von Bewusstheit für das eigene Tun vorhält, dass das Bewusstsein manchmal eine gefährliche Waffe für den sei, der sie führe, dann fallen diese Einwände letztlich immer auf denjenigen zurück, der gerade spricht: Man kennt sich selbst nicht, und deswegen redet man am anderen vorbei. Eduard lässt die Einsicht nicht zu, dass weniger die Hütte als vielmehr sein vermeintlich selbstgewähltes neues Leben mit Charlotte ihm zu eng ist, daher dilettiert er offenbar schon lange in einem Teil des Gartens, der als hausnah eigentlich Charlotte unterstehen sollte,58 statt aus seiner verworrenen Seelenlage zu einer klar aussprechbaren Einsicht zu finden. Charlotte staffiert sich eine Mooshütte so aus, dass sie den Ort, der eigentlich der Schauplatz ihres Glücks mit Eduard hätte sein sollen, nur aus der Ferne als Bild genießen kann, hübsch gerahmt durch Fenster, die weniger das Prinzip aufgeklärter Rahmenschau symbolisieren als vielmehr das Problem eines Lebens im ästhetisierenden Als-ob problematisieren. Wie sich zeigen wird, dilettieren die bis dahin kinderlosen Ehegatten auch im
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Vgl. Otto Brunner, Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«. In: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Auflage. Göttingen 1968, S. 103– 127.
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neuen Sinn dieses Wortes. Eduards als Liebhaberei betriebene Tätigkeit im Garten taugt, wie sich später zeigt, ebensowenig wie Charlottes sogenannte neue Schöpfung, die ausgerechnet vom professionell ausgebildeten Hauptmann als planlose Liebhaberei korrigiert wird; schmerzlich für Charlotte, deren Herz zunächst an der Mooshütte und zugleich auch an dem Hauptmann hängt, an dem es vor Zeiten ja bereits einmal hing. Mit dieser Konstellation revidiert Goethe, wie hier im Anschluss an ältere und neuere Forschungen gezeigt werden soll, auf selbstkritische Weise die klassizistische Ausrichtung der Literatur des Weimarer Jahrzehnts mit Schiller.59 Was er selbst einst nach Kräften zu befördern suchte, nämlich eine Literatur, die sich schon autonom vermeinte, wenn sie sich nur im traditionsbrechenden Rückbezug auf die Antike ihre immanente Gesetzlichkeit zu geben suchte, wird nun mit den Mitteln des Romans als eine Selbsttäuschung der Vernunft inszeniert, die aufrechtzuerhalten zunehmend der Stilisierungsleistung schöner Worte bedarf. Die klassizistische Fassade über die Brüche, die Katastrophen, das Unentrinnbare des Erzählten hinweg zu sichern, bedarf es der ästhetisierenden Anstrengungen eines Erzählers, der seinen poeotologischen Prämissen zum Trotz Kunst und Leben in den engstmöglichen Kontakt bringt: indem er nämlich zur Absicherung seines extradiegetischen Unternehmens zunehmend auf die Unterstützung durch intradiegetisch handelnde Figuren wie den Pädagogen und den Architekten angewiesen ist, die sich als institutionell ausgebildete Spezialisten die Umgestaltung des Handlungsraumes aller Beteiligten zum Anliegen machen. Eduard und Charlotte hätten eigentlich alle Bedingungen ihrer Existenz in der Hand, doch wie sich zeigt, will sich aus dem Zwang zum dauernden sentimentalischen Reflektieren auf einen vielleicht nur im Nachhinein unterstellten glücklichen Ausgangszustand, der dann durch die Geschichte unterbrochen wurde, kein lebbares Modell von Gegenwart generieren lassen, das den utopischen Erwartungen einer heroischen Idylle zu zweit auch nur annähernd ähnelte. Das neue Haus, auch Lustgebäude genannt, hätte ursprünglich Ort einer solchen das Schöne und das Erhabene versöhnenden Idylle sein sollen, in seinem Fundament ruhen alte Münzen, alter Wein, und die Erinnerung an diese auf die griechisch-römische Antike nur ungefähr alludierenden60 Dinge sollte ein viel zu ungeduldig, viel zu selbstherrlich begonnenes Unternehmen tragen. Doch der Vorhang geht auf, und wir sehen ein Paar, das – statt ein im Sinne der Aufklärung vernünftig gebautes Schloss erstmals wirklich zu bewohnen – im Garten verschiedene Wege geht, um jeder auf seine Weise zu dilettieren. 59
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Stellvertretend für die ältere Literatur sei Grete Schaeder genannt, vgl. Grete Schaeder, Die Idee der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Dies., Gott und Welt. Drei Kapitel Goethescher Weltanschauung. Hameln 1947, S. 276–323, hier S. 279–282; mit besonders interessanten Perspektiven aus der neueren Literatur sei genannt Giovanni Sampaolo, »Proserpinens Park«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Selbstkritik der Moderne. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Stuttgart, Weimar 2003, insbesondere S. 43–67. Ein beabsichtigtes ›ungefähr‹, weil die Münzen bei genauerem Zusehen nicht aus der Antike stammen, ebensowenig wie der Wein.
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Nur ein weiteres Beispiel hierfür sei genannt: Obwohl Charlotte alles mögliche tut, um den Kirchhof ästhetisierend umzugestalten – sie geht ja sogar so weit, die Grabsteine von den Gräbern zu entfernen und sie unter »möglichster Schonung der alten Denkmäler«61 für das »Auge und die Einbildungskraft«62 angenehm, zudem historisch nach ihrem Alter aufzustellen –, nimmt Eduard einen Weg, der den Kirchhof meidet; Eduard orientiert sich also nicht an dem neuen ästhetischen Gebilde, das sie sicherlich auch mit Rücksicht auf seine Empfindlichkeiten derart angelegt hat, sondern an dem, wofür der Kirchhof zuvor einstand, und Eduard tut das, obwohl er nicht religiös ist. Wenn im zweiten Teil des Romans das eingangs fast »beiläufig«63 eingeführte Motiv der Kirche immer stärker in den Vordergrund tritt, so ist auch diese von Eduard und Charlotte ursprünglich nicht gewünschte Wiederkehr des Zentralsymbols für eine gerade nicht von der Autonomie des Menschen bestimmte Welt von ihrem Verhalten vorbereitet. Was als Autonomieentwurf in einem umfassenden Sinn gedacht war, ist bereits zu Beginn des Romans Vergangenheit. Geblieben ist ein matter Ästhetizismus, der Symbole fast beliebig ›häuft‹,64 um sich über die eigenen Bedingtheiten hinwegzutäuschen. Goethes Roman deutet das Klassikprojekt post festum als eine Selbsttäuschung der Beteiligten, die nunmehr im Rückblick als ein leerlaufendes Bemühen um eine Totalausstattung mit Bedeutung überall dort erscheint, wo letztlich der Zufall blind regiert.65 Schon die Entscheidung, weitere Personen in das Kammerspiel hineinzuziehen, ist vorab belastet durch den schwelenden Ausgangskonflikt, dass auch hiermit – genau wie mit allen weiteren Anstrengungen in Architektur und Garten – lediglich verdeckt werden soll, dass die alten Grenzen, Begrenzungen, Bedingungen nicht beseitigt sind, sondern unter den schönen neuen Oberflächen nur invisibilisiert worden sind: Man will sie nur nicht mehr sehen. Kein Wunder, dass alles weitere unter keinem guten Stern steht. Des blinden Fatums bedarf es angesichts dieses Beginnes allerdings nicht mehr; angesichts der nicht ausgetragenen, der unterschwellig weiterschwelenden Konflikte erscheinen alle folgenden Katastrophen als selbstverantwortete Folgen dieses Beginnens.
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 2. MA 9, S. 297. Ebenda, I, 2. MA 9, S. 298. Theo Elm, Johann Wolfgang Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Frankfurt am Main 1991, S. 52. Klaus Heinrich, »Das Bewußtsein ist keine hinlängliche Waffe«. Zur Faszination der ›Wahlverwandtschaften‹ heute. In: Gisela Greve (Hrsg.), Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Tübingen 1999, S. 11–41, hier S. 33. Diese Deutung richtet sich möglicherweise zugleich partiell gegen bestimmte ästhetisierende Tendenzen der jüngeren Romantik. Goethes Blick aber sieht die Verantwortung für diese Tendenzen ganz offenkundig auch bei sich selbst und dem, was er gemeinsam mit Moritz und Schiller einst wollte. Nimmt man einmal ernst, dass Klassizismus und Romantik gleichen Ursprungs sind, dann ist eine solche Selbstkritik ja auch nur konsequent. Vgl. die aufschlussreiche Einschätzung des Romans durch Wilhelm von Humboldt in seinem Brief an Friedrich Gottlieb Welcker, Erfurt, 23. Dezember 1809; zitiert nach Heinz Härtl (Hrsg.), ›Die Wahlverwandtschaften‹. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Weinheim 1983, Nr. 281, S. 88.
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In der Landschaft äußert sich dieses Bestreben dadurch, dass man wie in einem englischen Landschaftsgarten die ehemals klaren Parkgrenzen überschreitet, den engeren Bereich um das Haus in die Landschaft hinein entgrenzt – um damit die freilich weiterhin bestehenden, faktisch betrachtet sogar enger werdenden Parkgrenzen zu verdecken (Eduard verkauft ja ein Vorwerk, wodurch der Besitz geschmälert wird). Im Bereich der Architektur verhält sich dies nicht anders: Schon die Mooshütte sucht, das alte Schloss bildhaft zu distanzieren, und gibt damit die Tendenz für die weiteren Bauten vor, die nun zunehmend den Blick zurück verabschieden wollen, ohne doch zu verhindern, dass man weiterhin, wie bisher schon, die Anlage von Park und Garten »zu unserm Dasein«66 macht, statt sie dem Dasein lebensdienlich werden zu lassen. Schließlich soll das Lusthaus auf der Höhe, schließlich soll der aus drei Teichen gebildete See immer weiter in die Landschaft hinein Bühnen für eine eigentlich gesuchte Fülle des Daseins in der Gegenwart schaffen, deren Geltung stets in die Folge des nächsten Tags vertagt wird. Sowohl die Natur als auch die Architektur, die von den Figuren gesucht wird, sind im Sinne der zeitgleich 1808 von den Weimarischen Kunstfreunden auch ausdrücklich kritisierten pittoresken Kunst des Landschaftsgartens bloß bildhafte Assoziationsträger. In ihrer Besprechung Neue Unterhaltungen über verschiedene Gegenstände der bildenden Kunst als Folge der Nachrichten von den Weimarischen Kunstausstellungen verlautet, dass die Versuchung in der Gartenkunst anders als in der Malerei in der Vollkommenheit des Materials liege, mit dem der dilettierende Künstler arbeite: Büsche und Bäume gäben immer einen angenehmen Anblick, man müsse nicht viel können, um mit ihnen die »Dürftigkeit der Gedanken« zu verschleiern. Der Artikel findet an dieser Stelle zu der für die Interpretation des Romans wichtigen Formulierung, problematisch sei, »daß die Vollkommenheit des Materials, dessen sie [die Dilettanten] sich bedienen, die begangenen Fehler zudeckt«.67 Ein solch vollkommenes Material, allerdings an Worten, steht im Roman vor allem einem zu Gebote: dem Erzähler des Romans. Legten Goethe und Schiller zehn Jahre zuvor Schemata über den Dilettantismus an, um diesem den Kampf anzusagen, wird nun im nachhinein das KlassizismusProjekt selbst als dilettantische Angelegenheit relativiert und in das schwarze Licht einer todernsten Ironie getaucht: keiner Ironie, die wissend ist, keiner Ironie, die sucht, sondern einer Ironie fast ohne Abstand zur Sache, weil diese bis vor kurzem die eigene war.68 Diese Ablösung vom Eigenen führt dazu, dass
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. MA 9, S. 291. Neue Unterhaltungen über verschiedene Gegenstände der bildenden Kunst als Folge der Nachrichten von den Weimarischen Kunstausstellungen. MA 9, S. 579–598, hier S. 581. Gegenüber Jochen Schmidts Freiburger Abschiedsvorlesung, die das Moment der distanzierten Skepsis an Goethes Ironie besonders hervorhebt, wäre vielleicht doch an den Ernst der Umstände zu erinnern, unter denen diese Haltung nur mit Mühe noch gewonnen werden konnte; Jochen Schmidt, Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, besonders in den ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 165–175. Bemerkenswerte Überlegungen zur Ironie der Figur des Erzählers und zur Zweiteilung des Romans bei Gerwin Marahrens, Narrator and Narrative in Goethe’s ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Michael S. Batts / Marketa Goetz Stankiewicz (Hrsg.), Essays on
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Goethe den Erzähler als eine ›zerspaltete‹ Instanz einführt, die zugleich die Rolle eines Regisseurs, Experimentators und Mythologen übernehmen kann69 – und welcher Nebenfiguren wie der Pädagoge und der Architekt dabei auf eine Weise assistieren, dass sie zu Hauptfiguren werden.
IV. Der Architekt und sein historisches Vorbild im zweiten Teil des Romans: Helfrich Bernhard Hundeshagen Der zweite Teil des Romans unterscheidet sich vom ersten in vielerlei Hinsicht. Eduard hat sich entfernt, er überlässt es anderen, das für seine erotische Utopie bestimmte neue Haus auszuführen, in dem er seine Zukunft mit Ottilie und nicht ohne Charlotte sieht, und er überlässt damit zugleich anderen Männern das Spielfeld: insbesondere dem Architekten, der die Anlagen auf eigene Weise weiterführt, dem Pädagogen, der diesen vorübergehend ablöst, und dem Erzähler. Der Erzähler, der einerseits Einblick in die geheimsten Regungen der Seelen seiner Figuren zu haben scheint, also außerhalb der von ihm erzählten Welt anzusiedeln wäre, der aber andererseits die schöne Taille Lucianes mit dem kennerischen Blick eines beobachtenden Mannes abschätzt, welcher sich innerhalb der von ihm erzählten Welt bewegt,70 ist eine paradoxe Gestalt. Am liebsten versteckt er sich hinter anderen. Dies zeigt sich etwa daran, dass dieser mit Eduard an Jahren etwa konkurrierende Mann – um einen solchen handelt es sich ausweislich seines kurzen, scharfen Seitenblickes auf die sonst von ihm stets karikierte Luciane und seiner langen, innigeren Blicke auf die gerade gegen Ende des Romans zunehmend idealisierte, ja zur Heiligen stilisierte Ottilie71 – sich zu Beginn des zweiten Buches zwar selbst porträtiert, dieses Selbstporträt indes versteckt. Es begegne oft, dass nach der Entfernung der Hauptfiguren »ein zweiter, dritter, bisher kaum Bemerkter den Platz füllt«:72 ein dritter, wie der Architekt, auf den er im folgenden eingeht,
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German Literature in honour of G. Joyce Hallamore. Toronto 1968, S. 94–127, insbesondere S. 101–104. Brandstetter, Poetik (Anm. 55), S. 136. Paul Stöcklein, Wege zum späten Goethe. Darmstadt 1984, S. 13. Auf die Komplementarität von Ideal und Karikatur in der Kunsttheorie des Klassizismus, die auf ähnlichen Verfahren des Ausschlusses kontingenter Details zugunsten ›reiner‹ Umrisse beruht, hat im Anschluss an die Forschungen von Werner Busch und Günter Oesterle Bernadette Collenberg-Plotnikov hingewiesen; vgl. Bernadette Collenberg-Plotnikov, Klassizismus und Karikatur. Eine Konstellation der Kunst am Beginn der Moderne. Berlin 1998. Was die Stilisierung Ottiliens am Ende des Romans betrifft, hat Werner Schwan zutreffend formuliert: »Goethe zeigt mit Ottiliens Tod eher die Art, ›wie eine Legende entsteht‹, als daß er ein eigenes Glaubensbekenntnis damit offenbarte« (Werner Schwan, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Das nicht erreichte Soziale. München 1983, S. 197). Allerdings ist es hierfür unabdingbar, zwischen Erzähler und Autor des Romans strikt zu unterscheiden. Zweifel hieran meldet im Rückblick auf die reiche Literatur zum Erzähler folgender Aufsatz von Feuerlicht an: Ignace Feuerlicht, Der »Erzähler« und das »Tagebuch« in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: GoetheJahrbuch 103 (1986), S. 316–343. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 1. MA 9, S. 402.
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und ein zweiter, der gleichfalls ab jetzt »seine ganze Tätigkeit äußert«,73 wie er selbst. »Schon sein Äußeres war von der Art, daß es Zutrauen einflößte und Neigung erweckte«74 – diese auf die schlanke Figur des Architekten gemünzten Worte lassen sich leicht auf das ›Äußere‹ des Erzählers übertragen, wenn man nicht eine bestimmte Physiognomie mit diesem Äußeren zu verbinden sucht, sondern an die ›Stimme‹ des Erzählers denkt, die bereits im ersten Satz des Romans im Akt der Namengebung für Eduard auf eine solch Zutrauen einflößende Weise hörbar wird. Wie dem Architekten ist selbstverständlich auch dem Erzähler »das ganze Hauswesen kein Geheimnis«:75 Er schaut buchstäblich in jedes Zimmer und in jede Seele. Eine Seele steht ihm dabei offenbar besonders nahe, wie am Ende des Romans seine Bereitschaft zur einfühlenden Wiedergabe der erlebten Rede einer Figur, die fast die Grenze zum inneren Monolog berührt, noch einmal eindrucksvoll belegt: Es ist der Architekt, und es ist die Erinnerung an das Belisar-Tableau, das diesen Mann zuvor bereits zur Reflexionsfigur innerhalb eines Tableau vivant gebracht hat, welche den Erzähler am Ende zu einem fast identifikatorischen Akt der Wiedergabe der Gedanken dieser Figur führen. Mit dieser Beobachtung soll nun nicht gerade eine Identität der beiden Figuren unterstellt, es soll aber darauf aufmerksam gemacht werden, dass dem Architekten die Rolle eines agierenden Stellvertreters des Erzählers innerhalb der Diegese des Romans zufällt. Man hat oft darauf hingewiesen, dass Die Wahlverwandtschaften als eine der mehreren Novellen für das große Romanprojekt einer Fortsetzung von Wilhelm Meisters Lehrjahren, also den Wanderjahren, geplant waren. Der Umstand, dass der zweite Teil des Romans in vielerlei Hinsicht statisch wirkt, Handlungsfinalitäten aufschiebt, statt dessen der Inszenierung von Tableaux vivants oder ekphrastischen Vergegenwärtigungen von Architekuren breiten Raum einräumt, wurde auf indirekte Weise mit dieser ursprünglichen Novellenherkunft des Romans in Verbindung gebracht. Nachdem die unerhörte Begebenheit des Ehebruchs in der Phantasie im ersten Teil erzählt wurde, würde der zweite Teil demgegenüber gewissermaßen auf der Stelle treten. Dies ist jedoch keine Schwäche, wie Christoph Martin Wieland urteilte,76 sondern geht auf ein präzises Textkalkül zurück, für das die Figur des Architekten, der bereits im ersten Teil des Romans als ein Schüler des Hauptmanns eingeführt wird, recht eigentlich ersonnen zu sein scheint, insofern er zwar eher als Statist neben den auf der Bühne die Hauptrolle einnehmenden Wahlverwandten rangiert, dort jedoch gleichwohl Aktivitäten entfaltet, die der Erzähler sich nicht erlauben dürfte. Wielands Kritik, dass Die Wahlverwandtschaften doch ein Aufguss von Wilhelm Meister seien, trifft einerseits ins Herz des Romans, und doch wieder nicht. Mit den Lehrjahren haben die Wahlverwandtschaften nämlich wirklich manches gemein: etwa die formale Zäsur zwischen zwei Teilen, die weniger 73 74 75 76
Ebenda. Ebenda. Ebenda. Vgl. den Beitrag von Jutta Heinz in diesem Band.
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symbolisch zu nennen ist, als dass sie seelische Ungeheuerlichkeiten verdeckt. In den Lehrjahren ist Wilhelms angebliche Entwicklung, die keine ist, am Ende des ersten Teils zu Ende; Aureliens willkürlicher Schnitt durch die Lebenslinie seiner Hand zeigt an, dass der alte Wilhelm tot ist; der neue Wilhelm, der zu Anfang des zweiten Teils feierliche Sentenzen über das Ausbilden-Wollen seiner Individualität von sich gibt, übrigens nicht mündlich, sondern in mitgeteilter Briefform, redet sich bekanntlich mit solchen Äußerungen nur immer tiefer in die Abhängigkeit von den Abgesandten der Turm-Gesellschaft hinein: sein poetisches ›Leben‹, sein Leben mit dem Mignon, ist davor zu Ende.77 Ähnlich ist in den Wahlverwandtschaften am Ende des ersten Buches auch Ottiliens Leben – und mit ihm dasjenige Eduards – zu Ende: Sie geht in sich zurück, sie spricht nicht mehr, sie hungert sich fortan zu Tode;78 Eduard folgt ihr, auch darin dilettierend, in einer bloßen Imitation nach. Hierbei handelt es sich indes – ganz wie in den Lehrjahren – um keine Naturnotwendigkeit, auch der Begriff des Tragischen wäre unangemessen. In den Wahlverwandtschaften geht dieser Mitte des Romans voraus, dass Eduard sich entfernt, ohne Ottilie in Kenntnis von dem zu setzen, was er plant; vermutlich wüsste er es selbst nicht zu sagen, da er sich aus einer Laune heraus, jedenfalls ohne Notwendigkeit entfernt. In solcher Lage vertraut er einem Kammerdiener den Auftrag an, Ottilie zu informieren. Eduards Vertrauen in Charlotte ist groß. Ihr, die er gut genug kennt, um zu wissen, dass sie einst ihrer besitzlosen Nichte Ottilie seinen Reichtum zuwenden wollte, ihr, die jetzt seine Frau ist und ein Kind erwartet, vertraut er die Obhut Ottiliens an, die er liebt. Und doch ist sein Vertrauen in Charlotte wiederum nicht groß genug. Er stellt eine Bedingung: Die Frauen dürfen das Spielfeld um Schloss und Garten nicht verlassen, andernfalls wird er sich Ottiliens bemächtigen.79 Wie tödlich dieses doch eigentlich auf so leichte Weise abzuwendende Folgegeschehen ist, davon wird der Leser des Buches erst einmal systematisch abgelenkt. Denn nun beginnt ein zweiter Teil des Romans, und ein jetzt erst richtig in Fahrt kommender Erzähler verspricht, uns Aufschluss über Ottiliens Inneres zu bieten – wo sich dann allerdings nur Lesefrüchte aus alten
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Vgl. nach wie vor Karl Schlechta, Goethes Wilhelm Meister. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt am Main 1985. Die gegen Schlechta und Schlaffer vorgebrachten kritischen Einwände von Hans-Jürgen Schings in seiner Studie: Willkür und Notwendigkeit – Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Kritik an der Romantik. In: Berliner Wissenschaftliche Gesellschaft, Jahrbuch 1989, S. 165–181, die das Anliegen von Goethes Lehrjahren auf dasjenige eines einheitlichen philosophischen Konzeptes, nämlich eines monistischen Spinozismus, zurückführen möchten, das Schings als tragende Weltanschauung Goethes auch in den Wahlverwandtschaften wirksam sieht (ebenda, S. 170f.), werden ihrerseits klug abwägend relativiert von Bluhm, »Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis’« (Anm. 49). Zu erinnern ist auch an die Einwände von RolfPeter Janz und Rolf Christian Zimmermann gegen Schings’ These, dass Goethes Erzählen sich vom Spinozismus her angemessen erfassen lasse; vgl. den Diskussionsbericht zu Hans-Jürgen Schings, Goethes ›Wilhelm Meister‹ und Spinoza. In: Wolfgang Wittkowski, Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goethezeit. Tübingen 1988, S. 57–69, hier S. 67f. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 18. MA 9, S. 401. Ebenda, I, 17. MA 9, S. 388f.
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Büchern finden werden, schöne Lesefrüchte, hochsymbolische auch, den Leser jedenfalls aufgrund ihrer spröden Verschlossenheit dauerhaft beschäftigende.80 Bis es zu diesen Mitteilungen aus Ottiliens Tagebuch kommt – Maximen, die ähnlich situationsunangemessen wirken wie diejenigen in den Lehrjahren81 –, darf der mit dem Erzähler im Bunde stehende Architekt etwas tun, was 1821 der Redakteur aus den Wanderjahren mit seinen Mitteln tun wird. Der Architekt beginnt, eigenmächtig Portefeuilles mit Umrissstichen nach alter Baukunst zu entfalten, die die Einbildungskraft in die Vergangenheit richten; so, wie der Redakteur der Wanderjahre alte Novellen einschalten wird, die von Wilhelms Gegenwart ablenken, indem sie gleichwohl vor allem diese reflektieren. Die Kirche und die Kapelle, die im dritten und im letzten Kapitel des zweiten Teils des Romans am ausführlichsten gewürdigt werden, werden oft als nazarenisch bezeichnet und mit den ›romantischen‹ Bestrebungen der Brüder Boisserée, die auf die Vollendung des Kölner Doms hinauslaufen, in Verbindung gebracht.82 Dies trifft indessen kaum zu, da die abwertende Bezeichnung »Nazarener« erst später im 19. Jahrhundert für den am 10. Juli 1809 als reine Malervereinigung gegründeten Lukasbund gängig wurde und Goethe vor Mai 1810 kaum bereits von der Sammeltätigkeit der Brüder Boisserée oder deren Bemühungen um den Dom zu Köln wissen konnte. Man war daher bislang in Verlegenheit, an welche Kontexte, an welche zeitgenössische Architekturtheorie man wenn schon nicht als Vorbild, so doch als Diskurshorizont des Romans denken sollte.83 80
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Gerhard Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aporistik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976; vgl. insbesondere Waltraud Wiethölter, Legenden. Zur Mythologie von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 1–64, hier S. 16. Vgl. Schlechta, Goethes ›Wilhelm Meister‹ (Anm. 77), S. 150–163. Die neuere Forschung betont, dass die »Gebundenheit in den Kontext« der verschiedenen, in Goethes Werk eingestreuten Maximen oft mit dem »Widerspruch«, der dem Leser im einzelnen »zugemutet wird«, zusammenzusehen sei; vgl. Jürgen Jacobs, Artikel ›Maximen und Reflexionen‹. In: Bernd Witte u.a. (Hrsg.), Goethe Handbuch in vier Bänden, Band 3: Prosaschriften. Stuttgart, Weimar 1997, S. 415–429, hier S. 418 sowie S. 416 zu der Frage, seit wann welche Teile aus Ottiliens Tagebuch in die postum veranstaltete Sammlung Maximen und Reflexionen aufgenommen wurden. Vgl. Bernhard Malkmus, Erinnerungskult und Vergessensethos: Die ›Wahlverwandtschaften‹. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 58 (2008), S. 279–298, hier S. 286: »in nazarenischer Ornamentik ausgekleidet«. Vgl. zu Goethe und den Brüdern Boisserée meinen Aufsatz: Der Hortus Palatinus als Ruine in der Landschaft (1620– 1812/15). In: Markus Bertsch / Reinhard Wegner (Hrsg.), Landschaft am »Scheidepunkt«. Evolution einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800. Göttingen 2010, S. 379–435, hier S. 379ff. Vgl. Beda Allemann, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Transzendentalroman. In: Hans-Joachim Mähl / Eberhard Mannack (Hrsg.), Studien zur Goethezeit. Erich Trunz zum 75. Geburtstag. Heidelberg 1981, S. 9–31, hier S. 12 darüber, wie tief das Motiv der Architektur »in die Struktur des Romans integriert« sei – und mit spürbarem Unbehagen an der Behauptung, es handle sich um einen »Gotik-Enthusiasmus im Stil der Brüder Boisserée [...] schon bevor Goethe mit ihnen selbst in Kontakt kam«. Die ältere, unbefriedigende These, dass der Architekt aus dem Roman den Kasseler Baumeister Engelhardt zum Vorbild habe, geht auf Steig zurück, der dieses unter den Romanti-
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Auf die Lösung dieses Problems führt Goethes Bibliothek.84 Von keinem zeitgenössischen Architekten besaß Goethe mehr Bücher als von dem Hanauer Calvinisten Helfrich Bernhard Hundeshagen, einem zutiefst vom historischen Denken der Spätaufklärung geprägten, eher klassizistisch orientierten jungen Mann, dessen Hauptinteressenfeld zu diesem Zeitpunkt die damals so genannte ›neugriechische‹ Baukunst innerhalb des Mittelalters war. Hundeshagen erforschte mit immenser Neugierde, Ausdauer und Genauigkeit85 die Bauten, die im Umkreis Friedrich Barbarossas entstanden, inbesondere die Pfalzen und die ihnen benachbarten Kirchen; er widmete sich der Frage, wie diese Bauten möglich wurden und welche Folgen sie – etwa für die Gotik – in kunsthistorischer Hinsicht haben sollten; ihn interessierte vor allem auch die Steinbauweise und die Ornamentik dieser romanischen Bauten.86 Bestimmte Materialien von Hundeshagen sind, so meine These, das Vorbild für Kirche und Kapelle des Romans. Hundeshagens erste wichtige Publikation, ein Buch über die gotische Marienkapelle zu Frankenberg bei Marburg, erschien 1808. In diesem Buch versuchte Hundeshagen zwar, die nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt erhaltene, sondern beschädigte Altarwand dieser erst im 19. Jahrhundert in ihrer baugeschichtlichen Bedeutung erkannten Kapelle vervollständigend zu rekonstruieren (Abb. 3), doch wie wenig seine Rekonstruktion deswegen schon als romantisch zu bezeichnen wäre, zeigt etwa folgende funktionalistische Begleitargumentation zum Thema der Verzierungen generell an, die zu erläutern sucht, warum die Gotik die »Wiederholung eines und desselben Zierraths«87 liebe. Es gehe ihr dabei nämlich darum,
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kern kursierende Gerücht zu belegen suchte; vgl. Reinhold Steig, Daniel Engelhardt, der Architekt der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1912, S. 285–331; vgl. zur Kritik bereits François-Poncet, Versuch (Anm. 37), S. 127f.: Außer der schlanken Gestalt dürfte »umso schwieriger sein festzustellen, was dieser der Gestalt des Architekten [...] geliehen hat«. Hans Ruppert, Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958, Nr. 2349–2353, Nr. 3391, Nr. 3519. Hundeshagens spätere Zeichnungen des Mainzer Doms waren so genau, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Grundlage für den Wiederaufbau dienen konnten. Vgl. Aloys Strempel (Hrsg.), Das Domgebäude zu Maynz. Architectonisch aufgenommen und dargestellt von Bernhard Hundeshagen. Mainz 1943. Über die Originale verfügt das Stadtarchiv Mainz. Vgl. über Hundeshagen insbesondere J[ulius] Noll, Helfrich Bernhard Hundeshagen und seine Stellung zur Romantik. Jahresbericht des Königlichen Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums zu Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1891; Franz Götting, Rupprecht Leppla, Geschichte der Nassauischen Landesbibliothek zu Wiesbaden und der mit ihr verbundenen Anstalten 1813–1914. Wiesbaden 1963, S. 15–47; Wolfgang Wagner, Helfrich Bernhard Hundeshagen 1784–1858. Leben und Werk eines Romantikers. In: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 93 (1988), S. 111–128; Ludwig Denecke, Bernhard Hundeshagen und Jacob Grimm. In: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 95 (1990), S. 197–206; Gunter Quarg, Sulpiz Boisserée an Helfrich Bernhard Hundeshagen. Zwei Briefe aus den Jahren 1810 und 1812. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 69 (1998), S. 77–84. Bernhard Hundeshagen, Der alten gothischen Kapelle zu Frankenberg Grundriß, Aufriß und Durchschnitt nebst Gedanken über die sogenannte gothische Kirchenbaukunst. Frankfurt am Main 1808, S. 11. Vgl. zu Hundeshagens Gotikverständnis Jens Bisky,
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Abb. 3: Bernhard Hundeshagen: Der alten gothischen Kapelle zu Frankenberg Grundriß, Aufriß und Durchschnitt nebst Gedanken über die sogenannte gothische Kirchenbaukunst. Frankfurt/M. 1808. Tafel: Durchschnitt der Marienkapelle mit dem Marienaltar. Exemplar der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.
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daß der Blick des Beschauers der das Ganze nicht begreift nicht zu schnell über den einzelnen einfachen Theil des Gebäudes hinläuft, und in die Leere der Luft oder seines eignen Geistes zurückkehrt.88
Neben den eigentlichen Ornamenten denkt Hundeshagen hierbei an die »heimische[n] Kräutern und Blumen«, die als »heimische Einbildungen« der »Vernunft des Künstlers« entgegenkamen; den Künstler selbst, der solcherart schmückend die Natur nachahmt, versteht Hundeshagen tatsächlich als einen Dichter: »der Baukünstler wird zum Dichter indem er die ursprünglichen Gestalten mit dem Gewand der Natur bekleidet darstellt«.89 Erstaunlich aufklärerisch mutet auch die Herleitung der Entwicklung der Bauformen mittelalterlicher Kirchen aus einem einzigen Grundsatz an: nämlich aus den Bedürfnissen der Lehre. Der christliche Priester wendete sich Hundeshagen zufolge von der Gemeinde nicht ab, sondern wendete sich ihr zu, um sie zu unterrichten; daher habe es schon früh im Mittelalter des Lichts für das Buch bedurft, und aus diesem Bedürfnis sei die Form der Fenster abzuleiten. – Wie wütend die Proteste katholischer Gutachter gegen dieses Buch ausfielen, kann man sich denken.90 Diese Form des »tournez s’il vous plait«91 war nicht im Sinne der Katholiken. Wenn literaturwissenschaftliche Interpretationen der Wahlverwandtschaften bislang nicht auf Hundeshagen eingegangen sind, dann mag dies daran liegen, dass auch die archivorientierte Forschung bislang überwiegend meinte, Hundeshagen sei erst 1814 in Goethes Gesichtskreis getreten.92 Tatsächlich aber hatte Hundeshagen schon vor Mai 1808 den Briefkontakt zu Johann Heinrich Meyer gesucht und nicht nur publiziertes, sondern auch unpubliziertes Material nach Weimar geschickt, das letztlich für Goethe bestimmt war. Am 15. Mai 1808 bedankte Meyer sich »für die übersendeten Exemplare von der alten gothischen Capelle zu Frankenberg« mit den Worten: Es ist gewiß ein verdienstliches Bemühen was Sie unternommen haben dergleichen alte Reste eigenthümlicher deutscher Art und Kunst bekanter zu machen,
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Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann bis Boisserée. Weimar 2000, S. 229–234. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 4. Dem Exemplar der Hofbibliothek Aschaffenburg liegt ein längeres handschriftliches Gutachten des als Ingenieur und Constructeur zeichnenden J. Streiter bei, datiert Aschaffenburg, 10. Juni 1808, in welchem Hundeshagen nachgewiesen wird, von den Bedürfnissen des katholischen Kultus nichts zu verstehen. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 5. MA 9, S. 435. Dieses Kapitel hat Goethe laut Tagebuch noch am 6. September 1809 überarbeitet. Vgl. Noll, Helfrich Bernhard Hundeshagen (Anm. 86), S. 21; ihm folgend Wagner, Helfrich Bernhard Hundeshagen 1784–1858 (Anm. 86), S. 119; allerdings war bereits 1885 knapp darauf hingewiesen worden, dass Hundeshagen am 3. November 1808 ein Manuskript mit einer »Entwicklung der Theorie der griechischen Baukunst nach Analysen des Parthenons« nach Weimar gesendet hatte; vgl. Georg Finsler / Ludwig Geiger / Hermann Arthur Lier / Alfred Stern, Mittheilungen von Zeitgenossen über Goethe. Nebst einigen Briefen an Goethe, 1776–1834. In: Goethe Jahrbuch 1885, S. 95–147, insbesondere S. 125–138: Goethe und Hundeshagen (1815–1825); Zitat S. 126.
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ja, er sei nach diesem Beginnen »begierig [...] auf die Reste des Pallastes K. Friedrich des Rothbarts zu Gelnhausen, von welchen Ew. Wohlgeb. so viel gutes melden«.93 Auf diesen »schöne[n] Gewinn für die Kunstgeschichte«94 sollten Goethe und Meyer indes trotz mehrfacher dringlicher Nachfrage noch lange warten. Denn obwohl Hundeshagen das geplante Werk über die Kaiserpfalz zu Gelnhausen, aus dem er vergeblich eine Probe in die Elegante Zeitung des Jahres 1808 einrücken lassen wollte, bald vollendet, sogar schon die Tafeln gedruckt haben sollte und 1810 zusammen mit der Einladung zur Subskription ein Probeblatt nach Weimar schicken konnte,95 ging bei der Hanauer Schlacht von 1813 nicht nur das fertige Werk selbst, sondern Hundeshagens gesamte Wohnung mit all seinen Sammlungen und Aufzeichnungen in Flammen auf.96 Erst 1819 konnte es als sogenannte zweite Auflage erscheinen, Carl August von Weimar gewidmet. Hundeshagen sollte sich hier nach Kräften bemühen, einen prägotischen Klassizismus – den neugriechischen Rundbogenstil – der Stauferzeit nachzuweisen, der strikt wie die Griechen einen ›inneren‹ Kanon befolgt habe, statt sich den Wucherungen einer exuberierenden Phantasie zu überlassen oder sklavisch Vorbilder nachzuahmen. Die besten Leistungen dieses neugriechischen Stils, wie eben die Kaiserpfalz zu Gelnhausen, betrachtete Hundeshagen insofern als genuine Hervorbringungen eines autonomen Bildungstriebes, als sie – in diesem Punkt nur mit der maurischen Architektur vergleichbar, welche Kaiser Barbarossa aus »der kräftigsten Wechselberührung«97 gekannt habe – ihre Gesetze letztlich nur aus dem Material beziehen: Es sei eine reine Steinbaukunst, deren Formen keinesfalls aus der nachahmenden Übernahme von Prinzipien der Holzkonstruktion abgeleitet werden dürften (wie dies der an dieser Stelle nicht genannte Aloys Hirt tat).
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Brief Johann Heinrich Meyer an Helfrich Bernhard Hundeshagen zu Hanau, Weimar, 15. Mai 1808; Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt am Main, Sign. 3149. Ebenda. Helfrich Bernhard Hundeshagen an Johann Wolfgang Goethe, Hanau, 16. März 1810; Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, Bestand Goethe Egg. Briefe 28/53, Bl. 24. Vgl. Bernhard Hundeshagen, Kaiser Fridrichs I Barbarossa Palast in der Burg zu Gelnhausen. Eine Urkunde vom Adel der von Hohenstaufen und der Kunstbildung ihrer Zeit. Historisch und artistisch dargestellt. 2. Auflage, mit XIII Kupferabdrücken, [ohne Ort] 1819, Vorwort [ohne Seitenzahl]. Vgl. zum historischen Kontext der Hanauer Schlacht: Peter Jaeckel, Schlacht und Schlachtenbild. In: Hubert Glaser (Hrsg.), Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1799–1825. München 1980, S. 272–279. Ebenda, S. 77; im Briefwechsel mit Meyer ist bereits zur Zeit der Wahlverwandtschaften von der Alhambra als Beispiel maurischer Architektur die Rede; vgl. Hundeshagens mit Bauskizzen versehenes Konzept zu einem Brief an Meyer vom 25. Mai 1808, Frankfurt am Main, Freies Deutsches Hochstift 1301. Hundeshagens diesbezügliche historische Hintergrundstudien müssten genauer ausgewertet werden. Vgl. zur modernen Wiederaufnahme der betreffenden Diskussion unter Bezug auf die Kreuzfahrerstaaten: Zehava Jacoby, The Workshop of the Temple Area in Jerusalem in the Twelfth Century: its Origin, Evolution and Impact. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 45 (1982), S. 325–394.
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Statt der Zeichnungen von der Kaiserpfalz zu Gelnhausen, die Hundeshagen nicht aus der Hand geben wollte, übersandte er Meyer 1808 ein Portefeuille mit »Zeichnungen von Verzierungen aus dem Kloster Breitenau«, das Meyer schon im Mai so bedeutend schien, dass er »die Ankunft des Hn. Geh. Rath Goethe aus Carlsbad [..] abwarten« wollte, bevor er sie am 10. Oktober 1808 nach Hanau zurücksandte.98 Diese Zeichnungen, die Goethe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesehen hat, nachdem Meyer ihm am 3. August 1808 nach Karlsbad darüber sowie von den Kontakten des »Hanauer Liebhaber alter deutscher Baukunst«99 zu Dalberg und Müller berichtet hatte, sind wie fast alle anderen Vermessungen, Bauaufnahmen und Urkundenexzerpte des jungen Hundeshagen 1813 verbrannt. Aus Meyers Briefen geht hervor, dass er genau wie Hundeshagen fand, »die Centauren, die Palmbäume u. Fruchtgehänge« aus dem Breitenauer Benediktinerkloster seien »ohne Zweifel Nachahmung antiker griechischer Muster«.100 »Daß wir ziemlich einträchtig denken«,101 versicherte Meyer Hundeshagen schon in einem seiner ersten Briefe. Wie beeindruckt Meyer war, kann man seiner zu Lebzeiten unpublizierten, von Goethe teils mitbearbeiteten Geschichte der Kunst entnehmen, denn hier würdigt Meyer Breitenau und die dortigen »Zieraten« mit den Worten, man könne dergleichen selbst »in Italien nicht finden«,102 vor allem nicht solche »Palmen« auf Ornamenten.103 Wiewohl das Meyer zur Verfügung gestellte Material wohl bei der Schlacht von Hanau vernichtet wurde, ahnt man, dass Goethe 1808 also ungestraft unter deutschen, nämlich Breitenauer Palmen wandelte. Wie der ungedruckte Briefwechsel belegt, war Hundeshagen 1808 also sogar bereit, Unikate wie die Bauaufnahmen und Ornamentstudien zu dem romanischen Kloster Breitenau aus der Hand zu geben, um den Weimarischen Kunstfreunden näher zu kommen, möglicherweise auf eine Stelle in Weimar hoffend. Man muss bedauern, dass Meyer diese Zeichnungen nicht erst nach
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Beide Zitate aus Meyers Begleitbrief zur Rücksendung an Hundeshagen, Weimar, 10. Oktober 1808; Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, Bestand Meyer GSA 64/85,1. Max Hecker (Hrsg.), Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer. Band 2. Weimar 1919, S. 223. Johann Heinrich Meyer an Bernhard Hundeshagen, Weimar, 10. Oktober 1808; Goetheund Schiller-Archiv, Weimar, Bestand Meyer GSA 64/85,1. Johann Heinrich Meyer an Bernhard Hundeshagen, Weimar, 6. Mai 1808; Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, Bestand Meyer GSA 64/85,1. Johann Heinrich Meyer, Geschichte der Kunst. Hrsg. von Helmut Holtzhauer und Reiner Schlichting. Weimar 1974, S. 122. Ebenda. Es ist in der Tat erstaunlich, dass Hundeshagen jene mittelalterlichen Bauten für besonders bemerkenswert hielt, die zu Beginn des nächsten Jahrhunderts einen Georg Dehio besonders anziehen sollten; vgl. Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Band 1: Mitteldeutschland. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1905. München 1991, S. 49 (Breitenau), S. 94f. (Frankenberg) und vor allem S. 110–115 (Gelnhausen). Vgl. zu Meyers ähnlichen Einschätzungen nach wie vor ausschließlich Arnold Federmann, Johann Heinrich Meyer. Goethes Schweizer Freund 1760–1832. Frauenfeld, Leipzig 1936, S. 87f. und S. 92.
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1813 zurückerstattete, denn sonst lägen sie wohl heute noch in Marburg, Kassel, Hanau, Frankfurt, Mainz oder Wiesbaden im Archiv. Erstaunlicherweise haben mindestens zwei andere kleine Konvolute den Hanauer Brand jedoch überstanden: erstens eine Reihe von äußerst präzisen Bauaufnahmen und Vermessungsstudien von der Marienkirche zu Gelnhausen, teils datiert aus den Jahren 1807 bis 1809;104 zweitens zwei Bögen handschriftliche Aufzeichnungen, beiliegend fünf Zeichnungen, bezugnehmend auf die zwei unweit voneinander gelegenen Bauwerke der Kirche von Ortenberg und der kleinen Klosterkirche von Kloster Konradsdorf.105 Auch diese letzteren Aufzeichnungen hat Hundeshagen datiert: Ich bin am 9. und 10. Februar 1809 selbst an dem Orte gewesen, habe alles obige in Augenschein genommen, gezeichnet, gemessen, bemerkt und alsobald nach meiner Rückkunft hierher in diesen Tagen soweit ins reine und klare gestellt. Hanau am 14ten Feb. 1809.106
Diese Ausarbeitung eilte also wohl. Es ist in Anbetracht von Hundeshagens auf Weimar gerichteten Wünschen anzunehmen, dass diese beiden Konvolute den Hanauer Brand von 1813 deswegen überstanden, weil sie seit dem 14. Februar 1809 in Weimar lagen und erst nach 1813 zurückgegeben wurden (beispielsweise aus Anlass von Goethes Besuch bei Hundeshagen im Jahr 1814). Ähnlich wie im Fall von Carl Ludwig Fernows Kupferstichsammlung, mit der Goethe sich zwar erst im August 1809 beschäftigte, um aus ihr dennoch wichtige Anregungen für den zweiten Teil des Romans – nämlich für die eine der beiden Präsepe-Darstellungen (Abb. 4)107 – zu entnehmen, der noch Ende August und
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105 106 107
Die 1807–1809 datierten Hauptzeichnungen liegen im Hessischen Staatsarchiv Marburg, vermutlich, weil Bickell sie so gut fand, dass er sie vorbereitend für sein Inventar gebrauchen konnte und daher auslieh; Hessisches Staatsarchiv Marburg, Karte 340, Bickell P II, 46–49; vgl. L. Bickell (Bearb.), Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel. Band 1. Kreis Gelnhausen. Atlas. Marburg 1901, sowie zur Geschichte Georg Wilbertz, Die Marienkirche in Gelnhausen, Köln 1999, S. 371. Eine weitaus größere Zahl von über 60 undatierten Studien und Vermessungen liegt in der Landesbibliothek und Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel, Mss. Hass. 2° 254; vgl. auch begleitend Hundeshagens Auszüge aus dem Gelnhauser Privilegienbuch, ebenda, Mss. Hass. 2° 253, sowie weitere Exzerpte aus dem Ratsprotokoll der Stadt und ähnliche Abschriften historischer Dokumente; ebenda, Mss. Hass. 2° 255. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Mss. Hass. 2° 256. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Mss. Hass. 2° 256. Der Roman inszeniert ja nicht nur eine Darstellung der Geburt Jesu in der Krippe, wie oft zu lesen, sondern zwei: ein »Nacht- und Niedrigkeitsbild« und ein »Tag- und Glorienbild«. Ein Motiv aus dem Stich von Cornelis Bloemaert (Abb. 4), den Goethe Anfang August 1809 aus dem Nachlass von Fernow erhielt und den er nachweislich ankaufte, diente hier als Vorbild; vgl. Harald Tausch, Fernows Kupferstichsammlung. Mit einem ungedruckten Brief von J.W. Goethe. In: Michael Knoche / Harald Tausch (Hrsg.), Von Rom nach Weimar – Carl Ludwig Fernow. Tübingen 2000, S. 131–190, hier S. 177. Im Roman verlautet an der entsprechenden Stelle: »Der Architekt allein, der als langer schlanker Hirt von der Seite über die Knieenden hereinsah, hatte, obgleich nicht in dem genauesten Standpunkt, noch den größten Genuß«; Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 6. MA 9, S. 445.
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Anfang September 1809 an vielen Stellen ›umdiktiert‹ wurde,108 scheint ihm dieses Material zwar erst spät für die Gestaltung des Romans zugegangen zu sein, ihm dann indessen umso nachdrücklicher für die Ausgestaltung der Kirche und Kapelle im zweiten Teil des Romans vor Augen gestanden zu haben.
Abb. 4: Cornelis Bloemaert: Anbetung der Hirten. Kupferstich, Blattgröße 44,2 × 57,5 cm. Rückseitig Kaufpreisvermerk »4 gr.«. Von Goethe 1809 unter dem Katalogtitel »Die Geburt Christi nach Raffael, großes Blatt« aus dem Nachlass Carl Ludwig Fernows erworben. Klassik Stiftung Weimar, Museen, Schuchardt-Nr. I, S. 61, Nr. 569.
Um Hundeshagens frühhistoristisches, unmittelbar aus der Aufklärung resultierendes Denken zu erfassen, das sich sowohl vom Weimarer Klassizismus als auch von den Bestrebungen der späteren Heidelberger Romantiker unterscheidet, muss man sich seinen intellektuellen Bildungsgang vergegenwärtigen. Hundeshagen führte zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme mit Meyer und Goethe den Titel eines Hanauer Hofgerichts-Advokaten, ohne dass dies eine finanzielle Absicherung bedeutet hätte, er war Mitglied der Hanauer Gesellschaft für die gesamte Naturkunde und suchte den Kontakt zur Karls-Universität, die Karl Theodor von Dalberg gegründet hatte. Weimar aber umwarb er um 1809 am dringlichsten. Zuvor hatte er in Marburg bei dem sich damals noch als
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Vgl. Goethes Tagebuch vom 31. August 1809: »Letztes Capitel vom zweyten Theil umdictirt. Einzelnes in verschiedenen anderen«. WA III, 4, S. 57.
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Kantianer verstehenden Friedrich Karl von Savigny die Rechte und – eigenen Angaben zufolge109 – in Göttingen bei Blumenbach studiert, und er kannte aus dieser Zeit die in Hanau geborenen, gleichfalls bei Savigny studierenden Brüder Grimm gut. Er interessierte sich für Gärten und Botanik, für alte Handschriften mittelalterlicher Dichtung, zunehmend aber auch für Bauten, die in Beziehung zu jener mittelalterlichen Geschichte des Reiches standen, die sein eigentlicher Mentor Johannes von Müller, zu dem er bis zu dessen Tod in engem Kontakt stand,110 wiederentdeckt hatte: ein Mittelalter vor der Zeit der Gotik, dessen Bauten damals noch nicht romanisch genannt wurden, sondern neugriechisch, und das Hundeshagen in seiner neugriechischen Einfalt und stillen Größe als Ausdruck der Baugesinnung um den »große[n] Bauliebhaber«111 Friedrich Barbarossa interpretierte. Die Kaiserpfalz zu Gelnhausen stand dabei, nach dem kürzlichen Brand derjenigen in Kaiserslautern, aus verständlichen Gründen im Zentrum seines Interesses. Müllers idealisiertes Mittelalterbild, das seinerseits Johann Jakob Bodmer viel verdankte, schien hier in stattlichen Überbleibseln konserviert, aus denen sich Hundeshagens Hoffnungen zufolge Grundlinien für eine zukünftige Architektur würden studieren lassen. Die Baukunst der Klöster von der Art Konradsdorfs, gerade auch die frühe, interessierte ihn aber nicht minder, schon wegen hier vermuteter Handschriften aus dem Umkreis des Nibelungenliedes – und in der Tat fiel ihm möglicherweise in der Wetterau die unikal überlieferte Handschrift Alpharts Tod112 in die Hände. Man musste allerdings die von Goethe des öfteren bereiste Poststrecke zwischen Weimar und Frankfurt, die über Fulda, Steinau, Gelnhausen 109
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Diese Mitteilung verdanke ich Dr. Wolfgang Heinemann, Hanau, der mir freundlicherweise den Wortlaut eines nicht publizierten Lebenslaufs von Hundeshagen für die Hanauer Naturforscher mitteilte. Vgl. Hundeshagens Konzepte seiner zahlreichen Briefe an Johannes von Müller, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Mss. Hass. 2° 287; hier etwa Hundeshagens Behauptung im Briefkonzept vom 28. Juni 1808, Goethes ermunternder Beifall zur Publikation über die gotische Kapelle zu Frankenberg habe ihn, Hundeshagen, zu seinen Forschungen über Gelnhausen erst ermutigt; ebenda, Bogen 44. Dazu passt der Umstand, dass mitten unter den Skizzen zur Marienkirche Gelnhausen eine Lektürenotiz aus Müllers deutscher Geschichte liegt (was natürlich auch ein Zufall der archivalischen Überlieferung sein kann); Mss. Hass. 2° 254, vor Blatt 71. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Mss. Hass. 2° 256. Zuerst modernisierend publiziert von F[riedrich] H[einrich] v[on] d[er] Hagen, Berichte aus Deutschland. I: Alpharts Fahrt auf die Warte. Bruchstück eines von Herrn Hundeshagen neu entdeckten, zu dem Heldenbuch und den Nibelungen gehörigen Gedichtes. In: Vaterländisches Museum 1 (1810), S. 216–229; vgl. jetzt Elisabeth Lienert / Viola Meyer (Hrsg.), Alpharts Tod. Dietrich und Wenezlan. Tübingen 2007, hier S. 4 über die Rolle der mit Hundeshagen bekannten Familie Günderrode. Auch dieses Interesse Hundeshagens dürfte von Müller mit angeregt sein, vgl. Johannes von Müller, Der Niebelungen Liet. Ein Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert. Zum erstenmale aus der Handschrift ganz abgedruckt. Berlin 1782. 152 Seiten in Quart [Rezension, zuerst in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 1783, S. 353]. In: Johannes von Müller, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Johann Georg Müller. 10. Theil. Tübingen 1811, S. 45–50. Achim von Arnim deutete an, dass Hundeshagen seinen Fund »in der Wetterau« getan habe, also in der Landschaft um Ortenberg, Konradsdorf und Gelnhausen; vgl. seinen Brief an Wilhelm Grimm vom 28. Mai 1810, zitiert nach: Denecke, Bernhard Hundeshagen (Anm. 86), S. 198.
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und Hanau führte, verlassen und die bewaldeten Basaltkuppen gegen Büdingen überwinden, um in der Wetterau auf Kloster Konradsdorf und unweit davon auf die Marienkirche zu Ortenberg, unterhalb des Schlosses der Grafen zu Stolberg-Roßla, zu stoßen. Goethe, der schon 1797 notiert hatte, sich mit der Geschichte dieser Gegend und ihrer Bauten einmal beschäftigen zu wollen,113 war deswegen wohl nie vor Ort, jedenfalls nicht vor 1814. Er war auf Hundeshagens Beschreibung und die etwas dilettantisch wirkenden, weil offensichtlich als erste Vorstudien zu etwas Größerem unternommenen Zeichnungen des nicht als Künstler ausgebildeten Hanauer Kunstfreundes, angewiesen, um in der Imagination aus zwei etwa fünf Kilometer voneinander entfernt liegenden Gebäuden zwei sehr viel näher beieinander gelegene Bauten in Eduards Park werden zu lassen. In Ortenberg, dessen Geschichte der erste Bogen von Hundeshagens Ausarbeitung erzählt, nahm Hundeshagen das älteste Portal der im 12. Jahrhundert errichteten Marienkirche auf, zeichnete sorgfältig den Seiteneingang aus der zweiten Bauphase um 1380–85, auf einem weiteren Blatt die reichverzierte Pforte der Sakristei zum Chor, und widmete sich zumindest beschreibend auch den Verzierungen zwischen den Spitzbogen des Kreuzgewölbes der dreischiffigen Kirche, einem Himmelsgarten, zu dem die Gärten aus der Gegend offenbar wie in den Wahlverwandtschaften die schönsten Muster geliefert haben, und der als Himmelsgarten die Blumen- und Fruchtgehänge, welche Himmel und Erde gleichsam zusammenknüpfen sollen, um mittig angebrachte kleine Gesichter anordnet.114 Was Hundeshagen in seinen Aufzeichnungen hervorhebt, ist das Altarbild, vor allem der linke Flügel des Triptychons Kind Jesu im Stalle – zu Recht, denn sein Urteil über den heute in Darmstadt befindlichen Ortenberger Altar trägt: Man kann nichts schöneres sehen denn die Lieblichkeit, Anmuth und Ausdruck der Köpfe in Stellung Farbe und Verhältniß. Besonders der Kopf eines der drei Könige wäre Raphaels würdig. Es ist ein gehaltener männlicher Blick in seinem Auge, welches sich unter der erhabenen Stirne gegen das Kindlein Jesu [..] senkt.115
Man könnte fast meinen, dass auch hier – wie in den Wahlverwandtschaften – alles Licht vom Kinde ausgeht, doch erwähnt Hundeshagen diese Eigenheit ebensowenig wie die schöngeschnitzten Chorstühle,116 die zu den ältesten in Hessen gehören. Noch interessanter als die handschriftlichen Ausführungen über Ortenberg sind diejenigen über Kloster Konradsdorf,117 das trotz der räumlichen Nähe sich eher nach Büdingen und Gelnhausen orientiert und das eine ganz andere,
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Goethes Tagebuch vom 2. August 1797. WA III, 2, S. 77. Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 3. MA 9, S. 412–417. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Mss. Hass. 2° 256. Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 3. MA 9, S. 415. Wer sich zu Goethes Zeiten über Konradsdorf informieren wollte, wird wohl zuerst in Zedlers Universallexikon nachgeschlagen haben. Der dort (Band 6, S. 514) gegebene Hinweis auf Johann Just Winckelmann, Gründliche und Warhafte Beschreibung der Fürstenthümer Hessen und Hersfeld. Bremen 1697, S. 164, erbringt jedoch kaum mehr
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viel frühere Epoche der Kunstgeschichte aufruft, die damals – wie gesagt – als neugriechisch angesehen und über Byzanz von Griechenland her abgeleitet wurde, das heißt: unter Umgehung Roms, das dann erst ab 1820 dem romanischen Stil zu seinem heute gültigen Begriff verhelfen sollte. Wie Hundeshagens Aufstellung »Bedeutung der vier Blätter Zeichnungen« belegt, ist das überlieferte Konvolut zu Konradsdorf jedoch nicht mehr vollständig erhalten; es fehlen sowohl der »Grundriß der Klosterkirche« als auch der »Aufriß der Abend- und Morgenseite« und der »Durchschnitt«. Aus diesem Grund kann man vermuten, dass auch die historischen Ausführungen Hundeshagens ursprünglich ausführlicher waren oder es werden sollten (Abb. 5). Obwohl eine frühe Urkunde aus dem Jahr 1191 Kloster Konradsdorf als bereits vollendet nennt, obwohl es weitere Urkunden und eine sehr gute moderne Untersuchung gibt,118 ist nach wie vor ungeklärt, für welchen Orden das Kloster gegründet und die Kirche vor 1191 errichtet wurde. Hundeshagen stellte unter Einsatz einiger frühhistoristischer Phantasie, vielleicht aber nicht ganz ohne Grund dar, dass Friedrich Barbarossas Gelnhäuser Pfalz in einer nicht nur geographischen Beziehung zur Kirche und zur späteren Propstei des Klosters gestanden habe;119 er dachte an die Fassadengliederung, an die bauplastisch verzierten Fenster sowie an die sich jedem Vergleich entziehende Ornamentik an der Außenwand der Propstei, die er als sogenanntes Nonnenhaus bezeichnete. Als er 1809 Konradsdorf besuchte, war die Klosterkirche lange schon Ruine, ihr linkes Seitenschiff fehlte damals schon (Abb. 6). Nicht die napoleonische Zeit oder die Revolution, sondern die konfessionellen Kämpfe der Frühen Neuzeit hatten allen gottesdienstlichen Verrichtungen für lange ein Ende bereitet.120 Während die Lutherischen die alte Kirche im 16. Jahrhundert intakt gelassen hatten, hatten die Hanauer Calvinisten 1601 die Kirche resolut ausgeräumt, freilich nicht ohne dann im 18. Jahrhundert doch reformierte Gottesdienste, teils alternierend mit Lutherischen, von den umliegenden, wie Mittler zu Pferd anreisenden Landgeistlichen durchführen zu lassen. Es waren also Calvinisten, die die von den Lutherischen mit Liebe
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an Information, als dass das Kloster von Hartmann von Büdingen im Jahr 1195 gestiftet worden sei. Vgl. Waltraud Friedrich, Das ehemalige Prämonstratenserinnenkloster Konradsdorf. 1000 Jahre Geschichte und Baugeschichte. Darmstadt, Marburg 1999. Friedrichs für den kunsthistorischen und historischen Hintergrund grundlegende Arbeit geht – da eine rezeptionsgeschichtliche Themenstellung außerhalb ihres Fragehorizontes liegt – nicht auf Hundeshagen ein. Vgl. die neuere Arbeit von Waltraud Friedrich, Der Streit zwischen Barbarossa und dem Erzbischof Konrad I. von Mainz – die Spuren der Versöhnung im büdingischen Kloster Konradsdorf. In: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 16 (2005), S. 64–70, hier S. 65: Friedrich Barbarossas »enger Freund und Vertrauter«, »Hartmann von Büdingen stieg als Bauleiter und Vogt von Gelnhausen aus dem Ministerialenstand zu einer der angesehensten und mächtigsten Persönlichkeiten des Reiches empor. Der damaligen Frömmigkeitsbewegung entsprechend baute er den vermutlichen Stammsitz seiner Familie, die kleine Burganlage Konradsdorf, die inzwischen aus verschiedenen Gründen überflüssig geworden war, zu seinem Hauskloster aus«. Vgl. Friedrich, Konradsdorf (Anm. 118).
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Abb. 5: Helfrich Bernhard Hundeshagen: Bauaufnahmen und handschriftliche Aufzeichnungen aus Kloster Konradsdorf, 9. und 10. Februar 1809. Tinte auf Papier, 33,7 × 21,1 cm. Universitätsbibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel. 2° Ms. Hass. 256, 4v.
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Abb. 6: Kloster Konradsdorf in Hessen. Klosterkirche. Aufnahme des Zustandes 2008.
gepflegten alten Bildwerke aus der Kirche entfernt hatten. Im Jahr 1745 war ein Hanauer Bauinspektor namens Herrmann nach Konradsdorf gereist, ein Major, und hatte sorgfältig einen Plan gezeichnet, in dem die zu erhaltenden Bauten rosa laviert, die abzureißenden gelb markiert wurden.121 Im Gefolge dieser Maßnahmen war 1765 auch der Friedhof aufgelassen und ökonomisch nutzbar gemacht worden, wobei die Gebeine aus den alten Gräbern entfernt und zur Ebnung des Geländes aufgeschüttet wurden. Im Dezember 1780 war die Kirche endgültig profaniert worden, bestimmte Denkmäler hingegen sollten durch eine Art früher denkmalpflegerischer Maßnahme geschützt werden. Der marode Steinboden der Kirche war entfernt worden, ein Pflasterbelag, wie in Ställen üblich, war an seine Stelle getreten, sicherlich unter Einsatz von reichlich Gips. Einige Gräber, die sich auf dem aufgelassenen Friedhof befanden, sollten aus genau diesem frühen denkmalpflegerischen Gedanken heraus eigentlich ein eigenes kleines Gebäude erhalten: Von einem »zu bauenden dauerhaften Behältnis«122 ist in den Urkunden zu 1780 die Rede, und ein begleitender Gedenkstein sollte daran erinnern, wer hier dargestellt und wo sein Grab war. Anders verhielt es sich mit den beiden Gräbern, die Hundeshagen im Inneren der Kirche skizzierte. Es sind diese Figuren, heute identifiziert als Eberhard III. von Breuberg (Abb. 7) und seine Gemahlin Mechthild (Abb. 8), eine gebo121 122
Ebenda, S. 135. Ebenda, S. 65.
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Abb. 7: Helfrich Bernhard Hundeshagen: Architekturzeichnungen und historische Studien aus Kloster Konradsdorf, 9. und 10. Februar 1809. Kohlestift, blaues Papier, 32,5 × 20,0 cm. Das Blatt zeigt das Grab von Eberhard III. von Breuberg. Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 256, 9r.
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Abb. 8: Helfrich Bernhard Hundeshagen: Architekturzeichnungen und historische Studien aus Kloster Konradsdorf, 9. und 10. Februar 1809. Kohlestift, blaues Papier, 33,2 × 20,3 cm. Das Blatt zeigt das Grab von Mechthild von Breuberg. Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 256, 8r.
rene von Waldeck – eine Frau, die wie nach ihr Ottilie den Ort innerhalb der Kirche noch selbst umgestaltete, wo sie dann ruhen sollte –, die Hundeshagen 1809 an das Ende der Folge seiner Zeichnungen aus Konradsdorf stellte; nur das minderjährig verstorbene Kind der beiden hat er nicht mehr gezeichnet. Das »Conradsbild«, das Hundeshagen »inwendig«, unweit des Chors »eingemauert«, neben dem seiner »Gemahlin« vorfand, beschreibt er wie folgt: Conrad von Büdingen an der Seite seiner Gemahlin. Eine Figur in Lebensgröße, groß, stark und ruhend von den Mühseligkeiten des Lebens. Die eine Hand auf dem Herzen, die andere am Schild, das Schwert zur Seite, dessen er nicht mehr bedarf. Sein Ritterkleid scheint er mit dem Mönchsgewand vertauscht zu haben. Die Frau von Büdingen eine große, schlanke Gestalt mit betend zusammengelegten Händen. Das lange Eirund ihres Angesichts, die in geflochteten Zöpfen herabhängenden Haare, die zum Theil auf der Schulter liegen[,] machen einen starken Gegensatz mit dem runden Kopf und buschichten Haupthaar ihres Eheherrn. Sie ist mit einem
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Mantel behängt, den eine Schnalle über der Brust festhält, und der auf beiden Seiten in großen Falten herabfällt. Zu ihren Füßen lag vermutlich ihr Lieblingshündchen; jetzt kann man wenig Gestalt mehr erkennen.123
Man höre mit Blick auf Hundeshagens Zeichnung den Gehülfen über Ottilie: Sie drückt die flachen Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und führt sie gegen die Brust, indem sie sich nur ein wenig vorwärts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß er gern von allem absteht was er verlangen oder wünschen möchte.124
Es ist also sehr wohl möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Goethe nach dem 14. Februar 1809 Hundeshagens wenige überlieferte Portefeuilles der Jahre vor 1813 auf dem Schreibtisch liegen hatte: diejenigen über Ortenberg und Konradsdorf sowie diejenigen mit den Bauaufnahmen der Marienkirche zu Gelnhausen (Abb. 9), die für die fast zeitgleich entworfene Erzählung Sankt Joseph der Zweite – Keimzelle für Wilhelm Meisters Wanderjahre – den Hintergrund abgegeben haben könnten.125 Dass Hundeshagen persönlich das Vorbild für den Architekten der Wahlverwandtschaften gestellt zu haben scheint, würde zudem Achim von Arnims rätselhafte Äußerung erklären, er könne sich die Menschen in diesem Roman nicht ›gestalten‹, mit Ausnahme des Architekten, »weil ich ihn gesehen habe«;126 auch für Arnim sollte die Begegnung mit Hundeshagen von den größten Folgen sein: Beispielsweise besuchte er die Kaiserpfalz Gelnhausen um Hundeshagens willen. Material wie dieses verführt angesichts der als abwehrend interpretierbaren Geste der Mechthild, angesichts des fast nur scheinbaren Todes ihres Gemahls, um dessen Mund in Hundshagens Zeichnung das schmerzlich-müde Lächeln eines Entsagenden spielt, dazu zu meinen, man würde die Vorbilder von Eduard, Ottilie und Otto nun kennen – eine Annahme, deren Problematik am Anfang dieser Studie betont wurde. Zwar würde auf diese drei Steinfiguren die Interpretation des Schlusssatzes des Romans im Sinne einer konditionalen Fügung, eines betonten »wenn«, und somit zur unterstellten Ironie des Romans passen: Vorderhand sieht es nicht nach einem Erwachen dieser Kunstfiguren aus (Abb. 10). Dass die drei dargestellten Personen aus Hundeshagens Sicht jedoch Friedrich Barbarossa zum geschichtlichen Hintergrund haben, würde die temporale Deutung des Schlusssatzes mit Akzent auf »dereinst« mindestens ebenso plausibel erscheinen lassen, allerdings nicht in einem religiösen Sinne. Es ergäbe sich eher ein politischer Hintergrunddiskurs, der auf kunsthistorischem Mate123 124 125
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Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Mss. Hass. 2° 256. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 5. MA 9, S. 323. Vgl. demnächst meinen Aufsatz: Architektur und Bild in Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ (1821) im Rahmen des projektierten Tagungsbandes Bilder des Architektonischen, hrsg. von Andreas Beyer / Ralf Simon / Martino Stierli. Achim von Arnim an Jacob Grimm, Berlin, 2. November 1810. In: Reinhold Steig, Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Band. 3: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart, Berlin 1904, S. 83.
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Abb. 9: Helfrich Bernhard Hundeshagen: Zeichnerische Bauaufnahme der Marienkirche in Gelnhausen. Graphit, Tinte, Papier, 37,2 × 15,6 (oben) bzw. 17,8 (unten) cm. Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. Hass. 254, Bl. 13.
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Abb. 10: Die Gräber von Eberhard III. von Breuberg und Mechthild von Breuberg. Kloster Konradsdorf in Hessen. Fotografie des Zustandes 2008.
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rial aufruht. Bekannt ist ja, dass alle Figuren des Romans den Namen Otto in sich tragen. Nach dem sehr lange zurückliegenden Aussterben der Ottonen, mit denen die Sakralisierung des Kaisertums jenes Reiches begann, das soeben mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. unterging, und nach der nicht ganz so lange zurückliegenden Resakralisierung des Cäsarentums durch Napoleon I. seit dem Jahr 1804 würde sich jener Friedrich Barbarossa als utopischer Hoffnungsträger angeboten haben, der im Kyffhäuser ja gleichfalls nur ruht, und sicherlich hat es 1808 Kreise gegeben, die auf den freundlichen Augenblick hofften, wenn er dereinst wieder erwachen würde.127 Allerdings ist es der mit dem Architekten im Bunde stehende Erzähler, auf den dieser Satz zurückgeht.
V. Das unsichtbare Labyrinth unter dem Mausoleum: Friedrich Weinbrenners Rekonstruktion des Grabmals des Porsenna Als Goethe der ersten, seines Erachtens gänzlich verfehlten Illustrationen zu seinem eben erschienenen Roman ansichtig wurde, gab er seinem Freund Heinrich Meyer gegenüber an, welche beiden Augenblicke allenfalls – »wenn man überhaupt solches Zeug zeichnen will« – bildlich »gefaßt werden« konnten: Ottilie, das tote Kind gen Himmel hebend, und »das Herantreten des Architekten«.128 Goethe dachte also erstens an jenen schreckensstarren Augenblick des größtmöglichen Leids, den der Erzähler gleichwohl mit dem klassizistischen Paradigma kalten, weißen Marmors in Verbindung bringt, indem er sich Ottilie als Statue imaginiert, und zweitens an folgenden Augenblick: Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden. Unwillkürlich geriet er jetzt in die gleiche Stellung; und wie natürlich war sie auch diesmal! Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden; wenn Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten, in entscheidenden Momenten unentbehrlich sind, nicht geschätzt, vielmehr verworfen und ausgestoßen worden: so waren hier so viel andere stille Tugenden, von der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre gleichgültige
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Schon Kampers hat nachgezeichnet, wie sich seit dem frühen 18. Jahrhundert die Erwartungen, die sich schon im Mittelalter auf einen endzeitlichen Kaiser richteten, auf Friedrich Barbarossa verengten. Franz Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage. Nd. der Ausgabe München 1896. Aalen 1969, S. 161: »Behrens Bericht [Hercynia curiosa, Nordhausen 1703] vom bergentrückten Kaiser Barbarossa wurde in der Bearbeitung durch Melissantes [Curieuse Orographie, Frankfurt am Main 1715, S. 533] die Grundlage der Grimm’schen Erzählung [Deutsche Mythologie, II, 2. Aufl., S. 910], und in der Bearbeitung Büschings [Volkssagen, Märchen und Legenden. Leipzig 1812, S. 459] gab er den Stoff zu der plastischen im Jahre 1817 niedergeschriebenen Ballade Rückerts«. Vgl. Camilla G. Kaul, Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. Bilder eines nationalen Mythos im 19. Jahrhundert. Köln 2007. Goethe an Heinrich Meyer, Jena, 27. April 1810. In: Hecker, Briefwechsel (Anm. 99), S. 283f., hier S. 284. Vgl. Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie und Ikonologie. Ein Entwurf. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 145 (1993), S. 18–32, hier S. 31: »Das Bild des empfindenden Herzens wird mit dem der Statue überblendet«.
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Hand schnell wieder ausgetilgt: seltene, schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit sehnsüchtiger Trauer vermißt.129
Dieser innere Monolog des Architekten der Wahlverwandtschaften, den der Erzähler an dieser Stelle fast distanzlos zu dem seinen macht, erstaunt nicht nur durch die klassizistische Gebärde trauernder Rückschau auf ein verlorenes Vollkommenes, die dem berühmten Schluss von Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums abgeschaut sein könnte, sondern mehr noch durch den ganz offenbar Hundeshagens Architekturbeschreibungen abgelauschten »salbungsvolle[n] Ton«130 (»etwas unschätzbar Würdiges«) angesichts des Todes einer jungen Frau, die einen freiwillig-unfreiwilligen Hungertod gestorben ist. Ist es der Architekt, der ein Mausoleum für Ottilie errichtet, indem er eine alte Kapelle scheinbar im Sinne voriger Zeiten wiedererrichtet, dabei indes nicht umhin kann, seine gegenwärtigen Wünsche und Intentionen in die Rekonstruktion des Alten einfließen zu lassen, indem er auf zukunftsträchtige Weise »sein Andenken«131 damit stiftet, so ist es der Erzähler, der dem Architekten dabei zu Hilfe eilt, indem er diesem Mausoleum, das über einem Labyrinth der widersprüchlichsten Leidenschaften errichtet ist, im übertragenen Sinne eine klassizistische Fassade aus gesucht preziösem Wortmaterial vorblendet. Nicht Luciane, für die der Architekt zu Beginn des zweiten Teils der Wahlverwandtschaften nur widerwillig, das Mausoleum des Maussolos rekonstruierend, zeichnet,132 sondern Ottilie wird in diesem zweiten, bedrohlicheren Mausoleum am Ende des Romans beigesetzt. Wie eingangs bereits plausibilisiert werden konnte, hat Goethe den Park der Wahlverwandtschaften mit intertextuellen Verweisen ausgestattet, die es ihm erlaubten, ein Labyrinth als dessen nicht-realisierte Leerstelle zu markieren. Ein Labyrinth im strengen Sinne, ein Labyrinth, wie Hirschfeld es für Ascheberg notiert, ist an sich jedoch kein Ort des Todes, aus dem man den Ausweg nicht mehr fände. Wie Hermann Kern nachdrücklich betont hat, wird man beim Begehen eines Labyrinths zwar nach und nach das Gefühl für die bis dahin für wirklich gehaltene Welt verlieren, indem Umgang für Umgang die Zahl der Berührungspunkte mit der umgebenden Welt kleiner wird; man wird von einem Ziel her, auf das man zuschreitet und das mit jeder Kehre spürbarer wird, unwiderstehlich angezogen, indem zugleich die außerhalb übliche Vorstellung von Zeit anfängt, einem gleichgültig zu werden. Ebenso unweigerlich wird man in einem solchen kretischen Labyrinth jedoch vom Zentrum wieder zum Ausgangspunkt zurückgeführt, indem der bis dahin durchlaufene kinäs129 130 131 132
Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 18. MA 9, S. 526f. So Jens Bisky über Hundeshagen; Bisky, Poesie der Baukunst (Anm. 87), S. 233. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 2. MA 9, S. 409. Ebenda, II, 4. MA 9, S. 421f. Nach diesem Mausoleum erkundigte Goethe sich bei Aloys Hirt in einem Dankesbrief für die Übersendung von Hirts Baukunst nach den Grundsätzen der Alten (1809): »Haben Sie, mein Werthester, nicht auch etwas für das Carische Mausoleum gethan?«; Johann Wolfgang Goethe an Aloys Hirt, Jena, 9. Juni 1809 [Konzept]. WA IV, 20, S. 359–362, hier S. 361. Vgl. zu Hirt Claudia Sedlarz (Hrsg.), Aloys Hirt. Archäologe, Historiker, Kunstkenner. Hannover-Laatzen 2004.
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thetische Prozess sich von einem zentralen Ruhepunkt an umkehrt, so dass man mit jedem Schritt, mit jeder Kehre die Rückkehr in die erinnerte Welt sich vorbereiten empfindet. Das Labyrinth, das Kern als ›kretischen Typ‹ bezeichnet, ist insgesamt ein Ort sich wandelnden Lebens, so sehr der Durchgang durch die Enge auch als Krisis erlebt werden mag.133 In den Wahlverwandtschaften jedoch gibt es keinen Weg zurück. Wollte man den gesamten Roman mit einem Labyrinth vergleichen, müsste man von einem Irrgarten sprechen, der einen unwiderstehlichen Sog nach innen ausübt, den Weg zurück jedoch dauerhaft verwehrt. Solch ein Labyrinth ähnelt der Struktur nach freilich weniger demjenigen aus dem schönen Landschaftsgarten von Ascheberg, das so spielerisch angelegt war, dass es Hirschfeld an Salomon Geßners Idyllen denken ließ, als vielmehr jenem, das sich Plinius zufolge in der quadratischen Basis des Mausoleums des Etruskers Porsenna bei Clusium befunden haben soll, denn dieses italische Labyrinth war Plinius zufolge »ein unentwirrbares Labyrinth, aus dem man, wenn man es ohne einen Fadenknäuel betreten sollte, keinen Ausgang mehr finden kann«.134 Bemerkenswerterweise stellt das italische Labyrinth des Porsenna also einen diskursiven Ausgangspunkt dar, eine nicht mehr überwindbare Struktur zu ersinnen, die Reflexives und Anschauliches verbindet und damit für den Einsatz des Labyrinths im Roman der ästhetischen Moderne in besonderer Weise geeignet scheint.135 Dieses italische Labyrinth nun interessierte Goethe seit längerem, weswegen er Materialien dazu sammelte; zudem gab es gerade zur Zeit der Niederschrift der Wahlverwandtschaften möglicherweise Anlass, diese Materialien wieder vorzunehmen. Als Goethe die Wahlverwandtschaften schrieb, besaß er seit etwa zehn Jahren zwei Rekonstruktionszeichnungen, die vor Augen zu führen suchten, wie das unvorstellbare136 Labyrinth unterhalb des aus mehreren aufeinandergetürmten Pyramiden bestehenden Mausoleums des Porsenna konstruiert gewesen sein könnte. Im Jahr 1798 hatte der Architekt Friedrich Weinbrenner – vermittelt durch Heinrich Meyer – Goethe diese noch während seiner 133
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Hermann Kern, Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. München 1982, S. 15. Wie Kern nahelegt, ist Goethes physiologisch gedachtes Denkbild der Polarität von Systole und Diastole dieser Labyrinthstruktur genuin verwandt. C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde. Lateinisch-deutsch. Buch 36: Die Steine. Hrsg. und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp. München 1992, S. 69. Vgl. zu diesem Topos vor allem Manfred Schmeling, Der Erzähler im Labyrinth. Mythos, Moderne und Intertextualität. In: Evangelos Konstantinou (Hrsg.), Europäischer Philhellenismus. Antike griechische Motive in der heutigen europäischen Literatur. Frankfurt am Main u.a. 1995, S. 251–269. Die Nachrichten über das italische Labyrinth waren schon Plinius derart unvorstellbar, dass er es an dieser Stelle seiner Naturkunde vorzog, Varro zu zitieren. In dessen Worten heißt es bei Plinius: »in qua basi quadrata intus labyrinthum inextricabile, quo si quis introierit sine glomere lini, exitum invenire nequeat« (Plinius, Die Steine [Anm. 134], S. 68). Vgl. zum antiken Kontext auch Brigitte Burrichter, Erzählte Labyrinthe und labyrinthisches Erzählen. Romanische Literatur des Mittelalters und der Renaissance. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 14.
Abb. 11: Friedrich Weinbrenner: Rekonstruktionszeichnung des Grabmals des Porsenna (Porsina). [Vor 1798]. Durchschnitt durch die Mitte. Farbig lavierte Federzeichnung auf Papier, 33,4 × 48,5 cm. Rückseitig Stempel: »Goethes Besitz«. Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Standort Goethe National-Museum, Ident.-Nr. 25265 (Schuchardt Nr. I, S. 222, Nr. 85/0027).
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Abb. 12: Friedrich Weinbrenner: Rekonstruktionszeichnung des Grabmals des Porsenna (Porsina). [Vor 1798]. Links oben: Erster Aufriß nach Plinius’ Beschreibung. Rechts oben: Zweyter Aufriß mit etwas Abänderung des Plinius’ Beschreibung. Links unten: Grundriß. Rechts unten: Ansicht von oben. Farbig lavierte Federzeichnung auf Papier, 36,3 × 51,0 cm. Rückseitig Stempel: »Goethes Besitz«. Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Standort Goethe National-Museum, Ident.-Nr. 25266 (Schuchardt Nr. I, S. 222, Nr. 85/0028).
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römischen Studienjahre entstandenen, doch bis heute unpublizierten Zeichnungen137 zukommen lassen (Abb. 11 und Abb. 12).138 Wie Weinbrenners Begleitbrief an Meyer anzeigt, hatte Goethe sich persönlich dringlich bemüht, das ihm regelrecht »abgeforderte Grabmahl des Porsennas«139 zu erhalten. Möglicherweise war Goethe seinerseits bereits in Italien auf die antike Überlieferung hierzu aufmerksam geworden. Ausgerechnet im Oktober 1786 nämlich war in den in Rom verlegten Memorie per le belle arti ein Artikel Osservazioni sul Laberinto di Porsena descritto da Plinio Lib. XXXVI. cap. 13 erschienen, in dem unter anderem diskutiert wurde, ob nicht schon Plinius die Glaubwürdigkeit von Varros Bericht implizit in Frage gestellt habe, indem er Varro auf distanzierende Weise wörtlich zitierte; gleichwohl referiert auch dieser anonym publizierte Artikel die antiken Angaben von Varro und Plinius, dass man ohne einen Faden nicht mehr aus diesem Labyrinth des Porsenna herausgefunden hätte: »Dentro questo grandissimo recinto quadrato, era un Laberinto intrigatissimo, da cui non potevasi uscire senza l’ajuto del filo«.140 Man erinnert sich, dass ein »Faden«, wie er einst Theseus durch das Labyrinth leiten sollte, auch in den Wahlverwandtschaften erwähnt, doch von dem wie stets um Ordnung und Zusammenhang bemühten Erzähler verharmlosend mit jenem identifiziert wird, der die »Tauwerke der königlichen Flotte« von England durchziehe, da man diesen »nicht herauswinden kann ohne alles aufzulösen«.141 Sollte dieser Faden nicht vielleicht doch der Ariadne-Faden sein? Sollte der Umstand, dass dieser Faden zweckentfremdet in ein königli-
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Weinbrenner publizierte zwar eine Rekonstruktion 1834 in Entwürfe und Ergänzungen antiker Gebäude. Die frühen Rekonstruktionszeichnungen, die er 1798 an Goethe sandte, sind jedoch unpubliziert geblieben, nachdem Goethe und Meyer im November 1798 die Kosten für den Stich scheuten, vgl. Hecker, Briefwechsel (Anm. 99), S. 61f. Vgl. zum weiteren Kontext Klaus Jan Philipp, Das Grabmal des Porsenna. Rekonstruktionen eines Mythos vom 16. bis 19. Jahrhundert. In: Wessel Reinink / Jeroen Stumpel (Hrsg.), Memory and Oblivion. Proceedings of the XXIXth International Congress of the History of Art held in Amsterdam, 1–7 September 1996. Dordrecht 1999, S. 335–346; sowie ders., »Non e vero, ma ben trovato«. Rekonstruktionen literarisch überlieferter Bauwerke. In: Winfried Nerdinger (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. München 2006, S. 89–112, insbesondere S. 110, Anm. 13, mit dem Hinweis auf den römischen Artikel von 1786. Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Bestand Goethe Ident.-Nr. 25266 (Schuchardt I, S. 222, Nr. 85/0028) und Ident.-Nr. 25265 (Schuchardt I, S. 222, Nr. 85/0027). Für ein anregendes Gespräch in der Villa Vigoni über Friedrich Weinbrenner und Weimar danke ich Dr. Hermann Mildenberger. Friedrich Weinbrenner an Johann Heinrich Meyer, Carlsruhe, 15. Oktober 1798; Goetheund Schiller-Archiv, Weimar, Bestand GSA 25/XLV,1. Zuerst gedruckt und kontextualisiert bei Klaus Lankheit, Friedrich Weinbrenner und der Denkmalskult um 1800. Basel 1979, S. 95f. Ein fehlerhafter Druck bei Rainer Ewald, Goethes Architektur. Des Poeten Theorie und Praxis. Weimar 1999, S. 374f. Osservazioni sul Laberinto di Porsena descritto da Plinio Lib. XXXVI. cap. 13. In: Memorie per le belli Arti [Roma], Ottobre 1786, S. 235–241, hier S. 237. Ob dieser Aufsatz der Ausgangspunkt für Goethes und Weinbrenners Interesse war, lässt sich bisher allerdings nur mutmaßen, nicht beweisen. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 2. MA 9, S. 410.
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ches Tau eingewirkt ist, ironischerweise gerade den Verlust des rückkehrverbürgenden Fadens aus einem Labyrinth ohne Ausweg indizieren? Sich der seit 1798 in Weimar befindlichen, doch bis heute unpublizierten Rekonstruktionen Weinbrenners vom Porsenna-Grabmal und seinem Labyrinth wieder zu erinnern, hatte Goethe in den Jahren 1807 und 1808 erneut Anlass. Im Sommer 1807 konnte Goethe Grund gehabt haben, sich mit Carl Ludwig Fernow über Weinbrenner auszutauschen, da Fernow, in diesem Jahr mit Goethe in Karlsbad, ein intimer Kenner von Weinbrenners in Rom entstandenen Skizzen, Theorien und Projekten war – beispielsweise einer zeichnerischen Rekonstruktion der gleichfalls durch Plinius überlieferten Theater des Kurio142 – und soeben durch Mittelsmänner wie Georg Reinbeck den Kontakt zu Weinbrenner wieder intensivierte, da dieser seit Ende 1806 lebhaft daran interessiert war, Fernow als Ästhetikprofessor für Heidelberg zu gewinnen.143 Auch Weinbrenners aktuelle Pläne zum Bau eines Theaters mögen daher in Weimar früh bekannt gewesen sein. Vermutlich gab es aber noch einen weiteren Anlass für Goethe, sich zur Zeit der Niederschrift der Wahlverwandtschaften der früheren Sendung Weinbrenners aus den von diesem gemeinsam mit Fernow und Meyer in Rom verbrachten Tagen vor 1798 zu erinnern,144 als Goethe seinerseits am intensivsten und produktivsten mit Friedrich Schiller zusammengearbeitet hatte. Zu einem bisher nicht bekannten Zeitpunkt nach Schillers Tod sandte Weinbrenner wiederum zwei Zeichnungen nach Weimar: Entwürfe eines Grabdenkmals für den im Jahr 1805 verstorbenen Friedrich Schiller,145 für den Fernow einen weithin als Denkmal im übertragenen Sinne wahrgenommenen Nekrolog verfasst hatte.146 Weinbrenners Porsenna-Rekonstruktionen versu-
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Vgl. Claudia Elbert, Die Theater Friedrich Weinbrenners. Bauten und Entwürfe. Karlsruhe 1988, S. 39–42. Fernow hatte einen mit Weinbrenner gemeinsam erarbeiteten Aufsatz über dieses bei Plinius überlieferte Theater im Mai 1797 an Wieland geschickt, der den Aufsatz im Teutschen Merkur veröffentlichte. Im Jahr vor seinem Karlsbader Aufenthalt mit Goethe hat Fernow ihn noch einmal publiziert, indem er Weinbrenner in einem neuen Vorwort aufforderte, seine vergleichbaren Rekonstruktionen, wie etwa »das Bad des Hippias, das Grabmal des Porsenna, die Villa des Plinius, den Kanal des Fucinischen Sees«, doch baldmöglichst zu publizieren; Carl Ludwig Fernow, Über die beweglichen Theater des Kurio. In: Ders., Römische Studien, Band 2, Zürich 1806, S. 131–168, hier S. 136. Vgl. zum römischen Kontext: Ulrich Maximilian Schumann, Friedrich Weinbrenners Weg nach Rom. Bauten, Bilder und Begegnungen. Karlsruhe 2008, S. 24. Gerda Kircher, Heidelberger Kunstschulpläne in den Jahren 1803–1813. In: Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der Kurpfalz 13 (1928), S. 24–34. Die Anfrage an Hirt vom 9. Juni 1809 (WA IV, 20, S. 359–362) belegt, dass Goethe zu diesem Zeitpunkt hohes Interesse für Rekonstruktionszeichnungen antiker Mausoleen aufbrachte, wie er sie mit den beiden Blättern Weinbrenners besaß. Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Inv. Nr. KK 4211 und KK 4212; für die freundliche Mitteilung danke ich Viola Geyersbach. [Carl Ludwig Fernow,] Nécrologie de Schiller. In: Archives littéraires de l’Europe, ou Mélanges de Littérature, d’Histoire et de Philosophie. Par une Société de Gens de Lettres. Tome VI. Paris, Tübingen 1805 (Nd. Genf 1972), S. 429–440. Die Zuschreibung der Autorschaft dieses literarischen Denkmals an Fernow erfolgt nach Dokumenten der von Dr. Margrit Glaser und mir vorbereiteten Edition der Briefe Fernows. Ich danke Margrit Glaser für diesen freundlichen Hinweis.
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chen sich an etwas letztlich Unmöglichem: Das unentwirrbare Labyrinth zu zeigen. Seine Entwürfe für ein modernes Denkmal in Weimar sind in formaler Hinsicht vielleicht weniger spektakulär, doch gelten sie niemand anderem als Friedrich Schiller. Der intertextuelle Bezug auf Hirschfelds Beschreibung von Ascheberg erlaubt es Goethe, ein Labyrinth als diejenige Parkarchitektur zu markieren, die buchstäblich die Leerstelle der Wahlverwandtschaften bezeichnet: Es ist auf der Ebene der Deixis nicht realisiert. Der Umstand, dass ›der Park‹ der Wahlverwandtschaften kein Labyrinth auf derselben deiktisch aufzeigbaren Ebene aufweist, auf welcher er die vom Leser zu imaginierenden Architekturen wie ein Schloss, eine Mooshütte oder ein Lusthaus aufweist, bedeutet indes gerade nicht, dass es dieses Labyrinth nicht gäbe; es ist nur ›nach unten‹ verdrängt worden. In einem Spiel mit der Vorstellung, dass die evozierte Landschaft eines Romans sich von Blickpunkten auf verschiedenen Niveaus beschreiben lasse – einem Spiel, das die Figuren des Romans spielen, wenn sie ›auf Augenhöhe‹ perspektivische Ansichten aufnehmen, den Park ›von oben‹ kartographieren oder bestimmte Teile des Parks wie den Friedhof ›nach unten‹ absenken –, avanciert das Labyrinth zur invisibilisierten Grundfigur des Romans, auf welcher die Figuren agieren. Allerdings ist das Labyrinth durch diesen Prozess der Verdrängung ›nach unten‹ nicht etwa unwirksam geworden. Vielmehr kehrt es in der Basis des Mausoleums, das der Architekt – die agierende Spielfigur des Erzählers – errichtet, auf intrikatere Weise wieder. Denn dieses Labyrinth, von dem Plinius berichtet, ist tatsächlich unüberwindbar. Nicht erst der Nouveau roman, der durch Verfahren der Mise en abyme unüberwindliche Spiegellabyrinthe errichtet, sondern bereits Goethes Wahlverwandtschaften sind ein unentwirrbares Labyrinth aus Zeichen, die in ihrer Buchstäblichkeit zu opaken Hindernissen sowohl für die Figuren als auch für den Leser werden. Die beiden Mausoleen, die der Architekt der Wahlverwandtschaften als scheinbar stabile Memorialarchitekturen errichtet, verbergen in ihrer Tiefe – wie die intermedialen Bezüge auf Weinbrenners Rekonstruktionen und auf Plinius als deren Bezugspunkte plausibilisieren – einen Ort, von dem es keine Rückkehr gibt. Man ahnt, wer dort ruht.
»Auf das Leben bezügliche und vom Leben abgezogene Maximen« Beobachtungen zu Ottilies Tagebuch Andreas Grimm
Den Titel meines Beitrages1 beziehe ich aus einem Erzählerkommentar, mit dem der dritte von insgesamt sechs Auszügen »Aus Ottiliens Tagebuche« eingeleitet wird. Dort heißt es: Um diese Zeit finden sich in Ottiliens Tagebuch Ereignisse seltner angemerkt, dagegen häufiger auf das Leben bezügliche und vom Leben abgezogene Maximen und Sentenzen. Weil aber die meisten derselben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion entstanden sein können, so ist es wahrscheinlich, daß man ihr irgendeinen Heft mitgeteilt, aus dem sie sich, was ihr gemütlich war, ausgeschrieben. Manches eigene von innigerem Bezug wird an dem roten Faden wohl zu erkennen sein.2
Die Rede ist hier von Maximen, die »vom Leben abgezogen« und zugleich »auf das Leben bezüglich« sind. Nach diesem Verständnis zeichnen sich Maximen durch ein bestimmtes Verhältnis zur Lebenswirklichkeit aus: Einerseits sollen sie, die der lebensweltlichen Erfahrung entspringen, vom Leben abgezogen, andererseits aber auch wieder auf das Leben bezogen sein. Dies wirft die Frage auf, wie man sich dieses Aufs-Leben-bezogen-sein denken soll? Ausgehend von einem spätestens seit Kant geläufigen Verständnis des Begriffs ›Maxime‹, könnte man nun sagen, dass Maximen dahingehend auf das Leben bezogen sind, dass sie das lebensweltliche Handeln bestimmen. Ein Problem besteht hier nun aber bezüglich der Quelle dieser »Maximen und Sentenzen«. Eigenartig ist nämlich, dass der Erzähler zugleich sagt, dass die meisten dieser Maximen, die doch »vom Leben abgezogen« sein sollen, ihre Quelle gar nicht in Ottilies eigener Lebenserfahrung haben; dass sie diese vielmehr aus irgendeinem Heft abgeschrieben hat, das jemand ihr gegeben hat. Im Zusammenhang mit der Romanhandlung ist dieser Hinweis zunächst plausibel, denn als Pensionatsschülerin hat Ottilie von der Welt noch nichts gesehen;
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Für die ausführliche Diskussion des Beitrages möchte ich Alexander Löck und Jan Urbich danken. Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. Mit einem Nachwort von Ernst Beutler. Nachdruck. Stuttgart: Reclam 2003 [=R], II, 4, S. 150.
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und selbst ihre Betreuer – wenn man von dem Gehilfen einmal absieht – halten sie nicht für recht lebenstauglich. Ohne Lebenserfahrung keine vom Leben abgezogenen Maximen – möchte man meinen. Was bleibt, ist nun aber der augenscheinliche Widerspruch: Einerseits sollen die Maximen in ihrem Tagebuch vom Leben abgezogen sein, andererseits sind sie im Falle von Ottilie aber gerade nicht aus dem Leben abgezogen, sondern aus einem »Heft«, also einem Element schriftlicher Überlieferung. Die Frage danach, wie dieser Widerspruch zu verstehen sei, liegt den folgenden Ausführungen zugrunde. Dreierlei soll dabei erörtert werden: Zum einen stelle ich die These zur Diskussion, dass in diesem scheinbaren Widerspruch die immanente Poetik3 des Romans begründet ist. Zum zweiten möchte ich zeigen, dass diese Goethe’sche Poetik in Zusammenhang mit einem bestimmten Verständnis von »Maxime« steht, wie es in den Wahlverwandtschaften zum Ausdruck kommt. Und zum dritten stelle ich den Versuch zur Diskussion, diese mit dem Maximenbegriff fassbare immanente Poetik des Romans fruchtbar zu machen für eine Rezeptionstheorie von Literatur allgemein, die den Zusammenhang zwischen Literaturrezeption und lebensweltlichem Handeln beschreibbar macht. Dieses Konzept soll es ermöglichen, die Relevanz von Kunst und Literatur über den rein ästhetischen Bereich hinaus fassbar zu machen.
I. Der vom Erzähler mitgeteilte merkwürdige Umstand, dass Ottilies Maximen in Wirklichkeit aus »irgendeine[m] Heft« abgeschrieben sind, ist in zweierlei Hinsicht besonders bemerkenswert: zum einen vor dem Hintergrund der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die ja bekanntlich die unmittelbare sinnliche Erfahrung der Lebenswelt über das Studium von schriftlicher Überlieferung gestellt hat. Ottilie kommt also, wenn man das so sagen kann, auf ausgesprochen unaufklärerische Weise zu ihren Maximen. Dies ist umso erstaunlicher vor dem Hintergrund des zweiten bemerkenswerten Umstands, dass nämlich Ottilie mit ihren Maximen aus zweiter Hand den anderen Hauptfiguren in gewisser Weise überlegen zu sein scheint, obwohl diese doch einiges an echter Lebenserfahrung aus erster Hand vorzuweisen haben. Ein Großteil des Romans legt den Schluss nahe, dass selbst wenn Ottilies Maximen nur mittelbar vom Leben abgezogen, sie doch auffällig passender aufs Leben bezogen sind, als diejenigen, nach denen die anderen Hauptfiguren handeln. Nicht zuletzt mit der Implikation, dass schriftliche Überlieferung, zumindest in einer bestimmten Form, offenbar eine bessere Quelle lebensweltlicher Erfahrung als die unmittelbare sinnliche Lebenserfahrung selbst sei, stellt Goethes Roman eine Provokation für das intellektuelle Milieu der Spätaufklärung dar.
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Es wäre eine eigene Aufgabe zu zeigen, dass sie sich zugleich als eine Poetik verstehen lässt, die einem großen Teil des Goethe’schen Œuvres zugrunde liegt.
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Zumindest für den Leser des Romans und für die ihr verbundene Charlotte ist Ottilies erster Auftritt im Roman eine Herausforderung, genauer: eine Herausforderung für das Bild, das beide sich bisher von dieser jungen Frau gemacht haben. Denn Ottilies erster Auftritt ist mitnichten ihre erste Erwähnung. Die Darstellung dieser Figur beginnt bereits wesentlich früher durch eine Reihe von Fremdcharakterisierungen: den besagten Brief der Vorsteherin und des Gehilfen, das sich darauf beziehende Gespräch Charlottes mit Eduard und nicht zuletzt dadurch, dass von Anfang an Charlottes Tochter Luciane als Kontrastfigur zu Ottilie eingeführt wird, die all das an Lebenstüchtigkeit ihr eigen nennt, was Ottilie nach dem Urteil der anderen Figuren abgeht. Zu dieser zumeist direkten Fremdcharakterisierung und indirekten Charakterisierung auf der Ebene der Figurenkonstellation bildet Ottilies erster Auftritt einen eindrücklichen Kontrast, der Charlotte und mit ihr den Leser gänzlich überrascht: Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren. Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte sich ihr zu nähern, warf sich ihr zu Füßen und umfaßte ihre Kniee. Wozu die Demütigung! sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war und sie aufheben wollte. Es ist so demütig nicht gemeint, versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb. Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht höher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiß war. Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich.4
Ottilie, die vorher so eigenartig vom Leben – das hier, wie bei Goethe zumeist, wesentlich: soziales Leben ist – abgezogen schien, stellt sich doch jetzt als bemerkenswert auf das Leben bezogen dar. Sie zeigt hier nämlich eine Einstellung, die den anderen Figuren abgeht: Altruismus5 ohne Selbstaufgabe. Diese
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 6. R, S. 44. Ottilies Demut im Sinne eines Dienens aus einer inneren altruistischen Haltung heraus wird wiederholt im Roman thematisiert. Dabei ist bemerkenswert, dass Ottilies ›Ego‹ durch diese Haltung nicht verliert, sondern gewinnt – um nicht zu sagen: sich allererst konstituiert. Ottilie handelt nach dem Prinzip, das Wieland dem aufgeklärten Menschen ins Stammbuch schreibt: »Indem sich jedes selbst im andern glücklich macht«. (Christoph Martin Wieland, Musarion. In: Sämmtliche Werke, Teil 3, Band 9. Hamburg 1984, S. 97.) Auf Charlottes Frage »Wozu die Demütigung!« erwidert Ottilie: »Es ist so demütig nicht gemeint«. Obgleich von einer (Selbst-)Demütigung Ottilies also nicht die Rede sein kann, meine ich plausibel machen zu können, weshalb sich Ottilies innere Einstellung – über die Begrüßungsszene hinaus (die eine Reminiszenz an Kindertage ist) – sehr wohl als demütig – und zwar im Sinne von ›demutsvoll‹ – charakterisieren lässt. Ottilie – in ihrem responsiven Wesen – ist nämlich vor allem insofern auf das Leben und die Gesellschaft bezogen, als ihre »Dienstbeflissenheit«, wie der Erzähler es nennt, im Haushalt oder im Umgang mit Menschen aus einer Aufmerksamkeit auf und einer Einsicht in vorgefundene Verhältnisse resultiert. Was aber der Erzähler unter »Dienstbeflissenheit« fasst, nennt Charlotte »anständige Dienstfertigkeit«, die ihr »viel Freude« macht; und Ottilies »Dienstpflichtigkeit« bezeichnet sie »Höheren und Älteren« Frauen gegenüber als »Schuldigkeit«, gegenüber »ihresgleichen« als »Artigkeit« und gegenüber »Jüngeren und Niederen« als »menschlich und gut«. Einzig Ottilies Ergebenheit und »Dienstbarkeit« Männern gegenüber goutiert Charlotte nicht (Die Wahlverwandtschaften I, 6. R, S. 46f.). Dieser gleichsam präzisen Analyse möglicher wie unmöglicher Dienstfertigkeiten im Umgang mit Menschen steht Ottilies Tätigsein aus dem Geist allgemein-menschlicher Demut gegenüber, die sich in beinah jeder ihrer Handlungen symbolisch-prägnant exemplifiziert (und bisweilen auf Nachfrage: anschaulich redend
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Einstellung wiederum wird in der Erzählerrede sofort in ihrem segensreichen Wirken auf das soziale Miteinander vorgeführt, denn Ottilies Geste und ihre Erklärung derselben reißen Charlotte zu der als »herzlich« bezeichneten Umarmung hin, die auf der Stelle das gute Verhältnis der beiden Frauen etabliert. Mehr noch, gleich im Anschluss heißt es weiter: »Sie ward den Männern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt. Schönheit ist überall ein willkommner Gast«.6 Ohne es explizit zu sagen, suggeriert die Erzählinstanz hier, dass Ottilies gegenüber Charlotte gezeigte Demut die Quelle jener »Schönheit« ist, die sie den Männern willkommen machte. Diesen Eindruck verstärkt der unmittelbar folgende Satz: »Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran teil genommen hätte«.7 Ottilies Schönheit besteht offensichtlich darin, dass sie Anteil nimmt, ohne in Anspruch zu nehmen. Und dieser erste Eindruck verstärkt sich im Zuge des Romans, da sich die Dinge verändern und die Gesellschaft »[a]uf manche Weise […] durch Ottiliens Ankunft gewonnen« hat: Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenkünfte. Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger als billig auf sich warten. Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken. Beide zeigten sich überhaupt geselliger. Bei ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens Teilnahme zu erregen geeignet sein möchte, was ihren Einsichten, ihren übrigen Kenntnissen gemäß wäre.
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zur Ausweisung gebracht) findet; so etwa, wenn sie nicht als Virtuosin im Solistischen wirkt, sondern in bewusst-dienender Bezogenheit auf andere. Denn: Die Zuhörenden waren »noch mehr überrascht, wie sie es [sc. das Musikstück] der Spielart Eduards anzupassen wußte […]«; wobei der Erzähler umgehend anzumerken fortfährt: »Anzupassen wußte ist nicht der rechte Ausdruck; denn wenn es von Charlottens Geschicklichkeit und freiem Willen abhing, ihrem bald zögernden, bald voreilenden Gatten zuliebe, hier anzuhalten, dort mitzugehen, so schien Ottilie, welche die Sonate von jenen einigemal spielen gehört, sie nur in dem Sinne eingelernt zu haben, wie jener sie begleitete. Sie hatte seine Mängel so zu den ihrigen gemacht, daß daraus wieder eine Art von lebendigem Ganzen entsprang, das sich zwar nicht taktgemäß bewegte, aber doch höchst angenehm und gefällig lautete. Der Komponist selbst hätte seine Freude daran gehabt, sein Werk auf eine so liebevolle Weise entstellt zu sehen« (Ebenda, I, 8. R, S. 60f.). Das, was sich bei Goethe als quasi-altruistische Demut prägnant veranschaulicht findet, ist im nachstehenden Zitat aktuell reformuliert: »Was aus der Perspektive des Einzelnen altruistisch erscheint, ist Egoismus auf der Ebene der größeren Einheit: In dem Maß, wie die Individuen als Agenten ihrer lokalen Kultur zu handeln lernen, dienen sie dem erweiterten Eigenen, indem sie am engergefaßten Eigenen Abstriche hinnehmen. Dieses implizite immunologische Kalkül liegt Opfern und Steuern, Manieren und Diensten, Askesen und Virtuositäten zugrunde. Alle wesentlichen Kulturphänomene gehören zu den Gewinnspielen der überbiologischen immunitären Einheiten« (Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main 2009, S. 710 [Hervorhebungen A.G.]). Dieses bei Goethe exemplifizierte und bei Sloterdijk beschriebene Phänomen einer aufgeklärt dienenden Haltung (im Sinne wechselseitig dynamisierender Bezogenheit und Weltinvolvierung) werde ich zu späterer Zeit – als Beitrag zu einer Philosophie des Taktes – als Konzept der Temperierung näher auszuführen versuchen. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 6. R, S. 44. Ebenda.
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Beim Lesen und Erzählen hielten sie inne, bis sie wiederkam. Sie wurden milder, und im ganzen mitteilender. In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse kennenlernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blick, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit. Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen, Wiederniedersitzen, ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung. Dazu kam, daß man sie nicht gehen hörte; so leise trat sie auf. Diese anständige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude.8
Ottilie in ihrem Sein und Handeln tut dem Leben gut: Alle werden gleichsam soziabler, die Unternehmungen gehen voran. Einen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung an der Stelle, wo die Position des neuen Hauses diskutiert wird und der entscheidende Vorschlag von Ottilie kommt. Dabei wird Eduards Ausruf: »Sie hat recht!« selbst von dem zunächst skeptischen Hauptmann wiederholt: »Ottilie hat recht, sagte er«.9 Schließlich wird Ottilies Lebenstüchtigkeit auf der Ebene der Figurenkonstellation noch dadurch eindrücklicher gestaltet, dass die Weltgewandtheit und Lebenslust ihrer Kontrastfigur Luciane sich später als geradezu menschen- und damit lebensfeindliche Geschäftigkeit erweist. Je deutlicher in der Darstellung des Romangeschehens diese so segensreiche Bezogenheit Ottilies auf das Leben zur Geltung kommt, desto mehr stellt sich nun aber die bereits oben angeführte Frage nach den Quellen dieser Lebenstüchtigkeit. Für die Beantwortung dieser Frage ist eine Passage von zentraler Bedeutung, die zugleich noch einmal die Ausnahmestellung Ottilies in der Figurenkonstellation klar herausstellt. Charlotte ist nämlich nicht nur erfreut, sondern auch verwundert über Ottilies »Dienstfertigkeit«, deren »Anständigkeit« sie allerdings nicht in jedem Fall einzusehen vermag: Es gehört, sagte sie eines Tages zu ihr, unter die lobenswürdigen Aufmerksamkeiten, daß wir uns schnell bücken, wenn jemand etwas aus der Hand fallen läßt, und es eilig aufzuheben suchen. Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der größern Welt dabei zu bedenken, wem man eine solche Ergebenheit bezeigt. Gegen Frauen will ich dir darüber keine Gesetze vorschreiben. Du bist jung. Gegen Höhere und Ältere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen Artigkeit, gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen.10
Auf diese Lektion das Sozialverhalten betreffend gelobt Ottilie nun, es sich »abgewöhnen« zu wollen, bittet aber auch um Verständnis für ihre Art des sozialen Handelns. Bezeichnenderweise argumentiert Ottilie aber nicht, sondern sie erzählt eine Art Geschichte.11 Sie will Charlotte sagen, wie sie »dazu
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Ebenda, I, 6. R, S. 46. Ebenda, I, 7. R, S. 58. Ebenda, I, 6. R, S. 46f. Man denke in diesem Zusammenhang an Lessings Nathan, der Saladin – hinsichtlich der (Auf-)Klärung der Frage, welche Religion die wahre sei – ebenfalls keine Argumen-
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gekommen« ist: Sie sei dazu gekommen durch den Geschichtsunterricht im Pensionat, von dem ihr unter anderem die »eindrückliche Begebenheit« erinnerlich geblieben sei, die »Karl den Ersten von England« in einer »schmerzlich« demütigenden Weise »vor seinen sogenannten Richtern« zeigt: Als Karl der Erste von England vor seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens, das er trug, herunter. Gewohnt, daß bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte, schien er sich umzusehen und zu erwarten, daß ihm jemand auch diesmal den kleinen Dienst erzeigen sollte. Es regte sich niemand; er bückte sich selbst, um den Knopf aufzuheben. Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht ob mit Recht, daß ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Händen fallen sehn, ohne mich darnach zu bücken. Da es aber freilich nicht immer schicklich sein mag, und ich, fuhr sie lächelnd fort, nicht jederzeit meine Geschichte erzählen kann, so will ich mich künftig mehr zurückhalten.12
Die Schilderung Karls in dieser Situation hatte Ottilie damals so beeindruckt, dass der erlebende Nachvollzug dieser geschilderten Situation fortan ihr Leben und Auftreten bestimmt hat. Ottilies Handeln hat also auf einer Maxime beruht, die aber nicht ausformuliert vorliegt und von der der Roman nur die erlebnishafte Quelle angibt. Wichtig ist zudem, dass die geschilderte Begebenheit keine Figur enthält, die als Vorbild dienen kann. Ottilies Haltung ist weder eine Imitation von Karls in dieser Situation möglicherweise erscheinender Arroganz noch eine Nachahmung der Mitleidslosigkeit der »sogenannten Richter«. Ottilies Maxime ist nicht: ›handle so wie Karl‹ oder ›handle so wie die Richter‹. Es ist also nicht ein aus der geschilderten Situation destillierter Gehalt, den Ottilie als Maxime auf ihr Leben bezieht, sondern es ist die geschilderte Situation selbst, genauer: deren erlebnishafter (strukturierender) Nachvollzug.13
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tation vorlegt, sondern um Erlaubnis bittet, »ein Geschichtchen zu erzählen« (Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise III, 7. In: Werke in zwölf Bänden, Band 9. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1993, S. 555). Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 6. R, S. 47. In der Unterscheidung zwischen »Nachahmung« und »Nachvollzug« folge ich Matthias Vogel: »Gemeinsam ist Nachahmen und Nachvollzug eine Einstellung zum Gegenstand: Es gilt, seine Form tätig zu erfassen. Das Nachahmen muß dabei aber immer öffentlich zugängliche Produkte hervorbringen, die wir daraufhin befragen können, ob sie gelungene Nachahmungen sind. Nachvollzüge hingegen können sich imaginativer Mittel bedienen, die erst in einem zweiten Schritt, etwa durch Beschreibungen oder durch Handlungen, zugänglich gemacht werden können. Darüber hinaus muß eine Nachahmung sich solcher Mittel bedienen, die zum gleichen Typ gehören wie das Nachgeahmte: Gesten können nur durch Gesten, Klänge nur durch Klänge, Bilder nur durch Bilder nachgeahmt werden. Von solchen Anforderungen wird der Nachvollzug nicht beschränkt. Nichts spricht dagegen, einen Klang durch eine Bewegung nachzuvollziehen oder eine Geste durch einen Klang. Der Nachvollzug ist daher in der Wahl seiner Mittel freier, seine Beziehung auf den Gegenstand nimmt nicht am Eintreten vergleichbarer Effekte Maß, sondern an der Strukturierung und Erschließung des Gegenstandes, und zwar entlang von Eigenschaften, die der Gegenstand durch den Nachvollzug gewinnt und nicht schon aufweisen muß. Während die Nachahmung voraussetzt, daß ihr Gegenstand in den Hinsichten bestimmt ist, an denen sich die Nachahmung bewähren kann, erlaubt der Nachvollzug, daß der Gegenstand durch den Nachvollzug eine Struktur gewinnt, über die wir unabhängig vom Nachvollzug gar nicht verfügen. Eine gelingende Nachahmung, etwa die eines Stimmenimitators, macht uns aufmerksam auf Eigenschaften, die den Sprech-
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In diesem Sinne beruht Ottilies Handeln nicht auf einer Maxime, die die Form eines Aphorismus hätte. Vielmehr macht Ottilie sich im anteilnehmenden Nacherleben der geschilderten Situation etwas zu eigen, das dann als Maxime zum Movens ihres Handelns werden kann, ohne dass Ottilie es aphoristisch oder argumentativ auf den Punkt bringen könnte. Könnte sie es, müsste sie Charlotte nicht eine Geschichte erzählen: »Da […] ich […] nicht jederzeit meine Geschichte erzählen kann, so will ich mich künftig mehr zurückhalten«. Wenn sie ihre Geschichte nicht erzählen kann, muss sie ihr Handeln ändern, da sie dieses Handeln nicht argumentativ, sondern eben nur durch Erzählen der Geschichte rechtfertigen kann. Denn ihr Handeln beruht hier eben nicht auf Gründen, die sie ja an Stelle der Geschichte einfach angeben könnte, sondern auf einer emotionalen Betroffenheit, die nur durch das Erzählen der Geschichte selbst nachvollziehbar wird: Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht, ob mit Recht, daß ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Händen fallen sehn, ohne mich darnach zu bücken.
Anders als die »sogenannten Richter« in der Begebenheit stellt Ottilie die Frage nach der Rechtmäßigkeit ihres Mitleids für Karl hintan. Dieser Umstand verdeutlicht noch einmal, dass die Maximenbildung hier nicht als rationalargumentativer Vorgang, sondern als ästhetischer zu begreifen ist.14 Es ist, als würde Ottilie aus dem ästhetischen Erlebnispotential dieser geschilderten Situation ihre Maximen unmittelbar, das heißt ohne Umweg über eine rationale Durchdringung des ästhetisch Vermittelten beziehen.
II. Insofern der Roman suggeriert, dass Texte dann besonders handlungsleitend werden können, wenn sie ein ästhetisches Potential haben, formuliert der Roman ein poetologisches Programm. Man könnte auch verkürzt sagen: Was an Ottilie vorgeführt wird, ist ein ästhetischer Akt menschlicher Selbst-Erziehung durch die Rezeption von Literatur. Ottilies Handeln ist das Resultat einer Haltung, die sich aus einer bestimmten Rezeptionsweise speist. Als Haltung verstehe ich nun aber gerade eine dem Körpergedächtnis im Modus der (Ein-)Übung
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weisen der Imitierten unabhängig von der Imitation zukommen. Der gestisch-mimische Nachvollzug der Sprechweise hingegen stattet sie mit Eigenschaften aus, die sie gerade nur im Lichte dieses Nachvollzugs hat, und der Nachvollzug wird plausibel, wenn diese Eigenschaften transindividuell wahrgenommen werden. Nachvollzüge sind, anders als Nachahmungen, wesentlich nicht reproduktiv, sondern produktiv, man könnte auch sagen: kreativ.« (Matthias Vogel, Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns. In: Alexander Becker / Matthias Vogel (Hrsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 314–368, hier S. 359f. Ferner und konkret mit Blick auf Literatur: Ders., Performatives Verstehen. In: Gabriele Leupold / Katharina Raabe (Hrsg.), In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst. Göttingen 2008, S. 234–250.) Vgl. die folgende Anmerkung.
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eingeprägte Reflexion15 auf angemessene Weltinvolvierung, mithin als in Routinen und Gewohnheiten sedimentierte Einsichten, die Dispositive situativ angemessenen Handelns vorstellen. Der Begriff der Übung ergibt sich, wenn man mit Peter Sloterdijk »jede Operation« als »Übung« definiert, »durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht«.16 Nur die Ausübung des Bedachten und Eingeübten erweist etwas als Maxime (als [sprachlichen] Ausdruck »willensgestützter Eigenanstrengungen«17), die man tatsächlich hat. Dabei fällt auf, dass der Text, den Ottilie hier rezipiert, gar keine Literatur ist, sondern offensichtlich eine historische Darstellung, die sie aber ästhetisch rezipiert, nämlich so, als wäre sie Literatur. Diesen Umstand benennt Ottilie auch klar: Man habe sie »die Geschichte« gelehrt; sie selbst habe aber »nicht so viel daraus behalten«, als sie »wohl gesollt hätte«: »denn ich wusste nicht, wozu ich’s brauchen würde«. An dieser Stelle wirft Ottilie bereits die Frage nach »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« auf und nimmt auch Nietzsches Antwort in gewisser Weise vorweg; denn aus dem Geschichtsunterricht behält sie nur »einzelne Begebenheiten«, die ihr »sehr eindrücklich gewesen« seien. »Eindrücklich« verstehe ich hier als Bezeichnung für das ästhetische Erlebnispotential der Schilderung der Begebenheit. An dieser Stelle sagt Ottilie nichts anderes, als dass derartig eindrückliche Begebenheiten – gerade wegen ihrer Eindrücklichkeit – das sind, was sie »brauchen würde«; will sagen: wegen ihres Nutzens für das Leben. Und in diesem Sinne macht Ottilie die Darstellung einer geschichtlichen Begebenheit zu ihrer Geschichte und lässt sie so zur unausgesprochenen, dafür aber umso intensiver empfunden Maxime ihres Handelns werden. Der Roman führt am Beispiel dieser wichtigen Figur vor, wie literarische und literarisierte Darstellungen für das lebensweltliche Handeln von Menschen relevant werden können. Er formuliert damit ein poetisches Programm. Auch die verschiedenen Hauptfiguren des Romans treten dem Leser teilweise in Situationen gegenüber, in denen sie eine ebenso jämmerliche Figur abgeben wie Karl vor dem Gericht, weshalb sie als Vorbilder nicht taugen. Das Beispiel Ottilies aber sollte dem Leser des Romans ein poetologischer Wink sein, dass sich seine 15
16 17
Unter Reflexion verstehe ich hier – unter Rückgriff auf Wolfgang Welsch und Peter Sloterdijk – eine Schnittstelle zwischen theoretischen Erwägungen und praktischen Vollzügen. Denken wird über Reflexion auf das Handeln zurückgebogen und somit handlungsrelevant. In diesem Sinne gilt: »Der Einwand, Reflexion sei doch etwas Nachträgliches und komme für das Leben zu spät, ist seinerseits veraltet. In reflexiven Kulturen – und die moderne Kultur ist exemplarisch reflexiv – kann Reflexion die Verhältnisse bis in ihre Basis hinein verändern. Dann ist die Reflexion durch Verhältnisse bestimmt, die ihrerseits schon durch sie geprägt sind. […] Die Reflexion wird, indem sie die Lebensverhältnisse klärt, noch eigene Vorgaben verändern können. Damit erst wird sie wirklich reflexiv in einem nicht bloß nachträglichen, sondern konstruktiven Sinn« (Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt am Main 1996, S. 949 [Hervorhebungen A.G.]). Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern (Anm. 5), S. 14. Ebenda, S. 263.
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Reaktion auf die Lektüre nicht in der wohlfeilen Verurteilung dieser Figuren und ihrer Fehler erschöpfen soll. Die Rezeptionsanweisung, die mit der Darstellung Ottilies einhergeht, müsste ihn eigentlich bewegen, in der Romanlektüre demütig und mitleidsvoll dem Scheitern der Figuren als dem menschlichen Scheitern an sich zu begegnen und diese Demut und Sympathie auf das eigene lebensweltliche Handeln zu übertragen. In diesem Sinne ist Goethes Roman die Quelle eben jener ästhetischen Erziehung, die er an Ottilie exemplifiziert. Die anfangs aufgeworfene Frage, inwiefern abgeschriebene »Maximen und Sentenzen« dennoch vom Leben abgezogen und auf das Leben bezüglich sein können, lässt sich an diesem Punkt beantworten: Der Lebensbezug ergibt sich weniger aus der Herkunft der Texte oder aus ihrer Verfasstheit als vielmehr durch die Art und Weise, in der sie rezipiert werden. Nun ist es richtig, dass Ottilie nicht nur geschilderten Situationen und Personen, sondern gerade auch ›realen‹ Situationen und Personen gegenüber sehr empfänglich anteilnehmend ist. Aber der Roman legt eben den Schluss nahe, dass ihre lebensweltliche Empfänglichkeit und ihre Mitmenschlichkeit sich in der Schule der poetischen Rezeption entwickelt haben. Für den Leser von Ottilies Tagebüchern bedeutet das wiederum, dass er diesem Sammelsurium von Sentenzen, Gedanken- und Erlebnisschilderungen mit derselben Sensibilität begegnet, die das Beispiel Ottilies auch für die Schilderung von Handlung, Schauplätzen und Figuren des Romans einfordert. In diesem Sinne ist Gerhard Neumann zuzustimmen, der die Besonderheit der Goethe’schen Aphoristik darin sieht, dass ihre »prägnante Überlieferung« – als Komplement – eine »produktive Aufnahme«18 durch den Rezipienten einfordere. Mit dem Erzähler der Wahlverwandtschaften ließe sich sagen: Die Sentenzen in Ottilies Tagebuch fordern vom Leser des Romans, dass er sie auf die gleiche Weise auf sein Leben bezieht wie Ottilie die Schilderung Karls des Ersten vor seinen Richtern auf ihr Leben. Damit ist aber zugleich gesagt, dass den Sentenzen im Tagebuch, die von der Forschung mit Recht als Aphorismen bezeichnet werden, ohne die produktive Aufnahme durch den Leser des Romans noch das fehlt, was sie allererst zu Maximen im Goethe’schen Sinne machen würde: die Aneignung mit Konsequenzen für das lebensweltliche Handeln. Wenn also, wie zu Recht immer wieder festgestellt worden ist, die Tagebuchauszüge einen Kommentar zum eigentlichen Roman darstellen, dann lässt sich umgekehrt der Roman auch als Rezeptionsanweisung für die Tagebuchauszüge verstehen. Und die im Roman gegebene Rezeptionsanweisung weist über den Romantext selbst und damit über die Sphäre der Literatur hinaus in die nicht-fiktionale Lebenswelt. Die verschiedenen aphoristischen Sentenzen, die Ottilie in ihrem Tagebuch versammelt, werden nach diesem Verständnis des Maximenbegriffs erst dadurch zu Maximen, dass sie ihr lebensweltliches Handeln davon bestimmen lässt. Bezeichnenderweise begegnen uns die Tagebuchauszüge erst im zwei-
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Gerhard Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, S. 606.
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ten Teil des Romans, als es Ottilie zunehmend unmöglich wird, genau diese lebensweltliche Aneignung zu vollziehen. Die Tagebücher erscheinen so als Kompensation für den Verlust an lebensweltlicher Involviertheit, wo die gesammelten Aphorismen als Maximen zum Tragen kommen könnten. So heißt es zu Beginn des letzten Tagebuchauszugs: Einen guten Gedanken den wir gelesen, etwas Auffallendes, das wir gehört, tragen wir wohl in unser Tagebuch. Nähmen wir uns aber zugleich die Mühe, aus den Briefen unserer Freunde eigentümliche Bemerkungen, originelle Ansichten, flüchtige geistreiche Worte auszuzeichnen, so würden wir sehr reich werden. Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu lesen; man zerstört sie zuletzt einmal aus Diskretion, und so verschwindet der schönste unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich für uns und andere. Ich nehme mir vor, dieses Versäumnis wieder gut zu machen.19
In diesem Zusammenhang sind die Tagebuchauszüge auch ein Indiz für den Rückzug der Protagonistin aus der Lebenswelt und für das Scheitern am Ende des Romans. Die zunehmende Distanz der Figur Ottilie zur Lebenswelt kommt ja unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass die erzählte Romanwelt dem Leser in den Tagebüchern gleichsam vermittelt, indirekt dargestellt wird. Die Sentenzen sind noch vom Leben abgezogen, aber nur noch prinzipiell bezüglich auf das Leben; den eigentlichen Bezug dazu stellt die Figur immer weniger her. Aber auch in dieser Vermitteltheit sind die Tagebücher als Darstellung von Lebenswelt noch ernst zu nehmen. Gerade von dieser Überlegung aus lässt sich das kritisieren, was Eckermann und Riemer unter dem Titel Maximen und Reflexionen20 als aphoristisches Werk Goethes in Umlauf gebracht haben. Mit dieser Edition haben die beiden Herausgeber den Tagebuchpassagen, in denen sie sich reichlich bedient haben, zunächst sicher wenig unrecht getan. Denn – wie bereits gesagt: Die hier versammelten Sentenzen lassen sich in der Tat am besten als aphoristische Begleitung des eigentlichen Romantextes verstehen. Ziel meiner Ausführungen war es allerdings, zu zeigen, dass das Besondere des Romans nicht in dieser aphoristischen Begleitmusik liegt, sondern in dem Begleiteten selbst. Für ein Verständnis des Romans ist die Frage, wie Maximen und Sentenzen vom Leben abgezogen werden und auf das Leben bezogen sein können, wichtiger als die im Tagebuch abgedruckten Sentenzen. Indem Eckermann und Riemer Tagebucheinträge aus dem Romankontext »herauspräpariert« und in neue Kontexte gestellt haben,21 zerstörten sie die Gesamtkomposition des Tagebuchs, die eigentlich erst den Wert des Ganzen für das Romangefüge darstellt. Es ist weniger eine einzelne Sentenz, die dem, was der Roman darstellt, gerecht werden könnte, als vielmehr der vielstimmige und in sich widersprüchliche Zusammenklang der Sentenzen, der ein Äquivalent zur Darstellung von Schauplätzen, Handlungen und Figuren im Roman
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 9. R, S. 193f. Harald Fricke, Zur Geschichte von Goethes Sprüchen und Aufzeichnungen in Prosa. In: FA I, 13, S. 457–480, hier S. 457. Vgl. dazu ebenda die allgemein einleitenden Ausführungen zum Einzelkommentar: »7.3.–7.8. ›Die Wahlverwandtschaften‹: Aus Ottiliens Tagebuche«. Ebenda, S. 1046– 1089, besonders S. 1046f.
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darstellt. So jedenfalls verstehe ich die Metapher von dem »roten Faden«, der nur hin und wieder durch das Gewirk des Taues durchscheint. Das Gewirk, das den roten Faden zu großen Teilen verdeckt, ist Teil der ästhetischen Erfahrung, die nur in ihrer Gesamtheit und Komplexität Quelle der Maximenbildung werden soll, so wie Ottilie die ganze geschilderte Begebenheit von Karl dem Ersten vor seinen Richtern zur Maxime ihres Handelns macht und nicht etwa nur den roten Faden, den Kern, will sagen: einen auf die Sentenz gebrachten Gehalt. Die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit aller in Ottilies Tagebuch versammelten Sentenzen entspricht der Vorstellung von der Heterogenität lebensweltlicher Zusammenhänge, wie sie der Roman darstellt und zur Quelle und zum Rahmen von Lust und Leid seiner Figuren macht. Schon im ersten Tagebuchauszug fällt der Schlüsselsatz: »Und so widersprechend sind wir!«22 Die poetologische Suggestion, die von Goethes Roman ausgeht, ist nun eben die, dass man den Widersprüchen der Lebenswelt und der Menschen, die in ihr leben, nicht mit sententiösen Handlungsanweisungen begegnen soll, die ja auch oft einen starken Hang zum Urteil haben. Der condicio humana soll der Leser von Goethes Roman nicht wie Karls »sogenannte Richter«, nicht wie die unentwegt urteilende Luciane begegnen. Statt solcher Urteile soll er Haltungen gewinnen, sich die ästhetische Erfahrung der Lektüre als Maximen zu eigen machen und so Autorschaft für sein eigenes Leben23 übernehmen. Goethes Auffassung von Humanität soll hier nun keinesfalls jeder Art von Literatur als Botschaft unterstellt werden. Aber der Gedanke, dass literarische oder literarisierte Texte eine lebensweltliche Relevanz haben können, dergestalt, dass Rezipienten sich im Akt der ästhetischen Rezeption die ästhetische Erfahrung selbst als Maxime ihres Handelns zu eigen machen, scheint mir eine tragfähige Basis für eine Theorie der gesellschaftlichen Bedeutung von Literatur und Kunst im Allgemeinen zu sein. Eine solche Theorie müsste natürlich zurückgreifen auf das, was die Forschung bereits als das ästhetische Potential von Literatur beschrieben hat. Eine solche Theorie könnte Literatur mit Gottfried Willems als »anschauliche Rede« und »wertende Verständigung über Werte«24 verstehen, mit Gottfried Gabriel als Quelle »nichtpropositionaler Erkenntnis«25, mit Stefan Matuschek26 als »Lebensweltsimulator mit Experimentierfunktion«; wobei »Experimentierfunktion« – im Sinne des vorhin erwähnten Moments der Übung – auch und vor allem als »Exerzierfunktion« be22 23 24 25
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 2. R, S. 136. Das Konzept der Autorschaft des eigenen Lebens werde ich bei anderer Gelegenheit näher auszuführen versuchen. Gottfried Willems, Artikel ›Literatur‹. In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.), Fischer Lexikon Literatur, Band 2. Frankfurt am Main 1996, S. 1006–1029. Gottfried Gabriel, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Bad Cannstatt 1975, S. 107–111; ders., Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2 (1983), S. 7–21, sowie ders., Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991, S. 20–31. Stefan Matuschek, Literatur und Lebenswelt. Zum Verhältnis von wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Literaturverständnis. In: Alexander Löck / Jan Urbich (Hrsg.), Der Begriff der Literatur. Berlin, New York 2010.
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griffen wird. Denn damit würde sich diese Theorie nicht auf die Beschreibung des ästhetischen Potentials von Literatur beschränken, sondern nach den ethischen Implikationen dieses ästhetischen Potentials fragen. Temilo van Zantwijk hat im Rahmen dieses Wahlverwandtschaften-Projekts die These aufgestellt, dass für Goethe Ethik als Literatur und nur als Literatur möglich sei.27 Die von mir in Aussicht gestellte Rezeptionstheorie würde fragen, wie und in welchem Sinne Literatur generell, nicht nur die Goethes, Ethik möglich machen kann. Das an dieser Stelle aus Goethes Wahlverwandtschaften entwickelte Maximenkonzept soll auf diese Frage eine Antwort geben und mein Verständnis des Ankündigungstextes zu dieser Veranstaltung – in diesem Roman ein Musterbeispiel dafür zu sehen, »was Literatur zu leisten vermag«28 – illustrieren.
27 28
Vgl. den Beitrag von Temilo van Zantwijk in diesem Band. So Helmut Hühn in der Programmankündigung zur Weimarer Tagung »Andacht zum Detail. Versuche über die ›Wahlverwandtschaften‹«.
Ein »tragischer Roman«? Überlegungen zu einem Romanexperiment Helmut Hühn
Goethes Wahlverwandtschaften haben, das zeigt die vielfältige Wirkungsgeschichte, nicht nur die Zeitgenossen irritiert. Verstörend wirkt bis heute der Sturz in Chaos und Katastrophe, den der Roman erzählt. Leidenschaften brechen in die mühsam errichtete Ordnung einer »kleinen Welt«,1 einer vermeintlich glücklichen Ehe ein. Diese Leidenschaften beleben nicht etwa das sorgfältig entworfene »symbolische Local«2 der Wahlverwandten, sondern enden tödlich. Die Utopie der aufgeklärten Weltverbesserung führt wie die der Ästhetisierung des Lebens nicht zur angestrebten Vervollkommnung und zum gesteigerten Lebensgenuss, sondern in den Abgrund von Tod und Selbstzerstörung. Das Geschehen beginnt in der »schönste[n] Stunde eines Aprilnachmittags« und endet eineinhalb Jahre später in der Zeit, da die »Astern […] in unmäßiger Menge blühten«.3 Innerhalb von achtzehn Monaten erzählter Zeit verlieren drei Menschen ihr Leben. Nach dem Tod des kleinen Otto lässt der Erzähler verlauten: »Ganz in der Stille hatte Charlotte das Kind nach der Capelle gesendet. Es ruhte dort als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses«.4 Wie ist dieses »ahnungsvolle Verhängnis«, auch begrifflich, näher zu bestimmen? Steht eine numinose Macht hinter diesem Verhängnis? Was löst die Katastrophe aus, und warum schreitet sie, von Anfang an, so unaufhaltsam voran? Das sind Fragen, welche die Leser seit Erscheinen des Romans bewegt haben. So erstaunt es nicht, dass sich in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte das Deutungsmuster eines »tragischen Romans«5 herausgebildet hat. Das Interpretationsmuster kann mit einem gewissen Recht in Anspruch nehmen, das Ganze der Darstellung in den Blick zu rücken und nicht nur einzelne Motive oder Motivstränge, bezieht es doch ausdrücklich den Anfang auf das Ende des Romans und das Ende auf den Anfang. Das Deutungsmuster stellt einen an der Antike und besonders an der antiken Tra-
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Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 7. WA I, 20, S. 84. Vgl. Paralipomena, Vorarbeiten und Bruchstücke. WA I, 47, S. 280. Die Wahlverwandtschaften I, 1. WA I, 20, S. 3; II, 17. WA I, 20, S. 399. Ebenda, II, 15. WA I, 20, S. 372f. Goethe hat den Begriff des »tragischen Romans« später als eine Gattungsbezeichnung verwendet, wie etwa die Nachlese zu Aristoteles’ ›Poetik‹ zeigt: WA I, 41. 2, S. 251.
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gödie orientierten Aneignungsversuch dar. Mit seiner Profilierung wird auch die gattungstheoretische Frage nach dem Verhältnis von Drama und Roman am Anfang des 19. Jahrhunderts aufgeworfen. Das Werk rückt in den Kontext jenes »gesamteuropäischen Vorgang[es]«, »in dessen Verlauf das Trauerspiel auf der Bühne abgelöst wird von dem tragischen Roman«. In diesem Ablösungsprozess entwickelt sich die Gattung des Romans zu dem »literarischen Medium des 19. Jahrhunderts«.6 Goethes Wahlverwandtschaften führen die Gattungsbezeichnung in ihrem Titel. Die Bedeutung, die dieses Werk für die sich entwickelnde Romankunst des 19. Jahrhunderts bis hin zu Emile Zolas Le roman expérimental (1880) gewinnt, ist kaum zu überschätzen.7 Mit der vergleichenden Heranziehung der griechischen Tragödie kommen zwei Begriffe ins Spiel, die im Laufe ihrer Geschichte noch vieldeutiger geworden sind: der des ›Schicksals‹ und der des ›Tragischen‹. Mit dem Schicksalsbegriff wird seit der Antike jene Gesamtheit der Bedingungen und Bestimmtheiten des Lebens gedacht, die der Handelnde selbst nicht in seiner Macht hat und auch nicht beeinflussen kann. Mit dem Tragischen ist, jedenfalls für Goethe, jene Konfliktstruktur bezeichnet, die – im strengen Sinne – keine Auflösung zulässt: »Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. So wie Ausgleichung eintritt, oder möglich [wird], schwindet das Tragische«.8 Jene Interpreten, die den Roman als einen ›Schicksalsroman‹ oder ›tragischen Roman‹ lesen, haben mit Blick auf das Paradigma der antiken Tragödie nicht nur sehr unterschiedliche Auffassungen, sondern auch Deutungen von ganz unterschiedlicher Reichweite vertreten. So ist etwa gesagt worden, 1. dass das in den Wahlverwandtschaften erzählte Geschehen eine Gestalt der ›Schicksalsnotwendigkeit‹ zum Ausdruck bringe; 2. dass Goethe mit dem Narrativ des Romans eine eigene ›moderne‹ Schicksalskonzeption vertrete;9 3. dass das Werk ein spezifisch ›tragisches‹ Schicksal darstelle und als solches auch im Gesamtwerk des (sich gerne auf seine konziliante Natur berufenden) Dichters hervortrete,10
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Peter von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten. Der Absolutismus der Liebe in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Heinrich Meier / Gerhard Neumann (Hrsg.), Über die Liebe. Ein Symposium. München, Zürich 2001, S. 263–304, S. 272f. Vgl. die wichtige Zusammenhänge freilegende Studie von Jürgen Kolbe, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und der Roman des 19. Jahrhunderts. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1968. Noch Friedrich Schiller unterscheidet bekanntlich 1797 zwischen dem Dichter und dem prosaischen Erzähler und nennt den »Romanschreiber« einen »Halbbruder« des Dichters: Ueber naive und sentimentalische Dichtung. NA 20, S. 462. Goethe gegenüber Friedrich von Müller, 6. Juni 1824. In: Kanzler von Müller, Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe besorgt von Ernst Grumach. Weimar 1956, S. 118. Vgl. Michael Theunissen, Schicksal in Antike und Moderne. München 2004 [Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen, Band 79], S. 30ff.; Peter von Matt, Versuch (Anm. 6), S. 301. Vgl. Kurt May, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als tragischer Roman. In: Ders., Form und Bedeutung. Interpretationen deutscher Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1957, S. 107–115; Wolfgang Frühwald, Der ›romantische‹ Goethe. Esoterik und Mystik in dem Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹ und im ›West-östlichen Divan‹. In: Hans-Werner Eroms / Hartmut Laufhütte (Hrsg.), Vielfalt der Perspektiven. Wissenschaft und Kunst in der Auseinandersetzung mit Goethes Werk. Dokumenta-
Ein »tragischer Roman«? Überlegungen zu einem Romanexperiment
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und 4. dass mit ihm eine radikale Konzeption des Tragischen entwickelt werde.11 Die folgenden Überlegungen wollen dieses von Anfang an kontrovers diskutierte Deutungsmuster auf dem Stand der gegenwärtigen Forschung kritisch überprüfen und dabei zugleich die narrative Anlage des Romans in den Blick rücken. In einem ersten Schritt soll die in mancher Hinsicht merkwürdige Selbstanzeige des Romans betrachtet werden, die der Ausbildung des Deutungsmusters12 wichtige Impulse gab (I.). Auf der Basis dieser Betrachtung sind die Rezensionen besonders von Bernhard Rudolf Abeken und Karl Wilhelm Ferdinand Solger genauer zu untersuchen, die Goethe selbst sehr geschätzt hat und die das Deutungsmuster in differenten Grundgestalten etablieren. Folgenreich für die Forschungsgeschichte bis heute ist die in beiden Rezensionen greifbare Verschränkung des Schicksalshaften und des Tragischen. Abeken und Solger verstehen die fiktionale Welt des Romans ausdrücklich nicht als eine, die einem fatalistischen Determinismus unterworfen wäre. Gleichwohl erkennen sie beide in dem erzählten Geschehen Züge einer naturhaften Schicksalsverfallenheit (II.). Im Rückgang von der Rezeptionsgeschichte zum Werk ist in einem dritten Schritt die narratologische Frage zu verfolgen: In welcher Weise erzählt der Roman das Schicksal von Menschen? Auffällig ist, und hier setzt die Untersuchung an, 1. dass die Romanfiguren selbst mythische Denkfiguren wie den Glauben an Schicksal, Fügung und Dämonie gebrauchen, wenn sie blind auf die Erfüllung ihrer Wünsche hoffen, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln aufgeben oder in Grenzsituationen nicht mehr weiter wissen; und 2. dass auf diese Weise das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis der Protagonisten gerade anhand von deren Situations- und Selbstdeutungen erzählerisch sichtbar gemacht wird. Fehlorientierungen im Handlungsbewusstsein der Hauptfiguren werden für die Leser mit Blick auf deren Konsequenzen durchschaubar. In diesem Sinne ist herauszuarbeiten, dass das Narrativ der Wahlverwandtschaften eine unerbittliche Schicksalsnotwendigkeit in der Darstellung inszeniert und diese Inszenierung zugleich im Erzählprozess kritisch distanziert. Distanziert werden aber auch die Sinndeutungen des Erzählers selbst, die erzähllogisch privilegiert erscheinen. Auch die Wirklichkeitsdeutungen des Erzählers bilden in diesem Roman, wie zu zeigen ist, kein fundamentum inconcussum (III.). In einem vierten und letzten Schritt soll skizziert werden, welche Bedeutung dem
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tion des Goethe-Symposions an der Universität Passau vom 17. bis 19.11.1982. Passau 1984, S. 165–177, hier S. 166; Keller, »Wollen« und »Sollen«: Der Tragiker Goethe und seine Wandlungen (1990). In: Ders., »Wie es auch sei, das Leben …«. Beiträge zu Goethes Dichten und Denken. Göttingen 2009 [Schriften der Goethe-Gesellschaft, Band 69], S. 373–398, hier S. 391; Walter Müller-Seidel, Lyrik, Tragik und Individualität in Goethes später Dichtung. In: Gerhard Buhr u.a. (Hrsg.), Das Subjekt in der Dichtung: Festschrift für Gerhard Kaiser. Würzburg 1990, S. 497–518, hier S. 500f.; Brief von Goethe an Carl Friedrich Zelter, 31. Oktober 1831. In: Goethes Briefe, Band 4. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Hamburg 1967, S. 457–459, hier S. 458. Vgl. von Matt, Versuch (Anm. 6), S. 273. Zu Goethes Versuch einer Steuerung der Rezeption vgl. den Beitrag von Jutta Heinz in diesem Band.
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erzählten Schicksal der Wahlverwandten in der symbolischen Gesamtanlage des Romans zukommt. Oder anders ausgedrückt: Welches Wirklichkeits- und welches Geschichtsverhältnis erzählt der Roman auf der Grundlage symbolischer Verdichtung? Welche Übertragung von der fiktiven Welt der Wahlverwandten, von dem scheinbar unpolitischen Portrait privater Lebensschicksale auf die Realität der Gegenwart kann der zeitgenössische Leser leisten (IV.)?
I. »Spuren trüber leidenschaftlicher Nothwendigkeit« Die »fortgesetzten physikalischen Arbeiten« haben, wie Goethe in der Selbstanzeige des Werkes betont, den »seltsamen Titel« des Romans veranlasst.13 Der Verfasser fühlt sich aufgefordert, die Verbindung von Naturforschung und Romankunst eigens hervorzuheben. ›Wahlverwandtschaft‹ ist zur Entstehungszeit des Werkes ein Fachterminus der Naturforschung. Er impliziert den Gedanken der ›Affinität‹, der in der Chemie des 18. Jahrhunderts im Zentrum des Verständnisses sowohl chemischer Verbindungen als auch chemischer ›Scheidungen‹ steht. Zwischen den verschiedenen chemischen Substanzen sollen danach spezifische Affinitäten bestehen, d.h. spezifische Grade der wechselseitigen Anziehung. Diese sollen nicht nur den Prozess erklären, in dem sich zwei Substanzen mit dem Resultat einer neuen Substanz verbinden, die andere Eigenschaften hat als die der Ausgangsstoffe. Erklärbar werden soll mit diesem Modell der Affinität auch die chemische ›Scheidung‹: Wenn eine Substanz, die mit einer zweiten in einer Verbindung vereinigt ist, mit einer dritten in Berührung kommt, zu der sie eine größere Affinität hat als zu der, mit der sie gerade verbunden ist, so löst diese größere Affinität die bestehende Verbindung auf, und es kommt zu einer neuen Verbindung zwischen den Substanzen mit der größeren Affinität. In dieser Weise hatte auch der schwedische Chemiker Torbern Bergman ›Wahlverwandtschaft‹ so definiert, dass »zween Stoffe mit einander vereiniget sind, und ein dritter, der hinzukömmt, einen derselben aus seiner Verbindung trennt und ihn zu sich nimmt«.14 Mit ›Wahlverwandtschaft‹ oder ›Wahlanziehung‹, so lauten die zeitgenössischen deutschen Termini, die den Bergman’schen Begriff der attractio electiva übersetzen, wird an der Affinität der Aspekt der spezifischen wechselseitigen Anziehung betont, der erklärt, warum eine chemische Substanz eher eine Verbindung mit einer bestimmten anderen als mit einer dritten eingeht. Die chemischen Substanzen werden so betrachtet, als ob sie in ihren Verbindungen und Scheidungen gleichsam eine Vorzugswahl träfen. Eine solche Wahl würde aber Wahlfreiheit voraussetzen. Goethe kritisiert diese Rede von der Wahlverwandtschaft als eine unangemessene Anthropomorphisierung. Hier wird eine Vor13
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Vgl. Goethes Selbstanzeige des Romans im Morgenblatt für gebildete Stände, Tübingen, 4. September 1809. In: Heinz Härtl, ›Die Wahlverwandtschaften‹. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Weinheim 1983 [= Härtl], Nr. 138, S. 51. Torbern Bergman, Vorwort zu: Henrik Theophilus Scheffer, Chemische Vorlesungen, deutsch. Greifswald 1779, S. XVII.
Ein »tragischer Roman«? Überlegungen zu einem Romanexperiment
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stellungsart aus der Welt des Menschlichen auf die nicht-menschliche Welt der chemischen Substanzen übertragen. Der Roman versucht nun umgekehrt eine kühne künstlerische Rückübertragung: Er [sc. der Verfasser] mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen; und so hat er auch wol in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnißrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist, und auch durch das Reich der heitern Vernunft-Freyheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Nothwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen sind.15
Die in Jena verfasste Selbstanzeige, die das Erscheinen des Romans zur Michaelismesse 1809 ankündigt, bleibt in vielem kryptisch. Sie stellt heraus, dass eine Vorstellungsart aus der chemischen Naturlehre durch die Rückübertragung nun versuchsweise auf dem Feld der Analyse menschlicher Beziehungen erprobt wird. Schreibt die vermenschlichende Denkart den chemischen Stoffen »die Ehre einer Wahl bei solchen Verwandtschaften« zu, wo oft nur »äußere Determinationen«16 Trennungen und Verbindungen zustande bringen, so radikalisiert die Rückübertragung die Frage nach den Wahlmöglichkeiten der Menschen. Können diese wirklich vernunft- und selbstbestimmt wählen (oder auch nicht wählen) oder funktionieren sie selbst wie Alkalien und Säuren? Mit den Mitteln des Kunstwerkes soll kritisch und provokativ gefragt werden, ob sich der Anspruch menschlicher Willens- und Handlungsfreiheit in Illusionen verflüchtige, wenn man die Zusammenhänge und Bestimmtheiten des Handelns im Ganzen freilegen kann. Vergewissert werden soll also, ob »das Eigenthümliche unsres Ich’s«, die philosophisch beanspruchte Freiheit des Willens, eine nur »prätendirte«17 ist. Attraktionen und Repulsionen zwischen chemischen Substanzen werden dazu mit der Gewalt menschlicher Anziehungs- und Abstoßungskräfte, der »Gewalt der Leidenschaft«,18 verglichen. Die menschliche Leidenschaft wird als eine erforschbare gleichsam außermoralische Naturkraft betrachtet, vor deren Zwang die »Vernunft-Freyheit« des Menschen fast ohnmächtig erscheint. Nicht nur die Rede von der »einen«, in sich, wie Goethe betont, differenten Natur, rückt die Ankündigung vor die Folie der monistischen Philosophie Spinozas.19 Auch die Bestimmung der Freiheit der Vernunft mit Blick auf deren prekäres Verhältnis zu den Affekten kann an ein zentrales
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Goethe, Selbstanzeige. In: Härtl, Nr. 138, S. 51. Vorträge, über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie. Zur Morphologie. Ersten Bandes, drittes Heft. In: LA I 9, S. 191–210, hier S. 203. Vgl. schon Zum Schäkespears Tag. WA I, 37, S. 133: »seine [sc. Shakespeares] Stücke, drehen sich alle um den geheimen Punckt, den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat: in dem das Eigenthümliche unsres Ich’s, die prätendirte Freyheit unsres Willens, mit dem nothwendigen Gang des Ganzen zusammenstösst«. Vgl. Die Wahlverwandtschaften II, 15. WA I, 20, S. 379. Vgl. den Beitrag von Birgit Sandkaulen in diesem Band.
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Lehrstück spinozanischen Denkens erinnern.20 Die begriffliche Konstellation von »Naturnothwendigkeit« bzw. »Naturzwang« versus »Vernunftfreyheit« rückt andererseits eine der zentralen Antinomien in den Blick, von der Kant in der Kritik der reinen Vernunft ausgeht,21 und lässt die Schiller’sche Freiheitslehre und Anthropologie assoziieren.22 Die Selbstanzeige ist hierin deutlich, dass eine Depotenzierung der idealistischen Lehre von der Freiheit nötig sei: Die »Spuren trüber leidenschaftlicher Nothwendigkeit« sind, wie der Verfasser einräumt, »nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen«. In dem Titel des Romans tut sich somit ein »brisantes Paradoxon«23 auf, das auf den Problemkern des ganzen Werkes weist: ›Wahl‹ steht für Freiheit, ›Verwandtschaft‹ für Naturnotwendigkeit. Mit dem Titel des Erzählwerkes ist zudem die Frage verbunden, ob es überhaupt legitim ist, Modelle der Naturforschung, die durch anthropomorphe Übertragung zustande gekommen sind, auf das soziale Leben zurückzuübertragen. Wie sich zeigen wird, redet Goethe in den Wahlverwandtschaften weder einer Humanisierung der Natur noch einer Naturalisierung des Menschen das Wort. Aber er überprüft nicht nur das aufklärerische Ideal einer selbstbestimmten, allein den Forderungen der Vernunft verpflichteten Lebensführung, sondern auch die Fragen moralischer Zurechenbarkeit an einem »sittlichen Fall«.24 Wenn die Naturforschung demonstrieren kann, dass menschliche Handlungen viel stärker als angenommen kausaler Naturgesetzlichkeit unterworfen sind, gefährdet dies nicht nur die Annahme personaler Autonomie, sondern auch die Möglichkeit einer spezifisch moralischen Perspektivierung dieser Handlungen. Die Selbstanzeige nimmt nicht nur die alte Frage nach dem Verhältnis von Physik und Moral in neuer Weise auf, sondern stellt dieses Verhältnis zugleich in den Horizont einer Theodizee-Erörterung, wie sie auch in Schellings Freiheitsschrift, die Mitte April 1809 erscheint, in Angriff genommen wird. Eine der zentralen Einsichten Schellings lautet bekanntlich: Abhängigkeit hebt Selbständigkeit, hebt sogar Freiheit nicht auf. Sie bestimmt nicht das Wesen, und sagt nur, daß das Abhängige, was es auch immer seyn möge, nur als Folge von dem seyn könne, von dem es abhängig ist.25
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In Johann Gottlieb Buhles Geschichte der neuern Philosophie, die Goethe Mitte April 1809 für das Studium Spinozas benutzt, konnte er lesen (Band 3. Göttingen 1802, S. 508–660, hier S. 551): »Eine unbedingte Herrschaft hat die Vernunft über die Affecten keineswegs«. Mitte April 1809 beginnt Goethe mit einer kontinuierlichen Überarbeitung des Romans. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Berlin 21787, B 560ff. Vgl. Schiller, Ueber das Pathetische. NA 20, S. 207; Ueber Anmuth und Würde. NA 20, S. 301: »Mit gemildertem Glanze steigt in dem Lächeln des Mundes, in dem sanftbelebten Blick, in der heitern Stirne die Vernunftfreyheit auf, und mit erhabenem Abschied geht die Naturnothwendigkeit in der edeln Majestät des Angesichts unter«. Hans-Jürgen Schings, Willkür und Notwendigkeit. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Kritik an der Romantik. In: Jahrbuch 1989 der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft. Berlin 1990, S. 165–181, hier S. 166. Vgl. auch den Beitrag von Temilo van Zantwijk in diesem Band. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809).
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Durch die Selbstanzeige wird das Romanprojekt in den Horizont einer kritischen Verständigung über das Verhältnis von Vernunft und »trüber« Leidenschaft sowie, wenn auch sehr diskret und beiläufig, in die Tradition metaphysischen Fragens nach der Relation von Gott, Welt und Mensch gestellt. Die Selbstanzeige stellt zugleich Denkfiguren bereit, die an die zeitgenössische Auseinandersetzung um die antike Tragödie und das Tragische erinnern: Da ist 1. der Konflikt von Freiheit und Zwang, der sich nicht auflösen lässt;26 da erscheint 2. an der Stelle der ›antiken‹ Notwendigkeit des Sollens in Form der »trübe[n], leidenschaftliche[n] Notwendigkeit« die Gestalt einer ganz anderen ›modernen‹ Heteronomie; da wird 3. die »›Unaufhaltsamkeit‹« eines »zerstörerischen Kräftespiels« betont, und schließlich 4. »die unsichere Aussicht auf eine transzendente Lösung, die außerhalb des Konfliktmodells selbst liegt«,27 angedeutet.
II. Non datur fatum Daß es Menschen gibt, die ihrer Natur nach verwandt sind, daß diese Verwandtschaft Liebe erzeugt, welchen Kampf, welches Unglück diese veranlaßt, wenn menschlicher Irrthum und irdische Verhältnisse ihren Weg durchkreuzen, das ist das Thema fast aller Romane. Wenigstens liegt der Gedanke einer natürlichen Verwandtschaft, wenn auch dunkel, dem zum Grunde, was von Sympathie geredet wird. Solche Bücher werden immer geschrieben und immer gelesen werden; jeder Leser hat dergleichen gesehn und erlebt; er wird bewegt, und fühlt, daß auch er dem Loose unterworfen ist, welches die Liebe trifft. – Dasselbe Thema finden wir in den Wahlverwandtschaften; aber wie anders behandelt!28
Diese Sätze notiert Bernhard Rudolf Abeken, als Hauslehrer der Kinder Schillers von 1808 bis 1810 in Weimar. Seine anonyme Rezension des Romans findet Goethes Gefallen und Zustimmung in einem solchen Maß, dass dieser sie als Separatdruck an Freunde verschicken lässt.29 Abeken rückt das Konfliktpotential des Romans folgendermaßen in den Blick: Hier sehen wir, wie dieselben ewigen Gesetze, die in dem walten, was wir Natur nennen, auch über den Menschen ihre Herrschaft üben und ihm oft mit unwiderstehlicher Strenge gebieten; wie es eine, nur gesteigerte, Kraft ist, die leblose Stoffe
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In: Sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart, Augsburg 1856–1861, Abteilung I, 7, S. 346. Vgl. Schelling, Philosophie der Kunst (1802/1803). Ebenda, I, 5, S. 696f.; August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1809–1811). In: Kritische Schriften und Briefe, hrsg. von Edgar Lohner. Stuttgart u. a. 1966, Band V, S. 61: »Innere Freiheit und äußere Notwendigkeit, dies sind die beiden Pole der tragischen Welt«. Peter-André Alt, Agonale Freiheit. Goethes und Schillers Tragödientheorien. In: Ders., Klassische Endspiele: das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 35–52, hier S. 47. Bernhard Rudolf Abeken, Ueber Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, 1810. In: Härtl, Nr. 310, S. 121–127, hier S. 122. Vgl. auch Johann Diederich Gries an Abeken, 23. März 1810. In: Härtl, Nr. 351, S. 150f.
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Helmut Hühn zu einander zwingt und diesen Menschen zu einem andern zieht. […] Die neuere Naturlehre wird noch manches Geheimniß in Bezug auf den Menschen enthüllen, vor dessen Offenbarung dem grauen möchte, welcher die Kräfte der Natur nicht als lebendige und ewige erkennt, und welchen die Beobachtung der Menschen und ihrer Schicksale nicht gelehrt hat, daß etwas in ihrem tiefsten Innern liegt, was über jenen Kräften ist, was vielleicht einer höhern Welt angehört. – Das sind die heiligen hohen Gedanken, die im tiefsten Grunde der Seele entspringen […].30
Abeken weist nicht nur auf die naturphilosophische Fundierung des Romans und die wissenschaftsgeschichtliche Schwellensituation hin, in der die zeitgenössische Naturforschung operiert. Mit Rekurs auf die Selbstanzeige macht er deutlich, dass der Roman die Naturbasis menschlichen Daseins herausarbeitet, dass er dieses menschliche Dasein aber gerade nicht auf seine Naturbasis einschränkt.31 Im »tiefsten Innern« der Menschen liege die Möglichkeit einer Transzendierung der Naturbasis, einer Erhebung über die Herrschaft der Naturkräfte. Es ist die Figur der Ottilie, die für Abeken im Roman eine solche Erhebung über die Naturnotwendigkeit verkörpert. Er hebt damit hervor, wie später auf andere Weise Solger, dass das Narrativ der Wahlverwandtschaften keinen Determinismus und auch keinen Fatalismus impliziert. Gleichwohl gehört auch Abeken zu den frühen Lesern, die das Tragische des Romans herauszuarbeiten suchen: Wo in den übrigen Wesen die Natur ihre Kräfte walten läßt, da entsteht Leben, da ist Dauer; und den Menschen vernichtet sie oft durch eben diese Kräfte. – Das ist das tragische Prinzip, das in den Wahlverwandtschaften herrscht, und das unwiderstehlich uns ergreift und die Menschheit in uns erschüttert.32
Wieder ist die literarische Figur der Ottilie das Paradigma der Überlegungen. Das »tragische Prinzip«, für Abeken sichtbar am Untergang, an der Vernichtung der Ottilie, wird in einer Konfliktstruktur der »einen Natur« selbst verortet und nicht in einem Konflikt von Natur und Kultur, der keine Auflösung fände. Die Natur selbst, so die These, vernichte Ottilie durch die Kräfte (attractiones electivae), die in der außermenschlichen Natur Leben schaffen. Ottilie werde im Überschreiten der Naturbasis ihres Lebens »vom Schicksal hingerissen«, nicht von »bewußter Leidenschaft«,33 manifestiere aber gerade in diesem Hingerissenwerden die Freiheitlichkeit ihres Handelns und damit die »Würde der menschlichen Natur, die in dem furchtbaren Drange der Noth und des Leids erst recht hervortritt, siegreich, anbetungswürdig«.34 Ottilie bestimmt sich unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe. Sie ist für Abeken, mit Schiller zu sprechen, zwar physisch »vernichtet«, aber in moralischer Hinsicht »nicht überwunden«.35
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Abeken, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 28), S. 122. So auch Theunissen, Schicksal (Anm. 9), S. 42. Abeken, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 28), S. 122. Ebenda, S. 123. Ebenda, S. 125. Ebenda, S. 126.
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Eine ganz andere Kontextualisierung und Perspektivierung unternimmt Karl Wilhelm Ferdinand Solger, und zwar in Kenntnis der Abeken’schen Rezension.36 Im Zusammenhang der romantischen Theorie der Kunst versteht er Goethes Roman als »ein unerschöpfliches Kunstwerk, ein immensum infinitumque«.37 Solger rückt die Wahlverwandtschaften nicht, wie Abeken, vor den Hintergrund der Schiller’schen Anthropologie und Ästhetik, sondern vor den der antiken Kunst. Er sieht Goethes Roman literaturgeschichtlich in der Nachfolge sowohl des griechischen Epos wie der griechischen Tragödie,38 und er begreift das Werk gattungstheoretisch als einen »tragischen Roman«.39 Johann Peter Eckermann überliefert eine Gesprächsmitteilung Goethes aus dem Jahr 1827, wonach »nicht leicht etwas Besseres über jenen Roman gesagt worden« sei.40 Das antike Epos wird nach Solger insofern in moderner Weise transformiert, als Goethe sich mit diesem Werk als »wahrhafte[r] Dichter des Zeitalters«41 zeige: In diesem Roman ist, wie im alten Epos, alles was die Zeit Bedeutendes und Besonderes hat, enthalten, und nach einigen Jahrhunderten würde man sich hieraus ein vollkommenes Bild von unserm jetzigen täglichen Leben entwerfen können.42
Die Wahlverwandtschaften sind Solger zufolge, der als Student in Jena Schellings Vorlesung zur Philosophie der Kunst hörte, also nicht als eine »subjektive Epopöe«43 zu lesen, sondern als der Versuch, einen Gegenwarts- oder »Zeitroman«44 zu entwickeln.
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Vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger an Bernhard Rudolf Abeken, 28. Oktober 1810. In: Härtl, Nr. 406, S. 172. Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹. In: Härtl, Nr. 421, S. 199–202, hier S. 199; vgl. Schelling, System des transscendentalen Idealismus (1800). In: Sämmtliche Werke (Anm. 25), Abteilung I, Band 3. S. 620: »So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege«. Schon 1803 wird Goethe von dem Philosophen und Ästhetiker »unser Sophocles« genannt: Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, Band 1. Hrsg. von Ludwig Tieck und Friedrich von Raumer. Leipzig 1826 [FaksimileDruck nach der Ausgabe von 1826, hrsg. von Herbert Anton. Heidelberg 1973], S. 123. Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 200; vgl. Jacob Grimm an Friedrich Karl von Savigny, 30. Januar 1810. In: Härtl, Nr. 317, S. 128: »Daß ein moderner Roman anders als dramatisch, tragisch sei, kann ich mir nicht denken […]«. Goethe gegenüber Johann Peter Eckermann, 21. Januar 1827. In: Härtl, Nr. 536, S. 326; vgl. Nr. 538, S. 327. Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 200. Ebenda, S. 201; zu den Anspielungen auf die Ilias im Roman vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 18. WA I, 20, S. 190; II, 1. WA I, 20, S. 199. Vgl. WA I, 42. 2, S. 122: »Der Roman ist eine subjective Epopöe, in welcher der Verfasser sich die Erlaubniß ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln. Es fragt sich also nur, ob er eine Weise habe, das andere wird sich schon finden«. Der Begriff wurde bereits 1809 in vergleichbaren Zusammenhängen gebraucht, vgl. Dirk Göttsche, Artikel ›Zeitroman‹. In: Jan-Dirk Müller u.a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 3. Berlin, New York 2003, S. 881–883, hier S. 882; zur Analyse von Goethes Roman unter dieser Perspektive vgl. die einschlägige Studie von Theodor Verweyen, »Ein Zeitalter wird besichtigt«. Goethes ›Wahlverwandtschaf-
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In welchem Verhältnis steht der Roman nun zur griechischen Tragödie? Der Sophokles-Übersetzer Solger45 versucht, das ist eine seiner zentralen theoretischen Intentionen, nicht nur eine Neubestimmung des Schicksalsbegriffs anzugehen, sondern auch die Vorstellung vom tragischen Schicksal, wie es besonders die Sophokleischen Tragödien zur Darstellung bringen, begrifflich neu zu fassen.46 Der Schicksalsbegriff, in der Antike noch ein philosophischer Grundbegriff, hat diesen Status in den neuzeitlichen Debatten sichtbar verloren. Er gehört nach Kant zu jenen »usurpirte[n]Begriffe[n]«, »die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen«, deren Gebrauch aber weder durch die Erfahrung noch durch die Vernunft legitimiert werden könne.47 Solger hofft, von Goethes Wahlverwandtschaften könne einmal ein Licht aufgehen […] über das Schicksal überhaupt, und besonders in der antiken Kunst, worüber alle neueren Kunstrichter unaufhörlich sprechen.48
Mit den »Kunstrichtern« wird nicht nur auf die Vertreter der Ästhetik des Erhabenen angespielt, die mit Schiller betonen, eine »blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal« sei immer demüthigend und kränkend für freye sich selbst bestimmende Wesen. Dieß ist es, was uns auch in den vortreflichsten Stücken der Griechischen Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen diesen Stücken zuletzt an die Nothwendigkeit appelliert wird, und für unsre Vernunftfordernde Vernunft immer ein unaufgelöster Knoten zurück bleibt.49
Solger grenzt sich aber auch von den romantischen Kunsttheoretikern ab, die eine christliche Überwindung der antiken Tragödie fordern, die, wie Zacharias Werner, die Orientierung an der tragischen Kunst ganz »in’s Romantische« zu verwandeln suchen.50 Solger vertritt umgekehrt die These, dass der antike Schicksalsbegriff auch unter den Bedingungen der Moderne nicht aufgegeben werden könne, ja dass er, auch in theologischer Absicht, reformuliert werden müsse. Der Philosoph rückt seine Interpretation des Romans vor den Hinter-
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ten‹ als Zeit- und Gegenwartsroman. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, hrsg. von Anne Bohnenkamp. Tübingen 2009, S. 159–230. Solgers Sendung seiner Übersetzung: Des Sophokles Tragödien. 2 Bände. Berlin 1808, erreicht Goethe wohl am 12. Juni 1808 in Karlsbad, d.h. inmitten der ersten Arbeitsphase an dem Roman. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe, Band III, 1: 1801–1808. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Jochen Golz u.a. Stuttgart, Weimar 2004, S. 447. Vgl. Hartmut Reinhardt, Das ›Schicksal‹ als Schicksalsfrage. Schillers Dramatik in romantischer Sicht: Kritik und Nachfolge. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 50 (1990) S. 63–86. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 117; vgl. auch Margarita Kranz, Artikel ›Schicksal‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8: R-Sc. Hrsg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer. Basel 1992, Sp. 1275–1289. Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 199. Schiller, Ueber die tragische Kunst. NA 20, S. 157. Zacharias Werner an August Wilhelm Iffland, 15. Juni 1805. In: Briefe, Band 1. Hrsg. von Oswald Floeck. München 1914, S. 375f.: Werner wirft Schiller vor, er könne sich nicht »die Milde des durch den Heiland versöhnten Christengottes […] aneignen […] Wir können dabey nicht stehen bleiben«.
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grund einer geschichtsphilosophisch inspirierten Diagnose des Verhältnisses von Antike und Moderne. Die »alte Kunst« sei »in ihren innersten Gründen dramatisch; selbst in der Erzählung, wie bekannt, im Homer«. »Alle heutige Kunst« beruhe dagegen »auf dem Roman, selbst das Drama (Iphigenia, Tasso). […] Und das ist der Gipfel der heutigen Kunst, der tragische Roman«.51 Thematisiere die Kunst der »alten Welt« das »Geschick der Gattung«, so die Kunst der »modernen Welt« das »Geschick« der Individualität. Beruhe ersteres »auf Gesetzen der sittlichen Natur«, die sich von der physischen Natur absondere, so bedeute letzteres: »Der Mensch hat jetzt kein anderes Geschick als die Liebe«.52 Dieses Geschick der Liebe begreift Solger als ausgezeichneten Indikator dafür, ob es dem Menschen gelingt, als ganzer zu handeln oder bloß in der Partikularität seines Charakters. Werden die Handlungen der Personen in der antiken Kunst nach Solger »vom Geschick selbst hervorgebracht«, sodass der Charakter der Personen jenes Geschick nur »supplirt«,53 so vergegenwärtigen die Wahlverwandtschaften, darin repräsentativ für die Kunst der »modernen Welt«, dass im Verlaufe der Handlung selbst alles von den Individualitäten ausgeht, und diese immer einseitiger werden (besonders Eduard), je mehr sie gegen die Umgebungen zu kämpfen haben.54
Die »allgemeine Verwandtschaft der Natur mit sich selbst« wird zwar von Solger als die Schicksalsmacht identifiziert, welche »alles hervorbringt«.55 Diese führe aber nicht die Begebenheiten, Handlungen und Verhältnisse herbei und trete auch nicht in ihnen als sie selbst hervor. Sie manifestiere sich in diesen vielmehr als »Wesen, welches innerhalb der Erscheinung ist«. Es sei dieser Schicksalsmacht, was Goethes Erzählkunst vergegenwärtige, »auch nicht der geringste Spielraum verstattet«.56 Diese grundlegende Einsicht stimmt sehr genau mit anderen zeitgenössischen Beobachtungen zusammen: »Auffallend« sei, so Jacob Grimm über die Erzählhaltung in den Wahlverwandtschaften an seinen Bruder Wilhelm, »wie Goethe den Zufall und ein heimliches Schicksal gegen seine sonstige Art mannigfaltig hat wirken lassen«.57 Selbst die markante Reihe von Zufällen wird im Roman, der Lehre von den dichterischen Gattungen in den Lehrjahren durchaus entsprechend, immer auch »durch die Gesinnungen der Personen gelenkt
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Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 199f. Ebenda. Ebenda, S. 201. Ebenda, S. 200. Ebenda, S. 201. Ebenda. Jacob Grimm an Wilhelm Grimm, 12. November 1809. In: Härtl, Nr. 229, S. 72; Hervorhebung H.H.; vgl. Conz, Briefe über den neuen Goethe’schen Roman: ›Die Wahlverwandtschaften‹, 25.–28. Dezember 1809. In: Härtl, Nr. 285, S. 93: »So ist denn die Hauptgeschichte des Romans ächttragisch, und ruht durchaus unter dem Siegel der Nothwendigkeit, aber einer Nothwendigkeit, die dem eigenen Leben der Personen und ihrem Wirken […] nichts benimmt. Man kann sagen: Sie ist in der Mitte zwischen dem Reiche der Nothwendigkeit und der Willkühr«.
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und geleitet«.58 Die Protagonisten führen nach Solger die Begebenheiten und Verhältnisse und damit ihr eigenes Geschick selbst herbei, und zwar als in Verblendung begriffene Charaktere. Die uranfängliche Verblendung (atê) beginne bereits in jenem »schwankenden Zustande«,59 in dem aus Charlotte und Eduard doch noch ein Ehepaar wird, das vergangene Jugendträume revitalisieren will. Bereits die späte Heirat ist das Produkt einer Verblendung, die im Fortgang des Geschehens zerstörerisch um sich greift. Die Ehe von Eduard und Charlotte trägt damit in Solgers Perspektive von Anfang an ihre eigene Auflösung in sich. Mit dem Rekurs auf die antike Denkfigur der Verblendung60 wird betont, dass das Schicksal nicht einfach von außen in das Leben der Romanfiguren hereinbricht. Wie Abeken sieht auch Solger die spezifische Tragik des Geschehens paradigmatisch am Untergang der Ottilie, der »Hauptperson«61 des Romans, vorgeführt: Diese sei – eine wirkmächtige These – »das wahre Kind der Natur und ihr Opfer zugleich«.62 Ottilie, dem »schönen« bzw. »himmlischen Kind«,63 sei die Schuld am Tod des kleinen Otto moralisch nicht zuzurechnen. Sie geht nach Solger auch nicht wie Eduard durch eine schuldhafte Einseitigkeit ihrer Individualität unter: »Wer seine Individualität falsch versteht und meistert, […] der geht unter«.64 Auch Solger zeichnet ein als Natur begriffenes tragisches Schicksal der Ottilie. Dabei setzt er zugleich jene ›Heiligung‹ der Figur Ottilies fort, die Abeken begonnen hatte: Aber das Größte und Heiligste darin [sc. in diesem Roman] ist wahrlich die so tief innerliche Ottilie, die ihr keusches Inneres herausgeben muß an den Tag des Schicksals […].65
Solger legt dar, dass moralisch »erhabener Vorsatz« und »Gelübde«66 der Protagonistin nicht helfen, sich dem »ahnungsvollen Geschick«,67 dem »Ungeheuren«,68 zu entziehen. Der Konflikt, in den sie gerät, ist für Ottilie unauflösbar, und er hat eine Gewalt, gegen die es keine Rettung gibt. Ottilie entsagt schließlich nicht nur Eduard, sondern dem Leben selbst: »Sie kann
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Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre V, 7. WA I, 22, S. 178. Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 200. Vgl. Helmut Hühn, Artikel ›Verblendung, Verblendungszusammenhang‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11: U-V. Hrsg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel u.a. Basel 2001, S. 579 –582. Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 202. Ebenda. Mit diesen Epitheta wird die Figur im Roman gerne gekennzeichnet, vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 11. WA I, 20, S. 338; II, 15. Ebenda, S. 373. Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 200. Ebenda, S. 200; Diese interpretatorische Konstruktion wird Walter Benjamin in seinem ›Wahlverwandtschaften‹-Essay von 1924 mit wichtigen Argumenten dekonstruieren: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Gesammelte Schriften, Band I, 1, hrsg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974, S. 123–201, hier S. 173ff. Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 200. Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 15. WA I, 20, S. 376. Vgl. Ebenda, I, 11. WA I, 20, S. 131; I, 13. Ebenda, S. 149.
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ihre eigene innere Macht nur noch dazu anwenden, sich durch sich selbst zu vernichten«.69 Es scheint deutlich, dass das Ende der Ottilie, interpretiert man es wie Solger, mit dem idealistischen Paradigma der Vernunftmoralität nicht zu fassen ist. »Erhaben« kann man ein solches Ende im Sinne Schillers nicht nennen: Von einer »Freyheit des Gemüths«70 kann keine Rede sein; das Leiden lässt sich auch mit den Mitteln der Vernunft nicht mehr beherrschen und bezwingen. Die Verzweiflung, die Ottilie ergriffen hat und die zu ihrem Untergang führt, wird schon am Ende des Ersten Teils des Romans in aller Kürze angedeutet, wenn es vielsagend heißt: sie »ging in sich zurück. Sie hatte nichts weiter zu sagen. Hoffen konnte sie nicht, und wünschen durfte sie nicht«.71 Es ist eine, wie sich im Zweiten Teil herausstellt, unendlich leidvolle Krankheit zum Tode,72 die der Leser bei wiederholter Lektüre des Romans in ihren einzelnen Stadien präzise verfolgen kann. In Abhebung von Eduard hält Solger das Schicksal der Ottilie für tragisch. Das tragische Pathos, das er im Narrativ des Werkes zu entdecken glaubt, haben zeitgenössische Leser wie August Wilhelm Rehberg ironisch distanziert, und zwar ebenso mit Blick auf die Sophokleische Tragödie: Ottilie versinkt in Schwermuth darüber, daß sie ihre (wie sichs gehört, wenig motivirte) Liebe nicht überwinden kann, und doch nicht befriedigen mag […]. Sie verhungert absichtlich. Baron Laps möchte gern auch dieses Todes sterben, findet aber, daß auch dazu Genie gehört, und wird vom Vf. aus Mitleid todtgeschlagen. […] Wie kann man aus solchen Geschöpfen eine Tragödie machen! O göttlicher Sophokles […].73
Solgers Lektüre des Romans vor der Folie der antiken epischen wie tragischen Kunst hebt darauf ab, dass hier eine Schicksalskonstellation mit dichterischen Mitteln gestaltet wird, die in spezifischer Weise ›modern‹ ist und entsprechend auch nicht von Personen herbeigeführt wird, die antiken Helden gleichen. Gegenüber Wilhelm von Schütz reformuliert Solger 1815, sechs Jahre später, seine Schicksalsthese. Die Natur wird den Subjekten nach Solger insofern zum Schicksal, als diese ihren »unbewußten Antrieben« folgen. Die Protagonisten Eduard und Ottilie fallen damit in die Gewalt einer undankbaren Macht, die sich durch dunkle Triebe ihrer ganzen Individualität bemächtigt hat. Unter dieser Macht verstehe ich keineswegs ein göttliches Schicksal, wie es die Alten hatten, und es ist gewiß eine ganz ungegründete Furcht, daß durch dieses Werk der Fatalismus begünstigt werden möchte. Was hier wirkt ist weit mehr physisch, und eben deswegen einseitig und die Harmonie der
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Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 37), S. 200. Vgl. Schiller, Vom Erhabenen. NA 20, S. 175. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 18. WA I, 20, S. 196; Hervorhebung H.H.; vgl. Über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller. WA I, 41. 2, S. 221: Hier ist es die Tragödie, die Goethe zufolge den »nach innen geführten Menschen« vorstellt. Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 17. WA I, 20, S. 175: »Wir wagen nicht ihren Schmerz, ihre Thränen zu schildern, sie litt unendlich«. August Wilhelm Rehberg, Rezension in Allgemeine Literatur-Zeitung, 1. Januar 1810. In: Härtl, Nr. 291, S. 101–106, hier S. 105.
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Helmut Hühn menschlichen Natur zerreißend […]. Diese Sonderung, diese Hingebung an irgend eine einzelne, hervorstechende Seite der menschlichen Natur ist wohl im Charakter der gegenwärtigen Zeit, welche nur das Einseitige […] für tief halten will.74
Im Rückgang auf die »Naturseite«75 des Werkes bestimmt Solger damit nicht nur den Schicksalsbegriff in Richtung auf das Konzept weiter, das die Psychoanalyse später »Triebschicksal«76 nennen wird. Er skizziert zumindest ansatzweise auch die Bedeutung dieses dichterisch exponierten Triebschicksals im Kontext seiner These vom Gegenwartsroman. Zugespitzt formuliert, könnte man sagen: Mit den Mitteln der symbolischen Darstellung eines tragischen Romans soll anhand des Scheiterns der Protagonisten eine zeitdiagnostische Kritik an der Einseitigkeit und Eigensinnigkeit der Gegenwartskultur geübt werden, die sich in fast allen Lebensbereichen zeigt. In der Fokussierung der Interpretation auf das Verhältnis Natur-Mensch kommt bei Abeken wie Solger aber die genuin psycho-soziale Dimension des Goethe’schen Schicksalskonzeptes zu kurz. Mit der These, dass das Naturwesen Ottilie, das ein magnetisches Verhältnis zum Erdinneren hat, zum »Opfer« der Natur werde, wird diese Dimension abgeblendet und der am Roman ablesbare soziale Katastrophenmechanismus verdeckt. Mit der mythischen Figur des Opfers wird eine im Ganzen unheimliche Natur zudem als Subjekt verklärt. Unter der Oberfläche eleganter Gesprächskultur wird im Werk selbst aber das Scheitern bereits elementarer Kommunikationsprozesse sichtbar gemacht, das fatale Folgen hat: Die Verständigung der Protagonisten mit sich selbst misslingt genauso wie die Verständigung miteinander, damit aber auch jede Lösung des sozialen Konflikts. Ottilie kann weder mit Charlotte noch mit Eduard über ihre verzweifelte Situation sprechen. Sie, die selbst das Misstrauen in die Kraft sprachlicher Verständigung verkörpert, ist weit eher ein Opfer der konkreten zwischenmenschlichen Kommunikationskatastrophe, die sie erleidet, denn ein Opfer der Natur. Noch Walter Benjamin folgt hier der Solger’schen These: Ottilie »fällt«, so der Wahlverwandtschaften-Essay, als »Opfer dunkler Mächte«.77 Das »Verscheiden« der Ottilie sei als »Opferhandlung« zu interpretieren: Sie sei »das Opfer zur Entsühnung der Schuldigen«.78 Mit dieser fragwürdigen Inanspruchnahme der Opfer-Figur wird zugleich der Schicksalsbegriff artikuliert, den Benjamin in seiner Interpretation an die Wahlverwandtschaften heranträgt: »Schicksal ist der Schuldzusammenhang von Lebendigem«.79
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Solger an Wilhelm von Schütz [?], 12. August 1815. In: Härtl, Nr. 476, S. 248. Ebenda. Vgl. Helmut Hühn / Martin Vöhler, Artikel ›Oidipus‹. In: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Kunst und Musik von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart, Weimar 2008 [= Band 5 der Supplemente des Neuen Pauly], Sp. 500–511, hier Sp. 509. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 65), S. 173. Ebenda, S. 140. Ebenda, S. 138; Vgl. Theunissen, Schicksal (Anm. 9), S. 32.
Ein »tragischer Roman«? Überlegungen zu einem Romanexperiment
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III. Schein und Schicksal In eigentümlicher Brechung wird das Schicksalsthema im Roman selbst noch an anderer Stelle thematisch. Zur Darstellungsform des Werkes gehört, dass es nicht nur einen genauen Blick auf die Lebensgeschichte, den Charakter und das Handeln der Protagonisten gewährt, sondern diese zugleich im ständigen Prozess des Deutens der Wirklichkeit zeigt.80 Dies reicht von der konkreten Situations- bis zur Sinndeutung der Wirklichkeit im Ganzen. Auffällig ist, dass sich diese Deutungen weder der konkreten Einzelsituation noch dem Ernst des Gesamtgeschehens gewachsen zeigen. Zu den Mustern, die die Protagonisten deutend verwenden, gehören auch unterschiedliche Gestalten des Schicksalsglaubens. Durch die Romanfiguren selbst erfolgt, wie schon in den Lehrjahren,81 eine explizite Thematisierung des Schicksals. Im fortgeschrittenen Zustand der Handlungs- und Widerfahrniszusammenhänge in den Wahlverwandtschaften, nach dem Tod des kleinen Otto, manifestiert sich ein ausgesprochen projektiver Umgang mit diesen Deutungsmustern. Von dem Major erfährt der Leser: Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können. Ein solches Opfer schien ihm nöthig zu ihrem allseitigen Glück.82
Von Eduard heißt es: Er wußte bereits von dem Unglück und auch er, anstatt das arme Geschöpf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sich’s ganz gestehen zu wollen, als eine Fügung an, wodurch jedes Hinderniß an seinem Glück auf Einmal beseitigt wäre.83
Für beide männlichen Hauptgestalten gilt: In der illusionären Hoffnung auf ein ausstehendes Glück wird das katastrophische Geschehen rationalisiert als Fügung bzw. als Opfer, das nötig war, um das Zusammenleben in gewünschter Weise neu zu konfigurieren. So müssen aus dem Tod des kleinen Otto keine Handlungskonsequenzen im Sinne eines Innehaltens oder einer Umkehr gezogen und kann der »Wahn« aufrecht erhalten werden, »als ob noch alles bei’m Alten sei«.84 Auch Charlotte will nun in die Scheidung einwilligen: Ich hätte mich früher dazu entschließen sollen; durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getödtet. Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen; es soll etwas geschehen was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden wie wir wollen.
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Vgl. auch den Beitrag von Jan Urbich in diesem Band sowie Stefan Blessin, Erzählstruktur und Leserhandlung. Zur Theorie der literarischen Kommunikation am Beispiel von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Heidelberg 1974, S. 44ff. Vgl. Manfred Engel, Der Roman der Goethezeit, Band. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993, S. 247ff. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 14. WA I, 20, S. 368; Hervorhebung H.H. Ebenda, II, 14, S. 368f.; Hervorhebung H.H. Ebenda, II, 17, S. 397; vgl. I, 13, S. 144.
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Helmut Hühn Doch was sag‘ ich! Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch, meinen eigenen Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt, wieder in den Weg bringen.85
In einer Situation größter Verzweiflung wird das Schicksal von Charlotte als übergeordnete Instanz bemüht, gegen die aller Widerstand im Namen von Vernunft, Sittlichkeit und dem Heiligen vergeblich ist. Es wird zu einer durchgreifenden, eigene Absichten realisierenden Macht stilisiert, die sich aber auf den zweiten Blick auch als im Grunde ich-syntone und deshalb zustimmungsfähige Problemlösungsinstanz verstehen lässt. Im Gegensatz zu den männlichen Protagonisten erkennt Charlotte im Kontext ihrer Deutung eine Dimension persönlicher Schuld an, die allerdings durch »Zaudern« und »Widerstreben« zustande gekommen sein soll, d.h. durch ein fehlerhaftes Verkennen der Handlungsoption, die vom gegenwärtigen Stand des Konfliktes her gesehen als die angemessene Lösung erscheint. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch diese überraschende und fragwürdige Deutung eher auf die seelische Aporie zurückschließen lässt, in der Charlotte sich befindet, als auf die Verarbeitung der Situation. Um das Quartett der Deutungen, und damit die im Erzählen sichtbar werdenden Orientierungen aller Beteiligten, zu vervollständigen, sei noch ein Blick auf Ottilie geworfen. Diese schaudert über sich selbst und kann sich nicht verzeihen, was geschehen ist. Sie entfaltet im Rahmen ihrer Deutung des Geschehens eine grausame Anklage gegen sich selbst als einer Verbrecherin: Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren […] Eduards werd’ ich nie! Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin. Ich will es büßen; und niemand gedenke mich von meinem Vorsatz abzubringen! […] Ich bin aus meiner Bahn geschritten und ich soll nicht wieder hinein. Ein feindseliger Dämon, der Macht über mich gewonnen, scheint mich von außen zu hindern, hätte ich mich auch mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden.86
Ottilie hat inmitten der sich tödlich zuspitzenden Krise nicht nur ihre personale Identität verloren; es scheint ihr, als ob ein Dämon verhindert, dass sie die Einigkeit mit sich selbst je wieder gewinnen kann. Die Rede zeigt die grausame und unheilbare Entfremdung an, die im Selbstverhältnis der Ottilie eingetreten ist, und die ihr nun sogar verwehrt, ihr eigenes Sein weiter zu affirmieren. Die Selbstbestrafung ist der einzige und herrschende Impuls ihres Bezuges auf sich selbst geworden. Verwundern die Deutungen Eduards und des Majors angesichts der Situation aufgrund der mehr oder weniger nackten Egozentrik ihrer Glückshoffnung, so irritiert die Selbstdeutung der Ottilie umgekehrt aufgrund des inneren Zwanges zur radikalen Selbstnegation. Machen der Hauptmann, Eduard und Charlotte Pläne für ein neues Arrangement des Glücks, so haben sie diese Pläne ohne Ottilie gemacht, die sich verweigert. Was in der Grenzsituation sichtbar wird, das ist bezeichnend auch für das vorangegangene Handeln und Leiden: Alle Beteiligten deuten von Anfang an partikulär, und sie deuten,
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Ebenda, II, 14, S. 366f.; Hervorhebung H.H. Ebenda, II, 14. WA I, 20, S. 370f.; II, 17. WA I, 20, S. 394.
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im Fortgang des Geschehens, zunehmend als vereinsamende und sich auf sich selbst Zurückziehende.87 Das Ganze tritt in Gestalt der Katastrophe hervor, die alle Partialperspektiven faktisch Lügen straft. Weil die Partialperspektiven der Individuen das Ganze verfehlen, kann aus ihnen keine Haltung gewonnen werden, die dem Ernst des Geschehens standhalten könnte. Erzählt wird der Roman in einer Weise, dass die Leser den Akteuren auch bei dem Deuten der Wirklichkeit gleichsam wie »hinter Glas«88 zusehen können. Auf diese Weise sind auch die Fehlorientierungen im Handlungsbewusstsein der Protagonisten und deren schwerwiegende Handlungsfolgen zu gewahren. Die Leser werden gleichsam aufgefordert, die partikulären Deutungen der Protagonisten mit Blick auf das unaufhaltsame Fortschreiten der Katastrophe89 abzugleichen und mit Blick auf deren Voraussetzungen wie auf deren blinde Flecke zu reflektieren. Die Schicksalsdeutungen der Protagonisten erweisen sich als undurchschaute Projektionen und Wirklichkeitsverleugnungen oder, im Falle der Ottilie, als Ausdruck der grausamen Agonie einer seelischen Depersonalisierung infolge von Retraumatisierung.90 Die Einsicht in den Vollzug und die Bedeutung von Selbst- und Wirklichkeitsdeutungen, die der Roman seine Leser anhand der Protagonisten gewinnen lässt, hat nun auch Konsequenzen für den Status der höchst unterschiedlichen Sinndeutungen, die der Erzähler selbst im Narrativ des Romans offeriert. Zu diesen Sinndeutungen, den Gesamtgehalt des Romans betreffend, gehört die antikisierende und mythisierende Rede vom »ahnungsvollen Verhängnis« und den »Opfern«, die dieses fordert; zu ihnen gehört aber auch der Versuch, das Verhängnis umgekehrt in den Horizont einer christlichen Perspektive der Hoffnung und Aussöhnung zu rücken.91 Nicht nur die Spannung dieser beiden Ordnungs- und Erzählmuster tritt im Roman hervor. Auch beide Erzählmuster werden – je für sich – fraglich: Durch ein Geflecht von Bezügen und Verweisen, Antizipationen und Kausationen, die mit den Mitteln der Kunst die innere Notwendigkeit der Romanfiktion und damit ein unaufhaltsames Voranschreiten der Katastrophe gestalten, wird der Eindruck erzeugt, als ob ein Verhängnis über den Akteuren walte. Gegenläufig dazu wird im Erzählen selbst diese literarische Fiktion distanziert: Denn das Schicksal, das im Roman vergegenwärtigt wird, ist keines, wie es im Wilhelm Meister heißt,
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Vgl. ebenda, II, 15. WA 1, 20, S. 372. Vgl. Paul Stöcklein, Wege zum späten Goethe. Dichtung, Gedanke, Zeichnung. Interpretationen um ein Thema. Darmstadt 31970, S. 13. Johann Sulpiz Melchior Dominikus Boisserée berichtet von einem Gespräch mit Goethe am 5. Oktober 1815: »Unterwegs kamen wir dann auf die ›Wahlverwandtschaften‹ zu sprechen. Er legte Gewicht darauf, wie rasch und unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt« (In: Härtl, Nr. 477, S. 249). Vgl. auch den Beitrag von Hermann Beland in diesem Band. Zur »Interferenz« der beiden Ordnungsmuster vgl. erhellend Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹. Frankfurt am Main 1986, S. 264ff.
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Helmut Hühn das die Menschen, ohne ihr Zuthun, durch unzusammenhängende äußere Umstände zu einer unvorgesehenen Katastrophe hindrängt.92
Es ist keine Macht, die ›über‹ den Handelnden waltet, auch wenn von Anfang an ominös erzählt und der Eindruck mythischer Wirkungen wie mythischer Zwangsläufigkeit suggeriert wird. Es gibt auch keine Naturmacht, die die Protagonisten ›von außen‹ determiniert: Diese sind keineswegs nur »Reagentien woran Schicksal und Prozesse sich offenbaren, die Feilspäne gleichsam die durch den Magnetismus geordnet werden«.93 Die Wahlverwandtschaften sind auch nicht »die Botschaft von überpersönlichen Mächten und ihrer Wirkung auf das seelische, sittliche, gesellschaftliche Leben des einzelnen Menschen«.94 Es ist die Natur in den Menschen selbst,95 die im Roman zur Quelle sozialer Konflikte wird. Diese Einsicht ermöglicht es, der Tradition der ›irrationalistischen‹ Goethe-Interpretation gerade auf dem Feld der Schicksalsfrage entgegenzutreten.96 Es ist aber auch kein einfach der Natur im Menschen anzurechnendes Faktum, dass Subjekte Unheil herbeiführen, indem sie die Wirklichkeit in irriger Weise deuten. Fehldeutungen im Blick auf das Ganze mögen einen ethischen Missstand anzeigen. Wenn sie auf affektive Verblendungen, auf eine »trübe leidenschaftliche Notwendigkeit« zurückzuführen sind, mag auch die Naturbasis dieser Deutungen zu erkennen sein – damit aber auch die moralische Zurechnung der Handlungen fraglich werden. Denn die Verstandeserkenntnis der beteiligten Akteure erscheint durchaus eingetrübt.97 Wenn die Verblendungen der Einzelnen um sich greifen, kommt in den sozialen Konflikten heraus, was keiner gewollt hat und hat wollen können. An das Ganze dessen, was geschieht, reichen die Akteure weder mit ihrem Bewusstsein noch mit ihrem Willen heran. Jede einzelne Handlung greift in das Ganze ein, aber ohne dass die Akteure um die Relevanz wüssten, die das jeweilige Handeln und Verhalten, gleichsam »auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Nothwendigkeit zusammengesetzt«,98 für die anderen besitzt. Die Wahlverwandtschaften führen damit nicht nur vor, wie die Protagonisten sich selber in Gestalt ihrer Wünsche und Ängste Schicksal sind, sie
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Vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre V, 7. WA I, 22, S. 178f. Vgl. Friedrich Gundolf, Goethe. Berlin 101922, S. 548–575, hier S. 552. Ebenda, S. 551; vgl. Paul Hankamer, Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt. Tübingen, Stuttgart 1947, S. 207–343. Vgl. Karl Ernst Schubarth, Zur Beurtheilung Göthe’s (1818). In: Härtl, Nr. 483, S. 257– 262, hier S. 259: »Ueber Gewisses in seiner Natur vermag der Mensch mit all seiner Freiheit nichts«. Vgl. Werner Schwan, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Das nicht erreichte Soziale. München 1983, S. 117–148. Vgl. analog zur Explikation der »blinden Notwendigkeit« bei Kant: Vorlesungen über Metaphysik [nach Karl Heinrich Ludwig Pölitz]. In: Kant’s gesammelte Schriften, Band 28, 1. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1968, S. 199: »Blind heißt, wenn man selbst nicht sehen kann; aber auch das, wodurch man nichts sehen kann. Blinde Nothwendigkeit ist also, vermittelst welcher wir durch den Verstand nichts sehen können. Die blinde Nothwendigkeit ist Schicksal«. Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Dritter Theil, Buch 11. WA I, 28, S. 50.
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leuchten auch aus, wie sie einander in triangulärer Dynamik in Unheil verstricken. Das Schicksal wird im Roman nicht nur ins Innere der Subjekte verlegt und damit individualisiert, es wird zugleich ›sozialisiert‹: Das Unfassliche, das Verhängnisvolle, ereignet sich mehr oder weniger bewusstlos als Integral dessen, was miteinander verbundene Personen einander erleiden lassen und voneinander erleiden müssen. Die »Dazwischenkunft eines Dritten«99 kann dabei als die Grundgestalt des in der Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen vorgeführten Schicksals begriffen werden. Bei wiederholter Lektüre des Romans fällt das vom Erzähler ins Spiel gebrachte Erklärmuster vom opfererzwingenden Verhängnis, wie es scheint, gänzlich aus. Auch tritt im Roman kein ›Teufel‹100 an die Stelle solchen Verhängnisses. Goethes Roman kommt, was die erzählerische Motivation des katastrophischen Geschehens betrifft, »ohne Bösewicht, ohne Intrige und ohne ein Finale mit der Aufdeckung verschlungener Geheimnisse und verborgener Identitäten« aus.101 Weder stürzt ein mythisches Verhängnis die Protagonisten in das Unheil noch ein bewusster menschlicher Wille, der als böse zu charakterisieren wäre. Die Handelnden bleiben nicht ohne Schuld, aber die zurechenbare Schuld scheint nicht die Tragik entschärfen zu können, die im Vollzug des Ganzen manifest wird. So kann der Leser die Rede vom Verhängnis transformieren: in die Erkenntnis des zerstörerischen sozialen und psychischen Mechanismus, der zur Katastrophe führt. Besonders mit dem Schlusskapitel des Zweiten Teils und dessen letzten Sätzen ändert der Erzähler die Strategie und bringt ein anderes, in der Gesamtanlage des Romans gegenstrebiges Deutungsmuster in Gebrauch. Er rückt den verhängnisvollen Sturz in die Katastrophe in den Horizont einer jenseitigen Aussöhnung.102 Das antike Motiv der Vereinigung der Liebenden im Tod wird mit dem christlichen Motiv einer dereinstigen Wiederauferstehung überblendet: So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.103
Der Blick wird damit am Ende des Romans über die Katastrophe hinausgeführt. Aber unklar bleibt nicht nur, ob der Wenn-Satz temporal oder konditional auszulegen ist. Das evozierte Schlussbild ist in sich fragwürdig. Es scheint
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Die Wahlverwandtschaften I, 1. WA I, 20, S. 12; vgl. Theunissen, Schicksal (Anm. 9), S. 39ff. Vgl. Friedrich Schlegel, Kritische Fragmente von 1797. In: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden, Band 1. Hrsg. von Ernst Behler / Hans Eichner. Paderborn, München, Wien 1988, S. 240: »An die Stelle des Schicksals tritt in der modernen Tragödie zuweilen Gott der Vater, noch öfter aber der Teufel selbst«. Von Matt, Versuch (Anm. 6), S. 273; vgl. Eberhard Lämmert, Goethes empirischer Beitrag zur Romantheorie. In: Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart 1985, S. 9–36, hier S. 18f. Vgl. Hartmut Reinhardt, Der Liebe Übermacht und Heilung: zur christlichen Wendung von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Edith Düsing / Hans-Dieter Klein (Hrsg.), Geist, Eros und Agape. Würzburg 2009, S. 343–368. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 18. WA I, 20, S. 416.
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Helmut Hühn
ein Bild der Vollkommenheit, »bei dem aber alles anders ist, als es scheint, denn das Paar ist kein Paar gewesen, und das Kind, das dort [sc. in der Kapelle] bestattet ist, ist nicht ihr Kind«.104 Das Geschehen, das im Roman erzählt wird, verlangt nach Deutung. Aber der Roman selbst gibt in Gestalt des keineswegs allwissenden Erzählers Deutungen, die einander widersprechen und die, wie die der Protagonisten, in sich blinde Flecken enthalten. In ihrer Fragwürdigkeit wie in ihrer Widersprüchlichkeit werden die gegenstrebigen literarischen Fiktionen, mit denen der Erzähler operiert, als solche angezeigt und damit zugleich distanziert: Der noch in der vermeintlich religiösen Hoffnungsformel des Roman-Schlußsatzes erahnbare Zweifel an der Möglichkeit der übergreifenden Überwindung tragischer Konflikte öffnet die Perspektive auf die Immanenz des Scheins, der den literarischen Text konstituiert.105
Zur Selbstreflexivität des Goethe’schen Romans wie zu dessen Poetik gehört die bewusste Freilegung dieser Immanenz des Scheins. Erst sie macht das Werk zu einem Mittel der Erkenntnis. Der Roman selbst verweigert im Erzählprozess eine Gesamtdeutung. Er erzählt, wie die Frage nach dem Schicksalsverständnis deutlich machen kann, nicht nur im Bemühen um höchste Unparteilichkeit, sondern auch wesentlich vieldeutig.106 Die Multiperspektivität des Erzählens wird im Roman nicht integrierend aufgelöst und auch nicht hierarchisiert. Hierin liegt der Grund dafür, dass die Wahlverwandtschaften bis heute, wie Wilhelm Grimm schon kurz nach Erscheinen des Romans festgestellt hat, so verschiedenartige Urteile erzeugen und unendliche Ansichten zulassen […], so daß schon jeder einzelne Charakter seinen Freund und Feind gehabt hat und alles schon gut und schlecht gewesen.107
Dem Leser, der die literarische Versuchsanordnung nicht nur kontemplieren, sondern auch auf sich selbst anwenden soll, fällt die Aufgabe des Deutens zu. Die Position einer Totalitätsanschauung kann er dabei ebenso wenig beanspruchen wie die Figuren und der Erzähler.
IV. Schicksal als Experiment Aus dem Vorhergehenden ist deutlich geworden, dass die antiken Begriffe des Schicksals und des Tragischen nur in transformierter Weise auf die Wahlver104
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Ulrike Prokop, Das Magische als Wiederkehr des Verdrängten in den ›Wahlverwandtschaften‹. In: Freiburger Literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Band 29: Goethe. Würzburg 2010, S. 199–218, hier S. 217. Alt, Agonale Freiheit (Anm. 27), S. 48. Vgl. besonders Matías Martínez, Empirische Vorderwelt und mythische Hinterwelt. Johann Wolfgang von Goethe, ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Ders., Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996 [Palaestra, Band 298], S. 37–89; Diana Florea / Willy Michel, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹: Polysemie und figuraler Perspektivismus. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 33 (2007), S. 39–64. Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, 22. November 1809. In: Härtl, Nr. 254, S. 80.
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wandtschaften angewendet werden können, die ›moderne‹ Gegenwartsverhältnisse zur Sprache bringen. Das Bemühen, einen ›Sehepunkt‹ zu gewinnen, der die eigene geschichtliche Gegenwart und deren Entstehung vor dem Hintergrund der Französischen Revolution begreiflich machen kann, bestimmt das Romanexperiment der Wahlverwandtschaften von Anfang an. Die Frage, wie diese Gegenwart und ihre Probleme erzählt werden können, führt Goethe zu einem neuen Modell des Romans. Die Auseinandersetzung mit der antiken Kunstform der Tragödie spielt dabei, wie hier zu umreißen ist, eine wichtige Rolle. Am 28. August 1808, dem 59. Geburtstag Goethes, notiert Friedrich Wilhelm Riemer nicht nur die zentrale Idee, die den Dichter in der Arbeit an dem Roman bewegt: Mit ihm über den neueren Roman, besonders den seinigen [gesprochen]. Er äußerte: Seine Idee bei dem neuen Roman Die Wahlverwandtschaften sei: sociale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen.108
Der Philologe protokolliert auch eine bisher wenig beachtete Unterhaltung am Abend desselben Tages. Das abendliche Gespräch dreht sich um die Tragödie und das »antike Tragische« sowie um das Verhältnis von antiker und moderner romantischer Kunst. Dieses Gespräch bezeugt ebenso Goethes kritische Auseinandersetzung mit der »romantischen Moderne seiner Zeit«.109 Das antike Tragische ist das menschlich Tragirte. Das Romantische ist kein natürliches, ursprüngliches, sondern ein gemachtes, ein gesuchtes, gesteigertes, übertriebenes, bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karrikaturartige. Kommt vor wie ein Redoutenwesen, eine Maskerade, grelle Lichter-Beleuchtung. […] Das Antike ist noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich, unmöglich. […] Das Antike ist nüchtern, modest, gemäßigt, das Moderne ganz zügellos, betrunken […].110
So polemisch dieses Diktum und so fragwürdig die Konstruktion der Gegensätze ist, mit der es operiert,111 eines macht die Äußerung deutlich: Für Goethe steht in der Arbeit am Roman das erlittene menschliche Leid im Zentrum seiner metaphysikkritischen Auffassung des antiken wie des modernen Tragischen. Die Wahlverwandtschaften, als Novelle im Zyklus der Wanderjahre geplant und als Erzählung schon 1806 »in einen tragischen Entwurf verwandelt«,112
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Friedrich Wilhelm Riemer, Tagebuch. Karlsbad, 28. August 1808. In: Härtl, Nr. 32, S. 33. Frühwald, Der ›romantische‹ Goethe (Anm. 10), S. 167; vgl. den wichtigen Brief von Goethe an Carl Friedrich Zelter, 30. Oktober 1808. WA IV, 20, S. 192f. Gespräch mit Riemer, 28. August 1808. WA V, 2, S. 216. Zur zeitgenössischen Neuentdeckung einer nicht-modesten Antike durch Heinrich von Kleist vgl. Helmut Hühn, Missverstehen, Verkennen, Verfehlen. Heinrich von Kleists ›Penthesilea‹. In: Martin Vöhler / Hubert Cancik (Hrsg.), Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert, Band 2: Der Humanismus und seine Künste. Heidelberg 2010 [in Vorbereitung]. Vgl. Goethe, Tagebücher (Anm. 45), S. 197, 23f.
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sind seit Juli 1808 zu einer Erzähleinheit von 18 Kapiteln gediehen, die das tödliche Ende bereits einschließt. Etwa einen Monat später, am 2. Oktober 1808, trifft Goethe Napoleon im Schloss von Erfurt. Auf Wunsch von Carl August weilt er anlässlich des Fürstenkongresses vom 29. September an in Erfurt. Die Audienz, die ihm Napoleon gewährt, gilt bekanntlich nicht dem Staatsminister, sondern dem Dichter. Goethes Bericht über die Unterredung, erst am 15. Februar 1824 auf Drängen des Kanzlers von Müller aufgezeichnet, weicht nur in Details von den Darstellungen Außenstehender ab. Das Gespräch der beiden Ausnahmepersönlichkeiten dreht sich, das ist aufschlussreich, um die tragische Kunst, und es hat eine nachhaltige Wirkung113 auf Goethe. Der Kaiser […] kehrte zum Drama zurück und machte sehr bedeutende Bemerkungen, wie einer der die tragische Bühne mit der größten Aufmerksamkeit gleich einem Criminalrichter betrachtet, und dabei das Abweichen des französischen Theaters von Natur und Wahrheit sehr tief empfunden hatte. So kam er auch auf die Schicksalstücke mit Mißbilligung. Sie hätten einer dunklern Zeit angehört. Was, sagte er, will man jetzt mit dem Schicksal? die Politik ist das Schicksal.114
Napoleon interessiert sich – nach Goethes Bericht – für das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit. Er schaut durch die ästhetischen Darstellungsformen des Dramas hindurch auf Tatbestände und Interessen im Dargestellten. Schicksalsdramen, die Menschen zu Spielbällen von welchen Übermächten auch immer machen, seien »jetzt« antiquiert.115 An die Stelle des Fatums sei in der Gegenwart die (Macht-)Politik getreten. Hegel kommt in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte auf diese Begegnung zu sprechen: Napoleon, als er einst mit Goethe über die Natur der Tragödie sprach, meinte, daß sich die neuere von der alten wesentlich dadurch unterscheide, daß wir kein Schicksal mehr hätten, dem die Menschen unterlägen, und daß an die Stelle des alten Fatums die Politik getreten sei. Diese müsse somit als das neuere Schicksal für die Tragödie gebraucht werden, als die unwiderstehliche Gewalt der Umstände, der die Individualität sich zu beugen habe.116
»[N]on datur fatum«,117 diese Einsicht, die durch die Kantische Unterscheidung von Natur- und Sittengesetz eine neue epistemologische Grundlage erhält, wird auch durch Goethes Kunstwerk bekräftigt. Der Roman kann gleichwohl so gelesen werden, dass auch in der defatalisierten Welt der Moderne Schicksalserfahrungen ihre Relevanz keineswegs verloren haben. Hatte Napoleon die Kategorie des tragischen Schicksals als antiquiert zurückgewiesen, so trans-
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Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1996, S. 501–566. Unterredung mit Napoleon. 1808. WA I, 36, S. 273. Vgl. auch Gustav Seibt, Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung. München 2008, S. 127f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke, Band 12. Hrsg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, S. 339. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 280.
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formiert sie Goethe und bringt dabei die von Napoleon abgewertete ästhetische Dimension der Kunst gegenüber der Wirklichkeit zur Geltung. Die tragische Erfahrung, die sich im Modell der antiken Polistragödie ausdrückt, gewinnt für den Dichter in der geschichtlichen Gegenwart eine neue Relevanz. Die antike Tragödie gründet sich nicht auf das Prinzip der Freiheit, sondern demonstriert, wie Verblendung und verhängnishafte Verschuldung menschliches Erkennen und Handeln bestimmen.118 Der Roman nimmt nicht nur ein »menschlich Tragirtes« in seiner Kunstform auf und birgt es in ihr. Er führt einen ›modernen‹ Katastrophenmechanismus des Schicksals vor, der ohne Fatum und auch ohne die Kategorie einer handlungsbestimmenden Notwendigkeit119 das weitgehend bewusstlose Voranschreiten menschlicher Selbstzerstörungsprozesse vergegenwärtigt. Wilhelm von Humboldt hatte in den Wahlverwandtschaften »Schicksal und innere Notwendigkeit […] vor allen Dingen«120 vermisst, gerade weil er an dem klassischen Deutungsmuster des Tragischen orientiert blieb. Der ›moderne‹ Schicksalsmechanismus, der im Roman zur Geltung kommt, wird in Gestalt einer Experimentalanordnung vorgeführt, die es dem Leser ermöglicht, Ausgangslage, Prozess und Resultat zu beurteilen. Jeremy Adler hat in diesem Sinne die Vermutung ausgesprochen, die Wahlverwandtschaften seien »vielleicht das erste tragische Werk, das als ›Experiment‹ aufgefaßt werden will. Als solches scheint es geradezu ein Modell des Tragischen zu liefern«.121 In dem Roman emergiert das unheilvolle Ganze eher langsam und unmerklich.122 Gleichwohl bleibt die Rückbindung der Katastrophe an die Gesinnungen und inneren Konflikte der einzelnen Protagonisten kenntlich. Keine einschneidende Peripetie muss eintreten, die aristotelisch gesprochen, den »Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil«123 mit sich bringt. Aber im Endergebnis ist die Verknüpfung von Gesinnungen, Handlungen und Zufällen nicht weniger gewaltsam als der antike Schicksalswechsel. Das Modell eines zerstörerischen Ganzen, das sich im Erzählprozess gegen die partikulären Deutungen und Illusionsbildungen der Protagonisten manifestiert, verdankt sich, geschichtlich betrachtet, einer literarischen Transformation der griechischen
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Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos (Anm. 113), S. 526. Zur Inanspruchnahme der Deutungsfigur des schicksalhaften Determinismus in der modernen künstlerischen Rezeption des Romans vgl. den Beitrag von Nikolaus Immer in diesem Band. Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 6. März 1810. In: Härtl, Nr. 343, S. 141; Walter Benjamin zitiert dieses wichtige Rezeptionszeugnis, ohne sich durch Humboldts Beobachtung in seiner eigenen Deutung herausfordern zu lassen, vgl. Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 65), S. 143. Jeremy Adler, »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Chemie seiner Zeit. München 1987, S. 213; vgl. zu Goethes Charakterisierung der Aufgabe des »tragischen Dichters«: WA I, 42. 2, S. 250. So auch Nobert Bolz, Artikel ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden, hrsg. von Bernd Witte u.a., Band 3: Prosaschriften, hrsg. von Bernd Witte / Peter Schmidt; die naturwissenschaftlichen Schriften hrsg. von Gernot Böhme. Stuttgart, Weimar 1997, S. 152–186, hier S. 163. Aristoteles, Poetik 11. Griechisch-deutsch, übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1987, S. 35.
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Tragödie.124 Erzählt wird in Goethes Roman einem ›modernen‹ Wirklichkeitsbegriff entsprechend, der in der europäischen Literatur durch die antike Tragödie geprägt wurde: In diesem Wirklichkeitsbegriff wird die Illusion als das Wunschkind des Subjekts vorausverstanden, das Unwirkliche als die Bedrohung und Verführung des Subjekts durch die Projektion seiner eigenen Wünsche, und demzufolge antithetisch die Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Leistende [...].125
Man kann die symbolische Gesamtanlage der Wahlverwandtschaften so deuten, dass nicht nur die Verflechtung individueller Schicksale erzählt werden soll; die Experimentalanordnung des Romans macht auf ihre Weise kenntlich, welcher epochale gesellschaftlich-geschichtliche Umbruch sich in den Lebensläufen der Protagonisten artikuliert. Im Schicksal der Wahlverwandten kann in verwandelter Weise das der Gegenwart erkennbar werden. Auch die Fiktion des Romans löst den Schock über die Auflösung, das Zugrundegehen einer Welt aus. Das Kunstwerk gibt keine souveräne Diagnostik der Gegenwart, aber es wagt den schöpferischen Blick auf die geschichtlichen Konfliktgehalte. Die Protagonisten legen die Realität nach ihren Wünschen (und nach ihren Ängsten) aus, das macht sie auf Dauer realitätsuntüchtig. Auf dem Wege ihrer »Velleitäten«126 verstricken sie sich in Schein und Wahn und erzwingen so gewissermaßen durch ihren eigenen fortschreitenden Wirklichkeitsverlust ein ›Hervortreten der Realität‹ in ihrer schmerzhaften Eigenmacht. Im Scheitern der Protagonisten werden die Unangemessenheit, die ›blinden Flecke‹ und die katastrophalen Folgen ihrer partikulären Wirklichkeitsdeutungen sichtbar. Indem der Dichter den Romanschauplatz anonymisiert und die Romanzeit in die unmittelbar vergangene Gegenwart zurückverlegt, betreibt er das Geschäft der Gegenwartserkundung mit den Mitteln der Literatur. Er betreibt im Wissen darum, wie schwierig es ist, sich in der Gegenwart als dem Ganzen dessen, was ist, zu orientieren und ihr im Handeln ›gerecht zu werden‹, auch die Selbstkritik einer realitätsflüchtigen Mentalität. In Goethes Eintrag zum Jahr 1806 in den Tag- und Jahresheften stellt diese sich rückblickend so dar: Die Interims-Hoffnungen mit denen wir uns philisterhaft schon manche Jahre hingehalten, wurden so abermals im gegenwärtigen genährt. Zwar brannte die Welt in allen Ecken und Enden, Europa hatte eine andere Gestalt genommen, zu Lande
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Auch wenn es nicht der Handlung vorausliegt und in Gestalt einer Analysis eingeholt wird, erinnert es strukturell an jenes tragische Ganze, das Ödipus kurz vor seiner Blendung in größtem Schmerz artikuliert, wenn er ausruft: »Iuh! iuh! Das Ganze wäre klar heraus! – « (Sophokles, König Ödipus, übertragen und herausgegeben von Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt am Main 1973, S. 57). Vgl. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion. München 21969 [Poetik und Hermeneutik 1], S. 9–27, hier S. 13. Vgl. Goethe, Vorarbeiten zu einem deutschen Volksbuch [Paralipomena]. WA I, 42.2, S. 420; Die Wahlverwandtschaften II, 16. WA I, 20, S. 385: »er [sc. Eduard] dachte, er überlegte, oder vielmehr, er dachte, er überlegte nicht; er wünschte, er wollte nur. Er mußte sie sehn, sie sprechen. Wozu, warum, was daraus entstehen sollte? davon konnte die Rede nicht sein. Er widerstand nicht, er mußte«.
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und See gingen Städte und Flotten zu Trümmern, aber das mittlere, das nördliche Deutschland genoß noch eines gewissen fieberhaften Friedens, in welchem wir uns einer problematischen Sicherheit hingaben.127
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Tag- und Jahres-Hefte, 1806. WA I, 35, S. 245.
BILD UND WIRKLICHKEIT
»… überall nur eine Natur …« Spinozas Ethik als Schlüssel zu Goethes Wahlverwandtschaften? Birgit Sandkaulen
I. Das einzige Product von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine ›Wahlverwandtschaften‹. Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich geworden; aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre! Vielmehr bin ich der Meinung: je incommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Production, desto besser.1
Nehmen wir einmal an, dass Eckermann dieses Diktum Goethes vom 6. Mai 1827 korrekt übermittelt hat. Einerseits stellt sich dann die Frage, warum Goethe die Wahlverwandtschaften anderswo als sein »bestes Buch«2 bezeichnet hat. Das »beste Buch«, weil »faßlich für den Verstand«? Oder das »beste Buch«, weil es sich doch um eine unfassliche poetische Produktion handelt? Ich lasse dies dahingestellt sein. Denn andererseits sind die Vorzüge dieser Passage nicht zu übersehen. Mit autoritativer Rückendeckung ist demnach zweierlei erlaubt. Erstens darf sich die unmittelbare ästhetische Begeisterung über den Roman in Grenzen halten. Mit Zustimmung des Autors darf man also der Auffassung sein, dass es bessere Bücher als die Wahlverwandtschaften gibt. Auf das Kriterium dafür verweist Goethe selbst: die Inkommensurabilität für den Verstand. So verfasste Bücher erschließen sich nicht erst dann, wenn man sich der Mühe ihrer rationalen Rekonstruktion unterzieht – im Gegenteil: Es ist die anschauliche Stimmigkeit ihrer Darstellung, die für sie einnimmt und überzeugt. Die Sensibilisierung unseres Selbst- und Weltverständnisses geschieht hier im Modus einer ästhetischen Erfahrung sui generis, die zwar die Reflexion engagiert, sich zugleich aber nicht begrifflich fixieren lässt. Mit Kant gesagt, dessen ästheti-
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Goethe, Gespräch mit Eckermann, 6. Mai 1827. In: Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. HA 6: Romane und Novellen 1, S. 626 [Die ›Wahlverwandtschaften‹ im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen]. Zitiert nach Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: Gesammelte Schriften, Band I, 1, hrsg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974, S. 165.
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sche Theorie durch Goethes Diktum merklich hindurch scheint, hat man es dann mit der Darstellung einer »ästhetischen Idee« zu tun: mit einer »Vorstellung der Einbildungskraft« mithin, »die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann«.3 An die Einbildungskraft appelliert Goethes Äußerung über die Wahlverwandtschaften nun aber gerade nicht. Die »durchgreifende Idee«, die dem Werk zugrunde liegt, ist also keine »ästhetische Idee« im soeben umrissenen Sinn. Vielmehr ist sie ein gedankliches Konzept, das rational entziffert werden kann und will. Und das führt mich auf den zweiten Vorzug des von Eckermann überlieferten Worts. Mit Zustimmung des Autors ist es nun erlaubt, ja geradezu geboten, sich mit allem Nachdruck und womöglich sogar durch ein gewisses ästhetisches Missbehagen stimuliert zu fragen, welche Intention diesen Roman führt. Allen dekonstruktivistischen Einwänden gegenüber einer solchen Frage und allen poetologischen Vorbehalten gegenüber dem Versuch, sie auf rationalem, dem Verstand einsichtigen Wege zu beantworten, gräbt Goethe selbst das Wasser ab. »Ich bin überzeugt«, so heißt es bereits am 26. August 1809 in einem Brief an Zelter, »daß Sie der durchsichtige und undurchsichtige Schleier nicht verhindern wird, bis auf die eigentlich intentionierte Gestalt hineinzusehen«.4 Durchsichtige und undurchsichtige Schleier zu heben, ist das Lieblingsgeschäft der Philosophen – und nicht zuletzt darauf wollte ich mit meinen einleitenden Bemerkungen hinaus. Dass eine philosophische Lektüre der Wahlverwandtschaften nicht per se in die Irre führt, zumindest so viel machen Goethes eigene Hinweise deutlich. Allerdings liegt damit die »durchgreifende Idee« des Romans nicht schon am Tage. Es werden einige Schritte nötig sein, um sein »offenbare[s] Geheimnis«, wie Goethe gleichfalls an Zelter schreibt,5 zu entschlüsseln.
II. Dass man der Selbstanzeige Goethes Gewicht beimessen muss, bildet den Einstieg. Schließlich scheint sie – mit Blick auf den »seltsamen Titel« des Buches – einen gewissen Aufschluss über dessen Konzeption zu geben.6 Aber welchen? Dem vordergründigen Anschein zum Trotz ist dies keineswegs auf Anhieb klar. Dabei liegt die Schwierigkeit, auf die ich aufmerksam machen möchte, nicht etwa im »Gleichnis« der Wahlverwandtschaften als solchem oder in der Art und Weise, wie sich der Roman der Ankündigung zufolge dieser »Gleich-
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Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. von Heiner F. Klemme. Hamburg 2006, § 49, B 192f. Goethe, Brief an Zelter, 26. August 1809. In: HA 6, S. 621 [Die ›Wahlverwandtschaften‹ im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen]. Brief an Zelter, 1. Juni 1809. Ebenda, S. 621. Selbstanzeige im Morgenblatt für gebildete Stände, 4. September 1809; alle folgenden Zitate: Ebenda, S. 621.
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nisrede« bedient. Denn dass hier eine Unterscheidung in Frage gestellt werden soll, die wir üblicherweise für ausgemacht halten, versteht sich: die Unterscheidung zwischen den spezifischen Umständen der menschlichen und der natürlichen Welt. Auch wenn die einschlägigen Begriffe hier gar nicht fallen, bedeutet das, den gängigen Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit zu durchbrechen. Wenn die »Naturlehre« das Phänomen chemischer Verbindungen mit dem Bild der »Wahlverwandtschaft« erklärt, gebraucht sie einen Anthropomorphismus, der den determinierten Zusammenhängen der Natur den Anschein der Freiheit verleiht. Und wenn umgekehrt der Roman diese »chemische« Metaphorik in einem »sittlichen Falle […] zu ihrem geistigen Ursprunge« zurückführt, dann zieht er zur Erklärung menschlicher Verhältnisse den Aspekt des Determinismus heran und zeigt, dass und wie dieser Aspekt die hier beanspruchte Freiheit affiziert. Die Trennung zwischen Freiheit und Notwendigkeit zerbricht auf beiden Seiten. So weit ist die in der Ankündigung vermittelte Botschaft deutlich. Worin besteht also die Schwierigkeit des Textes? Sie besteht in der Verführung, das eben Gesagte in den folgenden zentralen Passus hinein fortzuschreiben. Das Motiv, sich der »chemischen Gleichnisrede« zu bedienen, liegt danach nahe, nämlich um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen.
Was bislang nur im Spiegelkabinett der »Wahlverwandtschaften« ins Werk gesetzt war, wird jetzt, so scheint es, in den einheitlichen Rahmen einer Natur gestellt, die die Bereiche der natürlichen und der menschlichen Welt in sich übergreift. Und darauf scheint nun auch zurückzuführen zu sein, dass die üblicherweise getroffene Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Freiheit der Einsicht in die natürliche Bedingtheit menschlichen Handelns weichen muss. Den übergreifenden Gesetzen der einen Natur kann niemand entkommen. Wäre diese verführerische Lesart richtig, dann hätte Goethe, indem er die Notwendigkeit mit dem Attribut der trüben Leidenschaft und die Freiheit mit dem Attribut der heiteren Vernunft versieht, die Problemkonstellation der Wahlverwandtschaften lediglich plastisch ausgeschmückt. Genau das aber leuchtet nicht ein. Wahlfreiheit – und nur sie steckt in den »Wahlverwandtschaften« – kann nicht dasselbe wie heitere Vernunftfreiheit sein, aus dem einfachen Grund, weil sie willkürlich und nicht vernünftig verfährt. Und umgekehrt kann auch die Notwendigkeit natürlicher Determination – und nur sie steckt in den »Wahlverwandtschaften« – nicht dasselbe wie die trübe, leidenschaftliche Notwendigkeit sein, aus dem einfachen Grund, weil es des Anthropomorphismus endgültig zu viel wäre, der chemischen Verbindung als solcher eine affektiv motivierte Verstricktheit zu unterlegen. Mit anderen Worten: Zwischen dem Auftakt in Goethes Selbstanzeige und seinem Fortgang liegt ein gedanklicher Sprung, den Goethe, sieht man nur genau hin, in der kleinen Einfügung des »um so mehr« versteckt. Dass es aber entscheidende Folgen hat, ob man diesen Sprung und ihm zufolge die seman-
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tische Differenz der implizit oder explizit gebrauchten Begriffe von Freiheit und Notwendigkeit beachtet oder nicht, ist unschwer zu sehen. Die Probleme werden nämlich spätestens dann akut, wenn das Personaltableau des Romans mit Goethes Anzeige in Bezug gesetzt werden soll. Gewiss: Wie prädestiniert, die trübe, leidenschaftliche Notwendigkeit zu verkörpern, scheint Ottilie, deren Kopfschmerzen und auffällige Pendelbegabung ihre somnambule Naturgebundenheit belegen. Dass sie zugleich die Rolle der Jungfrau Maria spielt und als »himmlisches Kind«7 zuletzt auch noch wie Jesus persönlich wahre Wunder wirkt, sollte allerdings irritieren. Sieht man indes darüber noch hinweg, werden die Schwierigkeiten auf der Seite der heiteren Vernunftfreiheit umso empfindlicher. Denn wer unter den verbleibenden dreien sollte dafür aufkommen, und sei es um den Preis, dass solche Freiheit unaufhaltsam von leidenschaftlicher Notwendigkeit durchzogen wird? Eduard ganz sicher nicht. Nichts in seinem Verhalten spricht für die souveräne Verfassung heiterer Vernunft, vielmehr spricht alles dafür, dass er die Freiheit in Form der Willkürfreiheit vertritt. Als das »einzige, verzogene Kind reicher Eltern« war er von Kindheit an »nicht gewohnt«, sich »etwas zu versagen«.8 Das kann man nicht überlesen – aber was genau heißt das? Verrät nicht ein solcher Charakter in allen Äußerungen seines Verhaltens – einschließlich seiner hartnäckig verfolgten Liebe zu Ottilie – ein tiefsitzendes Begehren, die Begierde trüb notwendiger Leidenschaftlichkeit mithin? Und was unterscheidet ihn dann definitiv von Ottilie, zumal auch er, nur seitenverkehrt, unter Kopfschmerzen leidet? Es bleiben Charlotte und der Hauptmann: ein vergleichsweise gefasstes Paar vergleichsweise besonnener Menschen. Wenn überhaupt, hätte man ehestens hier die heitere Vernunftfreiheit zu suchen, wie immer sie dann außer Fassung gebracht werden soll. Plausibel ist jedoch auch das nicht. Denn nicht allein würde sich damit der in der Ankündigung des Romans vorgezeichnete Konflikt auf einen Nebenschauplatz konzentrieren, was offenbar ein künstlerischer Missgriff wäre. Vor allem ist nicht zu sehen, was das Verhalten dieser beiden konstitutiv von dem der anderen trennt. Ganz zu schweigen davon, dass Charlotte und der Hauptmann nicht weniger als Eduard Mitglieder einer unter ethischen Aspekten höchst befremdlichen, in müßigen Beschäftigungen sich zutiefst langweilenden Adelsgesellschaft sind, geraten ja auch sie in ihre wahlverwandtschaftliche Verstrickung deshalb, weil sie dem Begehren trüber Leidenschaft bestenfalls willkürlich widerstehen und es darum nicht können. Das in besagter Nacht gezeugte Kind bezeugt das im wahrsten Sinn. Worauf ich mit diesen Andeutungen ziele, sollte klar geworden sein. Trägt man dem gedanklichen Sprung in Goethes Ankündigung von Anfang an Rechnung, ist zwar die Intention des Romans noch nicht entziffert. In jedem Fall aber gewinnt sie an Kontur. Festzuhalten ist erstens, dass es einzig und allein die Willkürfreiheit ist, die in die wahlverwandtschaftliche Problemkonstella-
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Die Wahlverwandtschaften II, 15. HA 6, S. 464. Ebenda, I, 2. HA 6, S. 249.
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tion mit eingeht. Demgegenüber wird die Dimension der heiteren Vernunftfreiheit in der Darstellung vollständig ausgespart, was nicht zuletzt die vielbeschworene Figur der »Entsagung« tangiert. Am Maßstab der Vernunftfreiheit gemessen, gewinnt am Ende keine der beteiligten Personen zur Leidenschaft ihres Begehrens Distanz. Dass dies so manche zeitgenössische Bewunderung tragisch kolorierter Tugend übersehen hat,9 ist verwunderlich. Denn mit der fundamentalen Unterscheidung zweier Typen von Freiheit vertritt Goethe ja durchaus keine seltsame Sonderposition, sondern eine Überzeugung, die, wenn auch bei Goethe in einer noch zu besprechenden spezifischen Wendung, philosophischer common sense war und im übrigen auch heute – sieht man von gewissen Verwerfungen in der neurowissenschaftlichen Debatte ab – noch ist. Wenn aber keine der handelnden Personen über diese im ethischen Sinn allein relevante Freiheit aus Vernunft weder am Anfang noch am Ende verfügt, dann bedeutet dies zweitens, dass die wahlverwandtschaftliche Verstrickung aus Freiheit und Notwendigkeit in allen ihren Varianten insgesamt unter das Vorzeichen der trüben, leidenschaftlichen Notwendigkeit fällt. Mit seiner unentwegt zitierten und dabei stets für abwegig erklärten These, dass Goethes Roman »durch und durch materialistisch«, in einer »bösen Lust« befangen sei,10 hat Jacobi dies sehr genau gesehen; und in einem anders gelagerten Zugriff hat auch Benjamin dieses Motiv umkreist, wenn er den in den Wahlverwandtschaften dargestellten moralischen Verfall im Bannkreis einer »mythischen Welt« gelesen hat, deren »Schuldzusammenhang« die Gesetze der natürlichen Welt nicht etwa vollstreckt, sondern sprengt.11 Dass man in solche mythische Tiefen nicht hinabsteigen muss, um die »durchgreifende Idee« des Romans zum Vorschein zu bringen, will ich im Folgenden zeigen. Entscheidend ist dabei jedoch eine Frage im Auge zu behalten, die sich aus dem bisher Gesagten zwanglos ergibt. Wenn es richtig ist, dass der Roman durchgehend nur von der trüben, leidenschaftlichen Notwendigkeit handelt, die heitere Vernunftfreiheit also aus der wahlverwandtschaftlichen Verstrickung der beteiligten Personen ganz herausgehalten wird: Worauf zielt dann Goethes Selbstanzeige mit der Behauptung, dass eben diese Notwendigkeit sich durch das Reich der heiteren Vernunftfreiheit zieht? Die Frage deutet darauf hin, dass es unerlässlich ist, weil es offenkundig zum Konzept des Romans gehört, zwei Ebenen, nämlich den Inhalt der Geschichte und deren Darstellung zu unterscheiden, wobei die Kunst der Darstellung darin besteht, diesen Unterschied bis zur Unkenntlichkeit zu verwirren. Vor diesem Hintergrund kann ich die These meines Beitrags formulieren: Sowohl die komplexe Anlage des Romans als auch das Motiv, so zu verfahren, lassen sich erfolgreich nur dann entschlüsseln, wenn man die Wahlverwandtschaften vor der Folie Spinozas liest.
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Vgl. v.a. die Rezension von Rudolf Abeken, Über Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: HA 6, S. 632 [Die ›Wahlverwandtschaften‹ im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen]. Jacobi an Köppen, 12. Januar 1810. Ebenda, S. 645. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 2), S. 138f.
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III. Die tiefe Faszination, die Spinoza und dessen Ethica ordine geometrico demonstrata benanntes Hauptwerk zeitlebens auf Goethe ausgeübt hat, ist bekannt und durch die Äußerungen in Dichtung und Wahrheit hinlänglich belegt. Wer »so entschieden auf mich wirkte« und »auf meine ganze Denkweise so großen Einfluß haben sollte, war Spinoza«.12 Im Zeichen Spinozas, dessen Philosophie bereits in den siebziger Jahren die Freundschaft zwischen Goethe und Jacobi begründet hat, steht dann in der Tat die spätere Naturphilosophie, wie die im Umkreis der Spinoza-Debatte der achtziger Jahre von Goethe verfasste Studie nach Spinoza exemplarisch zeigt.13 Durchgehend unter dem Eindruck Spinozas steht aber vor allem auch der Versuch, dem eigenen Leben Stabilität und Orientierung zu verschaffen. »Beruhigung meiner Leidenschaften«, die »große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt«14 – das ist die »Friedensluft«, die Goethe bei seiner wiederholten Lektüre der Ethik atmet.15 Interessanterweise, der einschlägige Teil von Dichtung und Wahrheit stammt von 1813, fällt hier sogar das Wort einer »notwendigen Wahlverwandtschaft«, die sich über die Gegensätze hinweg manifestiert: Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sittlichen Gegenständen nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen Verehrer.16
Eine einzigartige Wahlverwandtschaft also, deren Beschreibung im gegenwärtigen Zusammenhang aus zwei Gründen aufhorchen lässt. Erstens erinnert die Anziehungskraft im Kontrast von »Leidenschaft« und »Ruhe« nicht zufällig an die soeben besprochene Konstellation, diejenige also von trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit und heiterer Vernunftfreiheit. Demnach wären im Blick auf den Roman – den unterschiedlichen Ebenen von Inhalt und Darstellung entsprechend – nicht nur zwei Typen von Freiheit, sondern auch zweierlei Typen von Wahlverwandtschaft zu unterscheiden, was immer dies im Weiteren heißen wird. Nicht weniger wichtig ist zweitens, dass Goethes Faszination sich über den Inhalt von Spinozas Ethik hinaus auch auf die geometrische Darstellungsform erstreckt. Anstatt diese Form in der Anwendung auf »sittliche Gegenstände« für abwegig und im Verhältnis zu deren poetischer Darstellung für völlig befremdlich zu halten, bewundert Goethe eine Methode, die in der Abfolge von Definitionen, Axiomen, Propositionen und Demonstrationen eine der
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Goethe, Dichtung und Wahrheit. HA 10, S. 35. Vgl. hierzu mit Rekurs auf Spinozas scientia intuitiva: Eckart Förster, Die Bedeutung von §§ 76, 77 der ›Kritik der Urteilskraft‹ für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie. Teil I. In: Kant und der Frühidealismus, hrsg. von Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007, S. 59–80. Goethe, Dichtung und Wahrheit (Anm. 12), S. 35. Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 35.
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Mathematik äquivalente Wahrheit und Gewissheit beansprucht und diesem Anspruch gemäß, wie Spinoza explizit vermerkt, »menschliche Handlungen und Triebe geradeso« betrachtet, »als ginge es um Linien, Flächen oder Körper«.17 Warum dieser Punkt mindestens so wichtig ist wie die inhaltliche Seite der Sache, liegt auf der Hand. Denn damit steht dem Vorhaben, die Wahlverwandtschaften philosophisch, nämlich im Geist der spinozanischen Philosophie zu entziffern, definitiv nichts mehr im Wege. Der potentielle Einwand, dass ein geometrisch verfasstes Philosophiekonzept unmöglich etwas mit der literarischen Gattung des Romans zu tun haben kann, ist mit Goethes emphatischem – wohlgemerkt nach den Wahlverwandtschaften formuliertem – Bekenntnis nicht allein entkräftet; mehr noch kann man in Spinozas mathematischer Versuchsanordnung geradezu die methodische Vorlage sehen, an der Goethes Roman sich seinerseits im Einsatz poetischer Mittel orientiert.18 In Erinnerung an die kontrastive Anziehung von »Leidenschaft« und »Ruhe« füge ich allerdings hinzu, dass es auf der Ebene der Darstellung am Ende auf eine wesentliche Differenz ankommen wird. Eine Kopie Spinozas liefert Goethe nicht.
IV. Keine Kopie, aber eine bemerkenswerte Adaption: Um sich hier zunächst einmal eine grundsätzliche Orientierung zu verschaffen, ist ein weiterer Text mit einzubeziehen, auf den in der Literatur auch schon hingewiesen worden ist.19 Es handelt sich um den Beitrag Herders zur bereits erwähnten Spinoza-Debatte unter dem Titel Gott (1787/1800). Anliegen dieses Textes, der seinerzeit die begeisterte Zustimmung Goethes fand, ist eine Verteidigung Spinozas angesichts der von Jacobi erhobenen Einwände, womit die inzwischen vielfach berührte Problematik von Freiheit und Notwendigkeit erneut ins Zentrum rückt. Hatte Jacobi die spinozanische Fassung und Auflösung dieses Problems im Vorwurf des Fatalismus zugespitzt,20 so will demgegenüber Herder zeigen, dass Spi-
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Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, lateinisch-deutsche Ausgabe, hrsg. von Wolfgang Bartuschat. Hamburg 1999, III, praefatio. In formaler Hinsicht gehört dazu auch der streng symmetrische Aufbau aus zwei Teilen mit je 18 Kapiteln. Am Rande ist überdies zu notieren, dass Goethe während der Abfassung der Wahlverwandtschaften den betreffenden Teil von Johann Gottlieb Buhles Geschichte der Philosophie konsultiert hat. Vgl. Hans-Jürgen Schings, Willkür und Notwendigkeit – Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Kritik an der Romantik. In: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft 1989 (1990), S. 165–181, sowie Gundula Erhardt, »Wahl-Anziehung« – Herders Spinoza-Schrift und Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 77–95. Beide Beiträge verfehlen jedoch im Verweis auf Herder den springenden Punkt. Nicht überzeugend sind daher auch die Rückschlüsse, die hier hinsichtlich der Bedeutung Spinozas für die Wahlverwandtschaften gezogen werden, wobei die These von Schings, dass es sich bei Goethes Roman um eine »Kritik der Romantik« handle, besonders abwegig erscheint. Vgl. dazu Birgit Sandkaulen, Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000.
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nozas Ethik keinen fatalistischen Determinismus, sondern recht verstanden die Vision einer durch »Güte und Weisheit« geregelten »heiligen Notwendigkeit« vertritt.21 Ob Herders Argumentation überzeugend ist oder nicht, lasse ich zunächst ganz außer Betracht. Wichtig ist hier, dass sich diese sogenannte »heilige Notwendigkeit« Herder zufolge in Form von Naturgesetzen manifestiert, in denen sich die eine göttliche Natur – Spinozas natura naturans also – in allen ihren endlichen Kreaturen – der natura naturata – zum Ausdruck bringt und dabei natürliche wie menschlich-moralische Verhältnisse aufs Schönste übergreift.22 Den konkretesten Niederschlag solcher Gesetze verzeichnet Herder schließlich in folgenden drei: 1. Beharrung, d.i. innerer Bestand jeglichen Wesens. 2. Vereinigung mit Gleichartigem und vom Entgegengesetzten Scheidung. 3. Verähnlichung mit sich und Abdruck seines Wesens in einem andern.23
Die Brücke zu den Wahlverwandtschaften lässt sich von hier aus mühelos spannen. Tatsächlich sieht es so aus, als hätten Eduard und der Hauptmann den Text Herders fleißig studiert, bevor sie Charlotte das Phänomen der Wahlverwandtschaft erklären.24 Besagte Gesetze als auch die von Herder ins Spiel gebrachten Beispiele kehren gesprächsweise wieder, und auffällig ist nicht zuletzt, dass bereits bei Herder im Verweis auf das Verfahren der Chemiker der Ausdruck »Wahl-Anziehung« fällt.25 Der spinozanische Hintergrund des Romans, zumindest in der Form, die Herder den Theoremen Spinozas gegeben hat, scheint in dieser Parallele der Texte durchaus auf. Die Pointe, um die es mir geht, liegt hierin jedoch gerade nicht. Der springende Punkt liegt mit anderen Worten nicht in dem, was Goethe von Herder offenkundig in das wahlverwandtschaftliche Gespräch und die weitere Handlung des Romans übernimmt, sondern in dem, was er weglässt: nämlich nicht mehr und nicht weniger als den ganzen metaphysischen Rahmen, der Herders Verteidigung Spinozas trägt. Von einer »heiligen«, durch »Weisheit und Güte« geregelten Notwendigkeit der Natur fehlt bei Goethe jede Spur – einen einzigen Hinweis ausgenommen, von dem noch die Rede sein wird. Diese Leerstelle entspricht der Verkehrung, von der der Roman handelt. Wo die metaphysische Garantie einer aufs Schönste eingerichteten Ordnung fehlt, übernimmt die Notwendigkeit trüber Leidenschaft das Regime. Genau darin besteht die Versuchsanordnung des Romans. Gegenüber einem noch um 1800 intakten Optimismus, den Herder mit Zustimmung Goethes umstandslos aus Spinoza bezog, ja geradezu auf Spinoza projizierte, markieren die Wahlverwandtschaften wenige Jahre später einen empfindlichen Bruch. 21
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Johann Gottfried Herder, Gott. Einige Gespräche. In: Werke in zehn Bänden, Band 4. Hrsg. von Jürgen Brummack / Martin Bollacher. Frankfurt am Main 1994, S. 766ff.; vgl. hier auch schon die Abgrenzung gegenüber der »Willkür«. Ebenda, S. 771. Ebenda, S. 779. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 4. HA 6, S. 270ff. Herder, Gott (Anm. 21), S. 783.
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Jetzt geht es darum, die katastrophalen Verstrickungen zu thematisieren, in die die besagten Naturgesetze der Beharrung, der Vereinigung und der Verähnlichung führen, wenn man sie nicht länger im Licht einer »Theodizee der weisen Notwendigkeit« interpretiert, die Herder in eher leibnizianischem denn spinozanischem Geist über Natur und Moral versöhnlich ausgebreitet sah.26 Es spricht nichts dagegen, diesen Bruch mit einer gegenüber 1800 deutlich veränderten Welt und Weltwahrnehmung in Verbindung zu bringen. Dass der Roman den endgültigen Untergang des Alten Reichs voraussetzt und reflektiert, wird ja immer wieder als einer seiner Motivstränge vermerkt. Indessen werde ich diesen Punkt hier nicht weiter verfolgen. Indem er allzu schnell die Assoziation einer tragischen Verdüsterung aufkommen lässt, gerät zugleich aus dem Blick, dass es bereits um 1800 nicht den geringsten Grund dafür gab, im Namen Spinozas eine »Theodizee der weisen Notwendigkeit« zu beschwören. Immer schon, von den jeweiligen Weltzuständen ganz abgesehen also, war dies eine völlig überzuckerte Lesart der Ethik, die Goethe jetzt endlich korrigiert.
V. Der Bruch mit dem naiven Optimismus, den die Wahlverwandtschaften inszenieren, führt vor diesem Hintergrund somit nicht etwa aus Spinoza, sondern aus einem zu Unrecht kultivierten Fehlverständnis seines philosophischen Entwurfs heraus. Umgekehrt gesagt, gelangt man jetzt eigentlich erst in die Ethik hinein: in genau das Treibhaus schwüler Affekte, das Spinoza geometrisch ausgeleuchtet hat, so als hätte man es mit »Linien, Flächen oder Körpern« zu tun. Davon ist im folgenden auszugehen. Und wenn auch noch nicht die ganze »durchgreifende Idee« des Romans, so gerät damit sehr wohl ein wesentlicher Teil dieser Idee ins Visier, sofern er den Inhalt der Geschichte, die wahlverwandtschaftliche Verstrickung der Protagonisten, betrifft. Dass hier keinerlei Freiheit herrscht, vielmehr die trübe leidenschaftliche Notwendigkeit regiert, hatte ich betont. Zu ergänzen ist jetzt, dass dem – in einer kongenialen Übersetzung Spinozas in die literarische Form des Romans – diejenige Einstellung entspricht, die Spinoza als die Herrschaft der inadäquaten Erkenntnis, als das Regime der imaginatio, identifiziert. Um keinen falschen Assoziationen Vorschub zu leisten, empfiehlt es sich, es bei diesem Ausdruck imaginatio zu belassen. Denn gemeint ist hier nicht das spezifische Vermögen der Einbildungskraft oder Phantasie, dem man kognitiv oder ästhetisch eine wohlbestimmte Funktion im Prozess der Erkenntnis zuweisen kann. Mit einer solchen Auffassung befindet man sich, wie eingangs gesehen, auf dem Boden Kants. Was demgegenüber Spinoza im Auge hat, ist kein funktionaler Teil, sondern eine eigene, in sich geschlossene Gestalt der Erkenntnis, die epistemisch auf der untersten Stufe rangiert. Von den höheren Stufen der rationalen und darauf aufbauend der intuitiven Erkenntnis unter-
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Ebenda, S. 792.
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scheidet sich die imaginatio darin, dass sie ein durchgehend verzerrtes Bild sowohl von der Welt als auch vom eigenen Selbst vermittelt. Wer in der Einstellung der imaginatio befangen ist, weiß demnach von sich selbst und seiner Umwelt im strengen Sinne nichts. Was er dafür hält, einschließlich der Zeichen und Begriffe, die er imaginativ erzeugt, sind perspektivisch bedingte, dem jeweiligen Erfahrungskontext geschuldete konfuse Überzeugungen, die Goethe treffend »trübe« nennt. Das Drama dieser imaginativen Selbst- und Weltwahrnehmung kommt vollends aber erst dann in den Blick, wenn man nicht nur hinzufügt, dass es sich dabei Spinoza zufolge um den Regelfall – und nicht etwa um eine pathologische Deformation – der menschlichen Erkenntnis handelt, woraus folgt, dass bereits die Eroberung einer rational verfassten Einsicht in die Wirklichkeit die Leistung einer eigenen Anstrengung verlangt. Hinzuzufügen ist darüber hinaus vor allem, dass Spinoza grundsätzlich nicht zwischen Erkennen und Handeln trennt. Erkenntnisformen strukturieren Handlungsmuster, deren basaler, durch Freude oder Trauer, durch Lust oder Schmerz affizierter Impetus im Streben nach Selbsterhaltung – dem Herderschen Beharrungsgesetz – liegt. Unter Bedingungen der imaginatio bilden wir uns zwar ein, die freie Ursache unserer Handlungen zu sein, so wie wir uns ja auch einbilden, unsere Überzeugungen entsprächen der Wahrheit. Tatsächlich aber sind wir notwendig determiniert: Als Spielball der Affekte realisieren wir den Trieb zur Selbsterhaltung nicht aus eigener Kraft, sondern re-agieren vielmehr nur. Imaginativ strukturierte Handlungsmuster sind in Wahrheit affektiv gesteuerte Muster der Passivität, des Leidens, der Leidenschaft, wie Goethe wiederum völlig richtig sieht. »Von menschlicher Knechtschaft oder von den Kräften der Affekte«: so lautet die Überschrift über die Welt der imaginatio, die Spinoza en détail analysiert.27 Deren perfektes Abbild zeigt die Welt der Wahlverwandtschaften, mit dem einzigen, jedoch erheblichen Unterschied, dass Spinozas Entwurf – in Gestalt der erwähnten höheren Stufen der Erkenntnis – einen ethischen Ausweg in die Freiheit eröffnet, um den Goethe zwar sehr wohl weiß. Das zeigt nicht allein der von ihm treffend gewählte Ausdruck »Vernunftfreiheit«, sondern auch die Beifügung ihrer »heiteren« Tönung, die die These Spinozas, dass der Übergang zu Vernunft und Freiheit mit dem Gewinn aktiver Freude einhergeht, plastisch übersetzt. Worum aber Goethe seinerseits weiß, genau das bleibt den Protagonisten des Romans versagt. Sie sind und bleiben im Bann der imaginatio gefangen. Und dabei brauche ich nun gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, diese imaginativ verstrickte Welt, deren undurchschauter Zusammenhang von Determination und Willkür sich wie bei Spinoza in der trüben Überblendung von Notwendigkeit und Zufälligkeit zeigt, in allen ihren Varianten erschöpfend darzutun. Denn offenbar hat Goethe in jede Seite, jeden Satz und jedes Wort, und vielleicht sogar noch in die Kommata dieser Geschichte die Phantasmen
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Die Analyse umfasst in der Ethik die Teile III (»Von dem Ursprung und der Natur der Affekte«) und IV (»Von menschlicher Knechtschaft oder von den Kräften der Affekte«).
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der imaginatio eingeschrieben, auf deren Basis sich dann auch ambitionierte, aber letztlich nicht ins Zentrum vorstoßende Deutungen wie etwa die, dass Thema des Romans sei nicht die »Erkenntnis des Mythos«, sondern eine »Mythologie der Erkenntnis«, allererst entfalten können.28 Einige Stichworte müssen hier zur Verdeutlichung genügen, wobei das früher schon erwähnte Kind Otto wohl den drastischsten Beleg für die imaginativ erzeugte Unordnung liefert. Dass leidenschaftlich affizierte Imaginationen nicht nur in Köpfen und Körpern spuken, sondern die verzerrte Wirklichkeit dieser Welt bestimmen, inkarniert sich förmlich in diesem in »doppelte[m] Ehebruch durch Phantasie«29 gezeugten Wesen, das Ottilie unter wiederum sehr seltsamen Umständen eher zufällig als situativ einsichtig ins Wasser fallen lässt. Zu den drastischen Varianten der imaginatio ist dann zweifelsohne auch die andächtige Inszenierung Ottilies als Jungfrau Maria zu zählen, bis hin zu ihrer alle Naturgesetze durchbrechenden Wundertat, als aufgebahrte Leiche die an allen Gliedern zerschmetterte Nanny durch schlichte Berührung zurück ins Leben zu bringen.30 Dass Goethe solche Grässlichkeiten erzählt, als wären sie wahr wie die Legenden der Heiligen, ist unter dem Aspekt der imaginatio konsequent: Hier ist derlei wahr. So wahr wie der Aberglaube, mit dem Eduard an seinem zeichenhaft aufgeladenen Trinkglas hängt. Ich lasse es dabei bewenden, denn interessanter als das sind die subtileren Formen imaginativer Verstrickung, die man, hat man einmal das Muster gesehen, auf Schritt und Tritt entdecken kann. Die eigentümlich sterile Atmosphäre, die über dem Ganzen hängt, gibt die Grundstruktur vor. Denn in der Tat ist die verzerrte Welt der imaginatio, die Goethe aus Spinozas Ethik in seinen Roman transferiert, eine Welt der Oberfläche, die keine Tiefendimension, keine innere Dynamik gewinnt. Alle sind unentwegt beschäftigt, als handelnde Personen jedoch gänzlich abwesend. Sie sprechen von Liebe und lassen die einfachsten Gesten der Liebe vermissen. Ihr leidenschaftliches Begehren ist zwischen Hoffnung und Verzweiflung zerrissen, aber in entscheidenden Augenblicken agieren sie so, als hätten sie keine Gefühle. Wieso merkt Ottilie nicht, dass sie sich in eine Ehe drängt? Was bewegt den Hauptmann, der in der Aussicht auf eine glänzende Partie umstandslos davonzieht, um seine Ambitionen gleich wieder auf Charlotte zu richten, nachdem sich die andere Sache zerschlagen hat? Und was hat Charlotte mit ihrem Mann Eduard, dem Hauptmann und dem Kind zu tun, wenn sie ihr Begehren, gerade wie die Situation es jeweils nahelegt, mühelos von einem auf den anderen projizieren kann und der Tod des Kindes ihr lediglich bedeutet, sich nicht zu rechter Zeit dem »Schicksal«, wie sie sagt, gefügt zu haben?31
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Waltraud Wiethölter, Legenden. Zur Mythologie von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 1–64, hier S. 63. Auch diese bezeichnende Formulierung stammt bekanntlich von Jacobi: Vgl. HA 6, S. 645 [Die ›Wahlverwandtschaften‹ im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen]. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 18. HA 6, S. 486. Ebenda, II, 14. HA 6, S. 460.
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Und nicht zuletzt: Wieso trägt Eduard seiner so leidenschaftlich geliebten Ottilie im Augenblick der bevorstehenden Entscheidung nicht wenigstens an, ob er ihr und dem Kind im Dunkeln übers Wasser helfen kann? Was immer geschieht, kommt zufällig in Gang, wie auch die wahlverwandtschaftliche Konstellation zwischen den Paaren selber, deren Kern bereits bei Spinoza auf das zufällige, das heißt äußerlich determinierte Zusammentreffen von »Sympathie und Antipathie« hin durchleuchtet wird.32 Und nur darauf, dass das, was den Anschein von willkürlicher Initiative hat, in Wirklichkeit von zufälligen Umständen erzwungen ist, vermag man in dieser imaginativen Welt zu reflektieren. »Indem uns das Leben fortzieht«, sagt etwa bei Gelegenheit Charlotte, glauben wir aus uns selbst zu handeln, unsre Tätigkeit, unsre Vergnügungen zu wählen, aber freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen genötigt sind.33
Ganz bewusst hebe ich diesen Aspekt der Reflexion hier hervor, um noch einmal den Anschein zu zerstreuen, als sei irgendein Mitglied dieser Welt imstande, sich zu dem, was hier geschieht, mit klarem Bewusstsein, mithin frei zu verhalten. Die Welt der imaginatio ist Spinoza zufolge eine Welt der Bilder, der Zeichen und Begriffe. Das schließt die Reflexion auf jeweilig gemachte Erfahrungen nicht aus, sondern ein, bis hin zu universalen und vom Kontext scheinbar ganz abgelösten abstrakten Konzepten. Entscheidend ist jedoch, dass dieser Typ abstrakter Reflexion die imaginäre Oberfläche nicht durchstößt als vielmehr befestigt. Deshalb folgt aus ihr nichts, sie verändert nichts – genausowenig wie die Reihe der Sentenzen, die Ottilie in ihrem Tagebuch notiert. Um so aufschlussreicher ist, in welchem Zusammenhang man schließlich kurz vor Ende der Geschichte auf die einzige Reminiszenz an Herders »Theodizee der weisen Notwendigkeit« trifft. Trotz allem, was geschehen ist, können Eduard und die inzwischen verstummte Ottilie voneinander nicht lassen. Wo immer sie sich im Hause gerade aufhalten – es dauert nicht lange, und sie finden durch eine »unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft« im Gefühl einer »seligen Notwendigkeit« zusammen.34 Und dabei ist ihre Verähnlichung gemäß dem dritten Herderschen Naturgesetz nun dahin gelangt, dass in dergestalt »seliger Notwendigkeit« anstatt zweier Menschen »Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und der Welt« auf dem Sofa sitzt.35 Man erlaube diesen Einschlag von Ironie. Denn offenkundig ist es ja eine Karikatur der von Herder entworfenen »Theodizee«, die Goethe selbst sich hier erlaubt und in der Hervorhebung des Zustands völliger Bewusstlosigkeit auch noch gezielt unterstreicht. Ganz anders als bei Herder bekräftigt diese »selige Notwendigkeit« denn auch nicht die Beharrung im Leben. Vielmehr zieht sie geradenwegs den Tod
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Spinoza, Ethik, III, prop. 15, scholium (Anm. 17). Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 8. HA 6, S. 417. Ebenda, II, 17. HA 6, S. 478. Ebenda.
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der beiden Protagonisten nach sich, in dessen merkwürdigen Umständen man in beiden Fällen wiederum den Bezug auf Spinoza erkennen kann. Weder Ottilie noch Eduard bringen sich um, wie es unter den Bedingungen einer anderen Geschichte durchaus hätte naheliegen können, was jedoch gemäß dem von Spinoza für unhintergehbar erklärten Selbsterhaltungstrieb per se als unmöglich ausgeschlossen ist.36 Allerdings kann dieser Trieb im affektiven Bann der imaginatio so weit – und bei Ottilie bekanntlich je schon – geschwächt worden sein, dass er den andrängenden Ereignissen schlicht erliegt. Im Blick auf die inhaltliche Ebene des Romans bestätigt sich so im Ergebnis, dass weder das Motiv der Entsagung noch das Motiv des Tragischen zu seiner plausiblen Deutung verhelfen. Verfasst wie sie ist, hat die Welt der imaginatio von Hause aus nichts Tragisches an sich, weil sie das hierzu erforderliche Konfliktpotential bewusst divergierender Perspektiven von vornherein gar nicht zum Vorschein, geschweige denn zum Austrag kommen lässt.37 Anstatt die »durchgreifende Idee« des Romans zu erklären, gehören beide im Roman präsentierten Motive zu denjenigen Deutungsmustern, die die imaginatio zu ihrer eigenen Selbstverständigung entwirft – einschließlich der unter »heiteren […] Engelsbildern« verheißenen Auferstehung des toten Liebespaars am jüngsten Tag.38
VI. Je schärfer man aber das ins Auge fasst, umso provozierender ist schlussendlich die Frage, welche Absicht Goethe mit dieser Erzählung imaginativer Verstrickung verfolgt. Das heißt: Genau in dem Maße, wie man die Adaption der Spinozanischen imaginatio als wesentlichen Aspekt der Romanidee rekonstruieren und aus dem imaginativen Strickmuster der Wahlverwandtschaften direkt folgern kann, dass die Deutungshilfe von Entsagung, Tragik und Erlösung nicht trifft, wird die »durchgreifende Idee« des Ganzen zum Problem. Dass sich demgegenüber ein ähnliches Problem bei Spinoza nicht stellt, ist signifikant und für meine abschließenden Überlegungen bedeutsam. Gewiss stößt man auch in Spinozas Entwurf auf Schwierigkeiten zuhauf. Die Frage jedoch, warum er die Welt der imaginatio so eingehend erörtert, kommt einem bei der Lektüre der Ethik ganz sicher nicht in den Sinn. Spinozas Interesse, die »trübe« Verfassung menschlichen Lebens in aller Nüchternheit zu durchleuchten und
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Vgl. Birgit Sandkaulen, Die Macht des Lebens und die Freiheit zum Tod. Spinozas Theorie des Suizids im Problemfeld moderner Subjektivität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), S. 193–207. Schon Benjamin hat das untragische Ende von Ottilie entschieden herausgestellt, und ohne vom Bezug auf Spinozas imaginatio etwas zu ahnen, hat er auch das Motiv des »Scheins« wenigstens im Fall Ottilies nicht übersehen: Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 2), S. 176ff. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 18. HA 6, S. 490.
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auf der Basis dieser Analyse zugleich einen rationalen Ausweg in die Freiheit zu eröffnen, liegt so klar am Tage, wie es bereits der Titel Ethik signalisiert. Anders verhält es sich im Fall der Wahlverwandtschaften. Worin besteht das Interesse dieses Buches? Klar ist nach allem Gesagten nur dies, dass man sich inzwischen auch nicht mehr in die Differenz philosophischer und literarischer Aussagen flüchten und für die Literatur den Überschuss unendlicher Ausdeutbarkeit reklamieren kann. Denn dann handelte es sich wie eingangs vermerkt um die Darstellung einer »ästhetischen Idee« und nicht um ein »offenbares Geheimnis«, das rational zu entschleiern sein soll. Um hier vollends zum Ziel zu kommen, ist deshalb zunächst einmal die Art der Irritation genauer zu bestimmen, die Goethes Roman, anders als Spinozas Ethik, auslöst. Das macht den Wechsel auf die Ebene der Darstellung erforderlich, auf der Goethe es im Unterschied zu Spinoza gezielt darauf anlegt, die Stellungnahme zur Welt der imaginatio ins Zwielicht höchstmöglicher Zweideutigkeit zu ziehen. Auf der einen Seite verlangt die Darstellung dieser Welt Distanz. Bis hin zu der von den Zeitgenossen als »klassisch« wahrgenommenen Form des Romans bedeutet das, dass nur derjenige von den Umständen imaginativer Verstrickung berichten kann, der ihnen zwar nicht als ein gänzlich Fremder begegnet, zugleich aber wesentlich Abstand davon gewonnen hat. Abstand also in Form der heiteren Vernunftfreiheit, aus deren Perspektive die trübe leidenschaftliche Notwendigkeit als das, wie und was sie ist, erscheint. Während die Mitglieder dieser Welt konstitutiv nicht über die Mittel verfügen, sich zu dem, was sie tun und denken, in ein freies Verhältnis zu setzen, setzt die Beschreibung eben dieses Zustands wie bei Spinoza den Maßstab adäquater Einsicht voraus, relativ zu dem die Diagnose seiner defizitären Verfasstheit getroffen werden kann. In diesem Sinne involviert die Darstellung der imaginatio die Stellungnahme der Kritik. Das zu unterstreichen ist ebenso wichtig wie zu betonen, dass ein solcher Typ von Kritik wiederum wie bei Spinoza mit moralisierender Entrüstung nicht verwechselt sein will. Die »Affekte und Handlungen der Menschen« zu begreifen, anstatt sie zu »verdammen und zu verlachen«, nennt Spinoza ausdrücklich als das Motiv dafür, sie »auf geometrische Weise zu behandeln«.39 Kritische Distanz ohne moralisierenden Tadel – zusammen mit dem Ausweg, den Spinoza seinen Lesern weist, indem er ihnen diejenige Perspektive adäquater Einsicht eröffnet, in der er selber durchgehend argumentiert, ergibt dies ein konsistentes Profil, dessen Durchführung im einzelnen viele Fragen aufwirft, dessen Zielstellung im Ganzen aber durchsichtig ist. Goethe hingegen unterläuft dieses Profil. Was also die Wahlverwandtschaften auf der anderen Seite über Spinoza hinausgehend auch charakterisiert, ist nicht allein der bezeichnende Punkt, dass Goethe den rationalen Ausweg in die Freiheit zu einer andächtigen Erlösungslegende umschreibt. Entscheidend ist vor allem, dass der Erzähler der Geschichte aus der Position seiner Überlegenheit heraus mit den dargestellten Figuren und Ereignissen zugleich sichtlich sympathisiert. Kritische Distanz zur Welt der imaginatio und kultivierte Sympathie mit dieser
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Spinoza, Ethik III, praefatio (Anm. 17).
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Welt in einem: Das ist es mithin, was den Roman auf der Ebene der Darstellung ins Zwielicht der Zweideutigkeit zieht und den Leser – anders als den der Spinozanischen Ethik – irritiert und offenbar irritieren soll. Wie im Fall der inhaltlichen Grundstruktur der imaginatio kann ich diesen sympathisierenden Gestus ihrer Darstellung hier auch nur mit wenigen Strichen umreißen. So ist es der Erzähler und nicht eine seiner Figuren, der dem Leser das Außerordentliche der Geschichte mit Nachdruck bedeutet. Banale Verhältnisse gewöhnlicher Menschen quittieren wir mit mitleidigem Lächeln – »mit Ehrfurcht« betrachten wir dagegen »ein Gemüt, in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet worden« ist.40 Und ebenfalls ist es der Erzähler, der seine Figuren großzügig mit Attributen versieht, deren positiver Nimbus auf seltsamste Weise mit deren leidenschaftlich verstrickten Verhaltensweisen kontrastiert. Deshalb erscheint ja die müßige Arbeit im Garten doch so überaus wichtig, Charlottes Auftritt tüchtig und gefasst, der Hauptmann wie ein tapferer Ehrenmann, Eduard liebenswürdig gerade im Furor seiner Liebe und schließlich Ottilie, das »himmlische Kind«, allen Ernstes nicht wie, sondern als eine »Heilige«,41 angesichts von deren Schönheit »die Bäume, die Sträuche ringsumher hätten belebt, mit Augen begabt sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen«.42 Und nicht zuletzt ist auch das auffällige Stilmittel des Tempuswechsels nicht zu übersehen. Immer dann, wenn die Verfasstheit der imaginatio so aufdringlich wird, dass man das Interesse an ihr zu verlieren droht, springt Goethe den Leser aus dem Imperfekt heraus im Präsens förmlich an: Merkst Du wohl, dass hier wirklich etwas »Ungeheures« vor sich geht …?! Was bezweckt Goethe mit diesem Gestus darstellend kultivierter Sympathie, an dem sich der dargestellte Inhalt der imaginatio so merkwürdig bricht? Eben darauf läuft nun nach allem die Frage nach der »durchgreifenden Idee« des Romans hinaus, und im Rückblick auf Goethes Selbstanzeige lässt sie sich jetzt auch hinreichend klar beantworten. »Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit« ziehen sich dieser Ankündigung zufolge »unaufhaltsam« durch das »Reich der heiteren Vernunftfreiheit« hindurch. Mit der Geschichte selbst hat diese Behauptung wie gesehen nichts zu tun, wohl aber, wie sich nun zeigt, mit einer Adresse, die Goethe gleichsam durch die Darstellung der Wahlverwandtschaften hindurch an sich selbst und seine Leser richtet und die nicht zufällig mit den späteren Passagen in Dichtung und Wahrheit korrespondiert. Die Überzeugung, dass es auf die Vernunftfreiheit ankommt, ist der eine Teil dieser Adresse. Der andere Teil besteht darin, nicht diese Überzeugung, aber die Überzeugung von deren erfolgreicher Umsetzung zu unterminieren. Zu begreifen, was es mit der imaginativen Verstrickung leidenschaftlicher Notwendigkeit auf sich hat, heißt also bei Goethe, das Eingeständnis zu formulieren, dass wir – so wie der Erzähler den Figuren seiner Geschichte – den Verführungen der Welt der imaginatio erliegen. Wir wissen es besser, aber
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 3. HA 6, S. 371; vgl. auch ebenda, II, 15. S. 464. Ebenda, II, 18. HA 6, S. 490. Ebenda, II, 13. HA 6, S. 454.
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wir handeln nicht so, und kleiden diesen kritischen Befund zu Recht in die darstellend erzeugte Sympathie mit einem »ahnungsvollen Verhängnis«.43 Zu Recht deshalb, weil wir damit ja in Wahrheit realisieren, dass nicht etwa die natürliche Welt die moralische, sondern die eine, beide Welten in sich übergreifende göttliche Natur unser Handeln bestimmt. Ob diese Botschaft beim Leser ankommt, ob er sie also einsichtig findet oder nicht, ob er sie über der Lektüre der Wahlverwandtschaften für sich verifizieren kann oder nicht, muss jeder selbst nach eigenem Urteil und Geschmack an den Verhältnissen der imaginatio entscheiden. Darüber kann auch Goethe nichts mehr befinden, wie die Palette völlig divergierender Reaktionen auf seinen Roman demonstriert. Eins ist allerdings gewiss: Die Suggestion, es lasse sich eine solche Ermäßigung der Ansprüche der Vernunftfreiheit insgesamt noch einmal mit Spinoza begründen, der selbstverständlich hinter der Rede von der einen Natur steckt, ist eine wohlfeile Täuschung. Darauf bezieht sich denn auch das Fragezeichen im Untertitel meines Beitrags. Den Schlüssel zu Goethes Wahlverwandtschaften liefert Spinozas Ethik wie gesehen wirklich. Aber wo er sich vollends im Schloss herumdrehen müsste, da passt er nicht mehr. Herders überzuckerte Theodizee aufs Schönste eingerichteter Ordnung hat Goethe in engster Anlehnung an Spinoza in die Geschichte »menschlicher Knechtschaft« transformiert. Wie aus der Ankündigung des Romans hervorgeht, bleibt dabei jedoch das Theodizee-Modell als solches nach wie vor intakt, indem es jetzt der zweideutig, man könnte auch sagen »trübe« inszenierten Rechtfertigung imaginativer Verführungen dient.44 Im Kontrast dazu ist zwar auch Spinoza durchaus nicht der Ansicht, dass der Gewinn adäquater Einsicht die Leidenschaft der Affekte je ganz überwinden kann. Jedoch lässt er nicht nur keine Sympathie mit der verzerrten Welt der imaginatio erkennen. Entscheidend ist darüber hinaus, dass er die auch aus der Vernunftfreiheit nie gänzlich zu tilgende imaginative Affektion nicht etwa der einen unendlichen Natur, sondern vielmehr dem Faktum unserer Endlichkeit zurechnet, das unser Vermögen zur Selbsterhaltung ohnehin, wie auch das Vermögen zu vernünftiger Selbsterhaltung im Besonderen, unvermeidlich begrenzt. Gerade weil dies so ist, ist es aber auch Spinoza zufolge so dringend, ein bewusstes Verhältnis zur Endlichkeit unserer Existenz so weit wie irgend möglich zu gewinnen und ethisch adäquat zu gestalten, anstatt sie wie Goethe in der bizarren Form wahlverwandtschaftlichen Begehrens imaginativ zu vollstrecken. Ob Goethe diesen trüben Fleck seiner Inszenierung in Wahrheit durchschaut hat oder nicht, vermag ich nicht zu entscheiden. Sofern er es für wichtig hält, die Botschaft seines Romans auf eine spinozanisch unterlegte Theodizee der »einen Natur« zu stützen, zielt er jedenfalls ins Leere.
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Ebenda, II, 15. HA 6, S. 464. Entscheidend ist hier das inzwischen wiederholt zitierte Vorwort zum Teil III der Ethik, aus dem klar hervorgeht, dass Goethe – im Rekurs auf die von Spinoza in diesem Zusammenhang in der Tat noch einmal deutlich exponierte eine göttliche Natur – ontologische Befunde der Substanz mit deren epistemischer Bewältigung aus der Perspektive des endlichen Modus fälschlich identifiziert.
»Ein Zeichen sind wir, deutungslos« Über die Funktion des dekonstruktivistischen Schriftbegriffes für Goethes Wahlverwandtschaften Jan Urbich
I. Vorbemerkung Marlow, der Protagonist in Joseph Conrads Erzählung Heart of darkness, hat auf seiner Reise in die Tiefen des afrikanischen Dschungels, die zugleich eine Reise »in die Nacht der Urzeiten« (»in(to) the night of first ages«1) ist, die »kaum ein Zeichen – und überhaupt keine Erinnerung« (»hardly a sign – and no memories«2) zurückgelassen und doch eine unwiderstehliche Präsenz für ihn gewonnen hat, sein Ziel beinahe erreicht: die Station des Colonels Kurtz. Doch vorher stößt er auf eine verlassene Hütte mitten im Nirgendwo. Das Gebäude präsentiert sich ihm als Ruine aus »unerkennbaren« (»unrecognisable«) Lumpen; an seiner Außenwand ist eine Tafel angebracht, die neben einigen beinahe zusammenhanglosen Worten auch eine »unleserliche« Unterschrift (»signature … illegible«3) zeigt; und im Inneren des Gebäudes findet Marlow ein zerlesenes Buch. Als Marlow dieses Buch durchblättert, stößt er auf eine »erstaunliche« Besonderheit: Auf den Rändern jeder Seite sind mit Bleistift Notizen gemacht, die jedoch unlesbar sind, weil sie in einer Geheimschrift (»cipher«4) abgefasst zu sein scheinen.5 Marlow reflektiert sofort darüber, in der völligen Einsamkeit des Dschungels seine Notizen zugleich festhalten und verbergen zu wollen – vor wem sollte dies hier notwendig sein? Die offen1
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Joseph Conrad, Heart of darkness. Ed. by Robert Kimbrough. Third edition. New York 1988, hier S. 37. Die kurzen Übersetzungen sind von mir. Zitiergrundlage für Goethes Wahlverwandtschaften ist der Band der Frankfurter Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. Hrsg. von Waltraut Wiethölter. Frankfurt am Main 2006 [=Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Band 8], S. 269–531. Conrad, Heart of darkness, S. 37. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 40. »Such a book being there was wonderful enough, but still more astounding were the notes penciled in the margin, and plainly referring to the text. I couldn’t believe my eyes! They were in cipher! Yes, it looked like cipher. Fancy a man lugging with him a book of that description into this nowhere and studying it – and making notes – in cipher at that! It was an extravagant mystery« (ebenda, S. 40).
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sichtliche Absurdität eines solchen Verhaltens ermöglicht eine allegorische Lesart dieser Episode: Conrads meisterhafte Erzählung, ein Kompendium und zugleich ein Abschluss ›klassischen story-tellings‹, an der man lernen kann, wie man zu erzählen hat, auch wenn man das Entscheidende gerade nicht erzählen kann, öffnet die Szenerie der Schrift. Denn sowohl die Trias von Unerkennbarkeit (epistemologische Dimension), Unleserlichkeit (materiale Dimension) und Unlesbarkeit (semantische Dimension) als auch die durch das Paradox der ›Verschlüsselung ohne Leser‹ angedeutete prinzipielle Dimension der Schrift verweisen den Text an poststrukturalistische bzw. (im engeren Sinn) dekonstruktivistische Lesarten, die eben jene theoretisch extrapolierten Charakteristika des immer schon schriftlich imprägnierten Zeichensystems als letzte Aussage jedes avancierten literarischen Kunstwerks begreifen. Conrads Erzählung ist im angelsächsischen Raum wiederholt zum Gegenstand dekonstruktivistischer Untersuchungen geworden. Dies gilt ebenso für ein in seinen verdichteten symbolischen Darstellungszusammenhängen analoges Werk: Goethes Wahlverwandtschaften. Ich will im Folgenden die dekonstruktivistischen ›Lektüren‹ von Goethes Wahlverwandtschaften an zwei prominenten Beispielen (Joseph Hillis Miller, Waltraud Wiethölter) kritisch auf ihre grundsätzliche Plausibilität prüfen. Dabei werde ich versuchen, den Umrissen des Schriftkonzeptes, welches diese Lektüren in Goethes Roman vorbildlich verkörpert finden, eine andere, ebenfalls an Jacques Derridas Schriftbegriff anschließende Bedeutungsperspektive der Schrift entgegenzusetzen. Eine methodologische Vorbemerkung ist in Anbetracht des Themas notwendig. Was ich im Folgenden nicht diskutiere, sondern als völlig berechtigte und aus der Logik poetischer Darstellung sogar folgende Art und Weise des Verstehens literarischer Gebilde voraussetze, ist das Überschreiten ihres historisch begrenzten Wissenshorizontes sowohl in der Methodologie ihrer Aneignung als auch in der Möglichkeit ihrer Erkenntnisgehalte. Literarische Kunstwerke, so meine methodologische wie konzeptionelle Basisannahme, erlauben es sehr wohl, in der Aktualisierung ihrer Sachgehalte den historisch-sozialen wie individuellen Meinungs- und Wissenshorizont ihres Autors semantisch zu übersteigen und damit in ein Verhältnis zur Epoche ihrer Genese wie zur Epoche ihrer Aneignung zu treten. Ihre Souveränität gründet in eben diesem Umstand, ohne damit in die vielbeschworene Beliebigkeit des Bedeutungsgeschehens abzugleiten.6 Setzt man diese methodologische Annahme nicht voraus und begrenzt darüber hinaus alle ›erlaubten‹ semantischen Gehalte eines literarischen Kunstwerks auf den Wissens- und Wertungshorizont des Autors, dann muss man folgerichtig die dekonstruktivistische Herangehensweise überhaupt als gegenstandswidrig ablehnen. Ein anderer, ebenfalls nicht selten vertretener Einwand gegenüber literaturwissenschaftlichen Methoden, die sich einer fachexternen, nicht am literarischen Kunstwerk entwickelten
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Zur Rechtfertigung dieser Annahme vgl. vom Verfasser: »Darstellung hat Theorie«. Das Konzept der ›Darstellung‹ in Walter Benjamins ›Erkenntniskritischer Vorrede‹ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Diss. Jena 2009.
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Theoriebildung verdanken, ist der einer Reduzierung des Kunstwerkes auf die Logik eines Dokumentes. Demnach würden diese Theorien das literarische Werk auf die Funktion eines Theorietests reduzieren, also bloß das in ihm wiederfinden, was sie unabhängig von ihm als Wissensbestände bereits ausgebildet haben, und zur sachbezogenen Erkenntnis des literarischen Gegenstandes dadurch nichts beitragen. Problematisch ist diese Kritik in doppelter Hinsicht: zum einen, weil sie eine ihrerseits stark begründungsbedürftige Unterscheidung von sachangemessenen und sachunangemessenen methodischen Profilen behauptet, die sich alle ihrer Theoretizität nicht entziehen können; es gibt keine untheoretische, d.h. nicht durch einen Theorierahmen grundierte und deshalb a priori ›bessere‹ Herangehensweise an (literarische) Kunstwerke.7 Zum anderen stützt sich diese Kritik auf eine naive Vorstellung von Applikationsprozessen und ignoriert vollständig die konstitutiven und sinneröffnenden Wechselwirkungen, die sich auch in einer ›bloßen‹ Anwendung eines Theoriesets auf einen literarischen Gegenstand ergeben können. Ich habe diese möglichen Bedenken und Einwände kritisch referiert, um damit anzudeuten, dass ich sie prinzipiell für keine geeigneten Kandidaten halte, dekonstruktivistische literaturwissenschaftliche Methodologie von vornherein und prinzipiell von der sinnvollen Arbeit am literarischen Text auszuschließen. Was ich zeigen möchte, ist vielmehr, wie speziell am Gegenstand der Wahlverwandtschaften durch zwei spezielle, wenngleich durchaus paradigmatische dekonstruktivistische Vorgehensweisen Perspektiven zugestellt werden, die m.E. zentral für das Verständnis des Werkes sind. Goethes Roman ist in vielerlei Hinsicht zum Prüfstein dezidiert spät- und postmoderner Theoriebildung geworden, die sich an seiner Symbolkunst, in der man stets die Verwirklichung von Goethes nur aphoristisch formuliertem Symbolkonzept gesehen hat,8 ihrer modernen Vorgeschichte im Medium poetischen Darstellens zu vergewissern sucht. Bekanntlich ist einer der Ursprungsmythen der angloamerikanischen wie der deutschen Traditionslinie dekonstruktivistischer Literaturwissenschaft,9 Walter Benjamins Begriff der Allegorie aus dem Ursprung des deutschen Trauerspiels, gerade aus der Opposition zum
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Vgl. Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt am Main 41999, S. 207: »Kunst ist eine Sache, deren Existenz von Theorien abhängig ist«. Zum Symbolkonzept Goethes aus den Maximen und Reflexionen vgl. überblickshaft Heinz Hamm, Artikel ›Symbol‹. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck u.a. Band 5. Stuttgart, Weimar 2003, S. 805–840, hier S. 815–817, und Tzvetan Todorov, Symboltheorien. Tübingen 1995, S. 196–204. Vgl. Bettine Menke, Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Benjamin. München 1991; Anselm Haverkamp / Bettine Menke, Artikel ›Allegorie‹. In: Ästhetische Grundbegriffe (Anm. 8), Band 1, S. 49–104. Den ›Urtext‹ dazu hat Paul de Man verfasst: The rhetoric of temporality. In: Ders., Blindness and insight. Essays in the rhetoric of contemporary criticism. Second Edition. Minneapolis 1983, S. 187–228. Zur Beziehung de Man – Benjamin vgl. Michael Kahl, Der Begriff der Allegorie in Benjamins Trauerspielbuch und im Werk Paul de Mans. In: Allegorie und Melancholie. Hrsg. von Willem van Reijen. Frankfurt am Main 1992, S. 292–318.
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Goethe’schen Symbolbegriff entstanden und motiviert seine Merkmale, die historisch entlang der Epochengrenze von Barock und ›Weimarer Klassik‹ Kontur gewinnen, beständig aus dieser Abgrenzungsbewegung.10 Darüber hinaus hat Walter Benjamin auch eine in mehrerer Hinsicht epochemachende Interpretation von Goethes Wahlverwandtschaften geliefert, die nicht nur mit Goethes symbolistischen Nachfolgern der George-Schule und ihrem GoetheBild abrechnet. Sie urteilt auch den »Sachgehalt« der Goethe’schen Symbolpraxis, den Benjamin in dessen holistischem Naturbegriff identifiziert und mit eigener Schicksals-, Sünden- und Destruktionstheorie auflädt, zugunsten eines »Wahrheitsgehaltes«11 ab, der den Bewusstseinshorizont des Romans weit hinter sich lässt. Wo dekonstruktivistische Lesarten, die sich an Benjamins heterogene Theoriebildung anschließen, seine wiederkehrende Emphase objektiver »Wahrheit« sonst leicht verschweigen können, dort ziehen diese mit Vorliebe Goethes Roman als Exempel der Inszenierung der Bewegungen von Schriftlichkeit heran, dessen symbolische Textur Benjamin im Namen des Wahrheitsgehaltes gerade zu marginalisieren suchte. Im folgenden Abschnitt versuche ich kurz und knapp die zentralen Thesen der beiden Lektüren von Miller und Wiethölter im Anschluss an Derridas Schriftbegriff vorzustellen.
II. Lektüren der Wahlverwandtschaften (Miller, Wiethölter) J. Hillis Millers und Waltraud Wiethölters Lektüren der Wahlverwandtschaften nähern sich von zwei methodisch komplementären Seiten ihrem Gegenstand. In stereoskopischer Betrachtung zusammengestellt, fügen sie deshalb die verschiedenen Perspektiven des Derridaschen Schriftbegriffes am Text der Wahlverwandtschaften zu einer dekonstruktivistischen Großlektüre zusammen; zugleich bilden sie dabei auch die grundsätzlichen Fluchtpunkte gängiger dekonstruktivistischer Deutungen aus. Joseph Hillis Miller hat seine Interpretation zuerst als Aufsatz12 und dann – wesentlich erweitert und auch geringfügig verändert – im Rahmen seiner Monographie Ariadne’s Thread. Story Lines13 veröffentlicht. Da Thomas Zabka in seiner erhellenden Habilitation Pragmatik der Literaturinterpretation im Rahmen seiner Fallstudie zu den Interpretati-
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Zu Benjamins Allegoriebegriff vgl. Urbich, »Darstellung hat Theorie« (Anm. 6), S. 343–355. Zu Symbol und Allegorie bei Benjamin vgl. konzis auch Erika FischerLichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004, S. 250–255. Zu Symbol und Allegorie in der Goethezeit noch immer treffend: Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 61999, S. 76– 87. Zur Differenz »Sachgehalt« – »Wahrheitsgehalt«: Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem hrsg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Band I.1. Frankfurt am Main 1991, S. 123–201, hier S. 125–127. Joseph Hillis Miller, A »buchstäbliches« Reading of ›The Elective Affinities‹. In: Glyph 6 (1979), S. 1–23. Joseph Hillis Miller, Ariadne’s Thread. Story Lines. New Haven u.a. 1992.
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onsparadigmen von Goethes Roman seit Benjamin ausführlich Millers und etwas kürzer Wiethölters Argumentation referiert14 – freilich ohne beide in einer Typologie dekonstruktivistischer Lektüremöglichkeiten übereinander zu legen –, will ich hier nur den dekonstruktivistischen Grundgedanken markieren. Miller liest den Roman als Allegorie des Zeichenlesens15 bzw. als Allegorie des notwendigen Scheiterns des Zeichenlesens. Die Figuren, ihre Konstellationen und Verhältnisse werden im Licht einer strukturell sprachlich verfassten bzw. sogar schriftlich grundierten Beschaffenheit der (fiktionalen) Welt gedeutet. Die metaphorische Bewegung der chemischen »Gleichnisrede« als Übertragungsbewegung, welche das Strukturprinzip der personalen »Tauschverhältnisse« des Romans abgibt und damit sichtbar macht, dass »human relations […] like the substitutions in metaphorical expressions«16 sind, führe gerade nicht zu einer Bedeutungspräsenz, die auf der Handlungsebene der Selbstvollendung der Figur durch ihre Beziehung zu einer anderen (hypostasiert im Verhältnis Eduard – Ottilie) entspräche. Die uneinlösbare Ideologie des Romans nehme selbst die analogische Struktur einer Metapher an: So wie sich in der metaphorischen Übertragung in ein Anderes, Komplementäres eine bildliche Vervollkommnung eines Signifikats ereigne, so sei es die Idee interpersonaler Sittlichkeit, »dass jeweils eine ›entity‹ durch die Beziehung zu einer anderen vervollkommnet wird bzw. vervollkommnet werden soll«.17 Tatsächlich aber zeige der Roman gerade das Gegenteil und illustriere anhand der Figurenverhältnisse, wie jeder (zeichenhafte) Bezug aufeinander zur Bedeutungsentleerung von Schriftlichkeit bzw. Buchstäblichkeit führe. In ihren zeichenlogischen, metaphorischen Verhältnissen zueinander erfahren sich die Figuren des Romans nicht, wie sie erhofft hatten, als Wege zur Selbstpräsenz, sondern als bedeutungslose Signifikantenbündel, die sich mit zunehmender Annäherung immer stummer und fragwürdiger werden. Zentrales Exempel dafür ist Ottilie, die Miller in ihrer Funktion folgendermaßen charakterisiert: »She is […] the blank, the unapproachable, the zero about which nothing can be said«.18 Als »Abwesenheit von Sinn« verkörpert sie Miller zufolge den »materielle[n] schriftliche[n] Teil des Zeichens«:19 »the mute letter«.20 Millers Wahlverwandtschaften-Exegese versteht den Grundbegriff der Schrift und die Grundbewegung der Materialisierung von Verhältnissen, gemeint als deren Bedeutungsentleerung und Reduzierung auf ihre Buchstäblichkeit, als Schlüssel zum Verständnis des Romans: »Jedes Zeichen verweist auf den generellen Kollaps einer Ratio, für die Schrift einen abwesenden Sinn repräsentiert; je-
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Thomas Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation. Theoretische Grundlagen – kritische Analysen. Tübingen 2005, S. 206–222 (zu Miller) und 254–261 (zu Wiethölter). Miller spricht davon, dass »the whole novel […] an allegory of sign reading« sei (Miller, Ariadne’s Thread (Anm. 13), S. 201). Ebenda, S. 171. Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation (Anm. 14), S. 208. Miller, Ariadne’s Thread (Anm. 13), S. 217. Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation (Anm. 14), S. 213. Miller, Ariadne’s Thread (Anm. 13), S. 217.
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des Zeichen bedeutet die Abwesenheit von Bedeutung überhaupt«.21 Indem den Figuren des Romans die Schriftverfassung ihrer Wirklichkeit ständig im Rücken bleibt, versuchen sie, Miller zufolge, hilflos, sich in sozialen Beziehungsformen einzurichten und wiederzufinden, die jedoch gerade die Funktionsweise buchstäblicher Bedeutungsabweisung an sich haben: Das Geflecht der Verwandtschaften, Analogien, Kontraste und Symbole ist nicht das der einen, sich mit sich selbst im Wechsel zusammenschließenden Natur,22 sondern das Geflecht sich unüberbrückbar voneinander differenzierender und die semantische Fremdheit gerade im gegenseitigen Bezug aufstockender Zeichenkörper. Waltraud Wiethölter schließt inhaltlich prinzipiell an Millers Deutung an, wenn sie den Roman als »Apotheose der Schriftlichkeit«23 bezeichnet. Doch sie gibt ihr zusätzlich eine weitere Wendung, die den Ort, die Funktion und die Reichweite des Schriftkonzeptes betrifft: Wo Miller die Schriftbewegungen als feststellbaren allegorischen Inhalt des Romans selbst nicht noch einmal dekonstruiert, liest Wiethölter die allegorischen Signifikantenketten der Romanhandlung als Darstellungsvollzug, der selbst dem unterliegt, wovon er erzählt. Demgemäß zielt Wiethölters Deutung darauf, den Roman als ein Kreisen um ein »unnennbares« Zentrum zu verstehen, das als Gemeintes ständig »supplementiert«, d.h. erreicht wie aufgeschoben bzw. im Erreichen beständig aufgeschoben wird. Für Miller ist eine Deutung des Romans möglich; es ist eine Deutung des Themas der Bedeutungsleere. Für Wiethölter ist wegen dieses Themas auch keine konsistente, auf eine Letztbedeutung zielende Deutung möglich; der Deutung bleibt – ganz klar im Anschluss an Paul de Man24 – nur die Feststellung ihres Scheiterns. Wiethölter spiegelt also das Scheitern der Verstehensbemühungen bei Miller von der Ebene der Figuren auf die des Interpreten und kommt so einer methodologischen Basisanforderung dekonstruktivistischer Literaturwissenschaft nach.25 Dabei knüpft Wiethölter an Bernhard Buschendorfs mythologische Lesart an, die in einer typologischen Interpretation den Sinn der Wahlverwandtschaften in den mythologischen allegorischen Bedeutungen sieht, mit denen der Text durchgängig überzogen ist und die sich in drei Themenbereiche gliedern: »Tra-
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Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation (Anm. 14), S. 220. Vgl. Goethes Selbstanzeige zu den Wahlverwandtschaften, wo es heißt, dass »doch überall nur eine Natur ist«. (Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. FA I, 8, S. 974). Vgl. auch das Fragment Die Natur, wo es lapidar heißt: »Sie ist alles«. In: Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Band 13: Naturwissenschaftliche Schriften I. München 1998, S. 45–47, hier S. 47. Waltraud Wiethölter, Zur Deutung. In: FA I, 8, S. 984–1017. Für diese kompakte Gesamtdeutung greift Wiethölter auf einen früheren eigenen Aufsatz zurück: Waltraud Wiethölter, Legenden. Zur Mythologie von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 1–64. Vgl. Paul de Man, Allegorien des Lesens. Frankfurt am Main 1988. Die Denkfigur der generellen und absoluten Widerständigkeit poetischer Figuralität gegen den hermeneutischen Begriff hat v.a. Paul de Man akzentuiert: Ders., The resistance to theory. Minneapolis 1986.
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dition der Landschaftsmalerei und des neuzeitlichen Arkadiens« – »Tradition der Saturn- und Melancholievorstellung« – »Neuplatonische[r] Kreislauf der Seele«.26 In diese mythologischen Bezüge reihen sich bei Wiethölter noch die Bezüge auf die Naturphilosophie der Zeit, die Bezüge auf eigene Werke Goethes (v.a. den Werther), die Bezüge auf die hermetische und alchemistische Tradition27 sowie eine ganze Reihe von nicht-flächigen Einzelbezügen auf Mythen, Kunstwerke oder religiöse Topoi ein. Der Roman, so Wiethölter, erschaffe nicht einfach nur eine Reihe von vertikalen Bezügen zwischen Erst- und Zweitbedeutung: Vielmehr sind diese Bezüge untereinander im Gewebe einer schriftartigen Verknüpfung arrangiert und ermöglichen so eine Beweglichkeit in ihrer Anwendung, die das starre Schema allegorischer Verweisung aufbricht. Das Ergebnis dieser Mythenmelange ist jedenfalls kein prinzipielles Konkurrenzverhältnis, sondern eine Art offener nichtlimitierter Materialienbank: ein Verfügungsfonds höchst beweglicher Bedeutungsträger, die nach Belieben und Bedarf zur wechselseitigen Ergänzung kombiniert, angereichert, verschoben, unter Umständen auch einander entgegengesetzt werden können.28
Damit behauptet Wiethölter eine Homologie auch zwischen der thematischen Ebene des Romans und der strukturellen Ebene der Form seiner Zweitbedeutungen. Denn wo die Figuren ihrer Ansicht nach ins Unglück geraten, weil einer zur Unzeit, in ›falscher‹ Gesellschaft oder am ›falschen‹ Ort ein Buch, eine wie immer manifestierte Schrift in die Hand nimmt und sich von seinen eigenen Kurzschlüssen, einer auf Buchstäblichkeit und reduktionistischer Sinnbeherrschung beharrenden Auslegung überrumpeln läßt,29
der Roman also thematisch von der Nichteinsicht der Figuren in die Logik der Schrift beherrscht wird, da kehrt diese Logik in der Bedeutungsstruktur des Romans selbst wieder und setzt ihre Bewegung des unendlichen Spiels ins Recht, die ihr im Roman verwehrt bleibt. Folgerichtig ist die Lesbarkeit des Romans durch die Freisetzung seines Schriftcharakters, der sich als »Konfiguration vergleichbar instabiler Größen […], deren beziehungsvolles Zusammenspiel die Kombinierbarkeit der Referenz- und Identifikationsmöglichkeiten auf nachgerade provozierende Weise«30 steigert, eingeschränkt. Mehr noch: Der Roman perpetuiere den »fundamentalen Schriftcharakter jedwelcher Rede« und die »Erfolglosigkeit eines […] sinnfixierenden Unterfangens«, indem die »destruktiven, die zersetzenden und die zerstörerischen Energien« der Schrift, welche bereits im Roman Motor der Unglückszusammenhänge für die Figuren sind, auch auf der Kommunikationsebene des Textes alle »Fixierungstechniken«31 26
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Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹. Frankfurt am Main 1986, S. 66 bzw. S. 123. Vgl. Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation (Anm. 14), S. 178–206. Vgl. Heinz Schlaffer, Namen und Buchstaben in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der deutschen Jean-Paul-Gesellschaft 7 (1972), S. 84–102. Wiethölter, Zur Deutung (Anm. 23), S. 996. Ebenda, S. 1000. Ebenda, S. 1004. Alle Zitate ebenda, S. 1008.
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hermeneutischer Provenienz unterlaufen. Wiethölter bringt den aus Benjamins Trauerspiel-Buch entnommenen und dekonstruktivistisch vor allem durch Paul de Man überformten Allegoriebegriff ins Spiel, der die semantische Struktur der Wahlverwandtschaften im Ganzen bezeichnen soll. Die allegorische Beziehung der Diskurse des Textes sei so arrangiert, dass diese »in wechselseitig verweisender Verschränkung semantisierbar [sind], ohne daß sich daraus dauerhafte Dominanzen oder verankerungsfähige Sinnzentren entwickeln würden«.32 Der hermeneutische Richtungsvektor dieser allegorischen Formation liegt folglich auf dem »Bruch zwischen Bedeutung und Referenz«, der in jede »Synthesebildung […] ein analytisch nicht wegzudiskutierendes Veto«33 einbringe. Folglich kreise, so Wiethölters abschließende Feststellung, der Roman – und mit ihm seine Deutung – um ein unnennbares und unerreichbares Sinnzentrum, das in den metonymischen Verschiebungen der Schriftbewegung stets und immer wieder aufs Neue verloren gehen würde. Unverkennbar bauen beide Lektüren in unterschiedlicher Weise auf Derridas Begriff der ›écriture‹34 auf und machen ihn zum theoretischen Prätext. Dabei rücken sie jedoch verschiedene Elemente dieses Theoriesettings in den Vordergrund. Miller betont auf der thematischen Ebene seiner Interpretation in der Buchstäblichkeit der Schriftzeichen die gegen fixierte Bedeutung imprägnierte Materialität des Schriftkörpers, an der sich jede Zuweisung eines Sinns, der im Verweis den Bedeutungsträger übersteigt, rhythmisch bricht.35 Wiethölter dagegen rückt den Bewegungscharakter der ›différance‹, den Derrida im Struktur-Aufsatz unter den Spielbegriff gebracht hat, ins Zentrum der Schriftlichkeit des Romans. Das »systematische Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen«,36 das sich in der Struktur der Schriftlichkeit der Sprache als »différance« beständig unendlich differenziert und jede Sinnpräsenz supplementiert, d.h. vertritt und aufschiebt,37 verwirkliche sich in der
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Ebenda, S. 1013. Ebenda, S. 1012. Zu Derridas Schriftbegriff vgl. überblickshaft und konzis Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek 1999, S. 99–123; Georg Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie. München 2002, S. 111–116, und Stephan Mussil, Verstehen in der Literaturwissenschaft. Heidelberg 2001, S. 110–150. Christoph Menke hat diesen Aspekt zu einer ganzen Theorie ästhetischen (Nicht-)Verstehens ausgearbeitet: Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main 1991, S. 63. Derrida entwickelt die unhintergehbare Materialität des Zeichens in der Kritik an der Trennung von Signifikant und Signifikat: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders., Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1976, S. 422–442, hier S. 425f. Jacques Derrida, Semiologie und Grammatologie. In: Ders., Positionen. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien 1986, S. 52–82, hier S. 66. Zu Derridas Begriff des Supplements vgl. Jacques Derrida, Grammatologie. Frankfurt am Main 1983, S. 244–282, bes. S. 249f., sowie Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Ders., Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1976, S. 302–351, hier S. 323.
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Anordnung und wechselseitigen Dynamik der allegorischen Diskurse der Wahlverwandtschaften. Aus der Analyse dieser dekonstruktivistischen Lektüren ergibt sich im Folgenden nicht nur die Frage, ob sie den Befunden des Textes gegenüber angemessen sind: also das Problem der Bewertung der konkreten Beziehung dieses Theoriedesigns zum Kunstwerk. Darüber hinaus stellt sich auch die theorieinterne Frage, ob mit diesen beiden Elementen der Derridasche Schriftbegriff erschöpfend und ausreichend in ein Set von Methodeinstrumenten überführt worden ist. In der Korrelation beider Problemperspektiven ergibt sich möglicherweise die Chance, an die (unleugbare) Bedeutung des Schriftkonzeptes in und für die Wahlverwandtschaften anzuknüpfen, ohne die bloß negativistischen Konsequenzen der dargestellten Lektüren übernehmen zu müssen. Die folgenden Ausführungen können eine solche Analyse nicht selbst vorführen: Sie verstehen sich aber als Landkarte und Wegweiser für eine mögliche, vielleicht auch den Komplexitäten des Textes angemessenere Darstellung seines Bedeutungsgeschehens.
III. » … so glaubte sie es doch immer selbst besser zu verstehen«.38 Die soziale Hermeneutik der Wahlverwandtschaften Gegen die beinahe ausschließliche Negativität der vorgestellten Lektüren will ich im Folgenden eine einzige Beobachtung, die ich aber für entscheidend halte, markieren und kommentieren. Diese Beobachtung steht im Widerspruch zu der beide Lektüren durchziehenden Behauptung, der Roman inszeniere auch auf der thematischen Ebene die unbegrenzte Vieldeutigkeit der Schrift: Das Problem und Unglückspotential der Figuren sei deshalb die Schriftlichkeit ihrer Selbst- und Weltbezüge, mit der sie nicht zurechtkämen. Dagegen kann, so meine Behauptung, von Bedeutungsabwesenheit oder einem Bedeutungsbruch, der sich in jeder sinnproduzierenden Tätigkeit der Figuren gleich mit hervorbringt und ihnen jede handhabbare Bedeutung zwischen den Fingern zerrinnen lässt, auf der Ebene der dargestellten Welt keine Rede sein. Im Gegenteil: Das Kommunikationsverhalten der Figuren zeichnet sich im Übermaß gerade dadurch aus, in Bezug auf sich und ihre Lebenswelt haltbare Deutungen zu produzieren. Das Netz dieser Selbst- und Fremdsemantisierungen nachzuzeichnen, wäre Aufgabe einer größeren Arbeit; dort müsste dann auch geklärt werden, wie diese Deutungen in Bewegungen des Fortschreibens, Überschreibens, Durchstreichens und Neustiftens von Bedeutungsangeboten eingebunden sind und in welchem Verhältnis in ihnen die äußere und die innere Kommunikation der Figuren steht. Wenn diese Deutungsräume auch eine je unterschiedliche Reichweite und Plausibilität für die Figuren untereinander und – gebrochen durch die oft stark wertnehmende Darstellung der Erzählerstimme – für den Leser gewinnen, so steht doch ihre jeweilige Stabilität in den Handlungskontexten,
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 5. FA I, 8, S. 424.
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in denen sie Begründungs- wie auch appellative Funktionen einnehmen, außer Frage. An keiner Stelle im Roman bricht sich eine solche Deutung an sich selbst oder an den Kontexten ihrer Bezugnahme, und selbst dort, wo frühere Deutungen explizit von den Figuren wiederum umgedeutet werden (Eduards Becher mit den Initialen A und O), geschieht dies im Bewusstsein der untergründigen Kontinuität des Bedeutungsraumes, den die Deutung eröffnet hat, und nirgends im Bewusstsein der generellen Unzulänglichkeit von Sinngebungen. Dieses Verhalten umfasst die Figuren der erzählten Welt wie auch die Erzählerfunktion. Die Sozialökonomie der Figuren besteht beinahe primär im zirkulären Tausch von Sinnangeboten, die in ihrer Reichweite von instantanen Deutungen der einzelnen Kommunikationssituation über Deutungen der Zusammenhänge mittel- und langfristiger Handlungszusammenhänge sowie Sinnperspektiven von Selbst- und Fremdwahrnehmungen bis zu prinzipiellen Reflexionen – etwa über das Verhältnis von Mann und Frau oder von Kultur und Natur – reichen. Stets scheint es für die Figuren essentiell zur Handlungsweise in den Situationen ihrer Lebenswelt mit dazuzugehören, reflektiert von diesen zurückzutreten, um Handlungsvollzug und Handlungsbeobachtung ineinander zu schieben und die Ereignisse, in die sie gerade eingebunden sind, ihrerseits wiederum zum bloßen Material ganzer Sinnhorizonte zu machen. In einem weiteren kulturgeschichtlichen Rahmen kennzeichnet dies die Figuren als Teilnehmer an der spätaufklärerischen Reflexionskultur: Angehörige der gebildeten adligen Oberschicht, die nicht »dunkel vor sich hin leben«, sondern »schon […] aufgeklärt sich mehr bewußt sind«.39 Die Protagonisten haben den aufklärerischen Impetus des sapere aude genauso verinnerlicht wie die aufklärerische Kultur der Empfindsamkeit, die sie darin eingeübt hat, ihren Aufmerksamkeitsfokus auf die eigene und die fremde emotive Innerlichkeit auszurichten und zugleich sentimentalisch stets aus dem Abstand ihrer Selbstgefühle und Selbst- und Fremddeutungen heraus zu agieren. Diese hermeneutische Aufbrechung jeder momenthaften Singularität des Augenblicks, der so immer schon in die Erzählungen des eigenen Selbst eingeordnet wird, scheint eine wahrnehmungskonstitutive Funktion zu haben: Die Figuren werden einander ansichtig, d.h. als soziale Körper sichtbar nur im Rahmen ihrer wechselseitigen diskursiven Deutungsgestaltung, die spätestens in Ottiliens Tagebuch isoliert zur Anschauung gelangt. In dieser Perspektive erhält der mythische Subtext, den Buschendorf so intensiv herausgearbeitet hat, eine stützende Funktion. Durch ihn gewinnt ein für den Roman zentrales und omnipräsentes Merkmal von Kultur eine zeitliche Dimension: die unhintergehbare und ursprüngliche Zeichenhaftigkeit aller Gegenstände und Sachverhalte. Der mythische Subtext öffnet die Bedeutungsvektoren der Landschaft, der Kleidung, der Verhaltensweisen, der Physiognomie, der Gedankeninhalte und der Kommunikationsweisen in die Tiefe der kulturellen Erinnerung und stattet sie zusätzlich mit dem hermeneutischen Ballast
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Ebenda, I, 1. FA I, 8, S. 277.
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des »immer schon gelebten Lebens«40 aus. Durch mythische Kontexte vervielfacht der kultürliche Zugriff auf Lebensräume die semantischen Raster, die die Deutungen lebensweltlicher Ereignisse determinieren und eröffnen. Zugleich ist mit den allegorischen mythischen Mehrfachbelichtungen der Handlungsszenarien auf die grundlegende und in meiner Perspektive darstellungsleitende Dialektik verwiesen, welche den hermeneutischen Bemühungen der Figuren zugrunde liegt und deren Problempotential ausmacht: die Gegenstrebigkeit bzw. Widersetzlichkeit vom Modus des Deutungsvollzuges und der Wirkungsmacht des Deutungsproduktes. Zum einen sind die Selbst- und Fremddeutungen der Figuren Ausdruck von deren Souveränität über die Ereignisfolgen und Kausalgeschichten ihrer Lebenswelt. Durch sie manifestieren sie ihre grundsätzliche Freiheit der Aneignung und Gestaltung an sich bloß naturgesetzlich determinierter oder planloser Ereignisse zu verstandenen Sachverhalten. Dieses Aneignungsgeschäft reicht im Raum des Romans von der Kultivierung der Natur mit zeichenhaft besetzten Landschaftsarrangements41 über die Semantisierung der Zeit in der Gedächtnis- und Sinnkultur von Festen42 bis zu metaphysischen und kosmologischen Spekulationen über den Sinn und das Ziel des Weltlaufs. Zum anderen gewinnen die durch Freiheit im sozialen Kommunikationsraum erzeugten Deutungsangebote eine Eigenständigkeit und Macht, die in den Rücken ihrer Erzeuger gelangt. Die durch sie manifestierten, scheinbar schicksalhaften Kausalketten halten sich nicht an die Zwei-Welten-Trennung der dritten kantischen Antinomie,43 sondern brechen in den durch die Freiheit der Sinnperspektive bestimmten Deutungsraum der Subjekte ein und treten ihnen als eine höhere »zweite Natur«44 des Geistes entgegen. Der Roman, so meine These, zeigt nicht die Bedeutungslosigkeit aller Zeichen, aus der die mythische Macht des Schicksals (Miller) erwächst oder die Ungreifbarkeit aller Bedeutungen (Wiethölter). Er führt die fatalen Folgen vor, die sich ergeben, wenn man sich den selbstproduzierten Deutungen der Wirklichkeit überlässt und sich folglich in ihnen und durch sie dort gestaltet findet, wo man selbst Gestaltungsmacht ausüben wollte: Der Roman erzählt davon, wie man in den eigenen Selbst- und Fremdbildern gerade nicht bei sich sein kann. »Das Bewußtsein, mein Lieb-
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Damit ist das Problem des »mythischen Ballasts«, der sich in der »mythischen Wiederkehr« errichtet, angesprochen: Ein »mythisches Leben« findet keine Potenzen des Ent/ Springens aus seinen sich beständig perpetuierenden Bedingungen. Vgl. Jan und Aleida Assmann, Artikel ›Mythos‹. In: Handwörterbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hrsg. von Hubert Cancik u.a. Band 4. Stuttgart 1998, S. 179–200. Vgl. Joachim Ritter, Landschaft. In: Ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt am Main 1974, S. 141–163. Vgl. Gadamers Überlegungen zum Zeitbegriff von »Festen« in: Hans-Georg Gadamer, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart 2000, S. 54–57; den Beitrag von Michael Maurer in diesem Band. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Berlin 21787, B 566–B 569. Vgl. Norbert Rath, Artikel ›Natur, zweite‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel. Band 6. Basel 1984, S. 484–494.
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ster« – so Charlotte gleich im ersten Gespräch zu Eduard – »ist keine hinlängliche Waffe, ja manchmal eine gefährliche, für den der sie führt«.45 Das Deutungsgeschäft der Subjekte, das im Raum der grundsätzlichen Kultürlichkeit von Gegenständen, Sachverhalten und Handlungen aus deren unhintergehbarer bedeutungshaltiger Verweisstruktur resultiert,46 schlägt dort in Natur – also in eine heteronome, quasi-kausalistische Zwangsgewalt – um, wo die selbst produzierten Deutungen des Selbst und des Anderen zu objektiven Zwängen werden: wo sie absolute, d.h. von der weiteren Bearbeitung losgelöste Bilder vom Besonderen wie vom Allgemeinen ins Werk setzen, die nicht mehr nachträgliche Verstehensangebote, sondern vorgängige Daseinsverpflichtungen darstellen. Der Roman ist hier, so scheint es mir, strikt sozialphänomenologisch orientiert: Er versucht nicht zu erklären, warum sich dieser Umschlag von nachträglicher Deutungsfreiheit und vorgängigen Zwangsvorstellungen vollzieht, sondern beobachtet auf genaue Weise, wie Deutungen Sachverhalte schaffen. Das ›soziale Performativ‹ von kulturellen Verstehensmatrizen zeigt sich in Goethes Roman lange vor Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung47 und Heideggers Handlungstheorie des Verstehens (Verstehen sei eine Form des handelnden In-der-Welt-Seins, welches das Dasein als Dasein auszeichnet und in den elementaren und konkreten Vollzugsformen des Menschen in der Welt immer schon vollzogen sei48) von seiner dunklen Seite: als Grund des Ich, aus dem heraus es sich deutend Wirklichkeit erschließt und gerade darin sich zu verfehlen scheint. Die skeptische Sichtung der Gefahren und dialektischen Unschärfen der aufklärerischen, die bürgerliche Lebensweise begründenden Programmatik ideell freier Daseinsverhältnisse,49 die sich im unbedingten Entwurf von Selbst- und Fremdbildern äußert, verbindet Goethes Roman mit zeitgenössischen frühromantischen bzw. idealistischen Ein45 46
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. FA I, 8, S. 277. »Die gegenwärtigen Tendenzen der Semiologie gehen freilich dahin, alle Aspekte der Kultur und des sozialen Lebens als Zeichen zu begreifen und gerade die Gegenstände mit einzuschließen« (Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt am Main 1977, S. 42f.). Dazu Roland Barthes: »Sobald es eine Gesellschaft gibt, wird jeder Gebrauch zum Zeichen dieses Gebrauchs« (Roland Barthes, Elemente der Semiologie. Frankfurt am Main 21981, S. 36). Diese Analysen schließen alle unmittelbar oder mittelbar an Heideggers innere Unterscheidung der »Verweisung als Dienlichkeit und Verweisung als Zeigen« an (Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 182001, S. 78 [§17]). Wo ein Seiendes als Zeichen mit dem »Charakter des Um-zu« auf etwas Anderes (Signifikat) verweist, bezieht es sich in der Perspektive der »Dienlichkeit« auf seine »Zeugverfassung« und konstituiert ein Verweisen, das ihm in der »ontologisch-kategoriale[n] Bestimmtheit des Zeugs als Zeug« (alle Zitate ebenda) zukommt: Der Hammer (Heideggers Beispiel) verweist stets wesentlich auch auf seinen Funktionsumfang. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. In: Ders., Werkausgabe, Band 1. Frankfurt am Main 1989, S. 225–619, hier S. 262 [43]: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache«. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit § 31 (Anm. 46), S. 142–148. Charlotte äußert sich so programmatisch in einem Gespräch mit dem Gehilfen: »Niemand glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freien Lande ähnlich sieht; an Kunst, an Zwang soll nichts erinnern, wir wollen völlig frei und unbedingt Atem schöpfen« (Die Wahlverwandtschaften II, 8. FA I, 8, S. 454).
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sprüchen, wie sie von Friedrich Schlegel oder Friedrich Hölderlin vorgetragen wurden und die gegen die Verdrängung der dezentrischen Kräfte und Mächte im Subjekt dessen beständiges Anderswerden hervorheben: »Wir sind nur ein Stück von uns selbst«.50 Ich will im Folgenden diese Sozialphänomenologie hermeneutischer Performanz in aller Kürze, exemplarisch und mehr als reihenden Befund denn als weitergehende Explikation aufzeigen. Gerade von der Figur Eduards gehen in dieser Hinsicht zwei für den Roman konstitutive Bedeutungsfelder aus. Das erste gewinnt sogleich im ersten Kapitel des Ersten Teils thematische Gestalt, wenn der Roman die umfangreichen Kultivierungsmaßnahmen der Natur hin zur Landschaft vorführt und den beherrschenden Zweck dieses Umbaus der natürlichen Raum- und Wachstumsverhältnisse in aisthetisch-ästhetischen Sensationen fasst. Die Natur unterliegt dabei einer doppelten Bearbeitung. Denn die materielle Umformung ist auf eine produktive imaginäre Aneignung hin ausgerichtet, die den Landschaftsraum zum Objekt eines visuell organisierten Selbstgenusses51 der Figuren macht: An der Türe empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Türe und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte. Er freute sich daran […].52
Diese sowohl verdinglichende als auch aneignende Funktion von »Blicken«,53 deren imaginäre Zudringlichkeit dem Anderen gerade nicht auf Basis einer primären Anerkennung54 begegnet, zieht sich durch den gesamten Roman und umfasst alle Zentralfiguren. Im Blick auf den anderen wird das Deutungsmonopol des Selbst körperlich initiiert und freigesetzt. Der stets mit Affekten
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Friedrich Schlegel, Philosophische Vorlesungen (1800–1807). In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler u.a. Band 12. Hrsg. von Jean-Jacques Anstett. Darmstadt 1964, S. 392. Vgl. zu dieser subjekttheoretischen Denkfigur in der Goethezeit Urbich, »Darstellung hat Theorie« (Anm. 6), S. 52 und 90. Vgl. Kants formalistische Formulierung des Geschmacksurteils, »wodurch gar nichts im Objekte bezeichnet wird, sondern in [dem] das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt« (Kant, Kritik der Urteilskraft, § 1). Petra Bahr hat diesen Selbstbezug im Schönen bei Kant aufklärungsgeschichtlich ausgeführt (Petra Bahr, Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei Baumgarten und Kant. Tübingen 2004, z.B. S. 273). Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. FA I, 8, S. 272. Vgl. Sartres berühmte Analyse: »Mit dem Blick des Andern entgeht mir die ›Situation‹, oder, um einen banalen, aber unsern Gedanken gut wiedergebenden Ausdruck zu benutzen: ich bin nicht mehr Herr der Situation« (Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek 1994, S. 478 [323]). Honneth bestimmt den Begriff der Anerkennung im Anschluss an so unterschiedliche Gewährsmänner wie Hegel, Heidegger, Adorno und Cavell gerade im strikten Gegensatz zum Konzept der »Verdinglichung«, welches eben jene objekthaften Zurichtungen meint, die im Roman durch die Konstruktion von Fremdbildern den »Anderen« angetan werden. Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt am Main 2005.
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und Begehren besetzte Blick55 auf äußere oder innere Bilder, gesteuert durch die immer wieder thematisierte und vorgeführte »Einbildungskraft«,56 erweist sich im Roman als Medium einer Transformation von Deutungen in Daseinsverpflichtungen, von Exegesen des Anderen in Vorentwürfe für den Anderen mit zwingender Kraft. Dafür lassen sich zahlreiche Beispiel anführen: Eduards imaginäre Aneignung seines »Besitzes« durch die Karte des Hauptmanns57 stellt den Modus der deutungsbesetzten Imagination am Gegenstand einer in ikonische Zeichen zurückgenommenen Landschaft dar.58 Diese blickfixierte Zurichtung begehrter Objekte verwirklicht sich für Eduard in reinster Form an Ottilie; ihre Gestalt wird ihm zum Imaginationsraum einer Ansicht dessen, was ihn aus seiner Selbstdeutung heraus als weibliches Wesen komplettiert. Ist schon die erste Liebesszene zwischen Eduard und Ottilie von einem wahren Gewitter der Blicke und einem vermeintlichen gegenseitigen visuellen Erkennen begleitet,59 so ist es zuvor bereits die Szene des geheimnisvollen »Ehebruchs«, welche die Logik der vereinnahmenden wie umdeutenden Einbildungskraft eindrucksvoll zum Vorschein bringt. Denn hier wird, unter der durch die Situation gesteigerten Zudringlichkeit des eigenen Begehrens,60 die Einbildungskraft von Eduard und von Charlotte (»Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Türe«61) zum Organ einer Umdeutung des Selbst und des Anderen, die bis zur Auslöschung der realen Person in der erotisch-körperlichen Kommunikation geht: »In der Lampendämmerung sogleich behauptete […] die
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»Auge« und »Einbildungskraft« sind dementsprechend häufig thematisierte Gegenstände der Figuren (vgl. Die Wahlverwandtschaften I, 2. FA I, 8, S. 282f.; I, 18. FA I, 8, S. 386; II, 8. FA I, 8, S. 458f.; II, 10. FA I, 8, S. 469). Von Ottilie wird einmal – synekdochisch für alle Figuren – gesagt, »sie traute ihren eigenen Augen mehr als fremden Lippen« (ebenda, I, 8. FA I, 8, S. 327). Und vom Architekten heißt es, dass es ihm unmöglich war, »von Ottiliens Augen zu scheiden, von deren ruhig freundlich gewogenen Blicken er die letzte Zeit fast ganz allein gelebt hatte« (ebenda, II, 6. FA I, 8, S. 438). Ottilie selbst wird als ein »wahrer Augentrost« (ebenda, I, 6. FA I, 8, S. 313) bezeichnet. Gerade in Bezug auf Eduard betont der Roman dessen »selbstquälerische Einbildungskraft« (ebenda, I, 18. FA I, 8, S. 386). »Schnell war auch alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine Besitzungen auf das deutlichste, aus dem Papier, wie eine neue Schöpfung, hervorgewachsen. Er glaubte sie jetzt erst kennen zu lernen; sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehören« (Ebenda, I, 3. FA I, 8, S. 290). Vgl. auch ebenda, I, 7. FA I, 8, S. 325. Ebenda, I, 12. FA I, 8, S. 355. Vgl. die lacanianische Beschreibung des Wunsches: »Der Wunsch geht aus dem Raum hervor, der Bedürfnis und Verlangen trennt; er ist nicht auf das Bedürfnis zu reduzieren, denn in seinem Ursprung ist er nicht Beziehung zu einem realen Objekt, unabhängig vom Subjekt, sondern Beziehung zur Phantasie; er ist nicht reduzierbar auf das Verlangen, soweit er versucht, sich aufzudrängen, ohne die Sprache und das Unbewußte des anderen zu berücksichtigen, und fordert, absolut von ihm erkannt zu werden«. Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Band 2. Frankfurt am Main 1980, S. 636. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 12. FA I, 8, S. 352. Vgl. Ottilie: »[…] je einsamer sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft«. (ebenda, II, 3. FA I, 8, S. 408f.) – »Bei dieser Schilderung sah Ottilie nur Eduarden vor sich …« (ebenda, II, 10. FA I, 8, S. 469).
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Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche«.62 Der Totalitätsanspruch des Begehrens beider Protagonisten verlangt nach einer Präsenz des begehrten Anderen, die nur in dem vom realen Anderen losgelösten Raum der Imagination Erfüllung findet. Darin sind Eduard und Charlotte in ihrem Liebesakt so weit ganz bei sich, dass der Andere dabei im Imaginären verschwindet: »Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele«.63 Die Figuren werden sich gegenseitig zu transparenten Zeichen eines nicht nur real Abwesenden, sondern eines grundsätzlich einzig im Imaginären anwesenden Bildes (idola64) ihrer Objekte des Begehrens; so heißt es von Eduard, dass er »nichts vernahm als was seiner Leidenschaft schmeichelte«.65 Doch diese Logik des Blickes steht im Roman im Kontext einer umfassenderen Bezugsformation intersubjektiver Sozialität: der Deutungsdispositive, welche große Teile der Kommunikation im Roman bestimmen.66 Auch hier wird am ausgeprägtesten im Verhältnis von Eduard und Ottilie ersichtlich, wie der begehrte Andere aus den Deutungsvollzügen hervorgeht, die sich ihm doch eigentlich nachträglich nur erschließend annähern sollten. Im Rahmen des Romans ist Eduard der Autor von Ottilie; durch seine sinnerzeugenden Operationen an ihrem sozialen Körper setzt er die Bedingungen ihrer Apotheose wie ihres Untergangs fest. Die mythischen und naturwissenschaftlichen Kontexte, die im Roman von den Figuren selbst thematisiert werden (die chemische »Gleichnisrede« oder der Mythos von Narziss und Echo), geraten zu Aneignungsmaschinen wechselnder Selbst- und Fremdbilder, die auf das Ziel ausgerichtet sind, die Willkürfreiheit, welche sich bereits im Deutungsakt am Werk wähnt, auch realiter am Anderen ins Werk zu setzen. Die Beispiele dafür im Roman sind zu zahlreich, um sie auch nur sinnvoll aufzählen zu können; ich konzentriere mich auf wenige Hinweise. Eduards imaginäre Konstruktion von Ottilie erreicht ihren ersten Höhepunkt im Spaziergang zur Mühle hin, als ihn die Anmut ihrer Bewegung67 dazu verleitet, sie erstmals auf eine ganz andere Weise wahrzunehmen: Eduard glaubt
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Ebenda, I, 12. FA I, 8, S. 353. Ebenda. Vgl. Francis Bacon, Neues Organon. Hrsg. von Wolfgang Krohn. Teil 1. Hamburg 1990, S. 99–147 (»Die Idolenlehre«). In diesem Kontext spielen sowohl die Konkurrenz der Blicke und Bilder (vgl. Eduards Bitte an Ottilie, das »Bild« ihres Vaters zu entfernen (Die Wahlverwandtschaften I, 7. FA I, 8, S. 322f.) als auch die Selbstreflexion der Macht der Bilder in den »tableaux vivants« eine Rolle, welche die »Erstarrung« (ebenda, II, 6. FA I, 8, S. 439) und den Gefängnisraum der bildhaften Imagination zur Darstellung bringen. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 16. FA I, 8, S. 373. So äußert auch Charlotte, »man könne nicht geschwind genug mit dem Charakter der Menschen bekannt werden« (ebenda, I, 6. FA I, 8, S. 313). Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde. In: Ders., Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main 1992, S. 330–395, hier S. 344: »Anmut kann nur der Bewegung zukommen«.
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ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte. […] Fast hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, gleiten, daß er sie in seine Arme auffangen, sie an sein Herz drücken könnte. Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache: er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen.68
Die Apotheose Ottilies wird in den paradoxen Wunsch hinein entfaltet, dass sie ihm entgegenfalle, ohne dass er dabei wagen würde, sie aufzufangen. Die Sehnsucht nach Nähe und das dem vergöttlichten Bild Ottilies anhängende Pathos der Distanz verbinden sich zur Imagination einer Vollkommenheit, welche die weiteren Handlungen und Erwartungen Eduards determiniert. Spiegelbildlich dazu führt der Roman zu Beginn des Zweiten Teils vor, in welchem Ausmaß das Bild, das sich Eduard von Ottilie macht, in deren Selbstwahrnehmung übergegangen ist. Ottilie betrachtet die Bilder des Architekten, die »verklärte Heilige« zeigen und »schwebende Engel, alle […] selig in einem unschuldigen Genügen, in einem frommen Erwarten«,69 und mit denen sie sich instantan emotiv verbindet: »Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall sich unter ihres Gleichen zu fühlen«.70 Eduards hermeneutischer Machtwille71 reicht jedoch noch viel weiter. Nicht nur verstärkt seine Wahrnehmung bestimmte Eigenschaften Ottilies und richtet sie unwillkürlich auf sich aus.72 Nicht nur identifiziert er bald darauf ihre Gedanken mit den seinen und betrachtet sich so bereits als ›Urheber‹ ihres Selbst;73 sondern Eduard wird zum Geschichtenerzähler ihrer bisher noch ungeschriebenen gemeinsamen Geschichte, deren Ziel er wiederum aus einem Interpretieren von Zeichen gewinnt. Paradigmatisch dafür ist die Episode der Grundsteinlegung des Hauses auf der Anhöhe und die ominöse Unzerstörbarkeit des Glases mit den Initialen »E und O«,74 die Eduard zur Schicksalhaftigkeit ihrer Verbindung umdeutet75 und folglich aus dem göttlichen Ratschluss über ihre Verbindung die Rücksichtslosigkeit der Mittel ableitet, mit denen er zur Durchsetzung dieser Liebe gegen die anderen Protagonisten vorgeht und so zum Keim des Unheils wird. In der Abgeschiedenheit seiner Entsagung zum Ende des Ersten Teils des Romans treten die imaginären Konstruktionen Ottilies durch Eduard im Gespräch mit Mittler vollends hervor.76 Eduard berichtet von seinen totalitären Verschmelzungs- und Aneignungsphantasien, in denen er beide Rollen spielt und aus
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 7. FA I, 8, S. 322. Ebenda, II, 2. FA I, 8, S. 402. Ebenda. »Wenn ich [Eduards Rollenrede, J.U.] von etwas Gutem überzeugt bin, was geschehen könnte und sollte, so habe ich keine Ruhe bis ich es getan sehe« (ebenda, I, 6. FA I, 8, S. 318). »Gegen Jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; daß sie es gegen ihn am meisten sei, das wollte seiner Selbstliebe scheinen« (ebenda, I, 7. FA I, 8, S. 320). »Jemehr man die Sache durchsprach desto günstiger erschien sie, und Eduard konnte seinen Triumph nicht bergen, daß Ottilie den Gedanken gehabt. Er war so stolz darauf als ob die Erfindung sein gewesen wäre« (ebenda, I, 7. FA I, 8, S. 326). Ebenda, I, 9. FA I, 8, S. 334. Ebenda, I, 18. FA I, 8, S. 390. Zu Eduards Zielprojektionen vgl. auch ebenda, I, 16. FA I, 8, S. 372. Ebenda, I, 18. FA I, 8, S. 386ff.
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denen er die Selbstdeutung seines Lebensweges ableitet: »Bisher war alles in meinem Leben nur Vorspiel, nur Hinhalten, nur Zeitvertreib, nur Zeitverderb, bis ich sie kennen lernte, bis ich sie liebte und ganz und eigentlich liebte«.77 Dafür werden von Eduard – wie in der Feuerwerksepisode – auch die entferntesten Zeichen gewaltsam auf ihre Schicksalsvereinigung hin gedeutet78 und Ähnlichkeiten wie in den Handschriftproben zu Erkennungszeichen ihrer unauflöslichen Identität (v)erklärt.79 Ottilie wiederum übernimmt sowohl die Teleologie ihrer Verbindung mit Eduard80 wie auch die Vervollständigungsphantasien Eduards: Weil sie »Leben und Freude in Eduard gefunden« hatte, fühlt sie nun »eine unendliche Leere«,81 die darauf verweist, dass Ottilie sich selbst völlig fehlt – und mithin bereits hier auf den Deutungsvollzug Eduards angewiesen ist. Für dessen maßlosen hermeneutischen Machtwillen, der im Roman selbst von ihm – allerdings nicht in Bezug auf sich selbst – im Mythos des Narziss gefasst wird,82 findet der Roman gleich zu Anfang eine nachdrückliche Darstellung in der Vorleseszene,83 die unmittelbar das Gespräch über die chemische »Gleichnisrede« präludiert. Denn zum einen offenbart Eduard die Möglichkeit der Konstruktivität und Variabilität des (eigenen) Selbst durch fremde Bedeutungen, wenn er das aneignende Vorlesen eines Textes nicht als produktive Abarbeitung und Verschmelzung zweier Horizonte begreift, sondern als temporäre und völlige Konstruktion des Selbst aus den Zeichen des Anderen.84 Zum anderen jedoch verwahrt er sich mit Hinweis auf den Selbstverlust, den er durch diese »Hermeneutik des Selbst« bereits beschrieben hat, gegen jede scheinbare Fremdauslegung seiner selbst: Die eigene Selbstpräsenz soll dort nicht durch eine andere Auslegung vermittelt sein, wo sie selbst völlig in der Schrift des Anderen aufgeht.
IV. Die »Gabe« der Schrift: Die doppelte Perspektive des dekonstruktivistischen Schriftbegriffes im Roman und die stumme Utopie der Wahlverwandtschaften Die Wahlverwandtschaften führen vor allem (aber nicht nur) am Beispiel von Eduard und Ottilie vor, was man im Anschluss an einen Begriffsgebrauch von
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Ebenda, I, 18. FA I, 8, S. 388. Ebenda, I, 15. FA I, 8, S. 371. Ebenda, I, 12. FA I, 8, S. 355. »Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhängend, wenn sie an den geliebten Mann dachte, und sie begriff nicht, wie ohne ihn noch irgend etwas zusammenhängen könne« (ebenda, II, 7. FA I, 8, S. 450). Ebenda, I, 18. FA I, 8, S. 384. Ebenda, I, 4. FA I, 8, S. 300. Ebenda, I, 4. FA I, 8, S. 299. »Wenn ich Jemand vorlese, ist es denn nicht als wenn ich ihm mündlich etwas vortrüge? Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens« (ebenda, I, 4. FA I, 8, S. 299).
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Benjamin und Adorno als »Mimesis ans Gedeutete«85 bezeichnen könnte: Die Figuren gleichen sich den Bildern und Deutungen an, die Andere von ihnen entwerfen. »Gewiß, sagte der Gehülfe: und wer widersteht dem Strome seiner Umgebungen«.86 Der Roman zeigt auf allen Ebenen – auch auf der Ebene des Erzählerkommentars, der dieses Deutungsgeschäft, wenn auch in einer qualitativ anderen Distanz, sogar potenziert –, wie diese Macht sozialer Imagologie konkret funktioniert und aus welchen Quellen kultureller Topik sie sich speist. Das »mythische Verhängnis« erwächst den Figuren als scheinbar objektives, ihnen wie eine Naturmacht entgegentretendes Gesetz aus den Deutungshorizonten, mit denen sie sich gegenseitig zustellen und aus deren »idola« sie nicht mehr entfliehen können. Die Dialektik der Anerkennung versieht die Figuren mit kulturellen Sinnhorizonten, die weder die Gedeuteten noch die Deutenden im Griff haben – in dem Griff, der ihnen durch die Willkürfreiheit des Deutungsvollzuges versprochen zu sein scheint. Hierbei spielen die mythischen Bedeutungsschichten der Figuren und Sachverhalte eine wichtige Rolle: Durch ihre Bedeutungsformatierungen wird die Depotenzierung der Handlungsfreiheit im Raum kultureller Überlieferung begründet. Denn zum einen erwächst die Deutungshoheit der Figuren aus dem Tradierungszusammenhang einer Kultur, die den Vorrat an Vorwissensbeständen bzw. die Möglichkeit des Wissenserwerbs durch die Diskursordnungen der Wirklichkeit, die Strukturierung der Lebenswelt durch Institutionen zur Befriedung intersubjektiver Kommunikationsverhältnisse und den Fortschritt an Individualisierung zur Verfügung stellt, wie er sich in der spätaufklärerischen Gesellschaft des Romans repräsentiert findet. Zum anderen jedoch offenbart der Roman die gefährliche Macht der kulturellen Substrate des Tradierungsgeschehens, die als archetypische Deutungs- und Verständnishorizonte nicht nur das individuelle Bedeutungsgeschehen ermöglichen, sondern auch untergründig bestimmen. Die zweite Natur kultureller, in die Tiefen der Überlieferung zurückreichender Sinnformatierungen in Bildern, die man Mythos nennt, konkretisiert sich im Roman in ständig wiederkehrenden Bildern der »Wiederkehr des Verdrängten«.87 Die Macht dieser Bilder beruht, so legt der Roman nahe, auf dem Vergessen ihrer kulturellen Kontingenz und damit auf der Verabsolutierung eben jener Kultürlichkeit, die zugleich den Boden ihrer eigenen Überschreitung in Handlungs- und Deutungsakten der Freiheit bildet. Dass am Schluss die Figuren zur Naturalisierung dieser Geschehensund Bedeutungsmuster selbst auf den Begriff des »Schicksals« zurückgreifen,88 zeigt die voranschreitende Verdunkelung ihrer Verständnishorizonte und mithin ihre Unfähigkeit, die Eigenlogik ihrer Kulturmuster im Wechselspiel mit der naturhaften »Logik des Begehrens« zu erkennen. In den Deutungsvollzügen der Figuren, so hat die Analyse gezeigt, artikuliert sich ein Überschuss an Bedeutung, ein Mehr ihrer Motivation, Reichwei-
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Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 61996, S. 200f. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 8. FA I, 8, S. 453. Vgl. Laplanche / Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse (Anm. 60), S. 631f. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 14. FA I, 8, S. 497; vgl. auch den Beitrag von Helmut Hühn in diesem Band.
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te und Wirkungsmacht, das sich den Deutungshandlungen stets hinzufügt, in ihnen und für diese selbst jedoch nicht greifbar ist und zugleich immer schon dem Handlungsmuster der Deutung als kultureller Grund zugehört. Die »Diktatur des Verstehens« als das »Immer-schon-verstanden-Haben«, das Heidegger als wichtige Dimension des lebensweltlichen Umgehens betont89 und die der Roman inszeniert, indem er den beständigen und selbstverständlichen ›hermeneutischen Tausch‹ der Figuren als Ökonomie sozialer Interaktion vergegenwärtigt, richtet sich gerade gegen die Freiheit der Selektion, Verknüpfung und Artikulation von Sinnbeständen, die als Vollzugsform den einzelnen Deutungen vorgegeben ist. Damit ist auf die Schriftlichkeit des Deutungsgeschehens hingewiesen, die der Roman zur Darstellung bringt. Die »Supplementarität« als ein grundlegender Mechanismus der ›écriture‹ bei Derrida bezeichnet so auch genau die Grenze, welche die performative Freiheit der Deutung von dem trennt, was sich als mythische Notwendigkeit im Überschuss jeder Deutung in ihr hinzufügt und gegen den freiheitlichen Aspekt des Deutungsgeschäftes gerichtet ist. Die Supplementaritätsstruktur der Deutungshandlungen der Figuren und damit deren Schriftlichkeit gibt also ein Instrument an die Hand, das Grundproblem des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit, von selbstbestimmtem Handeln und fremdbestimmter Fatalität im Roman nicht mehr als eine äußere, antithetische Daseinsstruktur der fiktionalen Welt zu verstehen, sondern ihre Entgegensetzung aus dem inneren Vollzug einer gemeinsamen Struktur, nämlich der Schriftlichkeit der Deutungshandlungen, zu begreifen. Damit ist zunächst die heuristische Perspektive bezeichnet, in welcher der dekonstruktivistische Schriftbegriff jenseits von Bedeutungszersetzung und Sinnleere produktiv für die Interpretation des Romans werden kann. Aber der Schriftbegriff Derridas, abseits der von Miller und Wiethölter hervorgehobenen Dimensionen, bietet noch eine weitere Perspektive, die einen möglichen hermeneutischen Fokus des Romans selbst betrifft. Diese Dimension überschreitet die Verengung, die vor allem Benjamins Lektüre dem Roman zugemutet hat: nämlich die Idee, dass das »Gegenwort«,90 welches dem tragischen Prozess des Geschehens Einhalt gebietet und eine Möglichkeit des Andersseins der Verhältnisse eröffnet, einzig aus einer externen Perspektive an den Roman herangetragen werden kann.91 Dagegen sind es in Derridas Überlegungen zur Schrift vor allem zwei Begriffe seiner Spätphilosophie, die sich 89
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Heidegger, Sein und Zeit § 2 (Anm. 46), S. 5: »Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her. Der Sinn von Sein muß uns daher schon in gewisser Weise verfügbar sein. Angedeutet wurde: wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis«. Paul Celan, Der Meridian. In: Ders., Gesammelte Werke. Hrsg. von Beda Allemann / Stefan Reichert. Band 3. Frankfurt am Main 1986, S. 187–202, hier S. 189, 193, 196. In Benjamins Interpretation ist die Dichotomie von »Freiheit« und »Notwendigkeit« auf verschiedene Ebenen der literarischen Kommunikationssituation auseinandergezogen: Während die fiktionale Welt gänzlich auf den Ideologemen naturhafter Schicksalsverfallenheit basiert, ist die Perspektive der »Sittlichkeit« der Einspruch dagegen, welcher dem Roman durch eine externe Kontextualisierung (vgl. Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation (Anm. 14), S. 149f.) mit einem Goethe-Gedicht und unter Verweis auf den »Wahrheitsgehalt« (Benjamin) abgerungen werden muss.
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zur Lesbarmachung eines romaninternen »Gegenwortes« eignen: »Gabe«92 und »Datum«.93 Mit beiden Begriffen bestimmt Derrida in gewisser Hinsicht die Grenzen des Schriftbegriffes. Durch sie versucht er den Gedanken einer Exteriorität zu denken, die die »Einfachheit«94 des Bedeutungsgeschehens der Schrift einrückt, ohne sie zu relativieren: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht«.95 Derrida denkt das Konzept der »Gabe« als Gegenbegriff zum »Tausch« und damit zur Ökonomie der Zeichen, deren »Spurung« wesentlich durch ihre zirkuläre Struktur als basalstes Tauschverhältnis angesehen werden kann. Für die Gabe hingegen gilt: Es gibt keine Gabe mehr, sobald der andere irgendwie rezipiert – selbst dann nicht, wenn er die Gabe ablehnt, die er als Gabe wahrgenommen oder erkannt hat. Sobald er die Gabenbedeutung an der Gabe gewahrt oder bewahrt, verliert er sie, und es gibt keine Gabe mehr. Folglich gibt es keine Gabe, wenn es keine Gabe gibt, aber eine Gabe gibt es auch dann nicht, wenn es eine Gabe gibt, die vom anderen als Gabe gewahrt oder bewahrt wird; in jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr.96
Die Gabe als totale Dyssymmetrie des Tauschs, die dem »Befehl des Symbolischen« in der »Figur der Zirkulation«97 widersteht und als »absolute[s] Vergessen«98 aus der Interaktion von »Objekte[n], Dinge[n] oder Symbole[n]«99 heraustritt, ist dennoch nicht durch eine völlige Nicht-Vermittlung von der Ökonomie des Zeichengeschehens in der Schrift getrennt. Gerade hier liegt die entscheidende Pointe des Gabenbegriffs. Die Gabe muss als notwendiger Einbruch in das Geschehen der Schrift verstanden werden: »Was sie [die Gabe, J.U.] zu denken gibt, liegt jenseits des Bedeutens und zeigt sich doch nur in ihm«.100 Denn das Bedeutungsgeschehen der Schrift, das kein Außen im klassischen Sinne kennt, ist damit selbst eine Gabe: Es ist gegeben als etwas, das nicht wieder getauscht werden kann. Gerade die Unausweichlichkeit der Mechanismen der Schrift zeigt sich so als eine, deren Notwendigkeit zugleich der Grund ihres Andersseins ist: im Anderssein ihres Grundes. Hier wird deutlich,
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Grundlegend dafür ist Derridas Buch: Falschgeld. Zeit geben I. München 1993. Zum Begriff und Konzept der Gabe im Anschluss an Hamann, Benjamin und Heidegger (vgl. dazu Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion (Anm. 34), S. 151) vgl. auch Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch. Berlin 2000; Georges Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie. Berlin 1985, sowie grundlegend Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main 2009. Vgl. Jacques Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan. Wien 1986; ich beschränke mich hier aus Platzgründen auf das Konzept der »Gabe«. »Einfachheit« bezeichnet die »Immanenz aller Bedeutungen im Bedeutungsgeschehen« und mithin die Einheitlichkeit der Zeichenstruktur (vgl. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion (Anm. 34), S. 142f.). Derrida, Grammatologie (Anm. 37), S. 274. Derrida, Falschgeld (Anm. 92), S. 26. Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 36. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion (Anm. 34), S. 153.
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dass Derridas spätes Konzept der Gabe ein ganz wesentliches Element seiner Theorie der Schrift nachliefert: Es setzt die Totalität der Einfachheit der Schrift in ein komplexes Verhältnis zu ihren eigenen unmöglichen Bedingungen. Die Gabe ist das, was innerhalb der Schrift in keinerlei Weise repräsentiert werden kann, als Einbruch in das Geschehen der Schrift jedoch dessen Ermöglichungsgrund ausmacht: Denn am Ende führt das Überborden des Kreises durch die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auf ein bloßes Außen, das völlig unsagbar, transzendent und bezuglos wäre. Sondern dieses Außen gerade gibt den Anstoß, setzt den Kreis und die Ökonomie in Gang, indem es (sich) einläßt in den Kreis und ihn (sich) drehen läßt.101
Als »Erster Beweger des Kreises«102 der Zeichenbewegung in der Schrift markiert die Gabe die Grenze, die es der Schrift unmöglich macht, ihre Mechanismen als einzig und alternativlos zu setzen – gerade deshalb, weil sie im Sinne der Gabe alternativlos sind. Die Gabe bleibt im Geschehen der Schrift das restlos Verschwundene und zugleich das, was diesem Verschwinden, dessen Stabilität das Spiel der Zeichen ist, zugrunde liegt: das Verschwundene, das als Verschwundenes103 vom Geschehen der Schrift repräsentiert wird und es diesem nicht erlaubt, sich zur Totalität einer spinozistischen Substanz auszubilden. Mit dieser Denkfigur der Schrift lässt sich die Position und Funktion des kritischen Potentials beschreiben, welches der Roman am fatalen Deutungsgeschehen des allgegenwärtigen »hermeneutischen Tauschs« entfaltet. Denn das »Gegenwort« des Romans findet sich nicht in diesem: Und doch kann es nicht außerhalb sein, wie es Benjamins Lektüre im »Wahrheitsgehalt« der »Sittlichkeit« und der »Hoffnung« inszenieren wollte. Es kann nicht Teil der Spracheinteilungen und Wirklichkeitsformative des Romans sein, weil es eine essentielle Perspektive desselben ist, die Unhintergehbarkeit des »hermeneutischen Tauschs« für die kulturelle Konstitution von Selbst- und Fremdbildern aufzuzeigen; der Mensch ist das Tier, das sich beständig auslegt. Es kann aus demselben Grund jedoch auch nicht exterioritär zum Geschehen des Romans stehen: weil es dann in der Trennung von Darstellung und Exegese eine ›andere Art‹ der Schriftlichkeit unserer Weltbezüge behaupten würde, welche die Dynamik des Romangeschehens sogleich zur akzidentellen Begebenheit erklärte und darüber hinaus den Bewusstseinsraum des Kunstwerkes in ebenso enge Grenzen einsperren würde, wie es letztlich auch Benjamin getan hat. Das Gegenwort kann in diesem Fall nur der Roman selbst sein: der Überschuss des formensprachlichen Gestaltetseins über das Dargestellte,104 der dieses in seiner Aussagekraft
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Derrida, Falschgeld (Anm. 92), S. 45. Ebenda, S. 46. Zu dieser Denkfigur vgl. Giorgio Agamben, Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt am Main 2006, S. 52. »Die These ist die, daß Kunstwerke im kategorischen Gegensatz zu bloßen Darstellungen die Mittel der Darstellung in einer Weise gebrauchen, die nicht erschöpfend spezifiziert ist, wenn man das Dargestellte erschöpfend spezifiziert hat. Dieser Gebrauch geht über semantische Überlegungen hinaus« (Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen (Anm. 7), S. 226).
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an jedem Punkt bestimmt und bildet, ohne in diesem selbst zur Sprache – d.h. einer Sprache der Inhaltsebene – kommen zu können. Diese Gegenwortfähigkeit der kunstwerkhaften Textur im Ganzen, die Benjamin im Begriff des »Ausdruckslosen« angedacht,105 Adorno zu einem epistemologischen Zentralprinzip seiner Ästhetischen Theorie gemacht106 und Foucault schließlich sogar ontologisiert hat,107 wird in den Wahlverwandtschaften zum bestimmenden Prinzip der gesamten Komposition: als Ursprung der Bedeutungspotentiale, der die Formation so notwendig zusammenhält, wie er in ihrem Zusammenhalten in ihr völlig verschwindet. Die formative Perspektive des Schriftbegriffes für die Wahlverwandtschaften über die üblichen Materialitäts- und Bedeutungszersetzungsperspektiven hinaus (Miller, Wiethölter) liegt in der Art und Weise, wie Goethe in seinem ›skeptischen Realismus‹ – und als hervorragender Vertreter des »skeptischen Milieus der Moderne«108 – den möglichen Einhalt der »Mimesis ans Gedeutete« als Romanganzes gestaltet hat. Im Abstandnehmen von den dargestellten Ereignissen durch deren Darstellung, in der verwirrenden Kühle und dem unsentimentalen Abstand der Erzählstimme noch in ihren zahlreichen und sie in das Deutungsgeschäft hineinziehenden Kommentaren, wodurch sie zugleich genau die Grenze von Darstellung und Gabe bildet, in der konsequent unanschaulichen (im Sinne von: unbildlichen) Darstellungsweise des Romans, der sich der Bilder als Instrumente des Mythischen109 enthält – in all diesen und vielen weiteren Elementen des Formgeschehens trägt der Roman die Möglichkeit eines Andersseins kultureller Interaktion vor. Dabei ist die so verstandene Sinnperspektive des Romans durchaus nicht ungreifbar, sondern folgendermaßen zu formulieren: Unsere Selbst- und Fremddeutungen müssen die Sphäre der Deutungslosigkeit des Anderen als Rest dessen, was wir nicht semantisieren wollen können, beinhalten. Sie müssen sich selbst ins Wort fallen, um abzubrechen an der Präsenz des Anderen, und diesem so die Möglichkeit zugestehen, immer wieder auf die Unbegreiflichkeit zurückzufallen, die als Korrektiv unsere Selbst- und Fremddeutungen mitsamt ihrer tradierten Sinnspeicher auf Distanz hält und den Blick für die Wahrnehmung des Anderen selbst in seinem Hier und Jetzt öffnet.110 Damit ist kein Anderes zum
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Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 11), S. 181. Vgl. bereits in der Dialektik der Aufklärung Adornos Analyse der Mägdeszene aus der Odyssee (Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 1998, S. 87). Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main 1971, S. 76. Vgl. dazu erhellend Achim Geisenhanslüke, Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung. Opladen 1997. Zu diesem Begriff vgl. Gottfried Willems, Das skeptische Milieu der Moderne und die moderne Literatur. In: Skepsis und literarische Imagination. Hrsg. von Bernd Hüppauf / Klaus Vieweg. München 2003, S. 111–123. Zur Analyse der mythischen »Erstarrung« (Barthes, Mythen des Alltags, S. 107) als des Bildhaften vgl. noch immer unübertroffen: Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 2003. Somit kann Goethes Roman, der in meiner Lesart als ganzer die Figur dieser Kritik zeichnet, einer anderen großen literarischen Kritik an den »Krankheiten« des Bewusstseins zur Seite gestellt werden: Rilkes Duineser Elegien, vornehmlich der vierten und
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Verstehen, sondern ein Anderswerden des Verstehens selbst bedeutet: Goethes Roman ist kein »antihermeneutisches Manifest«111 in dem Sinne, dass als Folie der Kritik am hermeneutischen Tausch lediglich eine negativistische, möglicherweise auf reine Gegenwärtigkeit (Präsenz112) oder Naturhingegebenheit zielende Apotheose verstandesfreien Daseins propagiert würde. Die gemeinte Anerkennung jenseits der kulturellen Muster des Anerkennens (zu denen die Tauschform gegenseitiger Anerkennung gehört), die ebenfalls in Derridas Begriff der Gabe angedacht ist, als besondere »Besonnenheit«113 des Menschen, ist besonders wegen jener Kräfte des individuell und kulturell Unbewussten wichtig, die hinter unserem Rücken das Bild des Anderen mit Energien des Begehrens – und d.h. mit Mustern von Bedeutsamkeit – überziehen, uns selbst aber aufgrund der »unleserlichen Schrift« unserer symbolischen Ordnung des Unbewussten114 verborgen bleiben müssen.115 Das Leiden an der spätaufklärerischen Reflexionskultur gewinnt durch den Roman somit eine existentielle, den Raum gelingender Intersubjektivität betreffende Dringlichkeit: Reflexionen einzelner Lebensmomente führen aus der eigenen Welt nicht heraus; sie lassen diese Welt nicht selbst gegenwärtig werden. […] Immer verbleibt man im Eigenen, wo man Aspekte des Eigenen reflektiert. Das sagt nicht zuletzt das Wort Reflexion selbst: Man beugt sich auf sich zurück, greift im Vollzug des eigenen Lebens ein Moment dieses Lebens heraus und macht es zum Gegenstand der Be-
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achten Elegie. Rilke bestimmt dort – natürlich in anderer Zielrichtung und aufgrund anderer, auf Nietzsches Vitalismus beruhender Prämissen – das Leiden an der Endlichkeit des Menschen und mithin das Aufgespanntsein des menschlichen Bewusstseins in die Dimensionen der Vergangenheit und Zukunft, zwischen denen sein unruhiger Blick beständig umherirrt, als Grund dafür, die Offenheit des Seins als Gewahrung unverstellter und entgegenkommender Gegenwärtigkeit beständig zu verfehlen. »Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag, / den reinen Raum vor uns, in den die Blumen / unendlich aufgehn. Immer ist es Welt / und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine, / Unüberwachte, das man atmet und / unendlich weiß und nicht begehrt. […] Wer hat uns also umgedreht, daß wir, / was wir auch tun, in jener Haltung sind / von einem, welcher fortgeht? Wie er auf / dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal / noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –, / so leben wir und nehmen immer Abschied.« (Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien. In: Ders., Werke in vier Bänden, Band 2: Gedichte 1910 bis 1926. Hrsg. von Manfred Engel / Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main, Leipzig 1996, S. 199–237, hier S. 224 u. 226. Vgl. ebenda den Kommentar von Engel / Fülleborn, S. 642–647 u. 674f.) So in bloß negativistischer Wendung Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens. Erweiterte Nachauflage. Frankfurt am Main 1988, S. 53. Zur neueren Präsenzästhetik vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004. Vgl. dazu ausführlich Urbich, »Darstellung hat Theorie« (Anm. 6), S. 246–248. Den Begriff der »Besonnenheit« hat Herder in seiner Sprachursprungsschrift als neues Auszeichnungsmerkmal des Menschen in die Anthropologie eingeführt: »Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden. [...] Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen und seiner Gattung wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache« (Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 1997, S. 31). Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Olten 1978, S. 26: »Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache«. Im Roman ist davon die Rede: »das Bewußtlose, womit sie in eine Falle gehen« (Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 10. FA I, 8, S. 347).
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Jan Urbich trachtung. Dadurch wird, im individuellen wie im öffentlichen Leben, das Reflektieren auch manchmal so quälend: Man dreht sich im Kreis, stößt immer nur wieder auf dieselben Gedanken und Fragen. Man findet aus dem Eigenen nicht heraus.116
Die Macht des Seinlassens des Anderen, welche nicht nur das gelingende Dasein desselben, sondern auch das eigene Dasein jenseits der Beschränkung auf das bloß Eigene ermöglicht – das ist die formative Perspektive des Gabencharakters –, wird im Roman weder vorgeführt, diskutiert noch personifiziert. Sie ist auch performativ im Verhältnis von Roman und Exegese nicht präsent, insofern die symbolische Textur des Romans gerade auf Vervielfältigung und Multidimensionalität des Deutens angelegt ist (und nicht auf Deutungslosigkeit oder Bedeutungsabbruch, wie dekonstruktivistische Lesarten behaupten). Diese Macht des Seinlassens des Anderen im »hermeneutischen Tausch« ist die ›Figur‹, welche die Komposition des Romanganzen bildet: das Funktionsgebilde der Schrift im Sinne Derridas, das die Sagekraft seiner Elemente prägt und zusammenhält. Vielmehr bricht sie in den internen wie externen Deutungsgeschäften des Romans durch als der Grund, welcher die Willkürfreiheit des »hermeneutischen Tauschs« gibt: in dem Fakt, dass es Deutungen gibt. Die Macht der Deutungen, soziale Sachverhalte (d.h. Gegenstände wie Selbstwahrnehmungen) zu schaffen, ist zugleich die Kraft der Deutungslosigkeit, die als Grund in jedes Deutungsgeschäft einbricht, ohne sich in ihm abbilden zu können: Die Möglichkeit der Nicht-Deutung, der hermeneutischen epoché ist die unmögliche und zugleich fundierende Perspektive der Allmacht und Fundamentalität des Deutens. Sie ist gegeben in dem Abstand und dem Einhalten des Romans vor den Deutungsexplosionen der Figurenwelt; in der Unhintergehbarkeit des Restes zwischen Freiheit und Notwendigkeit, den der Roman immer wieder in jede Interpretation zugunsten einer der beiden Pole einzieht; in der Gabe der Enthaltung des Romans, aus der die Darstellung der Deutungsvervielfältigung der Figurenwelt erst möglich wird und an der sie zugleich ihre Grenze findet. Dass Bedeutungen »zunichte machen« eine Kunst sei, wie Roland Barthes bemerkt, wird somit vom Kunstwerk des Romans im Ganzen als ethische Figur vorgeführt und zugleich reflexiv auf seine Unmöglichkeit hin gemustert. Die thematisch sprechend gemachte – und nicht bloß leer auf die eigene Faktur verweisende – Selbstreflexivität literarischer Kunst gewinnt in den Wahlverwandtschaften die Qualität eines Blickes auf den Grund verhinderten In-der-Welt-Seins der Protagonisten. Was das Kunstwerk als Reflexivität in gesteigerter Form an sich vorführt, wird zugleich als Bedingung wie Begrenzung kultureller Existenz vorgeführt. Zugleich artikuliert die Figur des Romans im Ganzen das klare Bewusstsein davon, dass kein Jenseits des »hermeneutischen Tauschs«, sondern nur ein reflektierter Gebrauch von diesem wiederum Grund einer gelingenden und ethisch verantwortungsvollen Intersubjektivität sein kann: Grund des Übels und Mittel seiner Überwindung
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Günter Figal, Übersetzungsverhältnisse. In: Ders., Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie. Stuttgart 1996, S. 102–112, hier S. 106.
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fallen in eins, ohne sich gegenseitig aufzuheben oder als Zusammenhang ›zu sich kommender‹ Vernunft verstanden werden zu können. Bedeutung schaffen ist sehr leicht, die gesamte Massenkultur produziert sie ununterbrochen. Bedeutung aufschieben ist ein unendlich viel komplizierteres Unternehmen; es ist, wenn man so will, eine ›Kunst‹. Doch Bedeutung ›zunichte machen‹ ist ein verzweifeltes Vorhaben, dessen Aussichtslosigkeit im direkten Verhältnis zu seiner Unmöglichkeit steht. Warum? Weil die ›Außer-Bedeutung‹ unweigerlich [...] aufgesaugt wird von dem Nicht-Sinn, der seinerseits schlicht und einfach ein Sinn ist [...]. In Wahrheit kann der Sinn nur sein Gegenteil erkennen, das nicht das Fehlen von Sinn, sondern dessen Kontrapunkt ist, so daß jeder ›Nicht-Sinn‹ wörtlich immer nur ein ›Widersinn‹ ist. Es gibt keinen ›Nullzustand‹ des Sinnes [...].117
Dass Deutungen des eigenen Selbst und des Anderen an sich unwirksam werden können, dass sie entwertet werden können, ohne jedoch im wörtlichen Sinne sinn/los zu sein, ist die unleugbare Möglichkeit eines Deutens, das sich aufgrund der Willkürfreiheit und der Bewusstlosigkeit der Kräfte, die in ihr walten, auch gegen sich richten kann, um sich in den Grund der Gabe aufzuheben, aus dem es gedacht werden muss. In einem Eintrag aus Ottiliens Tagebuch heißt es: »Man mag sich stellen wie man will, und man denkt sich immer sehend«.118 In diese weitere Selbstdeutung und ihren Gestus absoluter Notwendigkeit (»immer«), den sie vorzeigt, ist die Grenze und die stumme Utopie der epoché, um die es dem Roman geht, eingetragen: Sich als immer deutend zu deuten, ist selbst eine Deutung, die damit auch anders ausfallen kann. Die Wirklichkeit des sozialen Deutungsgeschäftes beruht auf einer transzendentalen Selbstdeutung des Menschen als deutendes Wesen, die prinzipiell auch die Möglichkeit des Nicht-Deutens einbegreift – auch wenn das konkret in jedem Fall die Aufhebung des Kultürlichen als Deutungsdasein selbst bedeuten würde. Somit ist die Unmöglichkeit wie Notwendigkeit der hermeneutischen epoché bedeutet: Der Roman als Ganzes führt die hermeneutische Zurückhaltung als unausgesprochene regulative Idee mit, die einzig im Gesamtzusammenhang der formensprachlichen Textur – also auf der Grenze von Sagbarem und Unsagbarem und doch im Bereich allergrößter Bestimmtheit119 – ihren Ort haben kann. Der dekonstruktivistische Begriff der Schrift erweist sich so als geeignet, das Verhältnis von Innen und Außen, der Absolutheit der sozialen Hermeneutik und dem Gegebensein eines Ausweges aufgrund dieser Absolutheit wiederum als interne Darstellungsfigur des Romans selbst zu entziffern: abseits der vorschnellen Festlegungen der Figuren und Verhältnisse auf Schriftdimensionen von Bedeutungsferne und Verstehensverlust, um die es in dieser Perspektive dem Roman gerade nicht geht.
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Roland Barthes, Literatur oder Geschichte. In: Ders., Am Nullpunkt der Literatur / Literatur oder Geschichte / Kritik und Wahrheit. Frankfurt am Main 2006, S. 73–175, hier S. 163. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 3. FA I, 8, S. 410. Zum damit zusammenhängenden Konzept der »Seinsöffnung« in Literatur vgl. Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – zur Sprache kommen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Frankfurt am Main 1988.
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»Ein Zeichen sind wir, deutungslos«: In diesem Vers aus Hölderlins Mnemosyne-Entwürfen120 ziehen sich Wirklichkeit und Utopie der fiktionalen Welt der Wahlverwandtschaften in den Raum des Verses zurück und finden in dessen freier parataktischer Beiordnung zusammen. Die Literatur kann gar nicht anders, als mit skeptischem Blick »aufs Grauen zu blicken«121 und zugleich die Möglichkeit eines Andersseins – wenn auch stumm – mit einem Augenaufschlag zu bedeuten.
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Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Band 1: Gedichte. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1992, S. 1033. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 2001, S. 28 [I, 5].
Von Klapp-Bildern und Kipp-Figuren »Tournez s’il vous plaît« – ein Schlüsselmotiv in Goethes Wahlverwandtschaften Reinhard Wegner
Mehrdeutigkeit und Sinnoffenheit gelten als charakteristische Merkmale romantischer Kunst. Mit ihrer Hilfe lassen sich tradierte Sichtweisen, Normen und Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen. Ambiguität, verstanden als ein Oszillieren zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten der Betrachtung und der Bedeutung eines Kunstwerks, konstituiert jene Transformationsprozesse, die im frühen 19. Jahrhundert den Aufbruch in neue Darstellungsformen begleiten. Dabei spielen Klapp-Bilder und Kipp-Figuren eine bislang kaum beachtete Rolle. Mit dem Klapp-Bild werden visuelle Effekte und mechanische Prozesse eng aufeinander abgestimmt. Als eine bewusst inszenierte Form der Wahrnehmung kommt ihm um 1800 eine herausragende Bedeutung zu. Die KippFigur bezeichnet auf einer übergeordneten Ebene jene Mehrdeutigkeit, die im Medium des Klapp-Bildes angelegt ist. Im Folgenden soll der Bedeutung der Kipp-Figur und damit der ambiguen Lesart in Goethes Wahlverwandtschaften nachgegangen werden.1 Wenn man die 1809 erschienenen Wahlverwandtschaften als einen Roman versteht, in dem unterschiedliche Auffassungen und Denkmodelle gegeneinander auftreten, dann sind es vor allem die Bilder, die als vermittelnde Instanzen diese unterschiedlichen Auffassungen zur Anschauung bringen. Im Bild und durch das Bild lassen sich komplexe Verhältnisse darstellen. Der Begriff ›Bild‹ ist dabei weit gefasst. Es handelt sich in den Wahlverwandtschaften vor allem um Metaphern, Wortbilder, Allegorien, Symbole und Bilderrätsel. Sie alle dienen dazu, die Aussage des Textes mit Hilfe des Bildes um eine Vielzahl
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Der Beitrag erscheint in leicht veränderter Fassung auch in: Verena Krieger / Rachel Mader (Hrsg.), Ambiguität in der Kunst: Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 109–123. Über Klapp-Bilder und Kipp-Figuren der Romantik sind dem Verfasser keine Untersuchungen bekannt. Zum Einsatz des KlappBildes in der frühen Neuzeit vgl. Jörn Münkner, Eingreifen und Begreifen: Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern der Frühen Neuzeit. Berlin 2008, vor allem S. 88–137. Zu Kipp-Figuren im 20. Jahrhundert: Svenja Flaßpöhler / Tobias Rausch / Christina Wald (Hrsg.), Kippfiguren der Wiederholung. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Figur der Wiederholung in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Frankfurt am Main u.a. 2007.
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weiterer Bedeutungsebenen zu erweitern. Dadurch entsteht eine verwirrende Vielfalt von Text- und Bildbezügen, die auch in der Erzählstruktur mit ihren Einschüben, Parabeln und Perspektivwechseln zusätzlich an Schubkraft gewinnt. Die vielfach ineinander verwobenen Verweise auf das Visuelle liefern einen Beleg für die große Bedeutung, die Goethe in den Jahren nach 1800 dem Bild zuschreibt. Der Umgang mit dem Bild markiert allerdings auch das Dilemma, im dem sich die Kunst befindet. Im Dialog mit Johann Heinrich Meyer und Carl Ludwig Fernow nimmt Goethe sehr genau die Divergenzen zwischen den hohen Erwartungen an eine ideale Kunstform und den eher beklagenswerten Leistungen der zeitgenössischen Künstler zur Kenntnis. Aus diesem Widerspruch entwickelt sich eine lebhafte Debatte über die Historizität der Künste. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts scheint sich Weimar zum Zentrum einer Kunstgeschichtsschreibung herausgebildet zu haben, die sich bewusst auch auf die Kunst der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart erstreckte.2 Zu dieser Zeit beginnen erste polemische Auseinandersetzungen mit den ehemals in Jena wirkenden oder dort noch lebenden Protagonisten romantischer Ideen. Erst in den Jahren nach 1805 äußert sich Goethe dezidiert kritisch über alle jungen Künstler, die sich nicht den klassischen Traditionen verpflichtet haben. Alle Talente, ob Dichter, Musiker oder Maler haben einen falschen Weg eingeschlagen. Am 30. Oktober 1808 beklagt sich Goethe bei Carl Friedrich Zelter über die verirrten Schriftsteller Arnim, Brentano, Jean Paul und Joseph von Görres, und er bittet ihn um Nachrichten über fehlgeleitete junge Musiker: Haben Sie die Gefälligkeit, lieber Freund, wenn Sie eine Viertelstunde Zeit finden, mir die Verirrungen der musikalischen Jugend mit einigen Zügen zu schildern: ich möchte sie mit den Mißgriffen der Maler vergleichen; denn man muß sich ein für allemal über diese Dinge beruhigen, das ganze Wesen verfluchen, an die Bildung anderer nicht denken und die kurze Zeit die einem übrig bleibt zu eigenen Werken verwenden.3
Zu diesen eigenen Werken gehören die Wahlverwandtschaften, an denen Goethe zu diesem Zeitpunkt arbeitet und die in vielfältiger Weise die Verirrungen der zeitgenössischen Verhältnisse im Medium des Bildes reflektieren. Das Leiden an der Moderne und die Einsicht, dass eine moralische Erhebung des Menschen durch seine ästhetische Bildung fehlgeschlagen ist, machen den pessimistischen Grundton in den Wahlverwandtschaften aus. Entscheidend ist für ihn der Verlust der Eindeutigkeit eines verbindlichen, an der Antike orientierten Kanons. Dagegen beschwört Goethe die Gefahr einer romantischen Verwirrung herauf, die in der Vieldeutigkeit und Bedeutungsoffenheit der modernen Kunst zum Ausdruck kommt.
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3
Johannes Grave, Winckelmanns »schlecht abgefundene Erben«. Zur Spannung zwischen Kunsttheorie und Kunstgeschichte bei Goethe, Meyer und Fernow. In: Der Körper der Kunst. Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800, hrsg. von Johannes Grave / Hubert Locher / Reinhard Wegner. Göttingen 2007 [Ästhetik um 1800, Bd. 5], S. 31–85. Brief von Goethe an Carl Friedrich Zelter, 30. Oktober 1808. WA IV, 20, S. 192f.
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I. Die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der jungen Künstlergeneration spiegelt sich im Roman vor allem in jenen Partien wider, die sich dem Bild widmen. Im Folgenden soll deshalb die Bedeutung der »Lebenden Bilder« für den Kunstdiskurs um 1800 dargestellt werden.4 Im fünften Kapitel des Zweiten Teils schildert Goethe drei nachgestellte Bilder. Die Abendunterhaltung der Gesellschaft beginnt mit der Inszenierung des blinden Belisar nach einem Gemälde van Dycks. (Abb. 1)
Abb. 1: Louis-Gérard Scotin, Der geblendete Belisarius, undatiert. Kupferstich, seitenverkehrte Reproduktion des Gemäldes von Luciano Borzone, ehemals Anthonis van Dyck zugeschrieben, Klassik Stiftung Weimar.
4
Eine ausführliche Analyse bei Gisela Brude-Firnau, Lebende Bilder in den ›Wahlverwandtschaften‹. Goethes ›Journal intime‹ vom Oktober 1806. In: Euphorion 74 (1980), S. 403–416. Neuere Forschungen: Heike E. Brandstädter, Der Einfall des Bildes. Ottilie in den ›Wahlverwandtschaften‹. Würzburg 2000; Werner Schlick, Goethe’s ›Die Wahlverwandtschaften‹. A Middle-Class Critique of Aesthetic Aristocratism. Heidelberg 2000, S. 165–255; Nils Reschke, »Die Wirklichkeit als Bild«. Die Tableaux vivants der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, hrsg. von Gabriele Brandstetter. Freiburg im Breisgau 2003, S. 137–167.
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Der entsprechende Kupferstich aus dem Besitz Goethes dient als Vorlage für die Anordnung der Figuren.5 Der bei Kaiser Justinian in Ungnade gefallene siegreiche Feldherr Belisar, geblendet und seiner Güter beraubt, sitzt auf einem reich geschnitzten Stuhl. Helm, Schild und Marschallstab, die Insignien einstiger Macht, sind unbeachtet auf den Boden geglitten, statt dessen fasst die Rechte den Bettel- und Blindenstab. Mit der linken Hand bettelt Belisar um Almosen. In dem substantiellen Aufsatz Brude-Firnaus aus dem Jahre 1980 zu den Lebenden Bildern in den Wahlverwandtschaften wird diese Darstellung Belisars mit dem preußischen Feldherrn Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig in Verbindung gebracht.6 Der Herzog verlor, nachdem er in der Schlacht bei Jena und Auerstädt blind geschossen und von den Truppen Napoleons aus seinem Herzogtum vertrieben worden war, sämtliche Besitzungen. Damit ist die Darstellung des blinden Belisar nicht nur eine Allusion auf den Herzog von Braunschweig, sondern zugleich ein symbolischer Verweis auf das Ende des Ancien régime, das gerade am historischen Horizont versinkt. Goethes Text allerdings verrät davon nichts. An der entsprechenden Stelle heißt es: man wählte zuerst den Belisar nach van Dyk. Ein großer und wohlgebauter Mann von gewissen Jahren sollte den sitzenden blinden General, der Architekt den vor ihm teilnehmend traurig stehenden Krieger nachbilden, dem er wirklich etwas ähnlich sah. Luciane hatte sich, halb bescheiden, das junge Weibchen im Hintergrunde gewählt, das reichliche Almosen aus einem Beutel in die flache Hand zählt, indeß eine Alte sie abzumahnen und ihr vorzustellen scheint, daß sie zu viel thue. Eine andre ihm wirklich Almosen reichende Frauensperson war nicht vergessen.7
Goethe schildert also in erster Linie die Besetzung der einzelnen Rollen durch die Romanfiguren. Die zweite Aufführung gilt einer Nachahmung des Bildes von Nicolas Poussin, Esther vor dem persischen König, der hier in den Wahlverwandtschaften mit Napoleon in Verbindung gebracht wird. (Abb. 2) Goethe hatte vor Beginn der Napoleonischen Kriege Äschylos Tragödie Die Perser gelesen, welche die Zerstörung der persischen Flotte durch die Griechen in der Seeschlacht von Salamis behandelt. Es ist denkbar, dass über den Kupferstich auch auf den Aufstieg (und künftigen Niedergang Napoleons) angespielt wird. Eine solche Bedeutungsdimension dieses Stichs bezeugt Goethe selbst, als er, Jahre später, am 2. Februar 1817 im Weimarer Schloss diese Darstellung als Lebendes Bild aufführt. Auf dem entsprechenden Programmzettel heißt es:
5
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Bereits Brude-Firnau, Lebende Bilder (Anm. 4), hat darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Stich um ein Werk von Louis-Gérard Scotin nach dem Gemälde von Borzone handelt. Vgl. ebenda, S. 406f. Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman II, 5. WA I, 20, S. 252f.
Abb. 2: Jean Pesne, Esther vor Ahasverus, undatiert. Kupferstich, seitenverkehrte Reproduktion nach dem Gemälde von Nicolas Poussin, 49 × 68 cm, Klassik Stiftung Weimar.
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Esther erscheint gegen das Gebot, unaufgefordert vor dem König, um für ihre in großer Gefahr schwebende Nazion zu bitten. Da sie herein tritt, erschreckt sie in der Gegenwart der Majestät über ihre Kühnheit und sinkt in Ohnmacht.8
Damit konnte jeder in der historischen Esther die Herzogin Luise von SachsenWeimar erkennen, die am 15. Oktober 1806 als einzige Vertreterin des regierenden Hauses Napoleon entgegentrat und ihn, nach der Legende, einen Tag später gleichfalls unaufgefordert im Schloss um die Rettung ihres Herzogtums bat. Der Romantext der Wahlverwandtschaften gibt wiederum keine Auskunft über die Bildgestalt nach Poussin. Eine Deutung wird erst über die Vergegenwärtigung der Bilder möglich. Mit jedem weiteren Gemälde, das in den Wahlverwandtschaften nachgebildet wird, potenziert sich dessen Bedeutung. Die Lesbarkeit des einzelnen Bildes erhält durch die beteiligten Personen, durch die vorhergehende Handlung, durch den fiktiven wie den realen historischen Hintergrund ganz neue Sinnebenen. Die Bilder erzeugen stets neue, nicht ausschließlich in ihnen angelegte Vieldeutigkeiten. Obwohl – oder gerade weil – die Kupferstiche im Text nur genannt, aber nicht beschrieben werden, veranschaulicht erst ihre Kenntnis den Vergegenwärtigungsgestus des Bildes und ihre Verknüpfung mit der Romanhandlung, etwa das Almosen-Motiv in der Begegnung Eduards mit dem Bettler oder die Kontrastierung von Blindheit und Sehen bei Ottilie. Erst wenn der Leser auch zum Bildbetrachter wird, ist er in der Lage, die unterschiedlichen Argumentationsebenen des Autors zu erkennen; und erst dann werden ihm auch die formalen Parallelen im Bildaufbau der beiden Stiche, die ursprünglich in keinem ursächlichen Zusammenhang zueinander stehen, vor Augen geführt. Damit ist ein höchst komplexes Zusammenspiel von Romanhandlung, Bildersprache, historischen Ereignissen in Vergangenheit und Gegenwart und den Weimarer Verhältnissen mit kunsttheoretischen Positionen zur intermedialen Dynamik zwischen Bild, Reproduktionsgraphik, Theaterinszenierung, Verlebendigungs- und Nachahmungsästhetik verknüpft. Die toten Bilder der Vergangenheit gehen mit den Lebenden Bildern der Gegenwart eine die Sinne verwirrende Verbindung ein. Nichts macht dies deutlicher als die Figur der Ottilie, die in den letzten beiden tableaux vivants in einem Tag- und einem Nachtbild als Jungfrau Maria erscheint. Damit nimmt Goethe ihre eigene Metamorphose vorweg und verweist auf das Problem menschlicher Transzendenz. Bereits während ihres Besuchs in der Kapelle musste sie erkennen, dass ihr eigenes Bildnis im frisch ausgemalten Gewölbe der alten Kapelle entstand, und zwar auf dem Wege vom Auge zur Hand des Künstlers. »Genug, eins der letzten Gesichtchen glückte vollkommen, so daß es schien als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Räumen heruntersähe«.9 Die Verknüpfung von historischem Vorbild und seiner Reproduktion als zeitgenössischem Nachbild, dem tableau vivant, funktioniert auch in der entgegengesetzten Richtung. Die handelnden Personen verhalten sich wie Bildfigu-
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Zitiert nach: Brude-Firnau, Lebende Bilder (Anm. 4), S. 410. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 3. WA I, 20, S. 219.
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ren, so dass man kaum noch zwischen Vor- und Nachbild unterscheiden kann.10 Die Entgrenzung des Bildes ist Programm der Moderne, und Goethe dekliniert alle diese Möglichkeiten neuer Kombinationen durch. Das Verschleifen von realer und ikonischer Präsenz gehört ebenso zu den Sündenfällen gegenüber dem klassizistischen Kanon wie die Figur des Architekten, der als Zeichner, Maler, Restaurator, Gartengestalter und als Baumeister auftritt und damit gegen die präzise Trennung der verschiedenen Kunstformen verstößt. Das Unbehagen daran artikuliert Goethe in einem Nebensatz zu den tableaux vivants: Die Gestalten waren so passend, die Farben so glücklich ausgetheilt, die Beleuchtung so kunstreich, daß man fürwahr in einer andern Welt zu sein glaubte; nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte.11
Der gesamte Roman ist von diesen Wechseln zwischen Schein und Wirklichkeit durchsetzt. Die Disposition von imaginierter Wirklichkeit und gegenwärtigem Schein gehört zu den Schlüsselthemen der Romantik. August Wilhelm Schlegel gleicht in den Gemäldegesprächen die abwesenden Bilder mit der gegenwärtigen realen Natur ab. Während die drei Hauptpersonen der Gemäldegespräche an den Hängen zum Ufer der Elbe Platz nehmen und über die zuvor betrachteten Bilder im Museum sprechen, verweben sich die Eindrücke von den Landschaftsdarstellungen mit jenen der gegenwärtigen Landschaft. Luise: seit ich mich mit diesen Dingen viel beschäftige, sehe ich eine wirkliche Gegend mehr als Gemählde, und ein Landschaftsstück suche ich mir zu einer wahren Aussicht zu machen.12
Goethe nimmt darauf direkt Bezug und bringt auf der Höhe der Auseinandersetzung mit Schlegel 1809 in den Wahlverwandtschaften die strikte Trennung zwischen Einbildung und Wirklichkeit ins Spiel. In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durch einander.13
Dann kommt der entscheidende Satz: Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben.14
Goethe belässt es aber nicht bei diesem Abwehrgestus gegen die Romantiker. Er geht einen Schritt weiter und lotet exakt jenen Punkt aus, der Schein und Wirklichkeit voneinander trennt. Und darin besteht auch die Radikalität des 10 11 12 13 14
Gabrielle Bersier, Goethes Rätselparodie der Romantik. Eine neue Lesart der ›Wahlverwandtschaften‹. Tübingen 1997. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 5. WA I, 20, S. 253. August Wilhelm Schlegel, Die Gemählde. Ein Gespräch von W. In: Athenaeum Bd. 2, 1. Stück. Berlin 1799, S. 39–151, hier S. 62. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 11. WA I, 20, S. 131. Ebenda.
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Romans, nämlich an der Grenze der Darstellbarkeit dieses transitorische Moment in aller Konsequenz vorzuführen.
II. Als drittes tableau vivant hatte man nämlich eine Darstellung Gerard ter Borchs gewählt. (Abb. 3)
Abb. 3: Johann Georg Wille, Väterliche Ermahnung. Kupferstich, nach einem Gemälde von Ter Borch, 1765.
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Luciane spielte eine über die Maßen schöne Tochter, deren Erscheinung weit über jenes Originalbildnis herausreichte. Im Bild kehrt sie dem Publikum jedoch den Rücken zu, so dass ein lustiger ungeduldiger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt: tournez s’il vous plaît laut ausrief und eine allgemeine Beistimmung erregte.15
Aber Luciane blieb standhaft und kam dem Wunsch nicht nach. Hätte sie sich bewegt, hätte sie das Bild zerstört, zugleich aber dem Wunsch des Publikums nach Schönheit entsprochen. Tournez s’il vous plaît bezeichnet exakt den Austritt aus dem Bild in die Wirklichkeit. Die Paradoxie besteht darin, dass das Lebende Bild nur dann funktioniert, wenn es ganz starr bleibt. Jede Bewegung zerstört den Bildcharakter und trennt die Sphäre der Kunst von jener der natürlichen Gegenwart. Goethe verwendet einen anschaulichen Begriff für die Wende, die weit mehr als eine mechanische Operation ausmacht.16 Tournez s’il vous plaît wird zur wichtigsten Kipp-Figur des gesamten Romans. Ich möchte deshalb diesen Satz auf zwei Ebenen darstellen, zunächst in seiner metaphorischen und anschließend in seiner konkreten wörtlichen Bedeutung. Der erste Verweis auf das Umwenden kommt eher unscheinbar und beiläufig daher. Laß uns die englischen Parkbeschreibungen mit Kupfern zur Abendunterhaltung vornehmen, nachher deine Guts-Karte. Man muß es erst problematisch und nur wie zum Scherz behandeln; der Ernst wird sich schon finden. Nach dieser Verabredung wurden die Bücher aufgeschlagen, worin man jedesmal den Grundriß der Gegend und ihre landschaftliche Ansicht in ihrem ersten rohen Naturzustande gezeichnet sah, sodann auf andern Blättern die Veränderung vorgestellt fand, welche die Kunst daran vorgenommen, um alles das bestehende Gute zu nutzen und zu steigern.17
Damit nimmt Goethe Bezug auf eine Darstellung, die der englische Gartenarchitekt Humphry Repton entwickelt hatte.18 Im späten 18. Jahrhundert entwarf Repton ein Verfahren, seinen adligen Auftraggebern die Notwendigkeit zur Verschönerung ihrer Landsitze bildhaft vor Augen zu führen. Er stellte in mehreren Abhandlungen und vor allem in den berühmten Red Books jeweils den gegenwärtigen Zustand eines Landschaftsgartens dar und daneben den zum Ideal umgestalteten Naturausschnitt. Die Gegenüberstellung erfolgt allerdings nicht in einer bildparallelen Präsentation. Die zeitliche Differenz zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Zustand der Landschaft wird durch einen Klapp-Mechanismus veranschaulicht. Der Betrachter entscheidet sich für einen Zeitpunkt, und er hat den jeweils anderen zum Abgleichen als Bild gespeichert. Der Raum bleibt stets konstant. Der Prozess der Wahrnehmung wird durch das mechanische Klappen der Hand gesteuert. (Abb. 4) 15 16
17 18
Ebenda, II, 5.WA I, 20, S. 255. Zur politischen Bedeutung des Wendemotivs siehe Nils Reschke, »Zeit der Umwendung«. Lektüren der Revolution in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Freiburg im Breisgau, Berlin 2006. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 6. WA I, 20, S. 75. André Rogger, Die Red Books des Landschaftskünstlers Humphry Repton. Worms 2007.
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Abb. 4: Humphrey Repton, Warley near Birmingham – A Seat of Samuel Galton Esqr., 1795. Oben: Ausblick nach Osten im Status Quo. Unten: Ausblick nach Osten, über See mit Jäger und Wildgänsen. Aquarell, 17,5 × 27,5 cm, Sandwell Local Studies, Smethwick Library.
Von Klapp-Bildern und Kipp-Figuren
Abb. 5: Humphrey Repton, Wentworth Woodhouse Yorkshire – A Seat of the Right Honble. Earl Fitzwilliam, 1791/94. Oben: Die Annäherung vom Dorf an den Parkeingang. Unten: Die Angleichung des Dorfs an das Parktor. Federzeichnung, grau laviert, 21 × 15,5 cm, Privatsammlung, England.
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Die Bücher sollten den adligen Landeigentümern auf anschauliche Weise das Verbesserungs- und Verschönerungspotential ihrer Besitzungen vor Augen führen. Ausführlich werden mittels der Bilder auch die Möglichkeiten erörtert, entweder das alte Schloss zu erneuern oder in der Nähe einen ganz neuen Landsitz zu errichten. Dabei geht es Repton sowohl um ästhetische wie ökonomische und soziale Fragen. Genauso, wie der Landsitz einer Verbesserung bedarf, sollen auch die umliegenden und zur Herrschaft gehörigen Ortschaften umgestaltet werden. Dieses Element der Fürsorge nimmt in den Texten einen bedeutenden Rang ein. Repton kritisiert eine neue Klasse von Landhaus-Besitzern, die, um ihr Areal zu vergrößern, die alten Bande zwischen Grundherren und Pächtern auflösen und die Cottages verfallen lassen. Dieses Verhalten mindere die tatsächliche Bedeutung eines Landsitzes und trage zu einer zunehmenden Verarmung der Landbevölkerung bei. Goethe lässt den Hauptmann gemeinsam mit Eduard durch das recht heruntergekommene Dorf nahe dem Schloss gehen: Du erinnerst dich, sagte der Hauptmann, wie wir auf unserer Reise durch die Schweiz den Wunsch äußerten, eine ländliche sogenannte Parkanlage recht eigentlich zu verschönern, indem wir ein so gelegenes Dorf nicht zur Schweizer-Bauart, sondern zur Schweizer-Ordnung und -Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befördern, einrichteten. […]Laß es uns versuchen, sagte der Hauptmann, indem er die Lage mit den Augen überlief und schnell beurtheilte.19
Man kommt überein, dem Dorf mit seinen ganz unterschiedlichen Bauten und Begrenzungen ein einheitliches Aussehen zu geben. (Abb. 5) Humphry Repton verbindet die soziale Frage der Landbevölkerung mit der Ästhetisierung der Landschaft, und so kann er mit einer Klappbewegung auch einen Bettler von der Bildfläche verschwinden lassen.20 In der Bettler-Szene der Wahlverwandtschaften beruhigt der Hauptmann den aus der Fassung geratenen Eduard, dass man den an der Straße stehenden Bettler leicht loswerden könne: Uns macht die Lage des Dorfes, des Schlosses, eine solche Anstalt sehr leicht; ich habe schon früher darüber nachgedacht. An dem einen Ende des Dorfes liegt das Wirthshaus, an dem andern wohnen ein Paar alte gute Leute; an beiden Orten mußt du eine kleine Geldsumme niederlegen. Nicht der in’s Dorf Hereingehende, sondern der Hinausgehende erhält etwas; und da die beiden Häuser zugleich an den Wegen stehen die auf das Schloß führen, so wird auch alles, was sich hinaufwenden wollte, an die beiden Stellen gewiesen.21
Reptons Schriften waren seit 1796 in Weimar ausführlich besprochen und in Auszügen auch übersetzt worden, und zwar im Journal des Luxus und der Moden wie im Allgemeinen Teutschen Garten-Magazin. Susanne Müller-Wolff
19 20
21
Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 6. WA I, 20, S. 71f. Die Darstellung mit dem Bettler befindet sich in Reptons Fragments on the Theory and Practice of Landscape Gardening. London 1816; vgl. A. Rogger, Red books (Anm. 18), S. 23. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 6. WA I, 20, S. 73f.
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weist in ihrem Buch über den Ilm-Park nach, dass 1803 die unmittelbar an das Schloss angrenzenden Partien nach den Prinzipien Reptons umgestaltet worden sind.22 Der Rezensent von Reptons Sketches and Hints on Landscape-Gardening, erschienen 1796, verweist im Journal des Luxus und der Moden auf Reptons Zieh-Bilder, die neben dem Klapp-Mechanismus zum Einsatz kamen: Da bey einem Plane zu einer schönen Gartenanlage alles zwischen den zwey Endpunkten liegt, wie die Gegend in ihrem natürlichen oder künstlichen Zustande vor der neuen Anlage ausgesehen habe, und was nun durch Improvement daraus geworden sey, und da es nicht wohl möglich war, diese Endpunkte in zwey verschiedenen Grundrissen oder Zeichnungen so genau neben einander zu stellen, dass nicht für den bloßen Beschauer, der, nicht an Ort und Stelle die Gegend in diesem doppelten Zustande gesehen hatte, mancherley Dunkelheiten und Irrthümer davon entstehen konnten: so dachte Hr. Repton auf ein Mittel, das auf einander vorzustellen was nebeneinander nicht gehen wollte. Er erfand bewegliche Papierschnittchen, die er slides (Abgleiter) nennt. So lange diese auf der Fläche der Zeichnung liegen bleiben, zeigen sie, da sie selbst bemahlt sind, die Gegend in ihrem ursprünglich unverschönerten Zustande. Schiebt man sie weg, so erblickt man auf den Stellen, worauf sie lagen, eben diese Gegend, so wie sie sich nach der Verschönerung ausnehmen wird.23
Die Bedeutung Reptons für Goethe lag aber nicht nur in seinen bildtechnischen Verfahren, die Wirklichkeit der Gegenwart mit Hilfe der Klapp-Figur einer idealen Zukunft zu vermitteln, und auch nicht in den gesellschaftlichen Vorstellungen, sondern vor allem in seinen ästhetischen und bildtheoretischen Positionen. (Abb. 6) Entgegen dem konditionierten Verfahren, Gegenwart und Zukunft zu überbrücken, werden die beiden unterschiedlichen Zeitpunkte der Betrachtung auf einen reduziert. Die Eindeutigkeit der sukzessiven Wahrnehmung wird mit der Ambiguität der simultanen Wahrnehmung konfrontiert. Dieses Blatt wirft mehrere Fragen auf. Handelt es sich um unterschiedliche Wirklichkeitswahrnehmungen der Figuren im Bild? Handelt es sich um eine Projektion der Skizze des Künstlers auf die Landschaft, oder sehen wir als Betrachter etwas, das den beiden dargestellten Figuren verborgen bleibt? Der Künstler stellt das Schöne dar, aber er produziert es auch. Repton ist Landschaftsmaler und Landschaftsarchitekt, der sowohl virtuell wie real die Verhältnisse verändert. Der rohe Naturzustand kommt ohne Künstler aus, erst die schöne Landschaft ist das Thema des Zeichners, und man fragt sich: Produziert oder dokumentiert der Künstler das Ideal? Der Maler reflektiert den Prozess des Bildentwurfs in der Relation zum Prozess der Wahrnehmung. Künstlerische Produktion und Rezeption sind auf das Engste miteinander verknüpft. Ihr Verhältnis ist ein zentrales Thema der ästhetischen Debatten um 1800. Der entscheidende Wechsel von der Wiedergabe der Natur im Bild als einer Illusion von Wirklichkeit zur Reflexion über die Konstituierung von Wirklichkeit er22 23
Susanne Müller-Wolff, Ein Landschaftsgarten im Ilmtal. Die Geschichte des Herzoglichen Parks in Weimar. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 247 und S. 318. Journal des Luxus und der Moden. Weimar, September 1796, S. 459f.
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Abb. 6: Humphrey Repton, Rûg in Merionethshire North Wales –A Seat of Edward Williames Vaughan Salesbury, 1795. Oben: Ausblick in karges Bergtal, mit Schäfer. Unten: Ansicht des neuen Hauses, mit Schäfer und Zeichner. Aquarell, 18,5 × 27 cm, Privatsammlung, Nordwales.
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folgt im Prozess des Sehens. Nicht der wahrgenommene Gegenstand, sondern der wahrnehmende Beobachter formuliert ein neues Verständnis vom Bild. Vieldeutigkeit und Sinnoffenheit entstehen exakt an dieser Schnittstelle des Verhältnisses von betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt. Die Klapp-Figur bringt dieses Verhältnis zur Anschauung. Mit einer mechanischen Bewegung wechselt der Betrachter vom Gegenwarts-Modus in jenen der künstlerischen Vorstellung. Dadurch entfaltet das Werk Ambiguität. Dieses Kippen als eine Metapher für den Wandel von schwebender Einbildungskraft zu reflektierender Vernunft spielt in der Naturphilosophie um 1800 eine nicht unbedeutende Rolle. Genannt, aber nicht weiter ausgeführt sei hier nur die Vorstellung Fichtes, dass der Erkenntnisprozess sich in einem Schwebezustand befindet, bevor die Anschauung in einen bestimmten Begriff umkippt.24 Goethe bringt das Klapp-Motiv im Sinne Reptons mehrfach zur Anschauung. Die Aufforderung an Luciane als Bildfigur ter Borchs, sich umzuwenden und damit den Beweis für ihre, das Bild übertreffende, Schönheit anzutreten, nimmt den Verschönerungsgestus der Klapp-Bilder Reptons ironisch auf. Nachdem das Motiv der Umwendung aus der Gartenliteratur eingeführt wurde und in den tableaux vivants die Differenz zwischen Text- und Bildmodus markierte, setzt es Goethe in zwei Schlüsselszenen des Romans ein. Die nächste Wende bringt der Autor unmittelbar mit dem Ehebruch in Verbindung: Eduard hob seine Arme empor: Du liebst mich! rief er aus: Ottilie du liebst mich! und sie hielten einander umfaßt. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen.Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er nicht mehr was er gewesen, die Welt nicht mehr was sie gewesen.25
In gleicher Weise gilt dies auch für Otto. Es ist der ins Kippen gekommene Kahn, der die Katastrophe vorbereitet: Das Ruder entfährt ihr, nach der einen Seite, und wie sie sich erhalten will, Kind und Buch, nach der andern, alles in’s Wasser. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen. Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingt’s, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, er hat aufgehört zu athmen.26
Im tableau vivant leitet eine unbedachte Bewegung den Übergang vom illusionistischen Kunstwerk zur Wirklichkeit ein. Ottilie leidet als die Bildfigur Maria unter der Bedingung, sich absolut starr zu verhalten. Ihr Herz war befangen, ihre Augen füllten sich mit Thränen [weil sie die Augenlider nicht bewegen sollte, R.W.], indem sie sich zwang immerfort als ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh war sie, als der Knabe sich zu regen anfing, und der
24 25 26
Vgl. Jonas Maatsch, »Naturgeschichte der Philosopheme«. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext. Heidelberg 2008, S. 174. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 12. WA I, 20, S. 136. Ebenda, II, 13. WA I, 20, S. 360.
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Künstler sich genöthiget sah das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wieder fallen sollte.27
Hier kündigt sich das Gegenbild zum tragischen Vorfall im Kahn an: Unendliche Thränen entquellen ihren Augen und ertheilen der Oberfläche des Erstarrten einen Schein von Wärm’ und Leben.28
Dem Schein des erstarrten Kunstbildes entspricht der Schein von Wärme und Leben. Über den Bewegungsimpuls sind beide Bereiche miteinander verbunden. Angesichts der großen Bedeutung der Bewegung in dem Roman könnte man versuchen, einen strukturellen Wendepunkt zwischen dem Ersten und Zweiten Teil ausmachen. Die Motive entsprechen sich auffällig komplementär. Der Mooshütte, die den Beteiligten einen Blick durch die Fenster nach außen in die Natur gestatten, steht die Kapelle gegenüber, deren Bilder im Innern durch das von außen eindringende Licht entstehen. Bei der Grundsteinlegung des neuen Hauses werden neben schriftlichen Nachrichten und Münzen zufällig gewählte Gegenstände für die ferne Nachwelt eingemauert. Im zweiten Buch breitet der Architekt jene Gerätschaften aus, die in den Gefäßen der Gräber gefunden wurden. Auch hier waren Münzen darunter, die der Architekt mit den Anfängen des Drucks und frühen Holzschnitten zusammen brachte. Während das neue Haus im Ersten Teil langsam entstand, wuchs die Kapelle »gleichsam der Vergangenheit entgegen«,29 wie es im Text heißt.
III. Im Folgenden soll die wörtliche Bedeutung der Kipp-Figur tournez s’il vous plaît dargestellt werden. Rufen wir uns zunächst nochmals die entsprechende Passage ins Gedächtnis: Im tableau vivant nach ter Borch spielt Luciane eine über die Maßen schöne Tochter, allerdings kehrt sie dem Publikum den Rücken zu, sodass ein lustiger ungeduldiger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt: tournez s’il vous plaît laut ausrief und eine allgemeine Beistimmung erregte.30
Nimmt man den Text wörtlich, so bezieht sich die Aufforderung zum Wenden nicht nur auf Luciane, sondern auf den Stich selbst und vor allem auf die Seite im Buch. Damit eröffnet Goethe einen intensiven Diskurs zur Lesbarkeit des Bildes. Es fällt auf, dass mit Ausnahme des Deckengemäldes in der Kapelle alle zentralen Bildmotive den graphischen Künsten entlehnt sind. Selbst die Lebenden Bilder entstehen nach Stichvorlagen und nicht nach dem Original. 27 28 29 30
Ebenda, II, 6. WA I, 20, S. 274f. Ebenda, II, 13. WA I, 20, S. 261. Ebenda, II, 2. WA I, 20, S. 210. Ebenda, II, 5. WA I, 20, S. 255.
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Die Wahrnehmung des Bildes ist stets an die Wahrnehmung des Textes und damit an das Medium ›Schrift‹ gebunden. Das trifft auf die Landschaften Reptons zu, die in den Red Books zu betrachten sind, und es trifft auch auf die Skizzenbücher und Portefeuilles zu, die der Architekt passend zu jeder Gelegenheit herauszieht. Immer wird das Potential des Bildes mit dem Potential des Textes abgeglichen. Die übereinandergeblendeten Bilder erhalten somit den Status eines Palimpsests. Man denke nur an die verschiedenen Farbschichten an der Decke der Kapelle, die mit dem gerade aufgetragenen Bild der Heiligen ›aktualisiert‹ wurde. In den Jahren nach 1800 und in der Auseinandersetzung mit den Romantikern spielen die charakteristischen Eigenschaften des jeweiligen Mediums eine große Rolle. Das Bild als eine Raumkunst, die keine Zeitfolge wiedergibt, dafür aber auf einen Blick das Ganze erfassen lässt, tritt mit dem Text als einer Zeitkunst in Konkurrenz, die eine chronologische Reihung, aber keinen Totaleindruck gestattet. Goethe experimentiert auf vielen Ebenen mit diesem spannungsreichen Zusammenwirken von simultaner und sukzessiver Wahrnehmung. Gleich zu Beginn des Romans wird der Leser damit konfrontiert. Eduard und Charlotte treffen sich in der Mooshütte: An der Thüre empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Thür und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf Einen Blick übersehen konnte.31
Diese Formulierung, verschiedene Bilder »auf einen Blick übersehen« zu können, deutet hier einen Tabubruch an, der im Laufe der Handlung noch an Schärfe gewinnt. Als besonders prekär schildert Goethe Simultanität und Sukzessivität als eine neue Zeiterfahrung im Umgang mit dem Text in jener Passage, die Eduards Vorliebe, der Gesellschaft vorzulesen, zum Ausdruck bringt. In früherer Zeit, bei’m Vorlesen von Gedichten, Schauspielen, Erzählungen, war es die natürliche Folge der lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schauspieler, der Erzählende hat, zu überraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freilich dieser beabsichtigten Wirkung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt. [...] Wenn mir jemand in’s Buch sieht, so ist mir immer als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde.32
Auch hier kommt es wieder auf die exakte Wortbedeutung an. Der Begriff »vorlesen« kann sowohl als sprachlicher Akt, als auch als zeitliche Folge verstanden werden. Die Simultanität des Bildes und die Sukzessivität des Textes werden bis ins Extreme getrieben. Goethe spezifiziert später in dem Aufsatz Bedenken und Ergebung diese Gedanken und folgert, dass eine Zusammenführung dieser Gegensätze nur als Idee Bestand hat: daher ist in der Idee Simultanes und Successives innigst verbunden, auf dem Standpunct der Erfahrung hingegen immer getrennt, und eine Naturwirkung die wir der
31 32
Ebenda I, 1. WA I, 20, S. 4. Ebenda, I, 4. WA I, 20, S. 45f.
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Idee gemäß als simultan und successiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen.33
Diese Naturerscheinung deutet aber Repton mit seiner Darstellungsform des Klapp-Bildes an. Die zeitliche Differenz wird durch den Beobachter, durch identische Staffagefiguren oder auch durch gleichbleibende Wolkenformationen aufgehoben. Simultane und sukzessive Wahrnehmung gehen miteinander ganz neue Verbindungen ein. Die Kunst um 1800 ist wie kaum eine andere Epoche gekennzeichnet von Sinnoffenheit und Bedeutungsvielfalt. Dadurch verlieren Gattungsgrenzen, wie sie noch Gotthold Ephraim Lessing gefordert und anerkannt hat, ihre Bedeutung. Dem Verlust eines verbindlichen Kanons steht der ungeheure Gewinn an Einbildungskraft gegenüber. Goethe nimmt in vielfacher Weise Bezug auf Lessing, aber er kann sich den neuen Ideen nicht ganz verschließen. In den Wahlverwandtschaften lotet er exakt jenen Punkt zwischen Wirklichkeit und Einbildungskraft aus. Das Motiv der Wendung ist allgegenwärtig. Es trennt die Sphäre der Kunst von jener der Natur, es scheidet die Konfigurationen von Zeitlichkeit und Raum, und es dokumentiert das Beharren Goethes auf der Einhaltung der Gattungsgrenzen. Die bildliche Kipp-Figur als eine Metapher für die in den ästhetischen Diskursen um 1800 konstatierten Antagonismen und Transformationsprozesse korrespondiert auf der Sprachebene mit der Parole tournez s’il vous plaît, die sich damit als ein Schlüsselmotiv des Romans erweist.
33
Bedenken und Ergebung. WA II, 11, S. 57.
Zum Problem gesellschaftlicher Vorurteile und individueller Denkstörungen in Goethes Wahlverwandtschaften Eine psychoanalytische Untersuchung Hermann Beland
In den Dokumenten zur Wirkungsgeschichte der Wahlverwandtschaften wird Goethes Antwort auf einen unbekannten Gesprächspartner wiedergegeben, der ihn im Erscheinungsjahr 1809 gefragt haben soll, ob die Wahlverwandtschaften wahr seien, ob sie auf Tatsächlichem beruhten. Die Antwort sei gewesen: Jede Dichtung, die nicht übertreibt, ist wahr, und alles, was einen dauernden tiefen Eindruck macht, ist nicht übertrieben. [...] Das Benutzen der Erlebnisse ist mir immer alles gewesen; das Erfinden aus der Luft war nie meine Sache, ich habe die Welt stets für genialer gehalten, als mein Genie.1
Goethes künstlerische Benutzung der eigenen Erlebnisse hat Psychoanalytiker immer in Erstaunen versetzt. Der Grund ist einfach zu benennen, so fassungslos er macht: Obwohl fiktiv, sind alle in den Wahlverwandtschaften charakterisierten Personen psychologisch in allen Einzelheiten stimmig. Sie lassen sich wie lebendige Menschen verstehen. Das soll im Folgenden versucht und – konzentriert auf individuelle wie kollektive Denkstörungen – vorgestellt werden. Als Freud 1930 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt mit Dank angenommen hatte, ließ er seine Tochter Anna einige Sätze vorlesen, die Goethes Beziehung zur Psychoanalyse behandelten. Wie er Dr. Alfons Paquet, den Kurator des Goethe-Preises wissen ließ, wollte er auch die Analytiker selbst gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, dass sie durch psychoanalytische Versuche an Goethes Werk und Person die dem Großen schuldige Verehrung verletzt hätten: Ich denke, Goethe hätte nicht, wie so viele unserer Zeitgenossen, die Psychoanalyse unfreundlichen Sinnes abgelehnt. Er war ihr selbst in manchen Stücken nahe gekommen, hatte in eigener Einsicht vieles erkannt, was wir seither bestätigen konnten.2
1 2
Vgl. Ursula Ritzenhoff (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 22004, S. 130. Sigmund Freud, Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus (1930). In: Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud u.a. London u.a. 1940–1987, Bd. 14, S. 547–550, hier S. 547.
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Freud hätte auch auf den Grund verweisen können, weshalb die Wahlverwandtschaften noch immer unsere Aufmerksamkeit fangen: Weil die in der Fiktion benutzten Erlebnisse bis in die Denkstörungen der Gesellschaft hinabreichen und als solche untersucht werden können und eigentlich auch untersucht werden müssten. Jene Denkstörungen sind – das scheint Goethes Absicht gewesen zu sein – durch die Wahlverwandtschaften zu einer Arbeitsanforderung für das Nachdenken des kommenden Zeitalters erhoben worden.
I. Der Wirklichkeitsbezug und das gestörte Denken – schwierigstes Problem der Passionen Wenn ein Patient seine Erlebnisse berichtet, richtet sich das leidenschaftliche Zuhören des Psychoanalytikers auf jene unbewussten Bedeutungen, die die Störungen des Denkens bezeugen.3 Dasselbe Verfahren lässt sich auf die Personen des Romans anwenden, weil der Goethesche Realismus im »Benutzen der Erlebnisse« auf derselben Anerkennung von Wirklichkeit, auf demselben Versuch, die Wahrheit dieser Erlebnisse herauszufinden, beruht: Es geht immer um das Erfassen ihrer unbewussten Bedeutung. Auch wenn sie der Leser nicht bewusst formulieren könnte, ist er doch von der unbewussten Bedeutung erreicht. Die »Erlebnisse«, auf die Goethe Bezug nahm, die er künstlerisch benutzte, enthielten das private und das gesellschaftliche Seelische, das Eigene wie das Fremde, das Tatsächliche, das der Künstler nur als Verstandenes schöpferisch verwenden konnte. Bemerkenswerterweise sind diese »Erlebnisse« häufig als Denkstörungen strukturiert. Es gibt eine tiefe Verbundenheit zwischen der Haltung des Dichters und der therapeutischen Haltung Freuds. Nach einer schönen Bemerkung von Roy Schafer bestand Freuds therapeutisches Genie im Erschaffen einer Möglichkeit, an dem zerstörerischen Schicksal eines Patienten wirklich teilzunehmen, ohne mit ihm zugrunde gehen zu müssen4 – wie es die Heiligen und die Liebenden bisher immer mussten, wie im Roman noch Eduard und Ottilie. Ich nehme an, dass große Künstler ihre Erlebnisse genauer und tiefer reichend verarbeiten müssen als ihre Zeitgenossen. Sie erschaffen in ihren Werken dann neue Symbole, in denen sie die schweren, noch weitgehend sprachlosen Konflikte des Zeitalters, teilnehmend als wären es die eigenen, aufgenommen und seelisch soweit durchgearbeitet haben, dass sie mit Hilfe des Kunstwerks, dem neuen künstlerischen Symbol, eine neue Teilhabe der Gesellschaft an einer jetzt bewusstseinsfähigeren Problemerfassung, vielleicht sogar Problemüberwindung ermöglichen. Sie nehmen dadurch nachhaltig Einfluss auf die gegenwärtigen wie auf die kommenden Generationen. Die Wahlverwandtschaften waren vor 200 Jahren das aufregend-erschütternde neue Symbol, eine 3 4
Vgl. Hermann Beland, Leidenschaftliches Zuhören gegen unbewußte Gewalt – Die Erfolge der Psychoanalyse. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 49 (2004), S. 9–38. Vgl. Roy Schafer, The psychoanalytic vision of reality. In: International Journal of Psycho-Analysis 51 (1970), S. 279–297, hier S. 279.
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Bestandsaufnahme der geistigen Kräfte von Vergangenheit und Gegenwart. Sie wurden geschrieben in Antwort auf die katastrophischen Veränderungen und Herausforderungen der Zeit. Ich gehe im Folgenden von Hanna Segals psychoanalytischer Kunsttheorie5 und von Wilfred Bions tiefensoziologischen Konzepten aus.6 Katastrophische Veränderungen ereignen sich gesellschaftlich und individuell, wie Wilfred Bion, der wohl bedeutendste Analytiker seit Freud, beobachtete, in drei Prozessphänomenen: im Umsturz des Systems, in Gewalt, und in der Invarianz von einigen der alten und der neuen Hauptkräfte.7 Die Französische Revolution wie die Napoleonischen Kriege, die beide Europa völlig veränderten und bis in das Haus am Frauenplan hineintobten, die philosophischen Kritiken von Hume, Montesquieu und dem Alleszertrümmerer Immanuel Kant, aber auch die Antwort der Romantiker auf die katastrophischen Veränderungen bildeten Goethes Ausgangspunkt. Ich teile die Meinung jener Interpreten, die in den Wahlverwandtschaften eine gewollte Konzentration auf die wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte der Umbruchszeit sehen. Die fiktiven Charaktere ermöglichten die Konzentration auf Hauptprobleme. Sie bestehen nach Meinung des Dichters, jedenfalls kommt es mir so vor, nicht primär in den Invarianten der Zeitalter, den leidenschaftlichen Liebeswechseln, Partnerwahlen und Ehen, sondern in den gestörten Wirklichkeitsverhältnissen der Wahlverwandten, in den Denkstörungen hinter den Leidenschaften und Grundüberzeugungen des Zeitalters. Von der Liebe kann man immer Verbesserungen erhoffen; umso wichtiger waren und sind die Denkstörungen in den Liebesbeziehungen, die sowohl das Denken wie die Liebe, die Wahrheit wie das Leben der gesellschaftlichen Kollektive bedrohen. Viele Zeitgenossen mögen 1810 nach der Lektüre der Wahlverwandtschaften empfunden haben, was Karl Friedrich von Reinhard an Goethe geschrieben hatte: Indessen, wenn wir jemals zu einer tieferen Kenntniss der Geheimnisse unserer Natur gelangen, so dass wir im Stande sind, uns davon Rechenschaft abzulegen, so ist es möglich, dass Ihr Buch alsdann als eine wunderbare Anticipation von Wahrheiten dastehe, von denen wir jetzt nur eine dunkle Ahnung haben.8
Besteht die »wunderbare Anticipation« in wesentlichen Erkenntnissen der Psychoanalyse? Ich vermute es und möchte versuchen, in einer neuerlichen psychoanalytischen Beschäftigung mit den Wahlverwandtschaften das Gemeinsa5 6 7 8
Vgl. Hanna Segal, Wahnvorstellungen und künstlerische Kreativität. Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart 1992. Wilfred R. Bion, Aufmerksamkeit und Deutung. Tübingen 2006. Vgl. ders., Transformationen. Frankfurt am Main 1997, S. 21–33, bes. S. 28f.; Aufmerksamkeit und Deutung, S. 122–142. Brief von Karl Friedrich von Reinhard an Goethe, 16. Februar1810. Zitiert nach: Ritzenhoff, Erläuterungen (Anm. 1), S. 132; vgl. zur Verknüpfung von zeitgenössischer Naturforschung und Erkundung des Unbewussten auch Helmut Hühn, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die zeitgenössische Physik. In: Olaf Breidbach / Roswitha Burwick (Hrsg.), Physik um 1800 – Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie / Physics around 1800 – Arts, Science or Philosophy. Paderborn, München 2010 [in Vorbereitung].
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me in beiden Bereichen, Individuum und Gesellschaft, in den Denkstörungen zu finden, die Goethe in den phänomenalen Symbolbeziehungen der Wahlverwandten antizipiert hat.9 Ich meine vor allem jene tiefenpsychologischen und tiefensoziologischen Phänomene, die Goethe so frappierend genau ausgebreitet hat, die in der Psychoanalyse das psychotische unbewusste Denken genannt werden, von dessen Macht die Wahlverwandten jede/r für sich genommen und auf je ihre/seine Weise gesteuert oder geängstigt werden, wie auch die Romangesellschaft als ganze von diesem gestörten Denken mit geformt wird. Mein Interesse gilt deshalb dem Problem der Vorurteilsbildungen, die sich im Kern als wahnhaft realitätsfeindliche Steuerungen in der Romangesellschaft erweisen. Vorurteile sind kollektiv tolerierte wahnhafte Überzeugungen, die sich bis zur Auslöschung gegen Minderheiten richten. Sie können Völkermorde fordern. Sie dienen der Zerstörung des verdrängten Eigenen am Leben der anderen, worauf das gehasste Eigene zuvor projiziert wurde. Ich nehme Vorurteile im Folgenden also als prototypische Denkstörungen der Gesamtgesellschaft zu allen Zeiten, und die der Wahlverwandten als pars pro toto. Kollektive Denkstörungen zeigen sich im Roman z. B. in Mittlers überwertigen Ideen von der Ehe, vor allem jedoch in seinem fundamentalistischen Umgang mit anderen; im Glauben an das psychotische Symbol des doppelt ebenbildlichen Kindes; in der Religionsentstehung aus Schuldangst am Ende des Romans. Denkstörungen beweisen ihre steuernde Macht ebenso in den Neurosen und Psychosen der Wahlverwandten, in den privaten ›Vorurteilsbildungen‹, wenn man sie so nennen will, in Ottilies melancholischen Überzeugungen, in Eduards gesteigertem Narzissmus, in der Härte der Selbstbeherrschung Charlottes, in Nannis religiöser Illusion, ja, ich wage hinzuzufügen, im idealisierenden Glauben an die heilende Macht der unbedingten Liebe wie der unwiderstehlichen Schönheit bei allen Beteiligten, Goethe eingeschlossen. Da ich im Folgenden die Ausdrücke ›psychotische Denkstörung‹, ›psychotisches Denken‹ häufiger gebrauchen werde, weil sich mit ihnen ein, wie ich meine, wichtiger psychoanalytischer Beitrag zum Verständnis der Wahlverwandtschaften, eben jener Antizipation Goethes’ formulieren lässt, möchte ich begrifflich kurz erläutern, wie sie hier Verwendung finden. Psychotische Denkstörungen liegen an der Wurzel jedes Vorurteils, jeder Neurose oder Borderlinepsychose. Immer zeigt sich in diesen seelischen Gestaltungen ein unbewusst gewalttätiges Denken, das ein Stück unerträglicher eigener Wirklichkeit subjektiv beseitigt, meistens projiziert, aber auch verleugnet, verdrängt, verdreht, abspaltet oder durch die eiserne Behauptung des Gegenteils zudeckt. Der Schaden an der eigenen geistigen Gesundheit ist der erste Realeffekt, der eintritt, aber dieser kann verheerend sein, andauernder schädlich als das Schmerzliche, Bedrohliche, gegen das die Verleugnung helfen sollte. Denkstörungen sind Selbstrettungen, aber sie sind immer das Ergebnis eines inneren 9
Vgl. Hermann Beland, »Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben«. Zur Problematik eines zentralen Symbols in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Gisela Greve (Hrsg.), Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Tübingen 1999, S. 71– 96.
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gewalttätigen Krieges gegen die eigene Wirklichkeitstreue, gegen etwas, das ausgehalten werden müsste, aber als unerträglich erlebt wird. In Freuds Worten: Der Neurotiker wendet sich von der Wirklichkeit ab, weil er sie – ihr Ganzes oder Stücke derselben – unerträglich findet. Den extremsten Typus dieser Abwendung von der Realität zeigen uns gewisse Fälle von halluzinatorischer Psychose, in denen jenes Ereignis verleugnet werden soll, welches den Wahnsinn hervorgerufen hat.10
Freud fügte noch hinzu, dass der Psychoanalyse die Forschungsaufgabe erwachsen sei, die Beziehung des Menschen zur Realität überhaupt auf ihre Entwicklung hin zu untersuchen. Das ist in den letzten einhundert Jahren geschehen, ist jedoch durchaus noch nicht abgeschlossen. Vor allem die zerstörenden Auswirkungen von Denkstörungen auf andere, wie die kollektiven und privaten Verbrechen, müssen weiter erforscht werden. Für sie besteht keine gesellschaftliche Bewusstheit, weder was die psychologische Natur, noch was das Bedürfnis nach Heilung angeht.11
II. Psychotisches Denken in den sozialen Verhältnissen der Personen des Romans Wenn es zutrifft, woran wir nach Goethes Selbstzeugnissen nicht zu zweifeln brauchen, dass seine durchgreifende Idee bei den Wahlverwandtschaften auf die sozialen Verhältnisse und Konflikte zielte und dass die vier Wahlverwandten als symbolische Fassungen der gesellschaftlichen Kernkonflikte verstanden werden sollen, dann macht es Sinn, die Wirklichkeitsverhältnisse der vier Personen anzuschauen und die sozialen Konflikte der Gesellschaft im Großen in den gefährlichen Denkstörungen und Vorurteilen zu suchen, die dem Jammer des gestörten Denkens und Fühlens bei Eduard und Ottilie, bei Mittler und Nanni entsprechen. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass Goethe in seiner Toleranz für alles Existierende, selbst wenn es selbstzerstörend wirkt, die wahnhaften Kollektivüberzeugungen als das höherrangige Problem von Gegenwart und Zukunft beschreiben wollte. Sie sind es, die sich schädlich im Medium von Liebe, Leidenschaft und Ehegesetz auswirken. Ich vermute weiter, dass der milde Ton, den Goethe in seiner bezaubernden Sprache den ganzen Roman über durchhält, aus dem teilnehmenden Mitleiden des Dichters an den seelischen Unglücken der Einzelnen wie der gesellschaftlichen Gruppen stammt – Vorbild für einen nicht anklagenden, nicht verurteilenden Blick auf die Schicksale, auf das Unerträgliche der Zeit, auf das Unerträgliche der Erbschaften vergangener Jahrhunderte und auf gewisse Möglichkeiten der Verbesserung in einer ungewissen Zukunft.
10 11
Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911). In: Gesammelte Werke (Anm. 2), Bd. 8, S. 230. Vgl. Bion, Lernen durch Erfahrung. Frankfurt am Main 1990; Segal, Psychoanalyse und die Freiheit des Denkens. In: Wahnvorstellungen (Anm. 5), S. 273–285.
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Eine der von Goethe geschilderten, aber nicht benannten, sondern nur vorgeführten gesellschaftlichen Gefahren ist z. B. das allgemeine Unverständnis, an dem psychisch gefährdete Personen scheitern, die in ihrer Genese unter traumatischen Trennungs- und Verlusterfahrungen gelitten haben, sodass sie in deren Folge früh im Leben wahnhafte Überzeugungen ausgebildet haben, private Vorurteile sozusagen. Hier ist es besonders Ottilie, die an ihrem Mutter- und Vaterverlust und am Unverstand ihrer Nächsten zerbricht, die als junge Erwachsene so hellsichtig den unwissenden, zwar gut gemeinten, trotzdem rücksichtslos therapierenden Zwang von Luciane auf die gemütskranke Nachbarstochter untragbar findet, unendlich mit dem jungen Mädchen leidet, wie es heißt, dabei nicht verhindern kann, dass dieses in ihrer geistigen Störung versinkt und, wie man annehmen muss, an ihr zugrunde geht. Ottilie war jedoch sicher, und Goethe war es auch, dass dieses Mädchen hätte gerettet werden können, wäre man liebevoll, rücksichtsvoll und klug mit ihr umgegangen. Ottilie ist, wie Goethe, im Feld der seelischen Spannungen und Unerträglichkeiten viel klüger als alle anderen. Sie ist, als erwünschte Aufhebung des kollektiven Unwissens, die Hoffnung zukünftiger Möglichkeiten für Generationen. Sie ist auch als Goethes für irgendeine Zukunft erhoffte gesellschaftliche Utopie der uneigennützigen Liebe zu sehen.12 Im Roman ist Ottilie in äußerster Lakonik jedoch erst einmal jenes Stück Natur, das als etwas »unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt« wurde.13 Goethe schreibt von Ottilies »stillen Tugenden«, die von der Natur »erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt« wurden, als von »seltene[n], schöne[n], liebenswürdige[n]« Haltungen, deren »friedliche Einwirkung die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit sehnsüchtiger Trauer vermißt«.14 Eigentlich ist es erstaunlich, dass Goethe sein Geschöpf Ottilie aus der Natur auftauchen lässt und nicht aus den Traditionen der Mentalitätsgeschichte der Aristokratie, deren liebenswürdigstes Produkt sie doch ist. Aber wahrscheinlich ist unser historisches Gesellschaftsdenken, selbst eine Frucht der Romantik, in Goethes Naturbegriff enthalten. Aus dem Roman heraus kann man dieses Befremden nicht verringern. Eine andere damals gegenwärtige gesellschaftliche Gefahr, die für die nächste Zukunft weiterhin zu erwarten wäre, war das rücksichtslose Bescheidwissen, personifiziert in den Gläubigen an eine überwertige Idee, die, wie in Mittlers empathieloser Rücksichtslosigkeit, unausweichlich zur Quelle der seelischen Zerstörung vieler anderer werden würde. Es ist die manische Methode der gegenwärtigen und zukünftigen politischen Fundamentalisten, die Mittler als ideologischer Verfolger anwendet, der genau weiß, was das Richtige ist und
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Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. Mit Erläuterungen von Hans-J. Weitz und dem Essay von Walter Benjamin Goethes Wahlverwandtschaften. Frankfurt am Main, Leipzig, 1994 [= ITB] II, 9, S. 183f.; vgl. II, 5. ITB, S. 157. Ebenda, II, 18. ITB, S. 241. Ebenda.
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wie man methodisch, mit Drohung, Suggestion und Gewalt zu den erwünschten Verhaltensänderungen im Kollektiv kommt.
III. Psychotische Elemente in den Charakteren des Romans als Verkörperungen gegenwärtiger kollektiver Trends Mittler Es ist interessant und lohnend, den Charakter dieses merkwürdigen Mannes zu untersuchen, dessen allgemeine Funktion so hochmodern geworden ist. Die kluge Charlotte fällt merkwürdigerweise besonders gründlich auf ihn herein, weil sie ihm glaubt, dass er die richtige christlich-aristokratische Gesinnungsethik, besonders über die Untrennbarkeit der Ehe, vertreten würde. Dem Inhalt nach ist an vielen seiner Ideen auf den ersten Blick nicht so viel Übles zu entlarven. Und doch wirkt Mittler als eine Mischung aus gesellschaftlicher Ideologie und ihrer destruktiv-vorurteilshaften Anwendung. Obwohl Charlotte doch so genau beobachten kann und in anderen Zusammenhängen geradezu weise abwägt, mildert und klug entscheidet, hat sie kein Urteil über die verheerende Wirkung dieses selbsternannten Mediators von Ehezerwürfnissen und anderen intimen Streitigkeiten. Sie lädt Mittler mehrmals ein, tätig zu werden dort, wo sie selbst etwas wagen müsste, und wundert sich, oder sitzt auf Kohlen, wenn sie merkt, dass er zum Schaden der Beteiligten nicht weiß, wann und wo und wie er etwas sagt. Er ist im Roman die Taktlosigkeit in Person, ein Nachfolger der Rabies Theologorum der Orthodoxie, doch wenn man ihn grundsätzlicher fasst, ist er der McCarthy der Romangesellschaft, das Vorbild aller Propaganda und Indoktrination. Es heißt von ihm, er könne jederzeit neue Vorurteile bilden. Es heißt von ihm, er sei immer willkommen, obwohl ihn die willkommen heißen, die er dann verfolgen wird, wenn sie sich seinen fanatischen Wohltaten verschließen. Er tötet Ottilie mit einer gezielten unaufhebbaren Verdammung, aber bewusst merkt er nichts davon und wäre unerreichbar für jede Anklage. Er sagt doch nur die Wahrheit über die Ehe. Mittler vertritt die ideologische Gewalt gegen andere, die zuvor durch ein Vorurteil (hier die Verhinderung von Ehescheidungen um jeden Preis) verdammt, entmenschlicht wurden. Nach seinen vorherrschenden Interessen zu urteilen, ist er ein moralischer Sadist, der die Hölle unauflöslicher Ehen wenigstens bis zum Tode andauern lassen möchte. Seine Bereitschaft zum wahnhaften Denken bei geargwöhnten Ehebrüchen zeigt sich während der Taufhandlung. Nachdem er den alten Pfarrer mit seiner blasphemischen Rhetorik zu Tode geredet hat – »Herr, laß deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses gesehen« –, stellt er die Ebenbildlichkeit des Kindes mit dem Hauptmann fest.15 Er wünscht sich das verräterische Kind als Kronbeweis gegen Charlotte und ihren Ehebruch mit dem Hauptmann. Er bildet ein falsches, ein psychoti-
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Vgl. ebenda, II, 8. ITB, S. 179f.
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sches Symbol aus moralischem Sadismus, würde ein Psychoanalytiker finden. Solche negativ symbolischen Erzeugnisse können zu einem Krebsschaden der Gesellschaft werden. Sie sind regelmäßig der Kern von Vorurteilen, negative Sakramente, an die viele zerstörerisch glauben. Kommen Persönlichkeiten wie Mittler in den Besitz von gesellschaftlicher Macht, ist eine partielle oder eine totale Diktatur vorprogrammiert. Charlotte Ausgerechnet Charlotte ist Mittlers Komplement. »Und warum konnt ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe unterscheiden?«16 fragt sie sich nach dem Tod des Kindes angesichts der unbeherrschbaren Maßlosigkeit von Eduards narzisstischer Liebe. Ja, warum konnte sie es nicht? Die Frage erhält keine Antwort, obwohl diese irgendwie in der Luft liegt, und nicht nur Goethe sie sofort hätte geben können, sondern eigentlich alle Leser, die Charlottes Mentalität kennen gelernt haben. Charlotte vermeidet es, Urteile zu fällen. Sie vermeidet in Übereinstimmung mit den herrschenden aristokratischen Sitten, ihr kritisches Wissen anzuwenden und auszusprechen, jedenfalls während jeder Konversation. Übernimmt sie die Rolle der Frau, die kein selbständiges realistisches Urteil fällen darf? Ist es der Streit mit Autoritäten, den sie besonders im Denken vermeidet? Sie vermeidet kritische Urteile über andere, wo sie zu ihrem und anderer Schutz urteilen müsste. Sie vermeidet ein kritisches Urteil über Mittler, den schädlichen Ideologen, wie über den pathologisch narzisstischen Charakter ihres Mannes, als sie die Ehe mit ihm einging. Aristokratische Sitten induzieren gesellschaftlich verlangte Denkstörungen. Wie ihre ganze Kaste vermeidet Charlotte es, Rücksicht auf ihre Ahnung unbewusster Zusammenhänge zu nehmen. Die Ambivalenz in der Liebe, die Anerkennung heimlicher Todeswünsche gegen die geliebte Person, ebenso die Klarsicht über den narzisstischen Triumph und die Herrschaft Eduards über sie, die früher Geliebte, mag sie nicht denken. Nur in der Liebesnacht, die keine war, heißt es: »Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg […]«.17 Sie vermeidet es, einen kategorialen Unterschied zu machen zwischen Eduards narzisstischer Liebe als Mittel zu seiner Selbstvergrößerung wie zur Vermeidung eigener Ohnmacht und Abhängigkeit in der Liebe einerseits und jener Liebe andererseits, die sie als Wertschätzung des anderen und dessen Förderung, zum Wachstum der eigenen Liebe in Richtung Reife, Opferbereitschaft, Altruismus für sich selber wählen wollte. Charlotte vertritt das gesellschaftliche Vorurteil als akzeptierte weibliche Rolle, als öffentliche Vermeidung von kritischem Denken und Urteilen. Neben der eingeschränkten Charlotte gibt es die kluge Frau, die Goethe zweimal mit den besten Erkenntnissen des Romans betraut: Sie kennt aus Erfahrung die Veränderung aller sozialen Bezüge durch das ödipale Dreieck
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Ebenda, I, 14. ITB, S. 216. Ebenda, I, 11. ITB, S. 85.
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– »Nichts ist bedeutender in jedem Zustande, als die Dazwischenkunft eines Dritten«,18 was die ganze Psychoanalyse unentfaltet enthält –, und ihr wird das fortschrittliche romantische Freiheitsstreben als Leidenschaft zuerkannt, das im Roman eines der zentralen Motive ihrer Landschaftsumgestaltung ist. Neben tiefen Einsichten aus Erfahrung und einer romantischen Auflehnung gegen gesellschaftlichen Zwang wird sie dem Leser erstaunlich hart und grausam vorgestellt – in Identifizierung mit den gesellschaftlichen (aristokratischen) Normen und ihren unbewussten Motiven. Goethes gleichbleibend mild-tolerante Sprache verhüllt oft die Härten und Grausamkeiten der Romanpersonen, die man als liebenswürdig geartet zu erwarten gelernt hat. Als Eduard in seinem narzisstisch-suizidalen Raptus in den Krieg geritten ist, ohne sich von Ottilie zu verabschieden, was Ottilie retraumatisierend in ihre Verlassenheitskatastrophe stürzt – »sie litt unendlich«, heißt es,19 so dass sie betet, Gott möge ihr nur über diesen Tag hinweghelfen, damit sie nicht verrückt werde –, versucht Charlotte durch einen grausamen Zwang von mentaler Isolierung, »ein gewaltsam Entbundenes wieder ins Enge [zu] bringen«. Der Erzähler nennt diesen Versuch Charlottes einen »Wahn«.20 Aber man merkt die unglaubliche Härte Charlottes nicht gleich. Diese informiert Ottilie mit keinem Wort, dass Eduard in den Krieg geritten ist, weshalb er es getan hat und welche Verabredung die Eheleute über sich und Ottilie getroffen haben. Charlotte ist in ihrer Mitteilungsverweigerung völlig selbstgerecht. »Wie lebhaft ist […] die Dankbarkeit derjenigen, denen wir mit Ruhe über leidenschaftliche Verlegenheiten hinaushelfen«, sagt sie stattdessen.21 So »glaubte sie«, wie es heißt, »die Gewalt, die sie über sich selbst ausgeübt, von andern fordern zu können«.22 Goethe schildert diese gewalttätig harte Erziehungsmethode genau. Es ist die aristokratische Methode, die mit seelischem Verlassen, Fallenlassen, Schweigen, Frageverboten und mit Verachtung bei Regelverletzung arbeitet, deren Opfer Charlotte als Kind selber gewesen ist. Die Methode arbeitet mit enormer Intensivierung von Trennungsängsten. Ihr verdankt Charlotte ihre Selbstbeherrschung, aber ebenso ihre Einfühlungsblockade, mit der sie die gefährdete Ottilie fast in völlige geistige Verworrenheit stürzt. Es ist jene Methode, durch die, neben der Verwöhnung, auch Eduards enormer Narzissmus gezüchtet wurde. Eduards narzisstische Leidenschaft Wenn Goethe sich 1827 Ferdinand Wilhelm Solger gegenüber rechtfertigte: »Aber ich musste ihn so machen, um das Faktum hervorzubringen«, so hatte er die eigene realistische Beobachtung jenes Narzissmus verteidigt, dessen
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Ebenda, I, 1. ITB, S. 16. Ebenda, I, 17. ITB, S. 109. Vgl. ebenda, I, 13. ITB, S. 92. Ebenda, I, 17. ITB, S. 109. Ebenda, I, 16. ITB, S. 103.
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Züchtung in aristokratischen Familien über Jahrhunderte eine überaus wichtige gesellschaftliche Großmacht war, zu Herrschsucht, Ehrsucht, Verachtung, Grausamkeit und Habsucht befähigend, dabei die Macht und die Ehre der eigenen Familie vergrößernd. »Er hat übrigens viele Wahrheit«, hatte Goethe hinzugesetzt, »denn man findet in den höheren Ständen Leute genug, bei denen ganz wie bei ihm der Eigensinn an die Stelle des Charakters tritt«.23 Es ist richtig, dass die psychoanalytische Einsicht in die Abwehrbedeutung des libidinösen wie des destruktiven Narzissmus erst allmählich und ziemlich lange nach Freud gewonnen wurde. Wir verdanken die wesentlichen Kenntnisse Herbert Rosenfeld.24 Der destruktive Narzissmus entsteht immer zur Abwehr unerträglicher Ohnmachtserfahrungen in der frühen Kindheit, die meistens gekoppelt sind mit Vernichtungsängsten während Verlassenheiten und Hilflosigkeit als Kleinkind. Wie kann man Eduards maßlose und rücksichtslose Liebesleidenschaft verstehen? »Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt«,25 so beginnt die Beschreibung seines Charakters. Später erfahren wir, dass dieser Intoleranz aus Verwöhnung eine Neigung zu Gewalttätigkeit, eine Einfühlungsverweigerung und ein Mangel an Selbstkritik entsprechen. Goethe weist auf einen schwerwiegenden Mangel in seiner Persönlichkeitsentwicklung hin: Eduard konnte nichts Gesolltes wollen, er konnte sich nicht gegenübertreten, sich gebieten, sich zu etwas zwingen, und war infolgedessen auf eine besondere Art ordnungsunfähig. Nur wenn ein anderer ihm die Bemühung abnahm, »ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag«26 – das ist eine ungemein zutreffende Beschreibung seines strukturellen Mangels –, konnte er sich an einer gemeinsamen Ordnungsarbeit positiv beteiligen. Dieses einzige, verzogene Kind reicher Eltern wurde dann zu einer merkwürdigen Heirat beredet, oder es ließ sich dazu bereden, eine so viel ältere wie reichere Frau zu heiraten, auf deren Tod und Reichtum sein Vater zur Vergrößerung des Familienreichtums spekuliert hatte. Eduards zweites Mütterchen verzärtelte ihn und überhäufte ihn mit allen Freigiebigkeiten bis zu ihrem frühen Tod, » – was konnte in der Welt seinen Wünschen [jetzt noch, H. B.] entgegenstehen!«27 Eduard hatte immer etwas Kindliches behalten, heißt es, nach seiner Ausbildung blieb er in allem dilettierend. Ottilies außerordentliche Schönheit wurde seiner prekären Selbstachtung dann Wohltat und Heilkraft, wie ein »Smaragd« für die Augen, zumal die ihm zugewandte schmeichelnde Schönheit mit völliger Kritikabstinenz, Bedürfnislosigkeit und Dienstbereitschaft einherging, und Ottilies betonte Aufmerksamkeit für alle
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Aus Goethes Gespräch mit Eckermann, 21. Januar 1827. Zitiert nach: Ritzenhoff, Erläuterungen (Anm. 1), S. 158. Herbert A. Rosenfeld, On the psychopathology of narcissism: a clinical approach. In: International Journal of Psycho-Analysis 45 (1964), S. 332–337. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 2. ITB, S. 17. Ebenda, I, 4. ITB, S. 34. Ebenda, I, 2. ITB, S. 18.
Zum Problem gesellschaftlicher Vorurteile in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ 247
seine Eigenheiten, Vorlieben und Abneigungen die sanfteste Anpassung und Hochschätzung realisierte: so wirkt die menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und inneren Sinn. Wer sie erblickt, den kann nichts Übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung.28
Ottilie wird Eduard bald für sein Selbstgefühl unentbehrlich. Sie hatte bei seinem unvollkommenen Flötenspiel »seine Mängel so zu den ihrigen gemacht, daß daraus wieder eine Art von lebendigem Ganzen entsprang«, heißt es, »das sich zwar nicht taktgemäß bewegte, aber doch höchst angenehm und gefällig lautete«.29 Auf dem Gang zur Mühle, den Berg heruntersteigend, glaubte Eduard in ihr »ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte [...] das zarteste weibliche Wesen […], das ihn berührte«. Als er sie dazu bewegen kann, ihm das Medaillon mit dem Bildnis des Vaters, weil es ihrer Brust so gefährlich wäre, zu übergeben, war ihm, »als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte«.30 In diesem Moment hat die seelische Intimität zwischen beiden begonnen. Nach der Zeugungsnacht, als die Sonne Eduard am Morgen sein »Verbrechen« beschien, Charlotte mit Ottilie gleichgesetzt zu haben, und nachdem Ottilie die Abschrift des Vertrages schließlich in völliger Identifizierung mit Eduards Schrift geschrieben hatte, sodass Eduard hingerissen ausrief, »Du liebst mich! […] Ottilie, du liebst mich!«31 –, heißt es von ihm, seine Leidenschaft genau dechiffrierend: [...] er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen. […] In Eduards Gesinnungen, wie in seinen Handlungen, ist kein Maß mehr. Das Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, treibt ihn ins Unendliche. […] Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles: er ist ganz in ihr versunken; keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur gebändigt war, bricht los, sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilien.32
In Eduards Leidenschaft liegt die sich nunmehr beschleunigende Katastrophe Ottilies und Eduards begründet. Ottilie ist ebenfalls ergriffen. Charlotte, die inzwischen weiß, dass sie schwanger ist, hat sich zum Verzicht auf den Hauptmann verpflichtet. Sie und der Hauptmann versuchen, das Rasende bei Eduard einzufassen, zu begrenzen, und so das Unglück aufzuhalten. Was verstand man 1809 unter ›Leidenschaft‹? Leidenschaft war ein anthropologischer Zentralbegriff, der sich von der Philosophie des Stoizismus über Mittelalter und Renaissance bis in die Aufklärung erhalten hatte. Der Roman setzt die Kenntnis des Begriffshorizonts voraus. Wenn man eine zeitgleiche Begriffsklärung von Kant heranzieht, so unterscheidet dieser zwischen den angeborenen natürlichen, den erhitzten Leidenschaften, und den kalten, aus der Kultur erworbenen Leidenschaften. Zu den ersten rechnet er interessanterweise
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Ebenda, I, 6. ITB, S. 49. Ebenda, I, 8. ITB, S. 63. Ebenda, I, 7. ITB, S. 57f. Ebenda, I, 12. ITB, S. 87. Ebenda, I, 13. ITB, S. 90f.
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die Freiheitsneigung (Charlottes romantische Landschaftsgestaltung wie die bürgerliche Revolution) und die Geschlechtsneigung, zu den kalten die Ehrsucht, die Herrschsucht, die Habsucht. Leidenschaften seien solche Neigungen, die die Herrschaft über sich selbst ausschließen, »die jedoch immer eine Maxime des Subjekts voraussetzen, nach einem von der Neigung ihm vorgeschriebenen Zwecke zu handeln«. Ohne grünes Licht seitens der handelnden Person gibt es also keine Leidenschaften, deshalb hält Kant sie für Krebsschäden der reinen praktischen Vernunft. Sie sind ohne Ausnahme »böse«, weil voller Hass gegen die Pflicht!33 Eduards Leidenschaft machte aus seiner Liebe eine psychotische Liebe, würden wir heute sagen, die, wie bei dem modernen juristischen Begriff des aktiven Liebeswahns, des Stalkers, rücksichtslos einen Anspruch auf Besitz des geliebten Objekts durchzusetzen versucht. Mit Wahnhärte ist die Besitznahme berechtigt, weil die Geliebte es ja selber nicht anders will. Es wird nicht berücksichtigt, wie es dem ›geliebten‹ Wesen mit der aufgezwungenen Liebe geht. Eduards Charakterbild ist im Folgenden weiter zu ergründen.
IV. Symbolische Gleichsetzungen Eine der schwerwiegendsten kollektiven Gefahren, die Goethe in den Wahlverwandten personifiziert hat, ist der Glaube an falsche Symbole und andere Realitätsverzerrungen. Der Glaube an die Ebenbildlichkeit des Kindes mit den verbotenen, phantasierten Geliebten der Zeugung springt ins Auge. Ich habe mich immer darüber gewundert, dass der Skandal dieses psychotischen Symbols im wissenschaftlichen Nachdenken der Kommentatoren nicht zu entschiedener Kritik geführt hat, obwohl die ›objektive‹ Schilderung des Erzählers bei dieser unmöglichen Ebenbildlichkeit vermutlich eine der Hauptursachen für die relative Ablehnung des Romans bei seinem ersten Erscheinen gewesen ist. Das psychotische Symbol beruht auf der Wirkung von Projektionen, wie auch alle gesellschaftlichen Vorurteile auf dem Mechanismus der Projektion beruhen. In Goethes beschreibender Toleranz für alles Existierende liest sich die halluzinative Beseitigung der Wirklichkeit in der Zeugungsnacht folgendermaßen: »In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche«.34 Die Einbildungskraft sollte nach Kants schöner Definition35 eine subjektive Erkenntnisquelle der Wirklichkeit sein (facultas imaginandi, die Fähigkeit, Vorstellungen auch ohne Gegenwart des Objekts zu haben), sollte Sinnlichkeit und Vernunft zur Synthese bringen, nicht jedoch Phantasiertes zur Wirklichkeit machen, keine halluzinativen seelischen Verbrechen an der eigenen geistigen Gesundheit begehen, und an keinem wirklichen Menschen das Verbrechen 33 34 35
Vgl. Rudolf Eisler, Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß. Hildesheim, Zürich, New York 41994, S. 329. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 11. ITB, S. 85; Hervorhebung H.B. Vgl. Eisler, Kant-Lexikon (Anm. 33), S. 105–107.
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der Beseitigung durch Einbildungskraft begehen. Es gibt bei Kant noch keine Kritik der Einbildungskraft. Freuds klassische Definition der Realitätsprüfung lautete: »Es wurde nicht mehr vorgestellt, was angenehm, sondern was real war, auch wenn es unangenehm sein sollte«.36 Der Begriff der Einbildungskraft hatte noch keine Schärfe in der Unterscheidung von realistischer Vorstellungskraft dafür, wie es ist, und phantasierender Vorstellungskraft unter der Herrschaft der Leidenschaften, wie man es stattdessen haben will. Goethe selbst hat im Roman an zentraler Stelle, im Bericht der Zeugungsnacht, eine kritische Warnung ausgesprochen, die diesen Gegensatz als diametrale lebensnotwendige Differenz formuliert: »Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben«.37 Das Recht der Gegenwart ist es, dass sie alles, was wirklich ist, und alles, was Wirklichkeit als wirklich anerkennt, umfasst und gegen die phantastische Vorstellungskraft verteidigt.38 In der Zeugungsnacht siegt Eduards innere Neigung und Einbildungskraft über die Wirklichkeit. Seine Liebe rast und will sich durch nichts aufhalten lassen. Er will Ottilie in den Armen halten, nicht Charlotte. Er ersetzt halluzinativ seine Frau durch Ottilie. Er projiziert Ottilie in seine Frau. Es ist eine geistige Gewalttat. Er hat seinen Tagtraumwunsch in einen Wahn verwandelt, den er am nächsten Morgen von der Sonne als »Verbrechen« beleuchtet findet. Er hat, wie die psychoanalytische Psychoseforschung es nennt, zwischen Ottilie und Charlottes Körper eine symbolische Gleichsetzung gebildet. Symbolische Gleichsetzungen sind typisch für psychotische Übertragungen, für Wahnvorstellungen überhaupt, und liegen dem Handeln im Wahn bei Verbrechen zugrunde. Der Symbolisierende trägt die Bedeutung, die symbolisiert werden soll, mit solcher Gewalt in das Symbol ein, dass die eigene Individualität des Symbolträgers vernichtet wird. Das andere ist dann dasselbe, oder die andere ist dann dieselbe. Charlotte als Symbol für Ottilie verschwindet in Eduards Armen unter der Gewalt der symbolischen Gleichsetzung. Charlotte ist dann Ottilie und ist als Charlotte ausgelöscht. In der objektiven Wahrnehmungssprache des Erzählers heißt es: »Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen«.39 Ganz in der Welt der objektiven Wahrnehmungssprache verläuft auch Eduards erste Begegnung mit seinem Sohn während des Liebesgesprächs mit Ottilie am Seeufer. Eduard erblickt es und staunt. Großer Gott! ruft er aus: wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen. Ist dies nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen. Nicht doch! versetzte Ottilie: alle Welt sagt, es gleiche mir. Wär es möglich? versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich. Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm standen. Eduard
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Freud, Formulierungen (Anm. 10), S. 232. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 11. ITB, S. 85. Vgl. Beland, »Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben« (Anm. 9), S. 85. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 11. ITB, S. 85.
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warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien. Du bists! rief er aus: deine Augen sinds. Ach! aber laß mich nur in die deinigen schaun. Lass mich einen Schleier werfen über jene unselige Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab. Soll ich deine reine Seele mit dem unglücklichen Gedanken erschrecken, daß Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz drücken und einen gesetzlichen Bund durch lebhafte Wünsche entheiligen können! Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein Verhältnis zu Charlotten getrennt werden muß, da du die Meinige sein wirst, warum soll ich es nicht sagen! Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt! es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns hätte verbinden sollen. Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, daß ich in den Armen einer andern dir gehörte; mögest du fühlen, Ottilie, recht fühlen, daß ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen abbüßen kann!40
Eduard behauptet, das Kind trenne ihn von Charlotte und Charlotte von ihm, anstatt beide zu verbinden. Das ist eine reine Projektion der eigenen Trennungsaktion auf das Kind. Er ist es, der sich von Charlotte trennt und von dem Kind. Das Kind verbindet nach wie vor beide Eltern. Es sei in einem doppelten Ehebruch gezeugt worden. Stimmt das? Weiß Eduard nicht genau, wieso dies nicht stimmt? Er weiß doch, dass er etwas viel Gewaltsameres tat, als einen geistigen Ehebruch zu begehen. Es war ein rasender (psychotischer) Realitätsbruch, der sich gegen Ottilie ebenso richtete wie gegen Charlotte wie gegen ihn selbst, ein Ausbruch von Größenwahn und Ohnmacht, um sich von nichts und niemandem einschränken zu lassen. Eduard möchte diese Tat, für die er keine Verantwortung übernehmen will, halbieren oder, lieber noch, ganz beseitigen. Schuldprojektion war es, weshalb er mit dem Hauptmann und Charlotte anfing, um beide statt seiner zu beschuldigen. Ottilie bemerkt sofort, dass Eduards Projektion sie ebenso belasten wie ausschließen will. Sie protestiert freundlich und erinnert an den geteilten Wahn. Sie war nach Eduards Willen in seinen Armen. Wäre es möglich, versetzte Eduard? Einen Augenblick interpretieren zwei verzweifelte Interpretationen dieselbe Realität und schließen sich wechselseitig aus, ein Kippbild,41 eine Situation, die aus Behandlungen von Realitätsverleugnung bekannt ist. Da greift das Kind ein und »schlägt die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich. Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm standen.
Sein Blick ist vermutlich die einzige therapeutische Botschaft, die Eduard noch erreichen könnte. Einen Augenblick wird Eduard auch von den eigenen Augen des Kindes ergriffen, obwohl er sie dann sofort in Ottilies Augen umdeutet. Als er merkt, dass die Augen des Kindes ihn freundlich von seinem Wahn befreien könnten, will er nur noch in Ottilies Augen schauen und einen Schleier werfen über jene Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab. Von nun an ist das Leben des Kindes besiegelt. Eduards Liebe zu Ottilie ist mit seinem Hass auf die
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Ebenda, II 13. ITB, S. 210f. Vgl. zum Phänomen des Kippbildes auch den Beitrag von Reinhard Wegner in diesem Band.
Zum Problem gesellschaftlicher Vorurteile in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ 251
Realität eins. Dieser Hass trifft das Kind zuerst, das die Realität verkörpert. Danach trifft er Ottilie und ihn selbst. Das Kind zeugt gegen ihn, das ist das einzige, was in seiner leidenschaftlichen Rede zutrifft. Das Kind ergreift seinen Vater. Es ist ein Vertreter der Gegenwart und der Wirklichkeit, dessen Recht zu existieren nicht durch psychotische Wahnüberzeugungen geraubt werden darf. Eduards dringliche Aufforderung an Ottilie, der kranke Höhepunkt des Monologs, zu fühlen, was er fühlt, verlangt von ihr, dass sie ihre Identifizierung mit ihm wiederholen und noch intensivieren soll. Der sexuelle Wahn, dass sie sich beide schon angehört haben, soll aufrechterhalten bleiben und nur in einer sexuellen Realität abgebüßt und aufgelöst werden können. Dann muss Eduard nie merken, dass es einen Unterschied zwischen Wahn und Wirklichkeit gibt, und er kann bei seinem Glauben bleiben, dass er den Besitz dieses geliebten schönen Körpers nur der ungeheuren Macht seines Durchsetzungswillens verdankt. Daraufhin hat Ottilie unbewusst verstanden. Sie hat gemerkt, dass Eduard sie noch viel schlimmer verlassen hat, als sie je bisher verlassen wurde, weil er sie durch eine Vorstellung ersetzt, die er von ihr hat, und die sie nicht ist, genau so, wie er es mit dem Kind gemacht hat. Sie sieht, dass Eduard seine rücksichtslose Liebe durch den durchdringenden Blick des Kindes bedroht findet. Soweit sie an Eduard festhält und seine Wünsche an die Stelle der eigenen setzt, erfüllt sie seinen Realitätshass gegen das Kind, schwankt sie und stürzt mit dem Kind im Boot. In dem Moment, in dem der Stern der Hoffnung über beiden aufleuchtet, fällt er schon vom Himmel.42 Die Liebe dieser beiden Menschen, die, wie der Erzähler an dieser Stelle festhält, »wähnten« und »glaubten«, dass sie einander angehören, ist ohne Hoffnung. Ottilie, die immer tot sein wollte, projiziert unbewusst und zusätzlich zu Eduards Vernichtungsabsicht gegen das Kind ihren Suizidwunsch in das Kind und lässt es bei ihrem Sturz ertrinken. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Goethe mit seiner objektivierenden Sprache (Augen und Gesicht des Kindes gleichen den halluzinierten Erzeugern) seine Leser mit der Tatsache konfrontieren wollte, dass die gesellschaftliche Realitätswahrnehmung von Projektionen durchsetzt ist, Projektionen, die als gesellschaftskonstitutive Elemente den Charakter eines Wahns tragen (wie die religiösen Illusionen) und für seelisches Wachstum tödlich sein können. Wenn Goethes Hauptabsichten bei der Abfassung der Wahlverwandtschaften homolog mit der hier vorgelegten Interpretation waren, dann können wir seine »wunderbare Antizipation« der gesellschaftlichen Zukunft in psychoanalytische Begriffe übersetzen, verstehen und – noch mehr bewundern. Kehren wir zu der Erfindung der doppelten Ebenbildlichkeit zurück. Sie wird vom Erzähler durch seine objektivierende Sprache so behandelt, als handelte es sich um eine zwar auffällige, aber hinsichtlich der Genese doch fraglose Realität, um etwas, das alltäglich vorkommen könnte, jedenfalls durchaus möglich wäre. Die Romanpersonen wundern sich nie über die reale Unmöglichkeit dieser fremden Ähnlichkeit. Als Einziger fragt ausgerechnet Eduard:
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 13. ITB, S. 212.
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Wäre es möglich? Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind, möchte man sagen, sie haben alle ihre Interessen, weshalb sie dieses Wunder als Normalität begrüßen. Wie Ottilie, die während der Taufhandlung die erste ist, die ihre Augen in denen des Jungen wiedererkennt, weil sie leidenschaftlich die wirkliche Frau Eduards sein wollte und weil sie deshalb das Recht hatte, das Kind zusammen mit Eduard gezeugt und ihm ihre Augen gegeben zu haben; oder Mittler, der der zweite ist, ebenfalls während der Taufhandlung, der die Gesichtszüge des Hauptmanns wiedererkennt. Auch Mittlers Ehefanatismus käme es natürlich sehr gelegen, wenn die Gedanken der Zeugenden an den Kindern physiognomisch würden und den vom ihm zum Zweck des Verdammens gesuchten gedanklichen Ehebruch bewiesen.43 Er könnte viele Verheiratete zur Rechenschaft ziehen, und sie wären gezwungen zuzugeben, was die Kinder mit ihren Gesichtszügen beweisen. Die Moralisierung des Sexuellen in der Ehe wäre auf dem Zenit, und Mittler wäre als mit Verdammung drohender Wiederversöhner der Größte. Die Ebenbildlichkeit ist ein psychotisches Symbol. Wer als Leser in einen psychotischen Gedankengang mit hineingezogen wird, ohne dass er einen Weg findet, intellektuell zu durchschauen, was hier läuft, und zu protestieren, wird wahrscheinlich mit Groll die Identifizierungsbereitschaft zurückziehen, von der jede Lektüre lebt. Mir leuchtet es ein anzunehmen, dass das Unbehagen der Leser, das es seit Erscheinen des Romans gegeben hat, über der fatalen Ebenbildlichkeit des Kindes mit den imaginierten Geliebten der Zeugung entstanden ist, auch wenn aus Selbstmissverständnis immer andere, möglich-plausible Einwände gefunden wurden. Etwa zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung bekannte Goethe gegenüber Carl Friedrich Zelter, seine Leser hätten sich mit der Reaktion auf den Roman gebärdet, wie wenn ihnen das Nessushemd übergestreift worden wäre.44 Dieses quälende, tödlich verbrennende Hemd ist ein sehr starker Ausdruck für Goethes Enttäuschung. Er ist möglicherweise passend als Gegenreaktion gegen Goethes psychologischen Realismus, der psychotische Mechanismen als objektive Realität in der Gesellschaft beschreibt.
V. Ottilie Die Gestalt der Ottilie war ein Geschenk des Dichters an die Menschheit. Die liebevolle Beschreibung ihrer prekären geistigen Gesundheit, die Hinweise auf
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Vgl. auch Michael Holtermann, »Thierischer Magnetismus« in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 164–197, hier S. 182. Vgl. Brief von Goethe an Zelter, 21. November 1827. In: Heinz Härtl (Hrsg.), ›Die Wahlverwandtschaften‹. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Berlin 1983, Nr. 541, S. 328: »da sie [sc. die Kunden] wie du dich wohl erinnern wirst, sich gegen meine Wahlverwandtschaften wie gegen das Kleid des Nessus gebärdet haben«.
Zum Problem gesellschaftlicher Vorurteile in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ 253
die traumatischen Anfänge ihrer Entwicklung, der Tod ihrer Mutter, der Verlust des Vaters (von dem der Leser sonst nichts erfährt, außer dass Ottilie sein Abbild im Medaillon immer bei sich trägt, bis sich Eduard psychisch an die Stelle des Vaters setzt), die Unerträglichkeit von Objektverlust, die Abfolge der Retraumatisierungen durch Eduard und Charlotte, ihr intensiver Wunsch, nie zerstören zu wollen, keinen Menschen, kein Recht, keine Ehe, ihre zunehmende geistige Verwirrung unter Eduards Einbruch in ihre Seele, und unter der Selbstbeschuldigung für den Tod des Kindes, der Versuch der Sühnung durch absolute Wunschlosigkeit und Verhungern, das alles, dieser noch nie erreichte Realismus einer zerbrechenden seelischen Verfassung bei einem liebenswerten Charakter hat Goethe eine nicht enden wollende Bewunderung und Dankbarkeit eingebracht. Der Psychoanalytiker muss in alledem Goethes Kenntnis unbewusster Zusammenhänge und Abläufe bestaunen. Ich möchte im Folgenden die beiden aufschlussreichsten Episoden ins Zentrum rücken, über die Ottilies Eigenart und innere Entwicklung am deutlichsten von Goethe beleuchtet wurde, das Weihnachtstableau und Ottilies Selbstbeschreibung nach dem Tod des Kindes. Das Weihnachtstableau Der Architekt lässt Ottilie als jungfräuliche Gottesmutter mit dem Kind einer anderen im Weihnachtsbild auftreten, eine für Ottilies psychische Verfassung äußerst gefährliche Anregung. Das letzte der sprachlosen Schaustücke zum Thema Vaterlosigkeit und Vaterunfähigkeit, Anwesenheit oder Abwesenheit des Dritten, das in letzter Konsequenz die Unfähigkeit betrifft, Trennungen zu ertragen und nicht-verrückt denken zu können, wird Ottilie zum Verhängnis. Sie, die ihr Leben lang Vaterlose, die von einem geliebten Mann, der ihre ganze Vatersehnsucht trägt, gerade abschiedslos Verlassene und vielleicht Fallengelassene, muss, während sie seiner schwangeren Frau dient, in die Rolle jener Frau schlüpfen, deren Kind in Abwesenheit eines Mannes, aber vom Vater im Himmel geistig gezeugt wurde: in die der jungfräulichen Madonna. Glücklicherweise war das Kind in der anmutigsten Stellung eingeschlafen, so daß nichts die Betrachtung störte, wenn der Blick auf der scheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmut einen Schleier aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren. [...] Ottiliens Gestalt, Gebärde, Miene, Blick übertraf aber alles, was je ein Maler dargestellt hat. Der gefühlvolle Kenner, der diese Erscheinung gesehen hätte, wäre in Furcht geraten, es möge sich nur irgend etwas bewegen, er wäre in Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas wieder so gefallen könne. [...] Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskönigin? Die reinste Demut, das liebenswürdigste Gefühl von Bescheidenheit bei einer großen, unverdient erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unermeßlichen Glück bildete sich in ihren Zügen, sowohl indem sich ihre eigene Empfi ndung, als indem sich die Vorstellung ausdrückte, die sie sich von dem machen konnte, was sie spielte.45
45
Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 6. ITB, S.162f.; Hervorhebung von H.B.
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Man darf zweifeln, ob Ottilie noch unterscheiden konnte, was Spiel und was Wirklichkeit war. Sie wollte in diesem Stadium ihrer hoffnungslosen Liebe diese Unterscheidung nicht mehr. Der Erzähler ist darin eindeutig, dass sie sich ganz der Empfindung hingab, die allerhöchst ausgezeichnete Mutter dieses besonderen Sohnes zu sein. Es wird von ihr gesagt, dass sie sich, je näher Charlottes Entbindung rückte, nicht mehr vorstellen konnte, wie sie Eduard, Charlotte und dem Kind dienen würde. »Sie sah nicht ein, wie es möglich werden wollte« heißt es – eine merkwürdig schwebende Formulierung in der Mitte zwischen Passivität, Auflehnung, Entfremdung und der Projektion von Können und Wollen. Der nächste Satz lautet aber ganz eindeutig: »Nichts konnte sie vor völliger Verworrenheit retten, als daß sie jeden Tag ihre Pflicht tat«.46 Man weiß, wie gering der Zerreißwiderstand dieses seidenen Fadens ist. Ein paar Zeilen weiter, der Sohn ist geboren, die Frauen versicherten sämtlich, es sei ganz der leibhafte Vater, also Eduards Sohn, scheint das Unglück bereits geschehen zu sein. »Nur Ottilie konnte es [sc. die Ähnlichkeit mit dem Vater] […] nicht finden«.47 Wir erfahren während des Taufaktes, was sich bei ihr ereignet hat: Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf den Arm gelegt, und als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah, erschrak sie nicht wenig an seinen offenen Augen: denn sie glaubte in ihre eigenen zu sehen, eine solche Übereinstimmung hätte jeden überraschen müssen.48
Ottilie hat, so muss man ihr Erschrecken über die eigenen Augen, denke ich, interpretieren, unter der Unerträglichkeit der Wahrheit der Geburt und unter dem Eindruck des Sieges der Rivalin, die mit Eduard ein reales Kind zeugte, den Wahn entwickelt, dass es sich bei dem Täufling um ihr Kind handelt, das sie von Eduard empfangen haben wollte und ihm gebären sollte. An sie muss er gedacht haben, als er es mit Charlotte zeugte. Es ist ihr Kind, die Augen beweisen es. Ottilies Selbsterkenntnis Die wichtigsten Auskünfte, die Ottilie »mit einem unüberwindlichen anmutigen Ernst«49 über sich selbst nach dem Tod des Kindes an Charlotte gerichtet mitteilt, sind überaus aufschlussreich für die Bildung von Ottilies melancholischer Organisation. Sie lassen den psychoanalytischen Leser wegen der genauen Richtigkeit wiederum einigermaßen fassungslos zurück. Ottilie war auf dem Teppich niedergesunken, nachdem der Arzt den Tod des Kindes festgestellt hatte. Charlotte fand sie dort liegen und hob sie soweit auf, dass Ottilies Kopf auf ihren Knien lag. Ottilie schien zu schlafen. Über sie hinweg spricht Charlotte mit dem Major, dass sie in die Scheidung einwilligt;
46 47 48 49
Ebenda, II, 8. ITB, S. 178. Ebenda. Ebenda, II, 8. ITB, S. 179. Ebenda, II, 14. ITB, S. 217.
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sie hätte schon längst darin eingewilligt haben sollen; durch ihr Zaudern, durch ihr Widerstreben habe sie, Charlotte, das Kind getötet. Sie fragt sich, warum sie den Eigensinn Eduards nicht von wahrer Liebe hatte unterscheiden können, und warum sie nicht ihn und Ottilie glücklich gemacht hatte, statt seine Hand anzunehmen. Und betrachten Sie nur diese unglückliche Schlummernde! Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben Totenschlafe zum Bewußtsein erwacht. Wie soll sie leben, wie soll sie sich trösten, wenn sie nicht hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat?«50
»Zum zweiten Mal widerfährt mir dasselbige« hatte Ottilie dann begonnen, als der Major gegangen war und sie wieder wach wurde. Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemel an dich gerückt: du saßest auf dem Sofa wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knien, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich schlummerte. Ich vernahm alles, was um mich vorging, besonders alle Reden sehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht äußern und, wenn ich auch gewollt hätte, nicht andeuten, daß ich meiner selbst mich bewußt fühlte. Damals sprachst du mit einer Freundin über mich: du bedauertest mein Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu sein; du schildertest meine abhängige Lage, und wie mißlich es um mich stehen könne, wenn nicht ein besondrer Glücksstern über mich walte. Ich faßte alles wohl und genau, vielleicht zu streng, was du für mich zu wünschen, was du von mir zu fordern schienst. Ich machte mir nach meinen beschränkten Einsichten hierüber Gesetze; nach diesen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Tun und Lassen eingerichtet, zu der Zeit, da du mich liebtest, für mich sorgtest, da du mich in dein Haus aufnahmest.51
Ich unterbreche diese wichtige Rede, um einzufügen, welches Gesetz das kleine Mädchen gegen sich erließ. Es war das Gesetz der absoluten Anspruchslosigkeit und Dienstbereitschaft. Es war eine gefährlich harte Selbstfestlegung, die Errichtung einer melancholisch herrschenden Struktur mit ultimativer selbstzerstörender Strafgewalt, sollte sie aus der Bahn der absoluten Bescheidenheit treten. Wegen ihrer Dienstfertigkeit gegenüber ihren Gleichaltrigen und gegenüber dem Personal im Internat wurde sie bereits von der Vorsteherin getadelt, später von Charlotte, der sie zur Entschuldigung, weshalb sie sich auch für Männer bücke, denen etwas herunterfiel, die ihr so überaus schmerzliche Episode mit Karl I. erzählte, dem niemand den goldenen Knauf seines Stockes aufhob, als er, schon entthront, vor seinen Richtern stand.52 Jedem, weil er gleich sterben wird, jedem, der von seiner Höhe herabgestürzt wurde, soll man tröstend, helfend dienen. Ottilie sollte nach ihrem privaten Gesetz jedem Menschen dienlich sein; sie sollte nie wieder etwas für sich selbst wünschen. Ottilie bestrafte sich, so darf
50 51 52
Ebenda, II, 14. ITB, S. 216. Ebenda, II, 14. ITB, S. 217f.; Hervorhebung von H.B. Vgl. ebenda, I, 6. ITB, S. 50f.
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man aus vergleichbaren Entwicklungen vermuten, für den Tod der Mutter und für die späteren kaum erträglichen Verlassenheiten, als das Urtrauma wieder aufbrach, an allen ihren aufnehmenden Funktionen, Mund und Augen und Ohren und Verstehen, als wäre ihre Mutter an ihrer Gier, an ihrem Habenwollen, dem Wahrnehmenwollen gestorben; so aß sie sich nie mehr satt, verlangte nie mehr etwas dringlich, hatte Probleme mit dem lernenden Aufnehmen, verstand nichts Getrenntes. Unbewusst, können wir heute sagen, wollte sie kein volles Bewusstsein mehr, weil es ein so überaus schmerzhaftes Bewusstsein werden würde, und so blieb sie schon als kleines Mädchen in einem nur halb erwachten Zustand stecken, in dem nur ihre moralischen Funktionen überwach waren. Sie ergreift mit größter moralischer Begier eine harte, kranke Gesetzgebung und die Verbote des Wünschens und Wollens, einschließlich des Lebenwollens, und identifiziert sich damit, um durch das Opfer des Lebens ein Lebensrecht zu behalten. Woher konnte Goethe so etwas wissen? Einhundert Jahre vor Freud, Ferenczi, Abraham, einhundertfünfzig Jahre vor Melanie Klein und Bion, schilderte Goethe die genaue Selbstwahrnehmung eines depressiven kleinen Mädchens, das die unerträglichen Schmerzen des Bewusstseins nach dem Tod der Mutter, das die ebenso unerträgliche Angst vor einer strafenden toten Mutter mit einer Spaltung des Wachwerdens abfängt und sich grausamen inneren Gesetzen gegen alles Wünschen unterwirft. Sie errichtete eine melancholische semiotische Struktur. Ich glaube, niemand außer Goethe wusste damals so etwas und konnte es in Worte fassen. Goethe konnte im Medium des Romans verdeutlichen, wie prekär die geistige Gesundheit Ottilies wurde, und dass sie sich immer dann, wenn sie sich ihrer basalen inneren wahnhaften Beschuldigung wieder bewusst wurde, kaum gegen völlige Verworrenheit halten konnte. Nun aber folgte die noch kränkere Beschreibung der intensivierten melancholischen Struktur, mit der Ottilie Charlottes Worte beantwortete, Worte, die sich auf die Tötung des Kindes und auf Ottilies hoffnungslose Selbstanklage bezogen, wenn sie aufwachen würde. Charlotte hatte hinzugesetzt, dass sie eine positive Zukunft für Ottilie sehe, dass Ottilies Neigung und Leidenschaft für Eduard ihr alles werde ersetzen und wiedergeben können, weil die Liebe alles ersetzen könne. Aber diese Worte hatte Ottilie nicht mehr aufgenommen oder schon im Moment des Hörens – als ihr völlig fremd und unpassend – verworfen. »Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten«, sagte Ottilie, ich habe meine Gesetze gebrochen [...] und nach einem schrecklichen Ereignis klärst du mich wieder über meinen Zustand auf, der jammervoller ist als der erste. Auf deinem Schoße ruhend, halb erstarrt, wie aus einer fremden Welt [es ist das Jenseits der Mutter und des Gewissens, H.B.] vernehm ich abermals deine leise Stimme über meinem Ohr; ich vernehme, wie es mit mir selbst aussieht; ich schaudere über mich selbst; [...] Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin. Ich will es büßen; und niemand gedenke mich von meinem Vorsatz abzubringen!53
53
Ebenda, II, 14. ITB, S. 218.
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Sie wird niemals Eduard gehören. Ottilie droht, wenn sie hintergangen würde, wenn Charlotte etwa in die Scheidung einwilligen würde: dann »büße ich in demselbigen See mein Vergehen, mein Verbrechen«.54 Was ist ihr Verbrechen? Sie hat ihrer schützenden mütterlichen Freundin den Mann geraubt, sie hat das Kind der beiden, das zwischen ihr und Eduard stand, getötet, sie war der Grund für den Ehebruch in der Zeugungsnacht, weil sie die Schönste und Liebevollste und Hingebungsbereiteste war, die Eduard gegen alle Widerstände der Welt für immer als Eigentum haben wollte, und sie hatte selber wahnhaft geglaubt und voll akzeptiert, dass das Kind wirklich ihre Augen hatte. Sie hatte dasselbe Verbrechen des Wahndenkens begangen wie Eduard, dass sie in jener Nacht in den Armen Eduards gelegen hätte, wie er es am See beschworen hatte, weil sie es sich selbst so unendlich wünschte, ungetrennt von ihm zu sein, und genau dies unter den Bedingungen des Liebesglücks als Realität erleben wollte, und dass ihr Entsetzen, ihre unerträgliche Verlassenheit für immer beseitigt werden würde. Sie hatte sich in den Nächten der Abwesenheit Eduards, als er im Krieg war, ihre Traumfunktion für die Bildung von Halluzinationen verwandelnd, Eduard in Uniform vergegenwärtigt, sitzend, gehend, reitend, dunkler als der helle Traumhintergrund, ganz realistisch, und war morgens getröstet aufgewacht, unzertrennlich mit dem Geliebten verbunden. Sie hatte sich wahnhaft ein privates Sakrament gemacht, genau wie Eduard, eine symbolische Gleichsetzung: Hoc est corpus meum, mein Geliebter, den ich genau gesehen habe. Ihr neues Gesetz bedeutete wiederum, nichts mehr aufzunehmen, nicht mehr zu essen. Sie plant und setzt durch einen schleichenden Suizid durch Verhungern. Er ist ihre Sühne. Nur die schönen Stoffe, die Eduard ihr zum rauschenden Geburtstag geschenkt hatte, verwendet sie, um ihr Braut- und Geburtstagskleid für Eduards Geburtstag daraus zu nähen. Es wird ihr Totenkleid. Sie kann weniger denn je auf das Zusammensein mit Eduard verzichten. Ihre Entsagung ist nur eine Entsagung des Körpers, des Hungers. Sie konnte sich, heißt es, der seligen Notwendigkeit des Zusammenseins mit Eduard nicht entziehen. Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegeneinander aus. [...] Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen vollkommenen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. [...] Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden.55
Auch diese beklemmend genaue Beschreibung von letzter Umkehr sowohl des Narzissmus Eduards als auch der bewussten Destruktivität von Ottilies Suizid ist eine Meisterleistung von Goethes barmherzigen Realismus. Der Zustand klingt derart ideal, dass man wie bei Werthers Selbstmord gefürchtet haben
54 55
Ebenda. Ebenda, II, 17. ITB, S. 232.
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müsste, dass dieses Paar romantisch zum Modell für Liebestode genommen würde. Jede Liebe hat Elemente dieser seligen Notwendigkeit, des Zusammenseinmüssens, jede große Liebe ist von der frühesten Liebesform stark geprägt, will die früheste Trennungsnot von Säugling und Mutter aufheben, empfindet aber im Gegensatz zu unserem sterbenden Paar überhaupt nichts Rätselhaftes am Leben, steuert eben nicht auf Tod, sondern auf die Hochzeit des Lebens zu. Man hoffte, dass beide zum Leben zurückfänden; die Wahrheit war jedoch, dass beide unter dem Schutz mächtiger Verleugnungen immer tiefer regredierten und sich entkörperlichten. Beide waren unter dem Druck von Ottilies Gewissen seelisch auf früheste Zeiten der Liebe zurückgewichen, in der die Trennung der Geburt im Gestilltwerden geheilt wird. Sie befanden sich im Bewusstsein seelischer Ungetrenntheit, einer des anderen Mutterleib, einer des anderen stillende Brust, einer des anderen Nahrung, gute Veränderung, Wohltat des Zusammenseins gegen alles Entsetzen von seelischer und körperlicher Trennung und schrecklichen inneren Angriffen, von denen nichts mehr gefühlt werden musste. Die Wohltat des Zustands bezog ihre eigentliche Überzeugungskraft aus der Abwesenheit aller gefühlten Aggressionen. Sie waren verleugnet, abwesend. Keine Leidenschaft gebärdete sich mehr rücksichtslos und führte destruktiv in Katastrophen. Eduard war dabei, seinen Narzissmus zu überwinden. Er wollte sogar als Märtyrer nicht mehr die Krone erreichen, er, der Maßlose, wird in seinen letzten Tagen bescheiden, ehrlich, mittelgroß und kommt auf die Höhe von Ottilies Tagebuch: »Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt«56 – aber es reicht ohne Ottilies Gegenwart nicht mehr zum Lebenwollen. Und Ottilie? Unter Mittlers lautem »Du sollst nicht ehebrechen«57 hat ihr vernichtendes Gewissen wieder gewonnen, die verleugnete Verdammung ist wieder präsent, trennt sie von allem Guten, allen Menschen, und sie soll die Verbrecherin bleiben, deren Sühnung nicht angenommen wird. Aber das Sterben hilft ihr gegen die Verdammung. Auch Mittlers donnernder Ton stirbt ab. Mit Hilfe der besorgten Gruppe, das Liebeskästchen unter ihren Füßen, halb liegend, halb sitzend, ist sie in ihren letzten Augenblicken nichts als »zarteste Anhänglichkeit […], Liebe, Dankbarkeit, Abbitte« und verkörpert das »herzlichste Lebewohl«58 – und stirbt versöhnt.
VI. Nanni und die Entstehung der Religion aus Schuldangst Ottilie hatte unter ihren Verleugnungen und in ihrer Schwäche leider vergessen, dass sie Nanni in einer Weise in ihren Suizid mit hineingezogen hatte, der das Mädchen unter dieselben Schuldängste und Verdammungen werfen musste, wie die es waren, vor denen sie in den Tod geflüchtet war. Auf Bitten und Drohen ihrer Gebieterin habe Nanni verschwiegen, gestand sie jetzt, dass
56 57 58
Ebenda, II, 5. ITB, S. 157. Ebenda, II, 18. ITB, S. 236. Ebenda, II, 18. ITB, S. 238.
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das Fräulein nichts mehr aß. Auf Ottilies Drängen hin habe sie selbst alles aufgegessen, »weil es ihr gar so gut geschmeckt«.59 Sie wurde heftig gescholten und mit Vorwürfen überhäuft. Sie hielt sich für schuldig, den Tod ihrer Herrin herbeigeführt zu haben, irgendeine schreckliche Strafe erwartend. In ihrer Verzweiflung war sie geflohen. Sie schien außer sich zu sein, als man sie fand. Man musste sie einsperren. »Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum Glauben.«
Ich möchte das letzte Beispiel für die Wichtigkeit des Realitätsverhältnisses und seine Abhängigkeit von den größten Ängsten und den stärksten Schmerzen, die Herstellung von Vorurteilen und Illusionen zur Abwehr unerträglicher Wirklichkeiten, die Überwältigung der normalen Psychosomatik durch die Erlösung vom Gewissen unter den einzigen Satz stellen, mit dem der Erzähler die religiös gefärbten Aufregungen, Empörungen und Begeisterungen über das Ende des Romans kommentiert: »Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum Glauben«.60 Ich bin geneigt, diesen Satz auch als Goethes überlegte Meinung zu einigen religiösen Phänomenen anzusehen, die er am Ende des Buches beschrieben hat. Religiöse Gefühle seien die stärksten Gefühle, die es in der Menschheit gebe, meinte Freud in Die Zukunft einer Illusion.61 Das Bedürfnis Nannis, dem wirkliche Befriedigung versagt war, war das nach Schuldbefreiung, nach Vergebung. Am Schluss des Romans werden wir auf die Macht der stärksten Gefühle über den Körper hingewiesen. »Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanni war durch Berührung des frommen Körpers wieder gesund geworden«.62 Unter dem Druck ihrer Schuldangst hatte Nanni regelrechte Halluzinationen gebildet, die sie heilten, deren Inhalt ihre Wünsche erfüllten, die jedoch eine gewisse Berechtigung in der Übereinstimmung mit Ottilies Meinung hatten, hätte Ottilie vor ihrem Ende einen Blick für die Schuldangst haben können, die sie bei Nanni in Gang setzte. Nannis Halluzinationen machten auf ihre Weise wieder gut, was Ottilie im radikalen Durchsetzen ihrer tödlichen Sühnung versäumt hatte. »Nun ruht sie wieder so still und sanft«, ruft Nanni, aber ihr habt gesehen, wie sie sich aufrichtete und mit entfalteten Händen mich segnete, wie sie mich freundlich anblickte! Ihr habt es alle gehört, ihr seid Zeugen, daß sie zu mir sagte: Dir ist vergeben! – Ich bin nun keine Mörderin mehr unter euch; sie hat mir verziehen, Gott hat mir verziehen, und niemand kann mir mehr etwas anhaben.63
Nannis Halluzinationen sind die letzten symbolischen Gleichsetzungen des Romans. Auch sie tragen den Charakter eines Wahns. Sie behaupten mit der Erfindung eines religiösen Sakraments das Bedürfnis nach Beseitigung der Schuld59 60 61 62 63
Ebenda. Ebenda, II, 18. ITB, S. 242. Vgl. Freud, Die Zukunft einer Illusion. In: Gesammelte Werke (Anm. 2), Bd. 14, S. 323– 380. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 18. ITB, S. 242. Ebenda, II, 18. ITB, S. 240.
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angst als gesellschaftliches Zentralmotiv. Gleich bildet sich ein Wallfahrtsort und führt in der protestantischen Tradition des Romans zur Schließung der Kapelle. Aber das Problem der unbewussten Denkstörungen – und Nannis Wunderglauben und Halluzinationen sind solche – lässt sich nicht ein- oder ausschließen, so wenig wie ihr stärkstes Untergrundbedürfnis, die Beseitigung der Schuldangst. Freud hatte in Das Unbehagen in der Kultur genau dieses Motiv als zentrales Problem der Menschheitsgeschichte bewusst gemacht, als unbewusste kollektive Schuldangst.64 Sollte der Roman mit der Erfindung einer Religion und ihrer Beendigung schließen, die die Schuldangst illusionär beseitigt? Ich sehe nichts, was aus dem Roman genommen dagegen spräche. Im Gegenteil: Die ungeheure Bedeutung der sozialphilosophischen und politischen Glaubenssysteme der nächsten beiden Jahrhunderte unterstreicht die Benennung dieses entscheidenden gesellschaftlichen Phänomens, des Unbehagens in der Kultur, der Abwehr des kollektiven Schuldgefühls durch religiöse und quasireligiöse Illusionen, die den Charakter eines Wahnes tragen, als Goethes Arbeitsanforderung für die nächsten Generationen. Die entgegengesetzte Verstörung vieler Leser wegen der Religionsentstehung am Ende des Romans und wegen der Affi rmierung der ›reizenden‹ Auferstehungsvermählung spricht dafür, dass Goethes Arbeitsanforderung für Gegenwart und Zukunft verstanden und – missbilligt wurde.
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Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Gesammelte Werke (Anm. 2), Bd, 14, S. 409–506.
FREIHEIT UND DETERMINATION
Wissen sie, was sie tun? Literatur, Ethik und Handlungstheorie Temilo van Zantwijk
Die Moralphilosophie hat es stringent zu erweisen, daß die erdichtete Person immer zu arm und zu reich ist, sittlichem Urteil zu unterstehen. Vollziehbar ist es nur an Menschen. Von ihnen unterscheidet die Gestalten des Romans, daß sie völlig der Natur verhaftet sind. Und nicht sittlich über sie zu befinden, sondern das Geschehn moralisch zu erfassen, ist geboten.1
Mit diesen wenigen Worten arbeitet Walter Benjamin die umfassende Aufgabe einer moralphilosophischen Interpretation der Wahlverwandtschaften – in der Rezeptionsgeschichte wohl zum ersten und letzten Mal – mit hinreichender Schärfe heraus. Der einzig fruchtbare Einstieg in das Thema kann nur die Unterscheidung zwischen fiktiver und wirklicher Person sein, denn nur so wird die erfundene Person praktischer Wertbeurteilung entzogen, der keiner der im Roman Versammelten als Mensch standhalten würde. Als Gestalten lassen literarisch erfundene Personen ausschließlich das Typische des Charakters einer wirklichen Person sichtbar werden. Das Typische ist in der besonderen Anschauungsweise Goethes in vielen Individuen auf analoge Weise verwirklicht und nicht Gegenstand persönlicher Selbstbestimmung, sondern Folge natürlicher Determination. Damit ist die fiktive Person als literarische Gestalt bereits nicht mehr Adressatin einer normativen Ethik oder Gegenstand ethischer Wertbeurteilung, denn diese beziehen sich auf Entscheidungen und Handlungen eines individuellen Menschen, der sich aufgrund seiner unbegrenzt fortsetzbaren Bestimmbarkeit niemals darin erschöpft, Exemplar eines bestimmten Typs zu sein. Erst das Formlose, als Gestalt Nicht-Identifizierbare im Charakter eines individuellen Menschen, dessen Identität im Leben hinter Diskontinuität und Inkonsequenz verborgen bleibt, macht eine praktische Beurteilung seiner Handlungen überhaupt möglich, denn erst die Eigenschaft, nicht festgelegt zu sein, macht ihn sinnvollerweise zu einem Adressaten von Vorschriften und Verboten. Nur die Handlungen eines individuellen Menschen können daher 1
Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Ausgewählt von Siegfried Unseld. Frankfurt am Main 1977, S. 63–135, hier 71.
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Temilo van Zantwijk
von wechselndem ethischem Wert und damit Gegenstand einer praktischen Wertbeurteilung sein. Insofern ist die Person als fiktive literarische Gestalt, wie Benjamin sagt, notwendig zu arm, nämlich zu arm an inhaltlicher Bestimmtheit, um nach ethischen Kriterien beurteilt zu werden. In einem anderen Sinne ist sie aber auch immer schon zu reich für ein solches Urteil, indem sie als Gestalt im Typischen die bloße Vielfalt des individuellen Lebens übersteigt, um das Leben, insofern es nicht ein Individuum, sondern gewissermaßen alle angeht, das heißt das allgemeine Leben nicht eines, sondern der oder besser: des Menschen, an der besonderen Gestalt einer fiktiven Person veranschaulichend darzustellen. Als Gestalt weist die fiktive Person in Goethes Darstellung in den Wahlverwandtschaften über sich hinaus auf Liebe und Tod als bestimmende Mächte des menschlichen Lebens, die in jedem Individuum zu einem anderen, persönlichen Ausgleich kommen. Unter den wechselhaften Bedingungen des wirklichen Lebens erscheinen nicht diese Mächte selbst, sondern nur ihre Folgen als Notwendigkeit oder Zufall, Glück oder Unglück, Sinn oder Absurdität. Was fiktiv ist, das heißt durch fiktionale Rede dargestellt wird, kann, um diese Überlegung auf den Punkt zu bringen, nicht gut oder schlecht sein, weil es gemäß Definition weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, nämlich nichts Wirkliches ist. Die eigentliche Aufgabe einer moralphilosophischen Interpretation entsteht, wie Benjamin sagt, aber erst auf der Grundlage der hier angedeuteten Voraussetzungen. Benjamin fordert, dass eine Moralphilosophie diese Voraussetzungen stringent erweise, also argumentativ zeigen möge, dass eine haltbare Interpretation der Wahlverwandtschaften nicht auf ein »sittliches Urteil« hinauslaufen kann. Damit stellt sich zum einen die Aufgabe einer Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Dichtung als unterschiedlichen Darstellungsformen ethischer Reflexion. Zum andern fordert Benjamin, »das Geschehn moralisch zu erfassen«. Damit wird angedeutet, dass das Wort ›moralisch‹ noch einen anderen Sinn haben muss als den einer »sittlichen Beurteilung«, die hier nicht in Frage kommt. Nun beantwortet Benjamins großer Aufsatz diese Fragen nicht, zumindest nicht explizit. Weder wird das Verfehlte einer sittlichen Beurteilung zwingend erwiesen, noch wird erklärt, in welchem Sinne der Roman moralisch zu verstehen sein soll. Grund genug, beiden Aspekten einmal im Zusammenhang nachzugehen, was im Folgenden geschehen soll.
I. Vom Nachteil einer »sittlichen Beurteilung« für das Verständnis eines Romans Gehen wir zuerst dem Hinweis nach, dass eine »sittliche Beurteilung« zu kurz greift. Ist das so zu verstehen, dass Goethes Personen als Naturgestalten nicht im moralischen Sinne schlecht sein können? Man könnte meinen, dass ihre Handlungen als bloße Naturereignisse, die niemand verantwor ten kann, moralisch zu entschuldigen sind. Dagegen ist zu sagen, dass diese Auffassung einen reduktiven Naturalismus voraussetzt, der nicht in den Wahlverwandtschaften
Wissen sie, was sie tun?
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angelegt sein kann. Um Handlungen naturalistisch zu entschuldigen, müssen sie naturwissenschaftlich erklärt werden können. Nun wird man zugestehen wollen, dass Goethes Personen nur das tun, was sie in einem gewissen Sinne tun müssen. Insbesondere mit Bezug zu Eduard ist zu sagen, dass er durch Gründe, die nicht seiner Entscheidung obliegen, die also in einem gewissen Sinne nicht seine Gründe sind, unwiderstehlich zum Handeln bestimmt wird. Obwohl er also auf jeden Fall in dem Sinne zum Handeln determiniert ist, dass er seine Handlungen nicht auch hätte unterlassen können, sondern wirk lich tun musste, was er tat, ist damit aber noch nicht gesagt, dass sein Handeln kausal erklärt und damit moralisch entschuldigt werden könne. In diesem Zusammenhang ist die Darstellungsform des Romans als einer Erzählung von Bedeutung. Die Erzählung ist erstens Bericht, Schilderung, Beschreibung. In diesem Sinne verhält sich ihr Subjekt auktorial, indem es dem Leser nicht nur das zusammenhängende Band der Ereignisse und Handlungen, sondern auch die Perspektive der handelnden Personen liefert. Wir erfahren zum Beispiel, dass Eduard sich über den Tod des Kindes freut, weil damit ein Hindernis seiner Beziehung zu Ottilie aus dem Weg geräumt wird, allerdings ohne es sich selbst ganz einzugestehen. Der Erzähler, den wir auf dieser Ebene einen ›souveränen Erzähler‹ nennen können, kennt nicht nur das Innenleben seiner Personen; er versteht dieses auch besser als die Personen selbst. Zweitens bezieht der Erzähler sein Wissen aber auch aus Gleichnissen, die er keineswegs beherrscht. Auf dieser Ebene ist von einem ›gefangenen Erzähler‹ zu sprechen, der die Erzählung systematisch unterbricht durch Texte anderer Gattungen, die die Erzählung zugleich beleuchten und verdunkeln, indem sie teils, aber auch nur teils, in diese übersetzbar sind. Hierzu gehören neben dem Gespräch über die chemische Wahlverwandtschaft, das die Sprache einer wissenschaftlichen Abhandlung aus der damaligen Naturforschung spricht, die Abschrift eines juristischen Vertragstextes von Eduards Hand durch Ottilie, die Tableaux vivants, die Briefe Eduards an den Hauptmann, an Charlotte und Ottilie sowie die Briefe der Pensionatsvorsteherin und des Gehilfen und natürlich die Eintragungen aus »Ottiliens Tagebuch«.2 Es ist darauf hingewiesen worden, dass auf dieser Ebene des Erzählens keine literarischen Referenztexte, die das Erzählte auf der ersten Ebene beleuchten könnten, herangezogen werden.3 Man kann daraus ableiten, dass Goethe den souveränen Erzähler über seine Grenzen hinausführen und gewissermaßen von seinem Thron stoßen möchte. Jedenfalls scheint dieser sich zum Ende hin immer mehr von Ottilies Schönheit überwältigen zu lassen und damit den männlichen Protagonisten immer ähnlicher zu werden (er wird selber zusehends zu einer der Personen, über die er spricht). Insbesondere scheint das Reden Eduards, Charlottes und des Hauptmanns vor dem Schweigen Ottilies verstummen zu müssen und alles Sprechen angesichts
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Ernst Ribbat, Sprechen, Schreiben, Lesen, Schweigen. Zu Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Johann Wolfgang Goethe. Romane und theoretische Schriften. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von Bernd Hamacher / Rüdiger Nutt-Kofoth. Darmstadt 2007, S. 59–73, hier 62. Ebenda, S. 66.
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der schrecklichen Ereignisse zu einem von Sinn entleerten Gerede trostreicher Worte (das Eduard am Anfang für sein Schreiben an den Hauptmann immerhin noch als uneigentlich ablehnt) zu verkommen. Das gilt nicht zuletzt auch für Ottilies trostreiches Briefchen an die Freunde kurz vor ihrem Tod (»die Jugend stellt sich unversehens wieder her«).4 Jedenfalls ist dem souveränen Erzähler auf der ersten Ebene zum Trotz überhaupt nicht klar, dass erzählte schriftliche oder mündliche Rede, das heißt ein epischer Gebrauch der Sprache, überhaupt geeignet ist, das darzustellen, was in den Wahlverwandtschaften dargestellt werden soll. Als ein Teilproblem dieses allgemeinen Darstellungsproblems ist zu bedenken, dass der Erzähler die chemische Gleichnisrede, die (gemäß der berühmten Selbstanzeige des Werks) ihrerseits wieder eine Übertragung des Ethischen auf Naturphänomene ist, keineswegs souverän verwendet. Vielmehr zeigt die Verwendung eines Gleichnisses, dass nicht nur die handelnden Personen, sondern auch der Erzähler nur in seiner Imagination ein Verständnis der Ereignisse und Handlungen bildet. Um es auf den Punkt zu bringen: Zu erklären, warum jemand etwas tut, liegt nicht nur außerhalb der Möglichkeiten der Protagonisten, auch der Erzähler ist mit dieser Aufgabe überfordert. Zudem zeigt die Verwendung gerade dieses Gleichnisses, das auf der Ähnlichkeit zwischen natürlicher und zwischenmenschlicher (in einer geistigen Region stattfindender) Anziehung und Abstoßung basiert, zugleich eine Grenze des Gebrauchs solcher Gleichnisse auf: Zwischen chemischer Redeweise und fiktionaler Dichtungssprache besteht genau der prinzipielle Unterschied, dass die naturwissenschaftliche Rede weltbeschreibend ist, die Gleichnisrede aber keinen empirischen Sinn hat.5 Daher simuliert diese bloß die Redeweise, aus der sie ihr Wissen bezieht (sie bezieht es nicht wirklich daraus). Die Bezugnahme auf Wissen der Naturforschung kann im Rahmen eines fiktionalen Textes nie anders als ironisch sein, denn mit einem solchen Vergleich wird nichts und soll nichts behauptet werden. Zugestanden sei also zwar, dass Goethe in den Wahlverwandtschaften Interesse an Handlungsdetermination zeigt, nicht aber, dass es ihm damit um eine moralische Entschuldigung dieser Handlungen als kausal erklärbare gehe; eine solche Erklärung liegt prinzipiell außerhalb der Reichweite von Literatur. Besser ist die Ansicht, dass es in den Wahlverwandtschaften nicht um natürliche, sondern um mythische Determination durch ein ehernes, göttliches Gesetz gehe, das sowohl den Lauf der Natur als auch die Geschicke der Menschen bestimmt, ohne jemals von ihnen, den Sterblichen, aus den vielen, aber nie eindeutigen Zeichen einer gegenbildlichen Welt erschlossen werden zu können. Diese Variante einer deterministischen Lesart vertritt Benjamin:
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Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman II, 17. WA I, 20, S. 395. Vgl. Gerhard Neumann, Wunderliche Nachbarskinder. Zur Instanzierung von Wissen und Erzählen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hrsg. von Gabriele Brandstetter. Freiburg 2003, S. 15–40.
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Kaum in irgend einer Literatur wird es eine Erzählung vom Umfang der Wahlverwandtschaften geben, in der so wenige Namen sich finden. Diese Kargheit der Namengebung […] gehört [...] innigst zum Wesen einer Ordnung, deren Glieder unter einem namenlosen Gesetze dahinleben, einem Verhängnis, das ihre Welt mit dem matten Licht der Sonnenfinsternis erfüllt.6
Der kristallene Becher, der als »Bauopfer« bestimmt war, aber durch eine wunderliche Fügung aufgefangen wird und ganz bleibt, ist, wie Benjamin in diesem Sinne sagt, ein »Todessymbol«, welches das neue Haus als Sterbehaus Ottilies markiert. In Eduards Freude über den Erhalt des Bechers sieht dieser entsprechend »das große Motiv der Verblendung«.7 Die Auffassung, dass es nicht um natürliche, sondern um göttliche Determination gehe, ermöglicht es, die Vorstellung der Determiniertheit und der Schuldhaftigkeit des Handelns miteinander zu verknüpfen. Zweifellos hat Benjamin das im Sinne, wenn er eine moralische Interpretation fordert, die über eine sittliche Beurteilung hinausgeht. Nun wird diese Antwort Benjamins eigenen Fragen in keiner Weise gerecht. Sie macht nicht deutlich, warum eine sittliche Beurteilung fehl geht. Benjamin gesteht dies zum Ende seines Aufsatzes selbst zu, indem er seine Verlegenheit angesichts der Frage eingesteht, wieso Ottilie bei aller Bildung nicht die Stimme ihres Gewissens vernimmt, die ihr sagt, dass ihr Betragen gegen Eduard in Rücksicht auf Charlotte unzulässig ist: »Keine Einsicht in die innersten Zusammenhänge des Romans kann das plane Recht dieser Frage entkräften«.8 Die abgelehnte Sicht einer sittlichen Beurteilung steigt entsprechend am Ende von Benjamins Aufsatz aus der Asche der beschworenen mythischen Verstrickungen auf: »haltlos erscheint auch ihr [sc. Ottilies] Leben, wenn es der Lichtkreis moralischer Ordnungen trifft«.9 So lange wir nicht darlegen können, warum Handlungen wie diejenige Ottilies (und aller anderen Personen) nicht im Sinne einer sittlichen Beurteilung (nach ethischen Kriterien) schuldhaft sind, können wir auch nicht verstehen, inwiefern sie in einem höheren Sinne Benjamin’scher Schicksalsmächte dennoch schuldhaft sein sollten und was damit im Unterschied zur sittlichen Beurteilung gemeint sein soll. Auf der Suche nach einer Antwort auf dieses bei Benjamin ungelöst bleibende Problem empfiehlt es sich, auf der Ebene souveränen Erzählens anzusetzen. Dort erhält der Leser vielfache Hinweise zur ›sittlichen Beurteilung‹ der handelnden Personen. Der Erzähler suggeriert dabei systematisch individuelle Entschuldigung durch Konstruktion einer Kollektivschuld. Sicher, es ist Ottilie, die fahrlässig genug mit einem Buch (wohl einem Trivialroman) und einem Kind auf dem einen Arm, das Ruder in der anderen Hand, den Kahn besteigt und beschließt, den See zu überqueren, um zum Haus zu gelangen. Dennoch, sie stand »verwirrt«10 am Ufer des Sees, wie wir erfahren, und es ist klar, wa-
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Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 1), S. 72. Ebenda, S. 73. Ebenda, S. 113. Ebenda, S. 112. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 13. WA I, 20, S. 360.
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rum: Sie wurde soeben von einem abwesend geglaubten Liebhaber geradezu überfallen und aufs heftigste innerlich aufgewühlt. Und auch Charlotte, die Mutter des Kindes, ist an Ottilies Verwir rung wohl nicht ganz unbeteiligt: Sie hätte, wie sie, sich selber die Schuld am Unglück gebend, sagt, früher durch Einwilligung in eine Scheidung von ihrem Mann, Ottilies Liebhaber, für neue geordnete Verhältnisse sorgen können. Weiter gibt es Gründe, weshalb es Ottilie so eilig hat, das Haus zu erreichen. Zum Teil liegen diese in ihrer fehlgeleiteten Imagination, die sich nicht oder nur bedingt verantworten kann, teils aber auch in Widerfahrnissen, für die sie nichts kann, wie zum Beispiel ihr Leben in materieller Abhängigkeit. Ihr langer Aufenthalt am See, der für sich genommen schon nicht voll und ganz zu ihren Lasten geht, ist nur einer von mehreren Gründen. Diese Suche nach Gründen lässt sich noch beliebig fortsetzen: Warum entstand an der Stelle der von Dämmen durchtrennten Teiche ein See (das haben wohl hauptsächlich Eduard und Charlotte zu verantwor ten)? Warum steht auf der anderen Seite das Haus (das war ein Einfall Ottilies, den Eduard übereilt und mit groben Strichen auf die vom Hauptmann sauber gearbeitete Karte setzte und der in der Folge zur Ausführung gelangte), und wieso bewohnen die beiden verlassenen Frauen dieses Haus und nicht das Schloss (diese Frage muss Charlotte sich gefallen lassen)? Die verschiedenen Handlungsstränge legen absichtsvoll eine Mitschuld aller Beteiligten an dem Tod des Kindes nahe, für den in Folge dessen keine der Personen speziell verantwortlich gemacht werden kann.
II. Handlung: Beschreibung, Zuschreibung, Bewertung Was steht hinter diesem Verwirrspiel von Schuld und Entschuldigung? In der ausgedehnten Literatur scheint eine auf der Hand liegende Frage nicht beantwortet zu werden: Warum ist es nicht möglich, die Kollektivschuld auf eine Teilschuld einzelner Personen zu verteilen? Von einer Wendung, die Goethe in einem seiner eingeschobenen, nicht zum Hoheitsgebiet des souveränen Erzählers gehörenden Texte verwendet, wird eine Aporie angezeigt, die ich im Folgenden als ›Aporie der Handlungszuschreibung‹ bezeichne. Es handelt sich um die Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern, in welcher der zum jungen Mann herangewachsene Knabe sich seiner Widersacherin aus Kindertagen zu Füßen wirft und die alte Feindschaft zum Nachteil eines mittlerweile gefundenen Bräutigams in Liebe umwendet: »‘Willst Du mich verlassen‘, rief sie aus, ‚da ich dich so wiederfinde?‘ – ‚Niemals‘, rief er, ‚niemals!‘ und wußte nicht was er sagte noch was er that«.11 Es gibt einen Zusammenhang zwischen übereiltem oder unüberlegtem Handeln, erregten Affekt- oder Stimmungslagen und einer bestimmten Art des Unwissens mit Bezug zum eigenen Handeln. Ein zentrales Thema der Novelle ist, dass wir nicht in der Lage sind, unsere eigenen
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Ebenda, II, 10. WA I, 20, S. 332f.
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Handlungen zu beurteilen.12 Vielmehr ändern wir unsere Interpretation dessen, was wir getan haben, je nach Stimmungslage, in der wir uns befinden. Es gibt nach Goethe keinen neutralen Standpunkt jenseits affektiver und imaginativer Situationsdeutung. Über das Mädchen wird Folgendes berichtet: Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung. Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß sie ihn immer geliebt habe. Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein, die größte Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und Verdruß unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.13
An Stellen wie diesen zeigt sich aufs deutlichste, dass Goethe gründlich bei Spinoza in die Schule gegangen sein muss, wenn es um den Zusammenhang
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Über Handlungen kann in unterschiedlichem Sinn gesprochen werden. So unterschiedliche Fälle, wie der, dass jemand seinen Arm hebt, um sich am Kopf zu kratzen, und der, dass jemand methodisch ein planmäßig festgelegtes Ziel erreicht, werden als Handlung klassifiziert. Dennoch ist es gerechtfertigt, von einem übergreifenden, allgemeinen Handlungsbegriff auszugehen: Handlungen sind nämlich per Definition auf das Herbeiführen von Zielen festgelegt. Das unterscheidet Handlungen von Verhalten, das reaktiv und nicht zielgerichtet ist. Die Frage, was ein ›Ziel‹ ist, ist aber kaum weniger einfach zu beantworten als die, was eine ›Handlung‹ ist. Ein Ziel kann ein erscheinendes Objekt in Raum und Zeit sein, aber auch eine Eigenschaft des Verhaltens eines solchen Objekts, z.B. eines Organismus, das seinen Wachstumsprozess zu Ende führt, und drittens auch eine Eigenschaft der Selbstbeziehung in der Zielorientierung. Das Wort ›Ziel‹ meint dann die Erfahrung der Verwirklichung eines Ziels (vgl. Wolfgang Prinz, Wille und Ziel oder ist willentliches Handeln dasselbe wie zielorientiertes Handeln? In: Willenshandlungen. Zur Natur und Kultur der Selbststeuerung. Hrsg. von Tillmann Vierkant. Frankfurt am Main 2008, S. 14–39, S. 16f.). Diese Beschreibungen von Zielen sind wieder zu unterscheiden von Erklärungen von Handlungen unter Bezugnahme auf Ziele. Wie Ziele Handlungen erklären, hängt stark davon ab, ob das Subjekt einer Handlung das Ziel, auf das die Handlung gerichtet ist, hat, bzw. über dieses Ziel verfügt. Die von Elisabeth Anscombe (Intention, Cambridge MA 22000) vertretene These, dass jede intentionale Handlung eine intentionale Einstellung des Handelnden impliziert, die sich als dem Handlungssubjekt verfügbares praktisches Wissen explizieren lässt, wird in der gegenwärtigen Handlungstheorie vielfach kritisiert. Entsprechend wird heute üblicherweise nicht angenommen, dass jeder intentionalen Handlung ein praktisches Wissen korrespondiert (vgl. J. David Velleman, Practical Reflection. Stanford, Calif. 2007, S. XX). Das gilt vielmehr ausschließlich für bestimmte intentionale Handlungen, nämlich Willenshandlungen. Wird das Ziel ohne Überlegung, das heißt ohne die ausdrückliche Konzeption dieses Ziels, gewohnheitsmäßig realisiert, dann wird man sagen müssen, dass jemand ein Ziel erreicht, ohne dass man uneingeschränkt sagen könnte, dass er dieses Ziel hat oder verfolgt. Hat jemand sich sein Ziel aber in einer für ihn selbst verfügbaren Weise konzipiert, dann wird man davon als von ›seinem Ziel‹ sprechen und sagen, dass er dieses Ziel hat oder verfolgt. Wird eine Handlung von deklarativen Zielrepräsentationen geleitet, so spricht man von Willenshandlungen (Prinz, Wille, S. 20). Bringen wir Goethes Weise, Handlungen darzustellen, im Rahmen moderner analytischer Handlungstheorie auf den Punkt, so können wir sagen, dass nach Goethe die deklarativen Zielrepräsentationen in Willenshandlungen nicht auf praktischem Wissen, sondern auf Imaginationen basieren, die von nicht durchschauten Leidenschaften gesteuert werden. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 10. WA I, 20, S. 327f.
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von Leidenschaft, Imagination und Handlung geht. Die Handlungen des Jungen, die dem Mädchen unter dem Einfluss der Leidenschaft in ihrer Imagination als wünschens- und liebenswert erscheinen, erschienen unter dem ursprünglich entgegengesetzten Affekt als hassenswert. Ein Affekt erzeugt hier ein imaginatives Wirklichkeitsverständnis, welches seinerseits eine Wertung erzeugt. Eine solche Verkettung von Ereignissen, Handlungen und kognitiven sowie emotiven Wertungen ist nichts anderes als eine bloße Verkleidung Spinozanischer Theorie durch eine sie kaum verhüllende Dichtungssprache. Die Funktion der Novelle ist daher keine andere als die des eingeschobenen Referats zur chemischen Wahlverwandtschaft, die wir als erhellende Verdunkelung des Erzählens charakterisiert haben. Die in der Novelle aufgerufene Anthropologie lässt sich mit Hilfe der Ethik Spinozas14 folgendermaßen organisieren: Ein Affekt ist eine von Bewusstsein begleitete Zustandsveränderung des Kör pers, dessen Vermögen, Wirksamkeit auszuüben, dadurch vermehrt oder vermindert wird. Die Wirksamkeit des Körpers ist eine Funktion von dessen Streben (conatus), sich selbst zu erhalten. Das Streben eines Dinges, sich zu erhalten, ist eine Fähigkeit, Handlungen auszuführen (agendi potentia). Ein Streben eines Dinges heißt ›Trieb‹ (appetitus), wenn es auf Körper und Geist bezogen ist. Das Streben des Geistes heißt im Unterschied dazu ›Wille‹ (voluntas). Ist ein Trieb von Bewusstsein begleitet, so heißt er ›Begierde‹ (cupiditas). Befindet sich der Geist in einem Zustand, in welchem er seine Affekte nicht durchschaut, so heißt dessen Trieb ›Leidenschaft‹ (passio). Die ›Leidenschaft‹ des jungen Mädchens ist nach genau diesem Muster als ein von ihm nicht durchschauter Affekt zu erklären. In der Leidenschaft knechten Imagination und Affekt den Menschen: Seine Leidenschaft fesselt ihn an die Einbildung und verhindert eine Einsicht; seine Einbildung schlägt ihn mit Leidenschaft und vereitelt eine Wendung zum Besseren. Bei Spinoza gibt es allerdings auch die Liebe als vernünftigen Affekt, der keine Leidenschaft ist. Von dieser Art ist die Bejahung der notwendigen Existenz der einen Gott-Natur (amor dei intellectualis). Nun zeigt sich hier eine auffällige und wichtige Differenz zwischen Goethe und Spinoza. Die Liebe wird in der obigen Stelle unter die Leidenschaften des Mädchens geordnet. Es gibt bei Goethe offenbar keine andere Liebe als die einer emotionalen Werteinstellung (Liebe im Gegensatz zu Hass). Insbesondere gibt es nicht die Liebe als zugleich kognitive und emotionale Bejahung Gottes bzw. der Natur in der Kontemplation durch intuitive Wissenschaft (scientia intuitiva). Daher können wir unser Handeln letztlich nie anders als unter den Beschränkungen unserer Imagination und Passion begreifen.15 14
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Einen guten Einstieg in die Affektenlehre bei Pierre-François Moreau, Imitation der Affekte. In: Baruch de Spinoza, Ethik. Hrsg. von Michael Hampe / Robert Schnepf. Berlin 2006, S. 183–196, zu Spinozas berühmter Definition S. 192f. Bei Spinoza wird dieses Problem durch die Anerkennung vernunftgemäßer Affekte vermieden. Vgl. Jean-Claude Wolf, Menschliche Unfreiheit und Desillusionierung. In: Baruch de Spinoza, Ethik (Anm. 14), S. 197–214, hier S. 212: »Affekte sind nach Spinoza kognitiv (oder repräsentativ), moralische Urteile affektiv. Insofern sind auch ethische Urteile zweiteilig, nämlich kognitiv und affektiv«. Der Unterschied wirkt sich unmittel-
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Und hier zeigt sich, in welchem Sinne das Nichtwissen des jungen Mannes im Liebesbekenntnis zum jungen Mädchen als Synekdoche zu verstehen ist: Für Goethe sind wir alle in unserer Imagination gefangen und wissen prinzipiell nie, was wir gerade tun. Dies kommt uns lediglich so vor, wenn wir uns von unseren Leidenschaften nicht bedrängt fühlen. In diesem Sinne steht der junge Mann, der in einer Situation imaginativer und affektiver Überforderung gezeigt wird, als Teil für das Ganze: Menschliches Dasein ist eine Verkettung von Handlungen in Situationen imaginativer und affektiver Überforderung. Wir dürfen uns zu dieser Verallgemeinerung berechtigt fühlen, wenn wir die Erzähltechnik der eingeschobenen Novelle mitbedenken, mit der der Erzähler sich aus dem Geschehen zurückzieht.16 Dieser Akt der Distanzierung dient einer objektivierenden Beleuchtung des Sinnes der Ereignisse. Fassen wir die Novelle, die eine Episode aus der Vorgeschichte des Hauptmanns, Charlottes Liebhaber, kolportiert, demgemäß einmal als Gleichnis, welches die vielen Verwicklungen und Handlungsstränge verkürzend und vereinfachend, aber auch zuspitzend vergegenwärtigt, so werden wir diesem vielsagenden Nichtwissen, was man tut, jedenfalls keine geringe Bedeutung zuweisen. Insbesondere werden wir genau darin den Grund finden, warum eine ›sittliche Beurteilung‹ der Personen und ihrer Handlungen im Sinne einer ethischen Wertbeurteilung an den Wahlver wandtschaften vorbeigeht und warum es unmöglich ist, die Kollektivschuld auf die beteiligten Individuen zu verteilen. Nun ist mit wenigen analytischen Hilfsmitteln die von Benjamin gestellte moralphilosophische Aufgabe zu lösen, ›streng‹ zu erweisen, warum eine sittliche Wertbeurteilung scheitert. Was alles liegt also in diesen vielsagenden Worten ›Und er wusste nicht, was er tat‹? Aus dem Blickwinkel der modernen analytischen Handlungstheorie geht es hier erstens um eine Aporie der Handlungsbeschreibung. Die Ausführung einer Handlung ist ein raum-zeitliches Ereignis. Das Subjekt und alles, was dieses zum Handeln bestimmt, ist aber kein Objekt unserer raum-zeitlichen Anschauung. Eine Handlungsbeschreibung kann daher so genau sein, als sie will, aus ihr geht keine Antwort auf die Frage: Wer handelt? hervor. Wenn wir nicht wie Spinoza über eine andere Erkenntnisquelle verfügen als unsere sinnlich objektive Anschauung, sind wir tatsächlich zumindest in dem Sinne in unseren Imaginationen ein-
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bar auf die Möglichkeit einer philosophischen oder wissenschaftlichen Ethik aus, die bei Spinoza gegeben ist, bei Goethe nicht, insofern ist die fiktionale Darstellung des Ethischen bei ihm nicht zufällig. Dennoch lehnt sich »das distanzierend, fast geometrisch gegliederte Äußere« auch formal an Spinozas Ethik an. Vgl. Yeon-Hong Kim, Goethes Naturbegriff und die ›Wahlverwandtschaften‹: symbolische Ordnung und Ironie. Frankfurt am Main 2002, S. 69. Anders als für Descartes ist die Imagination, die allgemein als die Erkenntnis des Einzeldinges bestimmt ist, für Spinoza viel mehr als nur eine Quelle falscher Vorstellungen. Vgl. zu ihrer vitalen Rolle auch für vernunftgemäße Affekte Piet Steenbakkers, Spinoza on the Imagination. In: Imagination in the later Middle Ages and early modern times. Hrsg. von Lodi Nauta / Detlev Petzold. Leuven u.a. 2004, S. 175–193. Vgl. ausführlich zu den Formen erzählerischer und objektiver Ironie Manfred Engel, Der Roman der Goethezeit. Band 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993, S. 272f.
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geschlossen, als wir nie wissen können, wer etwas tut. ›Wissen‹ heißt hier ›kennen‹. Wir können daher auch sagen, dass es unsere Anschauungen von der Ausführung von Handlungen nicht ermöglichen, den Handelnden zu kennen. Zweitens ist schon darin eine Aporie der Handlungserklärung enthalten. Ist eine Handlung eine bloße Folge der Handlungen anderer Personen, so dass die scheinbar handelnde Person sich letztlich bloß leidend gegen hinreichende determinierende Ursachen und Umstände verhält? Räumen wir nicht auch diesen Fall gewöhnlich als möglich ein, dass jemand unter Notwehr handelt oder zu einer schlechten Tat so angestiftet wurde, dass diese ihr nicht mehr voll zugerechnet werden kann? Aber zeigt sich in jeder Handlung, so sehr jemand auch zu ihr genötigt worden zu sein scheint, nicht andererseits doch ein Aspekt individueller Modifikation der Umstände, der seinen Grund einzig und allein in dieser Person findet? Drittens geht es um eine daraus resultierende Aporie der Handlungsbewertung: Die Auszeichnung einer Handlung als gut oder schlecht setzt voraus, dass wir diese Handlung jemandem zuschreiben können und dass wir die Gründe ihrer Ausführung hinreichend angeben können. Denn eine Handlungsbewertung geschieht, indem wir ein praktisches Urteil fällen, das sich auf eine bestimmte, individuelle Handlung beziehen muss. Eine Handlungsbewertung setzt daher voraus, dass wir zweifelsfrei angeben können, wer wann und wo sowie unter welchen Umständen und aus welchen Gründen was getan hat. Überlegen wir einmal, wie die Situation, in der das Kind zu Tode kommt, konstruiert ist: Würden wir einer Handlungsbeschreibung, die kurz und gut besagt, dass Ottilie das Kind fahrlässig getötet hat, zustimmen? Wenn wir eine Handlung gar nicht zuschreiben können, wie wollen wir sie dann als Handlung bewerten? Weil wir kein Kriterium angeben können, das besagt, wann eine Handlungsbeschreibung vollständig oder hinreichend ist, haben wir keinerlei Handhabe, mit der wir eine schlechte Handlung von schlimmen Ereignissen einer anderen Art unterscheiden könnten. Wann würden wir denn überhaupt sagen können, dass wir wissen, was wir tun, oder wissen, was jemand anderes tut? Ich sage nun, dass wir im Sinne Goethes genau dann wissen, was jemand tut, wenn wir angeben können, wer, wann und wo und aus welchen Gründen eine Handlung ausführt. Goethe hat diese Definition von Wissen, was man tut, im Entwurf einer Einleitung zur Morphologie aus dem Jahre 1800 explizit aufgestellt. Er vergleicht dort die Handlungserklärung mit seiner Methode der Naturanschauung, die es verbietet, dass wir ein Naturprodukt teleologisch mit Bezug zu einem angenommenen Zweck erklären, und vertritt die Auffassung, dass wir »von ihm selbst Rechenschaft fordern können dem wir zutrauen können daß es uns Auskunft über die Art seines Daseyns geben werde«.17 So wie das Naturprodukt von sich aus auf das allgemeine Leben der wirkenden Natur, die seine Existenz bedingt, verweist, so gilt auch in der Handlungsbeurteilung, dass eine handelnde Person von sich aus zeigt, was sie zum Handeln bestimmt, und dadurch Rechenschaft von ihren Taten gibt:
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Goethe, Entwurf einer Einleitung zur Morphologie. WA II, 13, S. 6.
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Gleichniß eines freyen Menschen der keinem Vater keinem Herrn keiner Not gehorcht. Wir sehen ihn handeln und begreifen nicht recht warum er das so und so macht, wir treten zu ihm und fragen warum bist du so. Er würde uns angeben sein Inneres und seine Umstände und daraus würden wir sehen daß er nothwendig so handle.18
Zu beachten ist der Konjunktiv in diesem Modell der Handlungserklärung. Es wird hier ein Kriterium aufgestellt, welches, wenn es erfüllbar wäre, menschliches Handeln selbsterklärend machen würde. Genau festzuhalten ist auch, von welcher Voraussetzung Goethe die Anwendung dieses Kriteriums abhängig macht: Die handelnde Person muss sich öffnen und ihr Innerstes mitteilen. In Verbindung mit Goethes Version der von Spinoza entliehenen Anthropologie hat dieses Kriterium fatale Konsequenzen für Handlungstheorie und Ethik. Die Leidenschaften und Imaginationen verurteilen den Menschen zur Unfreiheit. Diese wiederum schwächt seine Fähigkeit, durch Handeln zu wirken. Die fatale Kette abschwächender Modifikation zeigt sich an den zum Ende hin immer mehr zunehmenden Handlungsdefiziten aller Personen. Symbolisch verdichtet zeigt sich dies in der zuletzt versiegenden Lebenskraft Ottilies. Aber die Artikulationsdefizite, die sich im uneigentlichen Reden, im Verstummen und Schweigen durchweg andeuten, weisen auf einen engen Zusam menhang zwischen der Gefangenschaft der Personen in ihren Leidenschaften und Imaginationen einerseits und deren Verlust an wirklichem Dasein andererseits in der Sicht Goethes hin. Der abnehmenden Fähigkeit zu wirken und damit: zu existieren, korrespondiert eine zunehmende Selbstbezogenheit aller Personen. Eduard, Charlotte, der Hauptmann, alle miteinander sind sie geborene, oder vielmehr gewordene ›Singles‹, von denen die erforderliche Öffnung immer weniger zu erwarten ist. Wird nicht in ihrer absolut gesetzten Selbstbezogenheit, in dem von ihnen realisierten Maximum individueller Absonderung, der Grund ihres existenziellen Scheiterns zu sehen sein? Goethe führt an ihnen aber nur drastischer vor, was im Allgemeinen das Problem seines Modells der Handlungserklärung ist: Zwischenmenschliche Beziehungen sind nicht gerade auf Authentizität festgelegt. Die Romanexposition mit dem vom taktischen Kalkül dominierten Gespräch zwischen Eduard und Charlotte legt beredtes Zeugnis davon ab. Vor die Aufgabe der Handlungszuschreibung gestellt, verurteilt dieses Modell die Handlungstheorie zum Scheitern. Die philosophische Brisanz der Wahlverwandtschaften ist vor diesem Hintergrund darin zu sehen, dass Goethe damit auch jedes andere Modell der Handlungszuschreibung zu Fall bringen möchte, mit schweren Folgen für die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, aber auch für lebenspraktische Fragen wie die nach dem Glück und dem Sinn des Daseins.
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Ebenda, S. 6f.
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III. Freiheit ohne Selbstbestimmung Es ist wichtig zu betonen, dass Goethes Aporie der Handlungszuschreibung nicht die Begründung praktischer Urteile (Werturteile, die eine Handlung in einem ausweisbaren Maß als gut oder schlecht bestimmen) durch ethische Theorien tangiert. Sowohl unter eudaimonistischen als auch unter deontologischen oder konsequentialistischen Gesichtspunkten wird man viele Handlungen, die im Roman ausgeführt werden, als schlecht bewerten müssen und auch können. Die Aporie der Handlungszuschreibung tangiert die Möglichkeit theoretischer Ethik dennoch, denn sie lässt wissenschaftlichen Ethiken jeden Typs keine nennenswerte Relevanz für ethische Konfliktsituationen. Ethische Orientierung setzt praktisches Wissen im aufgewiesenen Sinn voraus. Um eine Person auf ganz gleich wie gerechtfertigte praktische Prinzipien verpflichten zu können, ist es erforderlich, dass wir ihr ihre Handlungen als die ihrigen zuschreiben können. Gerade dies können wir auf Grund der Aporie der Handlungszuschreibung prinzipiell nicht. Exemplarisch ist nun zu zeigen, wie eine Konzeption autonomer Willensentscheidung an der Aporie der Handlungszuschreibung scheitert. Betrachten wir einmal, wie Eduard und Charlotte am Anfang des erstens Teils zur Entscheidung gelangen, den Hauptmann und Ottilie zu sich zu holen. Eine Handlung konstituiert sich, so wie Eduard und Charlotte sich das vorstellen, so: Zuerst wird überlegt: Was sollen wir tun? Dann wird ein Vorsatz gebildet, der durch eine Entscheidung bekräftigt wird und gewissermaßen die Erlaubnis zur Ausführung ist. Gemäß dieser Idee haben Eduard und Charlotte versucht, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Eduard hat Charlotte zur Heirat bewogen, indem er ihr die Vision einer zweisamen Idylle entfaltet hat. Das war der Vorsatz. Charlottes Einwilligung war der Entschluss. Die Gestaltung ihres Guts mitsamt Mooshütte ist die Ausführung. Die weitere Entscheidung, ihren Wirkungskreis zu erweitern oder nicht, orientiert sich an demselben Modell autonomer Selbstbestimmung. Es geht um die Frage: Wollen wir unsere selbstgesetzten Regeln brechen oder nicht? Die Frage: Unter welchen Umständen ist es erlaubt, eine praktische Regel zu ändern? setzt einen anspruchsvolleren Freiheitsbegriff voraus als die bloße Wahlfreiheit (liberum arbitrium), die üblicherweise als die Fähigkeit definiert wird, zwischen zwei Alternativen zu entscheiden. Mehrere Freiheitsdimensionen sind in diesem Konzept autonomen Entscheidens enthalten. Zunächst findet die Entscheidung in Bezug auf einen Raum, das Gut Eduards, statt, in welchem die beiden sich uneingeschränkt frei bewegen können. Wir bezeichnen diese Grundvoraussetzung freier Entscheidung als positive Freiheit oder Bewegungsfreiheit. Dass diese Freiheitsdimension im Roman tatsächlich als grundlegend aufgewiesen wird, geht aus der Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Landstreicher und Bettler, die Eduard auf Anraten des Hauptmanns verhängt, hervor. Landstreicher werden dadurch im Ansatz der Fähigkeit selbstbestimmter Entscheidung beraubt und kommen nur als Objekte des fürstlichen Willens in Betracht. Zweitens sehen wir, dass das Dasein von Charlotte und Eduard materiell gesichert ist. Sie sind dadurch und auf Grund ihres gesellschaftlichen Standes frei von äußeren
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Zwängen, die sie in ihrer autonomen Entscheidung einschränken könnten. Wir sprechen mit Bezug dazu von negativer Freiheit. Drittens gibt es die praktische oder Handlungsfreiheit, die besagt, dass Personen unter den freiheitlichen Voraussetzungen Eduards und Charlottes ihre Handlungen als von ihnen selbst ausgeführte verantworten können und müssen. Über die praktische Freiheit hinaus ist noch die Dimension transzendentaler Freiheit bzw. Autonomie von Bedeutung, die beinhaltet, dass der Mensch als Person selbst zugleich Subjekt und Objekt moralischer Gesetzgebung ist. Diese von Kant herrührende Konzeption einer Freiheit als Selbstgesetzgebung wird in den Wahlverwandtschaften nicht aufgerufen. Vielmehr ist es so, dass Eduard und Charlotte in ihrem Gespräch die Autonomie ihres Willens präsupponieren, in ihrem Handeln dieser Präsupposition aber (performativ) widersprechen. Mit unmissverständlichem Verweis auf die Novelle von den Wunderlichen Nachbarskindern heißt es: Wir sind wunderliche Menschen, sagte Eduard lächelnd. Wenn wir nur etwas das uns Sorge macht aus unserer Gegenwart verbannen können, da glauben wir schon, nun sei es abgethan. […] Betrachten wir es genauer, fuhr er fort, so handeln wir beide thöricht und unverantwortlich, zwei der edelsten Naturen, die unser Herz so nahe angehen, im Kummer und im Druck zu lassen, nur um uns keiner Gefahr auszusetzen. Wenn dies nicht selbstsüchtig genannt werden soll, was will man so nennen! Nimm Ottilien, laß mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der Versuch gemacht!19
Die Sorge, die Eduard am Anfang benennt, weist die Situation als eine ethische Konfliktsituation aus: Es gibt Gründe für eine Handlung, die einer explizit durch ein gegebenes Versprechen eingegangenen Verpflichtung widerstreitet. Wie deutlich wird, ist es jedoch nicht möglich, die alternativen Handlungsoptionen zureichend zu beschreiben und zu bewerten. Was aus einer Perspektive als Bruch eines gegebenen Versprechens erscheint, erscheint aus einer anderen Perspektive als egoistische Vernachlässigung von Freunden in Not. Bringen wir nun, wie Kant es fordert, die zu prüfende Handlung H: Ich werde den Hauptmann als meinen Freund bei mir aufnehmen um ihm in seiner Notlage zu helfen, auf eine universelle Regel, die ihre regelmäßige Ausführung beschreibt, so erhalten wir mehrere mögliche Maximen, z. B. M1: Wenn es ein größeres Gut erfordert, sollst Du ein gegebenes Versprechen brechen, und M2: Wenn ein Freund in Not ist, sollst Du tun, was nötig ist, um ihm zu helfen. Eine moralische Geltungsprüfung im Sinne Kants fordert nun die Überprüfung der universell formulierten Handlung auf deren Tauglichkeit zu einem Gesetz. Dabei zeigt sich allerdings, dass sich M1 und M2 unterschiedlich verhalten. Während M1 im Sinne Kants als allgemeines Gesetz bestehen kann, kann M2 sicherlich nicht ausnahmslos gebieten (soll ich immer alles tun, was nötig ist, um meinen Freunden zu helfen?). Ein interessanter Aspekt, den wir hier nicht vertiefen können, ist, dass M1 einen Preis für ihre Tauglichkeit zu einem unbedingt gebietenden Gesetz bezahlen muss. Es bleibt nämlich offen, ob in diesem Fall, in dem einem Freund geholfen werden soll, durch diese Handlung ein
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Die Wahlverwandtschaften I, 2. WA I, 20, S. 19.
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größeres Gut verwirklicht werden soll, als das, welchem durch den Bruch des gegebenen Versprechens Abbruch getan wird. Die Probleme des Formalismus dürfen wir hier aber vernachlässigen, weil schon die Anfangsbedingung, dass geklärt sein muss, wie eine Handlung auf eine Maxime zurückzuführen ist, in dieser ethischen Entscheidungssituation nicht erfüllt ist: Eduard weiß gar nicht, was er eigentlich tut, wenn er das tut, was er vorhat. Deshalb kann eine moralische Geltungsprüfung im Sinne Kants nicht darüber befinden, ob H nun auszuführen oder zu unterlassen ist. Goethes Aporie der Handlungszuschreibung trifft die (damals maßgebliche) deontologische Ethik also bereits im Ansatz. Aus Goethes Diagnose folgt eine Grundsatzkritik an Konzeptionen der Autonomie oder Selbstgesetzgebung, wie sie den Versionen einer Pflichtethik Kants, Schillers und Fichtes zu Grunde liegt. Dass diese Konzeption unter den von Goethe hergestellten Bedingungen schwer zu Schaden kommen muss, zeigt sich insbesondere in dem am Ende unwillkürlich vollzogenen Übergang zu einer theonomen Ethik: Wenn wir wie Eduard meinen, in Gottes Namen zu handeln, liegt ein sicheres Zeichen vor, dass wir im Sinne Goethes gerade nicht wissen, was wir tun. Umgekehrt leistet ethische Orientierung nur dann etwas, wenn wir grundsätzlich wissen können, was wir tun. Einen Parallelfall gibt es am Ende des Romans, wo Ottilie und Charlotte versuchen, die aus dem Ruder gelaufenen Verhältnisse durch selbstgesetzte Regeln in den Griff zu bekommen. Ottilie verspricht, Eduard zu entsagen, was abgesehen von der religiösen Aufladung dieses Wortes in ihrer Phantasie die schlichtere rechtliche Bedeutung hat, dass sie den Kontakt zu ihm abbrechen wird, eine Selbstverpflichtung, die durch das gegebene Versprechen eine ethische Dimension intersubjektiver Verantwortung hat. Auch Ottilie interpretiert diese durch nichts als die Beratschlagung der Frauen erzwungene Regel als eine von Gott gewirkte: Dieser habe ihr durch die schrecklichen Ereignisse gezeigt, in welchem Verbrechen sie befangen gewesen sei. Auch in diesem Fall gelingt es überhaupt nicht, eine allgemeingültige Regel aufzustellen. Gegen ihren Willen gerät Ottilie doch wieder in die Nähe Eduards und führt durch ein hartnäckiges Schweigen und vor allem einen Abbruch all ihrer Vorsätze den Sinn der gemeinsam mit Charlotte aufgestellten Regel ad absurdum. Wenig später kommt es zum Bruch des selbstgegebenen Gesetzes, das Ottilie, wie sie verlegen gesteht, wohl etwas zu buchstäblich genommen habe. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die Handlungstheorie der autonomen Pflichtethik, die besagt, dass wir durch Überlegung im Stande sind, eine Handlung auf eine Regel zurückzuführen, diese Regel auf ihre Universalisierbarkeit zu prüfen, um schließlich, genötigt durch das Ergebnis der Prüfung, gemäß dem Sittengesetz zu handeln, in den Wahlverwandtschaften im Ansatz zum Scheitern gebracht werden soll, weil affektive und imaginative Überformungen jeder Handlungsbeschreibung es schon im Ansatz unmöglich machen zu sagen, auf welche Regel eine Handlung sich überhaupt stützt. Dabei ist zu bedenken, dass jede andere normative Ethik, die sich auf eine vergleichbare Handlungstheorie stützt, in dieselben Schwierigkeiten gerät. Ausdrücklich schließt Eduard die Orientierung an einer konsequentialistischen Ethik aus,
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indem er Handlungen insgesamt als »Wagestücke«20 bestimmt, deren künftige Folgen wir uns weder als Schuld noch als Verdienst anrechnen dürften.
IV. Eduards »Flötendudelei«: Können Handlungen kausal erklärt werden? Wenn wir zugeben, dass die Affekte und in ihnen begründete imaginative Situationsdeutungen eine ethische Prüfung des Handelns unmöglich machen, stellt sich die Frage, ob wir Handlungen dann nicht statt dessen kausal aus den Affektlagen, in denen sie entstehen, erklären könnten. Betrachten wir dazu die folgende Episode: Der Haß ist parteiisch, aber die Liebe ist es noch mehr. Auch Ottilie entfremdete sich einigermaßen von Charlotten und dem Hauptmann. Als Eduard sich einst gegen Ottilien über den Letztern beklagte, daß er als Freund und in einem solchen Verhältnisse nicht ganz aufrichtig handle, versetzte Ottilie unbedachtsam: Es hat mir schon früher mißfallen, daß er nicht ganz redlich gegen Sie ist. Ich hörte ihn einmal zu Charlotten sagen: ‘wenn uns nur Eduard mit seiner Flötendudelei verschonte: es kann daraus nichts werden und ist für die Zuhörer so lästig.’ Sie können sich denken, wie mich das geschmerzt hat, da ich Sie so gerne accompagnire.21
Was hier vorgeführt wird, ist eine Kausalkette zwischen einer Sprechhandlung, die eine Reaktion hervorruft, die wiederum eine Affekterregung ausdrückt, die ihrerseits einen stärkeren Affekt hervorruft. Ottilie, die diese Kausalkette beginnt, weiß dabei wieder einmal im Sinne Goethes nicht, was sie tut, obwohl es ihr in der nachträglichen Beurteilung gleich einfällt: »Kaum hatte sie es gesagt, als ihr schon der Geist zuflüsterte, daß sie hätte schweigen sollen; aber es war heraus«.22 Der Geist wird hier als Instanz bestimmt, der sich zu den natürlichen Handlungsgründen, den Affekten, verhält und das Gewissen konstituiert. Gemäß dieser Erklärung ist eine Handlung etwas ganz anderes, als es das Modell autonomer Willensentscheidung möchte: Eine Handlung ist als Realisierung einer natürlichen Disposition zu beschreiben, die unwillkürlich erfolgt und erst nachträglich durch das Gewissen bewertet wird. Gemäß diesem Handlungsmodell könnte man nun sagen, dass Ottilies Handlung kausal determiniert wurde durch eine Affekterregung. Da diese Erregung offenbar hinreichend für das Ausführen der Handlung war, entschlägt diese naturalistische, materialistische oder physiologische (oder wie man sie sonst beschreiben möchte), Handlungserklärung sie der Verantwor tung. Das Gewissen hinkt den natürlichen Tatsachen hinterher. Nur ein gegenläufiger Affekt könnte eine korrigierende Handlung einleiten, die auch Eduard beruhigen könnte. Zu spät:
20 21 22
Ebenda, I, 2. WA I, 20, S. 26. Ebenda, I, 13. WA I, 20, S. 145f. Ebenda, I, 13. WA I, 20, S. 146.
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Eduards Gesichtszüge verwandelten sich. Nie hatte ihn etwas mehr verdrossen: er war in seinen liebsten Forderungen angegriffen [...]. Er war beleidigt, wüthend um nicht wieder zu vergeben. Er fühlte sich von allen Pflichten losgesprochen.23
Letzteres zeigt sich besonders im nun beginnenden Austausch von geheimen Briefchen mit Ottilie, der den bisherigen Ehebruch im Geiste seiner wirklichen Ausführung ein ganzes Stück näher bringt. Nach alledem scheint es mir nicht zweifelhaft, dass die Wahlverwandtschaften zeigen sollen, dass Affekte Handlungen determinieren können. Eine ganz andere Frage ist es, ob der Erzähler oder die handelnden Personen ihre Handlungen kausal erklären können. Daran hängt einiges, denn Goethes Kriterium für ›Wissen, was man tut‹, war ja, die Notwendigkeit einer Handlung begreiflich zu machen. Versuchen wir, ob wir Goethes Kriterium erfüllen können, indem wir erklären, warum Eduard sich von allen Pflichten losspricht. Wann würden wir nun sagen, dass wir diese Handlung erklärt haben? Für eine Erklärung ist erforderlich, dass wir eine Menge minimal hinreichender Bedingungen für das Eintreten dieses Ereignisses angeben können. Wenn wir sagen: Ottilies Worte und Eduards Zorn waren zusammen hinreichend und nicht redundant, das heißt, nicht der Zorn allein hätte schon zur Handlung geführt; wenn es also die kleinstmögliche Menge der hinreichenden Bedingungen für das Ausführen der Handlung war, dann ist diese damit durch diese Bedingungen erklärt. Wie aber sollen wir diese Menge bestimmen? Auch Ottilies Äußerung wurde durch einen Affekt ausgelöst, der wieder durch eine Handlung des Hauptmanns verursacht wurde. Kausalanalysen stellen uns vor das Problem, dass weder die zu erklärenden Ereignisse noch die unbegrenzt fortsetzbare Kette ihrer Antezedensbedingungen von sich aus Aufschluss darüber geben, wann wir die Analyse abschließen dürfen. Nehmen wir einmal an, wir wären Ärzte und stünden vor der Aufgabe, auf Eduards Totenschein die Todesursache auszufüllen. Wir wollen im Ernst die wirkliche Todesursache angeben. Wo hören wir auf, die Bedingungen anzuführen, die zu seinem Tode geführt haben? Letztlich hat alles seit seiner Geburt als einem verwöhnten Kind, dem nie etwas versagt wurde, irgendeine Beziehung zu seinem Tod. Kausalerklärungen setzen also voraus, dass wir bestimmte Kausalanalysen einfach für verbindlich erklären, und damit ist klar, dass es keine Ursachen an sich gibt. Selbst wenn Handlungen kausal erklärt werden könnten, würde eine Kausalerklärung gewiss nicht zeigen, warum eine Handlung notwendig erfolgt, sie würde höchstens Voraussetzungen aufzeigen, unter denen sie auf jeden Fall erfolgt. Eine Kausalerklärung einer Handlung würde also auch die Verantwortung gar nicht tangieren. Nun behandelt weder Goethe noch Spinoza, an dem er sich hier offenbar orientiert, die Frage: Wie sind Kausalerklärungen möglich? Schenken wir ihnen also das wissenschaftstheoretische Problem und sagen einfach: Ottilies Äußerung hat Eduards Affekt erregt, und beides erklärt seine Handlung. Würden wir denn nun einsehen, warum die Handlung notwendig erfolgt? Im
23
Ebenda.
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Grunde ist die Situation jetzt die, dass wir, wenn wir geeignete Bedingungen identifizieren, wissen müssten, dass auch die Handlung erfolgt, und umgekehrt: Wenn die Handlung eintritt, müssen auch die Bedingungen dazu vorliegen. Die Bedingungen sind also nicht nur hinreichend, sie sind außerdem notwendig für das Eintreten des Ereignisses. In diesem Fall können wir die Handlung auf ihre Antezedensbedingungen zurückführen: Die Kenntnis der Antezedensbedingungen genügt, wie wir sagen, um die Handlung zu konstituieren. Wovon hängt es nun ab, ob diese Kriterien erfüllt sind? Wie wir aus der Wissenschaftstheorie wissen, ist hierzu die Unveränderlichkeit der Beziehung zwischen Antezedensbedingungen und Konsequens erforderlich, damit wir beide in ein Erklärungsschema stellen können. Mit anderen Worten: Jedesmal, wenn Ottilie diese Äußerung tut, muss Eduards Zorn erregt werden, worauf er eine Affäre anfängt. Wie nun aber Goethe an vielen Stellen der Wahlverwandtschaften eindringlich zeigt, sind die Affekte außerordentlich instabil. Die Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern ist das beste Beispiel dafür, wie Stimmungslagen sich durch zufällige äußere Einwirkungen geradezu verkehren können. Zudem ist eine Affäre beginnen kein beliebig wiederholbares Ereignis. Auf verwickeltere Weise wird dies an den wechselnden Lagen zwischen Entsetzen, Bangen, Hoffen und Trauern, in denen sich die Personen zum Ende hin befinden, deutlich. Was die Bezugnahme auf Affekte als determinierende Ursachen von Handlungen also gar nicht hergibt, ist die Konstanz der determinierenden Beziehung, die wir unbedingt brauchen, wenn wir eine Handlung im Sinne Goethes als notwendig begreifen wollen. Ganz im Gegensatz zu Goethes Kriterium für ›Wissen, was man tut‹ erweist die Zurückführung einer Handlung auf determinierende Affekte eine Handlung als ein völlig zufälliges Ereignis, das genauso gut ganz anders hätte sein können.24 Auf keinen Fall ermöglicht eine solche Analyse es, jemandem eine Handlung als die seine zuzuschreiben bzw. zu wissen, was er tut. Dieser Befund wirft noch einmal ein Licht auf das Verhältnis der Wahlverwandtschaften zur Ethik Spinozas. Goethes Analyse der Handlungsdetermination durch Affekte schließt eine Umkehr der negativen Affekte und eine Harmonisierung von Affekt und Intellekt wie in Spinozas intellektueller Liebe zu Gott aus. Selbst Ottilie, die der Idee einer Vereinigung von Freiheit und Determination in der Figur einer abhängigen Freiheit in den Sentenzen ihres Tagebuchs noch am nächsten kommt, gelangt bis zur Entsagung, aber nicht zur Umkehr der Affekte. Als Zwischenergebnis ist demnach aber festzuhalten, dass auch der Determinismus an Goethes Aporie der Handlungszuschreibung scheitert.
24
Zu diesem Befund gelangt bereits der Rezensent in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 18. Januar 1810, S. 121–128, hier 122: »Der Zufall nämlich, der, einer Bemerkung in den Lehrjahren zufolge, im Roman zulässig ist, spielt in dem unsrigen, der Idee des Ganzen gemäss, eine Hauptrolle«.
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V. Wie kommt Goethes Aporie zustande? Es ist keine leichte Aufgabe zu erklären, aus welchen Voraussetzungen die Aporie, die Goethe aufzeigt, entsteht. Dazu ist aber zumindest eine Hypothese zu wagen: Der Grund, weshalb Handlungen generell niemandem zugeschrieben werden können, scheint in Goethes Naturanschauung zu liegen. Goethe ist der Auffassung, dass es in der Natur keine absoluten Individuen gibt. Dies wird besonders an seinen botanischen Studien deutlich. Im Pflanzenreich erfolgt Reproduktion vielfach durch Abtrennung von Teilen. Der Teil eines Individuums kann selbst wieder als ein neues Individuum existieren. Daraus entsteht die Frage, ob das reproduzierte Individuum überhaupt ein Individuum, das heißt eine unteilbare Einheit sei. Auch umgekehrt lässt sich durch das bekannte Pfropfen, das auch unser Eduard begeistert praktiziert, ein abgetrennter Teil mit einem bereits gebildeten Individuum zu einem neuen Individuum vereinigen. Letztlich scheint es also nur eine wirkende Natur zu geben, nur einen Lebensprozess, von dem sich nur flüchtige Gestalten abspalten, die wir als Individuen bezeichnen, die jedoch keine selbständige Subsistenz aufweisen. Im Tierreich erfolgt die Abspaltung zwar radikaler, indem das organische Individuum zu einem Zentrum freier Bewegung sich gestaltet und Organe aufweist, die echte Teile eines Ganzen sind, das heißt nicht ohne Folgen für den Fortbestand aus diesem herausgelöst werden können und (auf dem damaligen biotechnologischen Entwicklungsstand) ebensowenig zur Grundlage eines neuen Individuums gemacht werden können. Aber auch hier ist die Individualität nie absolut: Sie besteht nur fort, solange die Selbsterhaltungskraft das individuelle Dasein erhält. Der Tod des Individuums ist kein absoluter Tod, sondern nur die Rückkehr des Produkts in die Grundlagen einer schaffenden Natur. Im Entwurf zu Die Absicht eingeleitet (gemeint ist die Absicht einer Morphologie) heißt es entsprechend: Begriff von Individualität hindert das Erkenntnis organischer Naturen. Es ist ein trivialer Begriff. [...] Organische Naturen, die offenbar Mehrheiten sind. Organische Naturen, die sich zur Individualität neigen. Bedingungen entschiednerer Individualität, Mangel an Reproductionskraft der Theile.25
Dem ist zu entnehmen, dass ›Individuation‹ für Goethe ein intensives Prädikat ist: Es gibt kein absolutes Maß der Individualität, sondern diese lässt sich unbegrenzt steigern. Auch im Menschen, dessen selbstbezüglicher Geist ein weiterer die Individuation verstärkender Faktor ist, entsteht kein absolutes Individuum. Es ist zu vermuten, dass das Problem der Handlungszuschreibung bei Goethe deshalb so gravierende Formen annimmt, weil es nicht nur, wie oben ausgeführt, prinzipiell nie zweifelsfrei geklärt ist, was wir zuschreiben, sondern auch, wem wir es zuschreiben wollen. Wenn es am Ende gar keine selbständig agierenden Subjekte gibt, die wir als Handlungssubjekte in Anschlag bringen könnten, wer sollte dann eine Handlung verantworten können?
25
Goethe, Die Absicht eingeleitet. WA II, 12, S. 244.
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Gehen wir dem Individuationsproblem bei Goethe also auf den Grund. Der prekäre ontologische Status natürlicher Individuen blieb Kommentatoren Goethe’scher Naturforschung nicht lange verborgen. Bereits der Botaniker Carl Heinrich Schultz hat Goethe Anfang der 1820er Jahre unter diesem Aspekt kritisiert.26 Schultz’ Anliegen, zu entscheiden, »ob das Leben der Pflanze sich nicht in einer beruhigten Erkenntniß eines Gesetzes begreifen lasse«, hat zahlreiche philosophische, insbesondere ontologische Implikationen, die vor allem das Verhältnis von Teil und Ganzem, sowohl bei Individuen als auch bei Pflanzengattungen betreffen.27 Schultz ist sich dieser Aspekte deutlich bewusst, wie sich vor allem im Zusammenhang mit seiner Diskussion des Individuationsprinzips zeigt. Die Individuation wird, so ist pointiert zu sagen, von Schultz als ein philosophisches Problem im Umfeld der Definition eines OrganismusBegriffs anerkannt. Verfügbare Auffassungen, wie diejenige Kants, dass sich im Organismus alles gegenseitig Zweck und Mittel sei, treffen nach Schultz zwar gegenüber teleologischen Erklärungen einen wichtigen Punkt, lassen aber die Frage nach dem Grund der Wechselbestimmung der Teile und damit die Frage nach deren ontologischem Status unbeantwortet.28 Im Anschluss an Johann Christian Reil meint Schultz, dass Kants Auffassung durch die Beobachtung der Abtrennbarkeit mancher Glieder ohne Gefahr für das Fortleben eines Individuums falsifiziert wird, ohne dass sich allerdings deshalb der Begriff des Organischen auf den der »Fähigkeit zu einer eigenthümlichen Bildung« im Sinne Reils reduzieren ließe.29 Diese Auffassung ist für Schultz wieder zu weit, indem sie auch Kristallisationsprozesse einschließt, die allenfalls als Grenzfälle von Organisation anzuerkennen wären. Die Beschränkungen beider Positionen lassen sich nach Schultz nur überwinden, indem der Begriff des Organismus als eine sich in seine Teile differenzierende Totalität definiert wird. Eine Totalität wird dabei als ein Ganzes verstanden, das sich durch einen Prozess interner Entgegensetzung konstituiert. Hierbei ist wichtig, dass sich unbegrenzt weitere Differenzierungen in diesen Lebensprozess einschieben lassen, sodass die Totalität nie vollständig abschließend bestimmbar ist. Die Totalität ist unaussagbare, propositional unerschöpfliche Individualität: Keine zwei Totalitäten können identisch, durch denselben Begriff erschöpfend determiniert sein. Mereologisch gesprochen ist eine Totalität damit ein Ganzes, das nicht durch Zusammensetzung diskreter Teile erhalten werden kann, sondern sich nur in umgekehrter Richtung im Sinne einer Differenzierung einteilen lässt. Insofern entspricht der Begriff der Totalität, der auch von Fichte und Schelling als Begriff für die absolute Einheit, die einer sich in Subjekt und Objekt spaltenden 26
27 28 29
Carl Heinrich Schultz, Die Pflanze und das Pflanzenreich. Nach einer neuen natürlichen Methode dargestellt. Erster Band, welcher das individuelle Pflanzenleben enthält. Berlin 1823 / Die Natur der lebendigen Pflanze. Erweiterung und Bereicherung der Entdeckungen des Kreislaufs im Zusammenhange mit dem ganzen Pflanzenleben, nach einer neuen Methode dargestellt. Erster Theil. Das Leben des Individuums. Berlin 1823. Ebenda, S. XIV. Ebenda, 1. Abt. § 146, S. 126ff. Ebenda, 1. Abt. § 147, S. 128.
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Erfahrung zu Grunde liegt, verwendet wird, dem Begriff eines Kontinuums. Die organologische Beziehung zwischen Teil und Ganzem ist entsprechend von einem extensionalen Verhältnis von Teil und Ganzem zu unterscheiden, wie es zum Beispiel im Falle von mathematischen Summen vorliegt.30 Hier gilt ein Extensionalitätsprinzip, welches besagt, dass alles, was aus denselben Teilen besteht, dasselbe Ganze ist. Im Unterschied dazu sind zum Beispiel Reihen intensionale Ganze, für die gilt, dass die Art der Zusammensetzung der Teile (hier das Bildungsprinzip der Reihe) erst das Ganze festlegt. Dazu wird ein Intensionalitätskriterium benötigt, welches besagt, dass dasjenige, was auf dieselbe Art aus denselben Teilen zusammengesetzt ist, dasselbe Ganze ist. Die Aufgabe, intensionale Identität zu definieren, stellt die Mereologie vor große Schwierigkeiten, die hier nicht weiter zu verfolgen sind, weil die im Kontext der Organik von Schultz vorliegende organologische Mereologie sowohl auf Extensionalität als auch Intensionalität verzichtet und im Rahmen von Totalitäten ausschließlich unselbständige Teile zulässt, die durch Entgegensetzung bzw. Differenzierung konstituiert sind.31 Im Unterschied zu Reihen und Summen sind Totalitäten Individuen und damit überintensionale Ganze. Was selbständiger Teil eines lebendigen Ganzen ist, ist nach Schultz notwendig selbst Totalität, das heißt ein Individuum, das selbst als Ganzes abgetrennt von allen anderen Organisationen existiert, die selbständiger Teil dieses übergeordneten Ganzen sind. Philosophisch wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass es in Organismen Teile geben kann, die abgetrennt werden können, ohne den Lebensprozess zu beenden und ohne als abgetrennte lebensfähig zu sein. Im Unterschied zu diesen ›peripheren Teilen‹ gibt es auch ›Zentralteile‹, die nicht abgetrennt werden können, ohne zugleich den Lebensprozess zu beenden. Die Teile erfüllen ihre Funktion in jedem Falle ausschließlich so lange, wie sie in die Totalität eines bestimmten Lebensprozesses eingebunden sind. Individualität ist daher, wie Schultz mit Recht bemerkt, ein Konstituens von Lebensprozessen:
30
31
Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre. Gesamtausgabe Band 11, 2. Hrsg. von Jan Berg u.a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, § 87, S. 203f. Im Interesse an einer mereologischen Begründung der Mengenlehre fordert die klassische extensionale Mereologie, dass mereologische Verhältnisse extensional sein sollen, was sich u. a. in einer Vermeidung von modalen oder epistemischen Operatoren niederschlägt (ein klassisches Werk in der wachsenden Literatur ist: Peter Simons, Parts. A Study in Ontology. Oxford 1987). Diese Forderung hat eine ganze Reihe von Konsequenzen, allen voran, dass zwei Ganze, die aus denselben Teilen bestehen, identisch sind (die Identität hängt also nicht von der Anordnung der Teile ab). Demgegenüber definiert Bolzano z. B. den Begriff der Reihe mit Hilfe des Begriffs eines Bildungsgesetzes. Dann kann es aber unterschiedliche Reihen geben, die aus denselben Teilen bestehen. Konzeptionen einer Mereologie, in der die Identität eines Ganzen (eines Inbegriffs) nicht nur von den darin enthaltenen Teilen, abgesehen von der Art der Zusammensetzung, sondern von der Art der Zusammensetzung abhängt, erlaube ich mir, ›intensionale Mereologien‹ zu nennen. Neben Bolzano vertritt Husserl eine derartige Konzeption. Vgl. Schultz, Die Pflanze (Anm. 26), 1. Abt. § 146, S. 128, wo die Zweckmäßigkeit der Teile im Organismus bestimmt wird »als die Dialektik, wodurch die Totalität sich entschließt, und in Unterschiede trennt, durch deren Beziehungen zu einander und zum Ganzen sich die organische Einheit erhält«.
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Die organischen Körper haben nicht allein die Fähigkeit zu einer Bildung, sondern sie gestalten sich auch zugleich unabhängig von allen fremden Einflüssen durch ihre eigenen inneren Bewegungen, indem sie sich in Gegensätze (Mittel und Zwecke) unterscheiden, welche eine innere Beziehung auf die Totalität haben. Gestaltung aus innerer Macht ist also der allgemeinste Charakter des Organischen. Das Leben gestaltet sich selbst gegen den allgemeinen physikalischen Prozeß, und der Begriff dieser Eigenmächtigkeit und Selbständigkeit ist es vorzüglich, welcher den individuellen Organismus von den Momenten des allgemeinen Naturlebens unterscheidet.32
Der Ausdruck ›individuell‹ wird hier im Sinne von ›unteilbar‹ verwendet, wobei letzteres natürlich nicht die Unmöglichkeit einer Zerstückung33 (z. B. Zerschneidung, Zertrümmerung) überhaupt meint, sondern die Unteilbarkeit hinsichtlich der Zentralteile bei gleichzeitiger Erhaltung des Lebens. Auf dieser Grundlage kann nun der Unterschied zwischen Pflanze und Tier so definiert werden, dass eine Pflanze ausschließlich periphere, ein Tier auch zentrale Teile hat. Ontologisch gesehen, erreicht die Pflanze damit ein geringeres Maß an Individualität als das Tier. Allgemeine Naturprozesse wie Kristallisationen sind hingegen nicht individuiert und daher auch keine Organisationen im Sinne von Lebensprozessen. Mit Bezug auf die Entdeckung34 des Kreislaufs des Saftes in der Chara (einer holzlosen, sehr einfach strukturierten Stengelpflanze, in welcher die Ernährung durch einen Kreislauf an den Wänden eines Hohlraumes ohne Abschottung, also gewissermaßen als ›Minimalkreislauf‹ stattfindet) kann Schultz den Unterschied zwischen Tier und Pflanze nun als einen Unterschied des Grades der Individualisierung definieren: Wo bei den letztern das Herz sein sollte, da ist eine hole mit Luft erfüllte Mitte, gleichsam ein leerer Raum, um den das Pflanzenleben abläuft. Es dreht sich in einem Kreise, und ist darum mit eben so vielem Rechte ein Kreislauf zu nennen, wie bei den Thieren, aber dem Kreise fehlt der Mittelpunkt: das Leben strahlt nicht aus einer inwendigen Sonne, wie im Thier, sondern eilt gleichsam zügellos, in elliptischen Bahnen irrend umher, ohne sich selbst anzugehören. So wächst ein Glied der Pflanze aus dem anderen hervor, aber nirgends im individuellen Leben kann
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Ebenda, 1. Abt. § 147, S. 128. Vgl. auch § 150, S. 130: »Die Organisation ist nur Totalität, in sofern sie unzertheilt (individuell) ist«. Unter einer Zerstückung können wir die Teilung eines Ganzen verstehen derart, dass die Teile der Teile in derselben Weise Teile des Ganzen sind wie die übergeordneten Teile. Eine Zerstückung konstituiert ein transitives Teil-Ganze-Verhältnis. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen III, 2; Band 2,1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Hrsg. von Ursula Panzer. Den Haag, Boston, Lancaster 1984, S. 276. Mit Bezug auf Schultz’ Überlegungen können wir sagen, dass ein Lebewesen hinsichtlich seiner Zentralteile unteilbar (unzusam mengesetzt) ist, während zugleich dessen Körper zerstückt werden kann. Die vitalen Teile eines Organismus sind demnach nur insofern überhaupt Teile, als dieser Organismus als Körper betrachtet wird, nicht aber insofern er als Lebewesen betrachtet wird. Schultz, Die Pflanze (Anm. 26), nennt u. a. folgende Quellen: Bonaventura Corti, Osservazioni sulla Tremella e sulla Circolazione del fluido in una pianta acquajuola dell’ Abate Bonaventura Corti. Lucca 1774; Lodolf Christian Treviranus, Beiträge zur Pflanzenphysiologie. Göttingen 1811; Giovanni Battista Amici, Osservazioni sulla circolazione del Succhio nella Chara. Memoria del Sign. Prof. G. Amici. Modena 1818.
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sich die Pflanze in ihre eigene Totalität versenken, und ihr höchster Zweck ist, ein Sklave der Gattung zu sein.35
Wird die Pflanze durch die geringere Individuation vom Tier unterschieden, so wird ihr mit Hilfe des Begriffs der Totalität andererseits eine Existenz als Individuum gesichert, das selbständiger Teil einer Gattung (ein Ganzes als selbständiges Glied eines übergeordneten Ganzen) ist. Anknüpfend an diese Theorie formuliert Schultz nun weiter eine Kritik an Goethes Metamorphosenlehre, die beinhaltet, dass Goethe dem relativen Maß an Individualität im Leben der Pflanze nicht zureichend Rechnung getragen habe: Göthes Darstellung hat zwar das Ansehen, als ob sie mehr beabsichtigte, eine ununterscheidbare Verschmelzung des individuellen und des geschlechtlichen Pflanzenlebens nachzuweisen, indem sie die For men der Blätter des Blumenstiels als Mittelzustände zwischen den Blättern der Pflanze und des Kelchs, also zwischen den Theilen des individuellen und generellen Lebens, schildert. Diese Vermuthung gewinnt noch mehr dadurch, daß Göthe die Analogie der Knospen und Saamen so sehr heraushebt, anstatt daß ich lieber auf die Differenz dieser individuellen und generellen Bildungen aufmerksam machen möchte. Allein andererseits hat er doch die verschlossene Natur des Saamens, welche von der Blumenbildung aus, gleichsam so von der Peripherie zum Centrum, wie das individuelle Pflanzenleben vom (formellen) Centrum zur Peripherie geht, sehr wohl eingesehen, wenn gleich die Wichtigkeit dieser wesentlichen Differenz nicht recht hervorgehoben. Eben so wird Göthe, wenn er darauf aufmerksam sein will, sich selbst vorwer fen, daß er die Umwandlung des nach unten wachsenden Pflanzentheils, und seine Verwandtschaft mit dem oberirdischen, seiner Betrachtung noch hätte gegenüberstellen können, weil dies ein integrirender Theil der Metamorphose des Individuums ist, wogegen das geschlechtliche Leben mehr egoistisch auftritt.36
So wie die Kritik hier formuliert ist, könnte man meinen, dass sie eher die Darstellung der Metamorphosenlehre, nicht aber deren Kerngedanken trifft. Es zeigt sich aber im weiteren Verlauf, dass der Ausdruck ›Metamorphose‹ nach Schultz ausschließlich auf das individuelle Leben der Pflanze anwendbar ist. Den Begriff einer allgemeinen Metamorphose der Gattung lehnt er ab. Obwohl er es nicht ausdrücklich sagt, folgt doch aus seiner Auffassung, dass die Analogie zwischen der Metamor phose des Individuums und der Gattung in Goethes Lehre ein mereologischer Kategorienfehler ist, der aus einer Verwechslung der individuellen Pflanze als einer selbständigen Totalität (selbstständiger, überlappungsfreier Teil eines übergeordneten Ganzen) mit einem unselbständigen Teil eines selbständigen Ganzen entsteht.37
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Ebenda, 2. Abt. § 61, S. 388. Ebenda, 1. Abt. § 125, S. 287f. Vgl. dazu ebenda, 1. Abt, § 126, S. 290: »Man kann in dieser Verwandlung der Gestalt und der Verrichtungen der äußeren Pflanzentheile, nun aber nicht zugleich eine Metamorphose der ganzen concreten Pflanzennatur suchen: denn diese ist bei aller Umstaltung ihres Aeußern, ewig und unwandelbar, und es wäre traurig, wenn sich in der Pflanze nichts als dieß Verschwinden ihrer äußern Existenz in wechselnden Formen auffinden ließe. […] Diese Gesetzmä ßigkeit des Pflanzenlebens, ruht in seiner innern Trennung, in Ernährungs- und Bildungssystem, und die Abänderungen in den Verhältnissen beider,
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In der unlängst edierten Nachschrift von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Natur (1825/26),38 die von Heinrich Wilhelm Dove angefertigt wurde und deren Bedeutung unter anderem darin zu sehen ist, dass sie Einblick in den Umgestaltungsprozess von der ersten (1817) zur zweiten (1827) Enzyklopädie gewährt, heißt es im zweiten Teil der Organik (Die vegetabilische Natur) mit Bezug auf Schultz’ Werk: »Schultz hat die Physiologie der Pflanzen auf einen höheren Standpunkt gestellt«.39 Wie in den beiden Versionen der Enzyklopädie gibt es hier eine Stellungnahme zu Goethes Metamorphosenlehre und Morphologie, mit der die Anknüpfung an Schultz unmittelbar zusammenhängt. Das grundlegende Problem einer Organik der vegetabilischen Natur ist nach Hegel der ungeklärte Status pflanzlicher Individuen. Jede Pflanze scheint Teile zu haben, die sich als selbständige Individuen betrachten lassen: »Ein Pflanzenindividuum kann angesehen werden als ein Aggregat vieler Individuen«.40 Dieser Gedanke führt Hegels Überlegungen direkt in den Um kreis der Metamorphosenlehre. Wer bedenkt, dass ›Einseitigkeit‹ in der auf Totalitätsvermittlung angelegten Dialektik Hegels eine Position als eine zu überwindende kennzeichnet, wird die versteckte Kritik aus Hegels Lob der Metamorphosenlehre Goethes herauslesen: »Daher [der Begriff] der Metamorphose, und nach dieser Seite hat Goethe einen Gedanken, einen Sinn in die Betrachtung gebracht«.41 Der Sinn, den Goethe in die Betrachtung gebracht habe, ist offensichtlich der, dass es im Pflanzenreich keine absolute Individuation gebe: »Jeder einzige Zweig ist eine ganze Pflanze, er vertritt dann die übrige Pflanze. Der Boden, ein Baum ist eine Menge von Bäumen, jede Knospe ist eine ganze Pflanze«.42
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liegen gesetzmäßig den Modificationen zum Grunde, mit welchen die concrete Pflanze in Erscheinung tritt«. Tatsächlich ist eine Spannung zwischen einer Pflanze als Repräsentant eines Typs und dieser Pflanze als Individuum, dessen Vereinzelung gerade nicht durch die typischen Eigenschaften festgelegt und erklärt wird, grundlegend für Goethes Methode, die in der Metamorphosenlehre nicht vom Begriff der Totalität in absteigender Richtung fortschreitet, sondern von der Anschauung des besonderen Objekts ausgeht. Vgl. Olaf Breidbach, Goethes Metamorphosenlehre. München 2006, S. 166: »Auch in der Pflanze ist so die Entwicklung nicht die Entwicklung von Typen, die sich im Prozess der Ontogenese in einer Folge von Individuationen realisieren. Es entstehen in diesen Individuationen, in einem sich immer neu einstellenden Gleichgewicht zwischen Normalem und Abnormalem, singuläre Formen. Es sind Einzelheiten, Individuen, die sich im Gesamtprozess einer Ausprägung des Naturalen manifestieren. Die Metamorphose der Natur ist nicht nur ein Prozess, der auf der Ebene von Typen nachzuzeichnen ist. Dieser Prozess expliziert die Typik des Naturalen, aber er expliziert sich in Individuen«. Man beachte den auffälligen Unterschied zur Farbenlehre, in der Goethe den Farbenkreis als Totalität bzw. Kontinuum und nicht als Reihe diskreter Glieder auffasst. Idealistisch geprägte Leser Goethes wünschen sich diese Anschauungsweise auf die ganze Natur ausgedehnt, so Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II (1827), § 345. In: Werke, Band 9. Hrsg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, S. 380–394. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Natur, Berlin 1825/26, nachgeschrieben von Wilhelm Dove. Hrsg. von Karol Bal / Gilles Marmasse / Thomas S. Posch / Klaus Vieweg. Hamburg 2007. Ebenda, S. 179. Ebenda, S. 176. Ebenda, S. 177. Ebenda.
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Das ist aber nicht alles, was über das Leben der Pflanze zu sagen ist, und wir werden das Zweideutige im folgenden Lob nicht überhören: »Goethe hat dies sinnig – nicht bloß mit den äußeren Sinnen, sondern sinnig mit der Seele – betrachtet«.43 Eine solche seelenvolle Betrachtung hat zwar aus idealistischer Sicht den Vorzug, nicht in empiristisch-klassifikatorischer Naturbeschreibung stecken zu bleiben. Dass sie es umgekehrt aber auch nicht bis zum Begriff des Pflanzenlebens bringt, wird hier verschwiegen, ist aber jedem Leser, der mit den Ansprüchen Hegel’scher Logik und Naturphilosophie vertraut ist, klar. Betrachten wir die Parallelstelle in der späten Enzyklopädie, so zeigt sich, dass Hegel, indem er den Begriff der Totalität auf die besondere Pflanze im Unterschied vom Entwicklungsprozess der Gattung anwendet, letztlich Schultz’ Kritik an Goethe übernimmt: Daher hat Goethe mit großem Natursinn das Wachstum der Pflanzen als Metamorphose eines und desselben Gebildes bestimmt. […] Das Außersichgehen in mehrere Individuen ist zugleich eine ganze Gestalt, eine organische Totalität, die in ihrer Vollständigkeit Wurzel, Stamm, Äste, Blätter, Blüte, Frucht hat und allerdings auch eine Differenz an ihr setzt, die wir in der Folge entwickeln werden. Das Interesse bei Goethe aber geht darauf, zu zeigen, wie alle diese differenten Pflanzenteile ein einfaches, in sich geschlossen bleibendes Grundleben sind und alle Formen nur äußerliche Umbildungen eines und desselben identischen Grundwesens, nicht nur in der Idee, sondern auch in der Existenz bleiben, – jedes Glied deswegen sehr leicht in das andere übergehen kann; ein geistiger flüchtiger Hauch der Formen, welcher nicht zum qualitativen, gründlichen Unterschiede kommt, sondern nur eine ideelle Metamorphose an dem Materiellen der Pflanze ist.44
Nun ist es an der Zeit, folgenden Befund zu formulieren: Die These, dass Handlungen sich nicht zureichend beschreiben, erklären und bewerten lassen und im Grunde nie zweifelsfrei zuschreibbar sind, wäre nicht so schwerwiegend, wenn feststünde, um wessen Handlungen es geht. Dann wäre die Situation die, dass wir zwar immer darüber streiten könnten, was denn nun genau die Handlung sei, die wir zuschreiben wollen, aber nicht, wem sie zuzuschreiben sei. Wir wüssten zwar also immer noch nicht genau, was Eduard getan hat, aber wir wären uns wenigstens sicher, dass Eduard es getan hat. Unter Goethes naturphilosophischen Voraussetzungen verschärft sich das Problem aber ins Heillose. Überlegen wir noch einmal, wie das Kind zu Tode kam: Ottilie führte die fahrlässige Handlung lediglich aus. Dass es überhaupt ihre Handlung war, steht keineswegs fest, nicht einmal für die unmittelbar Betroffenen. Charlotte meint zum Beispiel, sie habe die Handlung ausgeführt. Eduard, der mehr Grund dazu hätte, kommt wiederum nicht auf diesen Gedanken. Um eine Handlung jemandem zuschreiben zu können, bedarf es jedenfalls eines individuell subsistierenden Handlungszentrums. Ein solches Zentrum ist erforderlich für einen weiteren Freiheitsbegriff, nämlich die Handlungsfreiheit. Nur wenn wir eine Handlungsfreiheit annehmen, können wir Handlungen zuschreiben. Weil nun Goethes Naturanschauung eine Handlungsfreiheit ausschließt, kommt es bei
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Ebenda. Enzyklopädie § 345, Anm. (Anm. 37), S. 385f.
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ihm zur Aporie der Handlungszuschreibung. Aus Goethes Diagnose ist demnach keine allgemeine Kritik der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ethik ableitbar, sie entsteht unter speziellen ontologischen Voraussetzungen, die man nicht akzeptieren muss.
VI. Zeigt sich das Ethische? Gibt es nach allem, was wir bisher darüber wissen, einen Ausweg aus Goethes Aporie? Betrachten wir dazu einmal das Fragment zur Morphologie aus dem Jahre 1807, wo Goethe den Ausgangspunkt dieser Wissenschaft mit den folgenden Worten erklärt: Ruht auf der Überzeugung, daß alles, was sei sich auch andeuten und zeigen müsse. Von den ersten physischen und chemischen Elementen an, bis zur geistigsten Äußerung des Menschen lassen wir diesen Grundsatz gelten.45
Ebenso wie sich der Selbsterhaltungsdrang, nie zu einem absoluten Maximum steigern lässt, lässt sich der Drang, sich zu artikulieren, sein Dasein darzustellen und zu manifestieren, für Goethe nicht zu einem absoluten Minimum verringern. Alles, was ist, zeigt sich und manifestiert sich in Phänomenen, die der Anschauung zugänglich werden können. Besagt die aufgewiesene Aporie der Handlungszuschreibung, dass es nicht möglich ist, Handlungen und ihre ethische Qualität nach Regeln zu determinieren, so besagt nun das Prinzip, dass alles, was ist, sich auch andeuten und zeigen müsse (das Prinzip der maximalen allseitigen Artikulation), dass Handlungssubjekte in ihren Handlungen ihren Charakter nicht vollständig verbergen können. Wir erkennen sie an dem, was sie tun. Um ganz zu durchschauen, was wir als Leser davon haben, ist noch einmal auf Goethes Erzähler zurückzukommen. Wir haben ihn auf einer Ebene als souveränen Erzähler kennen gelernt. Es leidet keinen Zweifel, dass der souveräne Erzähler in der Weise, in der er uns die handelnden Personen vorführt, Lob und Tadel verteilt. Abschließend sei dies an einem signifikanten Beispiel vorgeführt: Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können. Ein solches Opfer schien ihm nöthig zu ihrem allseitigen Glück. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schooße, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild trüge als der abgeschiedene. So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als er auf dem Rückwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der die ganze Nacht im Freien den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen, kein Donnerlaut ein glückliches Gelingen verkünden wollte. Er wußte bereits von dem Unglück und auch er, anstatt das arme Geschöpf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sich’s ganz gestehen
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Goethe, Fragment zur Morphologie. LA I, 10, S. 128.
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zu wollen, als eine Fügung an, wodurch jedes Hinderniß an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre.46
Führen wir uns diese Episode einmal als Tatsachenbericht vor Augen, ohne dass wir uns fragen, was der souveräne Erzähler von Ebene 1, dem wir hier bei der Arbeit zusehen, damit zeigen möchte: Der Liebhaber einer Frau und deren Mann erfahren, dass das Kind dieser Frau und des Mannes verstorben ist. Sie freuen sich über dieses Ereignis, denn das Kind steht einer erwünschten Trennung von Mann und Frau entgegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemanden diese Einstellung nicht als verwerflich vorkommen würde. Nur weil der souveräne Erzähler uns über die Leidenschaften der Protagonisten informiert hat, haben wir als Leser überhaupt die Möglichkeit, uns in diese Einstellungen hinein zu versetzen. Zugleich zeigt uns der Erzähler diese Einstellung in einem gewissen Licht, indem er selbst deutlich zu ihr auf Distanz geht. Der Erzähler bedauert das Kind im Unterschied zu den beiden Männern ausdrücklich als »arme[s] Geschöpf«.47 Der Erzähler tut damit nichts weiter als den selbstverständlichen, sagen wir im Sinne Goethes: naturgemäßen Affekt zu artikulieren. Die Gleichgültigkeit des Majors und Eduards wird damit indirekt als widernatürlicher Affekt einer sich selbst nicht verstehenden, imaginativ in die Irre geleiteten Leidenschaft vorgeführt, und zwar, wie ich betonen möchte, unmissverständlich. Nun ist klar, dass ihre Reaktion nur aus ihren selbstbezüglichen, sagen wir es frei heraus: egoistischen Projekten heraus überhaupt verständlich wird. Deshalb ist es offenkundig so, dass die im Egoismus verabsolutierte Individualität in den Wahlverwandtschaften das eindeutige Zeichen des ethisch Verwerflichen ist. Es ist die kommunikationsfeindliche Existenz absoluter Singles, die in den Wahlverwandtschaften als Grund der Katastrophe aufgezeigt wird. Ganz im Sinne von Goethes Kriterium für ›Wissen, was man tut‹, können wir sagen: Wären sie bloß nicht so, dann müssten sie nicht notwendig so handeln, wie sie handeln (und sich selbst dabei missverstehen). Bevor man eine solche Kritik voreilig als trivial abtut, sollte man die Entstehungszeit der Wahlverwandtschaften und die politische Dimension dieser Kritik mit bedenken, die der findige Leser auf das napoleonische Hegemonialsystem und den absoluten Egoismus seines Herrschers ausdehnen wird.48 Allerdings tritt an der angeführten Stelle noch etwas mehr zutage als eine bloße Kritik des Egoismus. Es gab noch eine weitere Ebene, auf der die Möglichkeit des Erzählens an ihre Grenzen geführt wurde und der souveräne Erzähler mit seinem auktorialen Latein am Ende war. Betrachten wir die
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Die Wahlverwandtschaften II, 14. WA I, 20, S. 368f. Ebenda, II, 14. WA I, 20, S. 368. Man wird eine Ähnlichkeit des von Goethe entworfenen Szenarios mit einer anderen großen Analyse menschlicher Grundbefindlichkeit des Jahres 1809, der Freiheitsschrift Schellings, nicht bestreiten wollen. Zu deren Entstehungszusammenhang und versteckten politischen Bezügen vgl. vom Verfasser: Gibt es Urrechte der Person? Schelling und die Naturrechtsdebatte 1795. In: »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität. Hrsg. von Thomas Buchheim / Friedrich Hermanni. Berlin 2004, S. 101–118.
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Passage noch einmal unter dieser Perspektive. Könnte denn der Erzähler die schlichte Frage beantworten, was seine Personen stattdessen hätten tun sollen? Offensichtlich nicht: Wäre es denn besser, oder überhaupt möglich, gewesen, dass Eduard und Charlotte einfach in ihrer anfänglichen Idylle verblieben wären? Goethes Ethik ist insofern antimoralistisch zu nennen, als es offenbar überhaupt keine Alternative zum Schuldigwerden der Personen gibt. Was in der Erzählung nicht gesagt, auch nicht mehr indirekt durch den souveränen Erzähler gezeigt wird, sondern worauf das Erzählen dieser Geschichte höchstens ein gewisses Licht wirft, ohne es noch darstellen (gestalten) zu können, ist die Erfahrung unauflösbarer und letztlich unverständlich bleibender Lebensprobleme. Die Hoffnung, dass diese sich in der Liebe zu einem anderen Menschen auflösen könnten, erweist sich als eitel: Eine Konzeption von Liebe als nichtegoistischer Selbstverwirklichung in der Beziehung zu einem Anderen bleibt in Goethes Szenario eine Illusion. Die Wahlverwandtschaften üben nicht zuletzt Kritik an diesem fragwürdigen Ideal der Moderne und nähren den Verdacht, dass Freiheit und Schuld zwei Seiten desselben zum Egoismus verurteilten menschlichen Lebens sind.
Die Wahlverwandtschaften – Versuch einer wissenschaftshistorischen Perspektivierung Olaf Breidbach
I. Einleitung Es geht um einen Roman, in dem in einem engen Raum zwei Personen, nachdem sie sich gefunden und gegenüber der Welt, die ihr Zusammensein vorab verhindert hatte, abgesondert und auf sich hin bezogen haben, ihren Bezug zueinander sukzessive verlieren. Der Versuch der beiden, jeweils ein wenig von ihrer vormaligen Außenwelt und Vergangenheit – und damit von ihrer vormaligen Vitalität – in ihren Raum einzuholen, stellt ihr Verhältnis um. Beide Partner verlieben sich in die Person, die der jeweils andere zu sich geholt hat, um etwas von seiner vormaligen Welt bei sich zu haben. Gewissermaßen verlieben sich damit beide in die Vergangenheit des jeweils anderen. Die (Mischungs-) Verhältnisse, in denen sich derart die Affinitäten umstellen und neue Bindungen eingegangen werden, scheinen allerdings unterschiedlich stark zu sein und sind von unterschiedlichem Bindungsverhalten begleitet. Insoweit eröffnet sich hier ein Experiment, in dem unterschiedliche Elemente in einem beschränkten Raum miteinander reagieren und dabei entsprechend ihrer je momentanen Affinitäten zusammenfinden und -bleiben. So sind in den Wahlverwandtschaften in der Tat Reaktionsmöglichkeiten des menschlichen Sozialverhaltens ausformuliert. Mit Blick auf den Titel des Romans, der in seiner Zeit die Ursache von chemischem Bindungsverhalten benannte, erscheinen sie gleich naturwissenschaftlich zu kommentierenden Gesetzmäßigkeiten.1 Es wären dann nicht die ›Tiefen der Seele‹, sondern die Bindungsanlagen des Einzelnen, die diesen in seinen sozialen Zuordnungen bestimmen. Nicht Planung und auch nicht Verantwortung, sondern die in den momentanen Konstellationen geäußerten Affinitäten konsolidieren die Paarungen der Personen. Das, was sich im Roman aufzeigt, ist demnach zumindest vordergründig eine Art von Sozialmechanik, deren Kombinatorik das menschliche Gefühlsleben bestimmt und die Leidenschaft als eine die Rationalität überlagernde Reaktionsnotwendigkeit ausweist. Die Liebe, die hier als Leidenschaft gezeichnet wird, wäre nur Resultat einer Zuordnungsmechanik. Die Liebe, die hier thematisch wird, wäre dann aber
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Horst Remane, Chemie um 1800. In: Olaf Breidbach / Dietrich von Engelhardt (Hrsg.), Hegel und die Lebenswissenschaften. Berlin 2002, S. 27–42.
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auch nicht über die Vernunft bestimmt, sie bliebe gleichsam vor ihr, reduzierte sich auf eine bloße, an sich unkontrollierte und unkontrollierbare Naturkraft. Sie steht in dieser rein aus sich bestimmten Reaktibilität gegen das, was das einzelne Reagens in diesem Reaktionsraum für sich plante, und erweist dieses so als aus dem Sozialgefüge erwachsen. So formiert sich die Summe der ihrer Personalitäten entkleideten, in einen Reaktionsautomatismus eingebundenen und einer nur von außen zu regulierenden Sozialmechanik unterworfenen Individuen: Gib einem verhaltenen Mann, der seiner Vergangenheit nachtrauert, ein unbeschriebenes, schwaches, junges Wesen anderen Geschlechts, so findet er sich in seinen Sehnsüchten in diesem ihm ausgelieferten Wesen selbst wieder; wie auch die schwache, aus dem Gefüge ihrer Altersgenossen entlassene junge Frau in diesem sich auf sie beziehenden Alten die Welt entdeckt, die sie für sich selbst nicht zu finden vermag. Da sie in diesem Anderen ihre Welt findet, ist das gegen diese stehende ganz Andere für sie nicht mehr vorhanden: die Ehefrau des Geliebten, die Konventionen, das Recht, kurz die Ordnung des Sozialgefüges, in dem sie ihren Reaktionspartner ursprünglich antraf. Die ihr noch offene kleine Welt der Affinitäten schnurrt auf das zusammen, was da an neuen Verbindungen entstehen will. Die neu Verbundenen scheinen die alten Lösungen nicht mehr zu kennen.
II. Die Grundidee Aufmerksamen Lesern wird bald klar, was den in sich versponnenen Protagonisten dieses Textes nicht einsehbar sein konnte: Dass sie selbst, auf sich verwiesen, nur mehr in ihrem Lebensplan, aber nicht mehr in der wechselseitigen Liebe, die dieser Plan begründen sollte, existierten. Charlotte und Eduard werden als ein Paar von Individuen gezeichnet, die das Ich des Anderen schon längst verloren haben. Dass ein neues Leben, das in dieses sterilisierte Verhältnis findet, auch neue Lebendigkeiten zur Folge haben muss, ist einsichtig. Es erscheint geradezu notwendig. So werden dann im Roman Modelle formuliert, in denen das, was hier sozial notwendig erscheint, als naturnotwendig beschrieben werden kann. Damit gewinnt dieser Roman einen naturwissenschaftlichen ›Anstrich‹. Es scheint hier etwas analysierbar zu sein, in den Vokabeln einer Wissenschaft fassbar zu werden, was zeitgleich in den Stücken der Jenaer Moderne um 1800 nur privat und als Resultat rein individueller Bestimmtheiten nachzuzeichnen war.2 So wirkt dieser Text Goethes schon in seinem Titel provokativ, da er den neuen Typ eines l’homme machine sociale aufzuzeigen scheint, dessen Bindungsverhalten steuerbar wäre, dessen Lebensentwurf durch einfache mechanische Rekonfigurierungen, durch das Einfügen neuer Komponenten in den ihm verfügbaren sozialen Raum verändert werden könnte. Die scheinbar so feste Grundkomponente des menschlichen Sozialge-
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Manfred Frank, Eine Einführung in die frühromantische Ästhetik: Vorlesungen. Frankfurt am Main 1989.
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füges europäischer Prägung, die Ehe, ja selbst die in ihr bestimmten Rollen von Vater oder Mutter, erweisen sich hier als brüchig. Sie sind eingebunden in und steuerbar aus einem Beziehungsraum, der um so augenfälliger wird, als Goethe seinen Roman gleichsam auf eine Bühne setzt, einen Raum ausgrenzt und bemisst, in dem er jeden Schritt seiner Akteure beschreiben und gegebenenfalls auch kalkulieren lassen kann. Es liegt denn auch nahe, die Wahlverwandtschaften nach der Selbstanzeige Goethes zu lesen. Dann erscheint es plausibel, dass sich seine Darstellung nicht einfach nur bestimmter Formen des neuen naturwissenschaftlichen Denkens bedient, sondern dass hier in Form eines Romans so etwas wie das Protokoll3 eines imaginären sozialen Experiments vorliegt. Ist dabei nun aber die Naturwissenschaft nur ein Passepartout, in dem der Versuch einer synthetischen Anthropologie – im Sinne einer Darstellung der Möglichkeit des Humanen aus der Kombinatorik der humanen Elemente – dargelegt ist? Wäre die Naturforschung derart nur das Denkmuster eines Gefüges, in dem die Möglichkeiten der Natur auch des Humanen ausformuliert wären, so bliebe in Konsequenz der Goethe’schen Metamorphosenlehre nunmehr die Rollencharakteristik des Menschen in Form einer Serienanalyse, in den Abstufungen des dem Menschen Möglichen aufgewiesen.4 Dabei wäre, wie in einer vergleichenden Botanik, die Serie der Formen in einer Darstellung der Verhältnisse des Einzelnen zu allen Anderen zu beschreiben. Nur wäre hier das Verhältnis nicht durch den Beobachter gesetzt und etwa in der Pflanzung im Garten überprüft, so dass nunmehr in dem Nebeneinander der Formen die Vielfalt der Zuordnungen ihrer Gestalten augenfällig wäre.5 Sondern hier wäre im Sinne einer Selbstsetzung der möglichen Relationen die Bestimmtheit des Humanen in Form eines Experiments beschrieben, in dem die Vielfalt der Zuordnungen allein durch Zusatz der Reaktionsmittel zu disponieren wäre. Diese Interpretation der Wahlverwandtschaften ist mitnichten originell. Hier kann nur die Konsequenz dieser Deutung erläutert, die Exposition des Experiments verfolgt und die Konsequenz einer solchen ›vernaturwissenschaftlichenden‹ Sicht auf das Humane vor dem Hintergrund einer Theorie, die in der Natursicht das Mitempfinden herausstellt, benannt werden.6 Natürlich ist diese Sicht eines Wissenschaftshistorikers philologisch naiv und in ihrem vereinfachenden Zugang zugleich auch ein Ausdruck der Ignoranz gegenüber dem langjährigen Ringen der Fachwissenschaft Germanistik um diesen Text.
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Vgl. auch den Beitrag von Stefan Blechschmidt in diesem Band. Olaf Breidbach, Goethes Metamorphosenlehre. München 2006; vgl. Ernst Osterkamp, Einsamkeit. Goethe, die Kunst und die Wissenschaft im Jahrzehnt nach Schillers Tod. Eine werkbiographische Skizze. In: Lothar Ehrlich / Georg Schmidt (Hrsg.), Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 101–117. Vgl. Igor J. Polianski, Die Kunst, die Natur vorzustellen. Die Ästhetisierung der Pflanzenkunde um 1800 und Goethes Gründung des botanischen Gartens zu Jena im Spannungsfeld kunsttheoretischer und botanischer Diskussionen der Zeit. Köln 2004. Klaus Manger / Ute Pott (Hrsg.), Rituale der Freundschaft. Heidelberg 2007.
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III. Bindungsverhalten Peter von Matt hat aufgewiesen, wie Goethe, »auf dem Höhepunkt der aufgeklärten Staatsverbesserung in Deutschland« – »zeitgleich mit den Reformen des Freiherrn vom Stein« – »die Aporien der aufgeklärten Weltverbesserung«7 darstellte. Ihm zufolge erscheint das literarisch dokumentierte Experiment als eine direkte Kritik an den Tendenzen einer Rationalisierung des menschlichen Sozialverhaltens, das in dieser Zeit im Kontext der wissenschaftlichen Anthropologie denn auch zu einer rein mechanischen Fassung der menschlichen Wahrnehmung führte. Andererseits bringt es die Skepsis gegen eine im Emotionalen gründende Analyse der Möglichkeiten des Humanen zum Ausdruck, wie sie im Kontext der Jenaer Romantiker diskutiert und literarisiert wurde.8 Dabei operiert Goethe schon in der Anlage seines Romans gegen beide Alternativen. Er legt ein Experiment vor, das die gängigen Schemata eines Liebesromans oder die Darstellung der Grenzen einer ständisch getragenen Welt, in der nunmehr um 1800 die Rollen nicht mehr so ganz gewiss verteilt sind, einerseits ad absurdum führt. Andererseits aber nutzt Goethe gerade diese Rollenvorgaben, um das Experiment anzulegen.9 Dessen Durchführung, die so ganz und gar nicht die Rollenerwartungen der Rationalisten oder der Emotivisten erfüllt, spart nicht mit Kritik. Die Eigenkommentierungen der Protagonisten in diesem Roman, die die Experimentalanlage, in die sie gesetzt sind, als solche beschreiben – und damit aus der Rolle von Versuchsobjekten heraustreten und selbst zu Beobachtern des mit ihnen Erprobten werden –, zeigen, dass Goethe nicht einfach nur ein Experiment nachvollzieht. Die Schemata, die zur Grundlage des Experiments genommen werden, passen nur auf den ersten Blick. Auf diese Weise sind – wie Goethe ironisierend einschiebt – die Reaktionen in einem chemischen Experiment am besten zu katalysieren. Durch den Katalysator wird der Start der Reaktion vereinfacht. Der Katalysator senkt das Maß an Energie, die aufzuwenden ist, um eine neue Verbindung zwischen zwei Stoffen zu initiieren. Dabei wirkt er nicht beliebig. Der Katalysator begünstigt nur prinzipiell mögliche Reaktionen. Goethe führt im Personengefüge seines Reaktionsraums solch einen Katalysator ein, der nun allerdings – und das konterkariert zugleich die Anlage des Stückes – zu der Aufgabe, die er faktisch einnimmt, gegenläufig funktioniert. Der Mittler, der hier als Katalysator eingeführt wird, spielt gleichsam gegen die Rolle, die er von seiner Einführung her einzunehmen hätte. Als Moralapostel
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Peter von Matt, Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten. Der Absolutismus der Liebe in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Heinrich Meier / Gerhard Neumann (Hrsg.), Über die Liebe. Ein Symposium. München, Zürich 2001, S. 263–304, hier S. 268. Stefano Poggi, Il genio e l’unità della natura. La scienza della Germania romantica (1790–1830). Bologna 2000. Vgl. Barbara Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800. München 1989; Michaela Krug, Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Topographien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800. Würzburg 2004.
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und Schlichter hätte er den Aufbau neuer außerehelicher Beziehungen nicht zu erleichtern, sondern sozial verankerte Verbindungen weiter zu festigen. Dieser Mittler ist eine von ihrer Intention her konservative Kraft. Er verkörpert in seiner Ausrichtung die Moralität der Gesellschaft, für die er sich einsetzt. Dieser Mittler soll, seiner selbst gestellten Aufgabe zufolge, als ausgleichendes Element wirken, gesellschaftlich sanktionierte Bindungen wenn nicht knüpfen, so doch verstärken, Scheidungen und damit den Bruch der sozial eingerichteten Bindungsverhältnisse tunlichst verhindern. In diesem Roman allerdings scheitert er. Nicht nur, dass er die realen Probleme flieht. In seinem Bemühen zu vermitteln, bewirkt er bei Gesprächspartnern letztlich nur das Gegenteil. Seine Auftritte wirken gegen seine Intention und damit, im Sinne der Anlage des Experiments, katalytisch. Die katalytische Kraft scheint schließlich darin zu bestehen, dass Körper durch ihre bloße Gegenwart die schlummernden Verwandtschaften zu erwecken vermögen. Die Person Mittler funktioniert im Sinne eines Bajazzos, der in seinen Querschüssen einerseits erheitern, andererseits aber durch seine Auftritte die langsam voranschreitende Handlung akzelerieren, eine Problemsituation auf den Punkt bringen kann: Dabei wird er die Probleme verschärfen, selbst da, wo eine Entspannung möglich wäre. Insofern ist er in der Tat ein Mittler, allerdings nicht zwischen den Personen im Stück, sondern im Hinblick auf das Lesepublikum: Diesem verdeutlicht er die sozialen Spannungslagen und Rollenkonflikte. Derart doppelbödig geführt erscheint das vollzogene Experiment nicht einfach als eine Abfolge von natürlichen Notwendigkeiten.
IV. Räume Der Reaktionsraum der Wahlverwandtschaften, das Schloss mit Park, kennt nur im Falle der Eremitage von Eduard eine Außenszene, die sich dann aber auch wieder nur auf einen einfachen Innenraum beschränkt.10 An sich gibt es für diesen Reaktionsraum Park nur Ausgänge und Eingänge, und nicht etwa ein real gezeichnetes Umfeld. Es ist in der Tat eine Bühne, auf der hier ein Roman verhandelt wird. Diese Bühne hat Auf- und Abgänge, kennt so etwas wie einen Schirm, in dem eine Außenszene nach innen geholt wird; doch ist Welt nur das, was sich in den Koordinaten dieser Park-Bühne beschreiben lässt. Was aus dem Reaktionsraum heraustritt, wird schemenhaft. Wenn auch die Bühne eng umrissen und die möglichen Reaktionen in diesem Gefüge komplett einsehbar sind, so folgt doch daraus nicht, dass die Rollen und damit die Funktionsabläufe in festgelegten Bahnen verlaufen würden: Goethe zeigt in diesem engen Raum, der alle Konfigurationen der in ihm Han10
Vgl. Stefan Blechschmidt, Der Schauplatz von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kartographischer Zugang und modellhafte Vergegenwärtigung. In: Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß (Hrsg.), »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 28–35.
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delnden offenkundig werden lässt, dass selbst hier vorgegebene Rollen nicht funktionieren. Eduard hat nach langer Fahrt durch das soziale Gefüge endlich die Ehe mit der Person gefunden, die er immer im Herzen trug. Er zieht sich aus seinem alten Umfeld zurück, um nunmehr in diesem Glück und allein für dieses Glück zu leben. Im Beginn seines Romans zeigt uns Goethe aber einen, der in seinem Lebensplan gleichsam für sich kaltgestellt ist, der nun, nachdem er Charlotte endlich als Ehefrau gewonnen hat, zu dieser und damit zu seiner Liebe in Distanz verbleibt. Eduard wird eingeführt als der, der »in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht«11 hatte. Im Experiment der neuen Zuordnungsreaktionen verliert dieser kühl distanzierte Gatte seinen Kopf, sieht in der Folge die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens, ohne dieses auch nur korrigieren zu wollen. Er steht zu seinem umgeschichteten emotionalen Innenleben und sucht nun eben nicht, dieses mit seiner Ratio und gemäß den ihm einsichtigen gesellschaftlichen Leitvorstellungen ins Reine zu bringen.12 Er sucht auch nicht seine Ehre zu wahren, sondern sich selbst vor der inneren Zerrissenheit zu sichern, indem er in den Krieg zieht und dem Tod entgegen geht. Diese fast tragische, aber doch in ihrer Beiläufigkeit eher groteske Attitüde eines sich selbst überhebenden adeligen Feinsinns wird im Zweiten Teil des Romans über den Haufen geworfen: Der an sich verzweifelnde Eduard, der, seinem Ehrenkodex folgend, in den Krieg zog, um ehrenvoll aus dem Leben zu scheiden, kommt hochdekoriert und völlig unverletzt aus dem Kampfgeschehen in den Experimentalraum, in sein ›Zuhause‹, zurück.
V. Zuordnungen Insoweit wäre hier eine Kritik ausformuliert, die sich quer zu den Erwartungen des Lebens stellt. Goethe distanziert sich von übersteigerten Erwartungen an die neu gefundene Freiheit einer sich emotional orientierenden Existenz. Zugleich nimmt er dabei aber auch kritisch zu dem Versuch einer umfassenden Rationalisierung Stellung, der die Vermessung des Humanen zum Programm macht, wie sie in der Tat nahezu zeitgleich im Kontext einer wissenschaftlichen Anthropologie mehr und mehr hoffähig wurde.13 Demnach wäre diese Geschichte gerade in ihrem tragi-komischen Ausgang eine Kritik an dem Versuch, das Humane derart im Experiment zu fassen. Nur ist der materialiter tragische Ausgang, in dem das eine Reaktionspaar sein Leben lässt und das andere getrennt und für sich vereinzelt ist, an sich nun aber auch wiederum keineswegs bloß tragisch. Die naive Kokotte, die Schwache, die Eduard anbetet, wird zur Heiligen; der geläuterte Krieger Eduard findet doch noch seinen
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Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 1. WA I, 20, S. 1. Vgl. Joseph Vogl, Nomos der Ökonomie. Steuerungen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: MLN 114, Number 3, April 1999 (German Issue), S. 503–527. Katja Regenspurger / Temilo van Zantwijk (Hrsg.), Wissenschaftliche Anthropologie um 1800? Stuttgart 2005.
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Tod und vereint sich in ihm mit seiner heiligen Ottilie. Und Charlotte, die bedächtige Ehefrau, lässt sich von Edurad zu einem Eheversprechen mit dem Major/Hauptmann drängen und versiegelt nach dem Tod ihres Mannes dessen Grab, dessen Ideal und dessen Liebe mit einer kirchlichen Stiftung: Dies wäre sentimental zu lesen; man kann es aber – in der sachlichen Diktion der wenigen gegen Ende noch Charlotte gewidmeten Zeilen dieses Romans – auch als ein nüchternes Resümee, als einen Einstieg in ein neues Leben lesen, in dem nun Charlotte noch einmal und nunmehr für sich anzusetzen vermöchte. Das Experiment bleibt insoweit – was sein Ende betrifft – insoweit offen. Es ist nicht die gelungene Synthese des humanen Gefühls und Soziallebens, die hier vorgeführt wird. Der Ansatz ist vielmehr doppelbödig. Das Experiment ist zwar in seinen Reagenzien, Eduard, Charlotte, Hauptmann und Ottilie, mit Katalysatoren wie Mittler oder dem jungen Architekten, klar benannt, in seiner möglichen Kombinatorik damit auch eingegrenzt. Im Gegensatz aber zu den Kombinationen einer chemischen Reaktion bleiben die nun folgenden Reaktionsabläufe unkontrolliert, die Katalysatoren, gelinde gesagt, unzuverlässig. Was zu stimmen scheint, ist die Kontrolle der Randbedingungen, das Einzirkeln eines Reaktionsraumes, der von Einzelnen hin und wieder verlassen wird, ohne dass diese nach ihrem Wiedereintritt in den bestimmten Raum mehr als sich selbst wieder mit einbringen. Es bleibt in all dieser Bestimmtheit dabei aber etwas Unbestimmtes. Dieses Unbestimmte ist auch in der Anlage des Romans selbst zu bestimmen. Goethe schrieb diesen Roman mit einem offenen Ende, er gab die ersten Bögen in den Druck, ehe noch sein Manuskript abgeschlossen war. Somit korrespondiert der Akt des Schreibens der Darstellung, die Goethe im Text dem Leser unterbreitet. Thema des Romans ist also nicht einfach die magische Anziehungskraft mit ihren Anlagen, Spannungen und Wirkungen. Das Thema der Wahlverwandtschaften sind die Notwendigkeiten, in denen sich Affinitäten konstituieren. Diesen Notwendigkeiten ordnet sich die Besetzung der Rollen unter, welche sich allerdings immer wieder in einer die Lesererwartungen durchkreuzenden Weise entwickeln. So zeigt sich, dass die Notwendigkeiten einer humanen Sozialreaktion auch in einem umgrenzten Reaktionsraum offen bleiben. Es gibt in deren Anziehungsprozessen immer wieder Neues zu entdecken. Retrospektiv ist solch Neues auch im chemischen Sinne zu formulieren, das heißt in seinen nun realisierten Bedingungen zu bestimmen. Prospektiv gelingt dieses aber nicht, und so bleibt der Roman in seinen Handlungsführungen unbestimmt, im Mit- und Gegeneinander bis zu seinem Ende hin und auch darüber hinaus offen. Goethe schreibt eine eigene Erfahrungsseelenkunde, die – anders als bei Karl Philipp Moritz14 – nicht analytisch, beschreibend, sondern synthetisch kombinierend vorgenommen wird.15 Es geht Goethe in diesen Synthesen um 14
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Vgl. Georg Eckardt / Matthias John / Temilo van Zantwijk / Paul Ziche, Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft. Köln, Weimar, Wien 2001. Der Aufsatz beschränkt sich auf die Perspektivierung des Synthetikers Goethe.
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das, was seine Personen als Menschen, als Bürger, als Erlebende, als Liebende machen oder zumindest machen können. Es geht um die, die in den Rollenspielen ihrer Gesellschaft, als Personen immer neu gesetzt, in den verschiedenen Kombinationen auf das ihnen Eigene gestellt werden. Goethe beschreibt eine Welt, die in Unordnung geraten ist und in dieser Unordnung so etwas wie die Personen in ihren diversen Formationen darstellt. Dabei erwirkt er eine Konfrontation des Lesers mit sich selbst und zeigt in der inneren Ordnung seines Romans die sehr viel größere Unordnung dieser Welt auf, die in ihrer Unbestimmtheit das Chaos festschreibt. Dennoch endet der Roman offen. Kein Gott und kein Prinzip findet sich, das die Unordnung richten und damit die Leser in eine ihnen gefällige Ordnung setzen würde. So bleibt ein zerrissenes Gefüge von immer Anderem. Das, was hier geschieht, ist nichts als die Kombinatorik, es ist ein Spiel mit den Komponenten, die nach ihren Regeln zu begreifen sind. Es ist die Vielfalt von Perspektiven, die zum Selbstzweck werden. Das Vielfältige bleibt im Einzelnen für sich; es ist sitautiv bestimmt, nicht aufeinander abgestimmt, sondern gegeneinander gesetzt. Das ist hart, und entsprechend hart geht Goethe denn auch mit seinen Figuren um, die sich im Labyrinth von Zuordnungen und Gefühlen zu orientieren haben, um ihm, dem Experimentator, wie den Lesern im Protokoll des Experiments zu zeigen, was ihnen als Reaktion zu eigen ist. So werden Freiheit und Zwang, Vernunft und Phantasie zusammengedacht. Das Ganze, das solcherart aufscheint, mag erschrecken. Aber schließlich ist die naturwissenschaftliche Sicht auf diesen Text auch nur eine Ebene, die nicht absolut zu nehmen ist, die aber in sich, wie es scheint, konsequent vollzogen ist, und von der her der Text dann auch eindeutig und in der Finesse seiner Diktion bis in die minutiöse Figuration hinein zu verstehen ist. Die Sicht, die ich im weiteren vorstelle, offeriert einen Aspekt, einen Aspekt allerdings, der nicht ein Fragment darstellt, sondern der zeigt, wie nach ihm das Ganze strukturiert und der Stil der literarischen Exposition bestimmt ist. Charakteristisch für diesen Roman ist, dass sich eine Reihe von Perspektiven derart geschlossen übereinander legt, in ihren Intentionen und Lösungen verwebt und so über das hinausweist, was in einer Einzelperspektive stringent erscheint. Jede Perspektive ist für sich bestimmt, aber in jeweils anderer Weise in ihren Details verzahnt, ohne damit die anderen Ordnungsmuster zu perfundieren. Die moderne Physik kennt diese Art, die Entitäten in mehreren Zuordnungsgefügen zu fangen. Sie spricht von Singularitäten, Einzelereignissen in einer Welt, die in einer Gesetzmäßigkeit stehen, in der sie notwendig zu erfassen sind, wobei solche Notwendigkeiten aber mehrere sind, je nachdem aus welcher Ebene der Betrachtung das je Einzelne in den Blick genommen wird. Da sich dabei mehrere Ebenen überlagern und nur in je einem Punkt verzahnen, bleiben die verschiedenen Wirkgefüge distinkt nebeneinander, vernetzen sich nur in dem, was sie in den verschiedenen Verknüpfungen vorschreiben. Vielleicht gibt dies auch ein Modell, mit dem Goethes Text in den Blick zu nehmen ist, wie er in der Selbstanzeige offeriert ist: als eine chemische Darstellung des Humanen, die im Reagens einer abgeschlossenen Welt Binnenwirkungen und klar dosierte Außenbezüge kenntlich zu machen vermag.
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VI. Anziehungskraft »Du lieber Magnet«, schreibt Goethe schon lange vor den Wahlverwandtschaften, Ende November 1782, an Charlotte von Stein.16 Hier ist die magische Anziehungskraft, die Goethe über Jahre von Weimar nach Rudolstadt zog, benannt. Dieser entzog er sich mit seiner Italienischen Reise. Der Effekt war nachhaltige Entfremdung. So erinnert denn auch Eduard, wenn er über seine Mutter spricht: »… ich entfernte mich von ihr, und nun schien ich ihr kaum anzugehören«.17 Nicht, dass hier ein biographischer Bezug aufzuweisen wäre, der die Wahlverwandtschaften als biographischen Schlüsselroman deuten ließe. Es geht hier um die Sprache, in der Goethe selbst seine eigenen Beziehungen beschrieb. Es ist deutlich, dass er nicht erst in den Wahlverwandtschaften die Natur nutzt, um seine eigene zu beschreiben. Wie ist diese Nutzung des Naturalen zur Darstellung des Sozialen zu verstehen? Sind es einfach nur Bilder, die Goethe gebraucht, oder steht hinter dem Verweis auf Anziehungskraft und Wahlverwandtschaft mehr? Es ist klar, dass Goethe nun nicht einfach eine Physiologie des Seelenlebens mit den Mitteln der Naturforschung seiner Zeit zu umschreiben sucht. Es ist aber zu fragen, ob die Naturkräfte, die er mit Magnetismus und chemischer Bindung, mit Polarität und Affinität bezeichnet, nur ein einfaches Bild darstellen oder ob für den Autor der Metamorphosenlehre hier mehr aufzuweisen ist. Im Sinne der Schellingschen Potenzierungslehre wären die einfachen Gesetze der Natur in den höheren Ebenen ja nicht einfach aufgehoben, sondern in die höhere Ebene potenziert, d.h. um eine jeweils zusätzliche Dimension erweitert.18 Damit können die Reaktionen der höchsten Ebene in ihrer Grundstruktur auf die einfacheren Ebenen bezogen werden. Die Natur, die sich in der Komplexität ihrer Selbstexplikation diversifiziert, bleibt so auch in den höheren Ebenen ihrer strukturellen Diversifizierung doch dem in den einfachen Ebenen aufzuweisenden Grundgefüge verbunden. Dabei ist diese Natur nicht ein bloß ein statisches Gefüge, sondern ein Prozess kontinuierlicher Selbstentfaltung, in dem sie sich in den verschiedenen in ihr expliziten Prozessen selbst darstellt. Auch der Mensch ist Teil dieses Gefüges, in dem nicht etwas kategorial Neues, sondern das, was in der Natur angelegt ist, entsteht. Dies ist die kontinuierliche Metamorphose der Natur. Diese Selbstexplikation der Natur vollzieht sich in Individuationen, die in sich bestimmt erscheinen, aber doch in einem Funktionsraum erwachsen. So ist für Goethe die Metamorphose nicht nur eine der Arten. Vielmehr ist die gesamte Entwicklung der Natur derart als Metamorphose zu denken.19 Das Einzelne ist dabei ein Moment der komplexen Entfaltung des Naturalen, das in seinen Individuationen variiert, dies aber nur insoweit kann, als es im Rahmen vorgegebener
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Goethe an Charlotte von Stein, November 1782. WA IV, 6, S. 101. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 2. WA I, 20, S. 19. Olaf Breidbach, Prozessualität als systematische Kategorie in der Naturphilosophie Schellings. In: Arturo Leyte Coello (Hrsg.), Una mirada a la filosofìa de Schelling. Vigo 1999, S. 147–160. Dorothea Kuhn, Typus und Metamorphose. Goethe-Studien. Marbach am Neckar 1988.
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Konstellationen einzelne Reaktionen ausformt und dann, aufbauend auf diesen, seine spezifische Existenz weiter differenziert. Verstanden werden kann die Einzelheit somit nicht einfach in ihrer singulären Präsentation, sondern nur als Moment der sich in ihr explizierenden und dabei jeweils in einem Ausschnitt der Möglichkeiten präsentierenden Natur.20 Um also zu verstehen, was hier im Einzelnen der Fall ist, ist dieses Einzelne in den Gesamtzusammenhang der Naturentwicklung zu stellen, in dem es seinen Platz als Einzelnes hat, und in dem nun umgekehrt von den Markierungen des Einzelnen auf das Ganze der in diesem nur aspekthaft präsentierten Möglichkeiten geschlossen wird. Variationen in den Randbedingungen einer sich derart explizierenden Naturgestaltung werden es erlauben, die Möglichkeiten solcher Vereinzelungen aufzuweisen und von dorther die Dynamik des Naturalen eingehender zu erfassen. Wird ausgelotet, was an dem Einzelnen in einer bestimmten Ebene der Fall sein kann, so ist die Struktur begriffen, in dem sich dieses Einzelne realisiert. Die Gestalt der Natur ist so in ihrer Metamorphose dargestellt. Goethe sieht denn auch die Natur insgesamt als den Prozess, in dem sie sich selbst entfaltet.21 Dabei ist diese Ausformung eine Evolution der Epigenesen.22 Die Ausprägung der Formen selbst geschieht nach einem Mechanismus, der unstrukturierte Materie in ihre organische Form bringt. Der Formierungsprozess des Organismus ist nichts anderes als eine Bündelung solcher Differenzierungsleistungen. Die entstehende Formenvielfalt, die der Systematiker studiert, ist nichts als das Resultat solch eines Differenzierungsprozesses, der unter den verschiedenen äußeren und inneren Bedingungen, in denen der sich ausbildende Organismus befangen ist, die Möglichkeiten der Assimilation variiert und damit innerhalb eines festen Rahmenprogramms variierende Strukturen ausbildet. Das, was in dieser Entfaltung zu betrachten ist, ist dann nicht einfach das Telos jeder Naturentwicklung. Dieses Resultat selbst ist nichts als die Phase in einem Prozess, in den sich diese Entfaltung selbst einbindet. Diese Metamorphose schreibt Goethe in seinen Wahlverwandtschaften ins Soziale fort. Nicht die Chemie und auch nicht der Magnetismus sind in dieser Darstellung thematisch, sondern die Natur des Sozialen, wie sie sich
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Annette Diekmann, Klassifi kation – System – »scala naturae«. Das Ordnen der Objekte in Naturwissenschaft und Pharmazie zwischen 1700 und 1850. Stuttgart 1992; Arthur J. Cain, Linnaeus’ natural and artificial arrangements of plants. In: Botanical Journal of the Linnean Society 117 (1995), S. 73–133; Andreas Grote (Hrsg.), Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450–1800. Opladen 1994. Vgl. Stefano Zecchi, Il tempo e la metamorfosi. In: Stefano Zecchi (Hrsg.), J. W. Goethe. La metamorfosi delle piante e altri scritti sulla scienza della natura. Parma 21989, S. 7–26. In dem in den Nachträgen zu den naturwissenschaftlichen Schriften abgedruckten Entwurf seiner Metamorphosenlehre schreibt Goethe: Paralipomena. WA II, 13, S. 123: »Mein Hauptbeweiß muß darauf hinaus gehen daß bey den Pflanzen es immer dieselben Theile sind die nur wachsend und fortschreitend sich immer verändern indem sie jedoch in einem Continuo bleiben«. Gegen diese Auffassung der Evolution richtet später dann Hegel seine Kritik, vgl.: Olaf Breidbach, Hegels Evolutionskritik. In: Hegel-Studien 22 (1987), S. 165–172.
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im Chemismus und im Magnetismus in den sie konstituierenden basalen Formationsbedingungen zu erkennen gibt. Der Mensch als Teil dieser Natur ist in seinem Verhalten immer in den Bestimmungen des ihm natürlich Möglichen erfassbar. Es ist zu zeigen, wie die Variation der Parameter, die für die hier darzustellenden Reaktionen wichtig sind, zu einer Umschichtung in den sozialen Verhaltensäußerungen führen. Dabei ist das Experiment nicht Selbstzweck, es ist nicht ein einfacher Bindungsnaturalismus, den Goethe hier – gleichsam in Vorwegnahme einer neuronalen Soziallehre modernen Zuschnitts – aufzeigt. Das Kunstwerk vollzieht das Ausloten einer Bestimmung des Humanen in dieser Natur. Es ist ein Versuch, das Gefühlsleben nicht einfach als Physiologie, sondern als eine nach den Grundreaktionsanlagen der Natur geformtes Reaktionsgefüge darzustellen, in dem der materiell explizierte Mensch, eine eben auch physiologisch, chemisch und anatomisch darzustellende Entität mit sich als einem Gefühls- und Seelenwesen umgeht. Insoweit bleibt das Experiment des Sozialen auch nicht ohne Sympathie. Es ist keine einfache Formel aufzuweisen. Darzustellen ist vielmehr ein Gefüge von Kalkül, Dispositionen, Affinitäten und Rücksichtnahmen, in dem das Einfache, die bloße Bindungsreaktion, sich eben nicht als Chemismus, sondern als ein wie ein chemischer Prozess darzustellendes, gleichwohl soziales Reaktionsgefüge ausweist. Dem Kalkül des Naturalen stehen das Kalkül und die Hoffnung des Individuums nicht einfach gegenüber. Nicht in der Ausgrenzung, sondern in der Akzeptanz des Naturalen zeigt sich die Ebene des Sittlichen, die so nicht gegen die Natur gesetzt, sondern als Moment dieser Natur begriffen und als solches Moment auch ausgewiesen ist. Es sind nicht vorgegebene feste Relationen, wie sie für die Pflanzengestalten etwa Carl von Linné zu identifizieren suchte, in denen sich der Ordnungszusammenhang dieser Natur manifestiert.23 Das Beziehungsnetzwerk, in dem sich die Formverwandtschaften stabilisieren, bleibt demgegenüber ein offenes System, das sich in seiner Metamorphose nur temporär konstituiert. Wird dieser Prozess begriffen, so ist – nach Goethe – ein definitiver Zugang zur sozialen Ordnung der Natur und demnach eine Einsicht in deren Gestaltung auch auf dieser Ebene gefunden. Und so ist denn auch im Leben der Naturformen in den Wahlverwandtschaften eine Metamorphose zu studieren, die verdeutlicht, dass das, was sich hier Sozialgefüge oder Selbstbestimmung nennen könnte, selbst Natur ist. Wenn Jeremy Adler an den Wahlverwandtschaften aufweisen kann, wie sich Goethe nicht nur der Bilder einer Wissenschaft wie der Chemie bedient, sondern in diesen Bildern grundsätzliche Gegebenheiten der Natur und damit auch der Natur des Menschen beschreibt, so berührt er damit ein wesentliches Merkmal nicht nur dieses Textes.24 Der Roman beschränkt sich nicht auf die
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Olaf Breidbach / Michael T. Ghiselin, Baroque classification: A missing charter in the history of systematics. In: Annals for the History and Philosophy of Biology 11, 2007, S. 1–30. Jeremy Adler, »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Chemie seiner Zeit. München 1987.
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Auseinandersetzung mit dieser einen Disziplin, sondern bindet auch Probleme und Ergebnisse der Forschung zu Magnetismus und Elektrizität oder auch der Landvermessung mit in seine Kartographie der menschlichen Verhältnisse ein.25 Es ist die Natur, in der sich eben auch die Natur des Menschen umreißen lässt. So bestimmt Goethe in den ersten Stichworten zu den Wahlverwandtschaften die Konzeption seiner Charaktere und deren Schicksal nach dem Prozess der elektrolytischen Segregation und Aggregation der Elemente. Dies ist nun nicht einfach ein enzyklopädisches Interesse, in dem Goethe sein umfassendes Wissen von und sein Interesse an den Wissenschaften in ein Romangeschehen einkomponiert. Der Ansatz Goethes liegt tiefer. Es ist der Versuch, das anschaulich zu machen, was die Natur des Menschen ist, und ihn so auch als Natur darzustellen. Dabei ist Goethe kein Reduktionist; er zieht sich nicht auf die Position des französischen Sensualismus zurück, fasst Erfahrung eben nicht als einen bloßen Reflex des Außen, sondern betrachtet die Natur als einen umfassenden Prozess, der den Menschen auch in seinem ›ErfahrungenMachen‹ mit einbindet. Darum wird eine Auseinandersetzung mit Goethe und dem Naturwissen nicht nur in einem vordergründig wissenschaftshistorischen Sinne interessant.26
VII. Erfahrungen Goethe legt in seiner Darstellung der Natur zugleich auch ein Erfahrungskonzept dar. Sicherheiten gewinnen wir hiernach im Anschauen, d.h. für Goethe, in der Unmittelbarkeit einer Erfahrung, die immer Selbsterfahrung ist, aber sich nicht darauf reduziert, sondern zugleich die Selbst-Erfahrung von etwas Anderem ist. Bei dem jungen – von Goethe anfangs sehr wohlwollend betrachteten – Jenaer Philosophen Friedrich Wilhelm Josef Schelling verdichtet sich ein vergleichbarer Versuch im Begriff der intellektuellen Anschauung.27 Diese ist nun aber bei Schelling – ganz im Gegensatz zu Goethe – von allen Qualifizierungen einer attribuierenden Erfahrung abstrahiert. Solch intellektuelle Anschauung ist an sich leer. Sie ist ein bloßes Formierungsprinzip, das noch nicht einmal in seiner Kategorialisierung zu erfassen ist. Solch eine Anschauung ist fern von den Dingen; sie reduziert eine Erfahrung auf die bloße Form ihrer Möglichkeit und zeigt bestenfalls auf, dass diese Form vor jeder Qualifizierung liegt. Damit wäre so etwas wie der Schematismus einer Natur zu denken. Bestimmt und
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Vgl. Peter von Matt, Versuch (Anm. 7), sowie den Beitrag von Helmut Hühn in diesem Band. Zum direkten wissenschaftlichen Umfeld vgl. Olaf Breidbach, The culture of science and experiments in Jena around 1800. In: Robert M. Brain / Robert S. Cohen / Ole Knudsen (Hrsg.), Hans Christian Ørsted and The Romantic Legacy in Science. Dordrecht 2007, S. 177–216. Vgl. Manfred Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt am Main 1985, S. 23–47.
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erfasst wäre sie damit aber nur als ein Anderes, das in sich unbestimmt und damit in seiner Natur ungewiss bleibt. Wie fern ist das gegenüber der Idee, in der Unmittelbarkeit des Erfahrens die Grenzen der immer nur abstrahierend tastenden Bestimmtheit der begrifflichen Reflexion aufzugeben und sich in der Dimension der eigenen Existenz der Natur auszusetzen. Das bedeutet, dass die Redeweise vom Magneten oder der chemischen Bindung auch nicht einfach eine Metapher ist,28 die im Einzelnen, das hier verfügbar ist, auf Höheres verweist. Goethe zeigt, dass sich im Magneten ein Verhältnis konstituiert, das Polaritäten und damit Reaktionsmöglichkeiten bestimmt. Die einfachen Reaktionsformen erlauben es, das Naturale in seiner prinzipiellen Schichtung zu explizieren. Komplexere Zuordnungsverhältnisse in komplexer organisierten Naturalien, wie dem Menschen, können abgeleiten werden. Insofern ist für Goethe in diesem Verhältnis mehr als eine singuläre Reaktion, sondern eine Grundanlage der Natur überhaupt zu fassen. So ist in der Darstellung der einfachen Grundformen der Naturreaktionen das komplexe Erleben des Menschen als Moment dieser Natur zu bestimmen. Aus den Naturwissenschaftlichen Vorträgen für Damen, die Goethe von 1805 auf 1806 hielt, ist eine Aufzeichnung Sophie von Schardts über den Magneten erhalten geblieben, über dessen Wesen, seine Beziehungen 1) auf sich, 2) zum Erdmagneten und die Minerale, welche magnetische Kraft besitzen […]. Verschiedene Arten der Darstellung eines Begriffs; viererlei Sprachen giebt es dafür. Die erste möchte man die goldene nennen, wodurch das Phänomen, die Begebenheit, selbst erscheint. Die zweite nenne ich die poetische, wobei eine Nebenidee, die dem Hauptbegriff eine größere Klarheit mittheilt, hervorgerufen wird; so sind die Erläuterungen durch Beispiele: ein guter Regent ist gleich einem schattenden Baume, unter dem die Vögel des Himmels nisten. Die mnemonische, wo man an gewisse Dinge willkürlich Erinnerungen knüpft, um sich dieselben dabei zu vergegenwärtigen. Die mathematische. […] Was ist träger als die Starrheit des Steines? Und siehe! die Natur verleiht ihm Sinne und Hände. Was ist streitbarer, als die Härte des Eisens? Aber es giebt nach und unterwirft sich der […] Sitte; denn es wird vom Magnetstein gezogen. Und so rennt ein allbeherrschendes Wesen — wer weiß wie? — einem leeren nach, und
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An Johann Gottfried Steinhäuser schreibt Goethe am 29. November 1799: »Indem ich für die mir mitgetheilten Nachrichten in Beziehung auf einen magnetischen Apparat Ew. Hochedelgeb. meinen besten Dank abstatte, so thue ich zugleich noch eine Anfrage, um deren gefällige Beantwortung ich hiermit gebeten haben will. Indem der Magnet sich mit dem entgegengesetzten Pol eines andern Magneten zu verbinden strebt, so scheint daraus zu folgen: daß die beyden Pole Eines Magnets dieselbe Neigung haben sich mit einander zu vereinigen. Die Ordnung in welcher sich die um den Magnetstein, auf einer Glastafel, gestreuten Feilspähne legen, bringt ein solches Streben der beyden Pole zu einander zum Anschauen, und es scheint keinem Zweifel unterworfen, daß, wenn ein magnetisches Hufeisen in der Mitte elastisch wäre, sich die beyden Pole mit einander vereinigen würden. Ja ein Hufeisen überhaupt, so wie ein armirter Magnet, kann als ein, durch das quer vorgelegte Eisen, in sich selbst abgeschloßner und daher mit allen seinen Kräften wirkender Magnet angesehen werden. Es fragt sich deßhalb ob man eine Magnetnadel verfertigen könnte, welche, an statt sich nach den Weltpolen zu kehren, wenn man sie aufhinge, in sich selbst zurückkehrte, so daß ihre beyden Enden sich ergriffen und fest hielten« (WA IV, 14, S. 226f.).
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indem es nahe kommt, tritt es heran und wird festgehalten in umklammernder Umarmung.29
Hier deutet sich im Spiegel der Aufzeichnungen an, wie Goethe selbst Natur sieht: Es ist auch im Einzelnen das Ganze einer sich im Einzelnen möglichen Natur angelegt. Natur wird dem Menschen nicht als ein Anderes entgegengesetzt, sondern ist dem sympathischen Blick als das auch uns selbst Eigene verfügbar. Die Sympathie, in der dieser Natur auch im Menschen gegenüberzutreten ist, ist dabei auch in die Natur einzulesen.30 Die Metamorphose der Natur, die im Menschen zu ihrer höchsten Form findet, wird auch in den Reaktionen des Menschlichen in ihre Vollendung finden. Die Kräfte der Natur finden sich in den verschiedenen Formen der Zuordnungsverhältnisse in einer Weise geschichtet, wie es das folgende Notat über die mögliche Bestimmung des Magnetischen verdeutlicht: 1) Das Wirkende, sich Äußernde, Handelnde, Bewegende, Schaffende. 2) Das Erleidende, Duldende, Angeregte, Bewegte, Gegensatz des einen zum andern. 1) Ein Unsichtbares, ein Daseiendes ohne vehiculum, eine Kraftäußerung ohne ein Wie, das uns bekannt sein könnte.31
Goethe hat sich eingehend mit dieser Grundkraft der Natur beschäftigt. An den zeitgenössischen Diskussionen um die Naturphänomene, speziell den Magnetismus und die Frage der Bindungsaffinität, ist er beteiligt. Mit Johann Wilhelm Ritter, der den Chemismus als Affinitätslehre behandelt, diskutiert er. In dessen Versuchen werden Bindungen in Galvanischen Batterien aufgelöst und neue Verbindungen durch die Polarisation der Reaktionsstoffe möglich.32 Das galvanische Bad – in dem eine Kathode und eine Anode in ihrem Zusammenschluss zu demonstrieren erlauben, dass die chemischen Stoffe polar organisiert sind, dass sie sich nach ihrer Ladung zusammensetzen und dass durch solche Polarisierung eines Stoffgemisches deren Elemente in Reinform zu gewinnen sind – gibt den Hinweis, dass sich die Naturformen vom Magnetismus bis hin zur Chemie auf ein einfaches Grundschema beziehen lassen. Wenn dann Ritter in seinem Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite deutlich macht, dass auch die Grundreaktionen des Leben-
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Goethe, Aus den naturwissenschaftlichen Vorträgen für Damen, 1805 zu 1806, Winter. WA V, 2, S. 20f., zitiert nach: Zwei Bekehrte. Zacharias Werner und Sophie von Schardt. Von Heinrich Düntzer. Leipzig 1873. S. 404ff. Olaf Breidbach, Freundschaft und all das Andere – Zur Freundschaft, Sympathie und Liebe in Goethes Naturlehre. In: Klaus Manger / Ute Pott (Hrsg.), Rituale der Freundschaft (Anm. 6), S. 207–220. Goethe, Aus den naturwissenschaftlichen Vorträgen für Damen (Anm. 29), S. 21. Heiko Weber, Experimentalprogramme der frühen Naturwissenschaften. Johann Wilhelm Ritter (1776–1810) und Joseph Weber (1753–1831). Berlin 2009; Heiko Weber, Naturforschung und Romankunst. Annäherungen. In: Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß (Hrsg.), »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 36–41.
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digen in dieser Art geschichtet sind, liegt es nahe, selbst die Psyche und deren Reaktionsweisen in dieser Art von Affinitätsdarstellung zu begreifen.33 Ritter und Alexander von Humboldt weisen in ihren Selbstversuchen in Jena auf, dass dieses Ladungsprinzip, diese Polarität sinnlich zu erfahren und als Gefühl zu greifen ist.34 Goethe hat sich dies demonstrieren lassen.35 Insoweit also wäre die beinahe magische Anziehungskraft, in der sich die Wahlverwandtschaften jeweils im Roman immer wieder umgruppieren, um dann letztlich doch in einer Reaktion zu verbleiben, etwas, das sich in der Tat auf ein Naturphänomen und dessen zeitgenössische Diskussionen beziehen lässt. Dabei sind der Magnetismus und damit die Zuordnung zweier einander polar entgegengesetzter Formen das eine Moment einer solchen Naturanalogie. Das zweite ist eine chemische Bindung, in der nicht einfach in der Polarität von plus und minus ein Ding einem anderen zugeordnet ist, sondern in dem in den Zuordnungsbedingungen eines überschaubaren Gefüges von Dingen Reaktionsgefüge versetzt und über variierende Randbedingungen Bindungen aufgelöst und neu geschlossen werden könnten. Im Roman erfolgt auf die Exposition der Rahmenbedingungen ein Durchgang der Experimentalbeschreibung. Dieser nähert das ganze Gefüge auch im Vokabular und in den Bildern dem analytischen Ansatz eines Experimentalwissenschaftlers an. Hier weist der Autor aus, dass der von ihm geschaffene Reaktionsraum nicht nur einfach abgesetzt ist. Er ist vielmehr auch trigonometrisch vermessen.36 Die Didaktik der experimentellen Operation liefert Goethe in der Beschreibung des Experiments als Experiment. Um einen Experimentalansatz zu erläutern, muss man, so heißt es im vierten Kapitel des Ersten Teils, auf die »Grundbegriffe der Physik und Chemie zurückgehen«.37 Johannes Müller präsentierte derart 1833 im ersten Band seines Lehrbuchs zur Physiologie des Menschen38 sein Konzept der Physiologie als einer experimentell geleiteten Erfahrungswissenschaft: »Die Physiologie« – so beginnt Müller in den Prolegomena über die allgemeine Physiologie – ist die Wissenschaft von den Eigenschaften und Erscheinungen der organischen Körper, der Thiere und Pflanzen, und von den Gesetzen, nach welchen ihre Wirkungen erfolgen. Die erste Frage, welche man sich beim Eintritt in diese Wissenschaft zu beantworten hat, ist die nach dem Unterschied der organischen und anorganischen Körper. Sind die Körper, welche die Erscheinungen des Lebens darbieten, in ihrer materiellen Zusammensetzung von den unorganischen Körpern verschieden, deren Eigenschaften die Physik und Chemie untersuchen, oder sind auch die
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Johann Wilhelm Ritter, Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite. Weimar 1798. Gerhardt Wiesenfeldt, Eigenrezeption und Fremdrezeption: Die galvanischen Selbstexperimente Johann Wilhelm Ritters (1776–1810). In: Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur 1 (2005), S. 207–232. Goethe, Tagebucheintrag, September/Oktober 1800. WA III, 2, S. 307f. Die Wahlverwandtschaften I, 4. WA I, 20, S. 41. Ebenda, I, 4. WA I, 20, S. 45. Vgl. Brigitte Lohff, Johannes Müller und das physiologische Experiment. In: Johannes Müller und die Philosophie. Hrsg. von Michael Hagner / Bettina Wahrig-Schmidt. Berlin 1992, S. 105–123.
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Grundkräfte welche sie bewirken, verschieden, ... oder sind die Grundkräfte des organischen Lebens nur Modifikationen der physischen und chemischen Kräfte?39
Müller zufolge erscheint der physiologische Prozess denn auch als eine in einfache, experimentell zugängliche Teilschritte zu zergliedernde Reaktionsabfolge der eingangs skizzierten Grundelemente organischer Organisation, wie sie eine physikalisch-chemische Darstellung aufweisen kann. Die Physiologie des Menschen ist demnach nicht mehr bloß als komplexer Lebensvorgang, wie ihn Albrecht von Haller beschrieb, darzulegen, sondern in der Abfolge chemischphysikalischer Prozesse darzustellen.40 Analog – und gleichsam im Vorgriff dieser für die weitere Geschichte der Humanphysiologie, aber auch der Physiologie der Seelenlehre höchst einflussreichen Schrift von Johannes Müller – setzt Goethe, wie mir scheint, sein Experiment an.41 Der Autor bleibt aber nicht einfach bei der oben skizzierten Darstellung eines chemischen Experiments, sondern lässt das Experiment noch einmal explizit als eine von seinen Protagonisten vollzogene Tätigkeit beschreiben: »schon als Kinder« – so Charlotte – »spielen wir erstaunt mit dem Quecksilber«.42 Skizziert wird so die einfache experimentelle Welt, die in der fortlaufenden Metamorphose nun der chemischen Welt weiter zu dem ausreift, was sich in diesem Roman darstellt. Nach dieser Darstellung der Möglichkeiten eines chemischen Experimentators liefert die Diskussion der Hauptreaktionspartner, Charlotte und Eduard, auch noch die Deutung, die nun das Experiment der Wahlverwandtschaften im Sozialraum als chemisches Experiment darzustellen erlaubt. Dabei wird das so zur Einsicht Gebrachte zugleich verallgemeinert und in eine Naturdarstellung gewendet, die über das bloß Chemische hinausreicht. Entsprechend hebt die Erläuterung der chemischen Reaktion an: »Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muß es auch gegen andere ein Verhältniß haben«.43 Dabei wird die ›Rationale‹ der Reaktionspartner aufgewiesen. Hierzu nun schlägt die Darstellung um und sucht den Chemismus ihrerseits mit dem Vokabular des Sozialen zu umschreiben. Das soziale Experiment schlägt zurück und weist die Natur des Chemismus als eine Natur prinzipieller Verwandtschaftsbeziehungen aus: »Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen […] ohne an einander etwas zu verändern«.44 Charlotte betont darüber hinaus, es fehle »nicht viel […], so sieht man in diesen einfachen Formen der Menschen […] Societäten«; und es fehlt auch nicht der letzte Kommentar, der diese Verwandtschaftsverhältnisse des Chemischen dann wieder umgekehrt zur Deutung der Reaktionen des Menschen nutzt. Es ist eben alles Eines 39 40 41
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Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen. Koblenz 1844, S. 1. Vgl. Hubert Steinke / Urs Boschung / Wolfgang Proß (Hrsg.), Albrecht von Haller: Leben – Werk – Epoche. Göttingen 2008. So fragt dann umgekehrt: Brigitte Lohff, Hat die Rhetorik Einfluß auf die Entstehung einer experimentellen Biologie gehabt? In: Disciplinae Novae. Zur Entstehung neuer Denk- und Arbeitsrichtungen in der Naturwissenschaft. Festschrift zum 90. Geburtstag von Hans Schimak. Hrsg. von Christoph Joachim Scriba. Göttingen 1979, S. 127–146. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 4. WA I, 20, S. 49. Ebenda, S. 49f. Ebenda, S. 50.
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und als dieses Eine Natur. Und dies wissen nicht nur der Autor und der durch diesen geführte Leser, sondern auch die Personen, die hier in Szene gesetzt und damit in ihr Leben geführt sind. Wobei Charlotte noch einen Schritt weiter geht und danach fragt, wie denn solch eine Reaktionsmechanik auf das Humane zu übertragen sei. Da ist zum einen das Einzelne, die Person, die dann auch in ihrer je eigenen Reaktion in diese Gesetzmäßigkeiten eingebunden ist, dabei aber in den Details – wie schon erwähnt – immer wieder Verwirrungen, d.h. nicht vorhersehbare Besonderungen, entstehen lässt. Da ist zum anderen der Mensch als Abstraktum, als Masse, in seinen Rollen, als Stand. Und in dieser Perspektive, so schon Charlotte, kommt einer abstrakten Beschreibung der Reaktionsmöglichkeiten des Menschen, die auf die Zwänge der jeweiligen Rolle sieht und von den jeweiligen Individuationen absieht, Bedeutung zu. Es ist dies der Prozess der Gattung, der sich im Einzelnen individuiert, aber als Prozess über diese Individuationen hinaus Geltung besitzt. Es geht dabei nicht darum, dass von Goethe die ›Philosophie‹ der Meinungsforschungsinstitutionen vorweg genommen wäre, die eben solche statistischen Gesetzmäßigkeiten zur Grundlage ihres Kalküls nehmen. Es geht auch nicht um die Pointe, die Goethe gegen die am individuellen Leben orientierte Erfahrungsseelenkunde setzt.45 Es geht hier vor allem darum, dass in seinem Roman diejenigen, die dem Experiment unterzogen sind, nun diese Exposition kommentieren und in ihrer Geltung zugleich auch in Frage stellen. Es ist eben nicht dieses einzelne Experiment der wenigen Reagenzien, das in seiner Übersichtlichkeit die Grundideen des menschlichen Sozialverhaltens aufzuweisen erlaubt. Es ist umgekehrt für den Ausweis des Humanen, die Masse, die Darstellung der Prinzipien der Gattung die Reaktionsgröße, die nach Maßgabe der chemischen Wahlverwandtschaften zu bewerten ist. Dies ist die Mehrstufigkeit der Exposition des Experimentellen, die Goethe vorlegt. Das chemisch/physikalische Experiment ist hier nur eine Ebene der Darstellung, die sich in der Darstellung denn auch schon selbst kommentiert, von den einzelnen Personen dieses Experiments als solches exponiert und damit im Letzten auch karikiert wird. Die naturwissenschaftsgeschichtliche Analyse des Romans macht deutlich: Es wird nicht einfach das Soziale in den Chemismus zurückgeführt, sondern der Chemismus wird seinerseits erst in den Termini des Sozialen verständlich. Die beiden Zugänge – der analytische und der deduktive, in dem die Chemie als Variation eines Sozialprogramms beschrieben ist – kommentieren sich im Ansatz des Textes gegenseitig. Das Experiment ist damit auch ein Experiment der Exposition und der Interaktion der hier nur auf den ersten Blick klar voneinander abgegrenzten Ebenen.
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Karl Philipp Moritz, Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Berlin 1783–1793; vgl. Georg Eckardt, Anspruch und Wirklichkeit der Erfahrungsseelenkunde, dargestellt an Hand periodisch erscheinender Publikationen um 1800. In: Olaf Breidbach / Paul Ziche (Hrsg.), Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S. 179–202.
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Und doch ist es eine Art von synthetischer Psychologie – analog der synthetischen Neuroanatomie von Valentin Braitenberg –, die Goethe hier vorlegt.46 Er stellt die möglichen Reaktionen zusammen, weitet dabei aber zugleich Schritt für Schritt das Experiment über die Vergegenwärtigung der Ereignisse in dem von ihm bemessenen Garten hin aus. Es sind diese verschiedenen Ebenen, in denen sich Darstellung und Handlungsentwurf verzahnen, mit denen der Leser sich immer wieder neu in das Experiment eingeführt und eingebunden findet. Er gewinnt so verschiedene Ebenen des Einblicks, erstellt daraus ein Ganzes, dass ihm aber nur in der Rückbindung auf das, was ihn der Autor sehen lässt, als Einheit verfügbar wird. Zweimal bricht die Geschichte ab, einmal im Ersten Teil, wo nach dem Abgang von Eduard das Experiment beendet zu sein scheint. Und dann im Ende des Zweiten Teils, wo nur mehr Charlotte und der Hauptmann als Reaktionselemente verfügbar bleiben, wobei aber nur Charlotte am Ende auch als Figur präsent ist. Der über das erste Ende hinausgeführte Roman zeigt, dass das, was beschlossen erscheint, sich noch einmal öffnen konnte. Aber auch das zweite, das eigentliche Ende bleibt – nicht nur was Charlotte, sondern auch was die Bewertung des Experiments selbst anbelangt – für den Leser offen. So ist dieser mit in das Experiment hineingenommen.
VIII. Folgerungen In die Wahlverwandtschaften ist also nicht einfach naturwissenschaftliches Wissen eingearbeitet. Das enzyklopädische Bildungsbedürfnis des seinerzeitigen Lesers, das Jean Paul nutzte und zugleich vorführte, wird hier nicht einfach klassisch geläutert. Das Naturwissenschaftliche ist auch nicht einfach nur Metapher für das, was sich dann im Eigentlichen ereignete. Vielmehr ist in einem gewissen Sinne das Ganze der Wahlverwandtschaften Natur-Wissenschaft. Goethe beschreibt ein soziales Experiment mit den Reagenzien fein abgestimmter sozialer Stufung. Er besetzt Rollenprofile gemäß den seinerzeitigen Vorstellungen und gewinnt auf diese Weise Einsicht in ein Gefüge des Humanen, das so ganz anders ist als das mitfühlend liebende Auge des Naturforschers Goethe, der in seiner Metamorphosenlehre ja betont, dass nur der, der liebt, die Natur wirklich verstehen kann. Heißt das nun im Gegenzug, dass nur der, der von der Liebe absieht, den Menschen in seiner Natur wirklich begreift? Goethe exponiert in der Tat ein experimentum humanum. Analog zu dem erwähnten, nur wenig zeitversetzt schreibenden Physiologen Johannes Müller stuft er das Humane auf Grundreagenzien zurück, die er nicht einfach nur ausprobiert, sondern nach Art eines chemischen Experiments ansetzt. Hierin liegt das Naturwissenschaftliche dieses Romantextes; es ist nicht die Detaillierung naturwissenschaftlichen Wissens, die man zwar immer wieder in einzelnen Passagen herausziehen kann, um sich dann gegebenenfalls darüber auseinan-
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Valentin Braitenberg, Gehirngespinste. Neuroanatomie für kybernetisch Interessierte. Berlin u.a. 1973; ders., Vehikel. Experimente mit künstlichen Wesen. Münster 2004.
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derzusetzen, welche seinerzeit neueren Forschungen Goethe rezipiert haben mag.47 Goethe nutzt die Chemie der Wahlverwandtschaften, in der Stoffe gemäß ihrer Affinität zueinander geordnet und Profile aus den wechselseitigen Anstoßungen und Zuordnungen der Stoffprofile erarbeitet wurden, als Folie für sein experimentum sociale. Das Experiment erlaubt es, den Einzelnen als Repräsentanten eines Stoffes, als in sich zu begreifendes Reaktionsgefüge zu charakterisieren, in einer klärenden Situation rein darzustellen und dann mit neuen Reagenzien zu mischen, um so seine Affinitäten und Absetzungen charakterisieren zu können. Aus diesem Gefüge der sich derart selbst ordnenden Stoffe resultieren dann in der Tat die Wahlverwandtschaften des menschlichen Charakters, in denen nun – ganz im Sinne einer metamorphotischen Reife – die Abstufungen der möglichen Reaktionen beschrieben und in eine Ordnung gesetzt werden können.48 Das Resultat dieses Versuches ist weder auf ein Ziel hin konzipiert, noch wird hier frei assoziiert. Mit dem experimentellen Denken verträgt es sich nicht, wenn in der Ausrichtung der Reaktionsfolgen Freiheiten bleiben. Der Stoff, in den diese Stoffe zu setzen sind, ist vielmehr dicht zu weben, die Randbedingungen der Reaktionen sind zu charakterisieren. Im Ideal ist der Reaktionsraum überschaubar, klar konturiert und vermessen. Es wäre angemessen, ihn zu kartieren und dann zu jeder Zeit über jeden Ort eines jeden der Reagenzien Klarheit zu haben. Goethe setzt diesen sozialen Experimentierraum an, er beschreibt die Grundreaktionsformen, setzt insoweit die verschiedenen Lösungen an, destilliert vorab die ihn interessierenden Grundkomponenten und setzt diese im Zuge seines Experiments in eine Folge klar abgestimmter Reaktionsgefüge. Hier wird eine Reaktion diagnostiziert, der jeweils interessierende Stoff isoliert, in ein weiteres Experiment eingebracht, eingemischt, gelöst und wieder destilliert. Es ergibt sich so eine Folge von sozialen Zuordnungen und Verbindungen, die in den verschiedenen Rahmenbedingungen getestet, in ihrer Diagnose fixiert und dann dem weiteren Procedieren überantwortet wird. Goethe erprobt hier in der Tat, inwieweit eine Chemie der menschlichen Bindungen und Lösungen im Sinne eines analytischen Sozialraumes zu zeichnen ist. Verständlich wird dies aber nicht im Rahmen eines reduktionistischen Programms, in dem das Soziale zur Chemie vereinfacht wird – etwa im Sinne einer modernen Humorallehre des menschlichen Gefühlslebens.49 Verständlich wird dies nach Goethe nur aus der Perspektive einer Metamorphosenlehre, nach der auch der Mensch in seinem Verhalten Natur ist und darin zeigt, wie die Natur ist. Das aber ist nur eine Perspektive dieses Experimentellen, die das naturwissenschaftliche Vorstellungsgefüge nutzt, um das Experiment der 47 48
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Etwa: Georg Schwedt, Goethe als Chemiker. Berlin 1998. Vgl. Joseph Vogl, Für eine Poetologie des Wissens. In: Karl Richter u.a. (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften. Festschrift zum 75. Geburtstag von Walter MüllerSeidel. Stuttgart 1997, S. 107–127. Olaf Breidbach, Neuronale Ästhetik und Emotion – Berührungsbereiche und Ausgrenzungen. In: Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, hrsg. von Erika Fischer-Lichte / Robert Sollich / Sandra Umathum / Matthias Warstat. München 2006, S. 161–178.
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Olaf Breidbach
Wahlverwandtschaften in Szene zu setzen. Das Experiment greift dabei weit aus und nutzt dann auch diesen hier vermessenen Kleinraum mit wenigen Protagonisten, aber einer aus diesen entfalteten komplizierten Geschichte, um den Leser mit in das Experiment hineinzunehmen, in der das Naturwissenschaftliche nur eine erste Leitlinie ist, mit der dem entscheidenden Experiment, der Lektüre dieses Textes, zu folgen ist.
GESELLSCHAFTLICHE UMBRÜCHE – UNGELÖSTE KONFLIKTE
Von der »Dazwischenkunft eines Dritten« Geschlechterbeziehungen in Goethes Wahlverwandtschaften Nicole Grochowina
I. Am 28. August 1808, dem 59. Geburtstag Goethes, notierte Friedrich Wilhelm Riemer, dass des Dichters Idee zu den Wahlverwandtschaften darin bestehe, »sociale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen«.1 Dieses Diktum, das auf den Kern der Wahlverwandtschaften zu zielen scheint, dient seitdem als Ausgangspunkt für zahlreiche Forschungsarbeiten, die konsequenterweise den Kontext des Werkes einzubeziehen hatten. Dabei stand gerade der besondere Blick auf die »socialen Verhältnisse« zunächst im Mittelpunkt: Hier ging es nicht nur um die Verortung des Romans in seiner Zeit und dies vor allem mit Blick auf die Orte, an denen er entstand, sondern hier waren und sind auch viele Überlegungen angesiedelt, welche etwa einzelne Frauen wie Minchen Herzlieb oder Sylvie von Ziegesar mit den Protagonistinnen des Romans in Verbindung brachten.2 Erkennbar wird, dass gerade dies einen nicht unwesentlichen Reiz ausmachte, mit diesem Roman umzugehen. Diese hier nur angedeuteten, ersten Einschätzungen und Deutungsversuche werden allerdings weder der Komplexität gerecht, die den Roman mit Blick auf die sozialen Verhältnisse ausmacht, noch greifen sie hinreichend das Spiel auf, das hier zwischen Fiktion und Realität jenseits einer einfachen Abbildung der zeitgenössischen Gegebenheiten und personellen Konstellationen gespielt wird. Helmut Hühn hat jüngst eindrücklich zeigen können, wie ausgeprägt dieses Spiel ist, und dass bereits der berühmte erste Satz des Romans »Eduard, so nennen wir einen reichen Baron [...]« darauf verweist, wie sehr der Roman nicht nur im Fiktionalen angesiedelt ist, sondern seine Fiktionalität zugleich im Erzählprozess immer wieder deutlich macht. Vielmehr sei es Goethe darum gegangen, die Wirklichkeit mit ihren Verwicklungen und Konfliktherden durch
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Johann Wolfgang von Goethe, Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer, 28. August 1808. WA V, 2, S. 216. Vgl. zu den einzelnen Biografien Stefanie Freyer / Katrin Horn / Nicole Grochowina (Hrsg.), FrauenGestalten Weimar-Jena um 1800: ein bio-bibliographisches Lexikon. Heidelberg 2009.
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Nicole Grochowina
Kunst überhaupt erst sichtbar zu machen.3 Auf der Grundlage einer solchen künstlerischen Intention entsteht der Raum der Wahlverwandtschaften, geradezu eine eigene, kleine Welt, um dort mit den einzelnen Protagonisten des Romans, ihren Eigenschaften und ihrem Umgang mit sich stets verändernden Situationen zu spielen, sie durch den Einfluss Dritter in neue Gefilde vordringen zu lassen und sie gegebenenfalls auch in überhöhter Form zu zeichnen. In einer durchaus gewollten Übertreibung, aber auch einer ebenfalls zu beobachtenden Reduktion auf essentielle Verhaltensmuster und Charaktereigenschaften gibt der Roman den Blick auf Aspekte einer komplexen und konfliktträchtigen Wirklichkeit frei. Aber: Er bleibt dabei immer Kunst, die gleichnishaft die Realität aufgreift. Es geht also in der Tat weniger – und dies macht es für Historiker eher schwierig, mit diesem Roman umzugehen – um den Blick auf die Lebenswirklichkeit Weimars im frühen 19. Jahrhundert, auch wenn die Zeitgenossen dies nicht selten ignorierten und dann über die Vorbilder einzelner Personen im Roman spekulierten. Die interpretatorisch zu leistende Konzentration auf den Gehalt der Kunst verhindert jedoch nicht zwingend, den Roman zumindest ansatzweise in zeitgenössische Kontexte einzubinden. Blickt man jedoch auf die Auslegungsgeschichte, so hat die Forschung diese Bezüge zeitweise eher vernachlässigt, sofern sie sich primär auf die symbolische Ausgestaltung der sozialen Verhältnisse konzentrierte. Und so bemängelte etwa Hans Rudolf Vaget konsequenterweise, dass es solchen Interpretationen in erster Linie darauf ankomme, das »überzeitlich Tragische« herauszuarbeiten, und dass diese dabei die sozialen Verhältnisse und die daraus hervorgehenden Konflikte aus den Augen verlören. Diese gerieten allein, so Vaget, zur »Staffage«,4 so dass gerade die sozialgeschichtliche Forschung zu den Wahlverwandtschaften defizitär sei. Der soziale Gehalt des Romans sei also der artistischen Gestalt des Romans geopfert worden. Sein Angebot besteht nun darin, die Wahlverwandtschaften als einen Gesellschaftsroman zu entdecken und auf diese Weise die künstlerische Gestaltung des Sozialen deutlicher herauszuarbeiten. Die Wahlverwandtschaften als Gesellschaftsroman zu denken, sei allerdings, so gibt er zu, keineswegs neu, sondern berufe sich auf Forschungen, die bereits in den 1970er Jahren geleistet worden seien. Gleichwohl sei hier eine Erweiterung zu leisten und fortan nicht nur von einem Gesellschaftsroman, sondern präziser von einem Adelsroman zu sprechen. In diesem gehe es allerdings nicht darum nachzuzeichnen, dass und wie die Ständegrenzen möglicherweise transzendiert würden. Von einer Verbürgerlichung der Protagonisten sei – entgegen so manch anderer sozialhistorisch orientierten These – nicht zu sprechen. Vielmehr handele es 3
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Vgl. Helmut Hühn, Die ›Wahlverwandtschaften‹ als symbolisches Kunstwerk. In: »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hrsg. von Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 20–26, hier S. 26: »Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ … sind eine Schule des Sehens«. Vgl. Hans Rudolf Vaget, Ein reicher Baron. Zum sozialgeschichtlichen Gehalt der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 123–161, hier S. 123f .
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sich bei den Wahlverwandtschaften um die Goethe’sche Bestandsaufnahme des degenerierten, finanzschwachen Landadels, der in der Übergangsphase des frühen 19. Jahrhunderts den Spagat zwischen traditionellen Vorstellungen von sozialem Miteinander, von Liebe, von Grundeigentum und vom eigenen Selbstverständnis und den Anforderungen einer neuen Zeit zu leisten hatte – und daran gescheitert, ja geradezu der Selbstzerstörung anheim gefallen sei. An dieser Stelle komme zugleich der selbstverschuldete Verfall des feudalen Systems zum Ausdruck – eine Beobachtung, die Goethe unbedingt in seinem Roman vertiefen und kunstvoll zu überhöhen gedachte. Der Adelsroman sei demnach so definiert, dass er ausschließlich im adeligen Milieu spiele und sich dabei intensiv mit dessen Themen, Problemlagen und Konflikten beschäftige. Nun soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, diese Auseinandersetzung erneut aufzurollen und nach der Verbürgerlichung des Adels oder nach den zeitlichen Zäsuren zu fragen, die dessen Geschicke prägten und die dann von Goethe aufgegriffen und bewertet worden sind. Wichtiger ist an diese Stelle Vagets eindrückliches Plädoyer dafür, konkreter nach der Verortung des Romans im zeitgenössischen Kontext zu fragen und die Themen herauszuarbeiten, die Goethe durch den Roman als wichtig, diskussionswürdig und virulent für die Gesellschaft seiner Zeit betrachtete. Ausgehend von dieser Perspektive scheinen es gerade die Geschlechterbeziehungen zu sein, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts für Goethe einer besonderen Benennung und Analyse bedurften. Die Wahlverwandtschaften erscheinen deshalb in der Tat als Gesellschaftsroman, aber präziser noch als Geschlechterroman. Das bedeutet, dass der konzise Blick auf die Geschlechterbeziehungen deutlicher als andere Zugriffe zeigt, welche Konfliktlagen in der Gesellschaft eigentlich vorlagen bzw. welche Themen Goethe zu diesem Zeitpunkt als diskussionswürdig erachtete. Thematisch zentral sind hier Vorstellungen von der Ehe, von ihrem gesellschaftsstabilisierenden Charakter, der durch Eheskepsis und eine wachsende Zahl von Scheidungen herausgefordert wurde, aber auch die Beobachtung, dass und wie die Ehe in Frage gestellt wurde, wenn ein Dritter oder eine Dritte in eine bestehende Ehe einbrach bzw. dazu eingeladen wurde. Damit wird zugleich danach gefragt, was um 1800 mit bestehenden, als fest und sinnvoll erachteten Strukturen geschah, wie also deren Zersetzung und Auflösung aussahen. Verhandelt werden all diese Fragen über die dichterische Darstellung von Geschlechterbeziehungen, so dass auf diese Weise sowohl Männer als auch Frauen überhöht, mit expliziten Zuschreibungen und im höchsten Maße geschlechtlich konnotiert charakterisiert werden, die Beschreibung der Wahlverwandtschaften als Geschlechterroman also sinnvoll erscheint. Darin implizit mögen – und so vorsichtig sei es an dieser Stelle gesagt – die Beobachtungen Goethes zum Ausdruck kommen, wie Geschlechterbeziehungen in Weimar um 1800 gelebt wurden, welche Möglichkeiten und welche Handlungsspielräume ihnen inhärent waren, und was er an manch einem freiheitlich orientierten und Selbstbestimmtheit fordernden Verständnis einzelner Frauen und Männer zu kritisieren hatte. Dass am Ende des Romans Charlotte überlebt, während es unklar bleibt, ob Ottilie und Eduard sich – Eduards Wunsch entsprechend – nach dem Tod wiedersehen werden oder ob die Lücke zwischen den beiden Gräbern
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im Gewölbe sinnbildlich für die Trennung auch in der Ewigkeit steht, mag an dieser Stelle andeuten, in welche Richtung Goethe tendiert haben könnte, was seine Auffassung von der Geschlechterordnung um 1800 betraf. Es ist demnach zwingend erforderlich, dass auch die Geschlechtergeschichte diesen Roman in ihre Überlegungen zur Umbruchsphase um 1800 mit einbezieht.5 Das ist in dieser Form noch nicht geschehen, auch wenn es eine Fülle von literaturwissenschaftlichen Analysen der einzelnen Frauengestalten gibt. Der Geschlechtergeschichte kann es aber weder um eine werkimmanente Aufarbeitung allein noch um die separate Analyse der Frauen gehen. Sie muss ebenso nach den Themen der Zeit fragen und nach der Art und Weise, wie hier Geschlechterbeziehungen dargestellt und damit auch als Handlungsmuster, als Optionen vorgeschlagen und diskutiert werden. Nach den Themen der Zeit und ihrer Aufarbeitung und Bearbeitung im Medium des Romans zu fragen, ist jedoch gerade bei den Wahlverwandtschaften ein heikles Unterfangen, weshalb bestehende geschlechterhistorische Zugriffe hier schnell an ihre Grenzen stoßen. Dies hängt mit dem bereits erwähnten Spiel zwischen Realität und Fiktion und mit der kunstvollen Überhöhung von Konflikten zusammen, die sich aus dem Spiel der Wahlverwandten mit bestehenden Konventionen ergeben. Insofern sind die nachfolgenden Ausflüge in die Lebenswirklichkeit Weimars um 1800 als Angebot zu verstehen, hier Inspirationen für Lesarten des Romans zu erhalten, ohne dabei zentrale, durchaus überzeitliche Fragen aus dem Blick zu verlieren, die etwa das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, von Leidenschaft und Vernunft, von Neigung und Sittlichkeit thematisieren. Es geht in einem ersten Schritt darum zu skizzieren, was einen Geschlechterroman aus der hier benannten Perspektive ausmacht. Zweitens sollen vor diesem Hintergrund die Konstellationen zwischen den Geschlechtern mit ihren wechselnden Machtgefällen und den dynamisch wandelnden Verhältnissen beschrieben werden, um zu zeigen, wie facettenreich diese waren und dass sie deshalb genutzt wurden, um durch sie und mit ihnen gesellschaftliche Konflikte zu verhandeln. Dabei ist es wichtig, die Bedeutung der »Dazwischenkunft eines Dritten«6 klar zu betonen. Dritte oder Vierte, die in Geschlechterbeziehungen einbrechen oder eingeladen werden, schaffen oder verschärfen hier in den meisten Fällen die Konflikte, indem sie allein schon durch ihr Dasein bestehende Ordnungen herausfordern. In seltenen Fällen festigen sie diese allerdings auch, doch dies ist meist nur von kurzer Dauer. »Dazwischenkunft« meint in diesem Zusammenhang nicht nur das reale Auftreten eines Dritten als Gegenüber oder als neuer Teil einer bestehenden Geschlechterbeziehung, sondern auch dessen imaginierten Auftritt sowie Rückzug. Zu den Themen, die es vor diesem Hintergrund zu beleuchten gilt, gehört zweifelsfrei die Ehe, aber
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Vgl. zur aktuellen Forschung auch Elizabeth Boa, Die Geschichte der O oder die (Ohn-) Macht der Frauen: Die ›Wahlverwandtschaften‹ im Kontext des Geschlechterdiskurses um 1800. In: Bernd Hamacher / Rüdiger Nutt-Kofoth (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe. Romane und theoretische Schriften. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2007, S. 74–96. Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 1. WA I, 20, S. 12.
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ebenso sind die Scheidung und die Selbstbestimmtheit beider Geschlechter zu benennen.
II. Schon zu Beginn des Romans wird klar, wie virulent die Frage nach den Geschlechterbeziehungen im Folgenden sein wird, zumal sich hier bereits die Dazwischenkunft eines Dritten ankündigt. Charlotte und Eduard stecken gerade im ersten Kapitel das Terrain ab, in dem sich Männer und Frauen begegnen. Es ist an dieser Stelle Charlotte, welche klar zwischen den Aufgaben beider Geschlechter unterscheidet, dem Mann den Blick auf das Gegenwärtige zuspricht, den dieser haben müsse, um wirken zu können, während Frauen eher das Schicksal ihrer Familien sehen würden, also mehr auf das schauten, »was im Leben zusammenhängt«.7 Damit jedoch verständigen sich beide nicht auf eine Hierarchisierung der Geschlechterbeziehung, im Gegenteil: Beide Sichtweisen haben ihr Recht, so dass es nur konsequent ist, dass Charlotte schließlich den Vorschlag macht, »wenigstens eine Zeit lang [zu] versuchen, in wie fern wir auf diese Weise mit einander ausreichen«.8 Eduard fühlt sich nach eigenem Bekunden widersprochen, gleichwohl vermag er es noch positiv zu deuten: »Ich merke wohl, im Ehestand muß man sich manchmal streiten, denn dadurch erfährt man was von einander«.9 Darüber hinaus verraten diese ersten Passagen bereits etwas über das Selbstverständnis der beiden Ehepartner, so dass auch dies die Grundlage für die nachfolgenden Auseinandersetzungen bildet: Während Charlotte sich als ›kluge Hausfrau‹ geriert, die sich nach einer erbetenen Denkpause ihrer eigenen Position klar ist, aber dennoch zustimmt, den Versuch zu unternehmen, den Hauptmann – aber nur für eine kurze Zeit – in ihr Haus aufzunehmen, wird Eduard in erster Linie durch Gemütsbeschreibungen charakterisiert: »heiteren Sinnes«, »viel und vielerlei wollend, freimütig, wohltätig, brav«,10 dies sind nur einige Zuschreibungen, die er erhält. Auf diese Weise werden sowohl die offene, weil immer wieder neu zu gestaltende Geschlechterbeziehung zwischen Eduard und Charlotte sowie ihr Selbstverständnis als auch das Thema ›Ehe‹ eingeführt, das zu einer immer wiederkehrenden Folie wird, auf der sich zahlreiche weitere Konfliktfälle abzeichnen. Diese Konflikte erscheinen meistenteils im Zusammenhang mit der Dazwischenkunft eines Dritten, der für unkontrollierte Bewegung sorgt und sich mit all seiner Problematik ebenfalls schon im ersten Kapitel ankündigt: Gemeint ist die Szene, in der Eduard die Mooshütte zunächst als »zu eng«11 charakterisiert. Auf Charlottes Einwurf, dass die Hütte für sie beide hinreichend Platz biete, erwidert er, dass für ein Dritten sicher auch noch Platz 7 8 9 10 11
Ebenda, I, 1. WA I, 20, S. 8. Ebenda, I, 1. WA I, 20, S. 10. Ebenda, I, 2. WA I, 20, S. 16. Ebenda, I, 1 und I, 2. WA I, 20, S. 3ff. Ebenda, I, 1. WA I, 20, S. 5.
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sei. Dasselbe gelte für einen Vierten, so ergänzt Charlotte, um ihrerseits eine mögliche Dazwischenkunft zu benennen und gleichzeitig den Grad möglicher, komplizierter Verwicklungen anzudeuten. Und diese Dazwischenkunft geschieht in der Tat; und zwar mit Einfluss auf die Geschlechterbeziehungen: Es handelt sich hierbei nicht nur um die vier Protagonisten, sondern alle auftretenden Personen gewinnen auf ihre Art Einfluss auf die bestehenden Geschlechterbeziehungen, indem sie diese Ordnungen entweder bestätigen, aus ihrer Perspektive beschreiben oder herausfordern. So haben etwa Mittler, Charlottes Tochter Luciane, der Architekt, Nanni, der Gehilfe, die Baronesse und der Graf, der Engländer und insbesondere das Kind Otto ihren unterschiedlichen Anteil an der Ausgestaltung der Geschlechterbeziehungen zwischen den vier Protagonisten, weil sie ihnen allein durch ihre Präsenz schon neue Impulse geben. Zwei kurze Beispiele seien genannt: Es ist das Kind Otto, das zunächst dafür sorgt, dass sich zwischen Charlotte und Ottilie eine neue Beziehung etablieren kann und sie gar späterhin als »Freundinnen«12 bezeichnet werden, auch wenn beide Frauen in dem Kind unterschiedliche Ähnlichkeiten erkennen und es jeweils für sich beanspruchen. Dies ändert wiederum nichts daran, dass beispielsweise der Engländer aus seiner Außenperspektive nicht nur ihre Unterschiedlichkeit deutlich benennt, sondern sie zugleich zu Eduard in Beziehung stellt. Charlotte, so heißt es dann, habe hier ein eher allgemeines Interesse, während Ottilie vorzugsweise die Plätze aufsuche, an denen Eduard gern verweilte und zu denen er öfter zurückkehrte. Gleichwohl kann hier am Ende doch noch Gemeinsames entstehen, wie Charlottes Erwägungen beweisen, als sie mit Ottilie und Otto zur Mooshütte hinaufsteigt, dort das Kind auf den Tisch wie auf einen Altar legt und in ihr angesichts der zwei freien Stühle neue Hoffnung für sich selbst und für Ottilie im Herzen aufsteigt.13 Es ist zugleich aber auch der Tod des Kindes, der Ottilie dazu bringt, eigene Schritte zur Selbstbestimmtheit zu unternehmen, indem sie sich quasi als Gesetz auferlegt, Eduard zu entsagen. Die Folge ist, dass sie sich bei dessen Rückkehr ihrer Anorexie hingibt – und als Überhöhung dessen zur Heiligen mit entsprechenden Kräften stilisiert wird, die es gar vermögen, Nanni im Grunde von den Toten wieder aufzuerwecken. Zumindest nahmen das all jene an, die fortan zum Sarg mit dem Glasdeckel pilgerten, um dort ebenfalls Heilung zu erfahren. Auch Mittler greift in die bestehenden Geschlechterbeziehungen ein, indem er beispielsweise seine Auffassungen zur Ehe mit Nachdruck und – in den Worten Ursula Wertheims – als »schlechte Autorität in Sachen Ehe und als Kontrastfigur«14 zu Eduard weiterträgt und dabei als Vertreter von so etwas wie einer öffentlichen Meinung um 1800 zu sehen ist. Darüber hinaus
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Vgl. ebenda, II, 7. WA I, 20, S. 277; II, 10. WA I, 20, S. 319. Ebenda, II, 10. WA I, 20, S. 312. Vgl. Ursula Wertheim, »Ich bin aus meiner Bahn geschritten«. Liebe und Emanzipation in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Studien. Berlin 1990, S. 143–155, hier S. 146.
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zeigt diese starke, weil in ihrer Auffassung eindeutige Gegenfigur auch gerade dann Präsenz, wenn es gilt, die Frage nach der Scheidung zu klären bzw. diese grundsätzlich aufzuschieben. Seit dem ersten Kapitel ist die Bühne für alle Verwicklungen also bereitet, das Spiel der Geschlechter kann beginnen. Der Roman wird zu einem Geschlechterroman, weil unterschiedliche Konstellationen zwischen den Geschlechtern gefunden und wieder verworfen werden, weil Allianzen wechseln und weil sowohl die beteiligten Männer als auch die Frauen sich innerhalb dieser alten und neuen Beziehungen permanent ihrer selbst vergewissern und damit nicht davon auszugehen scheinen, dass es Geschlechterbeziehungen jenseits von Dynamik und Flexibilität geben kann. Ottilie leistet diese Selbstvergewisserung in Form von Tagebucheinträgen, Eduard sucht ebenso wie Charlotte oder der Hauptmann das Gespräch, Arbeiten im Garten werden ausgeführt und zu anderen Personen in Beziehung gesetzt, Briefe werden ausgetauscht. Immer wieder treten einzelne Personen wie Mittler oder der Gehilfe auf, um grundsätzlich auf das Verhältnis zwischen Männern und Frauen einzugehen, auf diese Weise die Anfangserwägungen von Eduard und Charlotte zu übernehmen und so das Thema dauerhaft präsent zu halten. Diese Einlassungen zu Geschlechterbeziehungen an sich wandeln sich mithin in dem Maße, in dem Charlotte und Ottilie zusammenrücken und die Beziehung zwischen den beiden Frauen gegenüber Eduard verstärkt wird. An dieser Stelle tritt der Gehilfe auf. Das Gespräch mit ihm wird eingeleitet durch die Setzung des Erzählers, dass es eigentlich die Frauen seien, die gegenüber den Männern das Regiment ausübten: Das weibliche Geschlecht hegt ein eigenes, inneres unwandelbares Interesse, von dem sie nichts in der Welt abtrünnig macht; im äußern geselligen Verhältniß hingegen lassen sie sich gern und leicht durch den Mann bestimmen der sich eben beschäftigt, und so durch Abweisen wie durch Empfänglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit führen sie eigentlich das Regiment, dem sich in der gesitteten Welt kein Mann zu entziehen wagt.15
Damit wird der Unterschied zu Eduards und Charlottes anfänglichen Erwägungen deutlich. Hier lag das Regiment letztlich bei Eduard, der sich mit seinem Wunsch durchsetzte, den Hauptmann ins Haus zu holen, während Charlotte als nachdenklicher, liebevoller und weniger eigensinnig charakterisiert wird. Nachdem diese Voraussetzungen benannt sind, beschreibt der Gehilfe Unterschiede zwischen Männern und Frauen, während Charlotte ganz im Sinne der neuen, aber ebenso kurzen Allianz mit Ottilie betont, dass Frauen zusammenhalten müssten – und dies durchaus auch gegen die Männer, damit ihnen nicht allzu große Vorzüge den Frauen gegenüber eingeräumt würden. Gleichwohl sollte diese Allianz nicht von Dauer sein, was sich bereits darin ankündigt, dass nach dieser Forderung nach Zusammenhalt die Erzählung zum Grafen und der Baronesse wechselt, die gleichermaßen Charlotte drängen,
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 7. WA I, 20, S. 277.
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Ottilie zu entfernen, um wieder mit Eduard zusammenzukommen. Auch eine Ehe zwischen Ottilie und dem Gehilfen wird an dieser Stelle ins Auge gefasst.
III. Diese kurzen Beispiele zeigen, wie virulent das Thema Geschlechterbeziehungen in den Wahlverwandtschaften ist und in welch unterschiedlichen Konstellationen sie auftreten, so dass durch ihre Dynamik die Handlung im Roman vorangetrieben wird und die Fragen der Wahlverwandten geschärft werden, die es vor dem Hintergrund der Geschlechterbeziehungen zu verhandeln gilt. Dabei setzen sich die Protagonisten inhaltlich durch Diskussionen, aber auch durch unkommentierte Taten mit einem Thema auseinander, das ihr jeweiliges, geschlechtlich konnotiertes Selbstverständnis unmittelbar betrifft, sich also insofern geradezu anbietet, um die Protagonisten zu Experimenten zu bewegen: Eingebettet in unterschiedliche Verhältnisse von Freundschaft, Bekanntschaft, Familie und Generationen ist die Ehe das durchgängige Thema des Romans. Dabei geht es jedoch nicht allein um den doppelten Ehebruch, der den Höhepunkt der Verwicklungen und Leidenschaften darstellt, sondern es geht auch um Fragen, die in der Umbruchszeit um 1800 von Bedeutung waren: 1. Konnte und sollte die Ehe in der Zeit, die von Auflösungserscheinungen geprägt war, noch ihren strukturierenden und stabilisierenden Zweck erfüllen, oder kollidierte dies mit einer wachsenden Selbstbestimmtheit und Individualisierung von Männern und Frauen? 2. Wie sollte vor diesem Hintergrund insbesondere die adelige Gesellschaft mit der Herausforderung umgehen, dass es auch in Weimar zu einer wachsenden Zahl von Scheidungen kam? 3. Welche Schlüsse lassen sich für die Selbstbestimmtheit der Geschlechter ziehen? Auch wenn in den Wahlverwandtschaften der Ehebruch nicht physischer und somit konkreter Natur ist, so bietet er doch zusammen mit weiteren Diskussionsbeiträgen unterschiedlicher Romanfiguren die Möglichkeit, die Institution Ehe aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, die verschiedenen Argumente also zusammenzutragen, die ihre Aufgaben, aber auch ihre Grenzen betonen. Ganz im Sinne einer künstlerischen Überhöhung muss es dazu nicht bis zur letzten Instanz, also bis zum physisch vollzogenen Ehebruch kommen. Hier reicht bereits die Andeutung im Sinne eines imaginären Ehebruchs, der sich ähnlich belastend auf die Protagonisten auswirkt und die Wahlverwandtschaft nachhaltig gestaltet. Der Ehebruch ist eingebettet in unterschiedliche Erwägungen zur Ehe, die einen Pol in der Eheskepsis des Grafen haben. Dieser spricht sich beispielsweise gegen die Unauflöslichkeit der Ehe aus, sofern einer oder beide Ehepartner sich nicht schon zum dritten Mal verheiraten. Und auch die ersten Ehen von Charlotte und Eduard, so fährt er weiter fort, seien doch von einer »verhaßten Art« gewesen und hätten geradezu etwas »Tölpelhaftes«, da sie an der »plum-
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pen Sicherheit« orientiert gewesen seien.16 Es sei in ihren ersten beiden Ehen immer nur darum gegangen, einen wohlhabenden und älteren Ehepartner zu heiraten, um so finanziell abgesichert zu sein, obwohl Charlotte und Eduard schon zu diesem Zeitpunkt hätten zusammenkommen können. Dies sei jedoch darum nicht geschehen, weil weder Eduard beharrlich geworben noch Charlotte das »Umhersehen«, das Schauen nach anderen Männern aufgegeben habe.17 Hier präzisiert sich die Eheskepsis als ausgeprägte Zurückhaltung gegenüber der Versorgungsehe. Seinen Gegenspieler findet der Graf im Mittler, der ebenfalls großen Einfluss auf die Geschlechterbeziehungen der vier Protagonisten nimmt, was sich in der Auseinandersetzung um die Ehescheidung noch zeigen wird. Uneindeutiger ist in diesem Fall Charlotte, die einerseits in die Scheidung von Eduard einwilligt, andererseits ein ausgeprägtes Interesse daran hat, Ottilie in eine Versorgungsehe zu geben, die somit weiterhin als soziale Notwendigkeit für die Frau im Roman aufscheint. Als Ehemann kämen sowohl Eduard als auch der Gehilfe der Pensionsvorsteherin in Frage, dem sie Ottilie in einem Gespräch offensiv anbietet. Aus dem selbstgewählten Zwang seiner Ehe auszubrechen, gedenkt allein Eduard, der sich dabei in erster Linie von eigenen Bedürftigkeiten leiten lässt. So versammelt der Roman zahlreiche Einschätzungen, die die unterschiedlichen Konfliktlagen innerhalb einer Ehe problematisieren. Darin wird deutlich, dass der Wunsch zwar weiter besteht, Ehe als Versorgungsinstanz zu verstehen und zu leben. Dies erschien aber nicht mehr zwingend als zeitgemäß angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche um 1800, die eine wachsende Anzahl von Frauen hervorbrachten, die sich durch Schriftstellerei, als Lehrerinnen oder mit anderen Beschäftigungen selbst zu finanzieren lernten und einen solchen Weg auch als Ausdruck eines selbstbestimmten Lebens verstanden.18 Vor diesem Hintergrund erscheinen gerade die Scheidungen als Ausdruck einer Destabilisierung überkommener Werte – und es ist nur konsequent, dass auch sie im Roman verhandelt und ebenso wie die Ehe aus unterschiedlichen Positionen beleuchtet werden. Die Scheidung galt es in letzter Instanz aber zu vermeiden, Geschlechterbeziehungen sollten verbindlich gehalten werden, um so für die Stabilität der Gesellschaft zu sorgen. Diese Auffassung vertritt zumindest Mittler, der bereits im Ersten Teil des Buches angesichts der Baronesse und des Grafen ein flammendes Plädoyer für die Ehe und damit gegen Ehebruch und Scheidung hält: Wer mir den Ehstand angreift, rief er aus, wer mir durch Wort, ja durch That diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu thun. [...] Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. [...] Unauflöslich muß sie sein:
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Ebenda, I, 10. WA I, 20, S. 117. Ebenda, S. 116. Vgl. hierzu die einzelnen Biografien in: Freyer / Horn / Grochowina (Hrsg.), FrauenGestalten (Anm. 2).
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denn sie bringt so vieles Glück, daß alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist.19
Die Ehe, einmal geschlossen, sollte unauflöslich sein. Insofern versteht es auch Mittler als seine Aufgabe, die mögliche Scheidung zwischen Eduard und Charlotte mit aller Macht zu verhindern, hier also den letzten Schutz der Sittengesetze aufrechtzuerhalten. Dabei geht er davon aus, dass eine Ehe auch manchmal unbequem sei; dennoch könne man diese ebensowenig ›ablegen‹ wie das Gewissen. Ehe und Gewissen eines Menschen stehen für ihn auf einer Stufe, und in beiden Fällen sei der Mensch zu hohen Leiden und ebensolchen Freuden fähig, so dass es für eine Trennung keinen hinlänglichen Grund gebe.20 Dies ist ein eindrückliches Plädoyer, das durch das Wirken Mittlers im letzten Kapitel des Romans noch unterstützt und um seine Einschätzungen des Ehebruchs erweitert wird. Zu diesem Zeitpunkt hatte Charlotte sich allerdings schon entschlossen, in die Scheidung einzuwilligen, doch waren in diese Richtung noch keine Schritte unternommen worden, weil Eduard zurückgekehrt, der Sohn Otto ertrunken und Ottilie sprachlos geworden war. Gerade diese Sprachlosigkeit nimmt Mittler zum Anlass, um erneut die Unauflöslichkeit der Ehe zu betonen und den Ehebruch mit Verweis auf den Dekalog abzulehnen. Nun ist Mittler in seiner Eindeutigkeit ein besonderer Dritter, der in bestehende Geschlechterbeziehungen eindringt und sie in seinem Sinne zu gestalten sucht. So eindeutig jedoch propagieren die anderen Figuren im Roman die Unauflöslichkeit der Ehe nicht. Während Eduard aus dem selbstgewählten Zwang auszubrechen sucht, entscheidet sich schließlich auch Charlotte, wenn auch unter Bedrängnis, der Scheidung zuzustimmen und Eduard für eine Beziehung mit Ottilie freizugeben. Unterstützung gegen die Scheidung gibt es überraschenderweise von Ottilie, obwohl sich die Aussagen des Mittlers gerade gegen sie richten – und sie genau zu dem Zeitpunkt ins Zimmer tritt, als er den Ehebruch verteufelt. Doch offensichtlich bietet das Thema Scheidung bzw. Ehe so viel Konfliktstoff, dass auch die einstigen Gegenspieler, nämlich Mittler und Ottilie, kurzfristig eine Allianz schließen. Dem Konflikt wird ein gewisses Maß an Tragik eingeschrieben, die schlussendlich im Tod Ottilies ihren Ausdruck findet. Zuvor jedoch setzt Ottilie der Einschätzung Eduards »Ottilie ist mein«21 ihren Entschluss entgegen, alles dafür zu tun, dass Charlotte und Eduard wieder zusammenkommen. Dies liegt im Tod des Kindes begründet und in der Schuld, die Ottilie deswegen empfindet. »Ich bin aus meiner Bahn geschritten und ich soll nicht wieder hinein«,22 so urteilt Ottilie schließlich über ihr Tun und ihre Situation. Rein sei ihr Vorsatz gewesen, Eduard zu entsagen, schlimm sei es gewesen, ihm dann gegenüberzustehen – und so habe sie sich entschieden, sich ein strenges Ordensgelübde aufzuerlegen und sich auf keine Unterredung einzulassen, um ihr Vorhaben nicht zu gefährden, Charlotte
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 9. WA I, 20, S. 107. Ebenda. Ebenda, II, 12. WA I, 20, S. 345. Ebenda, II, 17. WA I, 20, S. 394.
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und Eduard nicht mehr im Weg zu stehen. Damit macht sie eine Lösung der verwickelten Situation – in den Worten von Ursula Wertheim: »eine wirkliche Lebenschance«23 – der vier Protagonisten unmöglich. Zunächst jedoch scheint gerade hierin paradoxerweise die Lösung zu liegen, doch sei es nur ein »Scheinbild des vorigen Lebens«, das sich fortan im häuslichen Zirkel zeigte. Gleichwohl fügt der Erzähler an dieser Stelle an, dass »der Wahn, als ob noch alles bei’m Alten sei«,24 im höchsten Maße verzeihlich sei. An dieser Stelle wäre allein zu mutmaßen, woher dieses ausgeprägte Interesse kommt, die Institution Ehe so explizit zu problematisieren25 und in demselben Atemzug Ehebruch und insbesondere die Scheidung zu thematisieren. Selbstredend geht es hierbei darum, die Konfliktstrukturen ebenso deutlich zu machen wie das Ringen der einzelnen Personen mit ihren Vorstellungen von einer mehr oder weniger freien Übereinkunft zweier Partner und der Ausgestaltung der Ehe. Doch vor welchem Hintergrund geschieht dies in dieser ausführlichen Form? Hier ließe sich etwa Goethes Eheschließung anführen, die 1806 endlich, so mag mancher in Weimar gedacht haben, erfolgte. Hier kollidierten offenbar individuelle Anschauungen Goethes mit den Vorstellungen seiner Zeitgenossen, die sein Leben in ›wilder Ehe‹ über viele Jahre beobachteten und nicht immer guthießen. Doch jenseits der Biografie Goethes entwickelten sich Scheidungen um 1800 zu einem wichtigen Thema in Sachsen-Weimar. Hier ist eine wachsende Anzahl von Scheidungen und Trennungen zu beobachten, die durchaus als gesellschaftlich relevant wahrgenommen wurden und wohl zumindest vom Ansatz her ähnlich konfliktbeladen waren, wie sie im Roman überspitzt dargestellt werden. Wohlgemerkt, die Schriftstellerin Sophie Mereau,26 die sich 1801 vom Jenaer Rechtsprofessor Friedrich Ernst Carl Mereau scheiden ließ und deren Scheidungskommission Johann Gottfried von Herder vorsaß, war keineswegs die erste und die einzige Frau, die dies tat. Gerade in Jena lassen sich noch weitere Beispiele exponierter Persönlichkeiten finden.27 Allerdings gibt es noch keine umfassenden Untersuchungen zum Scheidungswesen in Sachsen-Weimar. Insofern seien hier zwei Aspekte angeführt, die zum einen solche Forschungen sinnvoll erscheinen lassen, zum anderen auch erklären mögen, warum Goethe dieses Thema aufgegriffen hat: Bereits zwischen 1785 und 1800 wurden am Jenaer Schöppenstuhl28 insgesamt 62 Scheidungsklagen zivilrechtlich verhandelt, in denen es darum ging, das Eigentum nach erfolgter Scheidung auf die ehemaligen Ehepartner zu verteilen. Ein Großteil dieser Klagen und Konflikte stammten aus Sachsen-Weimar, 23 24 25 26 27 28
Vgl. Wertheim, »Ich bin aus meiner Bahn geschritten« (Anm. 14), S. 153. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 17. WA I, 20, S. 397. Vgl. auch Bettina Recker, »Ewige Dauer« oder »Ewiges Einerlei«: die Geschichte der Ehe im Roman um 1800. Würzburg 2000. Vgl. auch Katharina von Hammerstein / Katrin Horn (Hrsg.), Sophie Mereau: Verbindungslinien in Zeit und Raum. Heidelberg 2008. Vgl. Freyer / Horn / Grochowina, Frauengestalten (Anm. 2). Vgl. auch Nicole Grochowina, Das Eigentum der Frauen. Konflikte vor dem Jenaer Schöppenstuhl im ausgehenden 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2009.
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dem engen Einzugsgebiet des Schöppenstuhls. In fast jedem Monat hatten die Schöppen über entsprechende Klagen zu verhandeln, und es kann angenommen werden, dass sich diese Tendenz auch im frühen 19. Jahrhundert fortsetzte. Dies wird auch den Herrschaftsträgern nicht verborgen geblieben sein, deren Aufgabe schließlich auch darin bestand, die Gutachten der Schöppen zu kontrollieren und gegebenenfalls Nachbesserungen einzufordern. Insofern ist zumindest als Hypothese anzunehmen, dass die wachsende Zahl der Scheidungen von ihnen als Problem wahrgenommen wurde. Konkreter auf die Lebenswelt in Weimar bezogen ist festzuhalten, dass auch dort um 1800 Ehen geschieden und in den Weimarer Geselligkeitskreisen diskutiert und bewertet wurden. Dies war auch schon vor 1800 der Fall, wie die nachhaltig erinnerte Geschichte von Emilie von Einsiedel zeigt, die vielfach Anlass zum Gespräch bot.29 Diese hatte sich 1787 vom Weimarer Kammerherrn und Stallmeister Baron Christian Ferdinand Georg Freiherr von Werthern scheiden lassen, um bereits ein Jahr später den Bergrat Johann August von Einsiedel zu heiraten. Zuvor jedoch – und das macht einen nicht unwesentlichen Teil der Brisanz aus – hatte sie im Jahr 1785, also noch während bestehender Ehe, ihren eigenen Tod inszeniert, um Johann August von Einsiedel auf einer längeren Afrikaexpedition begleiten zu können. Dies wurde jedoch in Weimar noch während ihres Aufenthaltes in Afrika bekannt, so dass ihr prompt die gesellschaftliche Zurückweisung etwa durch Sophie von Schardt und die höfischen Kreise um Charlotte von Stein gewiss war. Eine Rückkehr nach Weimar war dementsprechend undenkbar, die Scheidung erfolgte, und das neue Paar ließ sich schließlich 1798 in Jena nieder, nachdem es zuvor einige Zeit in Leitzkau verbracht hatte. Ein weiteres Beispiel: In dem Jahr, in dem Goethe seine Wahlverwandtschaften veröffentlichte, ließ sich die Schriftstellerin Amalie von Voigt vom Regierungsrat Christian Gottlob von Voigt scheiden, der seit 1795 als Beamter am Weimarer Hof tätig und 1806 zum Geheimen Regierungsrat aufgestiegen war. Das Paar hatte 1798 geheiratet, doch schon 1804 hatte Amalie von Voigt über eine Trennung nachgedacht, die 1809 schließlich erfolgte.30 Scheidung war also weder in Weimar noch in Jena ein unbekanntes Thema, im Gegenteil – und es wird Goethe kaum möglich gewesen sein, diese Entwicklungen zu ignorieren. Wenn der Ehe aber nicht mehr die strukturierende und gesellschaftsstabilisierende Kraft zugesprochen werden konnte, die Selbstbestimmtheit der Geschlechter also in den Mittelpunkt rückte, dann bestand – zumindest in den Worten des Mittlers aus den Wahlverwandtschaften – Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung, der unbedingt entgegengewirkt werden musste; zumindest aber führte dies zu weitreichenden Konflikten und forderte das Selbstverständnis aller Beteiligten heraus. Gleichwohl ist festzuhalten, dass diese Form der Selbstbestimmtheit im Roman durchaus überspitzt 29
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Vgl. den Eintrag ›Einsiedel, Amalia (Emilie) von, geb. von Münchhausen, gesch. von Werthern-Frohndorf (1757–1844)‹. In: Freyer / Horn / Grochowina, FrauenGestalten (Anm. 2), S. 119–122. Vgl. den Eintrag ›Voigt, Amalie von, geb. Ludecus (1778–1840)‹. Ebenda, S. 357–362.
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dargestellt und auf diese Weise gar mit einem Determinismus unterlegt wird, mit dem alle Protagonisten bis auf Eduard erfolgreich zu ringen scheinen. Dieser – so betont es der Erzähler – werde auch in der Situation, in der es zur scheinbaren Entspannung zwischen den Protagonisten kommt, immer noch von seiner Neigung beherrscht.31 Dabei sehe er die Vernunft, den Wert und die Liebe seiner Gattin, sei aber gleichzeitig von einem »wahnsinnigen Unmuth«32 ergriffen und dringe darauf, dass sie dem Major die Ehe verspreche. Auch dies tut Charlotte, allerdings unter dem Vorbehalt, dass sie diese nur eingehen wolle, wenn Eduard Ottilie auch tatsächlich ehelichen würde. Dazu kommt es jedoch nicht mehr, weil sich Ottilie längst ihrer Anorexie ergeben hat und überdies an ihrem selbstauferlegten Versprechen festhält, das Gespräch mit Eduard zu meiden, um ihn schlussendlich wieder Charlotte zuzuführen.
IV. Was ist also am Schluss zur Trias Wahlverwandtschaften, Geschlechterbeziehungen und »Dazwischenkunft eines Dritten« festzuhalten? Wesentlich erscheint, dass bereits der Titel des Romans auf das ständige Spiel zwischen magnetischen Polen, zwischen Anziehen und Abstoßen verweist. Hierbei gibt es keinen Ruhezustand, weil grundsätzlich Reaktionen erfolgen müssen, wenn sich Umstände und Personenkonstellationen ändern. Und so ist der gesamte Roman von dieser Ruhelosigkeit geprägt, vereinzelte Lösungen wie etwa nach der Auseinandersetzung zwischen Charlotte und Eduard, ob der Hauptmann und/oder Ottilie aufgenommen werden sollten, sind von kurzer Dauer und verschärfen sogar bestehende Konflikte, weil die Motive, diesen Lösungen zuzustimmen, zu unterschiedlich sind. Und genau um dieses Spiel innerhalb dynamischer Geschlechterbeziehungen und die darin enthaltenen Konflikte geht es in dem Roman. In dem Moment, in dem diese Konflikte in und durch Geschlechterbeziehungen auf unterschiedlichen Feldern ausgetragen werden, gewinnen sie eine verschärfte individuelle Dimension und befriedigen auf diese Weise wohl auch das identifikatorische Interesse der Rezipienten. Ungeachtet aller Leidenschaften, die ein eigenes Regiment zu betreiben scheinen, ungeachtet der Neigung, der sich gerade Eduard ergibt, sind aber nicht alle Protagonisten allein Getriebene ihrer Gefühle. Ihr Selbstverständnis wird klar benannt, und auf der Grundlage dessen gestalten sie die jeweiligen Geschlechterbeziehungen aus. Die Entscheidung Charlottes, in die Scheidung einzuwilligen, erscheint vor dem Hintergrund von Eduards Wahn als geradezu vernunftgeleitet, wenn auch nicht im Sinne des Mittlers. Und auch Ottilies Versuch, die Schuld am Tod des Kindes abzutragen, indem sie der Liebe zu Eduard entsagt, ist der Versuch, mit der Ratio die Emotionen im Zaum zu halten und zu lenken. Auf diese Weise wird eine traditionelle Sicht auf Geschlechter-
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 17. WA I, 20, S. 392. Ebenda, II, 17. WA I, 20, S. 393.
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verhältnisse deutlich, die zwar um augenblickliche, weil situativ erforderliche Veränderungen weiß, diese auch abbilden kann, aber letztlich scheitern lässt. Am Ende überlebt nämlich die ungeschiedene Charlotte, die – so sie sich an ihr eigenes Versprechen hält – den Major nicht ehelichen wird. Alle jeweils Dritten entfernen sich auf diese Weise aus den unterschiedlichen Geschlechterbeziehungen: Ottilie wird allen Beziehungen entrückt, weil sie den Tod einer Heiligen stirbt, Eduards Tod wird damit zur plumpen Nachahmung, die das Original zu keiner Zeit erreichen kann. Dies erscheint zugleich als Sinnbild seines Lebens und Selbstverständnisses, nachdem er nie etwas Eigenes gehabt hat: Nicht einmal der Name ist sein eigentlicher. Ottilie versucht er, nach eigenem Bekunden, nachzuahmen, und Charlotte nähert er sich in der Situation des Ehebruchs »als der Stellvertreter eines anderen«.33 Es war der Graf, der von der Schönheit Ottilies geschwärmt und sich der Vorstellung hingegeben hatte, ihren Schuh küssen zu dürfen. Nach der Lesart, die Inge Stephan vorstellt, kann aber derjenige, der nichts Eigenes darstellt, »die Geschlechterfolge nicht fortsetzen und ist auf ›Ersatzbefriedigungen‹ angewiesen«.34 Auch der Major muss sich aufgrund von Charlottes Entscheidung zurückziehen, Mittler hat keine Aufgabe mehr, weil die Erhaltung der Ehe nicht mehr zu fordern ist, und das Kind ist ebenfalls gestorben, der lästige Zeuge des Ehebruchs fehlt also. Die Tragik liegt allerdings darin, dass auch an dieser Stelle – ähnlich wie bei der Rückkehr Eduards – nur im Schein der vorige Zustand wiederhergestellt wird, denn durch die Ereignisse haben sich die Geschlechterbeziehungen nachhaltig verändert bzw. sind partiell nicht mehr existent. Alles in allem gilt: Es scheint mir gerechtfertigt, diesen Roman aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive für diese Forschung fruchtbar zu machen und als Geschlechterroman zu verstehen, der sowohl die Geschlechterbeziehungen als auch unterschiedliche Themen im Blick behält, die vor dem Hintergrund dieser Beziehungen verhandelt werden. Gleichwohl ist dies mit Bedacht zu tun. Die Darstellungsform des Romans verdeutlicht, dass es hier um die Überspitzung von Konfliktlagen und – in den Worten Goethes – den »Kampf des Sittlichen mit der Neigung«35 geht, so dass die Geschlechterbeziehungen hier als Mittel zum Zweck der Anschaulichkeit und Tiefe dienen. In einem solchen Sinne von einem Geschlechterroman zu sprechen, ist dann einerseits gerechtfertigt, andererseits ist mehr als klar, dass es sich dabei nur um eine Perspektive in der interdisziplinären Erschließung des Kunstwerkes handeln kann.
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Inge Stephan, »Schatten, die einander gegenüberstehen«. Das Scheitern familialer Genealogien in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Gisela Greve (Hrsg.), Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Tübingen 1999, S. 42–70, hier S. 58. Ebenda. Goethe, Gespräch mit Riemer, 06. bis 10. Dezember 1809. WA V, 2, S. 285f.
Goethe als Gesellschaftskritiker Zur Symbolisierung sozialen Wandels in den Wahlverwandtschaften Marko Kreutzmann
I. Einführung Die folgenden Ausführungen nähern sich der sozialgeschichtlichen Dimension der Wahlverwandtschaften in einem vorsichtigen Versuch. Dabei kann es nicht um eine Generaldeutung, sondern allenfalls um einen Teilaspekt dieses komplexen Werkes gehen. Es wird exemplarisch danach gefragt, in welchem Verhältnis literarisches Schaffen und gesellschaftlicher Wandel im »Ereignisraum« Weimar-Jena um 1800 zueinander gestanden haben.1 Im Gegensatz zu früheren Ansätzen soll Goethes im adeligen Milieu angesiedelter Roman hier jedoch weniger als eine Diagnose zeitgenössischer sozialer Zustände, die in einem unmittelbaren »Antwortverhältnis« zur »historischen Krise des deutschen Adels zwischen der Französischen Revolution und den preußischen Reformen«2 gestanden habe, aufgefasst werden. Die sozialgeschichtliche Relevanz des Romans scheint nämlich weniger darin zu liegen, dass er, wenn auch »keineswegs als platte Abbildung von Gegenwart« missverstanden, dennoch einen »Weltausschnitt« darstellt, der in einem historisch-kritischen Sinn die »Ursachen und Beziehungen des gegenwärtigen Verlaufes der Zeitgeschichte
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Vgl. das Programm des Sonderforschungsbereichs 482: »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. Dazu u.a.: Lothar Ehrlich / Georg Schmidt (Hrsg.), Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext. Köln, Weimar, Wien 2008. Zum Adel in der Literatur vgl. grundlegend: Peter Uwe Hohendahl / Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200–1900. Stuttgart 1979; zum Adel bei Goethe u.a.: Dieter Borchmeyer, Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg/Taunus 1977; Karl-Heinz Hahn, Adel und Bürgertum im Spiegel Goethescher Dichtungen zwischen 1790 und 1810 unter besonderer Berücksichtigung von ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹. In: Goethe-Jahrbuch 95 (1978), S. 150–162; Jürgen Kost, Wilhelm von Humboldt – Weimarer Klassik – bürgerliches Bewusstsein. Kulturelle Entwürfe in Deutschland um 1800. Würzburg 2004, bes. S. 104–111. Hans Rudolf Vaget, Ein reicher Baron. Zum sozialgeschichtlichen Gehalt der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 123–161, hier S. 127.
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erahnbar«3 macht. Vielmehr belegt der Roman offenbar die Bedeutung kultureller Deutungsprozesse für die Konstituierung historischer Wirklichkeit.4 Im Verlauf des Romans wird der grundlegende soziale Umbruch um 1800 durch die Auflösung einer nach einer spezifischen Semantik konstruierten Adelsgesellschaft vorgeführt. Der Adel wird somit zum Symbol der sich wandelnden ständischen Gesellschaftsordnung. Wenn auch eine genuine »Bürgerlichkeit als Antithese«5 nicht explizit formuliert wird, wird damit die Voraussetzung für die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts festigende Deutung des sozialen Wandels als eines bürgerlichen Auf- und adeligen Abstiegsszenarios geschaffen. Obwohl die Fülle der in den Wahlverwandtschaften enthaltenen literarischen Symbole bereits eine breite Ausdeutung erfahren hat,6 ist auf diesen übergeordneten Kontext bislang kaum hingewiesen worden.7 Dabei ist die von Goethe bekundete Absicht, in seinem Roman »soziale Verhältnisse und die Konflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen«,8 in Bezug auf den Symbolbegriff nicht nur von rein »strategischem Wert«.9 Vielmehr verweist sie auf einen ontologischen Deutungsanspruch, der sich auf den zeitgenössischen sozialen Wandel bezieht. Das Symbol ist für Goethe eine Form der Erkenntnis, die aus der »millionfachen Hydra der Empirie«10 eine in bestimmten Gegenständen verkörperte Idee zur Anschauung kommen lässt. Bei diesen Gegenständen handelt es sich nach Goethe um »eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen«.11
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Michael Niedermeier, Das Ende der Idylle: Symbolik, Zeitbezug, ›Gartenrevolution‹ in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Berlin u.a. 1992, S. 11. Vgl. zu neuen kulturgeschichtlichen Ansätzen: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main 42004. Ludwig Fertig, Der Adel im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg, Univ. Diss. 1965 [MS], S. 98. Vgl. Manfred Engel, »Weh denen, die Symbole sehen«? Symbolik und Symboldeutung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Yongu [Goethe-Studien. Jahrbuch der Koreanischen Goethe-Gesellschaft] 7 (1995), S. 231–252. Als Ausnahme, jedoch mit einem anderen Symbolbegriff als dem hier verwandten, vgl. David E. Wellbery, ›Die Wahlverwandtschaften‹ (1809). Desorganisation symbolischer Ordnungen. In: Paul Michael Lützeler / James E. McLeod (Hrsg.), Goethes Erzählwerk: Interpretationen. Nachdruck Stuttgart 1991, S. 291–318; eher auf den mythischen Charakter des Romans rekurriert: Burkhardt Lindner, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Kritik der mythischen Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft. In: Norbert Bolz (Hrsg.), Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 23–44. So Goethe gegenüber seinem Sekretär Riemer nach dessen Tagebuch vom 28.08.1808. MA 9, S. 1215. Robert Stockhammer, Artikel ›Symbol‹. In: Hans-Dietrich Dahnke / Regine Otto (Hrsg.), Goethe-Handbuch, Band 4: Personen, Sachen, Begriffe, Teil 2. Stuttgart, Weimar 1998, S. 1030–1033, hier S. 1032. Goethe im Brief an Schiller, 16./17. August 1797. MA 8.1, S. 390–393, hier S. 393. Ebenda, S. 391; vgl. Barbara Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe. München 1998.
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Bezeichnenderweise galt ihm als ein solcher Gegenstand der Raum seines »großväterlichen Hauses, Hofes und Gartens« in der bedeutenden Handelsstadt Frankfurt am Main. Insofern sich dieser Raum aus dem beschränktesten patriarchalischen Zustande, in welchem ein alter Schultheiß von Frankfurth lebte, durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren und Marktplatz
wandelte, müsse er, »in mehr als Einem Sinne, als Symbol vieler tausend andern Fälle, in dieser gewerbreichen Stadt«, gelten.12 In einem repräsentativen Einzelfall kommt damit nach Goethe die Idee des zeitgenössischen sozialen Wandels zum Ausdruck, als dessen Träger das wirtschaftlich erfolgreiche Bürgertum erscheint. Im Gegensatz dazu geriet der Adel in der wesentlich vom Bürgertum selbst getragenen Deutung des sozialen Umbruchs zum Symbol für die sich auflösende ständische Gesellschaftsordnung.13 Der daraus folgende »Gegensatz zum Adel« förderte maßgeblich die »Konstituierung des Bürgertums als einer überlokalen und überregionalen Einheit«14 und diente dessen Selbstvergewisserung als einer aufstrebenden Sozialgruppe. Den als bürgerlich reklamierten Werten wie Bildung, persönliches Verdienst oder Sittlichkeit wurde ein dekadenter Adel gegenübergestellt, der seine politische und soziale Stellung nur durch den Zufall der Geburt erlangt habe und den ihm zugewiesenen Aufgaben nicht mehr gerecht werde.15 Damit wurde dem Begriff des Adels eine spezifische Semantik zugeschrieben, die ihn geradezu als Gegenentwurf zur neuen bürgerlichen Gesellschaft erscheinen ließ. Diese Zuschreibungen orientierten sich durchaus an empirischen Beobachtungen, verdichteten diese dann aber zu vermeintlich »eminenten« bzw. »symbolischen« Fällen. Goethe betonte 1809 in diesem Sinne mit Bezug auf die Wahlverwandtschaften den grundlegenden Wahrheitsanspruch der Dichtung, sofern diese nicht »übertreibt« und dadurch einen »dauernden tiefen Eindruck« zu hinterlassen verstehe. Das »Benutzen der Erlebnisse« sei für ihn daher vorrangig gegenüber dem »Erfinden aus der Luft« gewesen.16
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Goethe im Brief an Schiller, 16./17. August 1797. MA 8.1, S. 390–393, hier S. 392. Vgl. Dieter Langewiesche, Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika. In: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848. München 1994, S. 11–28; zum Zusammenhang von Literatur und ›Bürgerlichkeit‹ vgl. Hans-Edwin Friedrich / Fotis Jannidis / Marianne Willems, Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006. Lothar Gall, Adel, Verein und städtisches Bürgertum. In: Fehrenbach (Hrsg.), Adel (Anm. 13), S. 29–43, hier S. 29f.; vgl. auch: Werner Conze / Christian Meier, ›Adel, Aristokratie‹. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1. Stuttgart 1972, S. 1–48. Vgl. Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel: Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000; Ewald Frie, Adel und bürgerliche Werte. In: Hans-Werner Hahn / Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 393–414. Goethe im Gespräch mit einem Unbekannten (1809), zitiert nach: Ursula Ritzenhoff (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 22004, S. 130.
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Goethe leistete somit nicht nur durch seinen symbolischen Erkenntnisbegriff einen entscheidenden Beitrag zur Konzeption von Geschichte als einem prozesshaften, in die Zukunft weisenden Geschehen.17 Vielmehr trugen die Wahlverwandtschaften selbst auch zur Deutung dieses Geschichtsverlaufes bei. Dabei ist die im Roman enthaltene politische Symbolik bereits nachdrücklich belegt worden.18 Darüber hinaus erscheint es im Kontext jüngerer Ansätze in der sozialhistorischen Forschung, welche die Geschichte des Adels in der Moderne als erfolgreiche Konservierung von Gruppenkohäsion mittels ausgeprägter Binnenkommunikation beschreiben,19 wichtig, auch nach den von außen herangetragenen Zuschreibungen zu fragen. Daher wird im Folgenden die Situation des Adels um 1800 knapp skizziert, bevor auf die Symbolisierung historischen Wandels in den Wahlverwandtschaften durch die Konstruktion einer spezifischen Semantik des Adels näher eingegangen wird.
II. Der Adel im Umbruch um 1800 Die Zeit, in der Johann Wolfgang von Goethe seinen Roman Die Wahlverwandtschaften konzipierte und niederschrieb, war eine Zeit tiefer politischer und sozialer Umbrüche. Die aus dem Geist der Aufklärung erwachsene Französische Revolution von 1789 hatte die absolutistische Monarchie in Frankreich gestürzt und die durch Ungleichheit geprägte ständische Gesellschaftsordnung in eine nivellierte bürgerliche Gesellschaft umzuwandeln begonnen.20 Unter dem Ansturm der Armeen des revolutionären und später des napoleonischen Frankreich begann das durch den wachsenden preußisch-österreichischen Dualismus bereits geschwächte Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu wanken. Im Sommer 1806 schlossen sich auf Druck Napoleons sechzehn Reichsstände zum Rheinbund zusammen. Kurz darauf legte Franz II. die Krone des Alten Reiches nieder und entband sämtliche Reichsstände von ihren Verfassungspflichten. Am 14. Oktober 1806 wurde mit der Niederlage Preußens und seiner Verbündeten gegen die Truppen Napoleons in der Schlacht bei Jena und Auerstedt das letzte Bollwerk des Ancien Régime in Deutschland beseitigt.21 Was folgte, waren grundlegende Reformen in den territorial umgestalteten oder 17
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Vgl. Daniel Fulda, Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ›Geschichte‹. Zur Genese einer symbolischen Form. In: Ders. / Silvia Serena Tschopp (Hrsg.), Literatur und Geschichte: Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2002, S. 299–320. Vgl. Nils Reschke, »Zeit der Umwendung«. Lektüren der Revolution in Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«. Freiburg im Breisgau 2006. Vgl. Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne: Sächsischer Adel 1763 bis 1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation. Stuttgart 2006. Vgl. als Überblick in europäischer Perspektive: Eberhard Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 1776–1847. Frankfurt am Main u.a. 21981; Hagen Schulze, Phoenix Europa: Die Moderne. Von 1740 bis heute. Berlin 1998. Vgl. Andreas Klinger / Hans-Werner Hahn / Georg Schmidt (Hrsg.), Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen. Weimar, Köln 2008.
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gar völlig neu erschaffenen Staaten des Rheinbundes sowie im außerhalb des Rheinbundes verbleibenden Preußen. Die Reformen in den Bereichen Verwaltung, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft konnten zwar an Ansätze aus der Zeit des Reformabsolutismus anknüpfen, entwickelten aber unter den neuen politischen Voraussetzungen eine entschiedenere Dynamik.22 Obwohl die jüngere Forschung die relative Beharrungskraft überkommener politischer und sozialer Strukturen über die genannten Zäsuren hinweg herausgearbeitet hat, so ist doch auf der anderen Seite das veränderte Zeitbewusstsein der in dieser Epoche des Wandels Lebenden nicht zu übersehen. Das Ende des Alten Reiches etwa wurde nicht, wie lange behauptet, mit ungerührter Gleichgültigkeit hingenommen, sondern bildete im Bewusstsein vieler Zeitgenossen, wie Wolfgang Burgdorf jüngst nachweisen konnte, eine tiefe politische Zäsur.23 Der beständige Wandel wurde als Signum der Epoche ausgemacht. In diesem Kontext wurde in den zeitgenössischen Reformdiskursen der »Geist der Zeit« zu einem viel zitierten Topos, der nicht nur grundlegende Veränderungen durch eine im Verborgenen wirkende Macht legitimieren sollte, sondern eben auch das Bewusstsein einer stets im Fluss befindlichen Zeit zum Ausdruck brachte.24 Auch das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, der primäre Lebensund Schaffensort Goethes, wurde von dieser Entwicklung erfasst. Während es von außen betrachtet aufgrund der unveränderten territorialen Situation dieses Kleinstaates so scheinen konnte, als würde das Land von einschneidenden Reformen verschont bleiben, waren im Innern bereits Reformdiskussionen im Gang, die auf eine grundlegende politische und soziale Neugestaltung zielten.25 Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften entstand also in einer Zeit der Beschleunigung und des Umbruchs.26 Die Sensibilität für den besonderen Charakter der eigenen Epoche kommt im gesamten Roman zum Ausdruck. So beklagt sich eine der Hauptpersonen, der Baron Eduard, in Anspielung auf den Fortschritt naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in seiner Zeit, darüber, dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.27
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Vgl. Hans-Peter Ullmann / Clemens Zimmermann (Hrsg.), Restaurationssystem und Reformpolitik. Süddeutschland und Preußen im Vergleich. München 1996. Vgl. Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt: Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806. München 2006. Vgl. Jörn Leonhard, Krise und Wandel. 1806 als europäischer Erfahrungsbruch. In: Konrad Breitenborn / Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Jena und Auerstedt. Ereignis und Erinnerung in europäischer, nationaler und regionaler Perspektive. Dößel 2006, S. 79–106. Vgl. Gerhard Müller, Das Jahr 1806 als Beginn der Reformpolitik in Sachsen-WeimarEisenach. In: Gerd Fesser / Reinhard Jonscher (Hrsg.), Umbruch im Schatten Napoleons. Die Schlachten bei Jena und Auerstedt und ihre Folgen. Jena 1998, S. 157–162. Vgl. auch den Beitrag von Elisabeth von Thadden in diesem Band. Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 4. MA 9, S. 314.
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Konkret fassbar wird der zeitgenössische Wandel nicht nur im wissenschaftlichen Fortschritt, sondern auch in der Auflösung und Umgestaltung bestehender sozialer Strukturen, wobei innerhalb der Wahlverwandtschaften dem Adel eine zentrale Rolle zukommt. Eine andere Hauptperson des Romans, Charlotte, stellt in der zentralen Gleichnisrede zu den chemischen Wahlverwandtschaften den Bezug zur gesellschaftlichen Ebene her: Sie meint, die sich wechselseitig abstoßenden und anziehenden chemischen Elemente ähnelten nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch jenen »Massen, die in der Welt sich einander gegenüber stellen«, nämlich »die Stände, die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Zivilist«.28 In der Tat gehören alle Hauptpersonen des Romans dem niederen Adel an. Diese soziale Zuschreibung wird dem Leser gleich zu Beginn klar vor Augen geführt. Eduard wird als ein »reicher Baron«29 vorgestellt, der sich auf seinem Landgut der Pflege seiner Obstplantagen widmet. Auch die weiteren Personen, Eduards Frau Charlotte, der Hauptmann sowie Charlottes Nichte Ottilie zählen wohl zweifellos zum Adel.30 Damit ist die Handlung innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe verortet, an deren Beispiel der zeitgenössische Umbruch besonders sinnfällig erscheint. Der Adel, im Europa des Ancien Régime noch unangefochtener Herrschaftsstand, sah seine tradierte soziale Stellung grundsätzlich in Frage gestellt.31 Das revolutionäre Frankreich ging zunächst am weitesten voran, indem es im Juni 1790 den Adel als Stand ganz abschaffte. Diese einschneidende Maßnahme betraf bald auch den Adel in den linksrheinischen Gebieten des Alten Reiches, die an Frankreich angegliedert wurden. Im verbleibenden Reichsgebiet wiederum fanden sich zahlreiche regierende Hochadelsfamilien durch Mediatisierung ihrer Territorien als sogenannte »Standesherren« unter der Herrschaft ehemaliger Standesgenossen wieder. Nur mit vieler Mühe und nach zähem Ringen gelang es ihnen, wenigstens einige
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Ebenda, S. 315f. Vgl. ebenda, I, 1. MA 9, S. 286. Allerdings wird nur Eduard explizit mit seinem Adelstitel (»Baron«) genannt. Die Zugehörigkeit der übrigen drei Hauptpersonen zum Adel erscheint jedoch plausibel: Charlotte übte mit ihrer einstigen Tätigkeit als Hofdame eine allein dem Geburtsadel vorbehaltene Funktion aus. Zudem lässt ihre Heirat mit Eduard, der selbst »mit Bürgern und Bauern nichts zu tun« (ebenda, I, 6. MA 9, S. 329) haben wollte, auf ihre adelige Herkunft schließen. Auch die Tatsache, dass die anstehende Heirat ihrer Tochter aus erster Ehe, Luciane, mit einem jungen Baron keine Standesfragen aufwirft, deutet angesichts der Reflektion des Standesunterschiedes im Falle einer möglichen Verbindung zwischen Ottilie und dem Pensionsgehilfen (ebenda, II, 7. MA 9, S. 454) auf eine Standesgleichheit hin. Damit ist auch die adelige Herkunft von Charlottes Nichte und Pflegetochter Ottilie als gewiss anzusehen. Der Hauptmann erscheint angesichts seiner Profession vor dem Hintergrund des in Preußen bis 1808 geltenden adeligen Offiziersprivilegs als Angehöriger des Adels. Dafür spricht auch seine langjährige Freundschaft inklusive gemeinsamer Reisen mit dem standesbewussten Eduard. Vgl. u.a. Walter Demel, Der europäische Adel: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2005; Eckart Conze / Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne: Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2004.
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untergeordnete Herrschaftsrechte sowie vor allem ihre Ebenbürtigkeit mit den noch regierenden Häusern zu sichern.32 Ähnlich einschneidend waren die Veränderungen für die altadelige Reichsritterschaft, die bis 1806 in korporativen Zusammenschlüssen in Schwaben, in Franken und am Rhein außerhalb der bestehenden Territorien eine unabhängige Stellung behaupten konnte, nun aber ebenfalls in die neu entstehenden Mittelstaaten eingegliedert wurde.33 Durch Herrschafts- und Vermögenssäkularisationen entfielen zahlreiche, dem alten Adel vorbehaltene Stiftsstellen. In den noch bestehenden Territorien wurden viele der Privilegien des landsässigen Adels beseitigt. In Preußen etwa verlor der noch im Allgemeinen Landrecht von 1794 zum Staatsstand erklärte Adel den bevorrechtigten Zugang zu den Staatsämtern sowie zu den Offiziersstellen beim Militär. Auch der exklusive Besitz der Rittergüter durch den Adel wurde aufgehoben. Dem preußischen Reformminister von Stein galt der verarmte Landadel schlichtweg als nutzlos und sogar schädlich für den preußischen Staat.34 Auch in den Staaten des Rheinbundes wurden die Rechte des Adels empfindlich eingeschränkt. In Bayern etwa mussten sich sämtliche adelige Familien die Gültigkeit ihres Adelstitels durch das eigens eingerichtete Heroldsamt vom Staat bestätigen lassen. Nicht wenige altadelige Familien hatten erhebliche Mühe, ihre überlieferte Herkunft durch entsprechende Dokumente nachzuweisen.35
III. Goethes Roman als Zeitdiagnose? Obwohl Goethe die konkreten historischen Bezüge seines Romans letztlich verschweigt,36 werden die besonders den Adel betreffenden politischen und sozialen Veränderungen in einer für den sensibilisierten zeitgenössischen Leser wohl kaum übersehbaren Weise angedeutet. So ist gleich zu Beginn die Rede davon, dass der Hauptmann, »wie so mancher andere, ohne sein Verschulden« in eine »traurige Lage«37 geraten sei, also seine Stellung beim Militär verloren habe. Dieses Schicksal kann als typisch vor allem für den preußischen Militäradel nach der im Gefolge des Friedens von Tilsit im Sommer 1807 verkleinerten preußischen Armee gelten. Darüber hinaus könnte die Andeutung, dass Eduard einst als Soldat aufgrund seiner wenig professionellen Einstellung 32 33 34 35
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37
Vgl. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren 1815–1918. Göttingen 21964. Vgl. Christof Dipper, Die Reichsritterschaft in napoleonischer Zeit. In: Eberhard Weis (Hrsg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland. München 1984, S. 53–73. Vgl. Heinz Reif, Adelspolitik in Preußen zwischen Reformzeit und Revolution 1848. In: Ullmann / Zimmermann (Hrsg.), Restaurationssystem (Anm. 22), S. 199–224. Vgl. Walter Demel, Struktur und Entwicklung des bayerischen Adels von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung. In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 61 (1998), H. 2, S. 295–345. Vgl. Marita Gilli, Das Verschweigen der Geschichte in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ oder Wie man der Geschichte nicht entfliehen kann. In: Arno Herzig / Inge Stephan / Hans G. Winter (Hrsg.), »Sie und nicht Wir«. Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland und das Reich, Teil 2. Hamburg 1989, S. 553–566. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. MA 9, S. 287f.
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versagt habe, als Anspielung auf die zeittypische Wahrnehmung der Niederlage Preußens bei Jena 1806, die als Versagen des preußischen Militäradels gedeutet wurde, verstanden werden.38 Ebenso thematisiert der Roman explizit eine Vielzahl weiterer Ebenen, die in der bürgerlichen Adelskritik um 1800 immer wieder aufgegriffen worden sind: das Verhältnis des Adels zu seinem Landbesitz, seine Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Gruppen oder seinen sittlich-moralischen Zustand. Die Situation des Adels im Roman erscheint damit als eine verdichtete Spiegelung des allgemeinen Zustandes des Adels in der Umbruchszeit um 1800. Auch in zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen werden die Hauptfiguren des Romans immer wieder als Symbol der sozialen Situation des Adels der eigenen Gegenwart gedeutet. So urteilt der selbst dem preußischen Adel entstammende Achim von Arnim 1809, dass in den Wahlverwandtschaften »wieder ein Teil untergehender Zeit für die Zukunft in treuer, ausführlicher Darstellung aufgespeichert« sei. Dabei sah Arnim in dem von Goethe entfalteten Szenario das Resultat einer aufmerksamen Beobachtung seiner sozialen Umwelt und speziell des Adels durch den Autor: Diese Langeweile des unbeschäftigten, unbetätigten Glückes, die Goethe in der ersten Hälfte des ersten Bandes so trefflich dargestellt, hat er mit vieler Beobachtung in das Haus eines gebildeten Landedelmannes unserer Zeit einquartiert.39
Arnim berichtet, er habe selbst viele solcher Adeligen kennen gelernt, die er wie folgt beschreibt: Durch ihre Bildung von dem Kreise eigentlicher Landleute geschieden, so viel Wohlwollen und Wirklichkeit sie in sich sammeln mögen, ohne eine mögliche Richtung ihrer Tätigkeit zur allgemeinen Verwaltung, kochen sie ihre häusliche Suppe meist so lange über, bis Nichts mehr im Topfe. Nirgends finden sich mehr Ehescheidungen als unter diesen Klassen.40
Ein anderer Rezensent, Karl Wilhelm Ferdinand Solger, meinte 1809, dass man sich aus Goethes Roman »nach einigen Jahrhunderten« ein »vollkommenes Bild von unserm jetzigen täglichen Leben« werde entwerfen können.41 Tatsächlich pflegte Goethe eine Vielzahl enger persönlicher Kontakte zu Angehörigen des in Sachsen-Weimar-Eisenach ansässigen Adels, die es ihm ermöglichten, dessen soziales Profil sowie dessen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Wandlungsprozessen in eigener Anschauung zu verfolgen und seine Beobachtungen schließlich zu »eminenten« Fällen zu verdichten. 38
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Vgl. Ewald Frie, 1806 – das Unglück des Adels in Preußen. In: Martin Wrede / Horst Carl (Hrsg.), Zwischen Schande und Ehre: Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise. Mainz 2007, S. 335–350. Achim von Arnim an Bettina Brentano, 05.11.1809. Zitiert nach: Ritzenhoff (Hrsg.), ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 16), S. 126. Ebenda, S. 125. Zitiert nach: Norbert Bolz, Artikel ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Bernd Witte u.a. (Hrsg.), Goethe-Handbuch, Band. 3: Prosaschriften. Stuttgart, Weimar 1997, S. 152– 186, hier S. 155.
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An dieser Stelle soll nur das in der Entstehungszeit der Wahlverwandtschaften besonders enge Verhältnis Goethes zur uradeligen, freiherrlichen Familie von Ziegesar erwähnt werden.42 Bereits im Jahr 1776 besuchte Goethe zum ersten Mal das bei Jena gelegene Ziegesarsche Gut Drackendorf. Seit 1802 intensivierte sich der Kontakt zur Familie von Ziegesar, da Goethe sich zur jüngsten Tochter des Hauses, Sylvia von Ziegesar, hingezogen fühlte. Gemeinsam mit Sylvia konzipierte Goethe eine symbolische Ausgestaltung für den nach englischem Vorbild erneuerten Gutspark, die über verschiedene Stationen die Abfolge zwischenmenschlicher Leidenschaften darstellen sollte. Goethe verbrachte in den Jahren 1808 und 1809, den Entstehungsjahren der Wahlverwandtschaften, viel Zeit mit der Familie von Ziegesar, die er im Sommer 1808 in die Kurorte Karlsbad und Franzensbad begleitete und noch 1809 oft in Drackendorf besuchte. Für den 8. Juni 1809 etwa gibt sein Tagebuch an, dass er nach der Arbeit an den Wahlverwandtschaften gemeinsam mit dem Major von Hendrich nach Drackendorf gefahren und mit den Ziegesars bis zu den Ruinen der Lobdeburg spazieren gegangen sei.43 Trotz dieser lebensweltlichen Kontexte darf der Roman nicht als bloße Abbildung sozialer Strukturen missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um die Symbolisierung eines historischen Prozesses, wobei Goethe auf die in der Romantik entwickelte Semantik des Adels zurückgreifen konnte. Die Romantiker hoben im Rahmen ihres organischen Geschichtsverständnisses die Kontinuität des Adels hervor und spielten sie gegen die Idee einer auf Vernunftgrundsätzen beruhenden Staats- und Gesellschaftsordnung aus. Am elaboriertesten erscheint dieses Konzept bei Adam Müller, der zu den Gegnern der preußischen Reformen gehörte und zwischen 1806 und 1809 in Dresden mehrere Vorlesungen hielt, die unter dem Titel Elemente der Staatskunst 1809 veröffentlicht wurden. Müller forderte hier die Rückkehr zum christlichen Ständestaat. Dem Adel als einem natürlichen Bestandteil dieses Ständestaates wies er Attribute wie Ehre, Seltenheit, Reinheit der Abkunft, Selbstrekrutierung und Standesbewusstsein zu.44 Damit sind wesentliche, auch in der heutigen Forschung noch relevante Elemente von »›Adligkeit‹ als Kultur«45 benannt. Die Kontinuität adeliger Abstammung war für Müller ein Garant der Stabilität einer als überzeitlich gedachten Ordnung. Der Adel sei, wie er in seiner Vorlesung Von der Idee der Schönheit betonte, ein »Repräsentant des Dauernden,
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Vgl. zur Familie von Ziegesar: Marko Kreutzmann, Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt: Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770–1830. Köln, Weimar, Wien 2008; vgl. auch den Beitrag von Gerhard Müller in diesem Band. Vgl. Paul Raabe (Hrsg.), Goethe und Sylvie. Briefe, Gedichte, Zeugnisse. Stuttgart 1961, S. 69. Vgl. Jochen Strobel, »Ein hoher Adel von Ideen«. Zur Neucodierung von ›Adeligkeit‹ in der Romantik (Adam Müller, Achim von Arnim). In: Konrad Feilchenfeldt u.a. (Hrsg.), Zwischen Aufklärung und Romantik: Neue Perspektiven der Forschung. Festschrift für Roger Paulin. Würzburg 2006, S. 318–339, hier S. 324. Vgl. Heinz Reif, Einleitung. In: Ders. (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 7–27, hier S. 16.
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des Bleibenden auf Erden«. In seinem analogischen Denken wies Müller dem Adel die Funktion des Sittlichen als einer überzeitlichen Regelungsinstanz zu, wie sie in der Ehe von der Frau repräsentiert werde: Der Adel soll das Unsichtbare, die Macht der Sitte und des Geistes im Staate repräsentiren, und so ist er in der großen Ehe, welche Staat heißt, was die Frau in der Ehe im gewöhnlichen Verstande.46
Erscheint der Adel auch in Goethes Wahlverwandtschaften als Repräsentant einer überzeitlichen Ordnung? Eine solche Ordnung erweist sich im Verlauf des Romans als immer prekärer, wie das von Inge Stephan herausgearbeitete »Scheitern familialer Genealogien« in den Wahlverwandtschaften verdeutlicht.47 Insofern kann der Roman als eine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen angesehen werden, wobei die überkommenen sozialen Strukturen durch eine spezifische Semantik des Adels symbolisiert werden. Dieser kann nicht mehr, wie der Roman zeigt, als Repräsentant des Dauerhaften und Bleibenden fungieren. Es handelt sich also weniger um die Darstellung konkreter sozialer Zustände, als vielmehr um das Aufgreifen einer Idee zur Symbolisierung eines historischen Prozesses. Goethe stand mit Adam Müller seit dem Sommer 1807 in engem persönlichen Kontakt.48 Dennoch ging es ihm im Gegensatz zu Müller nicht um eine Apologie des Geburtsadels, sondern vielmehr um die Frage nach den Grundstrukturen sozialer Wandlungsprozesse. Im Roman spürt er den Triebkräften und dem Verlauf gesellschaftlicher Umbrüche und hier konkret der Entgrenzung einer stratifizierten und determinierten Ständegesellschaft nach: Inwieweit gelingt es, aus gewachsenen Strukturen zu einer neuen Ordnung der Dinge vorzustoßen? Oder kommt es zum Rückfall in die alte oder gar zur Auflösung jeglicher gesellschaftlichen Ordnung?49
IV. Die Semantik des Adels als Symbol gesellschaftlichen Wandels 1. Der genealogische Zusammenhang Das soziale und kulturelle Gefüge des Adels eignet sich in besonderem Maße dafür, die traditionalen sozialen Strukturen gleichsam »symbolisch gefasst« darzustellen. Dabei ist gerade das adelige Heiratsverhalten ein Symbol überzeitlicher Dauer und überindividueller Determination. Da der Adel seine besondere soziale Stellung auf seinen genealogischen Zusammenhang gründete, war er bei der Wahl der Heiratspartner einer strengen Normierung unterworfen. Die Ehen des Adels waren nicht nur durch ökonomische Zwänge, sondern
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Vgl. Strobel, Adel (Anm. 44), S. 324f. Vgl. Inge Stephan, »Schatten, die einander gegenüberstehen«. Das Scheitern familialer Genealogien in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Gisela Greve (Hrsg.), Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Tübingen 1999, S. 42–70. Vgl. auch den Beitrag von Helmut Hühn in diesem Band. Vgl. zum Problem der Ordnung den Beitrag von Stefan Blechschmidt in diesem Band.
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auch durch das Gebot der Ebenbürtigkeit determiniert. Für den westfälischen Adel hat der Historiker Heinz Reif in einer umfassenden Studie gerade für die Zeit um 1800 das vermehrte Auftreten von Familienkonflikten aufgrund abweichender Vorstellungen der Adelssöhne über Liebe und Ehe konstatiert.50 In Goethes Roman ist es, ähnlich wie bei Adam Müller, stets das weibliche Element, welches die Kontinuität der adeligen Genealogie verbürgt. Demgegenüber erscheinen die männlichen Protagonisten als Agenten des Umbruchs und der Diskontinuität. Im Zusammenhang mit ihrer gemeinsamen Lebensplanung meint Charlotte gegenüber ihrem Gemahl Eduard zu Beginn des Romans: Die Männer denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwärtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind; die Weiber hingegen mehr auf das was im Leben zusammenhängt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien, an diesen Zusammenhang geknüpft ist, und auch gerade dieses Zusammenhängende von ihnen gefordert wird.51
Auch Eduard und Charlotte standen zunächst unter den Zwängen standesspezifischer Normen. Zu Beginn des Romans erfährt der Leser, dass beide bereits früher auf Druck ihrer Familien jeweils eine aus ökonomischen Rücksichten arrangierte Ehe eingegangen waren. Eduard, der eigentlich aus einer wohlhabenden Familie stammte, sei von seinem Vater »aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes« mit »einer ziemlich älteren reichen Frau« verheiratet worden. Auch Charlotte wurde, da sie »ohne sonderliche Aussichten« gewesen sei, einem »wohlhabenden, nicht geliebten aber geehrten Manne« zur Frau gegeben.52 Der mit Eduard und Charlotte befreundete Graf zählt diese beiden ersten Ehen dann auch unverblümt zu denen der »verhaßten Art«.53 Sowohl Eduard als auch Charlotte wurden durch den frühen Tod ihrer ersten Ehepartner wieder »frei« und konnten nun, ökonomisch abgesichert, ganz im Einklang mit den Konventionen ihres Standes, die früher von ihnen so sehnlich gewünschte Verbindung eingehen. Die Vermutung, dass diese Verbindung nun auf freie Selbstbestimmung begründet sei, erweist sich jedoch bald als Irrtum. Vielmehr wurde Charlotte durch Eduard, der als das »einzige, verzogene Kind reicher Eltern«54 nie gelernt habe, sich einen Wunsch zu versagen, zur Heirat gedrängt. Durch die »Dazwischenkunft eines Dritten«55 wird die Ehe des adeligen Paares als Symbol traditionaler Ordnung und Garant der Kontinuität gefährdet. Eduard fühlt sich zu der inzwischen auf dem Gut lebenden Ottilie hingezogen, Charlotte zu dem ebenfalls hier weilenden Hauptmann. Offen in Frage 50 51 52 53 54
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Vgl. Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite. Göttingen 1979. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. MA 9, S. 289. Vgl. dazu auch: Stephan, Schatten (Anm. 47). Ebenda, I, 1. MA 9, S. 290. Ebenda, I, 10. MA 9, S. 355. Ebenda, I, 2. MA 9, S. 293. Vgl. zum Kontext: Bettina Recker, »Ewige Dauer« oder »Ewiges Einerlei«. Die Geschichte der Ehe im Roman um 1800. Würzburg 2000, hier bes. S. 160ff. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. MA 9, S. 292; vgl. auch den Beitrag von Nicole Grochowina in diesem Band.
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gestellt wird die Ehe als überzeitliche Institution aber durch den Grafen, der selbst ein mehr oder weniger offenes, außereheliches Verhältnis mit einer Baronesse führt. Der Graf schlägt, unter Berufung auf die Idee eines Freundes, eine begrenzte Dauer der Ehe von fünf Jahren mit der Option einer stetigen Erneuerung nach Ablauf dieser Zeit vor. Nach seiner Auffassung würden die Ehepartner durch die Befristung ihrer Verbindung in ein viel lebendigeres Wechselverhältnis zueinander treten, als dies bei einer auf ewig geschlossenen Ehe der Fall wäre. In der Ehe sei es, so der Graf, vor allem die »ewige Dauer zwischen so viel Beweglichem in der Welt, die etwas Ungeschicktes an sich trägt«.56 Aus der Sicht des hergebrachten, spezifischen Selbstverständnisses des Adels und der Legitimation seiner gesellschaftlichen Stellung erscheint eine solche Idee jedoch absurd. Denn sie setzt den inneren Zusammenhang der adeligen Genealogie tendenziell außer Kraft. Bezeichnenderweise ist es auch hier vor allem Charlotte, die von derartigen Vorschlägen besonders unangenehm berührt wird. Im Gegensatz zu Eduard, der seiner Neigung zu Ottilie immer mehr nachgibt, versucht Charlotte, durch konsequente Entsagung gegenüber dem Hauptmann die bestehende Ordnung zu bewahren. Dabei kommt ihr die im Laufe ihres Lebens erworbene Fähigkeit, »sich selbst zu gebieten«, also ihre Leidenschaften den äußeren Zwängen unterzuordnen, zugute.57 Dasselbe fordert sie auch von Eduard und mahnt, dass beide nun ihre »eigenen Hofmeister«58 sein müssten. Dabei stellt sie die gemeinsamen materiellen Interessen in den Vordergrund und weigert sich, auf ihr »wohlerworbnes Glück« und ihre »schönsten Rechte« zu verzichten.59 Stellvertretend für Charlotte formuliert der unermüdlich als Schlichter in Beziehungskrisen tätige, frühere Geistliche mit dem programmatischen Namen Mittler60 den Grundsatz, dass nur die Erhaltung der bestehenden Ordnung in Form der Ehe den Fortbestand menschlicher Kultur ermögliche. Ja, für ihn ist die Ehe »der Anfang und der Gipfel aller Kultur«, indem sie »den Rohen mild« stimme und dem Gebildeten Gelegenheit biete, »seine Milde zu beweisen«. Daher müsse die Ehe »unauflöslich« sein und dürfe nicht gegen einzelne Nachteile aufgewogen werden.61 Nicht nur durch die Gefährdung der Ehe Eduards und Charlottes wird die adelige Genealogie als Symbol der überkommenen Ordnung in Frage gestellt. Eduard hat auch in Bezug auf seine nächste Vergangenheit längst mit seiner Familientradition gebrochen. Die Anlagen in Schloss und Park, die einst durch seinen Vater errichtet wurden, werden durch ihn nicht nur nicht mehr beachtet, sondern grundlegend umgestaltet. Die »hohen Lindenalleen« und »regelmäßigen Anlagen« im alten Schlossgarten, so erfahren wir vom Erzähler, seien
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Ebenda, I, 10. MA 9, S. 352. Ebenda, I, 12. MA 9, S. 369. Ebenda, I, 16. MA 9, S. 384. Ebenda, S. 385. Vgl. Philipp W. Hildmann, Die Figur Mittler aus Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹ als Repräsentant der Neologen. In: Euphorion 97 (2003), S. 51–71. Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 9. MA 9, S. 349.
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inzwischen im Sinne dessen, der sie gepflanzt, »vortrefflich gediehen«, würden aber nicht mehr wahrgenommen. Vielmehr hätten sich »Liebhaberei und Aufwand gegen eine andere Seite hin ins Freie und Weite gerichtet«.62 Der Gehilfe aus der Pension bemerkt gegenüber Charlotte, dass sich nur »wenig Menschen« mit dem »Nächstvergangenen zu beschäftigen wissen« und man selbst in »großen und reichen Familien, die ihren Vorfahren vieles schuldig sind«, oft »des Großvaters mehr als des Vaters« gedenke.63 Offenbar symbolisiert diese Umgestaltung den sich um 1800 in Europa vollziehenden Wechsel vom streng gegliederten barocken Garten zum englischen, an natürlichen Formen orientierten Landschaftspark. Eng verbunden mit diesem ästhetischen Paradigmenwechsel war meist auch die Orientierung an einem neuen, auf die freie Entfaltung des Individuums ausgerichteten Gesellschaftsideal.64 Der Ausbruch aus den überkommenen Formen erscheint Charlotte jedoch nicht als Ausdruck von Autonomie und Selbstbestimmung. Vielmehr sei man lediglich genötigt, »die Plane, die Neigungen der Zeit« auszuführen.65 Die Diskontinuität adeliger Familiengenealogie sei, so der Gehilfe, in der »Zeit der Umwendung« lediglich die Folge des allgemeinen Wandels der »Gesinnungen, Meinungen, Vorurteile und Liebhabereien«.66 Die Krise der adeligen Familienkontinuität verweist nach Ansicht Charlottes auf jene großen Wandlungsprozesse, die »[g]anze Zeiträume«67 erfassen. Charlotte spielt auf die allgemeine Entgrenzung der Gesellschaft, ihre Freisetzung von ständischen Bindungen, an, wenn sie mit Bezug auf die eigenen, erweiterten Parkanlagen daran erinnert, dass früher jede kleine Stadt und jedes kleine Schloss ihre eigenen Mauern und Gräben zur Abgrenzung nach außen besaß, während gegenwärtig sogar größere Städte und fürstliche Schlösser ihre Mauern abtragen und die Gräben auffüllen. Die gegenwärtige Zeit zeichne sich durch einen Hang zur Befreiung des Lebens aus künstlichen Begrenzungen aus: »[A]n Kunst, an Zwang soll nichts erinnern, wir wollen völlig frei und unbedingt Atem schöpfen«.68 Diese Entgrenzung wird jedoch nur als eine Epoche des Übergangs gedeutet, die sich bald wieder in eine neue Ordnung verfestigen werde. Die Notwendigkeiten des Lebens, so der Gehilfe, würden der ungezügelten Entgrenzung Schranken setzen. Der Gehilfe schließt auf Nachfrage Charlottes sogar eine Rückkehr zu vorigen Zuständen nicht aus. 62
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Ebenda, II, 8. MA 9, S. 458. Zur Landschaftsgestaltung und Architektur in den Wahlverwandtschaften vgl. den Beitrag von Harald Tausch in diesem Band. Zur Funktion von Umweltwahrnehmung und -gestaltung für das Selbstverständnis des Adels vgl. Heike Düselder / Olga Weckenbrock / Siegrid Westphal (Hrsg.), Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2008. Ebenda, S. 457f. Vgl. Peter Klotz, Gesellschaftsdiskurs und Gartenkonstruktion. Zur Spiegelung des Ordnungswandels in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Walter Gebhard (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Aspekte des Gartens. Frankfurt a.M. 2002, S. 113–132; vgl. auch: Reschke, Umwendung (Anm. 18). Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 8. MA 9, S. 458. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 459.
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Mit Bezug auf das Landgut meint er, dass es möglich sei, dass Eduards und Charlottes künftiger Sohn einst die derzeit angelegten Parkanlagen vernachlässigen und sich »wieder hinter die ernsten Mauern und unter die hohen Linden seines Großvaters« zurückziehen werde.69 Auf der anderen Seite wird durch den Gehilfen auch die Möglichkeit eines harmonischen Übergangs zwischen den Epochen aufgezeigt. Auf die Abfolge der adeligen Genealogie bezogen heißt das, dass die nachkommende Generation mit ihren neuen Ideen frühzeitig zur Mitbestimmung berechtigt sein sollte. Der Vater solle den Sohn zum »Mitbesitzer« des Gutes erheben und an dessen Gestaltung mitwirken lassen. Nur dadurch werde ein bruchloses Fortsetzen der Genealogie möglich: »Eine Tätigkeit läßt sich in die andre verweben, keine an die andre anstückeln«.70 Dieses, auch auf die gesamtgesellschaftliche Ebene im Sinne der Gewährung von Partizipationsrechten an aufstrebende soziale Gruppen auslegbare Angebot einer Aussöhnung zwischen den Generationen kann jedoch in der Situation Eduards und Charlottes nicht mehr weiterhelfen. Der hier bereits endgültig erfolgte Bruch der adeligen Familienkontinuität wird den inzwischen allein auf dem Gut weilenden Frauen Charlotte und Ottilie durch den Besuch des Engländers deutlich vor Augen geführt.71 Dieser hält sich nach eigener Aussage kaum auf seinen eigenen Gütern auf. Der Grund dafür ist die Enttäuschung über seinen Sohn, der das Gut als Nachfolger übernehmen sollte, stattdessen aber nach Indien ging. Damit scheint alle in den Ausbau des Gutes und in die Gestaltung der Parkanlagen gesteckte Mühe vergebens und die an den Boden gebundene Kontinuität der Adelsfamilie gebrochen zu sein.72 Somit mutet auch Charlotte und Ottilie der von ihnen selbst mit hohem Aufwand vorangetriebene Ausbau der eigenen Parkanlagen nur noch als eine Verschleierung der inzwischen längst eingetretenen Diskontinuität an. 2. Adel und Landbesitz Ebenso wie die Auflösung der adeligen Familienkontinuität symbolisiert auch die zunehmende Lösung des Adels von der Bindung an seinen Grund und Boden die »Umwendung« überkommener Strukturen, an deren Ende jedoch ein Scheitern steht. Deutlich wird dies etwa durch Charlottes Umgestaltung des Kirchhofes. Die Versetzung der Grabsteine nach ästhetischen Maßgaben von ihrem ursprünglichen Standort an die Friedhofsmauer verweist auf die Lösung des adeligen Individuums von seiner lokalen Verwurzelung. Die benachbarte Adelsfamilie, welche die Grabstätte ihrer Familie auf dem Kirchhof errichtet hatte, sieht durch die Entfernung der Grabsteine die symbolische Verbindung der verschiedenen Generationen des Adelsgeschlechtes zerstört und will daher
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Ebenda. Ebenda, S. 460. Ebenda, II, 10. MA 9, S. 469ff. Ebenda, S. 471f.
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auch die eigens für die Kirche errichtete Stiftung aufheben.73 Der von ihr eingesetzte Advokat stellt diesen Zusammenhang klar heraus. Danach habe besonders der »Begüterte« ein Interesse daran, »einen Stein aufzurichten, der für mehrere Generationen zu dauern verspricht und von den Nachkommen erneut und aufgefrischt werden kann«. Dabei gehe es nicht nur um das »Andenken«, sondern auch um die Verbindung mit der »Gegenwart«. Denn um einen Grabstein sollen sich, wie um einen Markstein, Gatten, Verwandte, Freunde, selbst nach ihrem Hinscheiden noch versammeln, und der Lebende soll das Recht behalten, Fremde und Mißwollende auch von der Seite seiner geliebten Ruhenden abzuweisen und zu entfernen.74
Diesem Streben nach Distinktion auch nach dem Tode setzte Charlotte die Forderung nach Nivellierung ständischer Unterschiede in der jenseitigen Welt entgegen: Das »reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode« schien ihr angemessener als das »eigensinnige starre Fortsetzen unserer Persönlichkeiten, Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse«.75 Das Andenken an einen verstorbenen Menschen sollte ganz individualisiert, losgelöst von einem bestimmten Ort gedacht werden. Auf einen Einwand Ottilies entgegnet der Architekt, dass man sich nicht vom Andenken, aber vom Platze lossagen solle: Da in der gegenwärtigen Zeit »selbst die Frommen und Hohen auf das Vorrecht Verzicht tun, in den Kirchen persönlich zu ruhen«, solle man dort oder »in schönen Hallen um die Begräbnisplätze« lediglich »Denkzeichen« oder »Denkschriften« aufstellen.76 Das schönste Denkmal eines Menschen, so der Architekt, sei dessen Bildnis. Dem stimmt Charlotte zu, besonders, da die in einem Bild enthaltene Aussage über einen Menschen unabhängig vom Ort seines Grabes sei.77 Auch in Bezug auf die herrschaftliche und ökonomische Nutzung scheint sich das Verhältnis des Adels zum Landbesitz in Goethes Roman neu zu gestalten. Über Charlotte erfährt man zu Beginn, dass sie vorhabe, die Verwaltung der Güter und deren Bewirtschaftung nach dem Auslaufen der Verträge mit den Pächtern selbst zu übernehmen.78 Eduard dagegen hatte sich bisher offenbar kaum mit den Fragen der Wirtschaftsführung befasst. Darauf weist sein Einwand hin, dass für die Bewirtschaftung der Güter in eigener Regie spezielle Kenntnisse nötig seien, die er aber weder von den Landleuten, denen er nicht vertraut und mit denen er keinen Umgang zu pflegen willens sei, noch von den
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Zum Wandel adeliger Begräbniskultur vgl. Sascha Winter, Im ewigen Kreislauf der Natur. Begräbnisse des Adels in Gärten des späten 17. und 18. Jahrhunderts. In: Düselder / Weckenbrock / Westphal (Hrsg.), Adel, S. 105–130. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 1. MA 9, S. 404. Ebenda, S. 405. Ebenda, S. 405f. Ebenda, S. 406. Ebenda, I, 1. MA 9, S. 289. Zum Wandel der Gutswirtschaft vgl. René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert. Berlin 2003.
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durch eine fachliche Ausbildung qualifizierten Experten aus den Städten erlangen zu können glaubt. Dies liefert ihm wiederum den Vorwand zur Einladung des Hauptmanns, dem er die erwünschten Kenntnisse zutraut. Und wirklich sieht es so aus, als könnte die Gutsverwaltung nach rationalen Gesichtspunkten neu organisiert werden. Die Ländereien werden erstmals nach modernen kartographischen Methoden vermessen. Somit scheint sich der Adel seinen Boden auf neue Weise anzueignen. Eduard sieht seine Besitzungen auf den entstehenden Karten »wie eine neue Schöpfung« hervorwachsen und glaubt »sie jetzt erst kennen zu lernen; sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehören«.79 Zudem werden Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur wie der Neubau von Wegen oder die Errichtung einer Mauer zum Schutz vor Überschwemmungen eingeleitet, ein Archiv für die Verwahrung wichtiger Dokumente wird eingerichtet, eine Hausapotheke beschafft, ein Chirurg angestellt und das Bettlerwesen reguliert.80 Scheint es auf diese Weise zunächst, als würde der Adel den neuen ökonomischen Anforderungen gerecht werden, so erweist sich die Tendenz zur Rationalisierung bald als oberflächlich und flüchtig. Eduard vermag es nicht, die Geschäfte der Gutsverwaltung von den Erfordernissen seines adelig-repräsentativen Lebens zu trennen. Es ist ihm unmöglich, seine ganzheitliche Persönlichkeit zu segmentieren und auf diese Weise »Geschäfte und Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung« voneinander abzusondern.81 Die Bemühungen um eine rationale Gutsverwaltung erweisen sich als Scheinbeschäftigung, die bald dem Desinteresse weicht. Die gemeinsame Tätigkeit Eduards und des Hauptmanns erlahmt.82 Zudem bewahrt Eduard seine herrschaftliche Distanz zu den »Bürgern und Bauern«, mit denen er nach eigener Aussage »nichts zu tun« haben will, wenn er ihnen »nicht geradezu befehlen« könne. Dieser Grundaussage pflichtet der Hauptmann bei, der aus eigener Erfahrung zu berichten weiß, dass nützliche Reformen für das Allgemeinwohl, die oft mit den Sonderinteressen Einzelner in Widerspruch gerieten, allein durch das »unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden« könnten.83 Die endgültige Auflösung der Bindung des Adels an seinen Grund und Boden aber erfolgt im Zuge der sich immer mehr entfesselnden Leidenschaften. Die in Folge seiner Neigung zu Ottilie ins unmäßige gehende Baulust Eduards verursacht steigende Kosten, die den Besitzstand an Land gefährden. Auch hier erweist sich Charlotte als der auf Kontinuität und Stabilität setzende Teil, indem sie »der erfindenden Einbildungskraft« Eduards und der anderen »einigen Stillstand« gebietet und an die Kosten erinnert, welche zu den geplanten Unternehmungen erforderlich sein würden.84 Doch kann sie sich mit 79
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Ebenda, I, 3. MA 9, S. 304. Zur Repräsentation des Raumes mittels Kartographie in der Geschichte vgl. Christof Dipper / Ute Schneider (Hrsg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit. Darmstadt 2006. Vgl. ebenda, I, 4. MA 9, S. 310–312 sowie I, 6. MA 9, S. 328–330. Vgl. ebenda, I, 4. MA 9, S. 310. Vgl. ebenda, I, 7. MA 9, S. 333. Ebenda, I, 6. MA 9, S. 329. Zur Bedeutung der Zeit vgl. Judith Reusch, Zeitstrukturen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Würzburg 2004. Ebenda, I, 7. MA 9, S. 337.
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diesen Bedenken nicht durchsetzen. Um einen möglichst bequemen Zugang zum neuen Lusthaus zu gewährleisten, wird die Anlage eines neuen Weges geplant, für dessen Finanzierung ein zum Gut gehörendes Vorwerk verkauft wird. Der Hauptmann wollte das Vorwerk an die Waldbauern verteilen, Eduard aber wollte »kürzer und bequemer verfahren wissen« und das Vorwerk dem Pächter verkaufen. Von den terminweise gezahlten Raten sollte das eigene Bauprojekt finanziert werden. Eduard gibt zudem als Bauherr das Recht des Grundbesitzers aus der Hand, indem nicht er, sondern Ottilie den Standort des neuen Lustgebäudes bestimmt.85 Diese Tatsache wird Eduard durch die Rede des Maurers bei der Grundsteinlegung klar vor Augen geführt.86 Schließlich vermacht Eduard in einem Testament sein Gut an Ottilie, als er aus Verzweiflung über seine persönliche Situation in den Krieg zieht.87 Während die Grundsteinlegung des neuen Gebäudes auf Intervention des Hauptmanns am Geburtstag Charlottes stattfindet,88 wird dessen Einweihung auf Betreiben Eduards auf den Geburtstag Ottilies gelegt. Um diesen Termin auch wirklich einzuhalten, ist ihm kein Preis zu hoch.89 Charlotte und der Hauptmann beschließen angesichts Eduards Zügellosigkeit die Aufnahme eines Kredits, der eine zügigere Durchführung der Arbeiten ermöglicht, dessen Tilgung – und damit die Sicherheit des eigenen Grundbesitzes – aber ganz vom pünktlichen Eingang der Raten abhängig ist. Darüber hinaus beschließen sie, die »Gerechtsame« des Gutes, also die mit dem Gut verbundenen Eigentumsund Herrschaftsrechte, welche den besonderen Charakter adeliger Grundherrschaft ausmachen, zu verkaufen.90 Erst die Geburt von Eduards und Charlottes Sohn Otto scheint diesen Auflösungsprozess aufzuhalten. Die Namensgebung soll durch den Bezug auf Eduards ursprünglichen Vornamen, der ebenfalls Otto lautet, »das Vergangene mit dem Zukünftigen zusammenknüpfen«.91 Charlotte erhält durch die Geburt des Sohnes »einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz. Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder«,92 und sie widmet sich mit neuer Energie dem Ausbau der Parkanlagen. Doch der besondere Charakter des Kindes, das aus einem doppelten geistigen Ehebruch hervorgegangen ist, sowie dessen daraus in tragischer Konsequenz folgender Tod zerstören die Hoffnung auf eine Rückkehr zur alten Ordnung.93
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Ebenda, S. 337f. Vgl. ebenda, I, 9. MA 9, S. 342–344. Vgl. ebenda I, 18. MA 9, S. 401. Vgl. ebenda I, 8. MA 9, S. 339. Vgl. ebenda I, 13. MA 9, S. 370. Vgl. ebenda, S. 371. Ebenda, II, 8. MA 9, S. 461. Ebenda, II, 10. MA 9, S. 467. Vgl. Elisabeth Herrmann, Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Berlin 1998.
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3. Dekonstruktion des altadeligen Bildungsideals Die überkommene Ordnung wird im Roman auch durch die Dekonstruktion des der alteuropäischen Adelskultur zugeschriebenen Bildungsideals aufgelöst. Das adelig-höfische Bildungskonzept mit seiner Betonung des Äußerlichen, der Repräsentation und des Scheins beschrieb Goethe zunächst als Inbegriff der ganzheitlichen Ausbildung der Persönlichkeit im Gegensatz zur bürgerlichen Bildung, die bloß auf brauchbare Fähigkeiten setze.94 In der zentralen Passage von Wilhelm Meisters Lehrjahren wird dieser Konflikt in Wilhelms Brief an Werner prägnant formuliert. Hier heißt es, dass in Deutschland nur dem Edelmann eine allgemeine, »personelle Ausbildung« möglich sei. Der Bürger dagegen könne sich lediglich einzelne »Verdienste« erwerben oder »seinen Geist ausbilden«, seine »Persönlichkeit« aber gehe verloren. Der Edelmann sei durch das ihm angeborene Recht des Zugangs zu den höheren Gesellschaftskreisen dazu verpflichtet, sich einen »vornehmen Anstand« zu geben. Er müsse stets eine gute »Figur« machen und mit seiner gesamten Persönlichkeit überzeugen. Demgegenüber seien individuelle Eigenschaften wie »Fähigkeit, Talent, Reichtum« lediglich reine »Zugaben«. Der Edelmann solle ganz im Gegensatz zum Bürger durch die bloße »Darstellung seiner Person« seine vollkommene Menschlichkeit ausbilden: »Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein«.95 Während Goethe im Wilhelm Meister nach Auffassung Burgers noch das »Menschenbild der alten Adelswelt Europa in die deutsche Literatur zu bergen und verinnerlicht an das Bürgertum weiter zu geben«96 suchte, gerät das Ideal äußerlich-repräsentativer Ausbildung in den Wahlverwandtschaften zu einem bloßen Schein, der innere Fähigkeiten nicht widerspiegelt, sondern vielmehr vortäuscht. Der äußere Schein wird zum Selbstzweck und ersetzt die eigentlichen Fertigkeiten. Er führt zu einer bloß mechanischen, auf die äußere Wirkung bedachten Wiedergabe antrainierten Wissens, dessen innerer Zusammenhang nicht mehr reflektiert wird. Deutlich wird dies bei der Ausbildung Ottilies in der Pension. Hier soll sie nach den Maßgaben ihres Standes allein auf das Auftreten in der »große[n] Welt«97 vorbereitet werden. Die Kunst der Selbstdarstellung etwa durch rhetorische Fähigkeiten oder das bloße Wiedergeben einstudierten Wissens steht dabei im Vordergrund. Doch Ottilie entspricht nicht diesen standesspezifischen Normen und verstößt damit gegen die gesetzte Ordnung. Das reflektierte Nachdenken befähigt sie zwar zur Lösung komplexer Aufgaben,98 lässt sie aber in den ganz auf Selbstdarstellung angelegten 94
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Vgl. Heinz Otto Burger, Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik. In: Ders., Dasein heißt eine Rolle spielen: Studien zur deutschen Literaturgeschichte. München 1963, S. 211–232; zur Spezifik adeliger Bildung vgl. Ivo Cerman / Luboš Velek (Hrsg.), Adelige Ausbildung. Die Herausforderung der Aufklärung und ihre Folgen. München 2006. Vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre V, 3. MA 5, S. 289f.; vgl. auch Hans Rudolf Vaget, Liebe und Grundeigentum in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹. Zur Physiognomie des Adels bei Goethe. In: Hohendahl / Lützeler (Hrsg.), Legitimationskrisen (Anm. 1), S. 137–157. Burger, Adelsideal (Anm. 94), S. 232. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 4. MA 9, S. 418. Ebenda, I, 4. MA 9, S. 308f.
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öffentlichen Prüfungen als unterlegen erscheinen. So hätte sie nach Aussage des Gehilfen gewiss einen Preis im Zeichnen bekommen, hatte aber »etwas zu Großes unternommen und war nicht fertig geworden«. Das Fazit des Gehilfen lautet daher, Ottilie sei bloß »auf den Schein nicht vorzubereiten«.99 Als Gegenbild dazu erscheint Luciane, die Tochter Charlottes, die alle Fähigkeiten zur äußerlichen Selbstdarstellung besitzt und daher »für die Welt geboren« sei, wie Charlotte mit Bezug auf einen Bericht der Pensionsvorsteherin urteilt. Durch ihr »angebornes herrschendes Wesen« habe sie sich »zur Königin des kleinen Kreises« gemacht. Sie beherrsche nicht nur fremde Sprachen, Geschichte oder Musik, sondern zeichne sich auch durch »Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des Gesprächs«100 vor allen anderen aus. Doch steht diese äußerliche Repräsentation ihrer Persönlichkeit in einem tiefen Gegensatz zu ihren inneren Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie zu ihrem sittlichen Wesen. So versucht sie sich zwar in der größeren Gesellschaft oft im Rezitieren, doch bleibt ihr Vortrag trotz guter Kenntnis der Texte »geistlos und heftig ohne leidenschaftlich zu sein«.101 Darüber hinaus verlangt sie von ihrer Umgebung stets ihr selbst gegenüber den gebührenden Respekt, den sie aber gegen andere zu erweisen nicht willens ist. Ihre Scheinkenntnisse haben schließlich gravierende Folgen für andere Menschen: Aufgrund ihrer vermeintlichen medizinischen Fähigkeiten drängt sich Luciane als ärztliche Ratgeberin auf. Bei einem seelisch geschädigten Mädchen hat dies einen schweren Rückfall zur Folge.102 Das ganz auf Repräsentation der eigenen Person abzielende Verhalten Lucianes führt zu einer Eigendynamik, die auf Menschen und Ressourcen keine Rücksicht nimmt. Der Besuch Lucianes und ihres umfangreichen Gefolges auf dem Gut Eduards und Charlottes gleicht der Heimsuchung durch einen Heuschreckenschwarm.103 Die zahlreich veranstalteten Feste, Bälle und Schlittenfahrten zehren in kürzester Zeit sämtliche Wintervorräte auf, worauf sich die Gesellschaft auf ein anderes Adelsgut stürzt. Schließlich erfüllt sich das auf Zerstreuung und Ablenkung von der eigenen Untätigkeit gerichtete Leben Lucianes und ihrer Gesellschaft in der Residenz als zentralem Ort adelig-höfischer Repräsentation. Man zog, wie der Erzähler berichtet, »jagend und reitend, schlittenfahrend und lärmend, von einem Gute zum andern, bis man sich endlich der Residenz näherte« und »unaufhaltsam in einen andern Lebenskreis«104 hineingezogen wurde. Auch die anstehende Heirat Lucianes
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Ebenda, I, 5. MA 9, S. 321. Ebenda, I, 2. MA 9, S. 294f. Ebenda, II, 5. MA 9, S. 433; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zur Verbindung von Dilettantismus- und Adelskritik bei: Werner Schlick, Goethe’s ›Die Wahlverwandtschaften‹: A middle-class critique of aesthetic aristocratism. Heidelberg 2000. Vgl. ebenda, II, 6. MA 9, S. 440–442. Vgl. ebenda, II, 4. MA 9, S. 418–420; II, 5. MA 9, S. 427ff. Ebenda, II, 5. MA 9, S. 437. Zu der hier durchscheinenden literarischen Hofkritik vgl. Helmuth Kiesel, »Bei Hof, bei Höll«. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979. Vgl. gegen das in der zeitge-
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folgte ganz dem adeligen Repräsentationsbedürfnis, da der Bräutigam, ein junger Baron, ganz von dem Willen geleitet wurde, seine eigene gesellschaftliche Geltung mit Hilfe der äußeren Ausstrahlung Lucianes zu erhöhen. Er hatte, so erfahren wir vom Erzähler, »einen so ganz eigenen Sinn, alles auf sie und erst durch sie auf sich zu beziehen«.105 Die vorsichtige Kritik am überkommenen, adelig-höfischen Bildungsideal formuliert der Gehilfe aus der Pension, der die Entwicklung Ottilies stets mit Wohlwollen verfolgt hatte. Als er zu Besuch auf dem Landgut Eduards und Charlottes weilt, zeigt er sich zufrieden mit der Art und Weise, wie Ottilie die ihr anvertrauten Bauernkinder ausgebildet habe, denn er fand »nichts auf den Schein und nach außen getan, sondern alles nach innen und für die unerläßlichen Bedürfnisse«. Dieser Erziehung wird zugleich aber ein sozialkonservativer Sinn zugeschrieben, denn wenn man, so der Gehilfe, die Knaben nach ihrer vermeintlichen Bestimmung zu Dienern und die Mädchen zu Müttern erziehe, werde es überall »wohl stehn«.106 Schwieriger sei die Aufgabe der Bildung aber in den höheren Ständen: Hier müsse man auf »zartere, feinere, besonders auf gesellschaftliche Verhältnisse Rücksicht […] nehmen« und die Zöglinge daher »nach außen bilden«. Doch bestehe dabei stets die Gefahr, dass das rechte Maß überschritten werde: [D]enn indem man die Kinder für einen weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt man sie leicht ins Grenzenlose, ohne im Auge zu behalten was denn eigentlich die innere Natur fordert.107
V. Schlussfolgerungen Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften setzt sich mit den grundlegenden sozialen Wandlungsprozessen um 1800 auseinander. Dabei wird dem Begriff des Adels im Roman eine spezifische Semantik zugeschrieben, deren Dekonstruktion im Verlauf der Handlung im Sinne von Goethes Begriffsverständnis zum Symbol für den Prozess der Auflösung der traditionalen ständischen Gesellschaftsordnung wird. Die zentralen Elemente dieser Semantik des Adels bestehen nach der zeittypischen Auffassung in einem überzeitlichen genealogischen Zusammenhang, in der konstitutiven Bindung an den angestammten Grund und Boden und in einem spezifischen, ganzheitlichen Bildungsideal. Der Adel wird somit in einem impliziten Gegensatz zum Bürgertum zum Symbol der Struktur der traditionalen Gesellschaftsordnung, deren Bestand durch verschiedene Triebkräfte wie das Streben nach autonomer Neugestaltung auf
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nössischen Literatur entworfene und lange Zeit wirkmächtige Bild des Hofes als Ort von Dekadenz und politisch-sozialer Erstarrung: Marcus Ventzke (Hrsg.), Hofkultur und aufklärerische Reformen in Thüringen. Die Bedeutung des Hofes im späten 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2002. Ebenda, II, 5. MA 9, S. 436. Ebenda, II, 7. MA 9, S. 451. Ebenda, S. 451f.
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Vernunftgrundsätzen oder das Wirken natürlicher Leidenschaften in Frage gestellt wird. Goethe leistet damit einen Beitrag zur Deutung des historischen Wandels als eines Niedergangs des Adels. Die Gegenthese eines bürgerlichen Aufstiegs tritt dabei allerdings nicht klar hervor. Der Ausgang des Romanexperiments lässt das Ergebnis des Neuordnungsprozesses zudem relativ offen. Die Rückkehr zur alten Ordnung der Dinge scheint zumindest nicht mehr möglich, nachdem die Elemente ihre ursprünglichen Verbindungen einmal verlassen haben. Charlottes Hoffnung, sie könne durch die Aussöhnung mit Eduard »in einen frühern beschränktern Zustand« zurückkehren und ein »gewaltsam Entbundenes« wieder »ins Enge bringen«, erfüllt sich nicht.108 Der durch die Restaurierung der alten Kirche symbolisierte Rückzug in die Vergangenheit bleibt eine Illusion.109 Auf der anderen Seite aber ist der Ausbruch aus den überkommenen Bindungen weniger eine Folge rationalen Handelns als vielmehr der ungezügelten Leidenschaften. Der Erzähler des Romans verweist dabei auf jene »werdende Leidenschaft«, die wie ein »Ingrediens« in das gewohnte Leben der adeligen Hauptpersonen des Romans tritt und allmählich eine »merkliche Gärung« verursacht, die bald »schäumend über den Rand« zu schwellen beginnt.110 Eduard verlässt die durch die adelige Familienkontinuität symbolisierte traditionale Ordnung, ohne bewusst eine neue Konstruktion an deren Stelle zu setzen. Die vor allem durch den Hauptmann in Gang gesetzten rationalen Gestaltungsversuche enden bald in einem Scheitern. Bezeichnend ist es, dass gerade jene Personen, die im Roman als Agenten des Umbruchs erscheinen könnten, nämlich Eduard und Ottilie, am Ende beide den Tod suchen und finden. Mit dem Tod von Eduards einzigem Sohn Otto steht daher lediglich das »Scheitern familialer Genealogien«111 fest und hat sich die von David Wellbery herausgearbeitete »Desorganisation symbolischer Ordnungen«112 vollzogen. Goethes Roman unterscheidet sich damit deutlich vom romantisch-konservativen Gegenentwurf Achim von Arnims. In dessen 1810 erschienenem Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores führt die Buße zur Selbstreinigung und Erneuerung des Adels, der nicht nur seine Genealogie fortsetzen, sondern auch seine politische Führungsfunktion wieder übernehmen kann.113
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Ebenda, I, 13. MA 9, S. 371. Vgl. ebenda, II, 2. MA 9, S. 407f. Ebenda, I, 7. MA 9, S. 333f. Vgl. Stephan, Schatten (Anm. 47). Vgl. Wellbery, ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 7). Vgl. Strobel, Adel (Anm. 44), S. 329–331; Achim von Arnim, Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfi n Dolores. In: Ders., Sämtliche Romane und Erzählungen, hrsg. von Walther Migge, Bd. 1. München 21974.
»Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden« – Gesellschaftlicher Umbruch und Reformpolitik als zeithistorischer Hintergrund des Romans Die Wahlverwandtschaften Gerhard Müller
Dass der Roman Die Wahlverwandtschaften für ihn ein Mittel sei, sich in der neuen, durch Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt eingeleiteten Epoche »mit meinen auswärtigen Freunden wieder einmal vollständig zu unterhalten«,1 hat Goethe schon vor Erscheinen des Buches selbst verlauten lassen. Ähnlich wie einst in seinem Werther war es ihm gelungen, die Stimmungslage einer ganzen Gesellschaft in einer sich rasch wandelnden Zeit mit all ihren untergründigen Ängsten, aber auch neuen Erwartungen und Zukunftshoffnungen nachzuempfinden. Das Gefühl, eine Zeitenwende zu erleben, beherrschte Goethe nicht erst seit 1806. Aber mit dem Einbrechen Napoleons in seine Weimarer Lebenswelt war er gleichsam über Nacht selbst zum unmittelbar Betroffenen geworden und sah sich in den Strudel einer Umbruchsdynamik gerissen, die in Jahrhunderten überkommene Ordnungen, Werte und Mentalitäten in Frage stellte. Der persönlichen Begegnung mit der schier überirdischen Erscheinung des Kaisers der Franzosen, der die Weltgeschichte in seinen siegreichen Feldzügen mit offenbar spielerischer Leichtigkeit umgestaltete, war Goethe zunächst ausgewichen. Als Napoleon die Weimarer Geheimen Räte als »conseil administratif« am 16. Oktober 1806 in das Residenzschloss einbestellte, fand Goethe sich unfähig, dem Befehl zu folgen. »In dem schrecklichen Augenblicke ergreift mich mein altes Übel. Entschuldigen Sie mein Außenbleiben. Ich weiß kaum, ob ich das Billet fortbringe« – so der Wortlaut jenes mit Bleistift geschriebenen Blättchens an den Kollegen Christian Gottlob Voigt, das sein Dilemma eingesteht.2 Zwei Jahre später, im Oktober 1808, trat er dem Kaiser selbstbewusst gegenüber, zunächst während jenes berühmten Empfangs während des Erfurter Fürstentages in Dalbergs einstigem Statthalterpalais und dann noch einmal wenige
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Goethe an Carl Friedrich Zelter, 1. Juni 1809. WA IV, 20, S. 345. Goethe an Christian Gottlob von Voigt, 16. Oktober 1806. WA IV, 19, S. 197. Voigts Präsentationsvermerk auf dem Billet lautet: »praes. 16. Oct. 1806 als ich schon zum Kaiser und König Napoleon als Mitglied des conseil administrat. gleich Herrn G.R von Wolzogen gehen wollte. V.«
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Tage später bei Napoleons pompösem Staatsbesuch in Weimar.3 Der Schock von 1806 war überwunden, und Goethe arbeitete bereits an der »Gewältigung« des Zeitgeschehens in den Wahlverwandtschaften. Der ländliche, vom Treiben der großen Welt scheinbar unberührte Rittergutsbezirk in diesem Roman, wo Eduard und Charlotte ihren Rückzugsort gefunden zu haben, auch einigen Nahestehenden, dem durch die Zeitereignisse brotlos gewordenen Hauptmann und Charlottes in den dürftigen Verhältnissen eines Pensionats lebender Nichte Ottilie, sichere Zuflucht gewähren zu können glauben, erweist sich als brüchig. Auch in diesem Idyll, ja in den handelnden Personen selbst spielt sich, zunächst subtil, verhalten und kontrollierbar scheinend, schließlich aber mit der Unaufhaltsamkeit eines Naturereignisses, ein Geschehen ab, das alles, was anfangs fest und unverbrüchlich schien, mit sich reißt. Die Protagonisten des Romans, die sich in ein nicht mehr zu entwirrendes Liebes- und Ehebruchsdilemma verwickeln, zerbrechen am Ende an sich selbst. Goethe hat bekanntlich darauf verwiesen, dass alles, was der Roman enthalte, selbst erlebt, aber kein Strich so sei, wie es erlebt worden. Dass er Ehe und Geschlechterbeziehungen,4 die intimsten Aspekte des menschlichen Seins, in den Mittelpunkt rückt, entspricht seiner induktiven, empirisch-phänomenologischen Denkweise, die stets das Große und Allgemeine im inneren Zusammenhang mit dem Detail, dem konkret Anschaulichen und Wahrnehmbaren zu sehen suchte. Die dadurch bewirkte Entzauberung der vermeintlichen Schicksalhaftigkeit des eigenen Lebens war sein Weg zur Entschlüsselung des rätselhaft und mystisch erscheinenden Welt- und Zeitgeschehens. In den folgenden Betrachtungen sollen einige dieser Verbindungslinien zwischen der realhistorischen Welt Goethes und dem Roman nachgezeichnet werden.
I. Die Literaturgeschichte hat oft gemutmaßt, welche Personen und Schauplätze Goethe in der ›kleinen Welt‹ der Wahlverwandtschaften abgebildet hat. Auch wenn mittlerweile klar geworden sein dürfte, dass dieser fiktive Ort keine deckungsgleiche Entsprechung in der Realität besitzt und Goethe ganz verschiedene Landschaftseindrücke und menschliche Charaktere zu einer modellhaften Konfiguration verwoben hat, sind mit ziemlicher Sicherheit das Rittergut der Familie von Ziegesar in Drackendorf bei Jena und die Baronesse Silvie von Ziegesar, die als Urbild der Ottilie gilt, dazu zu zählen.5 Mit der um 36 Jahre jüngeren Baronesse Silvie, der Tochter des August Friedrich Carl Freiherr von Ziegesar, sachsen-gothaischen Ministers, Hofrichters, Herrn auf Drackendorf, Wöllnitz und Rutha und seit 1809 auch Generallandschaftsdirektors von Sach3 4 5
Vgl. dazu jetzt Gustav Seibt, Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung. München 2008, S. 87–158. Vgl. auch den Beitrag von Nicole Grochowina in diesem Band. Hans-Jürgen Geerdts, Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Eine Analyse seiner historischen Bezogenheiten und des Ideengehaltes. Berlin 1966, S. 140.
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sen-Weimar-Eisenach, unterhielt Goethe seit 1808 eine romantische Beziehung. Bekannt war er mit der Familie bereits seit 1776. Nach seiner Rückkehr aus Italien, am 8. November 1788, kam es zu einer neuen, eindrucksvollen Begegnung. Gemeinsam mit Knebel besuchte er damals Drackendorf, um, wie er an Herzog Carl August berichtete, das »Ziegesarische Blut zu beschauen«.6 Der Herzog hatte ihn gedrängt, sich endlich nach einer standesgemäßen Ehe umzutun. »Die großgewachsnen Mädchen haben uns sehr in die Augen gestochen« – meldete Goethe dem herzoglichen Freund. Er schäme sich der Studentenader nicht, die sich in ihm wieder zu regen beginne. Aber gleichzeitig stellte er klar, dass an eine Verbindung nicht zu denken sei. Die älteste der Töchter – von der erst 1785 geborenen Silvie war natürlich noch keine Rede – nähere sich bereits der Mutter, die jüngere sei gerade konfirmiert, und die mittlere, Cäcilie, sei zwar »würcklich ein Schatz«, aber bereits vergeben. Zwei Monate später sollte sie den um 35 Jahre älteren Freiherrn Christian Ferdinand Georg von Werthern auf Beichlingen heiraten. Der Fall erregte Goethes Mitleid, ging es doch um eine typische adlige Konventionsehe, wie sie auch Eduard und Charlotte in den Wahlverwandtschaften einst als junge Leute, ihrer Liebe entsagend, hatten eingehen müssen, ehe sie durch den Tod ihrer Ehegatten wieder frei wurden und sich in reiferem Alter miteinander verbinden konnten. Pikanterweise handelte es sich um jenen Baron von Werthern, dessen Frau Amalie Christiane Philippine 1785 mit ihrem Geliebten, dem Weimarer Bergrat Johann August von Einsiedel, nach Tunis durchgebrannt war. Dieser Ehebruch war damals eine ungeheure Sensation, hatte doch Philippine, um ihre heimliche Abreise zu verschleiern, ihren Tod inszeniert. Die Sache flog auf, als ihr lediglich mit Stroh gefüllter Sarg den Leichenträgern zu leicht erschien. Der Fall hatte Goethe außerordentlich beeindruckt. Philippine hatte alles hinter sich gelassen, ihrer Liebe Ruf und gesellschaftliche Stellung als angesehene adlige Dame sowie ein riesiges Vermögen geopfert. Goethe weigerte sich trotz des herzoglichen Drängens standhaft, eine solche Konventionsehe einzugehen, und entschied sich bekanntlich für seine Beziehung zu Christiane Vulpius. Ehelichen indes durfte er Christiane nicht, skandalisierte sich doch der Hof maßlos über diese unstandesgemäße Liaison, der alsbald sein »natürlicher Sohn« August entspross. Ein Heiratskonsens, dessen er als herzoglicher Diener bedurft hätte, war trotz aller Freundschaft von Carl August nicht zu bekommen. Welche Kränkungen Goethe wegen seiner Beziehung zu Christiane erlitten hat, lässt sich bestenfalls mutmaßen, doch zeigte sich selbst ein Mann wie Herder dazu fähig, ihn mit der spöttischen Bemerkung, ihm sei sein natürlicher Sohn lieber als seine »Natürliche Tochter«, zutiefst zu verletzen.7 So kann es eigentlich nicht verwundern, dass er bereit war, sich nach dem Einrücken der Franzosen in Weimar, als der Herzog zeitweilig – dass Carl August mit dem Frieden von Posen am 15. Dezember 1806 seinen Thron wieder einnehmen würde, war 6 7
Goethe an Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, 16. November 1788. WA IV, 9, S. 58. Vgl. die Quellenzeugnisse in: Goethe. Begegnungen und Gespräche, Band 5. Hrsg. von Renate Grumach. Berlin, New York 1985, S. 347f.
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noch nicht abzusehen – nicht mehr Herr seines Landes war, mit Christiane trauen zu lassen. So wurde Goethe gleichsam der erste Nutznießer der neuen bürgerlichen Freiheiten, die die Franzosen nach Weimar brachten. Nach dem Bericht einer Dienstmagd Goethes hatten allerdings die bei ihm einquartierten französischen Marschälle sich darüber entrüstet, im Hause des berühmten Dichters zwar eine couragierte Haushälterin und Mutter seines »natürlichen Sohnes«, aber keine »Madame« anzutreffen, und ihm nachdrücklich »zugesetzt«, sie zu ehelichen.8 Die Trauringe ließ Goethe auf den 14. Oktober 1806, den Tag der großen Schlacht, datieren, an dessen Abend ihn Christiane davor bewahrt hatte, von Marodeuren misshandelt zu werden. Da noch eilig an Goethes Mutter nach Frankfurt am Main geschrieben werden musste (Napoleons Marschälle Lannes und Augereau unterzeichneten das Schreiben mit!), um ein Taufzeugnis Goethes zu beschaffen, verschob sich der Trauungstermin auf den 19. Oktober. Nun präsentierte Goethe seine Christiane auch in der Weimarer Gesellschaft, doch nur die soeben erst nach Weimar gezogene Hamburgerin Johanna Schopenhauer meinte: »[…] wenn Göthe ihr seinen Namen giebt können wir ihr wohl eine Tasse Thee geben«.9 Andere, wie z.B. Charlotte von Stein und Charlotte von Schiller, quittierten Goethes Eheschließung mit maliziösen Kommentaren, von den Gehässigkeiten, die Goethes Intimfeind Carl August Böttiger kolportierte, gar nicht zu reden.10 In der Welt der Wahlverwandtschaften indes, wo ein historischer Zufall, der 1806 die Standeskonventionen für Goethe außer Kraft gesetzt hatte, nicht vorkommen kann, endet die Sache tragisch. Aber Goethe war trotz der spät möglich gewordenen Ehe mit Christiane – ähnlich wie Eduard in den Wahlverwandtschaften – innerlich längst wieder offen für neue Beziehungen. Schon 1802/03 hatte er wieder engere Kontakte zu Ziegesars aufgenommen, wo er nun Silvie zu einer attraktiven jungen Dame heranwachsen sah. Mehrfache Versuche ihrer älteren Schwester Cäcilie, die mittlerweile eine reiche Witwe geworden war, sich bei ihm in Erinnerung zu bringen, ignorierte Goethe.11 Eine Konventionsehe kam für ihn nach wie vor nicht in Frage. Die Beziehung mit Christiane, die beiden ihre Freiheit ließ, empfand er als seiner gemäß. Er fühlte sich, wie er an Schiller schrieb, um Jahre verjüngt beim gemeinsamen Gesang mit Silvie und ihren Freundinnen.12 Die Malerin Luise Seidler, die damals zu jenem sangesfreudigen Kleeblatt gehörte, schildert ihre Erscheinung:
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Vgl. den von Johann Daniel Falk niedergeschriebenen Bericht der Dienstmagd Johanne Caroline Kunhold. In: Goethe. Begegnungen und Gespräche, Band 6, hrsg. von Renate Grumach. Berlin, New York 1999, S. 158f. Johanna Schopenhauer an Arthur Schopenhauer, 24. Oktober 1806. Ebenda, S. 166. Vgl. ebenda, S. 160–165. Vgl. Luise Juliane Cäcilie von Werthern an Goethe, 17. Januar 1798, 08. Februar 1798, 08. Mai 1804. In: Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Band 2. Weimar 1981, S. 311, 319; Band 4. Weimar 1988, S. 473f. Vgl. Goethe an Friedrich Schiller, 16. März 1802. WA IV, 16, S. 56.
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Sie trug ein weißes, eng anliegendes, mit Vergißmeinnichtblümchen umsäumtes Gewand und einen Vergißmeinnichtkranz in dem vollen blonden Haar; ein Bild, welches mir immer wieder in den Sinn kam, wenn ich las, wie dies poetische Wesen später in Goethes Gedichten verherrlicht worden ist.13
Im Jahr darauf plante man in Drackendorf – auch dieses Motiv findet sich in den Wahlverwandtschaften wieder – einen Park anzulegen, und Silvie bat Goethe um Vorschläge dazu. Dieser lieferte ihr ein Konzept für die Gestaltung der romantischen Drackendorfer Gegend zu einem Landschaftspark mit weiten Ausblicken, Berggipfeln und tiefen Gründen. Die Promenade sah diverse Stationen vor, die Anbahnung, Steigerung, Klimax und Ausklang einer Liebesbeziehung symbolisierten.14 Inwieweit dieser Plan realisiert worden ist, überliefern die Quellen nicht, wohl aber wurden landschaftsgestalterische Arbeiten in Drackendorf durchgeführt, denn Goethe notierte am 8. Juni 1809 nach einer Bemerkung über Revisonsarbeiten am ersten Teil der Wahlverwandtschaften in seinem Tagebuch: »Nach Tische mit Major von Hendrich nach Drakendorf gefahren. Mit Ziegesars auf die Promenaden und die Lobdaburg bestiegen«.15 Als er die Ziegesars 1808 während des sommerlichen Kuraufenthaltes in den böhmischen Bädern wieder traf, begann er für Silvie mehr als nur Freundschaft zu empfinden. Er durchlebte echte Liebesqualen, obgleich gewiss nicht in solchen Dimensionen, wie sie jetzt Martin Walsers Roman über die Liebesepisode des 74-jährigen Goethe mit Ulrike von Levetzow während des Marienbader Kuraufenthalts von 1823 nacherleben lässt.16 Silvie führte damals – ähnlich wie die Ottilie in den Wahlverwandtschaften – den Haushalt der Familie auf dem Drackendorfer Rittergut. Nicht einmal der Glanz des Erfurter Fürstentages und die besondere Aufmerksamkeit, mit der ihn Napoleon auszeichnete, vermochte Silvies Bild in Goethes Gedanken zu überblenden. Nachdem der Fürstentag am 14. Oktober zu Ende gegangen war und er am 18. Oktober gemeinsam mit dem befreundeten Georg Friedrich Christoph Sartorius das Jenaer Schlachtfeld sowie den dort auf seine Anweisung errichteten Ehrentempel für Napoleon inspiziert hatte, entfloh er vom 20. bis 23. Oktober 1808 in die ländliche Idylle Drackendorfs, wo er Silvie diesmal allein zu treffen hoffte:
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Erinnerungen und Leben der Malerin Louise Seidler (geboren zu Jena 1786, gestorben zu Weimar 1866). Aus dem handschriftlichen Nachlaß zusammengestellt und bearbeitet von Hermann Uhde. Berlin 1875, S. 26. Goethe an Silvie von Ziegesar, 31. August 1803. WA IV, 16, S. 276f.: »Wegen der Stationen thue ich folgende Vorschläge: 1. Besuch 2. Bekanntschaft 3. Gewohnheit 4. Neigung 5. Leidenschaft 6. [offen] 7. Freundschaft NB. No. 6 bleibt ein Ungenanntes und Unbekanntes, das sich jeder selbst suchen oder schaffen muß. Wollten Sie nun, liebenswürdige, diese wichtige Angelegenheit recht zu Herzen nehmen und mit gefühlvollen Nachbarinnen, die ich schönstens begrüße, das Weitere vorbereiten, so wird unsere nächste Zusammenkunft schon mehr befördern. Suchen Sie ja indeß die schönsten Plätzchen aus. Höhen, Gründe, Felsen, Bäume, Aussichten und Beschränkungen, alles müssen Sie in Betracht ziehen, damit jede Stelle den wahren Charakter ausspreche der Station, die dahin verlegt ist«. Goethe, Tagebuch, 8. Juni 1809. WA III, 4, S. 35. Martin Walser, Ein liebender Mann. Reinbek bei Hamburg 2008.
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Ist dem Freund erlaubt beykommenden Fasan Morgen Mittag mit Ihnen zu verzehren; so stellt er sich zur rechten Zeit ein. Schickt man ihn nach dem Kaffee nicht fort; so ist er eingerichtet zu bleiben Morgen Übermorgen und so weiter. Sagen Sie mir ein freundlich Wort! Ist der Papa in Altenburg? Hätten Sie hier einen Auftrag? Mährchen von guter Art bring ich mit. Und sonst noch einiges. In Hoffnung! Adieu.17
Dieser Aufenthalt in Drackendorf bildete den Höhepunkt der Beziehung, danach kühlte sie allmählich ab und wurde, ähnlich wie im Programm der einst für Silvie konzipierten Stationen des Drackendorfer Landschaftsparkes, zur Freundschaft. Silvie heiratete schließlich 1814 den Garnisonsprediger und außerordentlichen Professor der Theologie an der Universität Jena Friedrich August Koethe. Damit opferte sie – möglicherweise eine Konsequenz aus der Lektüre der Wahlverwandtschaften – ihrer Beziehung ihre adlige Standesposition als Baronesse einschließlich der damit verbundenen Privilegien wie z.B. der Hoffähigkeit. Anders als bei ihren standesgemäß verheirateten beiden ältesten Schwestern war ihre Ehe glücklich. Goethe stand Pate bei ihren Kindern. Nachdem Koethe 1850 gestorben war, lebte Silvie bis zu ihrem Tod 1872 auf dem Schloss Großneuhausen, das ihrem Neffen, Ottobald Freiherr von Werthern, dem Sohn ihrer Schwester Cäcilie, gehörte, und führte dort eine Näh- und Strickschule für junge Mädchen.
II. Die Figurenkonfiguration in den Wahlverwandtschaften wirkt auffällig zweigeteilt. Nur drei Hauptpersonen der Handlung: Eduard, Charlotte und Ottilie, tragen Namen, außerdem noch Charlottes Tochter Luciane und die eigenartige Figur des zwischen den beiden Gruppen stehenden ehemaligen Geistlichen Mittler, der durch glückliche Umstände zu Geld und Besitz gekommen ist. Die andere Gruppe besteht aus Namenlosen, die sich über ihren Titel, Status oder Beruf definieren: der Hauptmann, der Gärtner, der Architekt, der Gehilfe, der Graf, der Lord usw. Sie verkörpern bestimmte Menschentypen. Der mit Eduard befreundete Hauptmann gehört zwar zur zweiten Gruppe, weil seine Persönlichkeit hauptsächlich durch seine Professionalität charakterisiert ist. Im Verlauf der Handlung wird aber mitgeteilt, dass er eigentlich der ersten Gruppe entstammt, gemeinsam mit Eduard aufgewachsen ist und den Vornamen Otto trägt, der auch Eduards ursprünglicher Vorname ist. Die Protagonisten sind mehr oder weniger stark traditionsgeprägt. Ottilie erlebt in der überschaubaren Welt des Ritterguts ein ersehntes Refugium, wo sie Geborgenheit und Erfüllung findet, und Eduard, der in der ländlichen Zweisamkeit mit Charlotte seinem Weltüberdruss zu entfliehen sucht, fühlt sich von dem Tempo, in dem sich die Verhältnisse wandeln, regelrecht gepeinigt und blickt sehnsüchtig auf
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Goethe an Silvie von Ziegesar, 19. Oktober 1808. WA IV, 20, S. 185f.
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die Altvorderen zurück, deren Leben sich in unveränderlichen Gleisen bewegt hatte und stets berechenbar gewesen war: Es ist schlimm genug, rief Eduard, daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.18
Doch sein ländlicher Zufluchtsort bleibt vom historischen Wandel nicht unberührt, ebensowenig wie das weimarische Herzogtum, die Lebenswelt Goethes. Die historische Kontextualisierung vermag die im Roman dazu hergestellten Bezüge aufzuzeigen. Es wird oft übersehen, dass die gewaltigen, aber doch mit dem Beitritt Carl Augusts zum Rheinbund rasch überwunden geglaubten Kriegsereignisse vom Oktober 1806 für die Geschichte des weimarischen Herzogtums eine keineswegs nur ephemere Bedeutung besaßen. Nichts blieb nach dem 14. Oktober 1806 in Sachsen-Weimar-Eisenach noch so wie vorher. Tiefgreifende politische und gesellschaftliche Reformen standen bevor. Das kleine Land war kraft der Rheinbundakte ein souveräner Staat. Die Verfassung des Alten Reichs, in die es eingebunden gewesen war, gab es nicht mehr, und über kurz oder lang, so glaubte damals jeder, würde der allmächtige Bundesprotektor Napoleon dafür sorgen, dass alles nach französischem Vorbild umgestaltet werden würde. Carl August war keineswegs jener sich widerwillig in sein Schicksal fügende, adelsstolze Reichsfürst, der Napoleon insgeheim als Emporkömmling verachtete und seine Loyalität als Rheinbundfürst strikt auf das beschränkte, wozu ihn die Bundesakte verpflichtete. Im Gegenteil: Wäre es nach ihm gegangen, hätte er in der politischen Landschaft Thüringens keinen Stein mehr auf dem andern gelassen. Die territorialen Neuordnungspläne, die er Anfang 1807 entwarf, sahen eine großangelegte Flurbereinigung vor. Umfassende Gebietsaustauschprojekte sollten aus der Gemengelage zerstückelter und miteinander grotesk verzahnter Fürstentümer arrondierte Staaten formen, in denen sich eine effiziente Verwaltung aufbauen ließ.19 Diese sollte, wie ein von Voigt auf Anweisung Carl August entworfenes Exposé vom Februar 1807 zeigt, konsequent nach dem bürokratisch-direktorialen Vorbild Frankreichs organisiert werden.20 Auch die von Goethe geleiteten Immediatkommissionen für die verschiedenen Anstalten von Wissenschaft und Kunst in Weimar und Jena wären, hätte sich Voigts Plan vollständig verwirklichen lassen, in eine bürokratische Hierarchie eingegliedert worden. Aber die Erwartung, die Franzosen würden in Thüringen eine ähnliche territoriale Neuordnung vornehmen wie in Süddeutschland,
18 19
20
Vgl. Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 4. FA I, 8, S. 300. Vgl. Ausgleichsplan des Herzogs Carl August über die sächsisch-thüringischen Lande, in: Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, Band 2. Stuttgart 1958, S. 472–474. Vgl. Christian Gottlob von Voigt an Wilhelm Ernst Friedrich von Wolzogen, o.D. [nach 17. Februar 1807], und Unterthänigster Vorschlag wie die Herzogl. Sachsen Weimarische Landes Administration modificirt werden könnte, in: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 83/2670, Nr. 7, Stück-Nr. 26.
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erfüllte sich nicht. Carl Augusts Arrondierungsplan blieb Makulatur. Die Hegemonialmacht hatte andere Sorgen, als sich um die deutschen Kleinfürsten zu kümmern. Es genügte ihr vorerst, wenn die gerade erst aus Gegnern zu Verbündeten gewordenen Länder sich wieder konsolidierten, Ruhe und Ordnung gewährleisteten und ihre militärischen und finanziellen Bundespflichten erfüllten. Denn kaum hatte Napoleon den Feldzug im Osten gewonnen, machte der im Herbst 1807 in Spanien ausbrechende Aufstand neue Feldzüge nötig, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchten. So musste sich der Kaiser darauf beschränken, sogenannte ›Modellstaaten‹ wie z.B. das Königreich Westphalen zu errichten, deren nach französischem Muster gestaltete Verhältnisse in den anderen Rheinbundstaaten Nachahmungseffekte bewirken sollten. Diese Politik der ›moralischen Eroberungen‹ ließ diesen, darunter auch Weimar, Zeit, um eigenständige, ihren spezifischen Verhältnissen und Interessen angemessene Reformkonzeptionen zu entwickeln und den unausweichlichen Umbau des frühneuzeitlichen Ständestaates zu einer modernen Staatsorganisation allmählich zu vollziehen. Wie stark der Reformdruck aber dennoch empfunden wurde, zeigt eine im Januar 1808 entstandene Denkschrift des Präsidenten des Landespolizeikollegiums zu Weimar, Carl Wilhelm Freiherr von Fritsch, mit dem Titel Zufällige Gedanken über einige Veränderungen der bisherigen Verfassung. Was er vorschlug, war nichts anderes als die komplette Abschaffung des Feudalsystems. Seine Begründung lautete: Die Begebenheiten, deren Zeugen wir sind, lehren zu deutlich, daß mehrere ältere Institute und bürgerliche Verhältniße ihrer Auflösung entgegen gehen. Der Geist der Zeit kämpft gegen solche und in manchen Staaten haben mehr oder minder gewaltsame Revolutionen die Abänderung bewirkt. Noch besteht indeßen im nördlichen Deutschland, auch in den Herzogl. Landen das Feudal-System; Wird es lange bestehen können? muß man einer Revolution entgegen sehen? Oder könnte und sollte man dieser durch Annäherung an die neuen Grundsätze almählich begegnen und ohne gewaltsame Zerrüttung die Veränderung herbeyführen? Die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit mit dem Geist der Zeit fortzuschreiten hat den vorliegenden Aufsatz erzeugt. Die fast algemeine Stimme fordert Gleichheit der Rechte, Gleichheit der Abgaben und es erfordert selbst der Vortheil der bisher privilegirten Stände, in Ruhe diese Fragen zu erörtern und zu beschliessen.21
Der Herzog billigte das, was Fritsch vorschlug, doch kam es in anderen Fragen innerhalb der politischen Führung des Herzogtums auch zu scharfen Kontroversen über das reformpolitische Vorgehen. Im Oktober 1807 hatte Carl Augusts Gesandter in Paris, Friedrich von Müller, auf Anraten des französischen Außenministers Champagny in einem Bericht nach Weimar die dringende Empfehlung ausgesprochen, man möge der Anregung Napoleons, in den Rheinbundstaaten den Code Napoléon, das von der Revolution geschaffene bürgerliche Gesetzbuch der Franzosen, das keine Standesvorrechte mehr kannte, einzuführen, schnellstmöglich nachkommen. Wenn der Bundesprotektor den Code Napoléon erst allgemein verordne, habe man keinerlei Gestaltungs-
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Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 68, Nr. 637, Bl. 1r-6v.
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möglichkeiten mehr, beginne man aber mit der Einführung des neuen Rechts schon jetzt, könne man es noch den eigenen Bedürfnissen gemäß modifizieren. In Weimar löste Müllers Bericht große Besorgnis aus. Selbst der Müller wohlgesinnte Geheimrat Voigt fand dessen Vorstoß bedenklich: Fingen wir an, einen neuen Staat zu bilden, so würde man ganz artig damit fortkommen können. Wo aber eine schon so in das Innere des Landes und der Menschen eingefleischte Verfassung vorhanden ist, da dürfte es Kunst kosten; denn kein Justizkollegium, keine untere Instanz, keine Zustände der Subalternen und Advocates könnten bleiben. Alle die Mitglieder dieser Stellen und Stände müßten neu studieren. Es wäre eine Umwerfung, woraus die bedenklichsten Verwirrungen entstehen müßten […].22
Weitaus drastischer formulierte sein Kollege Wilhelm von Wolzogen, der stets einer der schärfsten Kritiker Müllers war, seinen Widerspruch: Ich weiß sehr wohl, man kann uns sieden und braten und befehlen, auf allen Vieren zu gehen, und von 100 000 Seelen werden und müssen es 99 000 tun – aber dann warte man doch, bis jener Befehl da ist […] Die Menschen gewöhnen sich leichter an fremde Sprachen als an fremdes Recht.23
Goethe sah das Problem ähnlich wie Voigt und meinte ebenfalls, dass man das Land auf das künftige neue Recht vorbereiten müsse. Schon seit Herbst 1807 las der Jenaer Professor der Jurisprudenz Johann Anton Ludwig Seidensticker den Code Napoléon. Nach Müllers Vorstoß suchte Goethe ihn zu einem dringenden Gespräch auf, und am 23. November 1807 kam er im Jenaer Hause Frommann mit Seidensticker und dem Staatsrechtler Andreas Joseph Schnaubert zu einer Diskussionsrunde zusammen. Anschließend debattierte er seinem Tagebuch zufolge mehrere Stunden mit Seidensticker allein »über den Code Napoleon und über die neuern Verhältnisse des Staatsrechts zum Civilrechte«.24 Goethe suchte über die Konsequenzen einer solchen Reform Klarheit zu gewinnen, bedeutete sie doch, die Axt an die Wurzel der überkommenen Rechtsordnung zu legen. Vorerst konnte es noch beim Abwarten bleiben, aber noch im Sommer 1812 rechnete man fest damit, dass die allgemeine Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten bald bevorstehe. Müller indes wurde Ende 1807 von Herzog Carl August, der dessen Eigenmächtigkeiten immer mehr überdrüssig wurde, von seinem Pariser Gesandtenposten nach Weimar zurückberufen und wieder in das Kollegium der Weimarer Landesregierung versetzt, wo er nach einigen Jahren zum Kanzler aufstieg. Seine reformpolitischen Aktivitäten erhielten dadurch eine neue Richtung. Er widmete sich jetzt mit ungebremstem Eifer der Errichtung eines gemeinschaftlichen Oberappellationsgerichts der thüringischen Staaten sowie 22 23 24
Christian Gottlob von Voigt an Friedrich von Müller, 18. November 1807, in: Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar (Anm. 19), S. 605. Wilhelm Ernst Friedrich von Wolzogen an Christian Gottlob von Voigt, 10. November 1807. Ebenda, S. 602. Goethe, Tagebucheintrag vom 23. November 1808. In: Johann Wolfgang Goethe, Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Jochen Golz. Band III, 1. Stuttgart, Weimar 2004, S. 395.
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seit 1809 der Reform der alten, ständisch-korporativen Stadtverfassungen in Sachsen-Weimar-Eisenach. Gleichzeitig war er der Vertrauensmann Goethes bei der Durchsicht und Zensur der Stücke, die auf dem Weimarer Hoftheater aufgeführt werden sollten. Wichtigster Exponent der Neuerungsbestrebungen in den Wahlverwandtschaften ist der Hauptmann, dessen Talente auch bald vom Landesregenten wahrgenommen werden. Er bleibt zwar in ständiger Beziehung zu Eduard, Charlotte und Ottilie, macht aber Karriere und avanciert zum Major. Er verkörpert den Typus des Reformbürokraten jener Zeit, der zwar oft noch dem Adel entstammte, sich aber ein bereits durchaus bürgerliches Berufs- und Leistungsethos angeeignet hatte. Hervorstechend sind seine nie nachlassende Betriebsamkeit und ein neuer Umgang mit dem Faktor Zeit. Eine »chronometrische Sekunden-Uhr«, die er – ähnlich übrigens wie Napoleon25 – ständig bei sich trägt und benutzt, steuert sein Leben, keine Minute des Tages lässt er ungenutzt verstreichen. Darin ähnelte er dem eben erwähnten Kanzler von Müller, den man in Weimar »perpetuum mobile« nannte. »Das Vielfache, was er in sich ausgebildet hat, zu Andrer Nutzen täglich und stündlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergnügen, ja seine Leidenschaft«, so lässt Goethe den Hauptmann durch Eduards Mund beschreiben.26 Der beginnt sofort, Eduards Rittergut von Grund auf zu reorganisieren.27 Was dem Leser der Wahlverwandtschaften als nützlicher Zeitvertreib gelangweilter Landadliger erscheinen mag, war in Goethes Weimarer Lebensumfeld ein vieldiskutiertes Gebot der aktuellen Zeitverhältnisse. Die Obrigkeit machte Druck, erinnert sei an Fritschs oben erwähnte Denkschrift, denn auf die Steuerkraft der Rittergüter zu verzichten, konnte sich der weimarische Staat angesichts der immensen Kriegs- und Rheinbundlasten nicht mehr länger leisten. Zugleich musste man die Gutsbesitzer dazu veranlassen, mit diesem Kapital professionell zu wirtschaften. Das wiederum erforderte einen straff geleiteten und effizient organisierten Gutsbetrieb – alles andere also als einen idyllischen Altersruhesitz, wie ihn sich Eduard und Charlotte in den Wahlverwandtschaften vorstellen. Dass Eduard dieses Problem auf den Nägeln brennt, kann der historisch Kundige durchaus zwischen den Zeilen lesen – sind doch die Motive, die der sich in Charlottes Mooshütte beengt fühlende Eduard für die Berufung des Hauptmanns ins Feld führt, keineswegs völlig selbstlos: Ich hätte längst eine Ausmessung des Gutes und der Gegend gewünscht; er wird sie besorgen und leiten. Deine Absicht ist, selbst die Güter künftig zu verwalten,
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26 27
Die Gewohnheit Napoleons, ständig auf seine Uhr zu sehen, war Goethe offensichtlich bekannt. So berichtet beispielsweise Louise Seidler, die den Kaiser am Tag nach der Schlacht bei Jena in seinem Quartier im Jenaer Schloss beobachtete: »Durch ein Fenster unseres Vorsaals konnte ich ihn beobachten, wie er lange sinnend am Fenster des gegenüberliegenden Zimmers stand, in den Händen seine Uhr haltend, deren Kette er langsam durch die Finger gleiten ließ« (Erinnerungen und Leben der Malerin Louise Seidler [Anm. 13], S. 35). Vgl. auch den Beitrag von Elisabeth von Thadden in diesem Band. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. FA I, 8, S. 273. Vgl. auch den Beitrag von Stefan Blechschmidt in diesem Band.
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sobald die Jahre der gegenwärtigen Pächter verflossen sind. Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen! Zu wie manchen Vorkenntnissen kann er uns nicht verhelfen! Ich fühle nur zu sehr, daß mir ein Mann dieser Art abgeht. Die Landleute haben die rechten Kenntnisse; ihre Mitteilungen aber sind konfus und nicht ehrlich. Die Studierten aus der Stadt und von den Akademien sind wohl klar und ordentlich; aber es fehlt an der unmittelbaren Einsicht in die Sache. Vom Freunde kann ich mir beides versprechen […].28
Der Hauptmann erfüllt diese Erwartung und geht mit Kenntnis und Methode zu Werke. Charlottes dilettantische Parkgestaltungsversuche finden vor seinem durchdringenden Verstand keine Gnade, doch versucht er, sie durch Geduld und Überzeugung allmählich für seine Ansichten zu gewinnen. Aufschlussreich ist vor allem das Gespräch zwischen ihm und Eduard während des Spaziergangs durch das Dorf. Es geht dabei nicht um Verschönerung, sondern um »Schweizer Ordnung und Sauberkeit«, die man, wie der Hauptmann erinnert, bei einer früheren gemeinsamen Reise durch die Schweiz wahrgenommen habe. Eduard pflichtet ihm bei und hat sogar eigene Ideen. Durch das Dorf fließe ein Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit Steinen, der andre mit Pfählen, wieder einer mit Balken, und der Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner aber den andern fördert, vielmehr sich und den übrigen Schaden und Nachteil bringt […] Wollten die Leute mit Hand anlegen, so würde kein großer Zuschuß nötig sein, um […] durch eine ins Große gehende Anstalt alle kleine unzulängliche Sorge auf einmal zu verbannen.29
Man darf darin durchaus ein Gleichnis sehen – was hier in der kleinen Welt des Gutsbezirks unternommen wurde, vollzog sich allenthalben in Deutschland im großen Stil. Die seit 1803 ablaufende territoriale Revolution war eine riesige Flurbereinigung. 1806 schließlich war das Alte Reich mit seiner auf den lokalen Herrschaften mit ihren buntscheckigen Sonderrechten aufgebauten, segmentären Verfassung endgültig liquidiert, und die hierarchisch organisierte, bürokratisch-direktoriale Staatlichkeit des 19. Jahrhunderts, eben eine ›ins Große gehende Anstalt‹, etablierte sich unaufhaltsam. Auch Herzog Carl August wurde, wie erwähnt, nur durch fehlenden politischen Einfluss daran gehindert, diese staatlich-politische Flurbereinigung im großen Stil zu betreiben. Dass auch Goethe 1809 Ideen entwickelte, um das seiner Administration unterstehende Konglomerat der Wissenschafts- und Kunsteinrichtungen in Weimar und Jena zu einer zentralistisch organisierten Behörde umzuformen,30 sei hier nur am Rande erwähnt. Zweckrationalität ist das Ziel der Reformen. Dies führt der Hauptmann vor, als die beiden auf ihrem Spaziergang von einem Bettler angesprochen werden. Sofort hat er eine Idee, wie man die Bettler fernzuhalten vermöge, wenn man sie künftig durch Beauftragte am Rande des Dorfes abfertigen ließe. Diese anscheinend kleine Reform der ländlichen Polizei im Gutsbezirk hat Symbolbedeutung. Die Gabe von Almosen war von jeher
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. FA I, 8, S. 274. Ebenda, I, 6. FA I, 8, S. 316. Vgl. hierzu Irmtraut und Gerhard Schmid, Kommentar. In: Goethes Amtliche Schriften, Band 2. FA I, 27, S. 1095–1097.
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eine Pflicht der christlichen Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Vor Gottes Richterstuhl gelten alle Menschen gleich, und die persönliche Dankbarkeit des Empfängers bezeugte das gute, gottgefällige Werk. Jetzt wird Armenpflege zur reinen Verwaltungsmaßnahme, die Dank weder will noch braucht, sondern allein dazu dient, die Belästigung durch die Armen abzustellen. Als Eduard beiläufig bemerkt, er habe mit den Bürgern und Bauern nicht gern zu tun, legt der Hauptmann ihm seine Auffassung über den Geist von Reformpolitik überhaupt dar. Die konsensuale Politik der Vergangenheit, wo die Rechte aller Beteiligten sorgsam respektiert und Kompromisse ausgehandelt wurden, wird prinzipiell kritisiert und soll ersetzt werden durch das keinen Widerspruch duldende Handeln der Beamten, jener damals aufkommenden neuen Kaste der dem allgemeinen Staatszweck verpflichteten Techniker am Räderwerk der Verwaltungsmaschine,31 denen sich der Hauptmann zurechnet. Viele verwechseln gar die Mittel und den Zweck, erfreuen sich an jenen, ohne diesen im Auge zu behalten. Jedes Übel soll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorschein kommt, und man bekümmert sich nicht um jenen Punkt, wo es eigentlich seinen Ursprung nimmt, woher es wirkt. Deswegen ist es so schwer Rat zu pflegen, besonders mit der Menge, die im Täglichen ganz verständig ist, aber selten weiter sieht als auf Morgen. Kommt es nun gar dazu, daß der eine bei einer gemeinsamen Anstalt gewinnen, der andre verlieren soll, da ist mit Vergleich nun gar nichts auszurichten. Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden.32
Deutlicher, als dies Goethe den Hauptmann sagen lässt, kann man den Geist des neuen Beamtentums kaum charakterisieren. Die Napoleonische Epoche stand, im Rheinbund ebenso wie in Preußen, ganz im Zeichen der diktatorisch agierenden Reformbürokratie. Mit einem Federstrich hatten die meisten Rheinbundfürsten die jahrhundertealten Ständevertretungen mit ihren Mitwirkungsund Bewilligungsrechten am Ende des Alten Reichs einfach beseitigt. Auch das Weimarische Herzogtum stand vor der Entscheidung, ob es diesen Weg gehen sollte. Der Hauptmann in Goethes Roman hat in der Weimarer Ministerialbürokratie einen realhistorischen Doppelgänger: Carl Ferdinand Freiherr von Müffling genannt Weiß, den nachmaligen preußischen Generalfeldmarschall. 1805 hatte er als Hauptmann im preußischen Generalstab mit Unterstützung Carl Augusts Vermessungs- und Kartographierungsarbeiten im Thüringer Wald durchgeführt, damit eine Abwehrstrategie gegen den von Südwesten her erwarteten Vorstoß der Armeen Napoleons konzipiert werden konnte. Als die preußische Armee 1806 ihren Feldzugsplan danach ausrichtete, machte ihr Napoleon allerdings einen Strich durch die Rechnung. Er umging den Thüringer Wald, drang über die Täler von Saale und Elster nach Norden vor und traf bei Jena und Auerstedt auf die sich gerade umgruppierenden Armeekorps der
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Vgl. dazu Bernd Wunder, Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtentums in Bayern und Württemberg (1780–1825). München u.a. 1978 [= Studien zur modernen Geschichte, 21]; ders., Geschichte der Bürokratie in Deutschland. Frankfurt am Main 1988. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 6. FA I, 8, S. 316f.
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Preußen und Sachsen. Unkoordiniert und schlecht geführt, war ihre Zerschlagung für den Kaiser leichter als erwartet. Als die preußischen Streitkräfte, durch den Frieden von Tilsit auf eine Truppenzahl von 42.000 Mann begrenzt, 1807 demobilisiert werden mussten, wurde Müffling stellungslos, und Carl August, der tatkräftige Beamte dringend benötigte, engagierte ihn 1808 für den Weimarer Staatsdienst. Er wurde Vizepräsident des Landschaftskollegiums, einer Behörde, die seit der Zeit des Herzogs Ernst August die Kassen der Weimarer Landschaft verwaltet hatte, aber nun zur zentralen Finanzbehörde für das gesamte Herzogtum ausgebaut werden sollte. Dem Landschaftskollegium angegliedert wurde auch ein »Mathematisches Bureau«, das für das Landvermessungswesen und die Einführung einheitlicher Maße und Gewichte im Herzogtum zuständig war. Wie der Hauptmann in den Wahlverwandtschaften machte auch Müffling Karriere und wurde zum wichtigsten Zugpferd des Herzogs bei der Durchsetzung der seit 1808 anlaufenden Reformpolitik. In Weimar orientierte man sich indes nicht auf das bürokratisch-direktoriale Reformmodell der Napoleonidenstaaten hin, sondern suchte einen Kompromiss, der die konsensuale Politiktradition in die neue Staatlichkeit einzubinden erlaubte und von den altständischen Eliten mitgetragen werden sollte – ganz so, wie der Hauptmann trotz seines bürokratisch-zentralistischen Politikideals versucht, Eduard und Charlotte durch geduldige Überzeugungsarbeit auf dem Weg in die Moderne mitzunehmen. Die Lösung war eine neue, parlamentarische Verfassung, die zugleich die bis dahin nur durch die Person des Herzogs miteinander verbundenen Landesteile – die Fürstentümer Eisenach und Weimar sowie die Jenaische Landesportion – zu einer staatlichen Einheit zusammenfassen sollte. Als Goethe die Arbeit an den Wahlverwandtschaften im April 1808 begann, schrieb Carl August als Antwort auf die oben zitierte Reformdenkschrift Fritschs gerade sein Exposé über die neue landständische Verfassung nieder, die er in Sachsen-Weimar-Eisenach einzuführen gedachte. In den Folgemonaten wurde sein Plan mit führenden Ständevertretern diskutiert, um diese für die projektierte Verfassungsreform zu gewinnen. Der entscheidende Durchbruch gelang Carl August während einer langen ›Konferenz‹ auf Schloss Drackendorf am 26. Mai 1808, wo er den angesehensten und politisch einflussreichsten Vertreter der weimar-jenaischen Stände, den Minister August Friedrich Carl Freiherr von Ziegesar, Silvies Vater, auf seine Seite zu ziehen vermochte. Ziegesar leitete dann den gemeinsamen Ausschusstag der Ständevertreter der drei Landesteile von Januar bis März 1809, auf dem der Verfassungsentwurf im Detail ausgearbeitet wurde. Nur auf der Grundlage einer solchen Partnerschaft mit den Landständen vermochte der Herzog mit der Constitution der vereinigten Landschaft der herzoglich Weimar- und Eisenachischen Lande, mit Einschluß der Jenaischen Landesportion, jedoch mit Ausschluß des Amtes Ilmenau vom 20. September 180933 als einer der ersten 33
Vgl. Verfassungsurkunde. In: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Vereinigte Landschaft von Sachsen-Weimar-Eisenach, IV, 4, Bl. 5r-51v, abgedruckt in: Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Verfassungen des deutschen Staatenbundes seit dem Jahre 1789, 2. Abteilung. Leipzig 1847, S. 732–751.
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deutschen Fürsten die Schwelle zum frühparlamentarischen Konstitutionalismus zu überschreiten. Als Goethes Wahlverwandtschaften im Herbst 1809 im Buchhandel erschienen, waren die letzten Hürden gerade überwunden. Die Konstitution war per Zirkularabstimmung von allen Ständen angenommen, in Kraft gesetzt und daraufhin zum 23. Oktober 1809 der erste landschaftliche Deputationstag für das gesamte Herzogtum einberufen worden. Allerdings war der Verfassungskompromiss noch nicht gänzlich vollendet; die Einigung über die Zusammenfassung der Schulden der drei Landesteile zu einem einheitlichen Landesschuldenwesen stand noch aus, so dass die Konstitution, obwohl in Kraft gesetzt, nicht öffentlich publiziert werden konnte.34 Zufall oder nicht – die Entstehung der Weimarer Konstitution von 1809 deckte sich zeitlich fast genau mit der von Goethes Wahlverwandtschaften. Ähnlich wie Eduard und der Hauptmann Hand in Hand an der Reform des Rittergutes arbeiten, wurde Ziegesar nach dem Inkrafttreten der Konstitution der wichtigste Partner Müfflings bei der weiteren Verwirklichung der Reformpolitik in Sachsen-WeimarEisenach, eine Partnerschaft, die keineswegs immer harmonisch verlief, sondern auch Konflikte beinhaltete, in deren Verlauf Müffling den alten Freiherrn 1812 sogar zum Duell forderte.
III. 1809 deutete Goethe in einem Brief an seinen Berliner Freund Carl Friedrich Zelter an, er habe in den Roman, an dem er gerade schreibe, »viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dieß offenbare Geheimniß zur Freude gereichen«.35 Hierzu gehört zweifellos die ambivalente Perspektive auf Eduard und Charlotte. Aus der Sicht der herrschenden Moral betrachtet, ist Ottilie eine Märtyrerin, die erst in der Entsagung und Buße die höchste Schönheit und Größe ihrer Seele offenbart. Das durch ihre Beziehung mit Eduard gebrochene Sakrament der Ehe ist durch ihre Selbstaufopferung wieder neu geheiligt, und Ottilie wird in solcher Perspektive zu einer Heldenfigur von antiker Größe. So suggeriert es der fiktive Erzähler des Romans, und so sahen es auch viele Leser der Wahlverwandtschaften. In der Tat lässt das herrschende Sittengesetz Ottilie nur diesen Weg, um ihre Ehre und Integrität zu bewahren, 34
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Dekret an den Generallandschaftsdirektor August Friedrich Carl Freiherr von Ziegesar, 20. September 1809, in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Vereinigte Landschaft von Sachsen-Weimar-Eisenach, IV, 4, Bl. 1r-1v: »Ihre Herzogl. Durchl. haben den Entwurf unter einigen zweckmäßigen Erläuterungen und näheren Bestimmungen genehmiget und in solcher Maase beyliegendes Original der Constitution eigenhändig vollzogen und bekräftiget. Höchst Dieselben würden keinen Anstand nehmen, diese Constitution, mittelst eines förmlichen Patents öffentlich bekannt zu machen, wenn nicht, wie den getreuen Deputirten Ständen der drey bisherigen Landschaften bestens bekannt ist, über einige bedeutende Gegenstände der vollkommenen Vereinigung annoch erst zum Ziel zu gelangen sey. Ihro Herzogl. Durchl. laßen es daher bey der Zufertigung der Constitution selbst vorerst noch bewenden, und versehen sich, daß derselben von der nächst bevorstehenden Deputations-Versammlung an, werde nachgegangen werden«. Goethe an Carl Friedrich Zelter, 01. Juni 1809. WA IV, 20, S. 346.
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ähnlich wie dem Adligen, der sich, wenn er eine Ehrverletzung erlitten hat, dem Duell, mithin ebenfalls einer Art Gottesurteil, stellen muss, wenn er nicht als ehrlos gelten will. Diese Perspektive wird jedoch durch die Möglichkeit einer anderen, alternativen Betrachtungsweise ironisch gebrochen, die durch die Fakten der Handlung selbst, durch die gleichsam naturgesetzliche Logik der Vorgänge, die scheinbar unaufhaltsam in die Katastrophe führen, geschaffen wird. Aus diesem Blickwinkel gesehen, erweisen sich Eduard und Ottilie nicht mehr als tragische Helden, sondern als hilflose, bedauernswerte Kreaturen, die vom Schicksal zermahlen werden, weil sie sich als unfähig erweisen, dem Druck der Konventionen, die sie zutiefst verinnerlicht haben, zu widerstehen. Dieses Unvermögen beruht nicht etwa auf mangelnder Bildung und intellektueller Einsicht, sondern offenbart sich als ein Problem ihrer Mentalität. Eduard vermag sich zwar dem Reformeifer des Hauptmanns durchaus anzuschließen, findet die eine oder andere Maßnahme, die dieser vorschlägt, nützlich und zweckmäßig, ja entwickelt sogar selbst Neuerungsideen, ebenso wie Charlotte, die schließlich die Überlegenheit der professionellen Vorgehensweise des Hauptmanns gegenüber ihren dilettierenden Bemühungen um die Parkgestaltung anerkennt, aber er ist weder gewohnt noch dazu bereit, sein Leben und Handeln ebenso strikt und zweckbestimmt zu organisieren, wie es der Hauptmann tut. Als vom Glück begünstigter reicher Edelmann und Herr eines umfangreichen Besitzes lebt er selbstherrlich nach seinem Gefühl. In Entscheidungssituationen folgt er nicht rationalem Kalkül, sondern dem Los. Wie Ottilie hat er »bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten«.36 Sein Normen- und Wertsystem ist das der Adels- und Rittertugend, und sein Besitzerstolz ein herrschaftlich-dynastischer. Als traditionsbewusster Adliger empfindet sich Eduard als Glied einer überzeitlichen, die Generationen seit Jahrhunderten verbindenden familiären Traditionskette, die dem jeweils lebenden Stammhalter die heilige Pflicht auferlegt, das Patrimonium zu bewahren und ungeschmälert an die Nachkommen weiterzugeben.37 Der Dialog zwischen Eduard und Charlotte im Sechzehnten Kapitel des Ersten Teils38 offenbart die Dominanz des traditionalen Status- und Besitzdenkens. Charlotte sagt es Eduard auf den Kopf zu, dass sie es als unzumutbar empfinde, mit einer Scheidung auf »wohlerworbnes Glück, auf die schönsten Rechte« zu verzichten. Dieser wiederum kann nicht anders als ihr zuzustimmen, er »fühlte wie recht sie hatte«. In gnadenloser Konsequenz ihrer Rechtsstellung verlangt Charlotte nun, die aus einer liebevoll umsorgten Verwandten und Freundin zur Nebenbuhlerin gewordene Ottilie abzuschieben. Um diese Grausamkeit abzuwenden, sieht Eduard als seiner Standes- und Familienehre gemäßen Ausweg nur die Selbstentsagung. Da er einen legitimen Nachkommen gezeugt und damit seiner dynastischen Pflicht genügt zu haben glaubt, überlässt er nun sein Rittergut Charlotte, die es treuhänderisch als Erbe für den Sohn Otto verwalten soll,
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 7. FA I, 8, S. 320. Vgl. auch den Beitrag von Marko Kreutzmann in diesem Band. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 16. FA I, 8, S. 373–378.
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und überantwortet sein eigenes Leben dem Kriegsglück. Ottilie ist von nun an für ihn unberührbar, solange Charlotte sie auf dem Rittergut duldet und als der Familie zugehörig akzeptiert. »Außer dem Bezirk deines Schlosses, deines Parks, fremden Menschen anvertraut, gehört sie mir, und ich werde mich ihrer bemächtigen«.39 Noch stärker der Konvention verhaftet ist Ottilie. Für die schon als Kind Verwaiste ersetzt der Ordnungsrahmen des herrschenden Sittengesetzes gleichsam die verlorene Familie. Zutiefst prägt sich ihr die im Unterricht des Pensionats gehörte Geschichte ein, wie dem im Jahre 1649 vor den Richtern des Cromwellschen Parlaments stehenden englischen König Charles I. der goldene Knauf seines Stockes zu Boden fällt und niemand sich findet, ihn aufzuheben, so dass der König sich selbst danach bücken muss.40 Instinktiv hat Ottilie in diesem Augenblick begriffen, dass die Demütigung eines Königs die Vernichtung der geheiligten Ordnung bedeutet. Natürlich assoziiert der zeitgenössische Leser sofort, dass hier auf einen aktuellen Bezug verwiesen wird, den Königsmord in der Französischen Revolution. Ottilie unterliegt seither einem Zwang, alles zu Boden Gefallene sofort aufheben zu müssen. Dieser Zwang hat sich zu einem fortwährenden Bedürfnis generalisiert, immer und überall Ordnung zu stiften. Die untergründigen Existenzängste, die in der sich wandelnden Gesellschaft herrschen, auf diese Weise neurotisch verinnerlichend, ohne sie intellektuell verarbeiten zu können, tendiert sie dazu, alles Unglück, das geschieht, unbewusst auf sich selbst zu projizieren und sich dafür zu bestrafen. Mit Besorgnis stellt Charlotte schon frühzeitig fest, dass Ottilie viel zu wenig isst. So zeigt Goethe, auf welche subtile Weise das historische Umbruchsgeschehen auf die Individuen zurückwirkt, mag deren Lebenswelt auch scheinbar sicher und weltabgeschieden sein. Ottilies psychische Disposition ist es auch, die schließlich in die finale Katastrophe führt. Als Eduard nach seiner Rückkehr aus dem Feldzug die juristische Legalisierung des Partnertauschs mit Charlotte und dem Hauptmann, jetzt Major, verabreden will, geschieht der tödliche Unfall des kleinen Otto. Ottilies zwanghafter Ordnungsimpuls steigert sich nun zur akuten Psychose. Weil sie glaubt, den Tod des Kindes durch ihre Unachtsamkeit verschuldet zu haben, und diesen Schicksalsschlag als Strafe für den durch ihr Verhältnis mit Eduard begangenen Bruch des Sittengesetzes ansieht, fasst sie den wahnhaften Entschluss: Eduardens werd’ ich nie! Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin. Ich will es büßen; und Niemand gedenke mich von meinem Vorsatz abzubringen!41
Sie stirbt schließlich an den Folgen ihrer totalen Askese, und Eduard, der Sinnerfüllung seines Lebens verlustig, folgt ihr im Tode nach. Am Ende des Romans sind nicht nur Eduard und Ottilie tot, sondern – in einem symbolhaf-
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Ebenda, S. 377. Ebenda, I, 6. FA I, 8, S. 315. Ebenda, II, 14. FA I, 8, S. 500; vgl. auch den Beitrag von Hermann Beland in diesem Band.
Gesellschaftlicher Umbruch und Reformpolitik
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ten Sinn – auch der Hauptmann und Charlotte, die mit dem Tod des Kindes ihre Zukunft verloren haben. Die in Gang befindliche Reform der Gesellschaft, so mahnt dieses aus dem Verlauf der Romanhandlung herauszulesende Menetekel, darf sich nicht nur auf Staat, Verfassung und Verwaltung beschränken; es bedarf auch einer Überwindung der überkommenen Rechts- und Moralkonventionen über Ehe und Familie, damit die Menschen ihre Gefühle für- und miteinander so auszuleben vermögen, wie sie von Natur aus beschaffen sind.
Das Werk im Schmerz Anmerkungen zum Motiv des Kopfschmerzes Benigna Carolin Kasztner
I. Kopfschmerz, Kopf – Zu Forschungsstand und Ansatz Ottilie leidet an immer wiederkehrendem Kopfweh – und Eduard auch. Sie hat es auf der linken, er auf der rechten Seite. Würden nun beide zugleich jeweils die Hand an die Schläfen führen, um durch sanften Druck den Schmerz zu lindern, und den Kopf dabei auf den angewinkelten Arm stützen, ergäbe dies »ein Paar artige Gegenbilder«.1 Das bemerkt Eduard schon vor der Ankunft Ottilies. In Goethes symmetrisch angelegtem Roman Die Wahlverwandtschaften gilt der Kopfschmerz als eines jener Elemente, die Eduard, den wohlhabenden Ehemann Charlottes, und Ottilie, deren mittellose Nichte, scheinbar schicksalhaft miteinander verknüpfen.2 Doch all jenen verbindenden Fügungen haftet nach Walter Benjamin eine »leise Verfehltheit«3 an: Wohl paßt Ottilie sich Eduards Flötenspiel an, aber es ist falsch. Wohl duldet Eduard lesend bei Ottilie, was er Charlotten verwehrte, aber es ist eine Unsitte. Wohl fühlt er sich wunderbar von ihr unterhalten, aber sie schweigt. Wohl leiden selbst die beiden gemeinsam, aber es ist nur ein Kopfschmerz.4
Die »Verfehltheit« des gemeinsamen Leidens liege darin, dass es eben »nur ein Kopfschmerz« ist. Welche Bedeutung gewinnt das »Kopfweh« im narrativen Gewebe des Romans? Einerseits ist der Aspekt des Leidens eindeutig; andererseits scheint die Schwere dieses Leidens – und, damit zusammenhängend, dessen Einordnung als Krankheit – gerade nicht eindeutig zu sein. Auch die 1 2
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Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 5. HA 6, S. 281. Irmgard Egger verweist hierzu auf das »ursprünglich pythagoreische Konzept der Symmetrie, das die gesamte hippokratische Medizin bis zur Säfte- und Qualitätenlehre ebenso prägt wie die Struktur des Romans mit seinen zwei Teilen, den je achtzehn Kapiteln, den vier Protagonisten und den zahlreichen Spiegelungen im Detail – etwa Ottilies und Eduards symmetrischen Kopfschmerz«. Siehe: Irmgard Egger, Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen. München 2001, S. 73. Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: Wahlverwandtschaften. Aufsätze und Reflexionen über deutschsprachige Literatur. Frankfurt am Main 2007, S. 33–104, hier S. 41. Ebenda, S. 41f.
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möglichen Komponenten bei einer gedanklichen Erfassung des Kopfschmerzes sind vielfältig. So kann dieses Detail als Anhalts- oder als Ausgangspunkt diverser Interpretationsmodelle der Wahlverwandtschaften dienen – zumal es sich konstant durch das konstruierte Werk hindurch zieht; an sechs Stellen5 wird das Kopfweh konkret zum Gegenstand innerhalb der fortschreitenden Handlung gemacht. Dreimal tritt es im Ersten, dreimal im Zweiten Teil hervor: Die Vorsteherin der Pensionsanstalt, in der Luciane, die Tochter Charlottes, und Ottilie zu jungen Damen der Gesellschaft erzogen werden sollen, benennt als erste das ›Problem‹. Die Erwähnung des Kopfschmerzes folgt einem Zwischenbericht zum Verhalten Ottilies, der das spannungsreiche Verhältnis der Protagonistin zu ihrer Umwelt andeutet: »Ich wüsste sie nicht zu schelten, und doch kann ich nicht zufrieden mit ihr sein«. Zudem werden zwei wichtige Aspekte dieses Schmerzes eingeführt: Das Kopfweh ist linksseitig, und es ist »bedeutend«.6 Zum Grund von Ottilies Scheitern wird es während einer Prüfung. Ottilie erwähnt den Schmerz erst nachträglich, so dass die Prüfenden nicht davon wissen können. Somit gibt es zwar eine Ursache für das ›Versagen‹ Ottilies, diese ist für die Umwelt aber nicht sichtbar.7 Zur ›Bedeutsamkeit‹ des Kopfwehs tritt dessen ›Unsichtbarkeit‹ hinzu. In der Exposition des Romans wird der Kopfschmerz bereits zum Bindeglied zwischen Ottilie und Eduard. Die junge Frau weilt zu diesem Zeitpunkt noch in der Pension. Eduard plädiert unter anderem mit Rekurs auf ihre Kopfschmerzen für die Aufnahme ins Haus der Eheleute: Es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten. Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken gestützt, und die Köpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so muß das ein Paar artige Gegenbilder geben.
Der Hauptmann ist es, der jene Vorstellung sogleich als »gefährlich« empfinden will.8 Bedeutsamkeit wie Unsichtbarkeit umschließen fortan das gemeinsame Leid der Liebenden. Im Zweiten Teil der Wahlverwandtschaften tritt das Kopfweh Ottilies zunächst in Verbindung zu den Steinkohlevorkommen am Seeufer auf. Beschreitet die junge Frau den Seitenweg um den See herum, stellt sich sogleich ein Kopfschmerz ein – das gesteht sie dem Begleiter des englischen Lords. Der Grund dafür scheint die in der Tiefe unter dem Gehweg verborgene Steinkohle zu sein.9 Daraufhin wird sie vom Begleiter des Lords zu magnetischen Pendelversuchen überredet, die bei ihr auch gelingen; doch bittet Ottilie bald um den Abbruch der Experimente, weil eben ihr Kopfweh
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Martina Schwanke, Lemmatisierter Index zu Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Stuttgart 1994, S. 298. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 3. HA 6, S. 264. Ebenda, I, 5. HA 6, S. 279. Ebenda, I, 5. HA 6, S. 280f. Ebenda, II, 11. HA 6, S. 443.
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sie wieder plage.10 Das Angebot des Begleiters, Ottilies Leiden durch eine Mesmerische Kurart zu heilen, lehnt Charlotte allerdings strikt ab. Zuletzt tritt der Kopfschmerz bei Eduard auf – während des Erinnerns an Ottilie. Er hat inzwischen das eheliche Haus verlassen, Ottilie befindet sich ebenfalls im Aufbruch. Eduard sitzt allein am Tisch, und zwar in genau jener Position, die von ihm zuvor als ein mögliches Gegenbild zu Ottilie konzipiert worden war. Doch ist hieraus kein »Paar artige Gegenbilder« entstanden; lediglich durch Eduards Erinnerung ist eine solche Konstellation ›denkbar‹. Gegenüber Mittler äußert sich Eduard: »Vielleicht leidet auch sie jetzt, denk ich, auf ihren linken Arm gestützt, und leidet wohl mehr als ich«.11 Damit entwickelt sich die erzählerische Thematisierung des Kopfwehs im Zweiten Teil des Werks weiter: Zum einen wird statt Ottiliens Konflikt mit ihrer Umgebung – und damit der sie umschließenden Kultur – nun ihre Eingebundenheit in die Natur hervorgehoben; dies geschieht durch Thematisierung ihrer Wechselwirkung mit natürlichen Phänomenen. Zum anderen tritt an den Platz der Vorstellung »artige[r] Gegenbilder« jetzt das Moment der Erinnerung. Das »Paar artige Gegenbilder«, das durch den Kopfschmerz angelegt zu sein scheint, wird niemals Wirklichkeit – es ist zuerst Vorstellung, dann Erinnerung. »Und doch stammt zuletzt alle Kraft verinnerlichten Daseins aus Erinnerung. Erst sie verbürgt der Liebe ihre Seele«,12 so betont es Walter Benjamin. Die Verknüpfung von Kopfschmerz, Seele und Erinnerung ist es, die im Folgenden dazu führen soll, diesem Motiv im Werk eine kulturkritische Implikation zuzuordnen. Isabella Kuhn bezeichnete den Kopfschmerz in ihrer Auseinandersetzung insbesondere mit Benjamins Interpretation der Wahlverwandtschaften als »Zeichen […] der gestörten Daseinsordnung«.13 Dieses Verständnis soll hier zugrunde gelegt werden, um das Kopfweh als konkreten Ansatzpunkt einer Kulturkritik zu formulieren. Die Forschung hat das erzählte Kopfweh innerhalb vielfältiger Fragestellungen erwähnt. Dies geschieht zumeist im Rahmen von Überlegungen, die sich den Verknüpfungen von Eduard und Ottilie widmen. Doch treten die Ausführungen zum Kopfschmerz konsequenterweise vor allem in Erzählzusammenhängen auf, die sich dem Motiv des Leidens widmen: im Kontext von Melancholie, Trauer und Tod. So sieht Bernhard Buschendorf in der Beschreibung der Gegenbild-Szene – Eduard und Ottilie einander gegenübersitzend und den Kopf jeweils auf eine Hand gestützt – einen Verweis auf die »melancholische Sinnschicht« des Werks, da es sich bei dieser durch den Schmerz motivierten Haltung um »die Ausdrucksgeste der Melancholie par excellence« handle.14 Diesen Ansatz er-
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Ebenda, II, 11. HA 6, S. 445. Ebenda, II, 16. HA 6, S. 470f. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (Anm. 3), S. 82. Isabella Kuhn, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und das sogenannte Böse. Im besonderen Hinblick auf Walter Benjamin. Frankfurt am Main 1990, S. 258. Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹. Frankfurt am Main 1986, S. 140f.
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weitert Heike Brandstädter in ihrem facettenreichen Aufsatz zu Ottilies Kopfweh, Goethes Wahl-verwandtschaften. Zur Auftrennung der sprachlichen Zeichen durch eine Differenzierung von »Melancholie« und »Trauer«. Mit Verweis auf deren jeweilige ikonographische Ausgestaltung durch die zu den Schläfen geführten Hände und den aufgestützten Kopf schreibt sie Ottilie aufgrund des linksseitigen Kopfwehs die Melancholie zu; Eduards rechtsseitiger Kopfschmerz dagegen deute auf Trauer hin. Ottilies Leiden beklage demnach einen unbekannten Verlust – Eduards Trauer hingegen das Verlieren von Bekanntem, nämlich von Ottilie. Und Ottilie schreibt Brandtstädter auch das Kopfweh als eigentlich angehörig zu, Eduard entwerfe ›seinen‹ Kopfschmerz lediglich im Rahmen der gewünschten Komplementarität zu Ottilie.15 Das Leiden als sich aus der gegensätzlichen Entsprechung ergebend erörtert auch Elisabeth Herrmann in ihren Ausführungen zur Todesproblematik in Goethes Wahlverwandtschaften; Schmerz und Leid scheinen in der Liebe von Eduard und Ottilie nicht nur von vornherein angelegt – sie sind auch die Ursache dafür; da diese Leidenschaft sich im Leben nicht verwirklichen lässt, wird die Hoffnung auf deren Erfüllung auf die Zeit nach dem Tode verlegt. Die Nicht-Erfüllung der Liebe ist somit der Tod, und so hat der Kopfschmerz von Beginn an nicht nur eine pathologische, sondern auch eine morbide Seite.16 Im Folgenden soll das Motiv des Kopfschmerzes an das konkrete zeitgenössische Verständnis vom menschlichen ›Kopf‹ zurückgebunden werden. Dieser Ansatz versucht, das Erzähldetail aus einem rein pathologischen Rahmen zu lösen; denn als ›Gegenstand‹ zeitgenössischer Überlegungen bildet der Kopf durch seine Positionierung im Gefüge des Körpers sowie durch die ihm zugeschriebenen Funktionen die Basis für sämtliche Konzeptionen von Mensch, Person und Gesellschaft. Aufgrund der dortigen Verortung der Seele sowie von vier der fünf Sinne, die jeweils als Ausgangspunkt erkenntnistheoretischer Formulierungen dienen können,17 weist der Kopf über den Körper des Einzelnen hinaus auf kulturelle Denkmuster: Dies wird in einem ersten Schritt zu zeigen sein. In einem zweiten Schritt soll versucht werden, über das Moment der Erinnerung dem Motiv des Kopfschmerzes per se eine kulturkritische Implikation zuzuordnen.
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Heike Brandstädter, Ottilies Kopf-weh, Goethes Wahl-verwandtschaften. Zur Auftrennung der sprachlichen Zeichen. In: Margarete. Ottilie. Mignon. Goethe-Lektüren. Hamburg 1999, S. 48–76. Elisabeth Herrmann, Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Berlin 1998, S. 168–179. Immanuel Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes. In: Werke. Akademie-Textausgabe, Band 2: Vorkritische Schriften II: 1757–1777. Berlin 1968, S. 270: »Ich habe die Gebrechen der Erkenntnißkraft Krankheiten des Kopfes genannt, so wie man das Verderben des Willens eine Krankheit des Herzens nennt«.
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II. Haupt, Kopf, Krankheiten des Kopfes »Als oberster Körperteil ist der Kopf der eigentliche Regent des Menschen«.18 Diese Formulierung aus dem Wörterbuch der Symbolik mag einen ersten Anhaltspunkt zur Reflexion der Perspektive geben, mit der das 20. Jahrhundert an die Untersuchungen zum ›Kopf‹ herantreten kann. Die hierarchische Konzeption des menschlichen Körpers wird durch die Beschreibung des Kopfes als »Träger des Bewußtseins, des Ich« sowie durch seine Zuordnung zur »oberen Weltsphäre, dem Himmel« zusätzlich betont.19 Dies trifft ebenso auf die Beschreibung des ›Haupts‹ im Zedlerschen Universal-Lexikon des Jahres 1737 zu – eines derjenigen Nachschlagewerke, die im Verlaufe des 18. Jahrhunderts äußerst intensiv rezipiert wurden: Es ist unstreitig das edelste unter allen Theilen des Leibes / weil an demselben äusserlich alle die Werckzeuge derer Sinnen / innerlich aber vermittelst des Gehirns auch die Kräffte und Würckungen der Seele bemercket werden. Daher dasselbe gleichsam vor den Himmel an der kleinen Welt (wie einige Weisen den Menschen genennet) oder wie die Burg / in welcher der König und Beherrscher des Leibes seine Wohnung hat / anzusehen.20
Aufgrund der Lokalisierung von Seele und Sinnen im Haupt herrscht dieses als edelster Körperteil über die anderen. Da der einzelne Körper als Mikrokosmos die ganze Welt in sich selbst abzubilden scheint, wird dem Kopf in innerweltlicher Sicht die Metapher der königlichen Burg, in weiterreichender Bedeutung der »Himmel« dieser »kleinen Welt« zugeordnet.21 Nach einer Positionierung des Kopfes an höchster Stelle im menschlichen Körper verortet auch Stephan Blancard in seinem Arzneiwissenschaftlichen Wörterbuch22 hierin eine Höhle, in der sich Groß- und Kleinhirn sowie das verlängerte Hirnmark finden ließen, »welche den Urquell unseres Lebens zu enthalten scheinen«.23 Die hervorgehobene Stellung des Kopfs ergibt sich somit aufgrund der dort angenommenen Vermögen sowie infolge einer Hierarchisierung des Körpers von oben nach unten.
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Manfred Lurker, Eintrag ›Kopf‹. In: Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 1991, S. 392. Ebenda. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Band 15. Leipzig, Halle 1737, S. 817. Ebenda. Stephan Blancard, Arzneiwissenschaftliches Wörterbuch worin nicht nur die zur Heilkunde gehörigen Kunstwörter, sondern auch die in der Zergliederungskunst, Wundarzneikunst, Apothekerkunst, Scheidekunst, Gewächskunde u.s.w. gebräuchlichen Ausdrüke deutlich, bestimt und kurz erklärt werden. Nebstdem ist die Abstammung ursprünglich griechischer Wörter faßlich auseinander gesezt, und die Holländische, Französische, Englische und andere Benennungen beigefügt, womit überdies noch die vollständigsten Register verbunden sind. Neu bearbeitet nach der neuesten Isenflammischen Ausgabe und mit der nach alphabetischer Ordnung eingerükten kurzen Geschichte der berümtesten Aerzte nebst der Anzeige der vorzüglichsten Schriften Derselben und vielen anderen Zusäzen vermehrt. Wien 1788, S. 441f. Ebenda, S. 441.
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Aufgrund der verschiedenen Bezeichnungen dieses obersten Körperteils als ›Kopf‹ bzw. als ›Haupt‹ ist darauf hinzuweisen, dass um 1800 beide Begrifflichkeiten zugleich verwendet werden können; doch dominiert der ›Kopf‹ die medizinisch-deskriptiven, das ›Haupt‹ die religiösen oder wertenden Verwendungen.24 Denn in der Begriffsgeschichte25 nimmt das ›Haupt‹ die aus dem religiösen Wortschatz26 entliehenen Konnotationen ›edel‹, ›vorrangig‹ und ›erhaben‹ für sich in Anspruch; der Gebrauch von ›Kopf‹ erfolgt zunächst in den jeweils abwertenden Zusammenhängen. Er dient bis in die Frühe Neuzeit zur Kennzeichnung gesellschaftlicher Alterität, insbesondere im Kontext von psychischer Krankheit. Geknüpft an den Begriff des ›Wahnsinns‹ fasst er Fuß in der Sprache der Medizin, als sich der Sachverhalt selbst von einem gesellschaftlichen Ausgrenzungs- zu einem medizinischen Untersuchungsgegenstand wandelt; entscheidend dafür ist der Prozess der Säkularisierung, in dem die religiöse Verurteilung des Wahnsinns durch eine zumeist anatomisch orientierte Diagnose ersetzt wird.27 Immanuel Kant unterscheidet in seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes von 1764 zwei Arten von Gebrechen: Diejenigen, die verachtet und verhöhnt werden, einerseits; diejenigen, »die man gemeiniglich mit Mitleiden ansieht«, andererseits. Zu den ersteren zählt er »Thorheit« und »Narrheit«. Die zweite Gruppe setzt sich aus »Blödsinnigkeit«, »Verrückung«, »Wahnsinn« sowie »Wahnwitz« zusammen.28 Auch wenn Kant hier keine Erläuterungen zum Erscheinungsbild des Kopfschmerzes beabsichtigt – das zeitgenössische Denken vom Menschen folgt einem System äußerlich-innerlicher Entsprechungen, innerhalb dessen sich die psychischen nach den physischen Entwicklungen formen.29 So erscheint es schlüssig, hier auch dem psychischen Aspekt
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In den zeitgenössischen Nachschlagewerken wird der Artikel unter einem der beiden Begriffe ausgeführt – beim jeweils anderen wird darauf verwiesen. Gerhard Augst, ›Haupt‹ und ›Kopf‹. Eine Wortgeschichte bis 1550. Giessen 1970, S. 449. Hierzu verweist das Wörterbuch der Symbolik auf Stellen, in denen Christus als »Haupt von jeder Macht und Gewalt« (Kol 2,10) oder auch als himmlischer Bräutigam mit einem Haupt aus gediegenem Gold (Hohes Lied 5,11) beschrieben wird: Lurker, Kopf (Anm. 18), S. 392. Hierzu sei eine Formulierung von Johann Caspar Spurzheim, Observations sur la folie. Paris 1818, S. 141 f., angeführt, die zwar erst nach Goethes Wahlverwandtschaften publiziert wird, aber dennoch auf den zu zeigenden Entwicklungstrend hinweisen kann: Der Wahnsinn »ist die Störung der Hirnfunktionen […]. Die Teile des Hirns sind der Sitz des Wahnsinns, wie die Lunge der Sitz der Atemnot und der Magen der Sitz der Verdauungsstörungen ist«. Das aufgeklärte Ideal eines selbsttätigen vernünftigen Wissenserwerbs tritt auch in der Reform des Medizinstudiums hervor; so erhält als erste Stadt im deutschsprachigen Raum Wien unter dem Einfluss des niederländischen Arztes Gerard van Swieten nach dem Vorbild Leidens eine Universitätsklinik. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts werden Vorlesungen in Chirurgie, Botanik und Chemie Bestandteil der medizinischen Ausbildung wie auch die klinischen Kurse am Krankenbett. Siehe: Calixte Hudemann-Simon, Die Eroberung der Gesundheit 1750–1900. Frankfurt am Main 2000, S. 50. Kant, Krankheiten des Kopfes (Anm. 17), S. 259–271. Vgl. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Leipzig, Winterthur 1775–1778; Günther Mensching, Vernunft und Selbstbehauptung. Zum Begriff der Seele in der europäischen Aufklärung.
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nachzugehen.30 In Kants Ausführungen zeigen gleich zwei Krankheitsmuster deutliche Anhaltspunkte zur »Leidenschaft« von Eduard und Ottilie in Goethes Wahlverwandtschaften. Zum einen die »Thorheit«: Ist etwa eine Leidenschaft besonders mächtig, so hilft die Verstandesfähigkeit dagegen nur wenig; denn der bezauberte Mensch sieht zwar die Gründe wider seine Lieblingsneigung sehr gut, allein er fühlt sich ohnmächtig ihnen den thätigen Nachdruck zu geben. Wenn diese Neigung an sich gut ist, wenn die Person übrigens vernünftig ist, nur daß der überwiegende Hang die Aussicht in Ansehung der schlimmen Folgen verschließt, so ist dieser Zustand der gefesselten Vernunft Thorheit.31
Ob die Neigung der beiden Protagonisten nun ›gut‹ ist oder nicht, muss freilich offen bleiben – doch erübrigt sich auch die zweite Voraussetzung; denn weder Eduard noch Ottilie erscheinen in ihren sonstigen Verhaltensweisen als sonderlich vernünftig; sie werden gar als »Kinder« bezeichnet. Auch hierdurch fügen sie sich insgeheim aneinander, da beide sich selbst allein – aufgrund ihrer jeweiligen Unausgeglichenheit – nicht erhalten können. So wird in diesem Kontext oftmals auf ihre platonische Seelenverwandtschaft32 verwiesen, unter Anspielung auf Platon, der in der Aristophanes-Rede des Symposions die Zusammensetzung eines androgynen Menschen beschreibt: Ferner war die Gestalt eines jeden Menschen völlig gleichmäßig; rundherum gingen Rücken und Seiten im Kreise. Vier Hände hatte er und ebenso viele Beine wie Hände, und auf einem runden Hals zwei Gesichter, die einander abgewandt waren, nur einen Schädel, ferner vier Ohren und doppelte Schamteile und alles übrige so, wie man sich das dementsprechend vorstellen kann.
Da diese Wesen aber über solche Fähigkeiten verfügten, dass sie den Göttern selbst gefährlich werden konnten, zerschnitt Zeus sie in zwei Teile. So waren die halbierten Geschöpfe nun den Göttern dienstbar, schwach und sehnten sich stets nach der Vereinigung mit ihrer anderen Hälfte.33 William J. Lillyman
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In: Gert Jütteman (Hrsg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim 1991, S. 217–235. Außerdem beinhaltet das Motiv des ›Wahnsinns‹ bereits seit Platon zusätzlich zu seiner Form als Krankheitsbild auch die Vorstellung einer göttlichen Gabe, die den jeweiligen Menschen aus seinem Umfeld heraushebt und zu wahrem Wissen führt; dies macht den ›Wahnsinn‹ insbesondere für eine kulturkritisch ausgerichtete Fragestellung in den Wahlverwandtschaften interessant, vgl. Helmut Hühn, Artikel ›Wahnsinn‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 12, hrsg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel. Basel 2004, S. 36–42. Kant, Krankheiten des Kopfes (Anm. 17), S. 261. William J. Lillyman, Analogies for Love: Goethe’s ›Die Wahlverwandtschaften‹ and Plato’s ›Symposium‹. In: Goethe’s Narrative Fiction. The Irvine Goethe Symposium. Berlin, New York 1983, S. 128–144; vgl. Elisabeth von Thadden, Erzählen als Naturverhältnis – ›Die Wahlverwandtschaften‹. Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines »Roman über das Weltall«. München 1993, S. 156; Gustav Seibt / Oliver-R. Scholz, Zur Funktion des Mythos in ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 609–630. Platon, Symposion. Griechisch-deutsch. Übersetzt von Rudolf Rufener, mit einer Einführung, Erläuterungen und Literaturhinweisen von Thomas A. Szlezák. Düsseldorf, Zürich 2002, S. 55–59.
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glaubt, dass Goethe ein Platon-Motiv in seinem Roman aufgenommen habe, und nimmt eine dichterische Rekonstruktion dieses androgynen Wesens durch Eduard und Ottilie an.34 Auch das Phänomen des Mesmerismus wäre nach Gustav Seibt und Oliver-R. Scholz mit deren wechselseitiger Anziehung zu erklären.35 In den Wahlverwandtschaften heißt es: Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt.36
Die hervorgehobene ›Bewusstlosigkeit‹ ermöglicht nun die Anknüpfung an eine zweite Zustandsbeschreibung, die sich in den Kantischen Ausführungen zu den Krankheiten des Kopfes findet – die der Melancholie. Diese impliziert durch ihre Zugehörigkeit zur zweiten Kategorie der Kopfkrankheiten zudem das ›Mitleiden‹ der Betrachter; sie wird im Rahmen des ›Wahnsinns‹ angeführt: Es giebt daher eine Art von Phantasterei, die jemanden blos deswegen beigemessen wird, weil der Grad des Gefühls, dadurch er von gewissen Gegenständen gerührt wird, für die Mäßigung eines gesunden Kopfes ausschweifend zu sein geurtheilt wird. Auf diesen Fuß [sic] ist der Melancholicus ein Phantast in Ansehung der Übel des Lebens. Die Liebe hat überaus viel phantastische Entzückungen […].37
Zur Einteilung dieser Gruppe der Krankheitsbilder verwendet Kant die jeweilige Art und Schwere der Beeinträchtigung von Seele und Sinnen. Ab dem Grad des »Wahnsinns« zeigt sich auch eine Störung im Erinnerungsvermögen.38
III. Seele, Sinne, Erinnerung Die Lokalisierung der Seele im Kopf des Menschen hat aufgrund äußerlichinnerlicher Entsprechungen durchaus ihre Aussagekraft; Melchior-Adam Weikard formuliert in seinen Ausführungen zur Geschichte der Seele: Ein vom Nationalstolze aufgeblähter italiänischer Schriftsteller behauptete in plumpem Scherze, daß die Deutschen ihre Seele nicht wie andere Menschen in dem Kopfe, sondern wie Maulthiere, auf dem Rücken hätten.39
Für die Aufklärung ergibt sich somit ein spezifisches Verständnis von ›Seele‹; denn im Verlaufe einer argumentativen Entwicklung – eingeleitet durch die Theorie Descartes’ – hatte sich die Seele »von einem per se existierenden geistigen Ding im Menschen zu einem funktionellen Einheitsprinzip körperlicher 34 35 36 37 38 39
Lillyman, Analogies for Love (Anm. 32), S. 141. Seibt / Scholz, Zur Funktion des Mythos (Anm. 32), S. 616. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 7. HA 6, S. 478. Kant, Krankheiten des Kopfes (Anm. 17), S. 266; vgl. auch Hühn, ›Wahnsinn‹ (Anm. 30), S. 38. Ebenda, S. 259–271. Melchior Adam Weikard, Der philosophische Arzt. Linz 1787, S. 139.
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Prozesse«40 gewandelt. Alle körperlichen Vorgänge werden nun erklärt, ohne dass dabei von der steten Wirksamkeit einer geistigen Substanz ausgegangen würde. Die Funktion der Seele konzentriert sich auf das immanente Denken, ihr konkreter Sitz ist in der Zirbeldrüse festgelegt.41 Diese Entwicklung hängt mit einem Diskurs vom Menschen zusammen, der die Beschäftigung mit dessen anatomischen Merkmalen einer Erörterung seiner metaphysischen und theologischen Bestimmung vorzieht.42 Durch diese zeitgenössische Wendung in die Immanenz gelangt das anatomische Gehirn zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchung; auch die vier im Kopf befindlichen Sinne können in Kombination mit dem Tastsinn auf der Basis des Sensualismus nun zur Erkenntnis führen. Die Eingebundenheit in den Körper macht die Sinne zum Bestandteil der eigenen Natur; zugleich dienen sie als Mittel zur Wahrnehmung der den Menschen umgebenden Natur und ermöglichen eine Auseinandersetzung mit dieser Idealkonzeption der Aufklärung – der ›Natur‹. Diese wird zum Ausgangspunkt sowie zur Zielvorgabe des Einzelnen; zum »Inbegriff dessen, was ist und zugleich dessen, was sein soll«.43 Die Hochschätzung des Naturzustandes dient auch als Mittel zur Kulturkritik; denn hier können Forderungen formuliert werden, die sich gegen Normen und Werte der herrschenden Kultur wenden. In den Werken Jean-Jacques Rousseaus44 zeigt sich dies deutlich. Rousseau beschreibt die fortschreitende Zivilisation als zunehmende Entfremdung des Menschen von seiner Natur und damit auch von sich selbst.45 In Émile oder Über die Erziehung46 knüpft er die angestrebte Vervollkommnung des Menschen im Rahmen der Erziehung an eine Verfeinerung der Sinne.47 Diese Verbindung der Sinne mit der den Menschen in sich schließenden Kultur,48 ermöglicht es, Aussagen zur individuellen ›Erinnerung‹ zu treffen; denn nach der Konzeption des »kollektiven Gedächtnisses«49 gelangt das Erfahrene nur dann 40 41 42
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Mensching, Seele (Anm. 29), S. 218f. Ebenda, S. 218–222. So findet sich bei Weikard, Der philosophische Arzt (Anm. 39), S. 49, im Inhaltsverzeichnis sogleich nach dem ersten Kapitel zur Geschichte des Menschen sowie nach dem zweiten Abschnitt zu Erläuterungen der Verstandeskräfte der Punkt: »Von dem Unterschiede zwischen Thieren, Menschen, Narren«. Auch Franz Joseph Gall, Philosophisch=Medicinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustande des Menschen. Wien 1791, S. 721, widmet sich im zweiten Kapitel nach einer Beschreibung der Natur des Menschen sofort dem »Vergleich des Menschen mit den Tieren«. Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000, S. 177. So zum Beispiel in den folgenden Ausführungen: Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts. Paris 1750 oder auch Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes. Amsterdam 1755. Stollberg-Rilinger, Aufklärung (Anm. 43), S. 256. Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung. Paderborn 61983. Robert Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000, S. 141–174. Achim Landwehr / Stefanie Stockhorst, Einführung in die Europäische Kulturgeschichte. Paderborn 2004, S. 251. Der Begriff entwickelte sich im Umkreis der Annales-Schule und wurde von Maurice Halbwachs (Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main 1991) geprägt. Spricht man
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auch ins individuelle Bewusstsein, wenn der Einzelne das Wahrgenommene in ein Sinngefüge übergeordneter kollektiver Wahrnehmungsformen einordnen kann. Die Erinnerung des Menschen erscheint demnach als Übertragung der Deutungsmuster einer Gesellschaft auf seine persönlichen sinnlichen Eindrücke.50 Vor diesem Hintergrund erhalten das Erinnern51 Eduards an Ottilie sowie der dazugehörige Kopfschmerz eine wichtige Bedeutung: Denn dieses Erinnern bezeugt ein Spannungsverhältnis zwischen der Leidenschaft der beiden und der sie in sich schließenden Kultur. Die Erinnerung an Ottilie wird wohl erst durch den Schmerz selbst verursacht. So fragt Mittler zunächst, ob Eduard das Kopfweh wieder plage; denn bei ihm ist es nun – durch den auf die Hand gestützten Kopf – tatsächlich sichtbar geworden. Erst nachdem Eduard dies bejaht, gibt er zu, dass ihm dieses Leid beinahe wünschenswert sei – es erinnere ihn an Ottilie. Doch ist Ottilie als die andere Hälfte des Bildes nur in seiner Erinnerung präsent. Artikuliert sich hier sichtbare Liebe durch unsichtbares Leid?
IV. Schmerzarten, Natur, Kulturkritik Kopfschmerzen, Kopfwehe. Hievon giebt es mehrere Arten. Erstlich unterscheidet man das allgemeine, und das sonderheitliche Kopfwehe. Das allgemeine ist jenes, wovon der ganze Kopf eingenommen wird und dabey man mehr oder weniger heftige Schmerzen, Hitze […], Klopfen, Fieber ec. empfindet; die Augen sind matt, man hat Beschwerniß im Lesen, und man kann das helle Licht nicht ertragen. Das sonderheitliche Kopfwehe greift verschiedene Theile des Kopfs an, z.E. die Ohren, die Zähne, die Augen ec. Sieh Fluß, Zähne, Augen ec.52
Vergleichbar zu diesem Eintrag in einem medizinischen Handlexikon stellt sich die Information zu Kopfschmerzen in anderen Nachschlagewerken des
50 51 52
neben kollektiven auch von überzeitlichen Gedächtnisinhalten, so formulieren Jan und Aleida Assmann den Begriff des »kulturellen Gedächtnisses«. Hier finden sich jegliche Bedeutungsinhalte einer Kultur sowie ihr gemeinsamer Erfahrungshorizont. Diese Instanz scheint zuständig für Traditionsbildung, entscheidet sie doch darüber, welche Wissensbestände die Zeiten überdauern und welche nicht. Das kulturelle Gedächtnis reicht somit bis zu den mythischen Vorgeschichten einer Kultur zurück, seine Inhalte werden institutionell konserviert, die jeweilige Bedeutung aus der Vergangenheit damit in die Gegenwart getragen. Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Halbwachs, Gedächtnis, ebenda S. 256. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 16. HA 6, S. 470f. Joseph Wolff (Hrsg.), Medicinisches Hand-Lexikon: worinn alle Krankheiten, die verschiedenen, und jeder Krankheit insbesondere eigenthümlichen Kennzeichen, die sichersten Vorbauungs- und wirksamsten Heilungsmittel wider dieselbe, sammt einem vollständigen Unterrichte, um im Nothfalle sein eigener Arzt seyn zu können, auf eine jedermann faßliche Art vorgetragen werden. Alles aus den Werken der berühmtesten Aerzte gesammelt, und mit einer Menge specifischer Arzeneyen wider viele Krankheiten versehen. Erster Band, A-L. Nach der vierten französischen Auflage übersetzt. Augsburg 1782, S. 583.
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18. Jahrhunderts dar; stets beginnen die Annäherungen an den Kopfschmerz mit klaren Differenzierungen, die sich aus dem Aufschwung der Methodik der Analyse ableiten lassen. So wird klar zwischen diversen Schmerzarten, -orten und -empfindungen unterschieden: Stephan Blancard trennt zwischen einem anhaltenden bzw. vorübergehenden Kopfschmerz.53 Joseph Wolff differenziert dasjenige Hauptweh, das den ganzen Kopf einnimmt, von demjenigen Schmerz, der nur einen Teil dieses Körperteils betrifft. Zudem wird der selbstleidende (idiopathische) vom mitleidenden Dolor geschieden – je nachdem, ob die Ursache des Kopfwehs im Haupt oder einem anderen Körperteil lokalisiert wird.54 Von idiopathischen Schmerzen schließt Weikard sogleich auf eine Beeinträchtigung des Denkens: Das Herz ist bestimmt zur Bewegung des Blutes, und das Gehirn zum Denken. […] Wenn euer Kopf vom Körper getrennet ist, so ist vermuthlich euer Vermögen zu denken fort.55
Auch die Schmerzempfindung ist stark in Details aufgefächert: in einen drückenden oder schweren Schmerz, in das Gefühl von Pochen, Schlagen, Stechen, Beißen, Ziehen, Spannen oder Brechen sowie in das damit zusammenhängende Schwitzen oder Frieren der Person.56 Dieses durchaus detaillierte Wissen lässt auf eine intensive Beschäftigung mit dem Phänomen des Kopfschmerzes schließen, so dass eine zumindest regelmäßige Wahrnehmung im zeitgenössischen Kontext angenommen werden kann. Doch worin wird nun die Ursache des Kopfschmerzes gesehen? In Zedlers Universal-Lexikon findet sich hierzu folgender Klärungsversuch: So lange die Bewegung des Blutes und derer Lebens=Geister richtig ist, und natürlich nach denen Gesetzen der Natur lauffet; So lange kann man sich nicht ein Mahl in dem Gemüthe einen Schmertz vorstellen. Geschiehet es aber entweder mitleidig oder eigenleidig, daß die Bewegung des Blutes oder derer Lebens=Geister in dem Kopfe nicht richtig gehet; So erreget diese unordentliche Bewegung derer Lebens=Geister in der Seele eine Empfindung, welche nichts anders als ein Schmertz genennet werden kann.57
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57
Blancard, Arzneiwissenschaftliches Wörterbuch (Anm. 22), S. 508f. Wolff, Medicinisches Hand-Lexikon (Anm. 52), S. 583. Weikard, Der Philosophische Arzt (Anm. 39), S. 144f. Zedler, Universal-Lexicon (Anm. 20), Band 12, S. 851f. Dies ist ebenso im Rahmen einer Abhandlung bezüglich von »Kopfwunden« der Fall. Joseph Jakob Plenck bleibt hierbei stets im Äußeren, also einer konkreten Verletzung des Haupts verhaftet. Differenzierungen finden sich jedoch auch dort in eindeutiger Weise – so wird beispielsweise bei stumpfen Verletzungen der Hirnschale von zwölf Gattungen gesprochen: Vom »Haarritz«, dem »sichtbaren Ritz« und dem »Spalt« gelangt Plenck beispielsweise zu einer Beschreibung von »Hirnschalenbruch«, »Hirnschaleneindrückung mit einem Bruch« oder auch zum konkreten »Substanzverlust«; Siehe: Joseph Jakob Plenck, Der Chirurgie Doktor / der Anatomie / Chirurgie und der Geburtshilfe kaiserl. königl. ordentlichen und öffentlichen Lehrers auf der Universität zu Thurnau. Lehrsätze der praktischen Wundarztneywissenschaft. Zum Gebrauch seiner Zuhörer. Erster Theil. Wien 1774, S. 39–42. Ebenda, S. 852f.
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Das Hauptweh gilt hier als Folge eines ›nicht richtigen‹, unordentlichen Bewegens, das die Seele betrifft und dadurch Schmerz verursacht. Dies geschieht durch eine Abwendung von den Gesetzen der Natur und kann demnach mit der bereits angeführten Kulturkritik Rousseaus verknüpft werden. Auch Kants Ausführungen58 zu den Krankheiten des Kopfes fügen sich hier ein: Der Mensch im Zustande der Natur kann nur wenig Thorheiten und schwerlich einiger Narrheit unterworfen sein. […] Gleichergestalt kann die Störung des Gemüths in diesem Stande der Einfalt nur selten statt finden. […] In der bürgerlichen Verfassung finden sich eigentlich die Gährungsmittel zu allem diesem Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhalten und zu vergrößeren dienen.59
Der Kopfschmerz ist hier durchaus als ›Ausdruck‹ zeitgenössischer Kulturkritik denkbar60 – in dem Sinne, dass er insbesondere dann zu entstehen scheint, wenn sich der Mensch von seiner Natur entfernt. Und weist der Kopf über den Einzelnen hinaus, leidet die Gesellschaft selbst an den Strukturen ihrer eigenen Kultur.
V. Liebe, Kopfschmerz – ein Fazit Der Kopfschmerz steht für eine gewisse ›Unvereinbarkeit‹ individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse im Rahmen der herrschenden Kultur. Im konkreten Einzelfall manifestiert das Kopfweh die Trennung der Verbindung von Individuum und Umwelt – ein mehr oder weniger unsichtbares ›Aufbegehren‹ des Einzelnen gegen die sichtbaren Formen, in die er sich eingebunden sieht. Es scheint dieses Element zu sein, auf dem die unausweichliche Verbindung von Eduard und Ottilie beruht. Ihre Liebe trägt daher neben den erwähnten Aspekten von Melancholie, Trauer und Tod von Beginn an auch ein kulturkritisches Moment in sich, das diese Liebenden nicht nur einfach im Leiden
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Diese Zusammenschau von Ausführungen Kants und Rousseaus mit Blick auf Goethes Wahlverwandtschaften wurde angeregt durch: Ernst Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe. Herausgegeben, eingeleitet sowie mit Anmerkungen und Registern versehen von Rainer A. Bast. Hamburg 1991. Die Texte selbst stammen aus den Jahren 1924–1944. Das Ziel dieser Zusammenstellung formuliert Cassirer in Freiheit und Form; es liege darin, »jenen tieferen, wenngleich vermittelten Zusammenhang [zu] zeigen, der zwischen ihnen dadurch entsteht, daß sie in der fundamentalen Eigenart ihres individuellen geistigen Wesens dennoch in ein und demselben allgemeinen Umkreis ideengeschichtlicher Probleme und Grundansichten stehen«. Siehe: Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Darmstadt 41975, S. XV. Kant, Krankheiten des Kopfes (Anm. 17), S. 269. In Verbindung mit einer zeitgenössisch angenommenen, grundsätzlich hohen Anfälligkeit des Menschen für den Kopfschmerz – »Denn die geringste Veränderung in der Gesundheit, ja sogar eine unfreundliche Abwechslung des Wetters ist schon hinreichend, diese unangenehme Empfindung in dem Kopfe hervorzubringen« – und dessen mögliches Auftreten im Rahmen sämtlicher humoralpathologischer Konstellationen ergibt sich diese Deutungsmöglichkeit. Siehe: Blancard, Arzneiwissenschaftliches Wörterbuch (Anm. 22), S. 509.
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miteinander verknüpft, sondern deren Leidenschaft auf Leid basiert. Eduard fragt sich, warum er sein Kopfweh nicht wie Ottilie »tragen« soll: Diese Schmerzen sind mir heilsam, sind mir, ich kann beinah sagen, wünschenswert; denn nur mächtiger, deutlicher, lebhafter schwebt mir das Bild ihrer Geduld, von allen ihren übrigen Vorzügen begleitet, vor der Seele; nur im Leiden empfinden wir recht vollkommen alle die großen Eigenschaften, die nötig sind, um es zu ertragen.61
Im Motiv des Kopfschmerzes, wie es die Wahlverwandtschaften erzählen, scheint eine Kritik der Kultur impliziert, die keine Verbindung zu ihrem eigentlichen Gegenstand finden kann. Die Kritik manifestiert sich und verliert sich zugleich in der scheinbaren Unauflösbarkeit der erzählerischen Konstruktion.
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 16. HA 6, S. 470f.
ORDNUNGEN AUF ZEIT
»… eine Repositur für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene«. Wer schafft Ordnung in den Wahlverwandtschaften? Stefan Blechschmidt
Wer schafft Ordnung in Goethes Wahlverwandtschaften? Wer schafft Ordnung in einem Werk, das äußerlich durchaus ›aufgeräumt‹ erscheint? Warum eine Frage an ein Erzählwerk herantragen, dessen Form Geschlossenheit, ja Totalität verspricht: Ein Roman in zwei Büchern, mit jeweils 18 Kapiteln, ein Schauplatz, der durch seine eng gezogenen Grenzen Kammerspielcharakter entwickelt, ein Handlungsverlauf, der, wie in der Forschung früh behauptet, einer fünfaktigen Tragödie anstehen könnte;1 die erzählte Zeit erstreckt sich auf zwei Vegetationsperioden, das Personal ist übersichtlich, die vier Protagonisten sind durch die wahlverwandte Paarung symmetrisch zugeordnet. Für die Zeitgenossen war der geordnete Aufbau Anlass genug, Goethes lang erwarteten Roman als »klassisch« zu etikettieren, wie es Rezensenten von Conz über Rochlitz, Passow und Welcker ausdrücklich taten.2 Darin irrten sie, denn das vermeintlich klassische Gefäß vermag seinen Inhalt nur schwer zu fassen. Goethes Wahlverwandtschaften zeigen eine von außen gesetzte Ordnung, nämlich eine Versuchsanordnung. Weniger eine Feststellung als eine These ist, dass sich das von der Chemie in das Soziale übertragene Experiment der Wahlverwandtschaft in seinem Verlauf auf der Handlungsebene immer mehr den geordneten Rahmenbedingungen widersetzt. Die Ordnung wird gesprengt, und zwar von innen heraus – durch einen Handlungsverlauf, der gleich einer Kettenreaktion eine eigene Dynamik entwickelt und sich schicksalhaft verselbständigt. Das Experiment hinterlässt die Versuchspersonen schließlich in Entsagung, Einsamkeit und Tod. Aus der Innenperspektive, von der Handlungsebene aus, stellt sich die Frage nach Schaffung, Verteidigung und Verlust der Ordnung in den Wahlverwandtschaften demnach neu. Mithin folgt die Suche nach einer ordnungsstiftenden Instanz. Wenn es um Ordnung geht, wer stiftet sie? Durch wen wird sie gegebenenfalls gefährdet? Wer schafft also Ordnung in Goethes Roman?
1 2
Vgl. Grete Schaeder, Gott und Welt. Drei Kapitel Goethescher Weltanschauung. Hameln 1947, S. 281. Vgl. den Beitrag von Jutta Heinz in diesem Band.
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Die Beantwortung soll in drei Schritten unternommen werden, indem zunächst der Autor, danach die Erzählinstanz und schließlich die Protagonisten selbst nach ihrer ordnungsstiftenden Funktion befragt werden. Im ersten Teil wird es um die biographische und entstehungsgeschichtliche Relevanz der Fragestellung gehen (I.). Daran schließt sich ein erzähltheoretischer Teil an, der untersucht, inwieweit die Erzählinstanz im Roman als Ordnungsinstanz fungiert (II.). Der abschließende dritte Teil blendet schließlich auf die Handlungsebene über, wobei besonders die vergeblichen Ordnungs- und Organisationsversuche der Protagonisten im Vordergrund stehen sollen (III.). Dieses Vorgehen soll mitnichten eine Neuauflage der Geburt der Interpretation aus dem Geist des Biographismus bedeuten. Es wäre indes unglücklich, die Entstehungsbedingungen des »Zirkulars«3 an die Freunde unbeachtet zu lassen und sich überdies vor der Frage zu verschließen, welche Rolle Ordnung und Organisation in Goethes künstlerischem und naturwissenschaftlichem Schaffen zwischen 1808 und 1810 einnehmen.
I. Ernst Osterkamp hat »Einsamkeit und Entsagung« nicht nur zu zentralen Themen der Wahlverwandtschaften, sondern auch zu virulenten Problemen in Goethes Lebenswirklichkeit nach Herders, Schillers, Anna Amalias und Wielands Tod erklärt.4 Dieser Ansatz, der eine sukzessive Vereinsamung Goethes mit dem Beginn seines Spätwerkes in Zusammenhang bringt, hat Tradition in der Goethe-Biographik.5 Diese beruft sich dabei – oftmals ohne die Genretypik der Autobiographie zu reflektieren – auf die anrührende Schilderung von Schillers Tod in den Tag- und Jahresheften zum Jahr 1805.6 Von »Einsamkeit«7 ist darin die Rede; auffällig ist indes, dass deren Erwähnung sofort wieder durch die Notation von Tätigkeiten nivelliert wird. Nach Goethe zeugen die Briefe Schillers vom Februar und März »von seinen Leiden, von Thätigkeit, Ergebung 3 4
5
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Goethe an Karl Friedrich von Reinhard, 31. Dezember 1809. FA II, 6, S. 522. Vgl. den Beitrag von Ernst Osterkamp in diesem Band; ders., Einsamkeit. Goethe, die Kunst und die Wissenschaft im Jahrzehnt nach Schillers Tod. Eine werkbiographische Skizze. In: Lothar Ehrlich / Georg Schmidt (Hrsg.), Ereignis Weimar-Jena 1800. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 101–115. So eröffnet schon Friedrich Gundolf den mit »Entsagung und Vollendung« betitelten dritten Teil seiner Goethe-Biographie mit einem Kapitel »Der alte Goethe«, worin er gleich zu Beginn die Schwelle zum Alterswerk mit Schillers Tod überschritten sieht. Gundolf fasst diese Periode im Leben Goethes zusammen mit: »Der Tod Schillers warf Goethe nicht aus der Bahn in die er mit und durch Schiller eingetreten war, aber er unterbrach die stetige Aktivität mit einem tragischen Ruck und brachte ihn zum Bewußtsein seiner Einsamkeit in seiner damaligen Reife und Bildung«. Friedrich Gundolf, Goethe. Berlin 91920, S. 527. Vgl. bspw. Karl Otto Conrady, Goethe. Leben und Werk. Frankfurt am Main, Wien 1994, S. 788f. [einbändige Lizenzausgabe der ursprünglich zweibändigen, zwischen 1982–1985 erschienenen Biographie]. FA I, 17, S. 141.
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und immer mehr schwindender Hoffnung«.8 Nach dem Tod des Freundes am 9. Mai 1805 schaut Goethe, wie er schreibt, unverzüglich »nach einer entschiedenen großen Thätigkeit umher«.9 Schiller war seiner Arbeit am Demetrius entrissen, und Goethe eilte, sie zu vollenden. Vergeblich, wie bekannt ist. Diese beispielhafte autobiographische Retrospektive Goethes ist fraglos ein Manifest der Einsamkeit. Es inszeniert darüber hinaus die unverbrüchliche Kontinuität von »Tätigkeit« und benennt damit eines der Schlüsselworte nicht nur der Tag- und Jahreshefte, sondern seines gesamten autobiographischen Werkes. Eckermann erinnert sich an ein Gespräch mit Goethe vom 27. Januar 1824: ›Ich muß‹, sagte Goethe, ›diese späteren Jahre mehr als Annalen behandeln; es kann darin weniger mein Leben als meine Tätigkeit zur Erscheinung kommen. Überhaupt ist die bedeutendste Epoche eines Individuums die der Entwickelung, welche sich in meinem Fall mit den ausführlichen Bänden von Wahrheit und Dichtung abschließt. Später beginnt der Konflikt mit der Welt, und dieser hat nur insofern Interesse als etwas dabei herauskommt‹.10
»Tätigkeit« und Resultate sollen, so will es der Autor, die Wahrnehmung seiner Person bestimmen. An diesem Vermächtnis arbeitet er nicht nur in seiner Autobiographie. Angesichts der napoleonischen Bedrohung eilt Goethe 1806, seine zerstreuten Ideen über organische Bildung zur Drucklegung zu befördern, um die Ergebnisse seiner fast dreißigjährigen naturwissenschaftlichen Tätigkeit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Hefte zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie sind später Reflex dieser Bemühung. Das erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts nutzt Goethe ebenso energisch, sein Bekenntnis Zur Farbenlehre zu befördern. 1810 wird sein selbsternanntes ›Hauptwerk‹ vorliegen. Die ersten Schematisierungen zu einem autobiographischen Rückblick datieren von 1809. Im ersten Jahrzehnt nach 1800 geht es Goethe also in erster Linie um die Aufbereitung und Sicherung der Resultate seiner Arbeit. Er sieht sich dabei einer ungeordneten, schier unüberblickbaren Masse an zu verarbeitenden Ergebnissen gegenüber, die als Zeugnisse einer kontinuierlichen Tätigkeit zusammengestellt und zumeist in autobiographischer Form präsentiert werden. Was in den neugeordneten Ideen über organische Bildung und den Schematisierungen zur Autobiographie, wie dem 76-seitigen Biographische[n] Schema von 1809 oder dem ein Jahr später entstandenen Karlsbader Schema, seinen Anfang nimmt, wird auch in den 10er und 20er Jahren kontinuierlich weitergeführt: Reposituren von Briefen und Tagebüchern, Bestandskataloge eigener Sammlungen und vieles andere mehr fügen sich im Zuge der Goethe’schen Selbsthistorisierung allmählich zu einem Archiv, das es zu ordnen und zu organisieren gilt. Der biographische Hintergrund der Arbeit an den Wahlverwandtschaften ist von den Anfängen dieser Tätigkeit in starkem Ausmaß geprägt.
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Ebenda. Ebenda. FA II, 12, S. 83.
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Es ist evident, dass Schillers Tod eine Zäsur in Goethes Leben bedeutete. Es kann und soll nicht in Frage gestellt werden, dass dieser Verlust mit einer zunehmenden Vereinsamung einherging. Es ist aber ebenso geboten, die von Osterkamp erwähnte »Verbindung von Einsamkeit als produktiver Lebensform und pragmatischer Tätigkeit«11 stärker herauszustellen. Es geht also um die Konsequenzen, die Goethe aus seiner zunehmenden Vereinsamung zog. Diese standen eindeutig im Zeichen der Aktivität: der Tätigkeit, der Ordnung, der Organisation und Sicherung von Resultaten und der strategisch und mitunter kollektiv ins Werk gesetzten Selbsthistorisierung. Wie lassen sich die Wahlverwandtschaften in diese Konstellation einordnen? Die Antwort kann durch eine entstehungsgeschichtliche Untersuchung gegeben werden, die in der Forschung zwar gefordert, aber nie präzise angestellt worden ist. In den Entstehungsjahren des Romans 1808 und 1809 arbeitet Goethe kontinuierlich am dritten Teil seines ›Hauptwerks‹, der als Materialien zur Geschichte der Farbenlehre veröffentlicht wurde und der, obwohl ihn z.B. Thomas Mann als »durch die Jahrtausende führende[n] Roman des europäischen Gedankens«12 schätzte, nur ein schwaches Forschungsecho hervorrief. Nach äußerlichem Anschein können dieser Historische Teil der Farbenlehre und die Wahlverwandtschaften nicht unterschiedlicher sein. Mit den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre bekommt der Leser eine Wissenschaftsgeschichte an die Hand, die ihn schon durch die Textgestalt zu verwirren droht. Statt einer gedrängten wissenschaftshistorischen Darstellung finden sich Materialien, nämlich Charakterskizzen von Forscherpersönlichkeiten, Textzeugnisse, Herausgeberkommentare, Aphorismen und eine autobiographische Konfession des Verfassers am Schluss. Sechs Abteilungen stehen zumindest für eine chronologische Ordnung des ausufernden Unterfangens, das Beiträge zur Geschichte der Farbenlehre von der Urzeit (!) bis in das 18. Jahrhundert versammelt. Die Materialien sind als dritter, Historischer Teil der Farbenlehre dem vorausgehenden Polemischen und dem ersten, Didaktischen Teil an Umfang jeweils überlegen, so dass die Veröffentlichung des Gesamtwerkes in zwei Oktavbänden und einem Tafelband erfolgen musste. Was durch die Bandaufteilung geschieden war, erwies sich auch auf der inhaltlichen Ebene als unverbunden. Die Materialien zur Geschichte der Farbenlehre können durchaus als ein eigenständiges Werk bestehen, wenngleich das didaktische Konzept des gesamten Lehrwerkes auf der Kenntnis aller Teile ruht. Wie dem auch sei, der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang mit den Wahlverwandtschaften bleibt ohne wirklichen Erkenntniswert, wenn Wissenschaftsgeschichte und Roman nur in Äußerlichkeiten verglichen werden. Inhaltlich lassen sich durchaus Parallelen ziehen. Wenn Goethe seinen Roman 1808/1809 mit dem naturwissenschaftlichen Terminus der Wahlverwandtschaft betitelt, zitiert er damit eine überholte Theorie aus dem 18. Jahrhundert. 11 12
Osterkamp, Einsamkeit (Anm. 4), S. 102. Thomas Mann, Phantasie über Goethe. In: Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, Band 3. Hrsg. von Hans Bürgin. Frankfurt am Main 1968, S. 54–85, hier S. 69.
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Diese wurde 1803 durch Claude-Louis Berthollets Essai de statique chimique nicht nur einer grundlegenden Revision unterzogen, sondern schließlich als »bloß zur Geschichte des Fortgangs der Wissenschaften«13 dienend abgetan. Goethe hatte von dieser »Revolution« in der Chemie seiner Zeit nachweislich Kenntnis.14 Welchen Erkenntniswert kann der veraltete Ansatz dann für das inhaltliche Verständnis des Romans haben? Ich denke: ebenso wie die Theorie selbst in erster Linie einen historischen. Die Theorie der Wahlverwandtschaft steht um 1800 am Scheideweg von vormoderner, auf stofflichen Anziehungsqualitäten beruhender Affinitätenlehre (z.B. vertreten durch Torbern Bergman) und einer modernen, auf Quantitäten der Elemente berechneten Theorie (Berthollet). Hier konkurrieren aber nicht nur ein alter und ein neuer Ansatz einer willkürlich herausgegriffenen chemischen Theorie, sondern auch ein altes und neues Verständnis dieser Wissenschaft selbst. Wenn die Protagonisten der Wahlverwandtschaften die historisch bereits als veraltet wahrgenommene Theorie auf den Fall ihres Zusammenlebens applizieren wollen, so wenden sie ein altes Erklärungsmodell gleichnishaft auf ihre Situation an, das dann in seinem Scheitern vorgeführt wird. Alte und neue Konzepte konkurrieren hier miteinander, wie es im Roman permanent der Fall ist – besonders augenfällig in der Gartengestaltung (z.B. in den alten und neuen Anlagen). Die Historizität naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird im Vorfeld des Chemiegesprächs zwischen Eduard, dem Hauptmann und Charlotte zum Thema. Wenn der Hauptmann angibt, »vor etwa zehn Jahren« etwas über Verwandtschaft gelernt zu haben, aber nicht anzugeben weiß, »ob es zu den neuern Lehren paßt«,15 so nimmt dies Eduard zum Anlass seiner Zeitdiagnose: Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.16
Dass wissenschaftliche Erkenntnis binnen weniger Jahre überholt sein kann, danach allerdings noch einen spezifischen, nämlich historischen Wert besitzt, hat Goethe auch für seine eigenen Arbeiten auf den Gebieten der Botanik und Osteologie erkannt. Diese gelten ihm in der Zeit der Wahlverwandtschaften zwar noch als wissenschaftliche Beiträge, immer stärker aber auch als Zeugnisse seines Werdegangs. Dies ist einer der Gründe dafür, warum er schon 1806 auf die Drucklegung seiner Ideen über organische Bildung drängt, bevor er der Historizität naturwissenschaftlicher Erkenntnis in den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre den umfangreichsten Teil seines Hauptwerkes 13 14
15 16
Dietrich Ludwig Karsten, Bemerkungen über Berthollets chemische Affinitätslehre. In: Allgemeines Journal der Chemie 10 (1803), S. 135–156, hier S. 136. Vgl. Christoph Hoffmann, »Zeitalter der Revolutionen«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 417–450, bes. S. 427f. Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 4. HA 6, S. 270. Ebenda.
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widmet. Warum ist dieser entstehungsgeschichtliche Zusammenhang für die Interpretation der Wahlverwandtschaften wichtig? Der Historische Teil der Farbenlehre dokumentiert Goethes ebenso viel wie unvollständig zitierte Erkenntnis aus dem ersten, Didaktischen Teil des Werkes, dass die »Geschichte des Menschen den Menschen selbst darstelle, […] daß die Geschichte der Wissenschaft die Wissenschaft selbst sei«.17 Dies beschreibt exakt die Anlage der Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, worin in sechs Abteilungen wissenschaftsgeschichtlicher Fortschritt und Autobiographie (Konfession des Verfassers am Schluss) genau in diesen Zusammenhang gebracht werden. Wenn Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften die Bezeichnung einer veralteten chemischen Theorie im Titel führt, die nunmehr romanhaft als ein ›ethisches Gleichnis‹ mit katastrophalem Ausgang vergegenwärtigt wird, dann wird die Historizität dieses nicht mehr zeitgemäßen wissenschaftlichen Ansatzes zum Ausgangspunkt einer Handlung, in deren tragischer Entwicklung sich auch die Historizität von Lebensentwürfen der Protagonisten abbildet. Darauf wird zurückzukommen sein. Bisher gilt es festzuhalten: Berthollets Theorie der chemischen Statik galt den Zeitgenossen Goethes als »Revolution« in der Chemie, welche die alte Affinitätslehre (und damit die der Wahlverwandtschaft) zur wissenschaftsgeschichtlichen Fußnote degradierte. Johann Wilhelm Ritters Versuch einer Geschichte der Schicksale der chemischen Theorien in den letzten Jahrhunderten zeichnet in unmittelbarer entstehungsgeschichtlicher Nähe zu den Wahlverwandtschaften auch diese Entwicklung nach: Ein anderer wesentlicher Vortheil aus der neuen oder der electrischen Ansicht von Hydrogen und Oxygen besteht darin, daß mit ihr eine Erklärung der chemischen Affinität, Verwandtschaft, Anziehung, oder desjenigen, um dessen willen überhaupt Körper Vereinigung suchen und finden, gewonnen ist. Alles, was in chemischen Proceßen von Körpern sich überall und immer anziehen kann, sind zuletzt bloß Hydrogen und Oxygen untereinander.18
Ritter schreibt seine Wissenschaftsgeschichte der Chemie aber nicht als Entwicklungsgeschichte der Elektrizität, sondern als Geschichte eines allgemeinen Atmungs- oder Verbrennungsprozesses, an dem anorganische Stoffe wie organische Lebewesen gleichermaßen teilhaben. Er bemerkt: Wir gehen jetzt zur Erforschungsgeschichte desjenigen Proceßes zurück, welchen selbst wir uns zuvor erst näher vor Augen brachten; sie wird die Erforschungsgeschichte des chemischen Proceßes überhaupt, also die allgemeine Geschichte der Chemie selbst sein.19
Nicht nur die Geschichte eines chemischen Prozesses, sondern die Geschichte der ganzen Chemie steht bei Ritter auf dem historischen Prüfstand, was ei-
17 18
19
LA I, 4, S. 7. Johann Wilhem Ritter, Versuch einer Geschichte der Schicksale der chemischen Theorie in den letzten Jahrhunderten. In: Journal für die Chemie, Physik und Mineralogie 7 (1808), S. 1–66, hier S. 47. Ebenda, S. 7.
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ne neue Perspektive auf die Wahlverwandtschaften eröffnet. Joseph Vogl hat nachgewiesen, dass »der Rittersche Feuer- und Elektrizitätsprozeß überall dort in den Wahlverwandtschaften auf[taucht], wo das Geschehen seine kritischen und deregulierten [...] Aspekte offenbart«.20 Das vormals ungefährliche Spiel der Wahlverwandtschaft degeneriert unter modernen Vorzeichen zu einem zerstörerischen Spektakel, worin sich die Wesen, wie der Hauptmann antizipiert, anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten.21
Drei der insgesamt vier Protagonisten in den Wahlverwandtschaften nutzen in ihrem Gespräch über chemische Affinitäten folglich nicht nur ein anachronistisches, sondern ein ›vorrevolutionäres‹ Konzept, mit dem sie ihre aktuelle Situation parallel führen. Es wurde in der Forschungsliteratur oft bemerkt, dass das Konzept der einfachen oder doppelten Wahlverwandtschaft mitnichten einfach auf die Personenkonstellation des Romans abzubilden ist. Neuere Ansätze glauben in Berthollets Revolution der Affinitätenlehre den Schlüssel hierzu zu finden. Es wäre indes denkbar, dass Goethe beide Konzepte im Roman miteinander konkurrieren lässt, ohne dass eines den Schlüssel zum Verständnis der Personenkonstellation bieten würde. Gerade an dieser Unvereinbarkeit ließe sich, und das bleibt einer umfangreicheren Untersuchung vorbehalten, die Dramatik des Romans entwickeln. Es wäre die Tragödie von vier Menschen, die den vergeblichen Versuch unternehmen, mit einem alten Lebensmodell aktuelle Herausforderungen, und zwar gesellschaftliche, politische, ökonomische und auch ästhetische, zu bewältigen. Ihre Reaktion wäre Dilettantismus in der Kopie des Alten wie Dilettantismus in der Organisation des Neuen. In den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre wird die Diskrepanz zwischen der Rückwendung zum Vergangenen und den Anforderungen der Gegenwart in unmittelbarer entstehungsgeschichtlicher Nähe zu den Wahlverwandtschaften thematisiert. Am 11. Dezember 1808, also nachdem Goethe bereits sechzehn Kapitel seiner Wahlverwandtschaften diktiert hatte, schreibt er laut Tagebuchaufzeichnung die Kapitel »Nachträge« und »Lücke« für seine Wissenschaftsgeschichte. Darin setzt er sich mit »zweierlei Erfahrungsarten« des Menschen auseinander, die sowohl in der Wissenschaftsgeschichte als auch im Roman korrelieren. Goethe unterscheidet […] die Erfahrung des Abwesenden und die des Gegenwärtigen. Die Erfahrung des Abwesenden, wozu das Vergangene gehört, machen wir auf fremde Autorität, die des Gegenwärtigen sollten wir auf eigene Autorität machen. Beides gehörig zu tun, ist die Natur des Individuums durchaus unzulänglich.22
Wenn Goethe kurz darauf programmatisch festlegt, dass der
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Joseph Vogl, Nomos der Ökonomie. Steuerungen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Modern Language Notes 114 (1999), S. 503–527, hier S. 523. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 4. HA 6, S. 276. LA I, 6, S. 86.
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Konflikt des Individuums mit der unmittelbaren Erfahrung und der mittelbaren Überlieferung […] eigentlich die Geschichte der Wissenschaften23
ist, dann hat ein solches Verständnis von Wissenschaftsgeschichte Bedeutung auch für das Erzählen von Zeithorizonten in den Wahlverwandtschaften. Hier konkurrieren die Modernitätserfahrungen der Protagonisten, die sie auf »eigene Autorität« machen müssen, mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit, deren »fremde Autorität« im Roman allgegenwärtig bleibt. Spannungsfelder in den Bereichen der Politik,24 der Ökonomie,25 der Wissenschaft und der Geselligkeit bis hin zur Festkultur26 tun sich auf, in denen Gegenwart und Vergangenheit ihre Rechte beanspruchen. Den Kampf zwischen Freiheit und Determination, zwischen »Wahl« und »Verwandtschaft« müssen die vier Protagonisten in ihrer Gegenwart bestehen. Sie finden sich in einen Raum zwischen retrospektiver und prospektiver Sinnstiftung gestellt, worin die alte Ordnung ihre Rechte an der Gegenwart fordert. Dass es sich dabei weniger um eine Konvention der Figurendarstellung als eine Spezifik dieses Romans handelt, sollen die folgenden Beispiele erläutern: Das erste Gespräch im Roman hat die Ehe der Protagonisten zum Thema: Wenn Charlotte ihrem mental bereits abtrünnigen Ehemann Eduard im ersten Kapitel des ersten Buches empfiehlt: »Laß uns […] einen Blick auf unser gegenwärtiges, auf unser vergangenes Leben werfen«27 – und durch die asyndetische Wendung ihre Unfähigkeit, Vergangenheit und Gegenwart klar unterschieden voneinander zu denken, zum Ausdruck bringt, so spricht sich erstmals ihre, an einer glücklichen Vergangenheit orientierte Wahrnehmung der Gegenwart aus. Wenn sich Eduard, durch diese »Vergegenwärtigung ihres beiderseitigen Zustandes«28 angenehm »aufgeregt«, unmittelbar danach auf seinem Zimmer wiederfindet, die Absage seiner Frau an die »Dazwischenkunft eines Dritten«29 immer noch in ihm schwelt, dann wird die Beschreibung seines Zustandes durch einen Blick in sein Vorleben eröffnet: Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt. Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Eltern, die ihn zu einer seltsamen, aber höchst vorteilhaften Heirat mit einer viel älteren Frau zu bereden wußten, von dieser auch auf alle Weise verzärtelt, indem sie sein gutes Betragen gegen sich durch die größte Freigebigkeit zu erwidern suchte, nach ihrem baldigen Tode sein eigner Herr […] was konnte in der Welt seinen Wünschen entgegenstehen!30
Aber nicht nur das Vorleben Eduards wird im Roman erhellt, Ottilies Wesen gewinnt lange vor ihrem Auftreten durch die Briefe der Vorsteherin und des Gehülfen, aber auch in Gesprächen zwischen Charlotte und Eduard an Profil,
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LA I, 4, S. 7. Vgl. den Beitrag von Marko Kreutzmann in diesem Band. Vgl. Vogl, Nomos (Anm. 20). Vgl. die Beiträge von Michael Maurer und Susan Baumert in diesem Band. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. HA 6, S. 245f. Ebenda, I, 2. HA 6, S. 249. Ebenda, S. 248. Ebenda, S. 249.
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die Vergangenheit des Hauptmanns wird durch die eingefügte Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder zumindest im übertragenen Sinne mitgeteilt. In direkter Rede dagegen und wohl nicht zufällig in der ersten Person Plural präsentiert Charlotte die Geschichte ihrer Liebe, die dadurch mit ihrer eigenen Geschichte deckungsgleich wird. Wie durch die biographische Rekonstruktion ihrer ›Vorgeschichte‹ eine naturwissenschaftliche Erkenntnis in den Charakterskizzen des Historischen Teils der Farbenlehre an Tiefenschärfe gewinnt, so wirkt sich in den Wahlverwandtschaften jede persönliche Vorgeschichte profilgebend auf die Wahrnehmung der Romanpersonen aus. Letzteres käme eher einer Gestaltungskonvention in der Epik als einem distinkten Merkmal dieses Romans gleich, würde damit nur Charakterzeichnung betrieben. Nein, die Rekonstruktion von Vorgeschichten in den Wahlverwandtschaften erfüllt mindestens zwei darüber hinausgehende Funktionen, und zwar einmal die Abgrenzung von Vergangenheit und Gegenwart und daneben die gegenseitige Beeinflussung beider Zeitdimensionen, welche die Handlungsmöglichkeiten der Zukunft determinieren. Um es zu wiederholen, es geht zum einen um die Unterscheidung von alter und neuer Ordnung, wie sie über die biographischen Implikationen hinaus z.B. in der strikten Trennung von alten und neuen Anlagen augenfällig wird, zum zweiten um den Umgang mit Vergangenheit, wie er sich z.B. in der Parkgestaltung ausdrückt (man denke an das Eingangsbild der Veredlung, wodurch etwas Neues künstlich auf etwas Vorhandenes gepfropft wird). Es ist daher konsequent, im Schlossgarten ein »Reservoir und Archiv«31 wiederzuerkennen, wie es Dagmar Ottmann getan hat. Das kommt einer Dehnung des Archivbegriffes bei Goethe gleich, der seinen heuristischen Wert trotz dieser metaphorischen Verwendung nicht verliert. Der Park in den Wahlverwandtschaften kann durchaus als »Summe von Erfahrungen, Wissen und Kenntnissen«,32 an der Generationen vor derjenigen der Romanfiguren Anteil hatten, angesehen werden. Dass die Letztgenannten durch ihre eigene Neuordnung dieses Reservoirs oder Archivs ihrem Verhängnis vorbauen, wird Thema im dritten Teil der Untersuchung sein. Zuvor aber sollen, auch hier ausgehend von den entstehungsgeschichtlichen Parallelen zwischen Goethes Farbenlehre und den Wahlverwandtschaften, Fragen zur Gestaltung und zur ordnungsstiftenden Funktion der Erzählinstanz im Roman aufgeworfen werden.
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Dagmar Ottmann, Gebändigte Natur. Garten und Wildnis in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und Eichendorffs ›Ahnung und Gegenwart‹. In: Walter Hinderer (Hrsg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg 2002, S. 345–395, hier S. 359. So definiert Willy Flach Goethes Archivbegriff: Goethes literarisches Archiv. In: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner. Hrsg. von der Staatlichen Archivverwaltung im Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten. Berlin 1956, S. 45–71, hier S. 59.
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II. Mitte August des Jahres 1807, also ein Jahr vor dem Diktat des ersten Buches der Wahlverwandtschaften in Karlsbad, arbeitet Goethe – neben einzelnen Novellen für Wilhelm Meisters Wanderjahre wie dem Mann von 50 Jahren – an Einleitung und Vorwort des ersten Teils seiner Farbenlehre. Das Vorwort enthält gleich im zweiten Absatz eine Analogiebildung, die als Einführung in den theoretischen, didaktischen Teil eines physikalischen Werkes deplatziert erscheint: Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.33
Wie Goethe Farben generell als Taten und Leiden des Lichts definiert, so konstatiert er dieses Wechselspiel von Wirkung und Gegenwirkung auch auf sozialer Ebene. Dort wie hier thematisiert Goethe eine Gestalt- bzw. Sichtbarwerdung. Dort ist es das Phänomen der Farbe, das durch »Taten und Leiden des Lichts« sichtbar wird, hier das »Bild des Charakters«, das durch die Beachtung von »Handlungen« und »Taten« aufscheint. Es entstehen Mosaiken von »Wirkungen« und »Gegenwirkungen«, die Goethe nicht nur in seiner Farbenlehre, sondern zuvor schon in seiner Kunstgeschichtsschreibung über Cellini und Winckelmann zu Charakterbildern zusammensetzt. Dieses Arrangement von äußerlich sichtbaren »Taten« und »Handlungen« beschreibt zuvor die Figurenzeichnung in den Wahlverwandtschaften. Deren Leser, welcher – wie es Paul Stöcklein ausgedrückt hat – wie »unter Glas«34 – Aufstellung und Verlauf des hier vom Chemischen in das Soziale überführten Experiments verfolgt, ist in seiner Rezeption vor allem auf sprechende, aber nie ausgesprochene Wirkungen und Gegenwirkungen der beteiligten Versuchspersonen beschränkt. Die strenge Außenperspektive auf die Protagonisten in den Wahlverwandtschaften, auf ihre Handlungen, ihre Gesten und Gebärden, wird nur gelegentlich durchbrochen, aber gerade nicht durch die vermeintlich intime Introspektion der Tagebücher von Ottilie. Was im Roman nicht auf der stabilen Ebene des ›showing‹, sondern auf der schwankenden Ebene des ›telling‹ verhandelt wird, erweist sich dagegen als unzureichend und ephemer. Die Figuren in den Wahlverwandtschaften, insbesondere die vier Protagonisten untereinander, dringen selten zu einer gelingenden Kommunikation durch, die ihr zukünftiges Handeln beeinflussen könnte. Zum einen reden sie, wie der anfängliche Dialog zwischen Eduard und Charlotte
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LA I, 4, S. 3. Paul Stöcklein, Stil und Geist der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 71 (1951), S. 47–63, hier S. 50. [Dieser Aufsatz wurde wiederholt abgedruckt in: Ders., Wege zum späten Goethe. Hamburg 1960, und in: Ewald Rösch (Hrsg.), Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Darmstadt 1975, S. 215–235].
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über ihre Ehe exemplarisch vor Augen führt, aneinander vorbei, zum anderen steht die Rede machtlos gegenüber dem bereits vorgezeichneten Schicksal. Wie Grete Schaeder schon 1947, so hat auch Thomas Lehmann 2003 die These von der Machtlosigkeit der Rede in den Wahlverwandtschaften vertreten. Schaeder hat daraus die Konsequenz gezogen, in Goethes Roman auf das Verhältnis von Sichtbarem und Sagbarem zu achten. Lehmann führt dies konsequent weiter, indem er es unternimmt, »das Ungesprochene als Schatten der Rede sichtbar zu machen«.35 Auf der Rezipientenseite avanciert dagegen das Lesen selbst zum Sehen, wodurch dem Leser nicht nur die äußere Romanwelt in ihren mannigfaltigen Sichtbezügen erscheint, sondern auch und besonders die schicksalhafte Verkettung der wahlverwandten Romanfiguren von Erzählerseite durch ein Geflecht von Gesten, Gebärden und Blickbezügen sichtbar gemacht wird. Erschöpft sich darin bereits seine Funktion? Die Frage nach dem Erzähler in Goethes Wahlverwandtschaften ist nach der wegweisenden Studie von Stefan Blessin aus dem Jahr 197236 nicht wieder monographisch vergegenwärtigt worden.37 Auch in seiner Wiederaufnahme des Themas 199638 kann Blessin die Erzählinstanz nur als »Quidproquo« bezeichnen und seine Funktion wie folgt umreißen: Er spiegelt nicht vor, er tut nicht als ob, er verstellt sich nicht, um dahinter eine Wahrheit sichtbar hervortreten zu lassen. Weder ist er die Lüge in Person noch ist er irgendeiner Wahrheit verpflichtet. Der Erzähler räumt von Fall zu Fall Meinungen ein. Er legt dem Leser jeweils eine Meinung nahe. Als solcher ist er einer variablen Funktion vergleichbar. Denn die Meinung kann wechseln. Das Erscheinen des Er-
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Thomas Lehmann, Augen zeugen. Zur Artikulation von Blickbezügen in der Fiktion. Tübingen, Basel 2003, S. 123. Stefan Blessin, Erzählstruktur und Leserhandlung. Zur Theorie der literarischen Kommunikation am Beispiel von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Heidelberg 1974. Dagegen steht eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen zur Erzählinstanz in den Wahlverwandtschaften. In Auswahl: Stöcklein, Stil und Geist (Anm. 34), S. 47–63. Stöckleins Konzept eines »wohlwollend skeptischen Erzählers« (ebenda, S. 52), dessen diskrete Sachlichkeit den Vergleich mit einem »Sammler, Wissenschaftler und Gesellschaftsmensch[en]« (ebenda, S. 49) evoziert, hat sich, natürlich nicht unhinterfragt, bis in die aktuelle Forschung durchgehalten. In ihrer noch unveröffentlichten Dissertation gibt beispielsweise Imelda Rohrbacher (Universität Wien) zu bedenken: »Selbst wenn wir Stöckleins Zeichnung des Erzählers […] als übertrieben empfinden, spricht sie doch sehr genau die spezifische persönliche Färbung der Sicht an, die in der Erzählerstimme mitschwingt« (unveröffentlichtes Dissertationsmanuskript, S. 13). Primär diese Färbung erlaubt es Rohrbacher schließlich, von einer perspektivierenden Erzählinstanz im Roman auszugehen. Auch Benedikt Jeßing hat sich im Nachwort der Reclam-Ausgabe von Goethes Wahlverwandtschaften zur Erzählinstanz geäußert. Ohne dabei den entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang zu den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre im Blick zu haben, kommt Jeßing dem Konzept des Erzählers als Ordnungsinstanz in den Wahlverwandtschaften sehr nah, wenn er schreibt: »Es ist in jedem Sinne der Erzähler, der das im Roman ausgeführte Experiment organisiert. Er ist es, der die abgeschlossene Welt der Wahlverwandtschaften konstruiert, sozusagen die Laborbedingungen simuliert«. (Ders., Nachwort. In: Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Stuttgart 2003, S. 281). Stefan Blessin, Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne. Paderborn u.a. 1996 [Neuauflage des bereits 1979 entstandenen Buches].
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zählers signalisiert geradezu, daß es sich so, wie er sagt, verhalten kann oder auch anders. Er ist die Meinung in Person und wechselhaft wie diese.39
Viel, so scheint es, ist mit dieser ›Wie-du-mir-so-ich-dir-Bestimmung‹ nicht gewonnen. Der proteische Erzähler nimmt hiermit weder Gestalt noch Funktion an, sondern verhält sich affirmativ gegenüber dem Erzählten. Ich möchte gegenüber Blessin die These stark machen, dass der Erzähler in den Wahlverwandtschaften durchaus funktional bestimmt werden kann, und zwar als Ordnungsinstanz. Diese tritt einmal stärker in den Vordergrund, und zwar gleich zu Beginn des Romans, wo durch die Wendung: »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter«40 die Konstruiertheit des Romans intoniert wird. In vielen Passagen des Romans weicht die Erzählinstanz unauffällig zurück, ist aber, vergleichbar mit dem »rote Faden«,41 durchaus vorhanden. Als Beispiel soll jene Stelle zitiert werden, die zumeist als Ausweis der Bild- oder Bilderhaftigkeit des Romans herangezogen wird. Es geht um Eduards Besuch in der Mooshütte, die seine Frau als empfindsames Gartenutensil angelegt hatte: An der Türe empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Tür und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte. Er freute sich daran in Hoffnung, daß der Frühling bald alles noch reichlicher beleben würde. ›Nur eines habe ich zu erinnern‹, setzte er hinzu, ›die Hütte scheint mir etwas zu eng‹.42
Was tut der Erzähler hier? Er stellt ein »System der Aussagbarkeit und des Funktionierens« vor Augen, worin eine Meinung, nämlich die Eduards dann in direkter Rede zum Ausdruck kommt. Anders gewendet: Der Erzähler rastert das Umfeld, indem er die Position der Romanfiguren zueinander sichtbar macht, Blickbezüge festlegt sowie die Signale setzt, die für Eduards Gedanken und dann auch für seine Worte ausschlaggebend sind. Er gibt mit diesem anschaulich gewordenen System die Bedingungen der Möglichkeiten von Rede überhaupt vor. Ob diese dann angemessen zum vorgegebenen Zustand oder unangemessen erscheinen, kann der sprachkritisch gestimmte Leser sogleich selbst entscheiden. Ein weiteres Beispiel aus dem zweiten Teil des Romans soll hier folgen, worin die Figur des Architekten eingeführt wird: So zeigte sich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards jener Architekt täglich bedeutender, von welchem die Anordnung und Ausführung so manches Unternehmens allein abhing, wobei er sich genau, verständig und tätig erwies und zugleich den Damen auf mancherlei Art beistand […]. Schon sein Äußeres war von der Art, daß es Zutrauen einflößte und Neigung erweckte. Ein Jüngling im vollen Sinne des Wortes, wohlgebaut, schlank, eher ein wenig zu groß, bescheiden
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Ebenda, S. 223. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. HA 6, S. 242. Vgl. Helmut Hühn, Vom »roten Faden«. In: »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hrsg. von Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 106. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. HA 6, S. 243.
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ohne ängstlich, zutraulich ohne zudringend zu sein. Freudig übernahm er jede Sorge und Bemühung, und weil er mit großer Leichtigkeit rechnete, so war ihm bald das ganze Hauswesen kein Geheimnis, und überallhin verbreitete sich sein günstiger Einfluß.43
Der Erzähler nimmt in dieser Einführung des Architekten die Bedingungen der Möglichkeiten seines Agierens vorweg, indem er das äußerlich Sichtbare unmittelbar an eine Charakter- und Handlungsdisposition bindet, die im Romanverlauf dann auch nicht relativiert oder gar konterkariert wird. Die Attribution: »wohlgebaut, schlank, eher ein wenig zu groß«, mutet nicht zufällig wie eine Vermessung an, deren Vergleichsmaßstab strenggenommen fehlt; denn wer oder was mag einschätzen, dass der Architekt »eher ein wenig zu groß« sei, dass er von einer Art war, die »Zutrauen einflößte und Neigungen erweckte«? Der eigentlich fehlende Wertmaßstab wird hier vom Erzähler gesetzt. Und trotzdem: Er drängt sich nicht auktorial auf, er erklärt nicht, er weiß nicht – er zeigt, oder besser: er scheint nur zu zeigen. Die vermeintlich interne Fokalisierung, oder, um mit Jean Pouillon zu sprechen, die »vision avec« (»Mitsicht«44), worin der Erzähler ebensoviel sagt, wie die Figur sieht und weiß, wird an dieser Stelle subtil in eine »vision par derrière«, eine »Übersicht« oder Nullfokalisierung, übertragen, in welcher der Erzähler mehr weiß und sagt, als irgendeine der Figuren wissen oder wahrnehmen kann. Die ständige Rückbindung an das Sichtbare lässt indes den Verdacht einer solcherart bevormundenden Erzählinstanz gar nicht erst aufkommen. Wie die beiden Beispiele zeigen, orientiert sich der Erzähler in den Wahlverwandtschaften nicht nur konventionell in räumlichen, zeitlichen und personellen Bezügen, er macht ein durchkomponiertes »System der Aussagbarkeit und des Funktionierens« sichtbar und steckt damit das Versuchsfeld des sozialen Experiments ab. Nimmt der Leser die Handlung distanziert »wie unter Glas« wahr, so fungiert der Erzähler als Versuchsleiter, der das Setting festlegt, die Elemente vorstellt, die Bedingungen des Experiments ›vermannigfaltigt‹ und den sich dadurch verändernden Versuchsverlauf protokolliert und kommentiert. Damit übernimmt die Erzählinstanz in den Wahlverwandtschaften auch eine Übertragungsfunktion. Mit dem Autor zusammen hat sie, wie es in Goethes Selbstanzeige des Romans heißt, »eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurück[zu]führen«.45 Wenn Goethe im Historischen Teil seiner Farbenlehre schreibt, dass »manche wissenschaftliche Rätsel nur durch eine ethische Auflösung begreiflich«46 zu machen sind, so gleicht sich diese Übertragungsleistung im Roman wie in der Wissenschaftsgeschich-
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45 46
Ebenda, II, 1. HA 6, S. 360. Die schon 1946 von Jean Pouillon in seinem Buch Temps et Roman eingeführten Begriffe »vision avec«, »vision par derrière« und »vision du dehors« sind in der heutigen deutschsprachigen Erzählforschung als »Mitsicht«, »Übersicht« und »Außensicht« gebräuchlich geworden. Vgl. u.a. Matías Martínez / Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. München 72007, S. 64. Zitiert nach: HA 6, S. 639. LA I, 6, S. 295f.
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te. Zumindest sind die Zielpunkte gleichgesetzt, der Ausgang jedoch könnte nicht unterschiedlicher sein: hier – im Roman – ein sittlicher Fall, der ein chemisches Gleichnis wieder auf seine ethischen Wurzeln zurückführt, dort – in der Wissenschaftsgeschichte der Farbenlehre – eine naturwissenschaftliche Lehrmeinung, die durch ihre biographische Vorgeschichte ihre »ethische Auflösung« erfährt. Im Falle der Materialien zur Geschichte der Farbenlehre liegt der Fall klar: Die Charakterskizzen, worin Leben und Werk der vorgestellten Persönlichkeiten eine unverbrüchliche Einheit bilden, stehen für die ethische Grundlage des Werkes. Im Falle der Wahlverwandtschaften rekurriert das Ethische auf den sittlichen Fall einer unerhörten Begebenheit, die als chemisches Gleichnis fiktional präsentiert wird. Wie aber kann eine solche Rückübertragung von naturwissenschaftlicher Theorie in einen biographischen oder literarischen Text gelingen? Der Schlüssel hierzu ist in Goethes Verständnis von Symbolik zu finden, das er beispielsweise im Vorwort der Farbenlehre expliziert. Dort führt er aus, dass er in seinem Werk das naturgegebene »Gewicht und Gegengewicht«,47 das ewige »Wirken« und »Widerstreben«, das »Tun« und »Leiden«, also die Polarität der Natur in »eine Sprache, eine Symbolik, die man auf ähnliche Fälle als Gleichnis, als nahverwandten Ausdruck, als unmittelbar passendes Wort anwenden und benutzen mag«,48 auch auf die Farbenlehre anzuwenden gedenkt. Goethe erkennt in dieser Übertragung sogar die »Hauptabsicht«49 seines Werks. Welcher Ratio dies zu Grunde liegt, hat Goethe schon früher im Zusammenhang seiner Physikalischen Vorträge gegenüber Riemer verständlich gemacht. Letzterer erinnert sich an ein Gespräch vom 21. Oktober 1805, worin Goethe angegeben haben soll: Alle unsere Erkenntnis ist symbolisch. Eins ist das Symbol vom andern: die magnetischen Erscheinungen Symbol der elektrischen, zugleich dasselbe und zugleich ein Symbol der andern. Ebenso die Farben durch ihre Polarität symbolisch für die Pole der Elektrizität und des Magnets. Und so ist die Wissenschaft ein künstliches Leben, aus Tatsache, Symbol, Gleichnis wunderbar zusammengeflossen.50
Es ist dieser Zusammenfluss von »Tatsache, Symbol und Gleichnis«, der nicht nur das »künstliche[] Leben« der Wissenschaft bestimmt, sondern auch das in den Wahlverwandtschaften, nur wird es hier in der »unerhörten Begebenheit« eines sittlichen oder ethischen Rätsels verortet. Auch diese Übertragung ist qua Symbolik möglich.51 Der Erzähler tritt in den Wahlverwandtschaften innerhalb seines selbstgesetzten »Systems der Aussagbarkeit« als Ordnungs- und Übertragungsinstanz auf. Mit Blick auf das »System der Aussagbarkeit und des Funktionierens« definiert Foucault in seiner Archäologie des Wissens ein Archiv, welches nicht statisch, sondern dynamisch und funktional aufgefasst wird: dynamisch und 47 48 49 50 51
LA I, 4, S. 4. Ebenda. Ebenda. Wolfgang Herwig (Hrsg.), Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, Bd. 2: 1805–1807, Zürich 1969, Nr. 2173. Vgl. den Beitrag von Helmut Hühn in diesem Band.
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funktional, weil nach Foucault ein Archiv neben seinem Bestand auch durch den Umgang, also die »Formation und Transformation der Aussagen« gekennzeichnet ist. Tritt die Erzählinstanz in den Wahlverwandtschaften also als die Ordnungsinstanz eines fiktiven Archivs auf? Gibt der Erzähler mit dem »System der Aussagbarkeit und des Funktionierens« auch die »Formation und Transformation«52 der Handlung und der Figurenrede vor?
III. Mit der Bemerkung: »Der Hauptmann kam«,53 markiert der Erzähler in den Wahlverwandtschaften einen entscheidenden Einschnitt. Im dritten Kapitel des ersten Teils tritt mit diesen Worten die erste der komplementären Hauptfiguren auf den Plan, welche dem zuvor eingeführten Ehepaar Charlotte und Eduard zur Seite gestellt werden. Die zweite – Ottilie – folgt wenig später im sechsten Kapitel. Der Hauptmann setzt sogleich ins Werk, was Eduard »längst […] gewünscht«54 hatte: eine Vermessung und kartographische Aufnahme des »Gutes und der Gegend«.55 Warum ist dies überhaupt als Einschnitt zu gewichten? Vor dem Eintreten des Hauptmanns befindet sich das Ehepaar in einem Zustand pläneschmiedender Orientierungslosigkeit. Vieles liegt angefangen, nichts dagegen in wünschenswerter Ordnung vor: Chaos herrscht in Eduards Reisetagebüchern, die er Charlotte »in ordentlicher Folge mitteilen«56 wollte, das wiederbelebte gemeinsame Musizieren leidet am dilettantischen Flötenspiel Eduards, die Garten- und Parkanlagen schließlich seien zwar »von guter Art«,57 aber sollte sich »nichts weiter darauf bauen, und soll sich nichts weiter daraus entwickeln«58 lassen? Charlottes ›ahnungsvolle‹ Zweifel, dass die »Dazwischenkunft eines Dritten«59 diese vielversprechenden Ansätze sogleich gefährden würde, räumt Eduard blindlings aus. Dass nach seiner Auffassung durch die »Gegenwart des Hauptmanns […] nichts gestört, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt«60 werde, schärft mehr als nur den Kontrast zweier Meinungen, es rückt die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft ins Zwielicht und stellt sie damit grundsätzlich zur Disposition. Ob die dann doch realisierte »Dazwischenkunft« des Hauptmanns wegweisend für den Fortbestand der Ehe zwischen Eduard und Charlotte ist, bleibt zunächst unentschieden; Veränderungen deuten sich lediglich auf der Handlungsoberfläche an. Wenn es die erklärte Aufgabe des Hauptmanns ist, neben der »Repositur für das Gegen-
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Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main 81997, S. 188. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 3. HA 6, S. 258. Ebenda, I, 1. HA 6, S. 245. Ebenda. Ebenda, S. 247. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 248. Ebenda, S. 247.
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wärtige, ein Archiv für das Vergangene«61 anzulegen, wenn er darüber hinaus das Gut und seine Umgebung einer Vermessung unterzieht und daraufhin eine Karte erstellt, ist er es dann, der damit die dringend erforderliche Ordnung und Übersicht stiftet, und zwar nicht allein in archivalischer oder topographischer Hinsicht? Bringt der »Dritte« im übertragenen Sinne Ordnung in die vertrackte eheliche Situation zwischen Charlotte und Eduard? Die Doppeldeutigkeit des Wortes »Plan« ist dort zu bedenken, wo Ordnung und Entwicklung im Roman zusammenspielen, aber auch dort, wo Unordnung und Stockung auftreten. So ist es nicht verwunderlich, dass Eduards überschwengliche Neigung zu Ottilie im achten Kapitel des ersten Buches gerade in der Verunstaltung des »sorgfältigen, reinlich gezeichneten Plan[s]«62 des Hauptmanns symbolhaft zum Ausdruck kommt. Ordnung und Entwicklung der ehelichen Beziehung zwischen Charlotte und Eduard werden damit »recht stark und derb«63 konterkariert. Nicht nur die Landschaft selbst und ihre Veränderung, die sie im Laufe des Romans durch die vier Hauptfiguren erfährt, ist symbolisch zu vergegenwärtigen,64 sondern auch der Umgang mit dem für diese Umgestaltungen verbindlichen Plan. Bis zu Eduards empfindlichem Eingriff diktiert die Karte des Hauptmanns die Bedingungen der Möglichkeiten von Veränderungen der Anlage. Er verschafft auch Eduard anfänglich die gewünschte Orientierung, indem dieser »seine Besitzungen auf das deutlichste aus dem Papier wie eine neue Schöpfung hervorgewachsen«65 sieht. Und mehr noch: »Er glaubte sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehören«.66 Durch die Erstellung der Karte wird Eduard Zeuge nicht nur eines technischen, sondern vielmehr eines künstlerischen Vorganges. Denn nichts anderes deutet der Erzähler durch den Vergleich des Plans mit einer »neue[n] Schöpfung« an. Seine Anteilnahme an diesem Formwerdungsprozess bietet Eduard gleichzeitig die Möglichkeit, der stofflichen Vielfalt seiner Umgebung Herr zu werden und sie damit zu bewältigen. Zwar werden ihm sein Wirkungskreis und die eigene richtungslos ausströmende Aktivität durch den Plan vor Augen gestellt, aber beides findet er darin gefasst und zur Veränderung bereitet. Theoretisch zumindest! Praktisch wird der Ordnungsversuch des Freundes durch Eduards erwachende leidenschaftliche Neigung zu Ottilie vereitelt. Der Plan misslingt, wie viele, ja wie fast alle Versuche der vier Protagonisten, eine Ordnung gegen die raumgreifende und immer stärker werdende Wahlverwandtschaft zu statuieren. Symbolische Vorwegnahmen des einbrechenden Verhängnisses
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Ebenda, I, 4. HA 6, S. 267. Ebenda, I, 8. HA 6, S. 295. Ebenda. Diese Aufgabe war Gegenstand des unpublizierten Vortrages »Goethe’s ›Elective Affinities‹. Morphology in Landscape?«, den ich am 5. Dezember 2008 auf der Tagung »›Elective Affinities‹: Goethe, Literature, Science« in Baltimore (USA) hielt. Darin wurde auf Grundlage der neu aufgefundenen Riemerschen Schauplatzskizze der Wahlverwandtschaften der Möglichkeitshorizont symbolischer und mithin morphologischer Darstellungen des Schauplatzes abgesteckt. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 3. HA 6, S. 261. Ebenda.
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wie Eduards Verunstaltung der Karte oder der durch Charlottes ungewöhnliche Hast entstandene Tintenfleck im Postskript des Briefes an den Hauptmann deuten an, dass die intendierte Neuordnung der Verhältnisse, die Charlotte kurz vor der Versendung des verhängnisvollen Briefes explizit als »Versuch«67 bezeichnet, in Unordnung auszulaufen droht. Der Weg dorthin lässt jene »Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit« erkennen, von denen Goethe in der Selbstanzeige des Romans spricht.68 Genauer besehen zeigen sich moderne Derivate: »veloziferische«69 Übereilung und Vermessenheit, unreflektierte, dilettantische Velleitäten (also »Wollungen«), eine romantische Verklärung der Vergangenheit. Diese haben sich vor allem im Park eingeschrieben und ein veritables Chaos in diesem vormals geordneten Archiv angerichtet, so dass es am Ende zu niemandes Gebrauch und Genuss dasteht. Übereilung und prometheische Gewalt lassen den Damm der zum See vereinigten Teiche einbrechen, durch die dilettantische Staffage der Mooshütte baut Charlotte nicht dem gemeinsamen Lebensabend mit ihrem Mann, sondern ihrer Einsamkeit vor. Die durch Engelsbilder gezierte Kapelle fungiert schließlich als Grabstätte der Liebenden Eduard und Ottilie. Aber es ist nicht nur das moderne tragische Verhängnis, das Goethe hier im Übergang zu seinem Spätwerk aufzeigt. Es ist in den Wahlverwandtschaften etwas prinzipiell Störendes, jegliche Ordnung Durchkreuzendes am Werke, was Goethe im Winter 1807/1808 erstmals beim Namen nennt: das »Dämonische«. Es nimmt nicht wunder, dass diese für den späten Goethe als Gegengewicht zur Ordnung, aber auch als Schicksalswort der eigenen Individuation immer wichtiger werdende Instanz zum ersten Mal in entstehungsgeschichtlicher Nähe zu den Wahlverwandtschaften auftritt, und zwar in der strengen Form eines Sonetts. Es ist ein Liebesgedicht an Minchen von Herzlieb. Das Gedicht ist mit Mächtiges Überraschen betitelt. In den strengen formalen Grenzen des Sonetts wird darin als »dämonisch« gefasst, was als elementares Symbol einer gestörten Ordnung interpretiert werden kann. Es geht darin um das Aufhalten eines Stromes, der »[d]em Ozean sich eilig zu verbinden«70 trachtet und scheinbar unaufhaltsam zu Tale strömt. Die Bergnymphe Oreas ist es, die ihr Behagen darin findet, den Strom zu dämmen. Die vorwärtsstrebende Welle wird gehemmt, und so heißt es im abschließenden Terzett: Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.71 67 68 69
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Ebenda, I, 2. HA 6, S. 256. Zitiert nach: HA 6, S. 639. Zum Veloziferischen bei Goethe im Allgemeinen und in den Wahlverwandtschaften im Besonderen vgl. Manfred Osten, »Alles Veloziferisch« oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Frankfurt am Main, Leipzig 2003. Für die Wahlverwandtschaften ist vor allem das 3. Kapitel der Essaysammlung (»Ottilie: Die Verweigerung des ›Veloziferischen‹«) lesenswert. Goethe, Mächtiges Überraschen. HA 1, S. 294. Ebenda.
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Das behagliche, aber dennoch gewaltsame Eingreifen der Liebe in den Strom des Lebens, die Stockung, die das immer schwankende Element zur Annahme einer neuen, ruhigen Form zwingt, das ist es, was Goethe in der Zeit der Wahlverwandtschaften erstmals als »dämonisch« bezeichnet. Dass immer da, wo in Goethes Werk ein Damm gebaut wird, tätige Vermessenheit, aber wie nun auch klar geworden ist, mit der Liebe außerdem das Dämonische am Werk sein kann, ist in der Lyrik mit Blick auf das Mächtige Überraschen, in der Dramatik durch das Ende von Faust II, aber eben auch im Erzählwerk der Wahlverwandtschaften evident. Dort, wo sich im Sonett Gestirne auf der ruhigen Wasserfläche spiegeln, sieht man im Roman das furiose Feuerwerk zu Ehren Ottilies. Wo im Gedicht das »Blinken des Wellenschlags am Fels« ein »neues Leben« aufscheinen lässt, herrscht im Roman dagegen blankes Entsetzen, denn der Damm bricht unter der Last der vielzähligen Festgemeinde. Das Dämonische zeigt seine Schattenseite. Damit aber nicht der Unordnung, sondern der titelgebenden Ordnung das letzte Wort in dieser Untersuchung zukommt, möchte ich kurz zusammenfassen. Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften entstand in einer Zeit, worin die beginnende Ordnung seines Lebenswerkes den Übergang zum Spätwerk des Dichters und Naturforschers markiert. Die Vereinsamung, insbesondere nach Schillers Tod, übersetzt Goethe in die unablässige Tätigkeit seiner Selbsthistorisierung. Goethe sucht seinen Platz in der Geschichte. Als Naturforscher findet er ihn erstmals in den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, genauer in der »Konfession des Verfassers« am Ende der Wissenschaftsgeschichte. Nicht umsonst ist dies der erste dezidiert autobiographische Text Goethes.72 Durch die Arbeit an den Materialien erkennt Goethe, dass Ordnung und Organisation der Vergangenheit profilgebend und sinnstiftend für die eigene Gegenwart und für das eigene Vermächtnis sind. Goethe fungiert im Historischen Teil der Farbenlehre als Herausgeber, der vordergründig das von ihm zusammengetragene wissenschaftsgeschichtliche Archiv präsentiert, tatsächlich aber durch Auswahl, Ordnung und Kommentar der Quellen eine Perspektivierung vornimmt. Die Wissenschaftsgeschichte avanciert zur Herausgeberfiktion. Die entstehungsgeschichtliche Nähe zu den Wahlverwandtschaften veranlasst zum Vergleich, auch und gerade in Bezug auf die Erzählinstanz. Es konnte gezeigt werden, dass auch der Erzähler in Goethes Roman als Ordnungsinstanz fungiert, indem er ein »System der Aussagbarkeit und des Funktionierens« vorgibt und den Verlauf des Sozialexperiments protokolliert und kommentiert. Daher entsteht beim Leser der Eindruck, das Geschehen »wie unter Glas« wahrzunehmen. Mithin kommt der Erzählinstanz eine Übertragungsfunktion zu, welche qua Symbolsprache realisiert wird. Wie im »sittlichen Falle [der Wahlverwandtschaft] eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurück[zu]führen«73 sei, ist nur durch eine Symbolik ins Werk zu setzen, die
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Dagegen Carsten Rohde, Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben. Göttingen 2006, S. 17. Zitiert nach: HA 6, S. 639.
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eine Rückübertragung von Naturforschung in Fiktion überhaupt erst ermöglicht. Der vom chemischen zum sozialen fortgeschrittene Versuch aber, das zeigte der dritte Teil, entwickelt auf der Handlungsebene eine eigene Dynamik, indem die von den Romanfiguren notdürftig statuierte Ordnung durchbrochen wird und das Dämonische seine Rechte an der Gegenwart fordert. Eine Lektion, die auch der späte Goethe in seiner Gegenwart zu lernen hatte.
Verfehlte Geburtstage und verpatzte Feste Zeitkultur in den Wahlverwandtschaften Michael Maurer
Der folgende Beitrag zielt darauf ab, Elemente der Zeitkultur in Goethes Wahlverwandtschaften herauszupräparieren und im Lichte eines Forschungsansatzes, der innerhalb des Sonderforschungsbereiches »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« entwickelt worden ist, auszuleuchten. In einem ersten Schritt stelle ich das begriffliche Instrumentarium unseres Forschungsansatzes vor. In einem zweiten Schritt analysiere ich die Wahlverwandtschaften hinsichtlich der Zeitkultur. In einem dritten Schritt ziehe ich Folgerungen aus diesem Vergleich der historischen Entwicklung um 1800 und der Struktur des Kunstwerks, das auf diese Krise antwortet.
I. Die entscheidende Bedingung menschlichen Lebens ist seine Zeitlichkeit: daß uns Zeit, da wir sterblich sind, nicht beliebig zur Verfügung steht, sondern endlich ist. Nicht die physikalische Gegebenheit der Zeit betrifft uns, sondern – in anthropologischer Wendung – das Bewusstsein des Menschen von seiner Zeitlichkeit. Zeit ist eine Ressource, die man kultivieren kann. Je nachdem, wie wir unsere Zeit gestalten, ist sie leer oder erfüllt.1
Zur ›Zeitkultur‹ gehören Tag und Jahr, Monat und Woche, Kalender und Epochenbewusstsein, Zeitmessung und Zeitbewusstsein, Lebenslauf und Übergangsschwellen, Jahreslauf und Festzyklus. ›Zeitkultur‹ verwirklicht sich vor allem in Festen und Feiern als den wesentlichen Gliederungselementen des Lebenslaufes, des Jahreslaufes und der Menschheitsgeschichte, also etwa auch in Jubiläen.2 Dementsprechend werden vor allem Feste und Feiern dieser Ordnungen zum Untersuchungsgegenstand: Feste des Lebenslaufes wie Geburt/Taufe, Geschlechtsreife/Konfirmation/Firmung, Hochzeit, Tod/Begräbnis; Feste des Jahreslaufes wie Neujahr, Karneval, Ostern, Pfingsten, Sommersonnwende, Erntedank, Weihnachten; schließlich öffentliche oder bürgerliche Feste und 1 2
Michael Maurer, Kulturgeschichte. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 147. Thomas Schmidt, Kalender und Gedächtnis. Erinnern im Rhythmus der Zeit. Göttingen 2000.
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Feiern, die zu Goethes Zeit vor allem als gelegentlich ausgerufene Buß- und Bettage in Erscheinung traten sowie als Familienfeste der regierenden Dynastie.3 Im Gegensatz zu einem Großteil der Forschung4 wird zwischen ›Fest‹ und ›Feier‹ nicht systematisch unterschieden; ›Fest‹ wird als Oberbegriff eingesetzt, der im Bedarfsfall spezifiziert werden kann (und dann auch eine Unterscheidung von ›fest-affinen‹ und ›feier-affinen‹ Formen zulässt).5 Drei Interpretamente sind es, mit denen wir jedes Fest analysieren: ›Bedeutung‹ – ›Form‹ – ›Gemeinschaft‹. Konkrete Feste können jeweils nach ihrer Position im Überschneidungsfeld dieser drei Kreise bestimmt werden. ›Feier‹ ist dann ein solches Fest, das in den Bedeutungsbereich verschoben wurde.6 Im Blick auf die Gemeinschaftsbezogenheit des Festes hat sich vor allem der Begriff der ›Anordnungskompetenz‹ als heuristisch fruchtbar erwiesen. Festgeschichte lässt sich auch als Geschichte der Anordnungskompetenz im Wandel verstehen. In der höfischen Epoche werden die Festereignisse auch der Kirche, der Stadt, der Universität durch das höfische Fest geprägt. In der bürgerlichen Epoche ist diese prägende Instanz zerfallen. Nun rivalisieren die traditionellen Instanzen Kirche, Stadt und Universität um eine Anordnungskompetenz, die über ihren eigentlichen Bereich hinaus Geltung beanspruchen kann und gesamtgesellschaftliche Wirksamkeit in einer bürgerlichen Gesellschaft erlangt. Dafür wird der Begriff der ›Öffentlichkeit‹ zentral wie auch die Untersuchung der Medien des Festes. Im Bereich des Festes spielen Privatsphäre (Familienfeste) und öffentliche Sphäre (Kontrolle und Registrierung von Geburten, Hochzeiten, Sterbefällen) exemplarisch ineinander. Das 18. Jahrhundert brachte, insbesondere in seiner zweiten Hälfte, einen Schub der Individualisierung, Subjektivierung und Privatisierung, der das Festgeschehen revolutionierte. Die Präge- und Anordnungskraft des absolutistischen Staates als landeskirchlich gestützter Obrigkeitsstaat ließ sichtlich nach; eine liberalisierte Gesellschaft entzog sich tendenziell in dieser Epoche dem Staat. Das Fest ist dafür ein Indikator. Wie sich die Intimisierung des Festes als Entziehung gegenüber dem Staat deuten lässt, so auch als Freiwerden von der Kirche. In einer Lebenswelt, die noch weithin fraglos von kirchlich gesetzten Normen geprägt war (kirchliche Festtage), vollzog sich doch im späten 18. Jahrhundert eine schleichende Veränderung im Umgang mit dem traditionell Üblichen: Kirchgang entwickelte sich unter Protestanten selektiv, familiär-delegierend, auf die Höhepunkte des
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Zur Phänomenologie vgl. Michael Maurer, Zur Systematik des Festes. In: Michael Maurer (Hrsg.), Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 55–80. Vgl. Otto F. Bollnow, Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existentialismus. Stuttgart u. a. 1955; Winfried Gebhardt, Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt am Main u. a. 1987. Vgl. Michael Maurer, Prolegomena zu einer Theorie des Festes. In: Maurer, Fest (Anm. 3), S. 19–54; hier S. 32–38. Vgl. Lars Deile, Feste – eine Definition. In: Maurer, Fest (Anm. 3), S. 1–17.
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Kirchenjahres und die höchsten Feste des Lebenslaufes beschränkt.7 Damit wurde Feiern zunächst einmal liberalisiert, privatisiert, aber auch säkularisiert: Der Übergang in den privaten Rahmen zog eine Formverwandlung der Medien und Formen des Feierns nach sich, die nun stärker von der Literatur her, von einer klassischen Bildungsreligion aufgefangen und neu geprägt wurden. Gerade die Ereigniszeit um 1800, in der theoretisch schon Positionen greifbar werden, welche deutlich außerhalb des herkömmlichen christlichen Rahmens angesiedelt sind, provoziert dazu, die alltagspraktische Veränderung der Lebenswelt dem Lackmustest des Festes zu unterziehen. Die Etablierung einer säkularen Kultur vollzog sich wesentlich als literarische Bewegung, als Enkulturation auf dem Wege der Literarisierung. Wenn man den Gottesdienst (liturgiewissenschaftlich) als ›Heiliges Spiel‹ auffasst,8 fragt es sich, wie weit die gerade in Weimar kultivierte Manie des Theaters (geistesgeschichtlich) als ›profaner Gottesdienst‹ zu sehen ist. Es fällt auf, dass auch die privatisierten Formen des Feierns an einer Symbolsprache teilhatten, die noch dem christlichen Bereich entstammte, aber auch schon abgelöste Symbole einbezog und eine vom Bildungskanon geformte Symbolwelt aufbaute. Das Ende der Frühen Neuzeit wird oft als eine bürgerlich-aufgeklärte Zeitwende beschrieben: ›Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft‹.9 Gemeinhin wird in diesem Zusammenhang von der Verbürgerlichung der höfischen Gesellschaft gesprochen: Eine bürokratische Elite trat in den Vordergrund; aus dem Blick der bürgerlichen Hofkritik erschien der zeremoniell strukturierte absolutistische Alltag als moralisch verwerflich und ökonomisch fragwürdig. Im Fest – im gemeinsamen Auftreten einer Gruppe zu einem kalendarisch hervorgehobenen (isolierten) Augenblick – erschließen sich vormoderne herrschaftliche Handlungsmechanismen. Trotz aufgeklärter Nützlichkeitspostulate blieb das Ansehen einer Dynastie fest an höfische Repräsentationsformen gebunden. Festereignisse mussten sinnstiftend, vermittelbar, langfristig und schließlich emotional signifikant sein (damit verschieden von Geselligkeiten wie Bällen, sonntäglichen Tafeln etc.). Jede dieser Veränderungen im Leben erforderte teils profane, teils sakrale Aktionen und Reaktionen. Die Bindekräfte, die ein festliches Geschehen ermöglichten, resultierten aus zeitlich homogenen pragmatischen Verhaltensformen. Analoge zeremonielle Mechanismen bestimmten die festlich markierten Veränderungen. Sie garantierten einen sicheren Umgang im individuellen und gemeinschaftlichen Schwellenüberschreiten. Durch synchrone Handlungsabläufe konnte das Zeremoniell schriftlich fixiert und durch Zuschreibungen, wie das Herausstellen der Veränderungen für die Fürstenfamilie, den Hof, die Stadt oder das Land, individualisiert und historisiert werden.
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Michael Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. München 1999, S. 37. Vgl. Bernhard Lang, Heiliges Spiel. Eine Geschichte des christlichen Gottesdienstes. München 1998. Lothar Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. München 1993.
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II. Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften bleibt eigentümlich zeitlos: Keine einzige Jahreszahl und kein einziges konkretes Datum werden genannt. Zeitangaben sind fast immer vage: »Einige Zeit später […]« oder »So verfloß einige Zeit […]«.10 Im Laufe des Romans wird ein Kind gezeugt und geboren, das bald darauf zu Tode kommt: Damit haben wir immerhin eine grobe Vorstellung von der Zeit im Roman; es wird auch ein Haus geplant und gebaut; es werden unzählige Bäume gepflanzt und ein Park umgestaltet. Im Anschluss an dieses Naturgestalten werden wir auf naturzeitliche Abläufe hingewiesen wie den Gang der Jahreszeiten. Außerdem werden auch Geburtstage bemerkt, freilich ohne Datum und genauere Fixierung. Diese Art des Umgangs mit der Zeit im Roman kontrastiert aufs schärfste mit dem äußeren historischen Geschehen zur Zeit seiner Entstehung 1808. Goethe selber hat 1806 als Epoche aufgefasst und Schiller glücklich gepriesen, dass er diese neue Zeit nicht erleben musste.11 Wenn aus den Wahlverwandtschaften die historischen Veränderungen quasi ausgeschlossen bleiben (jedenfalls scheint es auf einer ersten Ebene so!), kann das nur einem absichtlichen Kunstwollen zu verdanken sein: Der Autor will einen Spielraum schaffen, der von solch unmittelbarer Zeitgenossenschaft entlastet bleibt. Er zeigt uns ein soziales Experiment, das gerade als solches nicht an bestimmte zufällige politische Bedingungen geknüpft sein soll; es soll immer gültig sein, immer wieder nachvollzogen werden können. Der Leser soll sich gerade nicht entlastet fühlen dürfen durch die mögliche Verknüpfung mit kontingenten historischen Umständen. Im ersten Satz des Romans herrscht »die schönste Stunde eines Aprilnachmittags«,12 die Handlung setzt im »Frühling« ein.13 Im Zweiten Teil heißt es im dritten Kapitel: »Das Jahr klingt ab«14 und im fünften Kapitel: »Indessen je tiefer der Winter sich senkte…«.15 Im achten Kapitel findet sich die merkwürdige Formulierung von »einem der schönen Tage, an welchen der scheidende Winter den Frühling zu lügen pflegt«.16 Im neunten Kapitel: »Der Frühling war gekommen, später, aber auch rascher und freudiger als gewöhnlich«.17 Etwas später: »Daß der Herbst ebenso herrlich würde wie der Frühling, dafür war gesorgt«.18 Gegen Ende des Romans, im siebzehnten Kapitel, wird der Ring geschlossen:
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Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman II, 15. HA 6, S. 464. Vgl. zu diesem Komplex Werner Schwan, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Das nicht erreichte Soziale. München 1983, S. 213–263. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. HA 6, S. 242. Ebenda, I, 1. HA 6, S. 243. Ebenda, II, 3. HA 6, S. 376. Ebenda, II, 5. HA 6, S. 390. Ebenda, II, 8. HA 6, S. 417. Ebenda, II, 9. HA 6, S. 423. Ebenda, II, 9. HA 6, S. 425.
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Die herbstlichen Tage, an Länge jenen Frühlingstagen gleich, riefen die Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freien ins Haus zurück. Der Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen. Denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen auch gesäet hatte; nun reiften Früchte an den Bäumen, die man damals blühen gesehen.19
Offensichtlich möchte Goethe das Romangeschehen in den Naturablauf eingeordnet wissen. Da im ganzen Roman viel gesät, gepflanzt, geerntet wird, erscheint das menschliche Handeln einerseits naturgebunden, andererseits aber auch naturgestaltend: Es sind nicht die Elemente, das Klima, das Wetter, welche die Katastrophen hervorrufen; es sind vielmehr die menschlichen Handlungen, deren Konsequenzen sich quasi als Natur zeigen, wenn man etwa im Herbst den Anblick der Astern genießt, die im Frühling gesät wurden. Dieser Zusammenhang ist umso auffallender, als außerhalb der Handlungsinsel, des adligen Gutes, gar kein Wetter und keine Zeit zu herrschen scheinen. Feldzüge und anderes Geschehen ereignen sich nur in Abhängigkeit von der Handlung um die Hauptpersonen. Das wirbelnde Auftreten Lucianes in diesem Biotop wird dadurch gekennzeichnet, dass sie die äußeren Bedingungen nicht achtet, so dass die Gesellschaft fortwährend durchnässt wird.20 Man gewinnt den Eindruck, Goethe habe diese Natureinbettung absichtlich vollzogen, um das Geschehen auf der Insel der Idylle, dem adligen Gut Eduards, gewissermaßen aus der Geschichte mit ihren fremdgesteuerten Abläufen herauszunehmen. Die Feste des Jahreslaufes, die das Naturjahr kulturell gestalten und im Abendland seit vielen Jahrhunderten christlich überformen, kommen im Roman nicht vor – mit einer Ausnahme: Weihnachten wird erwähnt als Anlass für eines der lebenden Bilder, mit denen sich die Gesellschaft amüsiert.21 Man begeht es also nicht als christliches Fest, man betrachtet auch nicht eine etwa in einer Kirche aufgebaute Krippe, sondern der Anlass dient nur der Übertragung des Marienbildes auf Ottilie. Insgesamt lässt sich feststellen, dass kirchlich-religiöse Vorstellungen nur fallweise herbeizitiert werden, aber für die handelnden Personen, für den Ablauf und für die Deutung des Geschehens letztlich keine Bedeutung gewinnen sollen. Feste des Lebenslaufes werden nur insofern indirekt erwähnt, als die häufig angesprochenen Scheidungen auch Heiraten voraussetzen. Direkt behandelt wird nur die Schilderung einer Taufe, nämlich des Säuglings Otto, dessen leiblicher Vater dabei aber nicht gegenwärtig ist – ein grotesker Taufakt, bei dem Mittler, einer der Gäste, gewissermaßen dem Geistlichen das Heft aus der Hand nimmt, welcher dann auch noch in der Kirche, nach kaum vollzogener Handlung, zusammenbricht und stirbt.22 Es ist, als fiele von diesem beinahe
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Ebenda, II, 17. HA 6, S. 479. Vgl. ebenda, II, 4. HA 6, S. 376ff. Ebenda, II, 6. HA 6, S. 402ff. Ebenda, II, 8. HA 6, S. 421f.
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missglückten Akt ein Schatten voraus auf den Unfalltod des Kindes. Man kann sich fragen, ob es nicht gar von Anfang an als nicht lebensfähig dargestellt wird oder zumindest als unter einem Unstern geboren verstanden werden soll. Insgesamt wird man sagen können, dass die kulturell vorgegebenen Zeitordnungen und Festkreise für die Romanhandlung weitgehend bedeutungslos sind, ja: bedeutungslos sein müssen. Denn das Thema des Romans ist ja gerade die Dialektik der Selbstmächtigkeit des Individuums und dessen schicksalhafte Naturgebundenheit. Eine christliche oder auch eine säkularisierte Kultur, die hier Halt zu geben vermöchte, wird nicht vorausgesetzt, ja, geradezu karikierend aufgerufen, wo einzelne Elemente (Taufe) noch herbeizitiert werden. Die problematisierte Selbstmächtigkeit des Individuums wird nun sinnfällig gemacht im Bereich derjenigen Feste, deren Anordnungskompetenz beim einzelnen liegt, die gewissermaßen willkürlich herbeigezogen und ausgestaltet werden können. Dies sind die Geburtstage der handelnden Personen und (in einem Einzelfall) ein Namenstag. Anders als bei den Angaben zu Jahreszeiten, die immerhin einer gewissen Ordnung folgen müssen, sind wir hier vollkommen im Bereich der Willkür des Autors. Die auktoriale Gebärde, die dem Leser seit dem Eingangssatz des Romans gegenwärtig ist (»Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – …«23) durchwaltet ja den ganzen Roman und findet einen starken Ausdruck gerade in der Anordnung und Durchführung von Festen. Wie jeder Leser sogleich bemerken muss, dass sich die Personen des Romans trennen in solche, die mit Namen individualisiert sind, und solche, die bloß Typen darstellen und keinen Namen haben (›der englische Lord‹, ›der Gehülfe‹, ›der Architekt‹),24 so lässt sich auch feststellen, dass die meisten Personen des Romans keinen Geburtstag haben (selbst der Hauptmann nicht). Geburtstage kommen nur Charlotte und Ottilie zu. Über Eduard äußert Charlotte gleich zu Anfang, dass ihr Mann es nicht liebe, »daß man seinen Geburts- oder Namenstag feire«.25 Dies geschieht denn auch nie im Verlauf der Handlung, allerdings nicht aus freien Stücken, sondern im Drang der Umstände. Der Abend vor Eduards Geburtstag wird zweimal als solcher bezeichnet; dieser Termin spielt eine herausgehobene Rolle, auf die noch einzugehen sein wird. Als es um die Grundsteinlegung des Hauses geht, das Eduard bauen möchte, dessen Standort aber Ottilie ausgewählt hat, wird zunächst »die alte Abneigung Eduards gegen solche Feste«26 erwähnt. Es ist der Hauptmann, der die Grundsteinlegung mit Charlottes Geburtstag zugleich zur Geltung bringen möchte. Dann gewinnt die Möglichkeit des Festes jedoch eine weitere Dimension hinzu: Es kommt Eduard nämlich »schnell in den Sinn, Ottiliens
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Ebenda, I, 1. HA 6, S. 242. Vgl. Heinz Schlaffer, Namen und Buchstaben in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Norbert W. Bolz (Hrsg.), Goethes ›Wahlverwandtschaften›‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 211–229. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 3. HA 6, S. 258. Ebenda, I, 8. HA 6, S. 296.
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Geburtstag, der später fiel, gleichfalls recht feierlich zu begehen«.27 Das heißt im Klartext: Die Möglichkeit einer Geburtstagsfeier für seine Gattin Charlotte ergibt sich für Eduard erst in dieser Verknüpfung mit einer sichtbaren Ehrung Ottilies. Nur unter dieser Bedingung fördert er die Pläne des Hauptmanns, der als Liebhaber Charlottes damit seine eigenen Absichten verfolgt. Die Grundsteinlegung wird als öffentliches Fest inszeniert, sogar mit der Gemeinde, mit Kirchgang und geordnetem Zug zur Baustelle.28 Freilich läuft die zunächst gelungen scheinende Inszenierung am Ende insofern aus dem Ruder, als das Kelchglas, das der Redner zerschmettern wollte, aufgefangen wird, erhalten bleibt und schließlich sogar vom Bauherrn zurückgekauft wird: Es trägt die verschlungenen Initialen E und O, was wohl ursprünglich seine beiden Vornamen Eduard und Otto bedeutete, aber nun zum Symbol für die unzerstörbare Einheit von Eduard und Ottilie werden soll. Während der Hauptmann sein Möglichstes tut und sich bemüht, »zur glänzenden Feier des herannahenden Geburtsfestes die Anlagen zu betreiben und zu beschleunigen«,29 wirkt seine Emsigkeit auf den Fortgang der Handlung katalysierend, Eduards Beziehung zu Ottilie befördernd. Im Vergleich mit dem zweiten, späteren Geburtstagsfest bleibt jedoch festzuhalten, dass die vom Hauptmann gewünschte Inszenierung Charlottes als ›Königin des Festes‹ in der Öffentlichkeit noch gelingt, nur dass sie durch einen Missklang am Ende gestört wird. Der erste Geburtstag inszeniert dem Anschein nach den Status quo, weil er die Hausherrin in Erscheinung treten lässt, während das Wirken des Hauptmanns im Hintergrund bleibt. Insofern scheint sie die Verhältnisse zu zementieren, was freilich der Leser, der die erotischen Verwicklungen kennt, schon besser weiß als die Dorfgemeinde, die erst durch den Missklang am Ende aufmerksam gemacht wird. Den zweiten Geburtstag, »der später fiel«, Ottilies Geburtstag, möchte Eduard nicht nur »gleichfalls recht festlich« begehen, sondern plant ihn in Zusammenlegung mit dem Richtfest des neuen Hauses als Überbietung der Inszenierung des Hauptmanns für Charlotte. In diesem Zusammenhang entwickelt Eduard eine symbolische Handlungsgestalt, die zum integralen und notwendigen Bestandteil der Romanhandlung wird, weil sich in ihr nämlich das Verhältnis der Hauptfiguren wie auf einer dramatischen Bühne darstellen lässt. Nach Maßgabe des Status quo müsste es ein Fest Eduards und Charlottes werden; im Fest für Ottilie wird jedoch die neue Beziehung Eduards zu Ottilie abgebildet. Der Hauptmann, der sich um den Hausbau kümmert, wirkt hier aus eigenem Interesse als Katalysator; zu Beginn des vierzehnten Kapitels des Ersten Teiles heißt es über ihn im dramatisierenden Präsens: Es ist ihm nun selbst daran gelegen, daß für manches ein Termin bestimmt werde, daß Ottiliens Geburtstag manches beschleunige. Nun wirken die beiden Freunde, obschon ohne ausdrückliches Einverständnis, gern zusammen.30
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Ebenda. Ebenda, I, 9. HA 6, S. 299ff. Ebenda, I, 8. HA 6, S. 298. Ebenda, I, 14. HA 6, S. 332.
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An dieser Stelle kommt es zu einer reflektierenden Schilderung: So arbeitete man immer mit Anstrengung, um Ottiliens Geburtstag zu verherrlichen, ohne daß man es aussprach oder sichs recht aufrichtig bekannte. Nach Charlottens obgleich neidlosen Gesinnungen konnte es doch kein entschiedenes Fest werden. Die Jugend Ottiliens, ihre Glücksumstände, das Verhältnis zur Familie berechtigten sie nicht, als Königin eines Tages zu erscheinen. Und Eduard wollte nicht davon gesprochen haben, weil alles wie von selbst entspringen, überraschen und natürlich erfreuen sollte. Alle kamen daher stillschweigend in dem Vorwande überein, als wenn an diesem Tage, ohne weitere Beziehung, jenes Lusthaus gerichtet werden sollte, und bei diesem Anlaß konnte man dem Volke sowie den Freunden ein Fest ankündigen.31
Jeder Leser empfindet nach solcher Regie des Autors längst im Voraus, dass dies nicht gutgehen kann: Das Fest kann nicht zugleich den Termin von Ottilies Geburtstag zum Anlass nehmen und diesen Anlass verleugnen. Es handelt sich um ein Doppelspiel, dessen Unaufrichtigkeit ja sogar benannt wird. Es ist aber nicht nur so, dass die Kommunikation der Beteiligten von Unausgesprochenem und Unaufrichtigem bestimmt ist; vielmehr scheint es, als sei den handelnden Personen noch nicht alles völlig bewusst, was dann unter Versuchsbedingungen in der Hitze des Festes in Reaktion treten sollte. »Eduards Neigung war aber grenzenlos«,32 heißt es in unmittelbarem Anschluss. Er erstrebt also mit Eifer ein Fest für Ottilie und scheint geneigt, die Schranken des Schicklichen zu missachten. Charlottes Verhalten dagegen ist so rätselhaft wie der Satz, in dem es angedeutet wird: Man könnte auf ihrer Seite Eifersucht vermuten, die jedoch im Einschub geleugnet wird (»Nach Charlottens obgleich neidlosen Gesinnungen […]«). Trotzdem verhält sie sich ablehnend, weil sie sich am Schicklichen orientiert: Ottilie ist aus mehreren Gründen nicht zu einer solchen Rolle berechtigt. Wenn Charlotte jedoch diesen Standpunkt aktiv vertreten würde, schiene es so, als wäre sie eifersüchtig. Deshalb verzichtet sie darauf und spielt mit (oder scheint mitzuspielen). Der Hauptmann beschleunigt das Vorhaben aus eigenem Interesse. Ottilie wird nicht gefragt, weil dies ihrer Rolle entspricht: Man handelt über ihren Kopf hinweg. Wenn sie zu entscheiden hätte, würde sie gewiss, obgleich sie sich freuen müsste, die Ehrung aus Bescheidenheit ablehnen. Der Ablauf des Festes entspricht der merkwürdigen und rätselhaften Dynamik, mit der Goethe den ganzen Roman komponiert hat. Charlotte hielt nach der Tafel die Gesellschaft einigermaßen zurück. Sie wollte keinen feierlichen, förmlichen Zug, und man fand sich daher in einzelnen Partieen, ohne Rang und Ordnung, auf dem Platz gemächlich ein. Charlotte zögerte mit Ottilien und machte dadurch die Sache nicht besser; denn weil Ottilie wirklich die letzte war, die herantrat, so schien es, als wenn Trompeten und Pauken nur auf sie gewartet hätten, als wenn die Feierlichkeit bei ihrer Ankunft nun gleich beginnen müßte.33
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Ebenda, I, 14. HA 6, S. 333. Ebenda. Ebenda, I, 15. HA 6, S. 335.
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Das heißt: Indem Charlotte gewissermaßen passiven Widerstand gegen Eduards Pläne leistet, befördert sie diese in Wirklichkeit. Umgekehrt wird Eduards Selbstoffenbarung in gewisser Hinsicht durch den Hauptmann torpediert, der verhindert, dass der Name Ottilie in Blumenbuchstaben im Giebel angebracht wird. Im Tanz findet sich dann aber sogleich das Paar Eduard/Ottilie. (Ein Tanzpaar Hauptmann/Charlotte wird nicht erwähnt.) Das geplante Fest, dessen Höhepunkt nach Eduards Vorstellung ein Feuerwerk sein sollte, wird schließlich gestört durch einen Unfall, indem der Andrang der Menge zu einem Dammbruch führt; ein ertrinkender Knabe wird vom zupackenden Hauptmann aus dem Wasser gezogen und schließlich gerettet. Charlotte findet das Fest dadurch gestört, entfernt sich und will auch Ottilie mitnehmen. Eduard besteht aber darauf, dass sie dableibt; so wird das Feuerwerk schließlich zu einem privaten Fest für die Liebenden: ›Nein, Ottilie!‹ rief er [sc. Eduard; M.M.], ›das Außerordentliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege. Dieser überraschende Vorfall von heute abend bringt uns schneller zusammen. Du bist die Meine!‹34
Festtheoretisch lässt sich dazu sagen, dass dem Fest hier eines seiner konstitutiven Elemente genommen wird: die Gemeinschaft. Der liebende Eduard möchte Ottilies Geburtstag öffentlich inszenieren als eine Art von Vermählung. Dieser Plan wird durchkreuzt von einem Unfall, der es Charlotte und den übrigen möglich macht, die Inszenierung aufzuheben. Die private Lösung bleibt als Ersatz. Der Gutsbesitzer und Herr des Festes hat nicht mehr die Macht, das Fest anzuordnen; ihm bleibt nur noch als Privatmann die Möglichkeit, Ottilie an sein Herz zu ziehen: »Eduard und Ottilie fanden sich allein unter den Platanen«.35 Anders gesagt: Das Fest bringt zur Erscheinung, dass eine Vermittlung von erotischer Neigung und gesellschaftlicher Form nicht mehr möglich ist. Doch schlimmer noch: Eduard genießt das private Feuerwerk »mit lebhaft zufriedenem Blick«, für Ottilie dagegen ist es »eher ängstlich als angenehm«.36 Das bedeutet: Letztlich ist die Inszenierung auch auf dieser privaten Ebene missglückt. Das Fest bringt zur Erscheinung, dass Eduard und Ottilie eben nicht eines Sinnes und Herzens sind. Vielmehr dient dem Autor auch das idyllische Bild der aneinandergeschmiegten Liebenden noch dazu, ein Missverständnis deutlich zu machen: »Sie lehnte sich schüchtern an Eduard, dem diese Annäherung, dieses Zutrauen das volle Gefühl gab, daß sie ihm ganz angehöre«.37 Damit ist eines der großen Themen des Romans, das uns auch in Ottilies Tagebuch entgegentritt, noch weiter zugespitzt: »Niemand würde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewußt wäre, wie oft er die andern
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Ebenda, S. 338. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 338f.
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mißversteht«.38 Menschen missverstehen sich nämlich nicht erst dann, wenn sie miteinander reden, sondern schon, wenn sie miteinander schweigen. Von daher fällt neues Licht auf eine andere Eintragung aus Ottilies Tagebuch: Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit einem Bilde. Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns zu beschäftigen; wir sehen ihn, wir fühlen unser Verhältnis zu ihm, ja sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen, ohne daß er etwas dazu tut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er sich eben bloß zu uns wie ein Bild verhält.39
Eduards Verhältnis zu Ottilie ist in ihrer Gegenwart ins Unermessliche gewachsen: »Schon sah er jenen [den Hauptmann] mit Charlotten verbunden, sich mit Ottilien. Man hätte ihm zu diesem Fest kein größeres Geschenk machen können«.40 Was er dabei nicht berücksichtigt: Dass auch Ottilies Verhältnis zu ihm sich durch die Gegenwart verändert haben könnte und dass er sich zu ihr und sie sich zu ihm bloß »wie ein Bild« verhalten haben könnte. Schließlich verlief auch die folgenreiche Liebesnacht zwischen Eduard und Charlotte nach dem Muster des Verkehrs mit einem Bilde. »In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche […]«.41 Das Fest zu Ottilies Geburtstag erscheint in dieser Betrachtung als dasjenige Experiment im Labor der persönlichen Beziehungen, das deutlich macht, dass sich die erotischen Verhältnisse, die sich entwickelt haben, nicht nach außen tragen, nicht ins Gesellschaftliche übersetzen lassen. Komplementär zur Schilderung des missglückten Geburtstagsfestes für Ottilie wird zweimal im Roman Eduards Geburtstag erwähnt, wenn auch jeweils nur als »Abend vor Eduards Geburtstage«.42 Der Geburtstag hatte sich in der europäischen Tradition aus der Feier des persönlichen Genius bei den Römern nach seiner Wiederentdeckung durch die Humanisten und die Pflege der Sitte unter Gelehrten und Fürsten im 18. Jahrhundert zu einem persönlichen Fest entwickelt, zur Feier eines Individuums.43 Goethe feierte seinen Geburtstag meist still als Rechenschaftslegung über die erreichte Entwicklungsstufe seines Lebens, doch wurden im Weimarer Kreis Geburtstage auch gesellschaftlich gefeiert..44 Nach dieser Logik schaut man nun gebannt auf die Möglichkeit der zweimal erwähnten Geburtstage Eduards. Die erste Erwähnung geschieht, als Ottilie die durch den Architekten neu ausgemalte Kapelle mit ihren vervielfachten Gesichtszügen sieht. 38 39 40 41 42 43 44
Ebenda, II, 14. HA 6, S. 384. Ebenda, II, 2. HA 6, S. 369. Ebenda, I, 15. HA 6, S. 340. Ebenda, I, 11. HA 6, S. 321. Vgl. ebenda, II, 3. HA 6, S. 374; II, 18. HA 6, S. 481. Marie-Luise Hopf-Droste, Der Geburtstag. Ein Beitrag zur Entstehung eines modernen Festes. In: Zeitschrift für Volkskunde 75 (1979), S. 229–237. Edwin Redslob, »Mein Fest«. Goethes Geburtstage als Stufen seines Lebens. München 1956; Michael Maurer, Herder und das Fest. Privat, kirchlich, politisch. In: Volker Leppin / Martin Keßler (Hrsg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes. Berlin, New York 2005, S. 369–382.
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Sie verbarg sich nicht, in welche sonderbare Epoche diese Überraschung gefallen sei. Es war der Abend vor Eduards Geburtstage. Diesen hatte sie freilich ganz anders zu feiern gehofft. Wie sollte nicht alles zu diesem Feste geschmückt sein! Aber nunmehr stand der ganze herbstliche Blumenreichtum ungepflückt.45
Eduards Geburtstag wird nicht wirklich gefeiert; er spiegelt sich nur in den Gedanken Ottilies. Die Entfernung des Geliebten wird deutlich in der Unmöglichkeit, den Geburtstag zu feiern. Als wäre dies nicht schon in der Blumensymbolik überdeutlich geworden, wird es schließlich noch in folgender Reflexion expliziert: Sie mußte sich dabei der geräuschvollen Geschäftigkeit erinnern, mit welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeiert; sie mußte des neugerichteten Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich soviel Freundliches versprach. Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einsamer sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie fühlte sich auch nur um desto mehr allein. Sie lehnte sich nicht mehr auf seinen Arm und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stütze zu finden.46
Dieser nicht gefeierte Geburtstag wird überboten durch die Ereignisse des folgenden Jahres. Im letzten Kapitel des Romans ist wiederum vom »Abend vor Eduards Geburtstage« die Rede;47 es ist der Abend, an dem Ottilie nach Mittlers Explikation des sechsten Gebotes zusammenbricht und stirbt. Wir wissen nicht, wieviel Zeit noch bis zu Eduards eigenem Tod vergeht, doch wird durch die raffende Erzählung der Eindruck erweckt, dieser folge bald auf Ottilies Ende. Wenn wir diese Spiegelung festtheoretisch betrachten, ergibt sich, dass Eduards Geburtstag, der komplementär zu Charlottes und Ottilies Geburtstag zu feiern wäre, jeweils nicht gefeiert werden kann. Genauer gesagt: Im ersten Jahr bleibt Ottilie durch Eduards Entfernung nichts als das Gedenken an einen Abwesenden; im zweiten Jahr ist Eduard wieder zurückgekehrt, aber Ottilie erreicht den Termin nicht. Das heißt, dass die Verlegenheit, in die Charlotte an Ottilies Geburtstag gesetzt wurde, allen Beteiligten nun erspart bleibt. Der nicht gefeierte Geburtstag wird zum Symbol dafür, dass diese Beziehung und erotische Verwicklung nicht öffentlich werden konnte, nicht durch die Gesellschaft sanktioniert werden durfte. Auf einer anderen Ebene betrachtet: Die Bespiegelung Ottilies in den Kirchengemälden des Architekten präfiguriert bereits den scheinbaren Zustand der Heiligkeit ein Jahr später. Ottilies Liebe zu Eduard bleibt zu einem Gutteil verschobene Liebe zu sich selbst: Indem sie sich selbst in der Kirche gemalt sieht, denkt sie an den abwesenden Eduard; Mittlers Deutung des sechsten Gebotes bezieht sie auf sich selbst, was ihr eine Realisierung der Beziehung zu Eduard letztlich unmöglich macht.
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 3. HA 6, S. 374. Ebenda. Ebenda, II, 18. HA 6, S. 481.
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Die Steigerung des Individuellen im Geburtstagsfest einer Person treibt diese Bezüge heraus. Goethes Konzentration auf den Geburtstag als beinahe einzige Form des Festes in diesem Roman dient der Explikation der Beziehung unter diesen Personen und insofern dem Fortgang der Romanhandlung. Im Fest wird jene Reaktionshitze erzeugt, die zur Katalysation notwendig ist. Außer den Geburtstagen wird einmal ein Namenstag erwähnt: Charlotte möchte zu Beginn des Romans48 ein »dreifaches Fest« feiern: die Ankunft des Hauptmanns in Verbindung mit dem gemeinsamen Namenstag: »Heißt nicht einer Otto so gut als der andere?«49 Der Leser wird ins Bild gesetzt, dass nicht nur der Hauptmann Otto heißt, sondern auch Eduard ursprünglich Otto hieß, wenngleich er sich zur Vermeidung von Verwechslungen mit seinem zweiten Namen Eduard rufen ließ, indem er dem Hauptmann gewissermaßen seinen Namen abtrat (wie er ihm später Charlotte als seine Frau abtreten sollte). Die Erwähnung des Namenstages dient nur der Exposition der Triade (Charlotte zwischen Otto und Otto); gefeiert wird eigentlich gar nicht, nur durch einen gemeinsamen Spaziergang im Gelände. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Erscheinen des Hauptmanns als ein Stillstellen der Zeit inszeniert wird. An signifikanter Stelle fragt Eduard nach der Zeit: Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte, seine chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, daß die Zeit anfange, ihnen gleichgültig zu werden.50
Die Zeitlosigkeit oder Zeitenthobenheit der Romanhandlung ist also ein absichtliches Element der auktorialen Konstruktion. Dieses Zeitempfinden wird unterstrichen durch die Rolle der Wiederholungen, die Ottilie schließlich expliziert: zum zweitenmal widerfährt mir dasselbige. Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben oft Ähnliches auf ähnliche Weise und immer in bedeutenden Augenblicken.51
Der Roman ist nach diesem Prinzip aufgebaut; in seinen beiden Teilen ließen sich zahlreiche Begebenheiten und Symbole herausstellen, die jeweils in Duplizität dargestellt werden, als steigernde Wiederholungen, denen symbolische Kraft zugeschrieben wird.
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Ebenda, I, 3. Ebenda, I, 3. HA 6, S. 258. Ebenda, I, 7. HA 6, S. 290. – Diese Schlüsselstelle, die in der Literatur über die Wahlverwandtschaften stets prominent zitiert wird, bildet auch den Ausgangspunkt der Studie von Judith Reusch, Zeitstrukturen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Würzburg 2004. Diese vielschichtige und konzise Deutung der Zeitverhältnisse hat ihren Kern jedoch nicht in der ›Zeitkultur‹, wie sie hier verstanden wird (mit ihren Anhaltspunkten im Feiern konkreter Feste), sondern in der Zeitenthobenheit des Mythos. Reusch legt dar, inwiefern die handelnden Personen mit der in der griechischen Mythologie auf Chronos folgenden Generation des Zeus, die gegen die Zeit aufbegehrt, identifiziert werden können. Ebenda, II, 14. HA 6, S. 462.
Verfehlte Geburtstage und verpatzte Feste
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Hierher gehört etwa die Koinzidenz der Pflanzung der für Eduard so wichtigen Platanen mit Ottilies Geburt, die er eigens urkundlich bestätigt haben will und durch Nachschlagen in alten Tagebüchern feststellen kann: Aber wie erstaunt, wie erfreut ist Eduard, als er das wunderbarste Zusammentreffen bemerkt! Der Tag, das Jahr jener Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt.52
Er bezieht alles auf sich selbst, so dass ihm Ottilie gewissermaßen als sein eigenes Geschöpf erscheint. Indem er sie an sich heranzieht, täuscht er sich zugleich über ihr Wesen, was am deutlichsten in der Verarbeitung der Feuerwerkserscheinung zum Ausdruck gebracht wird. Komplexer wird die Deutung schließlich noch durch einen anderen Zeitbegriff, den geschichtlichen, den Charlotte und der Gehülfe im achten Kapitel des Zweiten Teils diskutieren und den Charlotte in die Kernformulierung prägt: Indem uns das Leben fortzieht […], glauben wir aus uns selbst zu handeln, unsre Tätigkeit, unsre Vergnügungen zu wählen, aber freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen genötigt sind.53
Der Gehülfe bestätigt und verstärkt nur dieses Gefühl der Unterworfenheit unter die unerbittliche Zeit, unter die Geschichte. Die zermalmende Wirkung der historischen Zeit lässt die Sehnsucht aufkommen, die Zeit in einem Garten stillzustellen, wie es der Hauptmann geschehen lässt. Indem er die Uhr aufzuziehen vergisst, kann er jedoch nicht den Fortgang der Zeit aufhalten. Judith Reusch spricht von einer bewussten »Auflehnung gegen die feindliche Macht des irreversiblen Zeitkontinuums«.54 Es gehört zu den Botschaften des rätselhaften Romans, dass die handelnden Personen dort, wo sie sich frei fühlen, nur den »Neigungen der Zeit« folgen, und wo sie ihre Individualität aufs höchste gesteigert fühlen, nur ein Allgemeines zur Anschauung bringen. Goethe hat dies in komplexer Symbolik auf verschiedenen Ebenen zum Ausdruck zu bringen vermocht. Unter anderem auch in seiner Zeitkultur, in der Darstellung von verfehlten Geburtstagen und verpatzten Festen.
III. Während sich realhistorisch in Weimar um 1800 eine zunehmende Historisierung der Festkultur beobachten lässt,55 geradezu eine Indienstnahme aller Sinnangebote der Vergangenheit, entzieht sich Goethe mit seinen »ernsten
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Ebenda, I, 14. HA 6, S. 334. Ebenda, II, 8. HA 6, S. 417. Reusch, Zeitstrukturen (Anm. 50), S. 16. Ich verweise auf die entstehenden Dissertationen von Sandra Czaja über »Feste des Weimarer Hofes« und von Ulrike Alberti über »Feste der Stadt Weimar«.
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Spielen« einer Verankerung im kontingenten Geschehen. Man hat mit Recht von einer »Strategie der fehlenden Anbindung an eine Realität« gesprochen.56 Es ist gerade die Konstruiertheit der Kunstwelt, die in den Wahlverwandtschaften auffällt und eine besondere Struktur ausbildet. In der Geschichte der Deutung wurde immer wieder auf den »Experimentcharakter« der »Versuchsanordnung« der Wahlverwandtschaften hingewiesen, auf die Verwirklichung der Leidenschaften unter »Laboratoriumsbedingungen«, auf eine »Handlung ohne Zeit«, »weniger Handlung als Emergenz«.57 Die bewusste Alterität des Kunstwerks vermag jedoch Plausibilität letztlich nur durch selektive Einbeziehung der Elemente einer Lebenswelt zu erreichen, die dem Autor und seinem Publikum gemeinsam ist. Zu diesen Elementen gehören auch die Feste, wenngleich in strenger Auswahl. Der Bezug auf die Natur und den Kreislauf der Jahreszeiten ermöglicht die Betonung zyklischer Zeitstrukturen gegenüber linearen. Die prononciert eingesetzten Geburtstage bieten sich an durch ihren »Wiederholungscharakter«.58 An einer auffallenden Stelle in Dichtung und Wahrheit hat Goethe den Trost angesprochen, der in der »regelmäßigen Wiederkehr der äußeren Dinge« liegt, im Wechsel von Tag und Nacht, im Wechsel der Jahreszeiten.59 Es liegt nahe, sich die Wahlverwandtschaften in dieser Sphäre der Zeitenthobenheit angesiedelt vorzustellen, in der sie mit Märchen, Idyllen oder Mythen vergleichbar werden. Dies ist jedoch nur ein möglicher Ansatz. Denn zugleich sind die Wahlverwandtschaften (nicht anders als der Werther) ein Drama der Leidenschaften. Nun sind Leidenschaften zwar als solche zeitlos, doch muss mitbedacht werden, dass die Deutung des revolutionär-verstörenden Zeitgeschehens um 1800 durch die Zeitgenossen häufig unter dem Gesichtspunkt der Leidenschaften vollzogen wurde. Die Abkoppelung der privaten Leidenschaften von den politischen, die Privatisierung des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft, folgt nicht nur den Konventionen der Gattung Roman, sondern wird auch in der Auswahl der Feste im Gang der Erzählung selbst versinnlicht. Die Konzentration auf dieses Element der Struktur des Romans erbringt eine mehrschichtige Einsicht: Die bewusste Herausnahme des Romangeschehens aus dem historischen Geschehen (anders als in Goethes Revolutionsdramen) demonstriert nämlich nur noch radikaler die Macht der Leidenschaften, die selbst unter außerhistorischen Bedingungen immer noch die Essenz des Menschlichen ausmachen würden.
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Reusch, Zeitstrukturen (Anm. 50), S. 113. Vgl. Norbert Bolz, Artikel ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe Handbuch in vier Bänden, Band 3: Prosaschriften. Hrsg. von Bernd Witte u. a. Stuttgart, Weimar 1997, S. 152–186; hier S. 165, 167 u.ö. Reusch, Zeitstrukturen (Anm. 50), S. 115. Goethe, Dichtung und Wahrheit, III. Teil. WA I, 28, S. 209.
Zeit und Zeitkultur in Goethes Wahlverwandtschaften Susan Baumert
I. Einleitung Will man sich dem hochkomplexen Charakter von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften nähern, sieht man sich konfrontiert mit ästhetisch präsentierten Inhalten, mit fiktionalen Lebenswelten, mit poetischen Figurationen und Interaktionen, mit dichterisch problematisierten Vorstellungen, Einstellungen, Normen und Werten und nicht zuletzt mit literarischen Zeitkonzeptionen. Die narrativ inszenierte Temporalität bzw. Zeitlosigkeit zieht die Frage nach der Beschaffenheit des Zusammenhangs zwischen dem Roman und den in ihm zum Ausdruck kommenden Vorstellungen von Zeit nach sich. Einerseits ist es deutlich, dass Zeit nicht auf Sprache und Texte reduzierbar ist; andererseits aber ist es ebenso klar, dass literarische Texte auf unterschiedlichen Ebenen temporal organisiert sind. Deshalb hat es in der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht an Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Zeit gefehlt.1 Für den Roman als Gattung gilt, dass ihm in seinen zentralen Kategorien von sequenzieller Anordnung, Chronologie, Erzählzeit und erzählter Zeit eine besondere Affinität zur Zeit und zur Zeiterfahrung zukommt. Wie konstituiert sich die Zeit in den Wahlverwandtschaften als ein Bestandteil innerhalb der Gesamtstruktur des Romans? Und inwiefern weist hier die Zeit über sich hinaus auf das Ganze, den Sinngehalt des Romans? Diesen Fragen nachgehend, soll eine zeit-strukturelle Analyse der Wahlverwandtschaften Aspekte der chronologischen und zyklischen Zeitkonzeptionen dieses Romans untersuchen sowie auf die in ihm umgesetzte Vermittlung eines historischen Zeitbewusstseins respektive epochalen Zeitsinns eingehen. Goethes Wahlverwandtschaften erfreuen sich in der Literaturwissenschaft einer seit vielen Jahrzehnten ungebrochenen Attraktivität. Wie wenige andere Schriften ist dieser Roman zu einem kanonischen Text der Literaturwissenschaft geworden, an dessen Beispiel sich auch die Kulturgeschichte über sich selbst und ihre Verfahren zu verständigen sucht. In diesem Rahmen gebührt der
1
Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung. München 1994; Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1967; Günther Müller, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. Darmstadt 1968; Jochen Vogt, Aspekte erzählender Prosa: eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. Opladen 81998, Kap. 1; Matías Martínez / Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. München 2007.
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kulturhistorischen Deutung der Zeit und der Zeitkultur2 der Feste und Feiern3 sowie der Jahreszeiten innerhalb der Wahlverwandtschaften ein verstärktes Interesse.
II. Zeitstrukturen und Zeitempfindungen im Roman Es ist nachzuvollziehen, dass in einer Welt des scheinbar ewigen, unveränderbaren Kreislaufs allmählich der Sinn für die Zeit verloren geht. Die Zeit des Romangeschehens ist, narratologisch betrachtet, sparsam, aber klar strukturiert: Exakte chronometrische Angaben werden fast vollständig vermieden. Die Romanfiguren bewegen sich im Fortgang der Handlung so, als ob ihrem Umfeld keine objektiv messbare Zeit mehr zugeordnet werden könnte: Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte seine chronometrische Sekunden-Uhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnden, daß die Zeit anfange ihnen gleichgültig zu werden.4
Dieser oft angeführte Satz aus den Wahlverwandtschaften spricht von einer Gleichgültigkeit der Protagonisten gegenüber der Zeit. Folgt man Judith Reusch, so gibt es drei Arten der Auflehnung gegen die Zeit, die alle unter dem Begriff des Zeitverlustes zusammengefasst werden können: Man kann die Zeit zu vergessen suchen, man kann sich bemühen, sie aufzuhalten, und man kann ihren linearen, nach vorn gerichteten Lauf umkehren, so dass er in die Vergangenheit gerichtet ist.5 Zu fragen ist, in welcher Weise sich die einzelnen Protagonisten zur Zeit verhalten. Es scheint, dass sie alle die Linearität der Zeit zu unterlaufen versuchen. Was ist der Grund solcher Bemühungen? Weshalb versuchen die vier Hauptpersonen, der Gegenwart zu entkommen? Es ist zu vermuten, dass sich die zentralen Gestalten des Romans mit ihrer Situation u.a. deswegen nicht arrangieren können, weil sie von Liebe und Leidenschaft bewegt sind und sich – mehr oder weniger – die Unterdrückung oder Verdrängung dieser Bewegkräfte abfordern. Liebe und Leidenschaft folgen, so Martin Middeke, völlig anderen Zeitparametern als der mechanischen Uhrzeit.6 Folgt man einer solchen Perspektive, so rangiert die subjektiv empfundene Zeit vor der objektiv gemessenen. Die Protagonisten sind in ihrem Tun zwischen Liebe und Leidenschaften auf der einen und den gesellschaftlichen Konventionen auf
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Vgl. Michael Maurer, Kulturgeschichte. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 147–164. Vgl. Michael Maurer (Hrsg.), Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik. Köln, Weimar, Wien 2004. Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 7. MA 9, S. 333. Vgl. Judith Reusch, Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften. Würzburg 2004, S. 168ff. Vgl. Martin Middeke (Hrsg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg 2002, S. 4ff.
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der anderen Seite gefangen und können sich aus diesen Konflikten nicht besser befreien als durch Verdrängung der gegenwärtigen Situation. Sie erschaffen sich die Idylle eines »zeitlosen Seins«,7 deren eigens kreierter, zyklischeintöniger Rhythmus in ständigen Wiederholungen gleicher Tagesabläufe die Realität auszuklammern sucht. Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft, Eheversprechen – alles wird zugunsten der vermeintlichen Auskostung des Augenblicks verdrängt. Kreiert wird eine Zeit der aneinandergereihten, glücklichen Momente, die alle keinen Bezug zur Realität der Gegenwart haben. Alle Anstrengungen der Protagonisten zielen auf die Erschaffung einer Idylle, welche das Glück auf Dauer stellt. Die Zeit soll gleichsam angehalten und das Bild einer Unvergänglichkeit beschworen werden. Das allmähliche Vergessen der Gegenwart, der Verlust für jedes zeitliche Maß bildet die Atmosphäre, in der sich die vier Hauptpersonen im Ersten Teil der Wahlverwandtschaften verlieren. Die Protagonistin Charlotte will sich, so scheint es, nur mit einer von vornherein begrenzten Gegenwart befassen. Man könnte dies auch als Angst vor der Zukunft und deren Veränderungspotential deuten. Charlotte hat ein tiefes Bedürfnis nach Schutz. Sie spielt zwar mit Zukunftsträumen und hat auch einige Pläne, die aber vor allem darauf abzielen, die Gegenwart gegen jeden Wandel zu schützen. Der Wechsel wird ihr jedes Mal von außen, von Eduard oder durch die Umstände aufgezwungen. Dem Anschein nach leben Charlotte und Eduard harmonisch miteinander. Obwohl sie grundverschieden sind, bestimmt ein gleicher Rhythmus den Ablauf ihrer Tage. Als Eduard sich zu Charlotte begibt, lässt er sich Zeit, denn nichts in diesem Leben zieht ihn an, nichts stimuliert ihn. Doch immer wieder bedroht seine eigene Unstetigkeit die erwünschte Ruhe. Vorübergehend gelingt es Charlotte zwar, die Hast, die sich seiner bemächtigt, zu dämpfen, aber anderntags erwacht Eduards Rastlosigkeit von neuem. Die Atmosphäre im Roman, was das Raum-Zeit-Gefüge betrifft, ist keine der Eintracht, sondern des illusorischen Stillstands und illusorischer Zeitlosigkeit. Dieser Zustand wird in den ersten fünf Kapiteln des Ersten Teils vorbereitet. Mit dem Eintreffen des Hauptmanns im dritten Kapitel und Ottilies im sechsten Kapitel ist die intendierte Viererkonstellation erreicht. Des Hauptmanns Gegenwart werde »nicht die mindeste Unbequemlichkeit«8 verursachen, so meint Eduard. Charlotte stimmt der Einladung als einem Versuch zu, der »nur auf kurze Zeit angesehen«9 sein soll. Mit Etablierung der Viererkonstellation und der sich aus ihr ergebenden neuen Bindungen wird die Zeit in einem ewigen Kreislauf des unausgesprochenen Glücks und Glücksbedürfnisses eingefangen. Das Leben in der Verdrängung wird zunächst minutiös und betont rational geplant und verläuft schließlich in geordneten Bahnen. Einem Theaterstück ähnelnd, wird dieser einmal einstudierte, Konfrontationen und Ausspra-
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Vgl. Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt am Main 1976, S. 33: »In der Wiederholung und vor allem in der Wiederholbarkeit [...] liegt ein Merkmal zeitlosen Seins«. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. MA 9, S. 289. Ebenda, I, 2. MA 9, S. 300.
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chen scheuende Tagesablauf nun täglich in ähnlicher Form inszeniert und mündet in der wohltuenden, weil vorhersehbaren zyklischen Zeitanordnung, in der die Frage nach dem Ausgang oder Fortgang der Geschichte verdrängt bleibt. Die Wiederkehr des Geschehens vollzieht sich in vielfältigen konzentrischen Kreisen, von der Tagesroutine im Schloss über die jahreszeitlichen Rhythmen. Die intendierte Idylle scheint perfekt: Krieg, Arbeit, Mühen und Sorgen werden gleichsam ausgesperrt – der scheinbar vollkommene Ort für Feste und Feiern. Doch der Verlust des Zeitempfindens durch die abwechselnde Verdrängung der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft entpuppt sich als eine schwere Bürde, die zahlreiche Todesfälle nach sich zieht. Wenn Eduard über seine ohne Ottilie verbrachte Zeit als von einem »Zeitvertreib, [...] Zeitverderb«10 spricht, ist dies bezeichnend: Alles, was der Befriedigung der augenblicklichen Leidenschaft nicht zuträglich ist, wird von ihm als verlorene Zeit erachtet. Unbewusst benennt er hier seinen realitätsfremden Umgang mit der Zeit: Sie soll vertrieben werden. Ist die Gegenwart unbequem, so soll sie einer angenehmen Zukunft weichen oder eine idealisierte Vergangenheit wiederholen. Die Zeit ist für die Protagonisten, so scheint es, keine absolute Größe, sondern eine Dimension, die nach Belieben modelliert werden kann und sich demnach zu einem beeinflussbaren Faktor entwickelt und schließlich sogar in ›Zeitverfälschung‹ mündet. Der Zweite Teil des Romans scheint den Ablauf des ersten in gewisser Weise zu wiederholen. Die jeweils ersten Kapitel der beiden Teile korrespondieren miteinander, auch im Blick auf den psychischen Zustand der Personen. Deren Erinnerungen dienen als Ersatz für die Gegenwart. Der ›Ablehnung der äußeren Zeit‹ steht – ähnlich wie im ersten Romanteil – die Konzentration auf das individuelle Zeitempfinden im Bewusstsein gegenüber. Dieser Zustand wird wieder durch die Ankunft von Gästen unterbrochen. Hier wie dort fungiert der Besuch als beinahe einzige Konfrontation mit der äußeren Realität. Hier ist es die Ankunft von Lucianes Festgesellschaft, dort der Besuch von Graf und Baronesse. Im zweiten Romanteil existiert ebenfalls »kein erkennbarer Unterschied zwischen Werktag und Sonntag, da jeder Tag ein Sonntag zu sein scheint«.11 Das den Lauf der Zeit markierende Charakteristikum, die Einmaligkeit bestimmter Ereignisse, wird verdeckt durch das Bestreben der Hauptpersonen, den Status quo des scheinbar friedlichen Alltags zu erhalten durch Repetition und Routine. Diese Wiederkehr des Ähnlichen verwischt die Zeitabläufe und macht sie gleichsam unkenntlich. So ist es nicht verwunderlich, dass sich bestimmte Augenblicke der Handlung in den Wahlverwandtschaften weder bezüglich ihrer Dauer noch in ihrer temporalen Platzierung im Roman festmachen lassen. Da sie im Präsens erzählt werden,12 entziehen sie sich dem linearen Zeitgefühl: Es entsteht dadurch der Eindruck eines Zeitstillstands bzw. einer Zeitenthobenheit. Mit den Mitteln der Erzählkunst wird der Anschein der
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Ebenda, I, 18. MA 9, S. 397. Reusch, Zeitstrukturen (Anm. 5), S. 12. Vgl. auch den Beitrag von Klaus Manger in diesem Band.
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Außerzeitlichkeit erzeugt: eben eines »Seins ohne Zeit«,13 das sich nicht nur im Verlust des Zeitgefühls der Protagonisten äußert, sondern auch anhand der Wiederholungsstrukturen des Romans formal nachgewiesen werden kann. Die Menschen, die sich in diesem Raum-Zeit-Gefüge bewegen, vergessen die ablaufende Zeit, schätzen sie falsch ein oder verpassen den richtigen Zeitpunkt – und das, obwohl die Abläufe in vorhersehbaren Abständen wiederkehren. Die Protagonisten bauen darauf, dass ihre eigene kleine Gesellschaft keinem Wandel unterliege und von Veränderungen in der Außenwelt unabhängig sei. Dieses Dasein schöpft seinen Sinn aus dem Vertrauen in die Wiederkehr des Immergleichen. Nur außerhalb dieser Binnensphäre kann Veränderung walten, Zeit in Erscheinung treten. Wo beide Sphären einander berühren, zum Beispiel bei festlichen Anlässen, kommt es zu Katastrophen.
III. Kulturelle, subjektive und soziale Zeit in den Wahlverwandtschaften Der einzige im Roman auszumachende Restbestand der chronologischen Zeitstruktur ist die Folge der Jahreszeiten und Feste. Feste und Feiern veranschaulichen den kulturellen Eigenwert von Zeit sowie die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins. Mit der Notwendigkeit kultureller Zeitdeutung14 ist der Mensch aus der Natur-Zeit herausgefallen und bringt sich als Kulturwesen im deutenden Umgang mit ihr zur Geltung. Er geht symbolisierend über die natürlichen Grundlagen im Zeitverlauf des Lebens hinaus und fügt ihnen eine kulturelle Bedeutung hinzu. Ein gutes Beispiel dafür sind die an die Biographie eines Menschen gebundenen Feste – allen voran die Geburtstagsfeiern –, welche mittels der ihnen immanenten ästhetischen Gestaltungsmittel den sinn- und identitätsstiftenden Charakter dieser Ereignisse vor Augen führen. Mit seiner Art der Zeitdeutung bringt der Mensch sich, seine geistigen Fähigkeiten, seine Subjektivität im Umgang mit der Natur, auch mit seiner eigenen Natur, zur Geltung. Zeit ist also im Regelfall subjektiv angeeignete Zeit, Zeitverständnis und Zeitbewusstsein sind Produkte des menschlichen Geistes. Allenfalls ist die Zeit – weil gemeinschaftlich erfahren, akzeptiert und interpretiert – eine soziale Zeit. Kalender sind in dieser Hinsicht eine Menschen eigene Kulturleistung zur systematischen Aufgliederung der Zeit. Fest- und Feiertage sind im Kalender verzeichnet und demnach auch der sozialen und kulturellen Zeit zugehörig. Das Unvermögen der Protagonisten in Goethes Wahlverwandtschaften, den anliegenden Feierlichkeiten etwas Positives abzugewinnen, diese Zeit sinnvoll
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Vgl. Klaus E. Müller, Sein ohne Zeit. In: Jörn Rüsen (Hrsg.), Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen. Bielefeld 2003, S. 82–110. Vgl. zum Folgenden Lutz Götze, Zeitbewusstsein ist kulturbedingt: Objektive Zeit – subjektive Zeit – kulturelle Zeit. In: Zeitkulturen. Gedanken über die Zeit in den Kulturen. Frankfurt am Main 2004, bes. S. 270ff.
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zu füllen, für sie verantwortlich zu sein, offenbart ihre soziale Inkompetenz, die gerade bei diesen Gelegenheiten augenfällig wird.15 Die erzählte Handlung im Roman spiegelt sich im Kreislauf der Natur, nicht in der chronometrisch messbaren Zeit. Indes kann die Zeit nicht als ein einziger Kreis gesehen werden, was eine schlichte und exakte Wiederholung des ewig Gleichen hervorrufen würde. Es wiederholt sich das Gleiche, aber nicht das Selbe. Wohl können sich Anlässe wiederholen, das veranlasste Geschehen aber ist in jedem Einzelfall verschieden. Die mit seinem Erleben aufkommenden Einzelheiten sowie die Emotionen sind immer andere, neue. Es entstehen also mehrere sich ähnelnde Abläufe, die sich schließlich, übereinandergelegt, als Zyklus präsentieren. Die übereinanderliegenden Punkte mit ihren Ähnlichkeiten und die sich wiederholenden Motive sind dabei – das ist auch für die Erzähllogik von Bedeutung – obschon vergleichbar, niemals gleich. Im narrativen Zeitgerüst der Wahlverwandtschaften wird das Jahr nie festgelegt, der einzige benannte Monat ist der April.16 Nach dem ersten Satz des Romans wird kein Tag mehr benannt; nur ein einziges Mal wird die Stunde angegeben, als zur Einleitung der Ehebruch-Szene kurz vor Mitternacht die Turmuhr schlägt. Im Einzelnen gestattet der Erzähler dem Leser nicht, die verschiedenen Phasen der Erzählung chronologisch festzulegen. Er begnügt sich damit, dem Leser zuweilen lakonische Hinweise zu geben, als wollte er ihm mitteilen, dass die Zeit nicht nur eine objektive, sondern auch eine psychologische und symbolische Bedeutung hat. Die Handlung der Wahlverwandtschaften erstreckt sich über fast eineinhalb Jahre – vom Frühling des einen bis zum Herbst des folgenden Jahres. Der Ablauf der Jahreszeiten wird symbolisch vergegenwärtigt. An dem besagten Aprilnachmittag erwacht die Natur nach langem Winterschlaf wieder zu neuem Leben. Das Ehepaar scheint dies jedoch nicht zu bemerken. Als hätten Charlotte und Eduard nichts Neues zu erwarten, verlieren sie sich in Erinnerungen. Unbewusst aber erwacht auch Eduard, der Mann in den besten Jahren, zu neuem Leben, indem er nach einer Änderung seiner Verhältnisse verlangt. Diese tritt prompt ein, als Ottilie im Mai im Schloss ankommt. Diese Umstände finden nur in einer späteren Angabe aus Ottilies Tagebuch Erwähnung, die darauf hinweist, dass die ›Wahlverwandtschaft‹ im Mai begonnen und nach einer kurzen Krise in den Liebesmonaten des Sommers zum Höhepunkt geführt habe. Der Sommer gilt hier als Zeit der brennenden Leidenschaften. So reift die Liebe parallel mit der Natur. Am Ende des ersten Buches erfahren wir durch eine Metapher, dass der Sommer zu Ende geht und der Herbst beginnt. Mit dem Scheiden des Sommers trennen sich auch die Geliebten, und es beginnt für sie die lange Periode der herbstlichen Einkehr. Mit dieser Jahreszeit sind Assoziationen der Reife, Ernte und Lebensfülle wie auch der Melancholie und Todesnähe verknüpft. Mit dem Beginn im Frühling und dem Ende im Herbst versinnbildlicht das erzählte Geschehen einen vollendeten Kreislauf:
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Vgl. den Beitrag von Michael Maurer in diesem Band. Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. MA 9, S. 286.
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Der Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ glauben als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen. Denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen auch gesät hatte; nun reiften Früchte an den Bäumen, die man damals blühen gesehen.17
Werden im weiteren Verlauf der Romanhandlung die Zeitangaben zahlreicher, so dienen sie jetzt vor allem der Symbolik.18 Der Winter steht als Sinnbild für den Tod, doch ebensowenig wie die Natur stirbt die Liebe im Winter: Charlotte ist schwanger, und Ottilie vergräbt den Keim ihrer unveränderlichen Liebe in der Tiefe ihrer Seele. Der darauffolgende Frühling verbindet auf zweideutige Weise die Geburt von Charlottes Sohn19 mit dem Tode des alten Pastors.20 Im Mai zieht Ottilie die Bilanz des vergangenen Jahres, dann fehlen wieder nähere Angaben. Weder die Begegnung der Liebenden noch der Tod des Kindes werden zeitlich festgelegt.
IV. Geburtstage und andere Ereignisse in den Wahlverwandtschaften Die Ereignisdichte des ersten halben Jahres ist hoch: Der Hauptmann und Ottilie kommen auf dem Gut an, es werden der Namenstag der beiden Männer sowie die Geburtstage Charlottes und Ottilies gefeiert. Diverse Arbeiten am Landgut werden geplant und begonnen. Die verschiedenen Paare bilden sich und verlieren einander. Schon in dieser Periode breitet sich förmlich eine Zeitvergessenheit über die Gruppe der Wahlverwandten aus. Vor allem die beiden hinzukommenden Personen haben vor ihrer Ankunft auf dem Gut offenbar nach einem strengen Zeitreglement gelebt und tragen dieses zunächst in den neuen Alltag hinein: »Sobald sie [sc. Ottilie] gewahr wurde, wie viel Zeit ihr übrig blieb, bat sie Charlotten ihre Stunden einteilen zu dürfen, die nun genau beobachtet wurden«.21 Auch der Hauptmann hängt zunächst einer effektiven Zeiteinteilung an: denn weniger Schlaf, als dieser tätige Mann, bedurfte kaum Jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und deswegen jederzeit am Abende etwas getan war.22
Indem Eduard und der Hauptmann das Gut verlassen, tritt der Zeitvergessenheit die Zeitverdrängung an die Seite: Eduard zieht in den Krieg, »um die Zeit zu töten«.23 Diese Zäsur markiert den Übergang vom Ersten zum Zweiten Teil des Romans. Erster und Zweiter Teil stehen einander hinsichtlich der Ereignisdichte fast diametral gegenüber. Keines der anstehenden persönlichen Feste 17 18 19 20 21 22 23
Ebenda, II, 17. MA 9, S. 518. Vgl. ebenda, II, 4. MA 9, S. 417: »Das Jahr klingt ab«, wobei es sich um den Herbst und nicht um das Ende des Kalenderjahres handelt. Ebenda, II, 8. MA 9, S. 460. Vgl. ebenda, II, 8. MA 9, S. 462. Ebenda, I, 6. MA 9, S. 325. Ebenda, I, 4. MA 9, S. 310. Ebenda, I, 18. MA 9, S. 401.
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fällt in den Zweiten Teil. Das Geschehen auf dem Gut besteht vielmehr in Kontemplation, Warten und im Empfang meist ungebetener Gäste. So wird in den Wahlverwandtschaften der Leser in die Lage versetzt, die Differenz zwischen der völlig unpersönlichen, objektiven Zeitmessung durch Uhr und Kalender und ihrer höchst subjektiven, eigensinnigen Wahrnehmung durch das individuelle Bewusstsein zu fühlen. Dieses Spannungsverhältnis verschiedener Weisen der Zeitwahrnehmung ist ein tragendes Prinzip des Romans. Zwei temporale Grundkonzepte werden hervorgehoben: das der Linearität und das der Zirkularität der Zeit. Verkürzt lässt sich sagen, dass Linearität für das Fortschreiten steht, die aufsteigende Linie folglich Ausdruck des Zeitverständnisses einer fortschrittsorientierten Gesellschaft ist, während Zirkularität für die Wiederholbarkeit der realen oder vorgestellten Welt steht: entweder im Sinne einer Kreisbewegung und damit als ewige Wiederkehr letztlich die Statik betonend oder im Sinne einer Spirale, als eine eher dynamische Wiederkehr auf jeweils höherer Ebene.24 Alle entscheidenden Abläufe im Roman sind in Zyklen angelegt. Indem herausragende Ereignisse an Geburtstagen stattfinden, werden sie in die zyklische Struktur wiederholbar eingebunden. Die Geburtstage werden einerseits in den Fluss der Zeit integriert, da sie sich wie die Jahreszeiten wiederholen, andererseits haben sie eine Sonderstellung im Roman inne, da sie erzählerisch mit bedeutenden Ereignissen verknüpft werden. An den Geburtstagen geschehen die wichtigsten Dinge, die entweder in die weitere Zukunft vorausweisen oder bereits bestehende Muster wiederholend und variierend aufgreifen. Neben dem Geburtstag Ottilies dient auch das Vorhaben, die drei Teiche in die ursprüngliche Form eines großen Sees zurückzuführen, als Anlass zum Feiern. Für Charlotte ist dieser Tag in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Zunächst einmal ertrinkt beinahe ein Knabe durch einen Unglücksfall im See. Etwas mehr als ein Jahr später findet ihr eigener Sohn in demselben See den Tod, was jenen ersten Unfall als Schicksalswink erscheinen lässt. Hier fungiert Ottilies Geburtstag als Vorausahnung der Zukunft, die sich später bestätigt und wiederholt. Gleichzeitig widersetzen sich an diesem Tag Ottilie und Eduard zum ersten Mal einer dringenden Bitte Charlottes: Das Feuerwerk wird trotz der prekären Situation nicht abgebrochen. Charlotte ersucht auch Ottilie, ihr nach Hause zu folgen. Ottilie und Eduard treten hier erstmalig als Paar auf, das sich dem Willen Charlottes und den gesellschaftlichen Forderungen und Schicklichkeiten widersetzt. Beide schauen sich stattdessen das Feuerwerk an. Dies muss der Augenblick sein, der Charlotte deutlich macht, wie weit die Beziehung zwischen ihrem Mann und Ottilie bereits gediehen ist: Schließlich bekennt sich Eduard nun bewusst und öffentlich zu Ottilie, indem er sich von der Geburtstagsgesellschaft absondert.
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Vgl. Lutz Götze, Kulturen sind Ausdruck unterschiedlicher Weltsichten – Linearität und Zirkularität im frühen abendländischen Denken. In: Ders., Zeitkulturen (Anm. 14), S. 257ff.
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Die Vorkommnisse dieses Geburtstages erscheinen allesamt als Vorausweisungen auf den weiteren Verlauf des Romans oder als Rückgriffe auf die im Dunkeln liegende Vergangenheit der Protagonisten. Ertrinkt der kleine Otto später, so rettet der Hauptmann hier das Leben eines Knaben. Zuvor ist er selbst schon in einer ähnlichen Situation gewesen, nämlich bei der Rettung seiner Geliebten aus den Fluten, die in der Novelle von den Wunderlichen Nachbarskindern erzählt wird. Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei dem Hauptmann um den Nachbarssohn handelt, dann ist die Rettung des Knaben an Ottilies Geburtstag lebensgeschichtlich ein Akt der Wiederholung. Auch wenn er bei dieser Liebestragödie die Rolle des betrogenen Bräutigams innehatte, so wiederholt er doch die Rettungsaktion an sich. Für den Hauptmann wird dieser Geburtstag zum Tag der Wiederholung einer begangenen oder beobachteten Tat. Der Erzähler arrangiert mit diesen Szenen an Ottilies Geburtstag ein Geflecht von Wiederholungen und Variationen. Während der Geburtstag des Hauptmanns noch nicht einmal Erwähnung findet, verliert sich Eduards Geburtstag in bloßen Ankündigungen und der frohen Erwartung eines Festes, das nie begangen wird. Sein Geburtstag wird als einziger zweimal erwähnt, obwohl doch auch Charlottes und Ottilies Geburtstage in der erzählten Zeit des Romangeschehens wiederkehren müssten. Nach der Abreise der beiden Männer und einen Tag vor Eduards Geburtstag tritt Ottilie zum ersten Mal in die vom Architekten eigens für sie geschmückte Kapelle, um das gemeinsame Werk der Restaurierung zu besichtigen. Hier fühlt sie, »als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte«.25 Die Relevanz dieser Vorahnung wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Ottilie auf den Tag genau ein Jahr später stirbt. Ottilies Tod fällt auf den Vortag von Eduards Geburtstag. An ihrem Todestag offenbart sich das, was Ottilie bereits ein Jahr zuvor in der Kapelle geahnt hatte. Gleichzeitig stellt der Vortag von Eduards Geburtstag für ihn selbst eine drastische Umkehrung dar, da er zum Todestag Ottilies wird und somit den Tag markiert, an dem das Leben für Eduard seinen Reiz verliert. Sein erster Gedanke nach ihrem Ableben ist, bald nach ihr zu sterben, um ihr zu folgen. Am Vortag des Geburtstages werden also Vorausdeutungen gemacht, die sich ein Jahr später erfüllen werden. Charlottes Geburtstag nimmt unter all den wiederkehrenden Feierlichkeiten eine Sonderstellung ein: Ihr Geburtstagsfest liefert zahlreiche Zeichen und Hinweise, deren Bedeutung erst im Verlauf des Romans und durch wiederholte Lektüre bewusst wird. Es sind dies mit Bedeutung versehene Gegenstände wie das Glas mit den beiden Initialen, das beim Richtfest in die Luft geworfen wird und nicht zerschellt, die Platanen, die an Ottilies Geburtstag gepflanzt werden und hier erstmals Erwähnung finden, und der schicksalhafte Beschluss, die drei Teiche zu einem großen See zu vereinigen, in dem der kleine Otto schließlich seinen Tod finden wird. Diese drei unscheinbaren und später verhängnisvoll sich verdichtenden Motive entwickeln sich im Verlauf des Romans zu wahren
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 3. MA 9, S. 415.
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Komplexen der Wiederholung. Alle noch so sorgfältig vorbereiteten Inszenierungen ritueller Ereignisse – Charlottes Geburtstag, die Grundsteinlegung oder etwa die Taufe des kleinen Otto –, welche auch der Authentifizierung und Huldigung einer homogenen, Dauer verheißenden Vergegenwärtigung von Zeit gelten sollen, schlagen hoffnungslos fehl. Johannes Twardella hebt die katastrophalen Eigenarten der Feierlichkeiten im Roman hervor und deutet diese wie folgt: Daß die Feierlichkeiten, die an Ottilies Geburtstag stattfinden, beinahe in eine Katastrophe münden, kann als Zeichen dafür interpretiert werden, daß die Gemeinschaft der vier sich nicht länger aufrechterhalten läßt. Die Abreise des Hauptmannes am folgenden Tag ist daher notwendig. [...] Während sodann Charlotte in einer neuen Routine des Alltags ihre alte Sicherheit sowie ihren Optimismus wiedergewinnt und hofft, ›daß alles sich wieder geben‹ wird.26
V. Geselligkeit und Gesellschaft in den Wahlverwandtschaften Zur vertiefenden Auseinandersetzung mit der zeitstrukturellen Analyse der Feste und Feiern innerhalb der Wahlverwandtschaften gilt es nun weiterführend, den Aspekt der Geselligkeit bzw. Gesellschaft zu beleuchten: Die im Roman beschriebenen Lebensformen konzentrieren sich auf verschiedene Muster von Geselligkeit. Die Geselligkeitspraktiken in den Wahlverwandtschaften ermöglichen den exemplarischen Vergleich zwischen interner und externer sozialer Ordnung im literarischen Werk. Die Geselligkeitsformen der zentralen Gruppe in den Wahlverwandtschaften erweisen sich als wenig homogen. Zunächst bestimmt der Entschluss, gemeinsam in die Vergangenheit zu blicken (Aufarbeitung von Eduards Reisetagebüchern) und die Gegenwart aus dieser Perspektive zu genießen, das Geschehen. Während aber dafür ein angemessener Raum geschaffen werden soll,27 lösen Arbeitsteilung und -organisation die ursprünglichen, gesellig-dilettierenden Kultivierungsbestrebungen auf dem Landgut ab. Arbeit und Unterhaltung werden tendenziell voneinander getrennt. Prinzipien der Disziplin, Ordnung und sozialen Abstufung spielen eine wachsende Rolle. Die allmähliche Transformation von Geselligkeit in Gesellschaft wird durch verschiedene Besucher auf dem Landgut schlaglichtartig verdeutlicht: Der Graf und die Baronesse, die nächsten Gäste von Belang, werden von zwei Gastgebern und zwei Gästen empfangen. Ganz den Ritualen der traditionellen Gastlichkeit verpflichtet, mustern die Frauen »die neusten Formen und Zu-
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Johannes Twardella, Experimente im Treibhaus der Moderne: Versuch einer kommunikationstheoretischen Analyse von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Neophilologus 83 (1999), Nr. 3, S. 445–460, hier S. 451; vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, I, 18. MA 9, S. 399f. Vgl. Wolfgang Staroste, Raumgestaltung und Raumsymbolik in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Ders., Raum und Realität in dichterischer Gestaltung. Heidelberg 1971, S. 89–103.
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schnitte von Frühkleidern, Hüten und dergleichen«, während »die Männer sich um die neuen Reisewägen, mit vorgeführten Pferden, beschäftigen und gleich zu handeln und zu tauschen anfingen«.28 Der Austausch von Gütern, die Angleichung der Dinge aus der Fremde mit den eigenen, kodieren das Gastsein als Umschlagplatz von Welt im weitesten Sinne. Vor allem Lucianes Repräsentationsgebaren, das alle nur verfügbaren Formen von Spiel, Unterhaltung und Kunstausübung für seine Zwecke nutzt, aber auch die vom Grafen und der Baronesse eingeführten Konversationsformen haben eine fließende Grenze bereits überschritten: die von der Geselligkeit zur Gesellschaft. Letzten Endes zerbricht die häusliche Geselligkeit jedoch daran, dass Eduard sich in die eigene unbedingt liebende Subjektivität verschließt. Ein weiterer sozialer Aspekt der Wahlverwandtschaften darf nicht vernachlässigt werden: Die zu Beginn der Romanhandlung gezeichnete Zweisamkeit Charlottes und Eduards auf ihrem Landgut soll erweitert, die familiäre Ordnung aber beibehalten werden. Wahlfamiliäre Geselligkeit nimmt danach den Platz ehelicher Privatheit ein. Trotz strikter Vorgaben der Initiatoren entwickelt sich eine Eigendynamik, der das institutionalisierte Muster ›Familie‹ nicht mehr standhalten kann. Die Unmöglichkeit kontrollierter Bewegung zieht die Katastrophe nach sich. Danach wird eine Zeitlang eine Scheinordnung aufrechterhalten – strikt und unbeweglich wie die Ausgangsordnung. Es scheint mir wichtig, dem Zusammenhang von Gesellschaft und Werk und dem Verhältnis zwischen Alltag und Nicht-Alltag in den Wahlverwandtschaften auch aus der Perspektive der literatursoziologischen Theorie nachzugehen. Dass gesellschaftliche Aspekte in dieses Werk immer transformiert und durch vorgegebenes künstlerisches Material gefiltert eingehen, ist unumstritten. Wie kann man theoretisch beschreiben, in welcher Art und Weise die Gesellschaft ihren konkreten Niederschlag im literarischen Werk findet? Die Alltagssoziologie analysiert die allgemeinen Strukturen subjektiver Orientierung und subjektiven Handelns in der Welt: Erlebter Raum, gelebte Zeit, der biographisch-historische Charakter und die gelebte Intersubjektivität der Kommunikation im Alltagsleben selbst. Untersucht werden also die selbstverständlichen Annahmen und unausgesprochenen Voraussetzungen im Wahrnehmen und Denken der sozialen Akteure. Zumindest seit der allgemeinen Säkularisierung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses und der allmählichen Herausbildung einer bürgerlichen literarischen Öffentlichkeit im Laufe des 18. Jahrhunderts kann Literatur allgemein als sozial weitgehend sanktionierter Bereich der Problematisierung von Lebensfragen, als relativ akzeptierter Ort von Widerspruch und Reflexion über den möglichen Sinn der Welt gelten. Das einzelne literarische Werk ist immer auch Manifestationsmedium von Möglichkeitsformen des Wirklichen im Rahmen fiktional-traditionsgebundener Erfahrungsvermittlung. Daher kann es aufgefasst werden als das Resultat einer komplexen ästhetischen Vermittlung des Nicht-Alltäglichen mit dem individuell-gesellschaftlichen Alltag seiner Entstehungszeit und seiner sozialen Grup-
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Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 10. MA 9, S. 351.
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pe. Die Verstehende Soziologie thematisiert in diesem Zusammenhang ›Alltag‹ ganz allgemein als vornehmlich den Komplex des Normal-Menschlichen im Gegensatz zum Außergewöhnlich-Menschlichen [...], wobei zu beachten bleibt, dass solche Dimensionen selbst geschichtlich-sozialer Natur und somit auch Wandlungsprozessen unterworfen sind.29
Das literarische Werk kann in diesem Zusammenhang verstanden werden als ›Lebenskommentierung‹, als ästhetisches Erkenntnismedium, welches bestimmte Alltagsprobleme traditionsgebunden und fiktional diskutiert und so zwischen dem Alltag des Autors und dem des Lesers Kommunikation stiftet. Das literarische Werk kann gesellschaftlich-historische Wissensbestände durch implizit mitgestaltetes stummes Kontextwissen dartun.
VI. Narrativierung lebensweltlicher Zeiterfahrung Es zeigt sich, dass Literatur, als komplexes Zeichen- und Symbolsystem, von der kulturell und historisch bedingten Art und Weise der Narrativierung lebensweltlicher Zeiterfahrung zeugt und damit implizit auf die zur Entstehungszeit dominierenden Zeitkonzeptionen verweist, die ihrerseits historischem Wandel unterliegen. Diese Versuche, das erkenntnistheoretische Potential der in die Literatur eingegangenen Zeiterfahrung zu ergründen, zeugen von der zweifachen Ausrichtung kulturwissenschaftlicher Zeitforschung, die das Zeitverhalten, d.h. Erinnern, Wahrnehmen, Deuten und Entwerfen immer auch als Gegenwartshandeln konzipiert. In engem Zusammenhang damit thematisieren sozialgeschichtlich motivierte Ansätze in der Forschungsliteratur die Wahlverwandtschaften Goethes als Erfahrung einer Zeitenwende in der Epoche um 1806 und als Teil seiner Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. So entwickelt etwa Werner Schwan zwei Ansätze: Er deutet die Wahlverwandtschaften als Roman einer »scheiternden Kommunikation«30 und als »Roman einer Zeitkrise«.31 Das Arrangement des sozialen Konflikts im Mikrokosmos der wahlverwandten Paare vollziehe sich nach dem Maß der großen geschichtlichen Begebenheiten, die Goethe in jenen Tagen so stark bestimmten. Etwas ›Ungeheueres‹, eine elementare Macht dringt mit Urgewalt sowohl auf die Zeitgenossen als auch auf die Romanpersonen ein, fordert zur Gegenwehr heraus und erweist sich binnen kurzem stärker als diese.
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Kurt Hammerich / Michael Klein, Alltag und Soziologie. In: Kurt Hammerich / Michael Klein (Hrsg.), Materialien zur Soziologie des Alltags. Opladen 1978 [Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 20], S. 7–21, hier S. 10. Vgl. Werner Schwan, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Das nicht erreichte Soziale. München 1983, S. 45. Ebenda, S. 201.
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Die Revolution in Frankreich sei die »Folge einer großen Notwendigkeit«32 gewesen, hat Goethe später gesagt. Im Roman ist es die erotische Leidenschaft, welche das Gepräge einer machtvollen Naturnotwendigkeit erhält. In einem sind sich die geschichtlichen und erotischen Bewegungen ähnlich – in ihrer Wirkung: Sie haben als elementare Kräfte die Tendenz, die Lebensverhältnisse, auf die sie treffen, von Grund auf umzugestalten. Sie wirken zerstörerisch, wenn sie nicht ergriffen und geformt werden. In seinen Ausführungen zu Goethes Wahlverwandtschaften behauptet Jürgen Kolbe hingegen, dass es verfehlt wäre, diesen Roman zu politisieren: Zweifellos ginge es darin nicht um eine konkrete geschichtliche Situation, [...] sondern vielmehr und um so nachdrücklicher um ein Bewusstseinsproblem, welches deutlich macht, dass die Zeichen der Zeit erkannt werden müssen, um sich ihnen stellen zu können.33
Dennoch betont er, dass Mutmaßungen, die von Charlotte geäußert werden, nur denkbar sind vor dem Hintergrund der Französischen Revolution, die – ohne je direkt angesprochen zu sein – »als die Bewusstseinsfolie der ›Wahlverwandtschaften‹ gelten muss«.34 So kommt es Charlotte zufolge unter anderem zu Störungen im Verhältnis der »Völker gegen ihre trefflichsten Fürsten«,35 zu Umwälzungen im Gesellschaftlichen überhaupt. Fortführend entwickelt Jürgen Kolbe außerdem die These, dass Goethes Wahlverwandtschaften »dem einheitlichen Bewusstsein von der Not der Zeit«36 entstammen. Ein solches Bewusstsein sei die Wurzel des Zeitromans. Er beschränke sich nicht auf die Kritik an der Gesellschaft, sondern habe es mit dem Verhältnis von Gegenwart und Geschichte sowie den damit zusammenhängenden Bewusstseinsstörungen zu tun. Von einer solchen Diagnose der Zeit handelt Goethes Roman insofern, als es in den Wahlverwandtschaften um die Bewältigung des Zeitlichen geht.
VII. Fazit Goethes Beschäftigung mit der Zeit greift weit aus. Sie zeigt sich darin, dass sein Lebenswerk im umfassenden Sinne diesem Gegenstand gewidmet und durch die Auseinandersetzung mit ihm geprägt ist. Goethe bekennt sich zur Verlangsamung des Alltäglichen, denn nur so lasse sich der Natur etwas abgewinnen, also Wichtiges entnehmen und verstehen.37 Er sieht in der Kunst, also auch im Roman, eine Rettung vor den Beschleunigungen und der Raserei
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Goethe im Gespräch mit Eckermann, 4. Januar 1824. Zitiert nach: Gero von Wilpert, Die 101 wichtigsten Fragen: Goethe. München 2007, S. 123. Zitiert nach: Jürgen Kolbe, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und der Roman des 19. Jahrhunderts. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1968, S. 38f. Vgl. ebenda, S. 40ff. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 1. MA 9, S. 407. Vgl. Kolbe, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 33), S. 45. Vgl. Manfred Osten, ›Alles veloziferisch‹ oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Frankfurt am Main, Leipzig 2003.
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des Alltags, vor einer Zeit, die keine Reife zulässt und das Jetzt bereits im nächsten Moment vergisst.38 Es geht um die Erlernung einer Kunst, an der Wirklichkeit nicht zu verzweifeln. Aus diesem Grunde schafft Goethe in den Wahlverwandtschaften eine »Gesellschaft ohne Wirklichkeit«.39 Zeiterfahrungen in der Wirklichkeit mit den im Roman dargestellten in Beziehung zu setzen, liegt wegen der Verwandtschaft des Erzählens mit der subjektiven Zeiterfahrung nahe. Erzählen ist ein Modus subjektiver Zeiterfahrung – und zugleich auch ihr Bewältigungs- und Reflexionsversuch. Ein Grundgedanke Goethes wird deutlich: Nicht rastlose Hetze und Beschleunigung sind das Gebot der Stunde, vielmehr ein Übel der Menschheit. Für Goethe basiert Irrtum auf übereiltem Denken, wie Gewalt ein Resultat übereilten Handelns ist. Außerhalb der Kunst findet er keine Möglichkeit des nachdenkenden Innehaltens, der Entschleunigung40 der gesellschaftlichen Entwicklung. Einer seiner Wege ist die Entdeckung der Langsamkeit41 – so auch in den Wahlverwandtschaften. An den Berliner Komponistenfreund Carl Friedrich Zelter schreibt er am 6. Juni 1825: Junge Leute werden zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichthum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Communication sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist ja auch das Resultat der Allgemeinheit, dass eine mittlere Cultur gemein werde [...].42
Der Schlusssatz der Wahlverwandtschaften (»Friede schwebt über ihrer [sc. der Liebenden] Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen«) 43 bleibt, temporal betrachtet, doppeldeutig und diese Doppeldeutigkeit lässt sich nicht auflösen. Nur der Gedanke springt aus der Erfahrung der Realität der Zeit in eine verlebendigende und die Zeit aufhebende Ewigkeit.
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Vgl. den Beitrag von Elisabeth von Thadden in diesem Band. Vgl. Heidrun Ehrke-Rotermund, Gesellschaft ohne Wirklichkeit. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Tübingen 1981, S. 131–188. Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005, zum Begriff der Entschleunigung siehe S. 138–153. Vgl. Manfred Osten, ›Alles veloziferisch‹ (Anm. 37); Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit. München u.a. 1987. Goethe an Carl Friedrich Zelter, 6. Juni 1825. Zitiert nach: Lutz Götze, Zeitkulturen (Anm. 14), S. 100. Die Wahlverwandtschaften II, 18. MA 9, S. 529.
IRRITATIONEN: WERK UND WIRKUNG
»Durch und durch materialistisch« oder »voll innern heiligen Lebens«? Zur zeitgenössischen Rezeption der Wahlverwandtschaften Jutta Heinz
Nie habe [ich] so enthusiastisch, so gescheut und so dumm und absurd über etwas sprechen hören als über diesen Roman und nie sind die Buchhändler so bestürmt worden, – es war wie vor einem Bäckerhause, in einer Hungersnoth.1
Die Rede ist nicht vom achten Band von Harry Potter, sondern, natürlich, von den Wahlverwandtschaften. Marianne von Eybenberg, mit der Goethe während der Entstehungszeit des Romans in Karlsbad freundschaftlich verkehrte, beschreibt dem Autor am 24. Februar 1810 mit diesen Worten die hysterischen Reaktionen der Zeitgenossen auf das Erscheinen des lange erwarteten neuen Goethe. Dreizehn Jahre waren seit dem allseits gerühmten Wilhelm MeisterRoman vergangen – eine lange Zeitspanne, innerhalb deren Goethe im Verbund zunächst mit Schiller und danach mit den Weimarischen Kunstfreunden in vielen Publikationen die neue Klassik-Doktrin zu etablieren versucht hatte. Nun rissen sich die Leser das neue Buch aus den Händen und korrespondierten geradezu hektisch – »Les’t Goethens neuen Roman! Die Wahlverwandtschaften. Geistesstärkung!«;2 »Die Wahlverwandtschaften kommen mir jetzt täglich himmlischer vor. Sag mir doch bald Etwas darüber – ich kann eher nicht ganz ruhig seyn!«;3 »Ich beauftragte einen Buchhändler, mir das Buch sobald es erschiene, gleichviel ob erlaubt von der Censur oder verboten, um jeden Preis zu verschaffen«.4 Es war, wie man heute so schön sagt, ein Hype, mit durchaus vergleichbaren Folgen wie schon beim Werther: Eine Konversion zum Katholizismus nach der Lektüre ist überliefert (Zacharias Werner) sowie eine post-lektorale Ehescheidung (der preußische General von Bardeleben).
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Brief von Marianne von Eybenberg an Goethe, 24. Februar 1810. In: Heinz Härtl (Hrsg.), ›Die Wahlverwandtschaften‹. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Berlin 1983 [=Härtl] Nr. 336, S. 139. Alle Rezeptionszeugnisse werden der einfacheren Zugänglichkeit wegen mit Angabe der Nummer und Seitenzahl nach Härtl zitiert. Brief von Rahel Levin an Rose Asser, 14. November 1809. Härtl Nr. 233, S. 73. Brief von Ernst Wagner an August von Studnitz, 9. Januar 1810. Härtl Nr. 302, S. 111. Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens, Januar 1810. Härtl Nr. 303, S. 112.
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Dieser Überhitzung der öffentlichen Erwartung ist wohl auch manche polemische oder ideologische Zuspitzung der Debatte geschuldet – der Titel dieses Beitrags zitiert nur zwei von vielen diametral entgegengesetzten Einschätzungen des Romans.5 Gerade deshalb jedoch verspricht eine Analyse der im Überfluss vorhandenen Rezeptionszeugnisse interessante Aufschlüsse. Ich werde im Folgenden in einem ersten Teil Mechanismen der Rezeptionssteuerung (beispielsweise durch den Autor selbst) untersuchen. Der zweite Teil widmet sich Aussagen in unterschiedlichen Rezeptionsmedien (abgestuft von privaten Briefen, Gesprächsprotokollen und Tagebucheinträgen bis hin zu den öffentlichen Rezensionen). Der dritte Teil skizziert dominante Rezeptionsmuster und -topoi.6 Insgesamt geht es mir dabei mehr um die Erschließung der 5
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Vgl. auch Bernhard Rudolf Abeken, Goethe in meinem Leben, 1809/10: »Welche verkehrte, widerwärtige, abgeschmackte Urtheile die Wahlverwandtschaften übrigens bei ihrem Erscheinen erfuhren; wie man sich, das Ganze, Große nicht ahnend, an Kleinigkeiten, lobend und tadelnd, hielt; wie hie und da die Urtheile in wahre Feindschaft übergingen, und dies selbst in Weimar, das ist nicht zu sagen« (Härtl Nr. 427, S. 206); Passow, 14. Juni 1810: »Die öffentlichen Urtheile sind höchst gemein« (Brief von Franz Passow an Ernst Breem. Härtl Nr. 376, S. 157f.); Wieland, 10. Februar 1810: »Das Werk wird von den Einen zu übermäßig gelobt, von den Anderen vielleicht zu scharf getadelt, auch gehört es von einer Seite unter die besten, von der andern unter die tadelswürdigsten Producte seines genialischen, aber das Publicum gar zu sehr verachtenden Urhebers« (Brief von Christoph Martin Wieland an Charlotte Geßner. Härtl Nr. 328, S. 137). Vgl. insgesamt auch Astrida Orle Tantillo, Goethe’s ›Elective Affi nities‹ and the Critics. Rochester 2001, die die gesamte Rezeption des Romans bis hin zur Gegenwart untersucht; zur unmittelbaren Rezeption der Zeitgenossen vgl. bes. Kap. I: »1809–1832: The Morality of Art«. Tantillo weist einleitend darauf hin, dass die Rezeptionsgeschichte der Wahlverwandtschaften außergewöhnlich wechselhaft war und über die Zeit geblieben ist: »What is particularly striking about Die Wahlverwandtschaften, however, is the lack of agreement within almost every age about even the novel’s most basic elements. Goethe’s contemporaries argued over whether it was a moral or immoral book and whether the style was romantic or classic. Such major interpretive disagreements were not only characteristic of Goethe’s time, but have marked nearly every generation of scholarship. Because the novel has never experienced a consistent interpretative reading on even its main points, the study of its reception illustrates perhaps better than any other work by Goethe the shifts in the cultural and intellectual atmosphere over the past two hundred years« (XIIIf.). – Vgl. auch Walter Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay, in dem er zwischen der zeitgenössischen Rezeption und der künftiger Zeiten einen grundsätzlichen Unterschied sieht: Während erstere sich vor allem auf den »Sachgehalt« konzentrierte, trete erst im Laufe der Zeit der »Wahrheitsgehalt« ans Licht: »Dem Dichter wie dem Publikum seiner Zeit wird sich nicht zwar das Dasein, wohl aber die Bedeutung der Realien im Werke zumeist verbergen« (Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders., Wahlverwandtschaften. Aufsätze und Reflexionen über deutschsprachige Literatur. Frankfurt am Main 2007, S. 33–104, hier S. 33f.). Die Unterscheidung dieser beiden Schichten verdankt sich im wesentlichen Benjamins mythologischer Interpretationsintention, die dazu neigt, die Sachgehalte der Texte geradezu zu diffamieren und in diesem Zusammenhang auch den Autor zu einem schlechten Interpreten des eigenen Textes zu erklären bzw. zu einem Geheimniswahrer (»Das Verständnis der Wahlverwandtschaften aus des Dichters eigenen Worten darüber erschließen zu wollen, ist vergebene Mühe. Gerade sie sind ja dazu bestimmt, der Kritik den Zugang zu verlegen«, S. 52). In diesem Zusammenhang müssen logischerweise auch die beiden von Goethe quasi-autorisierten Rezeptionszeugnisse Solgers und Abekens verurteilt werden: »Beiden Rezensenten mußte doch der Gehalt des Vorgangs völlig entgehen, weil sie nicht vom Ganzen der Darstellung, sondern von dem Wesen der Heldin ausgingen« (S. 47).
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zeitgenössischen Rezeption in ihrer Breite als um einzelne Rezeptionszeugnisse. Abschließend werde ich versuchen, die Fragen zu beantworten, warum gerade die Wahlverwandtschaften eine derart kontroverse Rezeptionsgeschichte provoziert haben, und ob diese vielleicht sogar zum Verständnis des Romans beitragen kann. Ich lege dieser kursorischen Diskursanalyse die umfangreiche Quellensammlung von Rezeptionszeugnissen der Jahre 1808 bis 1832 zugrunde, die Heinz Härtl 1983 vorgelegt hat und die, so hoffte der Herausgeber mit Recht, »als Beitrag zu einer Literatursoziologie der Epoche von 1806 bis 1830 genutzt werden«7 kann.
I. Rezeptionssteuerung Entstehungsbedingungen Bereits die Entstehung des Romans vollzog sich als ein quasi-öffentlicher und in hohem Maße geselliger Prozess. Goethe diktierte den Text seinem Reisebegleiter nach Karlsbad und späterem Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer; Johann Heinrich Meyer berichtet zudem später: Auf einer langsamen Fahrt von Jena nach Weimar habe ihm [J. H. Meyer] Goethe den ganzen Roman Die Wahlverwandtschaften erzählend vorgetragen, und zwar in einer Weise fließend, als habe er ein gedrucktes Exemplar vor sich; und doch sei damals noch kein Wort davon niedergeschrieben gewesen.8
Vor allem während des Kuraufenthalts in Karlsbad im Jahre 1808, der wohl auch atmosphärisch einiges zu dem Roman beigetragen haben mag, waren die Wahlverwandtschaften ein vieldiskutiertes Gesprächsthema in geselliger Runde; so verzeichnet Riemer: Das Besprechen des Plans, die Prüfung und Anwendung der einzelnen Motive, füllte die Mußestunden der Spaziergänge, der Tischzeit; wozu sich Bemerkungen und Reflexionen aus dem Leben überhaupt gesellten. Man lebte und verkehrte selbst unter diesen eingebildeten Personen der Phantasie, als wären es wirkliche.9
Zudem wird der Roman bereits vor der Veröffentlichung kapitelweise versandt10 und im kleinen Kreis von Goethe selbst vorgetragen, u.a. bei Anna
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Härtl, Dokumentation (Anm. 1), S. 25. Johann Heinrich Meyer zu Christian Schuchardt, zwischen 1825 und 1828. Härtl Nr. 4, S. 29. Dies wird bestätigt durch Goethes Tagebucheinträge: »Hofrath Meyern die erste Hälfte der Wahlverwandtschaften erzählt« (1. Mai 1808. Härtl Nr. 2, S. 29). Friedrich Wilhelm Riemer, Mittheilungen über Goethe, 1808. Härtl Nr. 38, S. 34. Die weitere Fertigstellung im nächsten Jahr verzögerte sich, da es organisatorische Probleme mit der Reise gab; vgl. Brief Goethes an Marianne von Eybenberg, 16. Januar 1809. Härtl Nr. 43, S. 35. So schrieb Goethe beispielsweise an seine Frau Christiane: »Daß mir alsdann zugleich etwas geschrieben werde von dem, was unter euch beym Lesen vorgegangen« (15. September 1809. Härtl Nr. 150, S. 53).
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Amalia.11 Schließlich liefert Goethe während der Entstehungszeit erste Selbstdeutungen: Seine Idee sei gewesen, so referiert Riemer, »soziale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbolisch gefaßt darzustellen«.12 Einige Zeitgenossen haben aus diesen besonderen Entstehungsumständen direkt auf Gestaltungsmerkmale des Romans geschlossen. So vermutet Wilhelm Grimm, das Werk sei deshalb etwas länglich geworden, weil es durchaus diktiert ist, wo der Faden wohl nicht streng angehalten worden, sondern ganz gemächlich abgehaspelt worden und zuweilen auf die Lehne des Schlafsessels herabgefallen ist. Dann aber soll auch Goethe mehreres von Riemer haben ausarbeiten lassen und ihm nur den Entwurf gegeben haben, wie Rafael malte – wenn es wahr ist.13
Technische Aspekte des Schöpfungsprozesses sowie die geistige Beteiligung verschiedener Personen rücken damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit und verdrängen das ältere Konzept des Originalgenies.14 Goethe sucht offenbar, vor allem in den Inkubationszeiten zwischen den Phasen der konzentrierten Niederschrift des Textes in der Einsamkeit,15 geradezu gezielt die anregende Diskussion mit Freunden und erprobt dessen Wirkung auf verschiedene Testleser. Später wird er den Roman sogar als ein »Circular an meine Freunde« bezeichnen, also als ein Vehikel einer eher exklusiven Geselligkeit, während er dazu tendierte, die öffentliche Rezeption durch das Publikum beinahe völlig abzulehnen. Das zeigt beispielsweise die Fortsetzung des Briefes an Reinhard vom 31. Dezember 1809, wo es im Anschluss an die Formulierung vom »Circular an meine Freunde« heißt: Wenn die Menge dieses Werckchen nebenher auch liest, so kann es mir ganz recht seyn. […] Das Publicum, besonders das deutsche, ist eine närrische Karricatur des demos, es bildet sich wirklich ein, eine Art von Instanz, von Senat auszumachen, und im Leben und Lesen dieses oder jenes wegvotiren zu können was ihm nicht gefällt. Dagegen ist kein Mittel als ein stilles Ausharren.16
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So gab es z.B. im April 1809 eine Vorlesung bei der Herzogin (vgl. Härtl Nr. 47 und 53, S. 36f.). Friedrich Wilhelm Riemer, Tagebuch, 28. August 1808. Härtl Nr. 32, S. 33. Brief von Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, 22. November 1809. Härtl Nr. 254, S. 80. Ähnlich (bezüglich der Wirkungen des Diktierens) äußert sich auch Wilhelm von Humboldt: »Einmal ist eine gewisse Trockenheit und Weitläuftigkeit in Herzählung des äussern Lebens, […] in die Göthe manchmal, vielleicht selbst durch das Diktiren, verfällt« (Brief an Friedrich Gottlieb Welcker, 23. Dezember 1809. Härtl Nr. 281, S. 88). Beides, die Notwendigkeit technischer Beherrschung des Handwerks und die Vorteile einer kollektiven Schaffensweise, wird Goethe dann in den Wanderjahren noch stärker propagieren; vgl. dazu Jutta Heinz, Narrative Kulturkonzepte. Wielands ›Aristipp‹ und Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Heidelberg 2006, bes. Kap. 6.2.1. Die Niederschrift selbst erfolgt in äußerster Zurückgezogenheit; vgl. den Brief an Christiane, 30. Mai 1809: »Wende alles was du kannst die nächsten acht Tage von mir ab: denn ich bin gerade jetzt in der Arbeit so begriffen wie ich sie seit einem Jahre nicht habe anfassen können. Würde ich jetzo gestört, so wäre alles für mich verloren« (Härtl Nr. 72, S. 40). Härtl Nr. 289, S. 100.
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Selbstdeutungen Auch den weiteren Rezeptionsprozess versucht Goethe gezielt durch Selbstdeutungen gegenüber Freunden und Besuchern zu steuern. Immer wieder verweist er auf den symbolischen Charakter des Werks, vor allem am Beispiel des Titels. In der »Selbstanzeige des Romans« im Tübinger Morgenblatt für gebildete Stände führt er aus: Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen; und so hat er auch wol in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnißrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist, und auch durch das Reich der heitern Vernunft-Freyheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Nothwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen sind.17
Goethe exponiert hier relativ klar seinen im Kern monistischen bzw. spinozistischen Naturbegriff als notwendigen Verständnishintergrund des Textes: Es gibt nur eine Natur, in die der Mensch, ob er nun will oder nicht, mit einbezogen ist; deshalb unterliegt auch der Mensch den Gesetzen der »trüben« »Nothwendigkeit«, so sehr er sich auf seine »Vernunft-Freyheit« berufen mag.18 Die dadurch notwendig entstehenden Konflikte können letztlich nur metaphysisch vollständig aufgelöst werden – nicht in diesem Leben nämlich, und auch nicht durch menschliches Eingreifen à la Mittler, sondern nur durch eine »höhere Hand«. Die damit verbundene Inkommensurabilität des Romans (zumindest in dieser Welt und mit Mitteln menschlicher Vernunft) verteidigt Goethe auch in einem Brief an seinen guten Freund Zelter mit einem weiteren seiner (paradoxen) Lieblingsbegriffe: »Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dieß offenbare Geheimniß zur Freude gereichen«.19 Neben der symbolischen Gestalt verweist Goethe gern und häufig auf den eminent sozialen und sittlichen Gehalt des Textes. So schreibt er noch am 7.
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4. September 1809. Härtl Nr. 138, S. 51. Darüber hinaus ist bemerkenswert, wie Goethe in der Selbstanzeige seine Verwendung des Wahlverwandtschaften-Bildes begründet. Er habe nämlich nicht etwa einen Begriff aus der Naturlehre auf einen sozialen Prozess übertragen, sondern diesen gerade umgekehrt wieder auf seinen »geistigen Ursprung« als »ethisches Gleichnis« zurückgeführt. Der Bildspender ist also der Bereich der menschlichen Sittlichkeit; und die Chemie hat sich, als Bildempfänger, der Analogie bedient, um gewisse Naturphänomene besser beschreiben zu können. Wenn das Bild nun im Roman wieder in den sozialen Bereich zurückverpflanzt wird, findet eine Art doppelte Spiegelung statt, die die Vorstellung von der einen Natur mit zwei Reichen, dem der Naturnotwendigkeit und dem der moralischen Freiheit des Menschen, weiter untermauert: Sie zeigt nämlich im doppelt reflektierten Bildgebrauch eine exemplarische Wechselwirkung zwischen physis und ethos des Menschen, von der beide Bereiche profitieren können. Brief an Karl Friedrich Zelter, 1. Juni 1809. Härtl Nr. 79, S. 41. Vgl. auch Brief an Zelter vom 26. August 1809: »Ich bin überzeugt, daß Sie der durchsichtige und undurchsichtige Schleyer nicht verhindern wird bis auf die eigentlich intentionirte Gestalt hineinzusehen« (Härtl Nr. 124, S. 48).
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September 1821 an Joseph Stanislaus Zauper, wiederum in Abgrenzung von der Publikumsrezeption: Das Publicum lernt niemals begreifen, daß der wahre Poet eigentlich doch nur, als verkappter Bußprediger, das Verderbliche der That, das Gefährliche der Gesinnung an den Folgen nachzuweisen trachtet. Doch dieses zu gewahren, wird eine höhere Cultur erfordert, als sie gewöhnlich zu erwarten steht. Wer nicht seinen eigenen Beichtvater macht, kann diese Art Bußpredigt nicht vernehmen.20
Das hier dargelegte Verständnis des Dichters als »verkappter Bußprediger« mutet angesichts der vermeintlich dominanten Position der Kunstautonomie in der Klassik-Doktrin befremdlich an, sollte aber vielleicht gerade gegenüber den modernen Tendenzen zur Dekonstruktion oder Ironisierung des Romans einmal wenigstens versuchsweise ernstgenommen werden. Es ist nicht nur einfach durch die größere historische Distanz des Autors zu seinem eigenen Text oder den spezifischen Adressatenbezug zu begründen, sondern zeigt den bleibenden (und oft verleugneten) erzieherischen Aspekt des Goethe’schen Literaturverständnisses, der auch dessen moralischen Anspruch begründet. Der Erfolg des erzieherischen Anspruchs wird jedoch von Goethe an eine »höhere Cultur« im Publikum geknüpft. Diese entsteht durch eine besondere Form der gesteigerten Selbstreflexion, in der das Individuum sich selbst, seinen eigenen Schwächen und den daraus resultierenden gefährlichen Folgen, distanziert und objektivierend – als »eigener Beichtvater« – gegenübertritt. Insofern wirkt der Dichter als »Bußprediger« nicht als Moralapostel, der ja in der Gestalt Mittlers einen nicht gerade überzeugenden Auftritt im Roman hat. Stattdessen demonstriert der Roman die Folgen problematischer Gesinnungen und daraus resultierender Handlungen am konkreten Einzelfall; zwar ohne Anspruch auf allgemeine Gesetzlichkeit, wohl aber in der Hoffnung auf potentielle Erkenntnisgewinne beim einzelnen Leser durch eine Lektüre im Sinne und in der Intention des Autors. Der damit verbundene, ganz handfest lebensweltliche Anspruch wird von Goethe ebenfalls häufig hervorgehoben. Dabei beteiligt er sich nicht an den verbreiteten Spekulationen im Publikum über reale Vorbilder der einzelnen Figuren, sondern weist ganz allgemein auf die Basis des Romans im Erleben des Autors, was man als eine Art ontologischen Biografismus bezeichnen könnte. Eckermann hat das vielzitierte Diktum Goethes überliefert, im Roman sei »keine Zeile, die ich nicht selber erlebt hätte«. Etwas unbekannter ist ein Gesprächsreferat von Laube, das noch deutlicher auf die primären, nicht-fiktionalen Erlebnis-Komponenten des Romans hinweist: Ob die Wahlverwandtschaften wahr sind, ob sie auf Thatsächlichem beruhen? Jede Dichtung, die nicht übertreibt, ist wahr, und Alles, was einen dauernden, tiefen Eindruck macht, ist nicht übertrieben. […] Das Benutzen der Erlebnisse ist mir immer Alles gewesen, das Erfinden aus der Luft war nie meine Sache, ich habe die Welt stets für genialer gehalten, als mein Genie.21 20 21
Härtl Nr. 494, S. 269. Heinrich Laube, Bericht von Gesprächen Goethes mit einer Unbekannten und einem Unbekannten, 1809/10. Härtl Nr. 422, S. 203.
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Der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs an dieser Stelle erinnert nicht zufällig an die autobiografische Standardformel von ›Dichtung und Wahrheit‹, deren Erfolg sich eben dieser Konstruktion Goethes verdankt: »Wahr« in diesem Sinne einer höheren poetischen Wahrheit ist die künstlerisch gestaltete Darstellung nicht platter Fakten (des »Thatsächlichen«), sondern »dauernder«, »tiefer« Eindrücke realen Ursprungs. Deren Wahrhaftigkeit verbürgt nicht die Phantasie des Autors, sondern die »Genialität« der Welt, des Zeitalters, der Mitlebenden. Genialität wird hier nicht als urwüchsige und spontane Schöpfungskraft eines Individuums verstanden. Sie ist in einem beinahe antiken Sinne ein allgemeines geistiges Wirkungsprinzip, das seine schöpferischen Kräfte nicht nur im einzelnen Menschen, sondern genausogut in Orten, Kollektiven oder Artefakten entfalten kann. Um die »Genialität« eines solchen Textes zu verstehen, braucht der Leser allerdings eine kongeniale Erfahrungs- und Weltkenntnis. Goethe hat bekanntermaßen wiederholt dazu aufgerufen, den Roman vor einer endgültigen Beurteilung mehrfach zu lesen – ein traditionelles Prärogativ der Klassiker-Lektüre im Übrigen; es stecke darin mehr, als »irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen imstande«22 wäre. Dieser Forderung sind nicht wenige Leser gefolgt, aber mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Bestätigungen eines durch Wiederholungslektüre vertieften Textverständnisses erhält Goethe beispielsweise von Karl Friedrich von Reinhard: Was Sie vom Wiederlesen der Wahlverwandtschaften voraussagen, ist bei mir bereits eingetroffen. Ich habe sie wiedergelesen, und ich bin leicht dahin gelangt, mir von Ottiliens Eigentümlichkeit […] eine deutliche Rechenschaft abzulegen.23
Auch Bernhard Rudolf Abeken bemerkt: War es mir doch bei wiederholter Lectüre, als wenn der Roman, abgesehen von den sich immer mehr in ihrem Wesen entfaltenden Personen […] mit jedem Capitel sichtlich vor meinen Augen wie ein Naturgewächs wachse und der Nothwendigkeit entgegen reife.24
Das Bild, das Abeken hier verwendet, musste Goethe sehr zusagen – schildert es doch den hermeneutischen Prozess der Lektüre in Termini des organischen Wachstums, überträgt also die intendierte Lebendigkeit des Textes direkt in den Leseprozess selbst; zudem spricht Abeken bereits aus einer relativ großen historischen Distanz. Wieland hingegen, der in seinen jeweiligen Äußerungen zum Roman immer wieder sorgsam darauf hinweist, wie oft er ihn zu diesem
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Gespräch mit Johann Peter Eckermann, 9. Februar 1829: »Es ist in den Wahlverwandtschaften überhaupt keine Zeile, die ich nicht selber erlebt hätte, und es steckt darin mehr, als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen imstande wäre« (Härtl Nr. 551, S. 333). Vgl. auch Brief an Johann Friedrich Cotta, 1. Oktober 1809: »Es ist so manches hineingelegt, das, wie ich hoffe, den Leser zu wiederhohlter Betrachtung auffordern wird« (Härtl Nr. 179, S. 58). Brief an Goethe, 16. Februar 1810. Härtl Nr. 331, S. 137f. Goethe in meinem Leben, 1809/10. Härtl Nr. 427, S. 208.
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Zeitpunkt gerade gelesen habe, kommt im Januar 1812 zu einem anderen Urteil: Das erste Mal verkümmerte mir Alles, was mir misfiel, den Genuß alles Dessen, was mir gefiel; doch hielt das Eine dem Andern ziemlich das Gleichgewicht; das zweite Mal gab ich mir alle Mühe, mich selbst zu täuschen und mir alles gefallen zu lassen. Das dritte Mal legte ich die Wahlverwandtschaften in die eine Wagschale und mein Ideal eines guten Romans in die andere, und siehe da, von dem ersten Augenblicke an, da die junge Heldin des Stücks erscheint, fing die Schale des Goethischen Romans an zu steigen, und stieg, mit wenigen Abwechselungen, immer höher, bis sie endlich an den Wagebalken anstieß und dort wie an einem künstlichen Magnet hängen blieb.25
Hier spricht natürlich kein unbefangener, naiver Leser, sondern ein professioneller Romanautor, der sein Verdikt an dieser Stelle vor allem poetologisch begründet: Der Text tauge als Romankunstwerk verstanden nichts. Wielands weitere Äußerungen in anderen Briefen spiegeln hingegen stärker sein persönliches Hin- und Hergerissensein von diesem »sonderbaren langweiligen u. anziehenden, geistvollen u. platten, widerlichen u. interessanten, vortreflichen und detestabeln Machwerk«26 – die Rezeptionswidersprüche finden sich bei ihm sogar in einer Person vereinigt.
II. Rezeptionsmedien Privatrezeption in Briefen Eine öffentliche Äußerung zu dem Roman seines Freundes wie Konkurrenten um den Posten des klassischen Nationalautors hat Wieland, wohl aus verständlichen Gründen, stets energisch abgelehnt. Aber auch insgesamt gesehen unterscheiden sich die privaten Äußerungen der Zeitgenossen in Briefen untereinander sowohl von denen in Briefen an den Autor – die teilweise halb-öffentlichen Charakter haben, da immer noch die Sitte bestand, Briefe weiterzugeben oder gar zu veröffentlichen – wie auch von den eigentlichen Rezensionen als institutionalisierter öffentlicher Meinung im engeren Sinne. Die privaten Äußerungen konzentrieren sich häufig auf die naheliegende Frage nach konkreten Vorbildern einzelner Figuren – eine beliebte Spekulation bis heute; daneben werden auch die Meriten und Schwächen einzelner Figuren, vor allem Ottiliens und Eduards, ausgiebig diskutiert.27 Darüber hinaus loben viele Leser in Privatbriefen die Lebensnähe und Erfahrungstiefe sowie
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Brief von Wieland an Karl August Böttiger, 13. Januar 1812. Härtl Nr. 455, S. 222. Brief von Wieland an Böttiger, 9. September 1810. Härtl Nr. 398, S. 168. Eine vergleichende Untersuchung zu den Äußerungen über die einzelnen Figuren wäre definitiv ein eigenes Thema, und das beinahe eher für die Psychologen als für die Literaturwissenschaftler. Weitere interessante Auswertungsfragen wären: weibliche vs. männliche Rezeption; Vergleich der Figuren mit anderen Romanfiguren Goethes bzw. der Romane untereinander; Rezeption im Ausland; Rezeption bei jungen und alten Lesern; Geschichte des »roten Fadens«.
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die damit verbundenen Identifikationsmöglichkeiten. Einige Beispiele: Therese Huber schreibt im Dezember 1809: »Nun? wem blickte denn der Mensch in’s Herz, in dem es grad wie in meinem innersten Herzen aussah?«28 Christian Gottlob Voigt teilt Goethe am 4. Oktober 1809 mit: Aber so ist es ja im Leben, und besonderes Leben sollte ja dargestellt werden. […] Itzt lieset meine Frau, alsdenn mein Sohn, der manche Erfahrung seines Lebens parallelisieren kann.29
Der Verleger Cotta spricht am 20. Oktober 1809 von einem »Schatz von Weisheit, ein wahres Lebensbuch«;30 und sogar Wieland gibt zu: Das Leben und Weben dieser Person[en] geht so natürlich an uns vorüber. Wir glauben sie spielend auftreten zu sehen, und ich gestehe Ihnen, meine Freundin, daß ich dieses wirklich schauerliche Werk nicht ohne warmen Antheil zu nehmen gelesen habe.31
Offensichtlich hängt jedoch die lebendige, emotionale Wirkung des Romans sehr stark vom verwendeten Lebensbegriff ab. So kritisiert der den Romantikern nahestehende Joseph Görres: Ich kann mich gar nicht gewöhnen ans gemeine Leben in der Poesie, weit eher an die Poesie im Leben, es kömmt mir Manches blos wie gebohnt und nicht geschnizt vor. Gar sauber ist aufgeräumt, und jedes an seinem Ort, es sind keine Kinder in der Haushaltung die Alles durcheinanderwürfen, und kleine Tümpelchen hineinpissten, alles wie bei einem alten Junggesellen, wo eine gleichfals etwas bejahrte Jungfer Ordnung hält.32
Ein ähnliches Argument verwendet auch Friedrich Schlegel, der ja Wilhelm Meisters Lehrjahre noch in den höchsten Tönen gelobt hatte. Nun befindet er in einer Rezension im Blick auf die Darstellung von Liebe und Ehe: [A]ber nur darum ist das Buch unsittlich und gemein, weil es nichts mehr als den gemeinen Gang und Lauf eben dieser streng urtheilenden, aber nach alter Gewohnheit leicht und leichtsinnig handelnden Welt mit so vieler Kraft als Kunst darstellt.33
Insgesamt kann man damit mindestens drei Verwendungen des Lebens-Begriffs bei der Bewertung des Romans unterscheiden. Für die »dilettantische«, unbefangene Privatlektüre hängt die Lebendigkeit des Textes stark an den Übertragungsmöglichkeiten: Stellt er reale Personen dar, die vielleicht gar ein Vorbild haben, oder bietet er wenigstens attraktive Identifikationsmöglichkeiten? Enthält er Maximen, die in der allgemeinen Lebensgestaltung von Nutzen sind, hat er Lebensweisheit? Für Leser aus dem Umkreis der Romantik ist
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Brief von Therese Huber an Karl Leonhard Reinhold, 14. Dezember 1809. Härtl Nr. 272, S. 85. Härtl Nr. 190, S. 61. Brief von Cotta an Charlotte von Schiller, 20. Oktober 1809. Härtl Nr. 206, S. 64. Brief von Wieland an Unbekannt, 1809/10. Härtl Nr. 424, S. 204. Brief von Görres an Achim von Arnim, 1. Januar 1810. Härtl Nr. 292, S. 107. Über Liebe und Ehe in Beziehung auf Goethe’s ›Wahlverwandtschaften‹, 21. Mai 1810. Härtl Nr. 374, S. 157.
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hingegen gerade diese Art von Lebensnähe fatal; im Begriff des »gemeinen Lebens« konzentrieren sie ihre Vorwürfe an einen Text, der ihnen nicht genug Idealisierungspotential zu haben scheint. Goethes Intentionen am nächsten kommen hingegen wohl jene Leser, die die Lebendigkeit des Textes an seinem Naturkonzept festmachen und beim Lesen direkt erleben. So verwendet Sieveking bei der Beschreibung des Textes einen organizistischen Lebensbegriff, der sicherlich – auch in der anschaulichen Formulierung – Goethes Zustimmung gefunden hätte: Und dann, wie so alles darin in Bewegung ist, wie sich der Hintergrund gleichmäßig mit bereitet und verändert, wie die Leute sich ihre Landschaft schaffen, ihr Haus bauen so wie ihr Grab. So durch und durch angehaucht und organisiert, daß man ordentlich scheu wird vor alle dem wimmelnden Leben darin.34
Gegenüber der Diskussion von Lebensnähe oder -ferne, »gemeinem« oder »symbolischem« Leben, spielt der Vorwurf der mangelnden Sittlichkeit35 übrigens gar keine so große Rolle in der eher privaten Rezeption, wohingegen beispielsweise der von Goethe etwas lakonisch behandelte Tod des Kindes, das »wie ein Hund«36 sterbe, vielfach bemängelt wird (nicht nur von Müttern, die aber am meisten darunter leiden).37 Natürlich wird vereinzelt Unwillen an der zweifelhaften Moralität des Inhalts geäußert, prominent von Wieland, teilweise besonders von weiblichen Lesern (aber nicht überwiegend). Die stärkste Kritik am »doppelten Ehebruch« kommt bekanntermaßen aus dem religiös geprägten Umkreis der Brüder Jacobi; Friedrich Heinrich Jacobi schreibt am 12. Januar 1810: Die zwiefache Aehnlichkeit des Kindes und ihre Ursache, hat uns im höchsten Grade empört, und diese Angelegenheit ist doch die Seele des Buchs. […] Dieses Göthesche Werk ist durch und durch materialistisch oder, wie Schelling sich ausdrückt, rein physiologisch. Was mich vollends empört, ist die scheinbare Verwandlung am Ende der Fleischlichkeit in Geistlichkeit, man dürfte sagen: die Himmelfahrt der bösen Lust.38
Jacobi kritisiert hier, bezeichnenderweise in religiösen Termini, gerade das von Goethe in der Selbstanzeige verteidigte Verhältnis von trüber »Nothwendigkeit« und der vermeintlichen Vernunft-Freiheit des Individuums: Für Jacobi ist es völlig klar, dass »Fleischlichkeit« und »böse Lust« verwerfliche niedere Antriebe der menschlichen Natur sind und niemals durch eben diese Natürlich-
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Brief von Karl Sieveking an Johanna Margaretha Sieveking, Dezember 1809. Härtl Nr. 274, S. 86. Vgl. ausführlicher zu den Varianten moralischer Verurteilung Tantillo, Goethe’s ›Elective Affi nities‹ (Anm. 6), S. 8f. Brief von Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, 3. Dezember 1809. Härtl Nr. 268, S. 85 (Grimm zitiert eine Formulierung von Steffens). Vgl. z.B. Brief von Johanna Frommann an Friedrich Frommann, 18. Oktober 1809: »Wie hat mich die Stelle ergriffen, wo das Kind ins Wasser fällt und der Ruf des Schicksals, den man lange vernommen, immer deutlicher wird!« (Härtl Nr. 204, S. 64); sowie Härtl Nr. 222, S. 69; Nr. 230 und 231, S. 73; Nr. 268, S. 85; Nr. 281, S. 88; Nr. 293, S. 108. Brief an Friedrich Köppen. Härtl Nr. 305, S. 113.
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keit gerechtfertigt, geschweige denn nobilitiert werden können. Demgegenüber bringt Jean Paul das komplexe Verhältnis von Realität und Idealität in den Wahlverwandtschaften in eine ungleich originellere dialektische Formel. Am 24. März 1810 schreibt er an Knebel, im Anschluss an eine Verteidigung des Romans gegenüber einer negativen Rezension: »ob mir gleich auch das ideale Ehebrechen darin nicht gefällt. Reelles wäre viel sittlicher«.39 Rezensionen in Zeitschriften Während sich also die private Rezeption in den Briefen vor allem an den Problemen abarbeitet, die eine primär identifikatorische, ideologische oder moralische Lektüre aufwirft, konzentrieren sich die meisten Rezensionen auf Fragen der künstlerischen Gestaltung. Dabei leidet die öffentliche Rezensionstätigkeit zunächst darunter, dass sich niemand so recht traut, das neueste Skandalwerk des bereits als olympisch wahrgenommenen Klassikers zu bewerten; so rechtfertigt beispielsweise Johann Heinrich Voß seine Ablehnung des Rezensionsangebots von Cotta: »Mir war als sollte ich die Welt recensiren; und ich bin noch zufrieden, dass ich es abgeschlagen habe. Entweder meisterhaft oder gar nicht«.40 Goethe hingegen versuchte anfangs, seine Publikumsabneigung zu kanalisieren, indem er ihm gefällige Rezensenten vorschlug.41 Zunächst äußerte er gegenüber Eichstädt, dem Redakteur der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung, den Wunsch, der Roman solle von dem Leipziger Musik- und Literaturkritiker Johann Friedrich Rochlitz besprochen werden. Eichstädt leitet diesen Wunsch am 25. Oktober 1809 an Rochlitz weiter. Dieser wendet sich daraufhin mit einem ausführlichen Brief an Goethe, in dem er eine äußerst positive Einschätzung wiedergibt (dazu unten ausführlicher), jedoch eine Rezension ablehnt, da er zeitlich zu sehr von seiner Verlobung in Anspruch genommen sei.42 Goethe übersendet den Brief postwendend an Eichstädt mit der Bitte: Könnten Sie nicht daraus eine kurze Anzeige dieses Werkchens redigiren? Denn wozu bedarf es denn ausführlicher, motivirter und theoretischer Recensionen über ein Büchelchen, das in Jedermanns Hände kommt und das gewöhnlich theilweise getadelt und theilweise gelobt wird. Der Einsichtigere mag im Ganzen darüber denken und sagen was er will.43
Rochlitz erhebt jedoch auch dagegen Einspruch,44 so dass Goethe schließlich seiner prinzipiellen Rezensionsfeindschaft wieder stärker freien Lauf läßt: 39 40 41 42 43 44
Brief an Karl Ludwig von Knebel. Härtl Nr. 352, S. 151. Brief von Voß an Goethe, 26. November 1809. Härtl Nr. 261, S. 82. Vgl. zu Goethes Versuchen der Rezeptionssteuerung auch Tantillo, Goethe’s ›Elective Affi nities‹ (Anm. 6), S. 5. Rochlitz heiratete erst am 23. Februar 1810 seine Jugendliebe, die verwitwete Henriette Winkler geb. Hansen. Brief von Goethe an Heinrich Karl Abraham Eichstädt, 22. November 1809. Härtl Nr. 251, S. 80. In einem Brief vom 7. November 1809 – also zwei Tage, nachdem er seine Eloge an Goethe verfasst hatte – zeigte er sich im Übrigen gegenüber Böttiger wesentlich kritischer:
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Unter diesen Umständen gestehe ich meinen aufrichtigen Wunsch, daß eine Recension vorerst unterbleiben möge. Ein Buch das in aller gebildeten Menschen Hände kommt und von jedem nach seiner Weise beurtheilt wird, bringt ein literarisches Institut vielleicht am besten später zur Sprache, und recapitulirt und rectificirt mit Ernst und Einsicht die bisherigen schwankenden Urtheile.45
In der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung erscheint schließlich im Januar 1810 eine wenig aussagekräftige, insgesamt positive Rezension von Johann Friedrich Delbrück. Goethe versucht kurz darauf ein zweites Mal, die öffentliche Debatte zu beeinflussen. Ebenfalls im Januar 1810 war eine Rezension von Bernhard Rudolf Abeken46 in Cottas Morgenblatt in Tübingen erschienen (zum Inhalt auch hier später). Johann Diederich Gries wendet sich daraufhin am 23. März an Abeken und berichtet: Goethe hatte Ihren Aufsatz schon im Morgenblatt gelesen und gleich damals seine grosse Zufriedenheit darüber geäussert. Diess brachte Riemern auf den Gedanken, ihn hier von Frommann nachdrucken zu lassen, um, wie er sagte, Goethen eine angenehme Ueberraschung zu machen. Es gehe fast kein Tag hin, wo Goethen oder ihm nicht etwas über die Wahlverwandtschaften gesagt oder geschrieben werde, und meistens sehr abgeschmacktes Zeug. Um nun nicht immer dasselbe wiederholen zu müssen, habe er diesen Nachdruck veranstaltet. So geht nun Ihr Aufsatz, der durch des Meisters Siegel und Unterschrift gleichsam Gesetzeskraft erhalten hat und völlig wie eine interpretatio authentica anzusehen ist, in alle Welt, um die Heiden zu bekehren.47
Goethe war also offensichtlich sehr daran gelegen, autorisierte Deutungen in Umlauf zu bringen, um die allgemeine, schwankende Stimmungslage zu beeinflussen. Gleichwohl sollte man seine oben zitierte prinzipielle Argumentation gegen »ausführliche, motivirte und theoretische Recensionen« von Romanen – die gezielt als »Büchelchen« in ihrem Geltungsanspruch herabgesetzt werden – nicht einfach als Rückzugsstrategie eines bekanntermaßen besonders mimosenhaften Autors abtun. Für Goethe war es nur natürlich, dass ein so eigenwilliges und regelloses Kunstwerk wie der Roman widersprüchliche Ansichten im Publikum hervorrufen muss, »von jedem nach seiner Weise« beurteilt wird; das ist durchaus konsistent mit seiner häufig geäußerten Abneigung gegen die Willkür notwendig idiosynkratischer individueller Meinungen. Demgegenüber sollte eine Rezension für Goethe, am besten aus einer gewissen historischen Distanz, die anfangs notwendig widersprüchlichen Urteile gleichsam wissenschaftlich »rekapitulieren« und »rektifizieren«, und zwar möglichst im Sinne der Intention des Autors.48
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»Wollte man das Werk nun streng und unfreundlich, ein Mach- und Fachwerk nennen, so würde man das wohl geschehen lassen müssen; aber zuzugestehn wäre es dann auch, daß es unter diesen Produkten, im Ganzen achtungswerth, im Einzelnen vortrefflich sei« (Härtl Nr. 224, S. 71). Brief von Goethe an Eichstädt, 25. November 1809. Härtl Nr. 260, S. 82. Abeken betätigte sich als Theologe, Philosoph, Lehrer und Direktor des Domgymnasiums in Osnabrück (vgl. Tantillo, Goethe’s ›Elective Affi nities‹ (Anm. 6), S. 29f.). Brief von Gries an Abeken. Härtl Nr. 351, S. 150. Von der »eigentlich intentionirten Gestalt« spricht Goethe explizit: vgl. den Brief an Zelter vom 26. August 1809. Härtl Nr. 124, S. 48.
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Interessanterweise entwickelte sich die Rezeption der Wahlverwandtschaften über die Jahre hinweg durchaus in diese Richtung. So erscheinen beispielsweise zur zweiten Auflage 1814 und noch 1817 Rezensionen, die sich vergleichend und resümierend auf ihre Vorgänger beziehen und damit selbst die Rezeptionsgeschichte reflektieren.49 Danach mündet die Auseinandersetzung schließlich insgesamt in die aufgrund gewachsener zeitlicher Distanz tendenziell objektiveren Darstellungen in Lexikonartikeln und allgemeinen Literaturgeschichten. Dass Goethe jedoch mit seiner prinzipiellen Ablehnung von Rezensionen belletristischer Literatur nicht ganz allein dasteht, zeigt eine Äußerung Wilhelm Grimms, der es gerade als ein Qualitätsmerkmal eines »großen Geistes« ansieht, »daß seine Werke so verschiedenartige Urteile erzeugen und unendliche Ansichten zulassen«.50 Gleichzeitig demonstriere jedoch der kontroverse Rezeptionsprozess – nicht nur der Wahlverwandtschaften – auch, »wie unzulässig ein Urteil über ein geistreiches Werk«51 sei.
III. Rezeptionsmuster und -themen Autorisierte Rezensionen Insgesamt existieren drei von Goethe durch lobende Erwähnungen autorisierte Romandeutungen;52 die oben bereits erwähnten von Rochlitz und Abeken sowie ein weiterer, nicht veröffentlichter Aufsatz des Ästhetikers Karl Wilhelm Ferdinand Solger. Rochlitz hatte zunächst besonders die kompositorische Anlage des Romans gelobt: Ich bewundere den so leise, aber so bestimmt in allen seinen Linien angelegten Plan: ich bewundere jedoch noch mehr die Umsicht, die Klarheit und die Ausdauer in der Ausführung dieses Plans bis ins kleinste. Die Begebenheiten, die Charaktere, die Situationen, selbst die Scene, worauf sich jedes zeigt – alles ist in reiner Harmonie und würkt mithin vollkommen Eins und dasselbe. So sehr die Ausbeugungen, betrachtet man sie einzeln für sich, diesem zu widersprechen scheinen, so sehr bestätigen sie es, siehet man sie im Ganzen und aus dem Ganzen an. Dieser innere Zusammenhang macht es, daß man lesend sich nicht zu lesen scheint, sondern zu leben, nicht zu denken, sondern zu handeln, mit einzugreifen, mit zu blühen und mit zu vergehen.53
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Vgl. z.B. die Rezension von Johann Friedrich Ferdinand Delbrück in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, 18./19. Januar 1810 (Härtl Nr. 309); den anonymen Beitrag: Über die Rezension von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ im Morgenblatt, 14. Juli 1810 (Härtl Nr. 386); Böttigers Beitrag in der Bibliothek der redenden und bildenden Künste, 1810 (Härtl Nr. 420); die Rezension von Adolph Wagner in den Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur, 1814 (Härtl Nr. 473). Brief an Jacob Grimm, 22. November 1809. Härtl Nr. 254, S. 80. Ebenda. Vgl. dazu auch Tantillo, die darauf hinweist, dass jede dieser quasi-autorisierten Interpretationen eine eigene kanonische Lesart des Romans initiierte (Goethe’s ›Elective Affi nities‹ [Anm. 6], S. 27). Brief von Johann Friedrich Rochlitz an Goethe, 5. November 1809. Härtl Nr. 222, S. 68.
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Neben mehreren Standardformulierungen des klassizistischen Lobpreises taucht auch hier wieder der Topos der organischen Lektüre auf (»daß man lesend sich nicht zu lesen scheint, sondern zu leben«, »mit zu blühen und mit zu vergehen«); ebenso die Anerkennung der im Werk enthaltenen »Summe ächter Lebensweisheit«.54 Besonders gepriesen wird schließlich die singuläre sprachliche Vollendung, die »klassische Gediegenheit, Rundung, Sicherheit und Harmonie«;55 aber auch der außerliterarische »Adel der Gesinnung, die Reinheit der außerpoetischen Absicht«.56 Rochlitz vermag also durchaus eine höhere moralische Bedeutung im Sinne des Autors zu erkennen. Der zweite von Goethe gebilligte Rezensent, Abeken, konzentriert sich hingegen auf die Beziehung des Romans zur Naturlehre, wie sie vor allem im Titelgleichnis ausgedrückt werde: Wenigstens liegt der Gedanke einer natürlichen Verwandtschaft, wenn auch dunkel, dem zu Grunde, was von Sympathie geredet wird. […] Dasselbe Thema finden wir in den Wahlverwandtschaften; aber wie anders behandelt! wie klar bis in die tiefsten Geheimnisse, wie selbstständig und voll innern heiligen Lebens liegt es vor uns da! – Hier sehen wir, wie dieselben ewigen Gesetze, die in dem walten, was wir Natur nennen, auch über den Menschen ihre Herrschaft üben und ihm oft mit unwiderstehlicher Strenge gebieten; wie es eine, nur gesteigerte, Kraft ist, die leblose Stoffe zu einander zwingt und diesen Menschen zu einem andern zieht.57
Hier findet sich also der extreme Gegenpol zu Jacobis Materialismus-Kritik (»voll innern heiligen Lebens« statt »durch und durch materialistisch«), der ganz offenbar in einem anderen Weltbild im Allgemeinen und Naturbild im Speziellen wurzelt: Während für Jacobi die Welt dualistisch in zwei Hälften mit je eigenen Gesetzen zerfällt – eine minderwertige materielle und eine höherwertige ideelle –, sieht Abeken, wie Goethe selbst, nur eine Natur am Werke, deren Gesetzen alles Lebendige ohne Ausnahme unterliegt. Diese Naturgesetze sind aber dadurch, dass sie letztlich von Gott kommen, nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar »geheiligt«. Die Materialismus-Gefahr sieht Abeken dabei durchaus: Was hat die neuere Naturlehre, obgleich sie erst ihre großen Entdeckungen verbreitet, nicht für Wunder an’s Licht gebracht? [… ] Ist nicht wol Manchem das alte Gespenst des Materialismus wieder erschienen? – Da ist es gut, wenn der Mensch überzeugend auf eine Kraft in seinem Innern aufmerksam gemacht wird, die über die Natur erhaben ist, die ihn zum Herrn der Welt macht.58
Der Mensch ist also, obwohl er prinzipiell den Gesetzen der Natur untersteht, für Abeken fähig, diese Abhängigkeit zu transzendieren, ohne ihr jemals ganz zu entkommen; gerade im Widerstand gegen die »trübe Nothwendigkeit« der Naturgesetze zeige sich seine, in der klassischen Formel gesprochen, Erhaben54 55 56 57 58
Ebenda, S. 69. Ebenda. Ebenda. Abeken, Ueber Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, 22.–24. Januar 1810. Härtl Nr. 310, S. 122. Ebenda, S. 126.
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heit als »Herr der Welt«. Mit Ottilie siegt dementsprechend für ihn nicht die von Jacobi kritisierte »Himmelfahrt der bösen Lust«, sondern »eine Heilige, die sich kühn unter die Herrlichsten stellen kann«.59 Die dritte quasi-autorisierte Deutung von Solger60 schließlich rückt vor allem das Zeitgemäße des Romans ins Zentrum, und zwar in verschiedener Hinsicht. So zeige der Roman besonders anschaulich die Aufwertung der Individualität gegenüber dem Gattungsbegriff ›Menschheit‹ in der modernen Welt; der tragische Roman gar, wie die Wahlverwandtschaften, löse deshalb das Epos ab und sei der »Gipfel der heutigen Kunst«.61 Dabei gehe das tragische Verhängnis im Roman von der zunehmenden Einseitigkeit der Figuren, vor allem Eduards, aus.62 Zum Zeitgemäßen gehörten darüber hinaus aber auch alle Diskurse und Themen, die Goethe aufgreife und darstelle: In diesem Roman ist, wie im alten Epos, alles was die Zeit Bedeutendes und Besonderes hat, enthalten, und nach einigen Jahrhunderten würde man sich hieraus ein vollkommenes Bild von unserm jetzigen täglichen Leben entwerfen können.63
Schließlich rechtfertigt Solger auch die von vielen Lesern als langweilig und poetisch wenig integriert empfundenen Reflexionen in Ottilies Tagebuch: Ja diese Reflexionen sind eigentlich das wahre Leben, das wir führen, insofern wir uns über das ganz Gemeine und Sinnliche erheben. […] Diese Reflexionen sind das Element, worin das Einzelne athmet, sie sind das Accompagnement zu den Arien der Begebenheiten und Handlungen. Wer aber nicht einen Sinn hat, gebildet für Göthe und durch ihn, der wird sie ohne Zweifel sehr langweilig finden.64
Solger führt damit eine exemplarische Lektüre des Textes als modernen Romans des 19. Jahrhunderts vor; Abeken eine Rechtfertigung des Verhältnisses von Naturlehre und Sittenlehre. Rochlitz’ Brief hatte demgegenüber den Prototyp der klassizistischen Lektüre vorgegeben, der in vielfacher Abwandlung auch bei anderen Rezensenten und Lesern auftaucht (s.u.). Geradezu dessen Negativfolie ist der einzige Verriss im Vollsinn des Wortes. August Wilhelm Rehberg65 wirft dem Roman in der Hallischen Allgemeinen Literatur-Zeitung
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Ebenda. Solger war romantischer Philosoph und Philologe, spezialisiert auf griechisches Drama; er hatte bei Schelling in Jena studiert und erhielt eine Professorenstelle in Berlin auf Vermittlung Hegels (vgl. Tantillo, Goethe’s ›Elective Affi nities‹ [Anm. 6], S. 33). Vgl. zur Autorisation Goethes das Gespräch mit Eckermann, 21. Januar 1827: »Dieser Aufsatz […] ist schon im Jahre 1809 geschrieben, und es hätte mich damals freuen können, ein so gutes Wort über die Wahlverwandtschaften zu hören, während man in jener Zeit und später mir eben nicht viel Angenehmes über jenen Roman erzeigte« (Härtl Nr. 536, S. 326). Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Über die ›Wahlverwandtschaften‹, 1809/10. Härtl Nr. 421, S. 200. Ebenda. Ebenda, S. 201. Ebenda, S. 202. Tantillo verweist darauf, dass die Rezension des konservativen Politikers und Schriftstellers Rehberg eine »long line of conservative opposition to Goethe« (Tantillo, Goethe’s ›Elective Affi nities‹ [Anm. 6], S. 13) eröffne und schon vor dem Hintergrund von Goe-
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zu Beginn des Jahres 1810 gerade die Zeitgemäßheit vor, die Solger so gelobt hatte: »In den Wahlverwandtschaften finden sich unsre Zeitgenossen überall zu Hause«.66 Zudem seien die Figuren eben nicht lebensnah, was sich besonders in ihrer einheitlichen »Büchersprache«67 äußere. Die häufig gelobten Details seien nicht scharf genug gezeichnet; 68 die Leitmotive nur alberne Verzierungen; die eingefügten Dialoge und Reflexionen ein Zugeständnis an modische Zeitthemen: Für den Liebhaber der Chemie kommt die Bleyglasur vor; die ehrliche Hausfrau sogar lieset mit inniger Freude die unerwartete Bestätigung ihrer Beobachtung, daß frisch gepacktes Zeug weniger Platz einnimmt, als aus einander gezerrtes.69
Schließlich gerate der Versuch einer tragischen Wendung eher lächerlich: Ottilie versinkt in Schwermuth darüber, daß sie ihre (wie sichs gehört, wenig motivirte) Liebe nicht überwinden kann, und doch nicht befriedigen mag […]. Sie verhungert absichtlich. Baron Laps möchte gern auch dieses Todes sterben, findet aber, daß auch dazu Genie gehört, und wird vom Vf. aus Mitleid todtgeschlagen. […] Wie kann man aus solchen Geschöpfen eine Tragödie machen!70
Und mit besonderer Tücke lobt Rehberg am Schluss gerade die Unsittlichkeit des Textes: Einzig wohlgeraten sei nämlich die Darstellung des doppelten Ehebruchs als »lüsterne Reminiscenz«, die »mit dem Pinsel des Meisters gemalt« sei.71 Modische Anpassung statt Aktualität, Langeweile statt Fülle, Büchersprache statt lebendiger Charaktere, Lächerlichkeit statt Tragik, belanglose Ornamentik statt tiefgründiger Symbolik –mit einer reichlichen Portion Polemik wendet Rehberg die Lobesformeln der Kritik ins Negative. Nicht nur die Leser aus Goethes persönlichem Umfeld sind empört; von der »Hallischen Schweinerey« spricht Savigny,72 von »tiefster Niedrigkeit« Passow,73 und Voigt bekundet, nicht ganz zu Unrecht: »In solcher Manier kann man Alles tadeln, verkleinern, ja lächerlich machen«.74 Demgegenüber grenzen sich mehrere der
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thes absteigender Popularität in den letzten beiden Lebensjahrzehnten zu sehen sei. Sie skizziert des Weiteren auch ausführlich die allgemeinen öffentlichen Debatten, die im Anschluss an die Rezension geführt wurden (ebenda, S. 18ff.). Rehberg, ›Die Wahlverwandtschaften‹. Ein Roman von Goethe, 1. Januar 1810. Härtl Nr. 291, S. 105. Ebenda, S. 104. Sein Kontrastbeispiel ist bezeichnenderweise ein aufklärerisch-pragmatischer Dialogroman: Johann Jakob Engels Lorenz Stark (ebenda). Ebenda, S. 106. Ebenda, S. 105. Ebenda, S. 106. Brief von Friedrich Karl von Savigny an Clemens Brentano, 27. Februar 1810. Härtl Nr. 340, S. 140. Brief von Passow an Ernst Breem, 14. Juni 1810. Härtl Nr. 376, S. 158. Brief von Voigt an Böttiger, 8. Februar 1810. Härtl Nr. 324, S. 136. Vgl. auch Henriette von Knebel: »Es ist mir verdrießlich, daß man einen Roman so hart und grob rezensiren kann« (Brief an Karl Ludwig von Knebel, 7. Februar 1810. Härtl Nr. 321, S. 129).
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folgenden Rezensionen explizit von der Hallischen Polemik ab75 und versuchen betont, wieder zur Sachlichkeit zurückzukehren.76 Ich kann diese Rezensionen nicht im Einzelnen wiedergeben, sondern werde sie im Folgenden bei der Herausarbeitung der Rezeptionsmuster einschließen. Rezeptionsmuster: Klassizität als Norm Sowohl in vielen privaten Äußerungen als auch in den Rezensionen wird der Roman als klassischer Mustertext rezipiert, und zwar vor allem in dreierlei Hinsicht: bezüglich seiner sprachlichen, stilistischen und kompositorischen Gestalt (a); bezüglich des Verhältnisses von Realität und Idealität, von »gemeinem« und »idealem« Leben (b); und bezüglich seines tragischen Gehalts (c). a. Formgestalt Zunächst ist auffällig, wie oft den Wahlverwandtschaften explizit Klassizität attestiert wird. Karl Philipp Conz, Jugendfreund Schillers und Professor in Tübingen, spricht in seiner Rezension von einem »anziehenden klassischen Werk«,77 Rochlitz von der »klassischen Gediegenheit«,78 Passow von »klassischer Vollendung«,79 Welcker von »klassischer Klarheit und Leichtigkeit«.80 Unmittelbar mit dieser höchsten Form der Wertschätzung verbunden sind die Attribute von Vollkommenheit und Vollendung,81 Einfachheit, Reinheit, Leichtigkeit bei gleichzeitiger Lebensfülle und Reichtum an Details; ein Beispiel für viele, noch einmal aus der Rezension von Conz:
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Vgl. z.B. die anonyme Rezension im Morgenblatt, 14. Juli 1810: »Der Rec. begreift doch in der That von einem Dichter- und Künstlerleben, wie Goethes war und ist, so viel als gar nichts; nichts von der allmählichen Bildung und Modifikation eines solchen Geistes und Gemüths« (Härtl Nr. 386, S. 162). Einige beschränken sich angesichts der sehr kontroversen Stimmung im Publikum und der hochgekochten Leidenschaften auf eine mehr oder weniger kommentierte Wiedergabe des Inhalts; vgl. z.B. die anonyme Rezension in der Neuen oberdeutschen allgemeinen Literatur-Zeitung, 7./8. Februar 1810 (Härtl Nr. 323), Bartholdys Rezension im Österreichischen Beobachter, 23. März 1810 (Härtl Nr. 349), oder Böttigers Rezension in der Bibliothek der redenden und bildenden Künste, 1810 (Härtl Nr. 420). Conz, Briefe über den neuen Goethe’schen Roman: ›Die Wahlverwandtschaften‹, 25.– 28. Dezember 1809. Härtl Nr. 285, S. 90. Auch Conz weist im Übrigen darauf hin, weisungsgemäß mehrfach gelesen zu haben: »[I]ch gebe Ihnen die reinen Resultate meines Nachdenkens über dies anziehende klassische Werk, wie sich dieselben bey mir, aus den ursprünglichen Eindrücken und Empfindungen hervor, nach einer zweymaligen Lesung gebildet« (ebenda). Brief von Rochlitz an Goethe, 5. November 1809. Härtl Nr. 222, S. 69. Briefe von Passow an Ernst Breem und Karl Ludwig von Knebel, 8./11. November 1809. Härtl Nr. 227 und 228, S. 72. Brief von Friedrich Gottlieb Welcker an Caroline von Humboldt, 21. Dezember 1809. Härtl Nr. 280, S. 87. Vgl. auch Briefe von Passow an Breem und Knebel, 8./11. November 1809. Härtl Nr. 227 und 228, S. 72; Brief von Barthold Georg Niebuhr an Dore Hensler, 15. November 1809. Härtl Nr. 237, S. 75.
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[D]ie hohe Simplicität wie in der Anlage, so in der Ausführung, ist die ergreifende Wahrheit seiner Gemählde und Gestalten, und in der Lebendigkeit und Fülle die Tiefe, deren keine die andere verbirgt.82
Besonders hervorgehoben wird schließlich, auch dies ein Kernbestandteil der Klassik-Doktrin, die Harmonie, die sich aus dem Verhältnis der Teile zu dem Ganzen sowie der Proportionalität der Teile untereinander ergibt und in der »Ebenmäßigkeit« und »Rundung« des Textes anschaulich wird; auch hier ein Beispiel für viele, ein Brief von Niebuhr vom 15. November 1809: Es ist hier in der Form der ganzen Geschichte völlige Vollendung, alle Umrisse ganz rein, und dabei frei, alles ineinander verschmolzen, bei einem großen Reichtum von Figuren nicht nur alle unter sich, wie an sich, im höchsten Ebenmaß, auch alle bedeutend, keine überflüssig, oder auch nur unvollkommen mit dem Ganzen verbunden. Das Ganze ist eher da als die einzelnen Teile, wie im Leben, es ist keine Zusammenfügung starrer und nur gebändigter Stoffe.83
Doch auch bezüglich der Klassizität finden sich einige Gegenstimmen. So kann die vielgerühmte Vollendung auch als allzu große Konstruiertheit bewertet werden, als leere und kalte Demonstration von Virtuosität; so beispielsweise der kritische Görres – »Die allzu große Absichtlichkeit in allen Anlagen hat mich auch gestört«84 –, aber auch der Goethe ja prinzipiell wohlwollende Abeken schreibt im Rückblick: wie denn in diesem Roman so unendlich Vieles symbolisch zu fassen ist. Jedes Wort ist in ihm überlegt, und diese unendliche Absichtlichkeit macht mir ihn jetzt einigermaßen drückend, da dieselbe vor 47 Jahren mich anzog, ja entzückte.85
Ebenso kann die häufig gelobte Gestaltung von Details im Roman kritisch zum Mangel im Gesamteindruck gegengerechnet werden, so beispielsweise bei Friedrich Schlegel, aber auch wiederholt bei Wieland: als Composition betrachtet, ein desto tadelhafteres Kunstwerk, weil diese Nebensachen im Grunde doch das Beste des Ganzen sind.86
Ein entschiedenes Plädoyer gegen die Klassizität sowohl des Werkes wie auch des Autors an sich findet sich schließlich bei Friedrich Müller, genannt Maler Müller, zu Sturm-und-Drang-Zeiten noch ein Freund Goethes, späterhin jedoch mit dem Klassiker überworfen: Seine Kräfte stehen unproportionirt, ja mangelhaft gegen einander, weßwegen er schwerlich auch ein ächt dichterisches Ganze, worin Alles, was zu einer hohen und lebendigen Darstellung, zu einem ideellen Wahren nöthig ist, gleich harmonisch und voll zusammenwirkend, einbegriffen sich zeigt, fassen kann. […] daher dann, daß wir in der Tendenz der meisten seiner Produkten, besonders aber bei
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Conz, Briefe. Härtl Nr. 285, S. 91. Brief an Dore Hensler, 15. November 1809. Härtl Nr. 237, S. 75. Brief von Görres an Achim von Arnim, 1. Januar 1810. Härtl Nr. 292, S. 107. Abeken, Goethe in meinem Leben, 1809/10. Härtl Nr. 427, S. 210. Brief von Wieland an Elisabeth Gräfin von Solms-Laubach, 15. Juni 1810. Härtl Nr. 377, S. 159.
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den lezteren des Annähern zu einem schweren Materialismus gewahr werden, um das simpathetische bei der Zusammensetzung der thierischen Naturen poetisch aufzudecken, ohne hiebei hinlänglich auf die Bedürfnisse des Geistes nach seiner höheren moralischen Würde Rücksicht zu nehmen.87
b. Realität und Idealität, Moralität In den Zitaten zeigt sich, in welch engem Zusammenhang die formalen Kriterien der Klassizität mit dem eigentlichen Inhalt des Romans, aber auch der Person des Autors stehen: Maler Müller wirft Goethe, ähnlich wie die bereits zitierten romantischen Kritiker, nicht nur eine mangelhafte Gestaltungsleistung vor, sondern begründet diese aus einer ideologischen Fehlhaltung des Autors heraus, nämlich des überhand nehmenden Materialismus, der den klassischen Gleichgewichtsanspruch gefährde. Aus so niederen Quellen könne letztendlich kein Idealismus der »höheren moralischen Würde« zustande kommen. Demgegenüber machen die Verteidiger Goethes wiederum die besondere, in der Lektüre direkt erfahrbare Lebendigkeit des Textes geltend, die auch die spezifische Vereinigung von Realität und Idealität entsprechend der KlassikDoktrin garantiere. Konzentriert findet sich diese Wertung beispielsweise in der erwähnten Rezension von Conz: So gewähren sie uns den Anblick der Doppelseite des Lebens und der Welt, der wirklichen und idealischen, und lösen das oft bestrittene Problem der Kunst, ob Wirklichkeit, ob Idee ihre Heimath, oder vielleicht, wie es denn auch ist, nicht gerade ihr Gebiet in beyden, und ihr Triumph die Vereinigung und Durchdringung beyder sey.88
Auch eine spätere Rezension, mutmaßlich von Adolph Wagner anlässlich der zweiten Auflage der Wahlverwandtschaften für die Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur im Jahr 1814 verfasst, argumentiert gegen die Romantiker mit der höheren Wahrheit und Lebendigkeit des Romans trotz seines alltäglichen Inhalts: Einige nämlich behaupten doch die Meinung, das Wahre der Poesie bestehe in einer phantastischen Erfindung und Einkleidung. Andere verlangen zur Poesie den sogenannten pathetischen Ausdruck voll Sehnsucht nach dem Idealen und schimmernden Kraftsprüchen. Beyde müssen ein solches Werk bürgerlich, wohl gar prosaisch finden, jene in dem vornehmen Glauben, daß die Poesie sich auf gewisse Sphären des Lebens beschränke, – vielleicht auf den Orden reisender Romantiker; – diese, weil ihre unendliche Sehnsucht – nach Worten hier nicht befriedigt wird. […] Sie haben keine Ahnung davon, daß jede Kunstidee ihre eigenthümliche Gestaltung verlange, wenn sie als etwas Lebendiges und Selbstständiges erfreuen soll.89
Goethes Roman kann also auch deshalb, nach den Argumenten seiner Verteidiger, für die Klassik-Doktrin in Anspruch genommen werden, weil er ein 87 88 89
Brief von Friedrich Müller an Philipp Anton Batt, 25. September 1810. Härtl Nr. 400, S. 169. Conz, Briefe. Härtl Nr. 285, S. 91. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Ein Roman von Göthe. Härtl Nr. 473, S. 231.
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individuelles, gestalthaftes Gleichgewicht von Realität und Idealität, Leben und Kunst findet. Daraus resultiert auch seine übergeordnete Moralität, die unabhängig von der sittlichen Bewertung einzelner Szenen oder Figuren ist. Dazu noch einmal Adolph Wagner, der sich explizit mit den dominanten Missverständnissen der Rezeptionsgeschichte auseinandersetzt, also bereits Goethes Forderung nach einer geordneten Reflexion der unterschiedlichen Ersturteile entspricht: Ein fataler Fehler früherer Rezensenten sei es gewesen zu glauben, alles eigentlich Schöne, mithin auch ein solches Kunstwerk, müsse eine moralische Tendenz haben, oder wohl gar nach moralischen Principien gebildet seyn. […] Wofern aber das wahre Leben wirklich in ihm waltet, d. h. wofern ihm vergönnt ist, das Wesen der Dinge und die ewige Harmonie der Welt im klaren Blicke zu schauen, und die Kraft im klaren Bilde es darzustellen, so wird auch sein Werk nothwendig sittlich erscheinen müssen, wie das Werk, welches die Natur hervorbringt, nie unsittlich genannt werden kann.90
Auch für Wagner gründen damit die Moralität des Textes sowie seine ästhetische Qualität direkt in Goethes Naturkonzept. Dieses erweist sich in der Rezeptionsgeschichte damit insgesamt als Schlüssel für eine – im Goethe’schen Sinne – verfehlte oder gelungene Rezeption bzw. eine positive oder negative Bewertung des Romans: Nur, wer bezüglich seines Naturbildes ein wahrer ›Wahlverwandter‹ des Autors ist, wird den Roman als vollendet klassisch und in höherem Sinne lebenswahr rezipieren können. c. Tragik, Katharsis, Rezeptionswirkungen Ein weiterer traditioneller Bestandteil der Klassik-Doktrin, der am Beispiel der Wahlverwandtschaften diskutiert wird, ist die Hochschätzung des Tragischen.91 Goethe hat zudem, in einer bisher eher wenig beachteten Selbstdeutung in einem Brief an Zelter vom 29. Januar 1830 (also aus recht weiter Distanz), auf einen zentralen Begriff der klassischen Tragödientheorie und dessen Bedeutung für den Roman hingewiesen: Zum Scherz und Überfluß laß mich […] erwähnen: daß ich, in meinen Wahlverwandtschaften die innige wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen bemüht war; deshalb bild ich mir aber nicht ein, irgend ein hübscher Mann könne dadurch von dem Gelüst nach eines Andern Weib zu blicken gereinigt werden.92
Noch einmal klingt hier der »Bußprediger« an, diesmal aber ästhetisch unterfüttert: Die Beichte führt nicht zur Bestrafung, sondern zur reinigenden Katharsis. Dieser kathartische Effekt, so beiläufig der Autor ihn auch herabspielt,
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Ebenda, S. 230. Von Anfang an wird der Text als neues Modell eines tragischen Romans gelesen. Vgl. dazu auch die Rezension von Conz: »So ist denn die Hauptgeschichte des Romans ächttragisch, und ruht durchaus unter dem Siegel der Nothwendigkeit, aber einer Nothwendigkeit, die dem eigenen Leben der Personen und ihrem Wirken […] nichts benimmt« (Conz, Briefe. Härtl Nr. 285, S. 93); vgl. den Beitrag von Helmut Hühn in diesem Band. Härtl Nr. 558, S. 340.
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lässt sich direkt an unmittelbaren Leserreaktionen verifizieren: Die Leser fühlen sich nämlich gleichzeitig niedergedrückt und erhoben. Johanna Frommann schreibt im Oktober 1809: »Ich fühle eine sonderbar contrastirende Empfindung in mir: indem immer gesagt wird von Eduard, er mußte, fühl ich meine Kraft sich stählen, nicht zu müssen«.93 Rochlitz führt in dem von Goethe so geschätzten Brief vom 5. November aus: Ich bin aufs Innigste durchdrungen, ich bin erschüttert bis zum Schmerz: und gleichwol ist mein ganzes Wesen Leben, Freude und schöner Genuß; ja selbst jener Schmerz ist ein nothwendiger Theil meines Glücks.94
Goethes Roman wirkt also auf einige Leser mustergültig so, wie eine Schillersche Tragödie nach dessen eigener Theorie hätte wirken sollen: als Wechselspiel von physischer Erniedrigung des der »trüben Notwendigkeit« unterworfenen Naturwesens und moralischer Erhöhung des freien Mitglieds im Reich der Zwecke.95 Eine besonders originelle Beschreibung dieser Freiheitserfahrung liefert schließlich Zelter, der diesen Prozess physiologisch begründet (und damit auch ein weiteres, besonders zugespitztes Beispiel einer ›organischen Lektüre‹ liefert): Es giebt gewisse Sinfonien von Haydn, die durch ihren losen liberalen Gang mein Blut in behagliche Bewegung bringen und den freyen Theilen meines Körpers die Neigung und Richtung geben wohlthätig nach außen zu wirken. Meine Finger werden dann weicher und länger, meine Augen möchten etwas ersehn das noch kein Blick berührt hat, die Lippen öffnen sich, mein Inneres will hinaus ins Freye. So geht mir’s wenn ich Ihre Romane lese.96
Nimmt man alle drei Elemente zusammen – Klassizität der Form, Idealität trotz realen Inhalts, kathartische Wirkung der tragischen Zuspitzung –, sieht man vielleicht ein wesentliches Merkmal des Romans genauer, das häufig in der Verabsolutierung von Einzelperspektiven auf den Text, vor allem aber in der Konzentration auf seinen Inhalt (dem man sich in diesem Roman besonders schwer entziehen kann) auf Kosten seiner künstlerischen Form, verlorengeht: Der äußerlichen Willkür der Leidenschaften, der Ausweglosigkeit der Konflikte, ihrer scheinbar nicht entrinnbaren Tragik korrespondiert – zumindest im Bewusstsein einer Vielzahl von Zeitgenossen – die vollendete Form des Kunstwerks, die es dem Leser erlaubt, eine nicht nur kathartische, sondern unter Umständen auch erzieherische Lektüreerfahrung zu machen. Liest man die Wahlverwandtschaften unter dieser Perspektive primär als symbolisches Kunstwerk, als ideelle Gestalt gewordene reale Erfahrung, muss sich der Leser
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Brief an Friedrich Frommann, 18. Oktober 1809. Härtl Nr. 204, S. 64. Brief an Goethe, 5. November 1809. Härtl Nr. 222, S. 68. Vgl. auch die Rezension von Delbrück, 1810: »Woher rührt es, läßt sich fragen, daß dieses Werk, worin das gräßliche Spiel, welches das Schicksal mit dem Menschen treibt, uns so sehr demüthigt, doch zuletzt in eine Stimmung versetzt, welche die früheren Bewegungen der Furcht, des Schreckens und des Mitleidens in eine erhabene Rührung, in das Gefühl einer hohen und würdigen Ruhe auflöset?« (Härtl Nr. 309, S. 120) Brief von Zelter an Goethe, 27. Oktober 1809. Härtl Nr. 211, S. 65.
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ebensowenig scheiden lassen, wie er sich in der Nachfolge Werthers erschießen musste. Er muss sich ›nur‹ zum Kunstwerk erheben.
IV. Wahlverwandtschaft mit dem Leser und »eigentlich intentionirte Gestalt« Sind die Wahlverwandtschaften nach alledem nun »durch und durch materialistisch« oder »voll innern heiligen Lebens«? Die Liste der Rezeptionswidersprüche könnte nach dem Durchgang durch die Rezeptionszeugnisse im Gegenteil noch beliebig erweitert werden: Ist der Roman nur prosaisch oder im höchsten Sinne poetisch? Zeigt er gemeines Leben oder symbolisches Erleben? Ist er zutiefst unmoralisch oder eine Parabel über das siebte Gebot, klassisch vollendet oder vollendet langweilig? Die Entfaltung einer Vielzahl von Deutungs- und Wertungsmöglichkeiten kann wohl zunächst, mit dem anfangs zitierten Wilhelm Grimm, eher als hermeneutisches Qualitätsmerkmal eines Textes denn als Versagen des Autors beim Kommunizieren seiner vorausgesetzten Intention bewertet werden – zumal Goethe immer Wert darauf legte, das »offenbare Geheimniß« in seinen Texten verschleiert zu halten. Die Wahlverwandtschaften gewinnen dadurch nicht nur in der persönlichen Lektüre über die Zeit und die eigene persönliche Entwicklung hinweg, sondern auch in der literaturwissenschaftlichen Deutungspraxis. Schon Goethe hatte gegenüber Reinhard im Dezember 1809 befunden: Wie ich mich denn auf die Wirkung freue, welche dieser Roman in ein paar Jahren auf manchen beym Wiederlesen machen wird. Wenn ungeachtet alles Tadelns und Geschreys das was das Büchlein enthält, als ein unveränderliches Factum vor der Einbildungskraft steht, wenn man sieht, daß man mit allem Willen und Widerwillen daran doch nichts ändert; so läßt man sich in der Fabel zuletzt auch so ein apprehensives Wunderkind gefallen. […] Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.97
Für die extremeren Ausschläge des Meinungspendels gibt es darüber hinaus eine Reihe äußerlicher Gründe, die auch unabhängig von einer Analyse des Rezeptionsmaterials ins Auge springen: Natürlich sind die literaturpolitischen Fronten bereits vor dem Roman abgesteckt, gibt es Goethe-Fans und GoetheFeinde (beide mit guten Gründen), sind Goethe und die Klassik-Doktrin nach Schillers Tod wesentlich verwundbarer geworden. Natürlich behandelt der Roman mit der ›prosaischen‹ Ehethematik ein lebensweltlich weit heikleres Thema des mittleren Lebensalters als der Werther mit seiner zwar tödlichen, aber doch so viel herzerweichenderen jugendlichen Liebesgeschichte. Und natürlich ist der Roman immer noch eine problematische Gattung: Von den Aufklärern soeben mühevoll als prosaisch-anthropologische Geschichte mit moralischem Anspruch in der Lebenswelt etabliert, wird er von den Romantikern gleich darauf als höchste poetische Gattung in den Literaturhimmel erhoben – nicht 97
Brief von Goethe an Reinhard, 31. Dezember 1809. Härtl Nr. 289, S. 100.
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umsonst spricht Goethe dann und wann von den Wahlverwandtschaften verniedlichend als »Büchelchen«,98 im Kontrast etwa zu der wenig später erscheinenden, für ihn persönlich wohl sehr viel gewichtigeren Farbenlehre. Unabhängig von diesen äußeren Einflussfaktoren einer jeden Wirkungsgeschichte jedoch verlaufen die Fronten der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Roman anhand der oben aufgezeigten Polaritäten von Klassik und (im Einzelnen durchaus verschieden ausgeprägten Formen von) Anti-Klassik. Die zeitgenössischen Apologeten lesen die Wahlverwandtschaften als Muster eines klassischen Textes und verleihen ihm die oben aufgezählten, dafür einschlägigen Attribute. Seine Vollkommenheit besteht in der Harmonie und Proportionalität von Teilen und Ganzem, in der Einfachheit des Gesamteindrucks bei gleichzeitiger Fülle der Details, in der Reinheit und Klarheit der Ausführung bei hoher Komplexität der Struktur; schließlich in der immanenten Sittlichkeit (bei nur äußerlicher Unmoralität), die durch die Erhebung des Lesers über die Verwicklungen der Leidenschaften auf der inhaltlichen Ebene zur Idealität der Form realisiert werden kann. Seine Gegner verkehren all diese Attribute in ihr Gegenteil: Anstelle von Harmonie sehen sie einseitigen Materialismus und ein daraus resultierendes Übergewicht des »gemeinen Lebens« und der Prosa; anstelle der Proportionalität ein Übergewicht des Details, so lobenswert es im Einzelnen auch sei; anstelle der Einfachheit Konstruiertheit; anstelle der Fülle langweiligen Überfluss. Sittlichkeit können sie in der Darstellung eines doppelten Ehebruchs und der Heiligsprechung einer (wenn auch virtuellen) Ehebrecherin nicht erkennen; und die tiefe Tragik ist für sie in der oberflächlichen »Langeweile des unbeschäftigten, unbethätigten Glückes« eines »gebildeten Landedelmannes«99 ebenfalls nicht recht ersichtlich. Hier kann es nun nicht darum gehen, ein Endurteil im mutmaßlich ewigen Kampf von klassischen Gleichgewichts- und romantischen Steigerungskonzepten in der europäischen Geistesgeschichte zu fällen. An den Wahlverwandtschaften sollte aber davon unabhängig die enge Bindung der Klassik-Doktrin Goethe’scher Ausprägung an ein bestimmtes Naturkonzept und die damit verbundenen nicht-wertenden Dichotomien – ›Polaritäten‹, wie Goethe das bekanntermaßen nennt – sowie deren Wechselwirkung deutlich werden. Eine gewisse geistige Wahlverwandtschaft zum Autor speziell in diesem Punkt ist damit – das ist zwar eine hermeneutische Binsenweisheit, gerät aber mitunter allzuleicht aus dem Blick – die Voraussetzung dafür, die von Goethe »eigentlich intentionirte Gestalt«100 nicht nur zu erkennen, sondern vor allem anzuerkennen und in der eigenen Lektüre im Sinne des Autors produktiv zu machen. Wer dies nicht tut, muss notwendig an diesem Text zum Dekonstruktivisten werden (was dann die Fortsetzung der Rezeptionsgeschichte vor allem im 20. Jahrhundert zeigt).
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Brief von Goethe an Eichstädt, 22. November 1809. Härtl Nr. 251, S. 80. Brief von Achim von Arnim an Bettine Brentano, 5. November 1809. Härtl Nr. 223, S. 70. Brief von Goethe an Zelter, 26. August 1809. Härtl Nr. 124, S. 48.
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In diesem Sinne hat auch Goethe selbst, trotz seiner Publikumsfeindschaft, nachweisbar versucht, die Rezeption zu lenken und verschiedene produktive Musterlektüren in Umlauf zu setzen. Gleichwohl war ihm persönlich wohl die individuelle Reaktion, das gesellige Gespräch mit ›gleichgestimmten Gleichgesinnten‹101 in befreundeten Kreisen, ja sogar die lebensweltliche Aneignung als Weisheitsbuch, wichtiger. In der Wiederbelebung des Textes in der Lektüre – und das entspricht durchaus dem Modell der ästhetischen Erziehung bei Schiller – wird der Leser zum zweiten Schöpfer, der das, was der Autor an Selbst- und Welterfahrung in den Text hineingelegt hat, wieder herausholen muss. Dass er diese dabei zwangsläufig seiner eigenen Welterfahrung anpasst, war für Goethe nicht nur selbstverständlich, sondern die notwendige Voraussetzung einer lebendigen Rezeption.102 Was er hingegen ablehnte, war der angestrengte Versuch, im Text etwas zu finden, was der Autor niemals hineingelegt hatte, der Leser aber gern dort finden wollte – samt der sich ggf. daran anschließenden öffentlichen Verurteilung im professionellen Rezensionswesen. Dass zu einer solchen idealtypischen ›schöpferischen‹ Rezeption schließlich ein umfassender menschlicher, nicht unbedingt jedoch akademischer Bildungsprozess beim Leser gehört – eine »höhere Cultur«, mit Goethe zu sprechen –, hat auch Adolph Wagner in seiner Rezension angesprochen: Uebrigens aber kann nicht genug gesagt werden, daß die Auffassung eines Kunstwerks, eben um der berührten Unfähigkeit willen, sich zu der Idee eines solchen Werks zu erheben, und weil dieses ein Werk der vollsten Bildung, des tiefsten Lebens ist, einen schon gereiften Sinn verlange, und eine Seele, die auch von der Abstraction, möchten wir sagen, zu abstrahiren im Stande ist: denn am meisten werden die Werke des Dichters misverstanden von Gelehrten.103
Goethe selbst hat die enorme Schwierigkeit einer vorurteilslosen, unbefangenen und freien Erstlektüre durchaus gesehen. Ihm gebührt deshalb das letzte Wort in dieser Rezeptions-Geschichte. Am 26. September 1809 übersendet er Christian Gottlob Voigt die Wahlverwandtschaften und bittet um »freundliche Aufnahme« eben des Werkes, das nach der anfangs zitierten Beschreibung Marianne von Eybenbergs zu diesem Zeitpunkt so begehrt war wie Bäckerwaren
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Vgl. zum Begriff und dessen Bedeutung für Goethe die Dissertation von Stefan Blechschmidt, Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte. Heidelberg 2009. Die Wahlverwandtschaften-Rezeption könnte deshalb gut als Lehrstück einer allgemeinen Rezeptionstheorie verstanden werden. Sie zeigt die häufig unterschätzte Prägung jeder Lektüre durch Denkmuster der Zeit, historische Distanz oder Nähe, persönliche Bekanntschaft mit dem Autor, allgemeine und spezielle Vorbildung, ideologische, teilweise auch unterbewusste Prägungen, emotionale Vorbehalte und Rückhalte, aber auch Dynamiken, die erst innerhalb der Rezeptionsgeschichte entstehen und sich dann verselbständigen. Daraus wären verschiedene Lektüre-Modelle zu gewinnen und in ihren Mechanismen zu untersuchen: die identifikatorische Privatlektüre, die direkt autorgesteuerte gesellige Lektüre, die emotional-kathartische Lektüre, die physiologisch-schöpferische Lektüre, die kennerhaft formanalytische Lektüre, die ideologisch-polemische Lektüre usf. Härtl Nr. 473, S. 231.
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bei einer Hungersnot, mit den an Lakonismus kaum zu übertreffenden Worten: »Selten wird in der Welt etwas genommen, wie es gegeben wird: es müßte denn das tägliche Brod vom Bäckerladen seyn«.104
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Härtl Nr. 163, S. 55.
Goethes Erben Wahlverwandtes bei Handke, Walser, Wellershoff Nikolas Immer
»Aber moderne Literatur ist nicht möglich ohne Kenntnis der modernen Literatur«.1 Mit diesem Votum verteidigt Hans Mayer in seinem verbotenen Rundfunkvortrag Zur Gegenwartslage der Literatur (1956) die Ansicht, dass die produktive Auseinandersetzung mit moderner Literatur und Kunst in der DDR nur gelingen könne, sofern Autoren wie etwa Franz Kafka, William Faulkner oder Thornton Wilder nicht weiterhin ein »Geheimtip« blieben und ihre Lektüre »mit illegalem Treiben gleichgesetzt« würde.2 Unabhängig von ihrem literarhistorischen Kontext artikuliert Mayers Stellungnahme zugleich ein Bewusstsein von Intertextualität: Die bewusste Aneignung moderner Literatur kann als prinzipielle Bedingung für die Produktion moderner Literatur angesehen werden. Doch was heißt hier ›modern‹? Während Mayer von einem Verständnis ausgeht, das in erster Linie auf die Aktualität von Literatur zielt, ist es im Horizont intertextueller Beziehungen ergiebiger, das Attribut ›modern‹ diachron und damit als ein Merkmal für konzeptionelle Neuerungen zu verstehen. Dazu zählen insbesondere übergreifende Werkaspekte wie die strukturelle Anlage, die Figurenkonstellation oder die narrative Gestaltung eines Textes. Wird in diesem Horizont Johann Wolfgang Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften als modern aufgefasst, provoziert das sofort zwei Fragen: zum einen die, worin die Modernität des Werkes konkret besteht; zum anderen die, ob sich dessen behauptete Modernität auch anhand seiner produktiven Rezeption erweisen lässt. Während im Folgenden auf die erste Frage 1
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Hans Mayer, Zur Gegenwartslage unserer Literatur [1956]. In: Ders., Zur deutschen Literatur der Zeit. Zusammenhänge, Schriftsteller, Bücher. Reinbek bei Hamburg 1967, S. 365–373, hier S. 371. Die Wahlverwandtschaften werden im Folgenden zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche [FA]. 40 Bände. Hrsg. von Friedmar Apel u.a. Frankfurt am Main 1985–1999, Abt. I, Bd. 8: ›Die Leiden des jungen Werthers‹. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Kleine Prosa. Epen. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hrsg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt am Main 1994, S. 269–529; Peter Handkes Die linkshändige Frau [LF] nach: Peter Handke, Die linkshändige Frau. Erzählung. Frankfurt am Main 1976; Martin Walsers Ein fliehendes Pferd [FP] nach: Martin Walser, Ein fliehendes Pferd. Frankfurt am Main 272004; und Dieter Wellershoffs Der Liebeswunsch [LW] nach: Dieter Wellershoff, Der Liebeswunsch. Köln 72001. Mayer, ebenda.
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nur en passant eingegangen werden kann, soll mit Blick auf die zweite Frage gezeigt werden, inwiefern aktuelle Literatur auf diesen in seiner Konzeption modernen Roman rekurriert. Da die ›kreative‹ Rezeptionsgeschichte von Goethes Wahlverwandtschaften für die Literatur des 20. Jahrhunderts noch nicht geschrieben ist,3 kann eine solche Frage nur exemplarisch beantwortet werden.4 Schließlich ist die Wirkung des Romans weder in weltliterarischer Perspektive noch im Hinblick auf formgeschichtliche Aspekte hinreichend erforscht worden. Gleichwohl sind die bislang feststellbaren Reaktionen auf Goethes Kunst- bzw. Ehe- und Gesellschaftsroman vielfältig: Nach der differenzierten Wirkung der Wahlverwandtschaften auf den Roman des 19. Jahrhunderts, wie sie Jürgen Kolbe dargestellt hat,5 entstehen im amerikanischen Raum mit Henry James’ The Golden Bowl (1904) und Ford Madox Fords The Good Soldier (1915) literarische Variationen der bei Goethe vorgeprägten Figurenkonstellation.6 Während sich im deutschsprachigen Raum Werke Franz Kafkas, insbesondere Die Verwandlung (1915) und Der Proceß (1925), als Reaktionen auf Goethes Roman werten lassen,7 treten die intertextuellen Referenzen im Werk Thomas Manns deutlicher hervor. Im Vorfeld seiner Novelle Der Tod in Venedig (1912) beschreibt er die Wahlverwandtschaften als eine Komposition, in der das »Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlichkeit« ideal vollendet sei.8 Diese Einschätzung präzisiert und erweitert Thomas Mann in seinem Nachwort zu einer Ausgabe der Wahlverwandtschaften von 1925, worin er, den früheren Gedanken rekapitulierend, die »Einheit von Gestalt und Gedanke« unterstreicht, die der Roman 3
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Der Begriff ›kreative Rezeption‹ wird in Anlehnung an Norbert Bolz gebraucht. Vgl. Norbert Bolz, Artikel ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte u.a. Stuttgart, Weimar 1996–1999, Bd. 3: Prosaschriften. Hrsg. von Bernd Witte und Peter Schmidt. Stuttgart, Weimar 1997, S. 152–186, hier S. 183. Einen ersten Überblick über dieses Forschungsfeld bieten die Beiträge von Judith Ryan: Views from the Summerhouse. Goethe’s ›Wahlverwandtschaften‹ and its Literary Successors. In: Goethe’s Narrative Fiction. The Irvine Goethe Symposium. Hrsg. von William J. Lillyman. Berlin 1983, S. 145–160; Kunst und Ehebruch: Zum Nachleben von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe Yearbook 3 (1986), S. 179–196. Vgl. Jürgen Kolbe, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und der Roman des 19. Jahrhunderts. Stuttgart u. a. 1968. Vgl. Judith Ryan, Elective Affinities: Goethe and Henry James. In: Goethe Yearbook 1 (1982), S. 153–171; Robert Huntley, ›The Good Soldier‹ and ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Comparative Literature 19 (1967), S. 133–141. Vgl. Sheila Dickson, Two sides of an anorexic coin in ›Die Wahlverwandtschaften‹ and ›Die Verwandlung‹. Ottilie as Heilige, Gregor as Mistkäfer. In: Orbis Litterarum 54 (1999), S. 174–184; Norbert Oellers, Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹ und Kafkas ›Der Prozess‹. Vorüberlegungen zu einem Vergleich. In: Jahrbuch des Wiener GoetheVereins 86–88 (1982–1984), S. 301–312. Brief von Thomas Mann an Carl Maria von Weber, 4. August 1920. In: Thomas Mann, Briefe 1889–1936, hrsg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1961, S. 176. Zu den Beziehungen zwischen dem Tod in Venedig und den Wahlverwandtschaften vgl. Hans Rudolf Vaget / Dagmar Barnouw, Thomas Mann. Studien zu Fragen der Rezeption. Bern 1975 [=New York University Ottendorfer Series, N.F. Bd. 7], S. 35–40. Parallelen zu Thomas Manns Erzählung Die vertauschten Köpfe (1940) verfolgt Ryan, Ehebruch (Anm. 4), S. 183.
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veranschauliche.9 In neuerer Zeit hat Helmut Heißenbüttel mit seinem RomanProjekt D’Alemberts Ende (1970) auf die Behauptung Marcel Reich-Ranickis reagiert, ein Romananfang wie der, den Goethe mit den Wahlverwandtschaften vorgelegt habe, sei nicht mehr vorstellbar. Heißenbüttel lässt seinen Text mit den Worten einsetzen: »Eduard – so nennen wir einen Rundfunkredakteur im besten Mannesalter« und nutzt virtuos die Technik des Zitats, um den Typus des modernen Intellektuellen satirisch vorzuführen.10 Wenige Jahre später erwähnt auch Uwe Johnson in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen Begleitumstände (1979) den Roman Goethes, jedoch nur, um ironisch auf eine Inkonsequenz in der Gestaltung hinzuweisen. Er bezieht sich in seinen knappen Ausführungen auf das Bootsunglück und stellt heraus, dass Ottilie, indem er auf Goethes Formulierung »Sie […] ergreift das Ruder«11 hinweist, merkwürdigerweise nur mit einem Ruder auf dem See unterwegs ist. Johnson resümiert, dass Goethe die Notwendigkeit des Unglücks der in dieser Einzelheit logisch fragwürdigen Darstellung überordnet: Auswege und Vorkehrungen zur Sicherheit gehen dem Regisseur und Autor der Szene gegen den Strich und seine Entschlossenheit, an dieser Stelle einen Eingriff des Schicksals herbeizuführen.12
Eine unterschwellige Auseinandersetzung mit Goethe bezeugt auch John Irvings Roman The World According to Garp (1978), in dem der Titelheld den fiktiven Roman Der Hahnrei fängt sich verfasst, der sich »als groteske amerikanische Persiflage der Wahlverwandtschaften lesen« lässt.13 Beziehungen zwischen Goethes Roman und dem Film bleiben überdies ein Forschungsfeld, das erst ansatzweise erschlossen ist.14
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Thomas Mann, Zu Goethe’s ›Wahlverwandtschaften‹ [1925]. In: Ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt am Main 21974, Bd. 9, S. 174–186, hier S. 186. Noch Manns Exilroman Lotte in Weimar (1939) rekurriert ausdrücklich auf die Wahlverwandtschaften. Helmut Heißenbüttel, D’Alemberts Ende. Neuwied, Berlin 1970, S. 11. Vgl. Lothar Bornscheuer, Wahlverwandtes? Zu Kants ›Aula‹ und Heißenbüttels ›D’Alemberts Ende‹. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 4 (1973), S. 201–234; Bolz, ›Die Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 3), S. 184f. Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman II, 13. FA I, 8, S. 494; Hervorhebung von mir, NI. Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt [11980] 1996, S. 17. Bruno Preisendörfer, Idylle mit Pille. Die Chemie der Liebe bei Goethe, Garp und anderen. In: Der Spiegel Special 10 (1997), S. 49f., hier S. 49. Vgl. neuerdings Elisabeth K. Paefgen, Literarisches und filmisches Erzählen: Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹ (1809) und Truffauts Film ›Jules und Jim‹ (1962). In: Erzählen. Narrative Spuren in den Künsten. Hrsg. von Ulrike Hentschel und Gundel Mattenklott. Uckerland 2009, S. 86–97; Elisabeth K. Paefgen, Wahlverwandte. Filmische und literarische Erzählungen im Dialog. Berlin 2009. In Ergänzung zu den angeführten Arbeiten Paefgens ließe sich zum einen an die Verfilmungen der hier behandelten Werke denken (Die linkshändige Frau, Regie: Peter Handke, 1978; Ein fliehendes Pferd, Regie: Rainer Kaufmann, 2007; Der Liebeswunsch, Regie: Torsten C. Fischer, 2007), zum anderen an einige Filme Woody Allens, in denen ähnliche Figurenkonstellationen wie in den Wahlverwandtschaften ›durchgespielt‹ werden.
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Vor dem Hintergrund dieser vielschichtigen künstlerischen Referenzen, Bezugnahmen und Rückgriffe sollen im Folgenden drei deutschsprachige Werke behandelt werden, die in unterschiedlicher intertextueller Intensität auf Goethes Roman reagiert haben: Peter Handkes Erzählung Die linkshändige Frau (1976), Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd (1978) und Dieter Wellershoffs Roman Der Liebeswunsch (2000).
I. Peter Handke: Die linkshändige Frau Peter Handke lässt seine Erzählung Die linkshändige Frau mit einem nachgestellten Motto enden, das er den Wahlverwandtschaften entlehnt: So setzten alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fort lebt, als wenn von nichts die Rede wäre.15
Der Goethe’sche Erzählerkommentar exponiert eine widersprüchliche Verhaltensweise, die dann zu beobachten sei, wenn der gewöhnliche Lebensgang bedroht erscheint. In einer solchen Situation verberge der nach außen getragene Gestus der Alltäglichkeit die Brisanz und Relevanz der vorgefallenen Ereignisse. Sowohl bei Goethe als auch bei Handke ist keineswegs »von nichts die Rede«, vielmehr bilden sich in den Texten beider Autoren lebensentscheidende Konflikte heraus. In den Wahlverwandtschaften fällt im Vorfeld des von Handke aufgegriffenen Zitats das Wort »Scheidung«, das an dieser Stelle erstmals im Hinblick auf die Beziehung von Eduard und Charlotte gebraucht wird. Erwogen wird nichts weniger als die Option einer Trennung, die einen signifikanten Ausbruch aus dem »gewöhnlichen Gang« des Lebens erwarten lässt. Schon im vierten Kapitel des Ersten Teils hatte Eduard die Bedeutung eines solchen Vorgangs unterstrichen: »die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken«.16 Auch in Die linkshändige Frau kommentiert das Goethe-Zitat die Trennung der Protagonistin Marianne von ihrem Gatten Bruno, ohne dass Handke die chiastische Figurenkonstellation der Wahlverwandtschaften reproduzieren würde.17 Er rückt vielmehr Mariannes ursprüngliche
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Handke, LF, S. 133; Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 13. FA I, 8, S. 364. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 4. FA I, 8, S. 303. »Die Problematik von Wahlverwandtschaften stellt sich hier zweifellos nicht.« (Martin W. Lüdke, Als ob von nichts die Rede wäre. Notizen zur Wahlverwandtschaft einer ›linkshändigen Frau‹. In: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hrsg. von Norbert W. Bolz. Hildesheim 1981, S. 52–63, hier S. 57). Peter Pütz hat Handkes ›differierendes Referieren‹ auf die Wahlverwandtschaften treffender als ein Verfahren bezeichnet, mit dem Handke versucht, »in der Analogie die Diskrepanz erkennen zu lassen.« (Peter Pütz, Affinität und Diskrepanz zwischen Goethe und Handke. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 86–88 [1982–1984], S. 313–323, hier S. 320).
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»Erleuchtung«18 und eigenständige Entscheidung in den Vordergrund, sich von Bruno zu distanzieren und gemeinsam mit ihrem Sohn Stefan zu leben. Statt einer gesicherten Bindung hofft Marianne auf eine selbstbestimmte, im Ganzen aber weitgehend konturlos bleibende Lebenszufriedenheit.19 Außerdem steht in Goethes Roman die eigentliche Dissoziierung der Ehepartner noch bevor, während sie bei Handke bereits vollzogen ist, ohne dass der Konflikt der Ehepartner am Ende tatsächlich ›bewältigt‹ erscheint. Die literarische Gestaltung des »gewöhnlichen Gang[s]« bzw. einer dichterischen Atmosphäre, die oberflächlich den Eindruck erweckt, als ob tatsächlich »von nichts die Rede wäre«, löst Handke auf eine entschieden andere Weise als Goethe. Handkes neutrale Erzählinstanz tritt radikal hinter die Faktizität des Erzählten zurück, das zuweilen wie eine »Projektion von Bewusstseinszuständen« wirkt.20 Auf der einen Seite simuliert sein Erzähler Allwissenheit, indem er detailliert über die Lebensverhältnisse und -abläufe der Protagonistin unterrichtet, auf der anderen Seite beschränken sich seine Mitteilungen auf den Modus externer Fokalisierung, da er nur Wahrnehmbares berichtet und die Innensichten der Figuren vollständig ausklammert, sofern diese nicht in direkter Rede selbstreflexiv sprechen. Damit gewinnt die Gegenwart des Erzählers eine spezifische Doppelfunktion: Er ist die Instanz, die selektiert, welche Elemente aus dem Alltagsleben Mariannes mitgeteilt werden, und er ist die Instanz, die vermittels dieser Selektion eine konnotative Kombination zwischen den ›Momentaufnahmen‹ seiner Narration stiftet.21 Während der sachliche und nüchterne Erzählton die Gewöhnlichkeit des Erzählten suggeriert, führt der Handlungsverlauf gerade dessen Ungewöhnlichkeit vor. Denn die plötzliche Trennung von ihrem Gatten verläuft für Marianne keineswegs ohne Konflikte. Bruno hält diese Entscheidung anfangs für ein »Spiel«22, reagiert auf den erzwungenen Abstand jedoch schon bald mit physischer Gewalt; auch nach längerer Abwesenheit denkt er, sie stelle nur einen »Versuch« mit ihm an, und behauptet, noch nie eine Frau gesehen zu haben, »die ihr Leben auf die Dauer geändert hat«23; schließlich resigniert er und hört damit auf, »die Tage zu zählen, die ich nun ohne dich bin«.24 Marianne wirkt ihrerseits von den neuen Lebensbedingungen überfordert, da sie plötzlich eine größere Verantwortung bei der Versorgung ihres Kindes übernehmen muss. Während sie tagsüber bei ihrer Übersetzungsarbeit durch Stefan gestört wird, 18 19
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Handke, LF, S. 23. Ihrer Freundin Franziska gesteht Marianne: »Ich möchte nicht glücklich sein, höchstens zufrieden. Ich habe Angst vor dem Glück. Ich glaube, ich würde es nicht aushalten, da im Kopf« (ebenda, S. 82). Einer Lebensprojektion, wie sie Marianne in den Texten begegnet, die sie übersetzt, streckt sie die Zunge heraus: »Der Mann, von dem ich träume, das wird der sein, der in mir die Frau liebt, die nicht mehr von ihm abhängig ist« (ebenda, S. 73). Manfred Mixner, Peter Handke. Kronberg 1977, S. 229. Vgl. Christoph Bartmann, Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien 1984 [=Wiener Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 11], S. 221. Handke, LF, S. 35. Ebenda, S. 76f. Ebenda, S. 111.
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schläft sie nachts über ihrer Schreibmaschine ein oder verbringt die Nachtzeit mitunter weinend.25 Mariannes Versuch, selbstbestimmt zu leben, mündet in der Vorahnung: »Einen Augenblick lang habe ich einmal mein künftiges Leben ganz klar vor mir gesehen, und da ist mir bis ins Innerste kalt geworden«.26 Trotz der düsteren Prognose bleibt ihr am Ende das Bewusstsein, dank ihrer konsequenten Entscheidung künftig nicht mehr gedemütigt zu werden.27 Angesichts aller Schwierigkeiten ist es Marianne gelungen, sich in die Einsamkeit einzuleben. Handke ist bemüht, den Erfahrungsprozess seiner Protagonistin aus der Perspektive einer Erzählinstanz darzustellen, die in radikaler Weise hinter den Text zurücktritt. Dabei bedient er sich eines Verfahrens, das er in Anlehnung an Goethe als ›Veräußerlichung der Poesie‹ kennzeichnet: Gestern las ich den Satz (von Goethe): »Auf ihrem höchsten Gipfel wird die Poesie ganz äußerlich sein« – und der war wie die freundschaftliche Erleuchtung einer Schreibhaltung, die auch mir für das, was ich schreibe, als Herrlichkeit auf Erden vorschwebt.28
Dabei bezieht sich Handke auf Goethes Maximen und Reflexionen, in denen es heißt: Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d.h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel scheint die Poesie ganz äußerlich: je mehr sie sich in’s Innere zurückzieht, ist sie auf dem Wege zu sinken.29
Auffällig ist, dass Handke Goethes Aussage entscheidend intensiviert: Goethes vorsichtiges »scheint« ändert Handke in ein selbstgewisses »wird«. Mit der thematisierten ›Veräußerlichung der Poesie‹ wird die prinzipielle Forderung erhoben, dass sich die Literatur durch die Genauigkeit in der poetischen Repräsentation auszeichnen und die erfahrbare Anwesenheit der narrativen Instanz weitgehend reduzieren müsse.30 Bei Goethe äußert sich dieser poetologische Anspruch darin, dass der Erzähler, der in den Wahlverwandtschaften avancier-
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Ebenda, S. 60, 72. Ebenda, S. 122. »Sie stand vor dem Spiegel und sagte: ›Du hast dich nicht verraten. Und niemand wird dich mehr demütigen!‹« (Handke, LF, S. 130). Peter Handke, Bekannte Begriffe, gemischte Gefühle. In: Die Zeit (2. Januar 1976), zit. nach: Rolf Günter Renner, Peter Handke. Stuttgart 1985, S. 105; Hervorhebung von mir, NI. Goethe, Maximen und Reflexionen. FA, Abt. I, Bd. 13, S. 139, Nr. 2.22.2; Hervorhebung von mir, NI. Handke führt dazu aus: »Man kann heute nicht mehr machen, was früher für Poesie gehalten wurde. Doch wenn man Augenblicke aus dem Alltagsleben ohne die Absicht, Poesie zu schaffen, so genau wie möglich wiederzugeben versucht, wird das poetisch.« (Peter Handke, Zeitmosaik. In: Die Zeit [28. November 1975], zit. nach: Bartmann, Zusammenhang [Anm. 21], S. 223).
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te Erzähltechniken anwendet,31 trotz seiner dadurch erhöhten Präsenz vielfach hinter der erlebten Rede ›verschwindet‹.32 Bei Handke, der stärker als Goethe auf der ›Veräußerlichung der Poesie‹ besteht, tritt auch die Erzählinstanz stärker zurück und bleibt nur in ihrer Funktion sichtbar, die Erzähldetails zu arrangieren. Indem das geschilderte Leben anhand von ›Momentaufnahmen‹ vorgestellt wird, gewinnt jedes partikulare Element eine nahezu archaische Bedeutungsschwere, in der sich die mythische Wiederholung eines ewiggleichen Ablaufs andeutet.33 Entgegen der Auffassung Martin W. Lüdkes scheint Handke jedoch kaum die »ungeheuren Fälle« im »gewöhnlichen Gang« der Dinge entdecken zu wollen.34 Vielmehr bringt er die Ebenen der Erzählung und der Handlung in Opposition:35 Während die Darstellung den Eindruck erweckt, als ginge alles seinen »gewöhnlichen Gang«, steht für Marianne und Bruno »alles auf dem Spiele«. Die Verharmlosung des zwischen ihnen wachsenden Unglücks, die bei Goethe die Protagonisten selbst betreiben, hat Handke seiner unbeteiligten und kaum wahrnehmbaren Erzählerfigur übertragen.
II. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd Dass seine Novelle Ein fliehendes Pferd von Goethes Wahlverwandtschaften inspiriert sei, hat Martin Walser wiederholt bestritten: zuerst am 11. März 1978 in der Stuttgarter Zeitung; dann im Verlauf seiner Rede Über den Umgang mit Literatur, die er 1985 im Rahmen eines Symposions an der West Virginia University gehalten hat; zehn Jahre später in seinem Brief an Gisela BrudeFirnau vom 20. Dezember 1995; und zuletzt in seinem Brief an Ernst-Gerhard Güse vom 7. November 2007.36 Trotz dieser permanenten Abweisung sind die 31
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Vgl. etwa die von Judith Reusch beschriebene ›Echomanier‹ des Erzählers (Judith Reusch, Zeitstrukturen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Würzburg 2004, S. 144). Zur Konstitution der Erzählerinstanz vgl. insbesondere Stefan Blessin, Erzählstruktur und Leserhandlung. Zur Theorie der literarischen Kommunikation am Beispiel von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Heidelberg 1974; Ignace Feuerlicht, Der ›Erzähler‹ und das ›Tagebuch‹ in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Jahrbuch 103 (1986), S. 316–343; Matías Martínez, Empirische Vorderwelt und mythische Hinterwelt. Johann Wolfgang von Goethe: ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Ders., Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 37–89; Gerhard Neumann, Wunderliche Nachbarskinder. Zur Instanzierung von Wissen und Erzählen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hrsg. von Gabriele Brandstetter. Freiburg im Breisgau 2003, S. 15–40. Vgl. Tara Hottmann, Das Verschwinden des Erzählers: Formen und Signifikanz der erlebten Rede in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: German and Russian Studies. Honors Projects 4 (2009) [http://digitalcommons.macalester.edu/gerrus honors/4; Zugriff: 16. Dezember 2009]. Vgl. Bartmann, Zusammenhang (Anm. 21), S. 222. Vgl. Lüdke, Als ob (Anm. 17), S. 61. Vgl. Bartmann, Zusammenhang (Anm. 21), S. 220. Vgl. in chronologischer Reihenfolge: Achim Ayren, »Wer arbeitet, lebt nicht.« Zu Martin Walsers Novelle ›Ein fliehendes Pferd‹. In: Stuttgarter Zeitung (11. März 1978), S. 50; Martin Walser, Über den Umgang mit Literatur [1985]. In: Martin Walser – Internatio-
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Wahlverwandtschaften nicht nur als prinzipiell relevanter Prätext für Walsers Novelle anzusehen, sondern überhaupt für mehrere seiner Erzählwerke, bis hin zu dem Roman Ohne einander (1993).37 Eine solche Behauptung ist nicht darauf aus, im Sinne Schleiermachers vorzuführen, dass der Interpret ein einsichtigeres Textverständnis als der Autor ausgebildet habe. Dennoch kann der Interpret unabhängig von der Konzeption des Autors zweifellos Textbezüge struktureller oder intertextueller Art ausmachen, die der Autor nicht ›planmäßig‹ eingearbeitet hat.38 Die Möglichkeit, solche Textreferenzen aufzuweisen, hat Walser auch keineswegs in Frage gestellt: Ich habe [bei der Niederschrift der Novelle Ein fliehendes Pferd] keine Sekunde lang an die Wahlverwandtschaften gedacht, das heißt aber nicht, dass die Wahlverwandtschaften, inzwischen in meine Erbmasse eingegangen, in mir nicht gewirkt haben können.39
Was Walser dagegen 1985 in Frage stellt, sind Arbeiten, wie sie Waltraud Wiethölter vorgelegt hat:40 Es stand in diesem Aufsatz, daß ich aus diesem Kind [gemeint ist Otto, der leibliche Sohn Charlottes und Eduards] einen Hund gemacht habe. […] Wenn sprachlich in dieser Art zu arbeiten zum Vorschein käme, daß es sich um eine Produktion des literaturwissenschaftlichen Autors handle, das wäre schön. Aber da steht mit vielen Fußnoten – die äußerste Beweisanstrengung, vor der jedes Schwurgericht kapitulieren würde –, daß es so ist, da gibt es keinen Konjunktiv. Ich bin also der, der aus dem Kind den Hund gemacht hat.41
Zwar wehrt sich Walser gegen den intertextuellen ›Erweis‹, er habe Goethes Kind zu einem Hund umgestaltet, indem er schlicht behauptet: »Otto hieß bei mir der Hund, weil ich Hunden nicht gern Hundenamen gebe«.42 Demgegenüber deutet er jedoch an, dass er sich prinzipiell mit einer solchen Suggestion
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nal Perspectives. Hrsg. von Jürgen E. Schlunk / Armand E. Singer. New York u.a. 1987, S. 195–214, hier S. 200; Gisela Brude-Firnau, ›Die Wahlverwandtschaften‹ als Referenztext in Martin Walsers Erzählwerk. In: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 183–198, hier S. 187, Anm. 15; »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn und Jochen Klauß. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 97f. (Faksimile des handschriftlichen Briefs). Vgl. ausführlich Brude-Firnau, ›Die Wahlverwandtschaften‹ (Anm. 36), S. 183–198; Jens Kruse, Wiederholte Spiegelungen. Walsers ›Brandung‹ und Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: The Age of Goethe Today. Critical Reexamination and Literary Reflection. Hrsg. von Gertrud Bauer Pickar / Sabine Cramer. München 1990, S. 181–193. Vgl. Umberto Eco, Zwischen Autor und Text [1992]. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis u.a. Stuttgart 2007, S. 279–294. Walser, Über den Umgang (Anm. 36), S. 200. Gemeint ist: Waltraud Wiethölter, ›Otto‹ – Oder sind Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ auf den Hund gekommen? Anmerkungen zu Martin Walsers Novelle ›Ein fliehendes Pferd‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1983), S. 240–259. Walser bezeichnet diese wissenschaftliche Methode, Parallelen zwischen seinem Text und einem literarischen Vorläufer zu erzwingen, als »ein ganz krasses« bzw. »ein groteskes, zugespitztes Beispiel« (Walser, Über den Umgang [Anm. 36], S. 199). Walser, Über den Umgang (Anm. 36), S. 199f. Ebenda, S. 199.
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einverstanden erklären könnte, würde sie nicht mit apodiktischer Bestimmtheit vorgetragen. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Walser das genuin literaturwissenschaftliche Verfahren, über potentielle literarische Vorlagen einen erweiterten Textsinn zu erschließen, als »Ostereiersuchen« verspottet.43 Im Gegensatz zu Handke entwirft Walser in seiner Novelle eine den Wahlverwandtschaften grundsätzlich vergleichbare Figurenkonstellation. Das Ehepaar Sabine und Helmut Halm ist wie in etlichen Jahren zuvor an den Bodensee gefahren, um dort seine Ferien zu verbringen. Nach Helmuts Auffassung haben sich beide Partner während ihrer Ehejahre sehr aneinander gewöhnt, so dass sie jetzt »unheimlich verwandt«44 erscheinen und sich mitunter ohne verbale Kommunikation verstehen. Gestört wird das eingespielte Verhältnis von Helmuts ehemaligem Schul- und Studienkameraden Klaus Buch, der ihnen mit seiner sehr viel jüngeren, zweiten Ehefrau Helene auf der Seepromenade begegnet. Während Helmut die nahezu ständige Gegenwart der Buchs mehr und mehr lästig wird, versucht Klaus, den einstigen Freundschaftsbund durch gemeinschaftliche Aktivitäten und die Erinnerungen an frühere Erlebnisse neu zu beleben. Die Anwesenheit von Klaus und Helene gibt zwar den Impuls, dass Helmut aus seinem »Trott«45 gerissen wird, jedoch fühlt er sich von dem Fitness- und Körperkult abgestoßen, den die Buchs zelebrieren. Trotz dieser Distanz beginnt Helene zunehmend Helmuts erotisches Interesse zu erregen, während sich Sabines Neigung für Klaus intensiviert. Doch im Gegensatz zu den Wahlverwandtschaften schlägt die ursprüngliche Konstellation nicht in neue Paarbildungen um. Helmut und Sabine agieren zu selbstreflexiv, um nicht zu erkennen, dass sich beide von den Urlaubsgästen inzwischen »ein bißchen verführt«46 fühlen. Während Sabine diese Stimmung nutzen will, um die sexuelle Innigkeit zwischen sich und ihrem Ehemann zu beleben, kennt Helmut seinen Goethe zu gut, um sich auf einen »Ehebruch im Ehebett« einzulassen:47 »Wenn sie einander heute nahekämen, dann dächte sie an Klaus und er an Helene, und das sei für ihn eine Vorstellung, die ihn abrüste«.48 Trotz Helmuts Rückzug bringt der direkte Umgang mit der Verliebtheit des je anderen eine
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Ebenda. Walser, FP, S. 17. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 103f. Begriffsprägung von Paul Stöcklein, hier zit. nach: Johann Wolfgang Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. München 1981, Bd. 6, S. 714. Da Helmut Halm als ein klassischer Vertreter des Bildungsbürgertums gezeichnet wird – er ist »Doktor Oberstudienrat« (Walser, FP, S. 110), liest Nietzsche, Kierkegaard und de Sade –, wäre es nicht abwegig, ihm auch die Kenntnis der Wahlverwandtschaften zu unterstellen. Ebenda, S. 104. Mit dieser Aussage werden die Wahlverwandtschaften zwar indirekt, aber signifikant zitiert. Dass Walser in diesem Kontext durchaus an Goethe gedacht hat, belegt der Ausfall Klaus Buchs, den Walser nur zwei Seiten später über den Bodensee ausrufen lässt: »Das ist schon ein Scheißsee. […] Das sei vielleicht was für Opas, in deren Wipfeln Ruh ist.« (ebenda, S. 106). Vgl. Wiethölter, ›Otto‹ (Anm. 40), S. 242, Anm. 3.
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neue Seite in der Beziehung der Halms zum Vorschein: »Es war zwar nicht das Gespräch geworden, das er Sabine schuldig war, aber sie hatten einander an Stellen berührt, an denen sie sich vorher noch nicht berührt hatten«.49 Im Unterschied zu den Wahlverwandtschaften, wo die bevorstehenden Umbrüche unter der Oberfläche des täglichen Miteinanders schwelen,50 entschärft die offene Kommunikation die aktuellen Neigungen und festigt die Lebensgemeinschaft von Sabine und Helmut. Ungeachtet des prinzipiell anderen Umgangs mit ihrer Verliebtheit, den die Halms gegenüber Goethes Eduard und Charlotte zeigen, ergibt sich in Ein fliehendes Pferd ebenso wie in den Wahlverwandtschaften eine onomastische Zuordnung der Figuren. Während Goethe mit verschiedenen Varianten der Namenssilbe ›Ott‹ die Figurenbezüge strukturiert,51 nutzt Walser die Kurz- bzw. Koseform ›Hel‹, um die Relation zwischen Helene und Helmut anzudeuten. Helmut selbst macht auf diese Namensverwandtschaft aufmerksam: Hel und Helmut, diese Namen kamen ihm plötzlich vor wie zwei Werkstücke, die dafür gemacht sind, zusammengekuppelt zu werden. Er würde sie Helene nennen, wenn er etwas zu sagen hätte.52
Während jedoch Goethe ein differenziertes Spiel mit den Namen der Protagonisten treibt, das sich bis hin zur Bildung des Akrostichons ›ECHO‹ fortführen lässt, beschränkt sich Walser auf die onomastische Engführung von Helmut und Helene.53 Der gemeinsame Segeltörn auf dem Bodensee, den Klaus und Helmut unternehmen, bildet schließlich den dramaturgischen Höhepunkt von Walsers Novelle. Dabei konturiert der Redeschwall, den Klaus anfangs auf Helmut loslässt, nochmals den Unterschied zwischen dem Geistesmenschen Helmut und dem Körpermenschen Klaus. Doch ebenso wie Sabine anfangs Helmuts »Trott« kritisiert hatte, ist inzwischen selbst Klaus aufgefallen, dass sein einstiger Freund momentan eine »Flaute«54 zu erleben scheint. Er bietet Helmut daher nicht nur an, eine gemeinsame Reise auf die Bahamas zu unternehmen, sondern erwägt sogar, dass sich Helmut vielleicht von Sabine trennen könnte.55 Die
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Walser, FP, S. 104. Vgl. insbesondere das Erzählerzitat, das Handke als nachträgliches Motto über Die linkshändige Frau setzt (Handke, LF, S. 133; Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 13. FA I, 8, S. 364). Vgl. Heinz Schlaffer, Namen und Buchstaben in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 7 (1972), S. 84–102. Walser, FP, S. 91. Als man Klaus am Ende für ertrunken hält, wagt es Helmut bezeichnenderweise zum ersten Mal, Helene ›Hel‹ zu nennen (ebenda, S. 134). Mit Bezug auf Helmuts Reflexion über die mögliche ›Zusammenkuppelung‹ der Vornamen spricht Wiethölter von einer »phonetischen Kopulation« (Wiethölter, ›Otto‹ [Anm. 40], S. 245). Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften. FA I, 8, S. 995. Gleichwohl stiftet Walser eine symbolhafte Beziehung zwischen den Frauenfiguren, indem Helene Sabines Brille und damit gewissermaßen einen Teil ihrer Identität borgt (Walser, FP, S. 76). Walser, FP, S. 112. »Helmut könne zu Klaus Buch kommen, wenn er wissen wolle, wie er sich am glimpflichsten von Sabine trennen könne« (Ebenda, S. 111f.).
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Möglichkeit neuer Paarbildungen, die zuerst Helmut gegenüber Sabine ausgesprochen hatte, wird auf diese Weise von Klaus – zumindest implizit – wieder in Aussicht gestellt. Weit bedeutsamer an dem gemeinsamen Bootsausflug ist jedoch der plötzlich einsetzende Sturm, in dessen Verlauf Klaus über Bord geht und anscheinend ertrinkt. Mit Rekurs auf die Wahlverwandtschaften spricht Wiethölter daher von einem »Buch, der ins Wasser fällt und [der] also keine Sache, sondern einen Mann dieses Namens meint«.56 Auch wenn diese Details einander entsprechen, d.h. wenn Ottilie ihr Buch »nach der andern« Bootsseite hin »entfährt«57, während Helmut »mit einem Fuß Klaus Buch die Pinne aus der Hand«58 stößt, so dass dieser in den See stürzt, ist aus der mäßigen Strukturanalogie kein ergiebiges Sinnpotential zu gewinnen. Wichtiger ist vielmehr, was diese Ereignisse, der Tod Ottos und der vermeintliche Tod von Klaus, in beiden Texten auslösen: Während sich Ottilie als einen »auf eine fürchterliche Weise«59 vom Schicksal gezeichneten Menschen begreift und sich in radikaler Entsagung vom Leben abwendet, kann Helene, die sich von der Gegenwart ihres Ehemanns ungemein befreit fühlt, in einem langen Monolog gestehen, welche scheinheilige Existenz Klaus geführt hat. Im Unterschied zu den Wahlverwandtschaften findet Walsers Novelle erst mit dieser Schlusswendung zu ihrem eigentlichen Thema. Nach der wechselvollen Annäherung beider Paare zeigt sich nun, dass beide Männer eine Art Scheinexistenz aufgebaut haben. Unter dem Druck des deformierenden kapitalistischen Gesellschaftssystems versucht Helmut stets, »seine wirkliche Person in Sicherheit zu bringen«60, um die Macht über sein eigentliches Ich zu wahren.61 Klaus hingegen hat sich, wie im Monolog Helenes deutlich wird, eine Existenz konstruiert, die aus einer Reihe von Scheinerfolgen besteht, um die eigene Unsicherheit und Unfähigkeit vor allem im Berufsleben zu kaschieren. »Helmut Halm und Klaus Buch […] unterscheiden sich nur in der Fluchtrichtung. Beiden geht es um die Identität der eigenen Person«, deren uneingeschränkte Bejahung »von den geltenden Verhältnissen vereitelt wird«.62 Nach Helenes Geständnis erscheint Klaus, der den Sturm wider Erwarten überlebt hat, im Kreise der trauernden Figuren. Damit bleiben die Ehebindungen zwar die gleichen, gewinnen aber zumindest im Hinblick auf die Halms eine neue Qualität. Denn Helmut und Sabine brechen nicht nur ihren gewohnten Urlaub am Bodensee ab, um nach Montpellier zu reisen, sondern Helmut er-
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Wiethölter, ›Otto‹ (Anm. 40), S. 242. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 13. FA I, 8, S. 494. Walser, FP, S. 120. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 15. FA I, 8, S. 503. Walser, FP, S. 13. Helmut sagt: »Je mehr ein anderer über mich wüßte, desto mächtiger wäre er über mich« (ebenda, S. 37). Manfred Dierks, »Nur durch Zustimmung kommst du weg«. Martin Walsers IronieKonzept und ›Ein fliehendes Pferd‹. In: Literatur für Leser 1 (1984), S. 44–53, hier S. 46.
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weist sich am Ende sogar als autodiegetischer Erzähler der gesamten Novelle.63 Indem er sich gegenüber Sabine mit dieser Erzählung offenbart, demonstriert er ihr seine Aufrichtigkeit und seine Fähigkeit zu lieben.64 Walser schwenkt in eine versöhnliche Perspektive ein. Vier Jahre später artikuliert er in seinem Vortrag Goethes Anziehungskraft (1982) eine deutlich ironische Haltung gegenüber dem Vorbild Goethe, indem er ihn als »Ausgewogenheitsklassiker« charakterisiert, der vorwiegend solche literarische Welten gestalte, »in de[nen] es, weil alle Entsagung trainieren, nur lösbare Konflikte gibt«.65 Im Hinblick auf die Wahlverwandtschaften trifft diese Einschätzung jedoch nicht mehr zu, wie Walser einräumt: Die Entsagung wird da noch drastisch bis zum Hungertod praktiziert. Ottilie wird Märtyrerin. Anders wäre den hier beteiligten Männern kein bißchen Entsagung beizubringen gewesen. Aber dadurch schon. Die Harmonie, so düster sie ist, ist dann eine. Aber den ganzen Roman lang lässt Goethe immer wieder etwas so dazwischenkommen, daß man glaubt, es komme nur dazwischen, um uns wieder ein bißchen Angst zu machen, tatsächlich werde der Roman doch in der durch das Quartett verheißenen hellsten Harmonie enden. Goethe muß das gewollt haben. Dann hat er es nicht geschafft.66
Die Ambivalenz der ironischen Rede unterstellt Goethe einerseits, an der Umsetzung des angeblich anvisierten harmonischen Finales gescheitert zu sein. Andererseits versteckt die explizite Abwertung Walsers implizite Anerkennung: Er zollt sie Goethe dafür, dass dieser die in den Wahlverwandtschaften vorgeführte Entsagung gerade nicht in einen der vielen »lösbare[n] Konflikte« hat münden lassen. Doch mit dem schmerzhaften Eindruck, der bei Goethes Romanausgang zurückbleibt, kann sich Walser ebenfalls nicht einverstanden erklären: »Man hätte ihn gern anders«,67 vermerkt er lapidar. In Walsers Sinne hätten demnach Ottilie und Eduard nicht sterben dürfen und hätte sich Eduard gegenüber Charlotte vielleicht als Erzähler des Romans erweisen müssen.
III. Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch Ohne die Vehemenz Martin Walsers erkennen zu lassen, hat sich Dieter Wellershoff ebenfalls davon distanziert, dass sein im Jahr 2000 veröffentlichter Roman Der Liebeswunsch unmittelbar auf Goethes Wahlverwandtschaften rekurriere. Zwar ist diese intertextuelle Beziehung in einer Vielzahl von Rezen-
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Mit seinen letzten Worten zitiert Helmut den ersten Satz der Erzählung. Zur Erzählanlage der Novelle vgl. ausführlicher Bärbel Westphal, »Wahrscheinlich sollte man reden miteinander«. Die narrativen Modi als Mittel der Gestaltung von Ehe und Beziehungsproblemen in Martin Walsers Novelle ›Ein fliehendes Pferd‹. Uppsala 2003. Vgl. Siegfried Weing, Kierkegaardian Reflections in Martin Walser’s ›Ein fliehendes Pferd‹. In: Colloquia Germanica 25 (1992). H. 3/4, S. 275–288, hier S. 286. Martin Walser, Goethes Anziehungskraft [1982]. Vortrag gehalten am 31. Januar 1983 anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Konstanz 1983, S. 36f., 38. Ebenda, S. 40f. Ebenda, S. 41.
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sionen vermerkt worden,68 jedoch hat Wellershoff noch im Erscheinungsjahr des Romans präzisiert: Solch eine Viererdramaturgie [wie in Der Liebeswunsch] gibt es in der Tat auch in den Wahlverwandtschaften. Es ist aber auch eine Grundkonstellation des Lebens. Goethe sieht eine anonyme Schicksalhaftigkeit walten, eine Art Chemie. Meine Figuren sind zwar auch Getriebene, es sind aber auch Elemente von Wahlfreiheit und Zufall dabei.69
Wellershoffs Aussage zielt auf den Gegensatz von Offenheit, die er seinem Roman zubilligt, und Geschlossenheit, die er Goethes Roman attestiert. Während seine Figuren eine echte ›Wahlfreiheit‹ besitzen, präfigurieren die wahlverwandtschaftlichen Beziehungen von Goethes Akteuren bereits deren ›Wahldetermination‹. Dieser Abstand, den Wellershoff gegenüber Goethes Roman gewahrt wissen will, wird auch in seinen Reflexionen über Die Entstehung eines Romans (2000) zumindest implizit deutlich. Denn die Beschreibung der prozessualen Arbeit am Liebeswunsch soll zugleich Wellershoffs individuelles Schöpfertum beglaubigen: Mein nächster Einfall war es dann, um diese konflikthaltige und im Grunde verfehlte Beziehung von Leonhard und Anja mit der künstlichen Harmonie eines Freundschaftsbundes zu viert einen Sicherheitsmantel zu legen, der die Spannungen zunächst verdeckte, aber sie in einem komplexeren Zusammenhang neu inszenierte. Als mir das vor Augen stand, hatte ich das Grundgerüst des Romans.70
Im Presseheft, das begleitend zur Verfilmung des Romans im Jahr 2007 publiziert wurde, setzt Wellershoff hinzu: Auch die Figuren sind ganz aus der Realität entwickelt: Zwei bestimmte Frauen waren die Vorbilder für Anja […]. Beide Frauen brachten sich um, weil ihre Beziehungen zu verheirateten Männern in die Brüche gingen.71
Mit dem Insistieren auf der eigenständigen Fügung des Romangerüsts und der Orientierung an realen Personen erscheint die Annahme, Wellershoffs Liebeswunsch könne als unmittelbare Adaption der Wahlverwandtschaften gelesen werden, weitgehend haltlos. Hinzu kommt, dass er die in seinem Werk wiederholt umspielte Liebesthematik nicht nur in der Großform des Romans literarisch neu erprobt, sondern auch in der ›Kleinform‹ seines Essays Der verstörte Eros (2001) aufgreift, der eine ›Literaturgeschichte des Begehrens‹ 68
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Vgl. Elisabeth Hollerweger, Liebeswünsche als Liebesängste. Zu Dieter Wellershoffs Roman ›Der Liebeswunsch‹. Diss. Freiburg im Breisgau 2004, S. 226, Anm. 65 [http:// www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/1667/pdf/ KomplexLiebe.pdf; Zugriff: 11. Januar 2010]. Dieter Wellershoff, Der Mensch entgleitet sich immerzu. Gespräch mit Bernd Berke. In: Westfälische Rundschau (20. Oktober 2000), zit. nach: Hollerweger, Liebeswünsche (Anm. 68), S. 237. Dieter Wellershoff, Die Entstehung eines Romans. Ein Zwischenbericht. Stuttgart 2000, S. 12. Der Liebeswunsch. Ein Film von Torsten C. Fischer. Presseheft. München 2007, S. 12f. [http://www.derliebeswunsch-derfilm.de/presse/archiv/ph_liebeswunsch.doc; Zugriff: 11. Januar 2010].
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von Goethes Werther (1774) bis hin zu Michel Houellebecqs Elementarteilchen (1998) enthält.72 Die Vielzahl der Texte, die Wellershoff in seinem Essay behandelt, legen die Vermutung nahe, dass neben den Wahlverwandtschaften durchaus weitere literarische Werke als potentielle Prätexte von Der Liebeswunsch in Betracht kommen könnten. Mit Goethes Werk hat Wellershoffs Roman zunächst die viergliedrige Figurenkonstellation gemein, auch wenn sich daraus keine doppelte Paarverschiebung, sondern eine zentrale amour fou entwickelt, wie eine knappe Skizze des Handlungsverlaufs erkennen lässt. Während einer Ostasienreise des Arztehepaars Paul und Marlene übernimmt die Literaturstudentin Anja die Aufgabe, das Wohnhaus der Reisenden zu beaufsichtigen. In dieser Zeit begegnet sie dem Hausfreund des Ehepaars, dem Richter Leonhard, der sich gegenüber Anja stets höflich und zuvorkommend verhält, sie aber gegen Ende der Urlaubszeit mit der Frage überrascht, ob sie seine Frau werden wolle. Anja stimmt kurzentschlossen zu und befreit Leonhard aus seiner bisherigen Rolle, nur ein »freundlich geduldete[s] Anhängsel«73 von Paul und Marlene zu sein. Doch bereits die Hochzeitsreise der neuvermählten Ehepartner lässt ahnen, wie wenig Anjas schwärmerische Liebessehnsucht und Leonhards stoisch-rationale Lebenseinstellung miteinander harmonieren.74 Zwar gelingt es ihnen, ein gemeinsames Alltagsleben zu führen, doch entgeht dem in seinen Konventionen gefangenen Leonhard völlig, wie sehr sich Anja von ihm abzuwenden beginnt. Selbst die Geburt ihres Sohnes Daniel vermag Anja nur temporär aus ihrer zunehmend lethargischen und später depressiven Verfassung zu reißen. Diese Wesensveränderung bleibt auch Leonhard nicht verborgen, der mit seiner Gattin nunmehr wie mit einer »chronischen Krankheit«75 lebt, der aber nicht versteht, welcher Heilung sie tatsächlich bedarf. Anstatt eine vernünftige Lösung für ihre schwierige Lage zu suchen, lässt sich Anja auf eine Affäre mit Paul ein, um ihr uferloses Liebesbedürfnis zu stillen. Gleichzeitig ist ihr klar, dass das von Paul heimlich angemietete Apartment nicht mehr ist als ein »Versteck«, in dem sie dem verhassten Alltag für wenige Stunden den Rücken kehren kann: Abgeschnitten vom Leben und allen Belebungen, die die Liebe braucht, kommt sie her zu dem einzigen Zweck, ein- oder zweimal mit Paul Sex zu machen und wieder auseinanderzugehen.76
Obwohl Marlene schon längere Zeit einen Verdacht hegt, entdeckt sie erst durch Zufall, dass Paul ihr untreu ist. Für beide Paare hat diese Entdeckung
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Vgl. Dieter Wellershoff, Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens. Köln 2001. Wellershoff, LW, S. 45. Bezeichnend ist der Vergleich, der gebraucht wird, um die Verfassung beider Figuren in der Hochzeitsnacht zu beschreiben: »Beide blieben sie für sich, und sie dachte, daß sie sich wie eine Schiffbrüchige an eine auf und ab wogende Planke klammere, mit der sie in die Dunkelheit des offenen Meeres hinaustrieb, bis die Bewegung mit einem kurzen, schnellen Rütteln zu Ende war.« (Ebenda, S. 56). Ebenda, S. 192. Wellershoff, LW, S. 227.
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drastische Konsequenzen: Marlene trennt sich von Paul und Leonhard von Anja. Pauls Weigerung, das Verhältnis mit Anja fortzusetzen, vermag Anja nicht zu verkraften. Trotz vereinzelter Hilfeleistungen von Marlene bleibt sie auf sich allein gestellt, weshalb es ihr nicht gelingt, sich aus ihren anhaltenden depressiven Zuständen zu befreien. Mit einem Sprung von einem Wohnturm nimmt sich Anja schließlich das Leben. Wellershoff will mit seiner Gestaltung eines wechselhaften Beziehungsgeflechts die Möglichkeiten der Liebe ›unter den Bedingungen der Moderne‹ freilegen und damit gleichzeitig vorführen, dass der Liebe im Lebensraum der Gegenwart ein prinzipiell anderer Platz zugewiesen werden muss als noch zu Goethes Zeiten.77 Aufgrund dieser Verschiebung bleiben die Parallelen mit den Wahlverwandtschaften eher vereinzelt, wie schon Elisabeth Hollerweger herausgearbeitet hat.78 Zwar konstruiert Wellershoff ein äußerlich ähnliches Figurenverhältnis, entwirft jedoch eine andere Vorgeschichte. Denn im Gegensatz zu Goethes Hauptmann kommt Leonhard nicht erst zu einer bestehenden Paarbindung hinzu, sondern war bereits in der Vergangenheit mit Marlene liiert, bis sie sich gegen ihn und für Paul entschied. Zwar verfolgt Wellershoff ebenso wie Goethe die wachsende Entfremdung der Ehepartner, rückt jedoch nur eine neue Liebesverbindung – nämlich die von Paul und Anja – in den Mittelpunkt.79 Das zeitigt zudem die markante Differenz, dass im Liebeswunsch Leonhard zum zweiten Mal von seinem vermeintlichen Freund Paul hintergangen wird. Zwar lässt sich überdies die schwärmerisch-gefühlsbetonte Figurenanlage von Ottilie und Anja vergleichen,80 jedoch entspricht Anja in ihrer Maßlosigkeit und Liebesbedürftigkeit gerade nicht dem Typus einer Entsagenden, den Ottilie am Ende der Wahlverwandtschaften verkörpert. Selbst im Umgang mit Otto bzw. Daniel unterscheiden sich beide Frauenfiguren qualitativ: Während Ottilie das fremde Kind fahrlässig tötet, resultieren die Verbrühungen des eigenen Kindes aus einer Unachtsamkeit Anjas.81 Schließlich können zwar die Selbstvorwürfe der betrogenen Ehegattinnen Charlotte und Marlene miteinander parallelisiert werden,82 jedoch vermag Marlene, die freilich in einem gesellschaftlich weit77
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Wellershoff sagt selbst: »Wir sind sehr illusionsanfällig, weil uns heute eine Form der Welt fehlt, wie sie früher durch die Moral, die Institutionen vorgegeben war. Als Schiller seine Glocke schrieb, war das noch sehr klar, auch die Liebe hatte ihren eindeutigen Platz. Heute ist das nicht mehr so. Dadurch werden die Menschen zu Lebenskünstlern, wobei die eigentliche Kunst darin besteht, man selbst zu sein – das ist das Allerschwierigste.« (Wellershoff, Presseheft [Anm. 71], S. 7). Vgl. Hollerweger, Liebeswünsche (Anm. 68), S. 227f. »Der Unterschied besteht darin, dass in den Wahlverwandtschaften eine Ehe durch zwei gedankliche Affären gebrochen wird, im Liebeswunsch zwei Ehen durch eine wirkliche Affäre ins Wanken geraten.« (Ebenda, S. 231). Vgl. ebenda, S. 229. Vgl. ebenda, S. 232. »Anders als in Goethes 1809 publiziertem Roman von den verworrenen Beziehungen zweier Paare kommt bei Wellershoff zwar kein Kind ums Leben, doch eine Unachtsamkeit Anjas führt zu einer schweren Verletzung ihres Sohns Daniel« (Volker Hage, Anjas Wunsch und Wahn. In: Der Spiegel 44 [30. November 2000], S. 275–277, hier S. 276). Charlotte fragt sich: »Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir als das schicklichste Paar zusammengedacht? Habe ich nicht selbst beide einander zu nähern
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aus liberaleren Raum als Charlotte lebt, selbstbewusster und offensiver mit Paul umzugehen, als es Charlotte mit Eduard je tun kann. Die vorangehende Aufzählung verdeutlicht, dass Wellershoffs und Goethes Roman in einem tendenziell verwandtschaftlichen, aber keinem originär wahlverwandtschaftlichen Verhältnis stehen. Anlässlich der Verfilmung seines Romans hat Wellershoff die Eigenständigkeit seines Werks nochmals betont: Bei Goethe gibt es den klaren Schicksalsdeterminismus, es gibt kein Ausweichen, der Begriff ›Wahlverwandtschaften‹ ist ein Ausdruck für chemische Verbindungen. Die Elemente ziehen sich an und stellen eine Verbindung her. Ich selbst sehe die menschlichen Beziehungen nicht so, für mich sind sie offen. In jeder Situation gibt es mögliche Alternativen. Deswegen nenne ich meinen Roman ein ›Mobile‹: Es dreht sich, jedes Element gibt Impulse an die anderen weiter, sie bewegen sich alle in einer komplizierten Abhängigkeit voneinander. Wer etwas tut, erschließt gewisse Möglichkeiten, schließt andere aus, und daraus ergibt sich erst allmählich die Notwendigkeit der Schlussphase.83
Wellershoff distanziert sich von der Vorstellung, dass zwischenmenschliche Beziehungen auf die Form eines chemischen Strukturmodells zurückzuführen seien. Vielmehr votiert er für die Offenheit und Unkalkulierbarkeit solcher Interaktionsprozesse, die er in seinen literarischen Werken abzubilden versucht. Dabei wird der Komplexität der Figurenverhältnisse, die Wellershoff mit der poetologischen Metapher des Mobiles veranschaulicht, in Der Liebeswunsch mit besonderen formalen Mitteln Ausdruck verliehen. Zum einen folgt die Narration keiner chronologischen Ordnung, sondern setzt auf zeitliche Multiperspektivität, indem analeptische Berichte mit präsentischen und proleptischen Schilderungen wechseln. Zum anderen nutzt Wellershoff sowohl die externe als auch die multiple interne Fokalisierung, um die Perspektive der Darstellung an die subjektiven Innensichten der Figuren sowie an eine nüchterne, zurückhaltende Erzählinstanz zu binden. Gleichwohl nimmt die romanpoetische Komposition die Katastrophe von Anjas Selbstmord vorweg, da bereits im ersten Satz von »ihrem Tod«84 die Rede ist. Weil das Ende feststeht, liegt Wellershoffs Akzent nicht auf dem finalen Ergebnis der Handlungsführung, sondern auf der konkreten Interdependenz seiner Figuren, genauer: auf ihrer »psychologischen Feinmechanik«.85 In diesem Horizont erweist sich Der Liebeswunsch als ein Romanexperiment mit gewissem Ausgang. Dabei erscheint die bewusste Entfernung von literarischen Referenzmodellen notwendig, um die Authentizität des individuellen Schöpfer-
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gesucht?« (Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 14. FA I, 8, S. 498). Marlene macht sich im Nachhinein auf ähnliche Weise Selbstvorwürfe: »Wahrscheinlich habe ich einen schweren Fehler gemacht, damals, in der Nacht, als ich meinen Wunsch unterdrückte, Paul anzurufen und mich mit ihm auszusprechen. Wenn ich meine Gefühle und Befürchtungen gestanden hätte, […] dann hätten wir sicher eine gute Chance gehabt, mit unserer Krise fertigzuwerden.« (Wellershoff, LW, S. 173). Wellershoff, Presseheft (Anm. 71), S. 7; vgl. zum Problem des Schicksalsdeterminismus auch den Beitrag von Helmut Hühn in diesem Band. Wellershoff, LW, S. 7. Ebenda.
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tums zu wahren. Schließlich hatte Wellershoff schon Ende der 1960er Jahre vor einer allzu direkten Orientierung an konkreten Vorlagen gewarnt: Die authentische Literatur richtet sich gegen die etablierten Schemata, und ständig fortschreitend auch immer gegen sich selbst. Sie ist dauernd zur Veränderung gezwungen, weil alles Formulierte, jedes einmal gefundene Gestaltungsmuster einen heimlichen Authentizitätsverlust erleidet, der in der Nachahmung sofort kenntlich wird.86
Will Literatur authentisch sein, so die These Wellershoffs, muss sie sich fortwährend fremd werden. Dass dieser Prozess der Entfremdung auch vermittels der produktiven Rezeption eines vorgängigen Textes erfolgen kann, haben die drei exemplarischen Analysen gezeigt. Goethes wirkungsintensiver Roman wird bei Handke, Walser und Wellershoff nicht gemeinhin ›aktualisiert‹, sondern scheint vielmehr als literarisches Impulsmoment auf, das eine je individuelle Bezugnahme provoziert. Handke greift ein poetisches Verfahrensmuster von Goethe auf, indem er die Reduktion der Erzählerinstanz intensiviert, um das Dargestellte in nüchterner Distanz zu präsentieren. Walser lässt anhand etlicher Details die Ähnlichkeit mit Goethes Roman hervortreten, nutzt aber die Parallelen, um zu einer unerwarteten Schlusswendung zu gelangen. Und Wellershoff rekurriert strukturell auf die Figurenkonstellation der Wahlverwandtschaften, fokussiert jedoch die spezifische Offenheit ›moderner‹ Paarbildungen. Im Anschluss an das eingangs zitierte Diktum Hans Mayers ließe sich daraus ableiten: Moderne Literatur ist zwar nicht möglich ohne die Kenntnis moderner Literatur, aber authentische moderne Literatur ist nur dann möglich, wenn sie sich wiederum von der Kenntnis moderner Literatur löst. Und mit Blick auf Goethes Roman wäre zu resümieren: Die Wahlverwandtschaften – so nennen wir einen Roman, dessen kreative literarische Rezeption auch künftig jenseits aller schlichten Nachahmung zu suchen sein wird.
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Dieter Wellershoff, Fiktion und Praxis. In: Ders., Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der Literatur. Köln 1969, S. 9–32, hier S. 25.
VOM RECHT DER GEGENWART
Das »ungeheure Recht« der Gegenwart Übereilung, Mode und Verdrängung der Gegenwart als Symptome eines verfehlten Zeitbewusstseins in Goethes Wahlverwandtschaften Elisabeth von Thadden
Wer Goethes Wahlverwandtschaften zu lesen beginnt, hat sich, anders als seine Figuren, nicht für ein chemisches Lehrbuch, sondern für die Lektüre eines Romans, eines literarischen Textes entschieden. »In früherer Zeit«, so heißt es im vielzitierten vierten Kapitel der Wahlverwandtschaften, »in früherer Zeit« – und diese Zeitangaben werden ausdrücklich wiederholt – habe auch das Interesse des Barons Eduard »dichterische[n] und rednerische[n] Arbeiten« gegolten. »Nun« aber seien es andre Gegenstände die ihn beschäftigten, andre Schriften woraus er vorlas, und eben seit einiger Zeit vorzüglich Werke physischen, chemischen und technischen Inhalts.1
Letzteres hat er nicht nur mit seiner Frau Charlotte gemein (und vom Hauptmann erfahren wir jedenfalls nichts Gegenteiliges), sondern durchaus auch ein wenig mit seinem Autor Johann Wolfgang Goethe, der betonte, dieser Roman stehe im Zusammenhang mit seinen fortgesetzten naturwissenschaftlichen Studien, denen er bekanntlich seit der Französischen Revolution mit vorrangigem Interesse nachging. Die Literatur, die Künste hatten für Goethe längst machtvolle Rivalen bekommen. Die besonderen Qualitäten der Literatur verstanden sich in der Konkurrenz mit den Wissenschaften durchaus nicht von selbst. Mehr noch, während der Entstehungszeit der Wahlverwandtschaften entstand 1808 Goethes Notiz, der auch seine Figur Eduard gewiss zustimmen würde: Schon seit einem Jahrhundert wirkten die Humaniora (heute würde man sagen, die Gegenstände der Geisteswissenschaften) nicht mehr aufs Gemüt, und es sei gut, dass die Natur unterdessen das Interesse auf sich gezogen habe, um den Weg zur Humanität neu zu öffnen.2
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Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman I, 4. WA I, 20, S. 45. Der vorliegende Vortrag wurde im Rahmen der von Helmut Hühn konzipierten Wahlverwandtschaften-Ringvorlesung am 10. Februar 2009 in Jena gehalten. Für den Druck wurde die Fassung weitgehend beibehalten. Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer, 25. November 1808. WA V, 2, S. 228; vgl. Brief an Carl Ludwig Knebel, 25. November 1808. WA IV, 20, S. 223.
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Dass die Wege der Erkenntnis einem historischen Wandel unterworfen sind, dass die Muster, nach denen der Mensch Kultur und Natur interpretiert, sich ändern, dass auch das Wissen permanent im Fluss ist und mit ihm die Interessen, die Moden: Dies sind keine Kleinigkeiten am Rande, die auch in Eduards Vorlieben Niederschlag finden. Sondern dies sind markante Kennzeichen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, der letzten Schwelle zum wissenschaftlich-technischen Zeitalter. Und zugleich dem Zeitpunkt, an dem die Moderne erkannte, dass sie es mit besonderen, mit neuen Erfahrungen und Deutungen der Zeit zu tun hatte. Der Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck, der diesen Zusammenhang zuerst erkannte und in den letzten Jahrzehnten erforscht hat, hat von der Entdeckung der Zeit neuzeitlicher Prägung gesprochen.3 Deren vielleicht bedeutsamstes Merkmal für den Roman Die Wahlverwandtschaften ist die umfassende Erfahrung der Beschleunigung, der Flüchtigkeit und der Eile. Sie stehen, das sei in aller Kürze angedeutet, im Zusammenhang eines Fortschrittsdenkens, das das jeweils Neue als besseres versteht und das Vergangene als überholt. Es sind Merkmale der Moderne, mit denen Goethe biographisch und vor allem im Werk kämpfte wie kaum mit anderen, oft im Verborgenen, in Andeutungen oder Fragmenten. Man muss bei diesem Autor, der sonst alles Bedeutsame ostentativ für den Leser ausbreitete, nach verborgenen Hinweisen suchen, die diesen Kampf dokumentieren. Mit einer auffälligen Entschiedenheit hat Goethe seit den neunziger Jahren gegen die Beschleunigung aller Lebensbereiche ein anderes Tempo gesetzt und thematisiert: die zeitliche Dimension der naturalen Entwicklung, des Wachstums und der Metamorphose der Lebewesen. Die Erforschung der belebten Materie, der Organismen, ist der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund dieses Akzents des Goethe’schen Werkes. Die Langsamkeit der natürlichen Entwicklung kontrastierte Goethe seit der Mitte der neunziger Jahre wiederholt mit der Beschleunigung des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Wandels. Dieser Kontrast zwischen naturaler Langsamkeit und gesellschaftlicher Beschleunigung wirkt sich nicht nur auf die Auswahl der Arbeitsgegenstände Goethes aus, sondern vor allem sprachlich: in den Metaphern, den Symboliken, der Textur seiner literarischen Werke. Doch ich greife vor, wie es in den Wahlverwandtschaften auch Eduard eigen ist, der fragt: »Wo fangen wir aber nun an, um am schnellsten in die Sache zu kommen?«4 Ich möchte in langsamer Annäherung an die Sache zunächst Hinweise dafür sammeln, dass das Verhältnis zur Zeit ein zentrales Thema der Wahlverwandtschaften ist und darüber hinaus im naturwissenschaftlichen Werk Goethes wurzelt und damit in den Problemen der Jahrhundertwende um 1800. Es versteht sich fast von selbst, dass ich damit nur einen Zugang zum Roman wähle, der fast unendlich mehr und andere Bedeutungsschichten enthält, die ich hier vernachlässigen muss.
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Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 4. WA I, 20, S. 48.
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Wenn Eduard zum Auftakt des berühmten Gesprächs über chemische Wahlverwandtschaften im vierten Kapitel sagt, nichts könne man mehr »für sein ganzes Leben lernen«, alle fünf Jahre müsse man heutzutage umlernen, wenn man »nicht ganz aus der Mode kommen«5 wolle, so spricht er aus, was seine Zeitgenossen, auch Goethe, in einem Prozess elementarer Verunsicherung erfahren mussten: dass alle Wissensbestände in einem rasanten Wandel steckten. Wer weiß schon, was angesichts der Vielfalt an Verwandtschaftslehren wissenschaftlich noch stimmt und Gültigkeit hat? Welches eigene Wissen, wie es heißt, »zu den neuern Lehren paßt«? 6 Eduard, Charlotte und der Hauptmann jedenfalls wissen es im vierten Kapitel eingestandenermaßen nicht und hantieren dennoch unbedarft mit diesen Ungewissheiten herum. Die beschleunigte Zeit reißt alles in ihren Schlund hinein, was man eben noch meinte zu wissen, und die Protagonisten des Romans tun alles dafür, sich den Moden anheimzustellen und zugleich in ihrem Park die Zeit stillzustellen, der Gegenwart im vollen Goethe’schen Sinne des Wortes zu entkommen. Auf verhängnisvolle Weise, das wird im Einzelnen noch zu zeigen sein, ist das Verhältnis zur Zeit problematisch geworden, und die Protagonisten müssen es am eigenen Leibe bitter erfahren. An zentralen Stellen des Romans, in Ottilies Tagebuch und in der Nacht des phantasierten, realen Ehebruchs, ist vom »Recht« der »Zeit«7 und vom »ungeheure[n] Recht«8 der Gegenwart die Rede, und eben darum ist es dem Autor in seinem Meisterwerk zu tun. Was es heißt, ein verfehltes Zeitbewusstsein zu haben, wird er seinen Figuren in diesem Roman rücksichtslos beibringen. Bei einer Reihe von Details ist genauer zu verweilen. Eduard nennt in dieser Passage eines der zentralen Reizwörter des Goethe’schen Werks der Jahrhundertwende: das der Mode. Permanent müsse man umlernen, klagt der Baron, wenn man nicht aus der Mode kommen wolle. Nicht umsonst hat bereits einer der ersten Leser der Wahlverwandtschaften, Christoph Martin Wieland, entdeckt, dass die Wahlverwandtschaften fast enzyklopädisch »sämmtliche Mode-Studien unsrer Zeit« zum Gegenstand haben: die Naturwissenschaft, die Botanik, die Gartenkunst, die Chemie, die Baukunst, die Decorationskunst, die Kunst Gemählde durch Mimik darzustellen, und Gott weiß was noch für schöne Künste, haben das ihrige reichlich beigetragen.9
Es stimmt: Die Figuren der Wahlverwandtschaften, zuerst Eduard, aber gewiss nicht nur er, sind zutiefst von den Moden der Zeit ergriffen. Es ist, als müssten sie zur nächsten Modebeschäftigung greifen, kaum dass einmal ein Moment der Ruhe einkehren könnte. Getrieben wie von einem Furor des Modischen, jagen sie von einem Zeitvertreib zum nächsten und haben als Landadlige, deren 5 6 7 8 9
Ebenda, I, 4. WA I, 20, S. 48. Ebenda, I, 4. WA I, 20, S. 47. Ebenda, II, 2. WA I, 20, S. 215. Ebenda, I, 11. WA I, 20, S. 131. Christoph Martin Wieland, Brief an Elisabeth Gräfin von Solms-Laubach, 15. Juni 1810. In: Heinz Härtl (Hrsg.), ›Die Wahlverwandtschaften‹. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832, Berlin 1983, S. 158.
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Elisabeth von Thadden
Existenz als parasitär vorgestellt wird, auch keine andere raison d’être. Kaum sind die Kulissen der lebenden Bilder abgebaut, wird gependelt, kaum ruht die Parkkunst für einen Moment, werden wir zu pädagogischen Belehrungen gezerrt, und jeder macht mit, ohne irgend etwas Substanzielles von der Sache zu verstehen. Gegen kaum einen Zug seiner Zeit aber hat Goethe, obwohl und weil er selbst in vielen Feldern modisch dilettierte, so wütend polemisiert wie gegen die Moden und den mit ihnen einhergehenden Dilettantismus. Ich erlaube mir deshalb einige Randbemerkungen zu diesem Sachverhalt, bevor ich zu Eduard, dem Modespezialisten, und seinen Freunden im Park zurückkomme. »Die Kunst giebt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit: der Dilettantism folgt der Neigung der Zeit«,10 heißt es im Schema Über den Dilettantismus von 1799. Im Einklang mit Schiller wird 1797 die »neumodische Parksucht«11 gerügt. Goethe ist skeptisch gegenüber einer Moderne, die die kognitiven Möglichkeiten der Individuen überfordert und sie zur Willkür, zur regellosen Imagination, zur Ungeduld und Geschichtslosigkeit einlädt, zumal wenn dies sich an lebenden natürlichen Gegenständen – wie in der Park- und Gartenkunst – vollzieht. Eine vergleichbare Skepsis äußert Goethe gegenüber der methodischen Flüchtigkeit in der Wissenschaft. Seine eigenen erkenntnistheoretischen Überlegungen fordern den Forscher dazu auf, sich nicht zur Illusion der Objektivität seiner Forschungen verleiten zu lassen, sondern stets den Anteil des Subjektes mitzubedenken. Der heute auch für Wissenschaftshistoriker ungewöhnlich modern wirkende Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Object und Subject betont die »Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge«,12 mahnt zur Selbstüberprüfung als Korrektiv der »Übereilung«,13 warnt vor der Selbsttäuschung, in irgendeiner Sache »abschließen«14 zu können, und ebenso davor, die Einbildungskraft »vorauseilen«15 zu lassen. Goethe selbst bevorzugt hier das Verfahren der langsamen »Vermannichfaltigung eines jeden einzelnen Versuches«,16 um alle Seiten und Modifikationen einer Erfahrung zu überprüfen. Ins Auge fällt hier die Metapher des Bauens, die konstitutiv auch für die Geschichte der Farbenlehre sein wird: Wissenschaftliche Gebäude sollten nicht voreilig aufgeführt und nicht als »geendigte[r] Bau«17 betrachtet werden. Ich betone das hier, weil das eilige Bauen zu einer Dauerbeschäftigung der Wahlverwandtschaften gehört – ebenso wie das Nachahmen aller Moden. Ich betone auch das Wortfeld der Übereilung, weil es in den Wahlverwandtschaften Seite für Seite begegnet. Wenn dieser Aufsatz über den Versuch zum bedenkenswertesten gehört, was Goethe hinterlassen hat – vergessen wir nicht, 10 11 12 13 14 15 16 17
Goethe, Schema [Über den Dilettantismus]. WA I, 47, S. 319. Tagebucheintrag September 1797. WA III, 2, S. 146. Der Versuch als Vermittler von Object und Subject. WA II, 11, S. 33. Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 32. Ebenda, S. 36.
Das »ungeheure Recht« der Gegenwart
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dass durch den Roman hindurch immer von den »Versuchen« der Figuren die Rede ist – , so finden wir ähnliche Äußerungen, ironisch gewendet, im Aufsatz Der Sammler und die Seinigen von 1799: die Moden verändern sich so sehr, daß eine, selbst gut gemahlte, Großmutter zu den Tapeten, den Möbels und dem übrigen Zimmerschmuck ihrer Enkelin unmöglich mehr passen kann,18
heißt es dort sarkastisch. Goethes Postulat, dass Vergangenes nicht einfach modisch abgeworfen werden dürfe und der Fortschritt nicht blindlings in irgendeine Zukunft holpern solle, führt zu einer wissenschaftlichen Erkenntnislehre, die auch eine Ästhetik eigener Art ist. In den Arbeiten an der Geschichte der Farbenlehre, die gleichzeitig mit dem Verfassen der Wahlverwandtschaften geschehen, steht zu lesen, es gelte, das Vergangene im Gegenwärtigen zu sehen.19 Wo immer »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft […] glücklich in eins geschlungen«20 sind, ist den Phänomenen der Erfahrung und der Betrachtung Genüge getan, wie es in einem späteren Brief an Wilhelm von Humboldt heißt. Darin liegt eine Parallele zu dem Brief an Knebel von 1797, der die besonderen Aufgaben der Literatur benennt: Es ist aber sehr merkwürdig zu sehen wie in unserer Zeit nichts, auch nur einen Augenblick, an seiner Stelle bleiben kann und alles sich wo nicht verbessert doch immer verändert. Die litterarische Welt hat das eigne daß in ihr nichts zerstört wird ohne daß etwas neues daraus entsteht, und zwar etwas neues derselben Art. Es bleibt in ihr dadurch ein ewiges Leben, sie ist immer Greis, Mann, Jüngling und Kind zugleich.21
Was Goethe in diesem Brief an Knebel vom März 1997 festhält, findet sich in den Wahlverwandtschaften wieder: Die Literatur kann in der Gegenwart Vergangenheit und Zukunft zusammenbringen. Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges gehen auseinander hervor, aber nur, wenn man die Gegenwart nicht eilig, modisch oder ahnungslos überspringt. Ausgerechnet die Literatur aber ist für Eduard, der nur mehr wissenschaftliche und technische Schriften liest, eben gerade nicht besonders modern. Er kommt ohne sie aus. Nach allem, was wir bisher gesagt haben, ist das offensichtlich ein prekäres Unternehmen. Nicht umsonst hat der Autor und Forscher Goethe einen Roman verfasst und kein chemisches Lehrbuch. Und was entgeht einem also, wenn man, wie Eduard, auf die Lektüre literarischer Texte verzichtet? Es entgehen einem, das fügt der Erzähler an derselben Stelle im vierten Kapitel der Wahlverwandtschaften hinzu, spezifische Eigenschaften 18 19
20 21
Der Sammler und die Seinigen. WA I, 47, S. 128. Vgl. Elisabeth von Thadden, Erzählen als Naturverhältnis – ›Die Wahlverwandtschaften‹. Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines »Roman über das Weltall«. München 1993, S. 86–104; Goethe, Geschichte der Farbenlehre. Francis Bacon. WA II, 3, S. 239; Geognostisches Tagebuch der Harzreise [Paralipomena]. WA II, 13, S. 297. Brief von Goethe an Wilhelm von Humboldt, 1. September 1816. WA IV, 27, S. 157. Brief von Goethe an Knebel, 2. März 1797. WA IV, 12, S. 57.
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der Literatur: »Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen«, überhaupt: die »Erregung des Gefühls«, die »Überraschung der Einbildungskraft«.22 Die berühmte chemische Gleichnisrede folgt erst, nachdem der Leser weiß: Literatur interessiert den Protagonisten gegenwärtig nicht. Die Dinge sind im Fluss. Und in der Gegenwart ist genau eine Leerstelle von Gewicht: Es fehlt, wenngleich nicht nur sie, die Literatur. Den Roman Die Wahlverwandtschaften läse Eduard nicht, wenn er ihm zu Lebzeiten vorläge, er fände nicht sein Interesse. Das kann nichts Gutes zu bedeuten haben. Denn warum verfasste Goethe diesen Roman, wenn er nicht meinte, er müsse zur Kenntnis genommen werden? Es sind Details dieser Art, die den Leser der Wahlverwandtschaften, der sie entdeckt, in Entzifferungsnöte stürzen, aus denen man so leicht nicht mehr herausfindet. Wer die Wahlverwandtschaften liest, wird zum Deuten gezwungen, zur wiederholten Lektüre, zum Nachblättern, zum Vergleichen. Dies Stück Literatur zwingt einen buchstäblich dazu, durch Lektüre herauszufinden, was das Besondere der Literatur ist. Um es nun doch einmal vorwegzunehmen: Literatur versteht es, anders, als Eduard und seine Freunde, mit Zeit umzugehen. Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften von 1809 – wer ihn frisch gelesen hat und sei es zum wiederholten Mal, wird ihn unweigerlich für einen der rätselhaftesten Texte halten, die existieren – enthält kein Wort, dass man streichen könnte. Der Roman ist kalkuliert und konstruiert bis ins Detail. Man meint, ihn mit dem Mikroskop lesen zu müssen, damit einem nichts entgeht. Einige der augenfälligsten Details sind längst weltberühmt: Alle vier Protagonisten heißen auf ihre Weise und auf den zweiten Blick OTTO; Eduard ist auf den Namen getauft und hat sich selbst umbenannt, der Hauptmann heißt so, wie wir erfahren, auch wenn er im Roman stets nur mit seiner Funktion als »Hauptmann« oder »Major« bezeichnet wird, CharlOTTe und OTTilie sind die beiden weiblichen Formen des Namens. Kein Wunder, auch das Kind der vier wird auf den gleichen Namen hören: OTTO. Mehr Individualität ist hier nicht zu haben. Der Name OTTO nun ist einer der wenigen überhaupt, die vorwärts und rückwärts gelesen gleich sind, durch die man außerdem eine Spiegelachse legen kann, und beide Seiten des Namens fallen als identisch aufeinander (was etwa für das Palindrom ANNA nicht gilt). Und dies bei einem Roman, der eigentlich nur eine Novelle werden sollte, dann aber schließlich nach einer qualvollen Zeit des Bändigens des Materials aus strengen zwei Teilen à 18 Kapiteln besteht, der symmetrisch konstruiert ist bis ins Detail und für den eine durchgängige Metaphorik des Bauens, Planens und Anlegens charakteristisch ist: Angesichts solcher Eigenwilligkeiten der Konstruktion wird man kein Detail aus den Augen lassen können. Ich möchte vor dem Hintergrund des eingangs Gesagten nun auf eine Detailfülle aufmerksam machen, die nähere Auskunft über das Thema des Zeitbewusstseins gibt. Und vielleicht auch über die Frage, warum die Figuren, denen der Autor noch nicht einmal oder eben nur scheinbar die Individualität eines Eigennamens lässt, so erbarmungswürdig zugrundegehen, dass der Philosoph
22
Die Wahlverwandtschaften I, 4. WA I, 20, S. 45f.
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Benjamin über sie schrieb, um der Hoffnungslosen willen sei uns die Hoffnung gegeben.23 Wie heißt noch der Anfang dieses Romans (gibt es einen bekannteren in deutscher Sprache)? Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen. Sein Geschäft war eben vollendet.24
Hat je ein Roman mit derartig vielen heterogenen Angaben zur Zeit und zu Zeitrhythmen begonnen wie dieser? Ostentativ besetzt der Erzähler die Gegenwart – »nennen wir« – und lässt seinen Protagonisten im Plusquamperfekt antreten, »hatte zugebracht«. Während die naturale Zeit des Frühlings (»April«) den Beginn eines natürlichen Entfaltungsprozesses markiert, der dem Beginn des Romans entspricht, wird das Handeln Eduards als abgeschlossen, fertig, »eben vollendet« bezeichnet – auch wenn der Tag, am »Nachmittag« noch nicht zu Ende ist. Die Angaben zur Lebenszeit (»bestes Mannesalter«) und zur Tageszeit (»schönste Stunde«) passen nicht zur Bezeichnung des Handelns als vollendet. Das wird im Laufe des Textes immer wieder auffallen, dass irgendetwas beginnt, Eduard aber schon fertig sein möchte. Oder gar wie im Falle der Einladung des Hauptmanns, sein »ganzes Dasein gleichsam abschließen wollte«.25 Das Konfigurieren von Zeitebenen ist die Kunst, mit der sich der Erzähler einführt. Die Gegenwart, über die die Figuren hinwegeilen oder die sie verdrängen, wird vom Erzähler eingenommen. Die Kontrastierung von naturaler und gesellschaftlicher Zeit ist sein Privileg ebenso wie das Einsenken von vergangenen Motiven der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte in diesen modischen Ort des englischen Parks. »Wer im entscheidenden Augenblick versäumt zu handeln, wird, wenn er einmal handelt, sich stets übereilen«,26 hat der Medienwissenschaftler Norbert Bolz über diesen Roman festgehalten. Es trifft zu: Was in diesem Park, der »auf das rascheste«27 vorwärts rückt, was in dieser künstlichen, menschengemachten Natur geschieht, passiert stets übereilt oder zu spät: Merkwürdig, dass wir über Eduards Klavierspiel zuerst erfahren, er spiele »zu geschwind«28 oder zu langsam, aber nicht im eigentlichen Tempo.
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24 25 26
27 28
Vgl. Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften. In: Gesammelte Schriften, Band I, 1, hrsg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 123–201, hier S. 201. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 1. WA I, 20, S. 3. Ebenda, I, 2. WA I, 20, S. 15. Norbert W. Bolz, Ästhetisches Opfer. Die Formen der Wünsche in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Norbert W. Bolz (Hrsg.), Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 64–90, hier S. 73. Goethe, Die Wahlverwandtschaften I, 14. WA I, 20, S. 151. Ebenda, I, 2. WA I, 20, S. 27.
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Elisabeth von Thadden
Ausgerechnet »im flüchtigen Vorbeigehen«29 will der Major während des Gesprächs über die chemische Gleichnisrede einen bedeutenden Punkt erwähnen. »Lassen Sie mich voreilen«,30 fällt Charlotte ein, und schon unterbricht Eduard – »eilig«.31 Wen wundert es, dass die Auslegung dieser bedeutsamen Analogie mit chemischen Molekülen auf überaus wackligen Beinen steht. Merkwürdig, dass man bei der Grundsteinlegung vom Erzähler erfährt, man habe mit dem Bau schon begonnen, gar begonnen, Mauern aufzuführen, »daß der Bau eilig in die Höhe steige!«32 – und noch fehlt der Grundstein! In der Passage, die der Schilderung des phantasierten und vollzogenen Ehebruchs gilt, wird erstmals benannt, wogegen die Bewohner des Parkes verstoßen: »Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben«.33 Noch einmal weist der strenge Erzähler, der die Puppen seiner Erzählung ohne Erbarmen wie Marionetten des Erzählens tanzen lässt, auf den Defekt der Parkbewohner hin: »nach der übereilten Weise wird das Ausgesetzte nicht lange reichen«,34 heißt es über die finanziellen Ressourcen der Parkplanung. Und es ist kein Zufall, dass Eduard eine verräterische Botschaft aus der Westentasche verliert, weil seine Weste »modisch kurz«35 ist. Die Beispiele ließen sich fast endlos fortsetzen. Ein kluger Besucher des Parks, der Lord, wird, tief im zweiten Romanteil, Charlotte und Ottilie noch ersuchen, mit der Parkgestaltung »nicht zu eilen«.36 Aber da ist es längst zu spät. Und was in diesem Park geschieht, steht von Anbeginn im Zeichen der verfehlten Gegenwart: »Wenn wir uns nicht heut entschließen müßten«,37 sagt Eduard eingangs mit der Post des Majors in der Hand, dann würde er mit der Entscheidung einer Einladung länger warten. Und wartet eben doch, lässt den Moment, das Heute der Entscheidung, verstreichen: »Das Natürlichste war, daß er Aufschub suchte«.38 Dies geschieht, so wie einst die Gegenwart der Liebe zwischen Eduard und Charlotte verstrich (wie wir eingangs aus der Erzählung der Geschichte dieser Ehe erfahren), bis sie sich später für eine zweite Ehe wiederfanden, und mit was für einem Ziel: nicht sich aneinander zu freuen, nicht einander zu lieben, sondern, so sagt es Charlotte, um der Erinnerung willen: »Wir freuten uns der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung«.39 Charlotte weiß, dass »wir uns ja nicht übereilen sollen«,40 dass die Einladung an den Hauptmann nicht überstürzt werden darf, und unterzeichnet den Brief an
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Ebenda, I, 4. WA I, 20, S. 49. Ebenda. Ebenda, S. 50. Ebenda, I, 9. WA I, 20, S. 100. Ebenda, I, 11. WA I, 20, S. 131. Ebenda, I, 13. WA I, 20, S. 143. Ebenda, S. 147. Ebenda, II, 10. WA I, 20, S. 316. Ebenda, I, 1. WA I, 20, S. 5. Ebenda, I, 2. WA I, 20, S. 15. Ebenda, I, 1. WA I, 20, S. 9. Ebenda, S. 12f.
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ihn doch »mit einer Art von Hast«, so dass ein Fleck den Brief verunstaltet – ein Makel.41 Charlotte ist zwar eine besondere Künstlerin, die Zeit aus dem Park zu verbannen: Indem sie die Grabsteine nivelliert, die Steine von ihrem Ort löst und nach Kriterien der Ästhetik neu ordnet, verbannt sie die Wirklichkeit der Vergänglichkeit und macht den Friedhof zum musealen Ort.42 Doch nicht sie allein raubt der Zeit ihr Recht. Und so wundert es nicht, wenn es bald im Roman heißt: Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte seine chronometrische Secunden-Uhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, daß die Zeit anfange ihnen gleichgültig zu werden.43
In einer Randbemerkung erfahren wir, dass Charlotte »nicht überrascht sein wollte«.44 Wer sich erinnert, dass es über die gegenwärtig verschmähte Literatur im vierten Kapitel ausdrücklich hieß, sie sei zur »Überraschung«45 der Einbildungskraft begabt, der ahnt, dass die Verbannung der Zeit aus dem Park aufs engste korreliert mit der Verbannung von Überraschungen durch die klare, scheinbar aufgeklärte Vernunft. Einer der markantesten Momente des Romans, die Rettung der ertrinkenden Liebenden in der Novelle der Nachbarskinder, wird explizit als »Überraschung«46 bezeichnet, die kaum zu fassen ist. Die Überraschung als Rettung: So etwas wird einer nicht erleben, der Überraschungen aus seinem Leben verbannt hat wie die Literatur, die sie zu erzeugen und von ihnen zu berichten weiß. Es trägt zur Erbarmungslosigkeit dieses Romans bei, dass es zuletzt über den Tod des armen Eduard heißt: »Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende überrascht worden«.47 Es ist die Macht der Literatur, jener von Eduard verschmähten Kunst der Erkenntnis, die das letzte Wort behalten soll. Es fällt nun auf, dass Ottilie von Anbeginn gegenläufig zu den Motiven der Übereilung, des Modischen und der verpassten Gegenwart konstruiert ist: »ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, die ewige angenehme Bewegung«,48 so tritt sie auf. Als sie Eduard das Bildnis ihres Vaters überreicht – um nur eines unter vielen Beispielen herauszugreifen –, so geschieht dies explizit »ohne Übereilung und ohne Zaudern«.49 Und es ist Ottilie, in deren Tagebuch vermerkt steht: »Wie über die Menschen so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen«.50 Im Gartenkapitel, als der Gärtner
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Ebenda, I, 2. WA I, 20, S. 26. Ebenda, S. 21f. Ebenda, I, 7. WA I, 20, S. 80; es ist übrigens wiederum eine vergessene Uhr, die ganz am Ende des Romans zur Eskalation des Unglücks beiträgt. Ebenda, II, 3. WA I, 20, S. 220. Ebenda, I, 4. WA I, 20, S. 46. Ebenda, II, 10. WA I, 20, S. 334. Ebenda, II, 18. WA I, 20, S. 416. Ebenda, I, 6. WA I, 20, S. 69. Ebenda, I, 7. WA I, 20, S. 83. Ebenda, II, 2. WA I, 20, S. 215.
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(dem »Modeblumen« fremd sind, wie es heißt, man kann eben kein Detail streichen) und Ottilie sich begegnen, steht zu lesen, dass der »ruhige Gang«51 für die natürliche Entwicklung charakteristisch sei, eine Eigenschaft, die auch Ottilie zugeschrieben wird, anders als den anderen Parkbewohnern. Damit steht sie nicht allein. Mit eben denselben Worten wird nun die Geschichte der wunderlichen Nachbarskinder in der eingeschobenen Novelle beschrieben: »Der ruhige Gang den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Verlöbniß nicht beschleunigt worden«.52 Die Macht der Gegenwart, die von den Liebenden der Novelle ergriffen wird, wie es unsere Parkbewohner nicht vermögen, bricht umso heftiger in diesen ruhigen Gang ein: »es ist keine Zeit die Herrschaft zu wechseln«,53 heißt es plötzlich im Erzählpräsens,54 als die Ertrinkende den jungen Mann dazu bringt, das Steuer des Schiffs fahren zu lassen, anstatt es zu übergeben. Dass die Gegenwart der Liebe und des Lebens stärker sein kann als die Angst vor dem Tod, steht in dieser Novelle geschrieben, die sich Charlotte und Ottilie anhören müssen. »Hier überwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung«, heißt es da. »Es gelang«.55 Mehr noch, hier wird gesagt, was der Augenblick, wenn man ihn ergreift und ausfüllt, zu synthetisieren vermag: vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in eine Wildniß, aus der Verzweiflung zum Entzücken, aus der Gleichgültigkeit zur Neigung […] alles in einem Augenblick – der Kopf wäre nicht hinreichend das zu fassen, er würde zerspringen oder sich verwirren.56
Und der Erzähler erspart es uns nicht, eben dies als »Überraschung«57 zu bezeichnen, die einer ertragen können muss. Es gibt für die Liebenden dieses Romans keine Rettung. Das ist der Preis dafür, dass ein Kunstroman entstand, wie ihn die Weltliteratur wohl kein zweites Mal kennt. In die Bildschichten des Romans sind Motive aus der antiken Naturphilosophie und Kunst, aus der Renaissancephilosophie und Kunst, aus der modernen Chemie eingesenkt, die davon zeugen, dass moderne Literatur Vergangenheit in sich aufheben kann, ohne in der Vergangenheit zu versinken. Dieser Reichtum an Deutungsebenen und Bildschichten macht den Roman zu einem Ort der Kunst, wie es der Park der Wahlverwandten nicht ist. Wo die Wahlverwandten in lebloser Ästhetisierung der Existenz zugrunde gehen, haben die Zeit und die Gegenwart ihr Recht eingebüßt. Dieser moderne Roman aber weist alle kommenden Zukünfte, die zu lesen bereit sind, darauf hin.
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Ebenda, II, 9. WA I, 20, S. 304. Ebenda, II, 10. WA I, 20, S. 326. Ebenda, S. 331. Vgl. den Beitrag von Klaus Manger in diesem Band. Goethe, Die Wahlverwandtschaften II, 10. WA I, 20, S. 332. Ebenda, II, 10. WA I, 20, S. 333. Ebenda, S. 334.
ANHANG
Siglenverzeichnis
AS
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BA
Berliner Ausgabe: Johann Wolfgang von Goethe, Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Hrsg. von einem Bearbeiterkollektiv unter Leitung von Siegfried Seidel. 22 Bände. Berlin, Weimar 1960–1978.
FA
Frankfurter Ausgabe: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Friedmar Apel u.a. 40 Bände. Frankfurt am Main 1985–1999.
GA
Gedenkausgabe: Johann Wolfgang von Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. 24 Bände. Zürich 1948–1954.
HA
Hamburger Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe, Werke in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Hamburg 1948–1960. [Nachauflagen München 1977ff.].
ITB
Insel Taschenbuch [›Die Wahlverwandtschaften‹]: Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. Mit Erläuterungen von Hans-J. Weitz und dem Essay von Walter Benjamin Goethes Wahlverwandtschaften. Frankfurt am Main, Leipzig, 1994.
JA
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LA
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MA
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NA
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492
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R
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TB
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Abbildungsnachweis
Cover unter Verwendung von: Symbolische Annäherung des Magneten. Aquarell von Johann Wolfgang Goethe, 1798. Klassik Stiftung Weimar. Foto nach: Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß (Hrsg.), »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 37. Frontispiz: Seilstück von der englischen Marine, im Glas, 1813. Klassik Stiftung Weimar, Museen. GNV 0010. Klassik Stiftung Weimar. Foto nach: Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß. (Hrsg.), »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, Nr. 72, S. 24. Beitrag Harald Tausch: Abb. 1: Klassik Stiftung Weimar. Foto nach: Johann Gottlob von Quandt. Goetheverehrer und Förderer der Künste. Dittersbach 2002, S. 82. Abb. 2: Klassik Stiftung Weimar. Foto nach: Ernst-Gerhard Güse / Stefan Blechschmidt / Helmut Hühn / Jochen Klauß (Hrsg.), »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Ausstellungskatalog. Weimar 2008, S. 31. Abb. 3: Klassik Stiftung Weimar. Foto: Klassik Stiftung Weimar. Abb. 4: Klassik Stiftung Weimar. Foto: Klassik Stiftung Weimar. Aufnahme: Sigrid Geske. Abb. 5: Universitätsbibliothek Kassel, Handschriftenabteilung. Abb. 6: Aufnahme: Harald Tausch. Abb. 7: Universitätsbibliothek Kassel, Handschriftenabteilung. Abb. 8: Universitätsbibliothek Kassel, Handschriftenabteilung. Abb. 9: Universitätsbibliothek Kassel, Handschriftenabteilung. Abb. 10: Aufnahme: Harald Tausch. Abb. 11: Klassik Stiftung Weimar. Foto: Klassik Stiftung Weimar. Abb. 12: Klassik Stiftung Weimar. Foto: Klassik Stiftung Weimar.
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Abbildungsverzeichnis
Beitrag Reinhard Wegner: Abb. 1: Birgit Jooss, Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin 1999, Abb. 21. Abb. 2: Birgit Jooss, Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin 1999, Abb. 23. Abb. 3: Birgit Jooss, Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin 1999, Abb. 25. Abb. 4: André Rogger, Die Red Books des Landschaftskünstlers Humphrey Repton. Worms 2007, S. 105, Abb. 71. Abb. 5: André Rogger, Die Red Books des Landschaftskünstlers Humphrey Repton. Worms 2007, S. 187, Abb. 153. Abb. 6: André Rogger, Die Red Books des Landschaftskünstlers Humphrey Repton. Worms 2007, S. 110, Abb. 78.
Über die Autoren BAUMERT, SUSAN, geb. 1978 in Jena. Studium der Kunstgeschichte, Volkskunde/Kulturgeschichte und Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Promotionsvorhaben innerhalb des Sonderforschungsbereichs 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« (Teilprojekt A5: »Zeitkultur: Feste und Feiern« unter Leitung von Professor Dr. Michael Maurer) zum Thema: »Private Festkultur in Jena und Weimar um 1800«. Seit Juli 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Kulturgeschichte der FriedrichSchiller-Universität Jena.
BELAND, HERMANN, geb. 1933 in Wittenberge. Studierte Theologie, arbeitet seit 1967 als Psychoanalytiker in freier Praxis, ist Lehranalytiker und Supervisor der DPV/IPV, DGPT, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und Mitbegründer der Nazareth-Gruppenkonferenzen, in denen deutsche und israelische Psychoanalytiker aufeinandertreffen. Jüngste Buchpublikation: Die Angst vor Denken und Tun. Psychoanalytische Aufsätze zu Theorie, Klinik und Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag 2008.
BLECHSCHMIDT, STEFAN, geb. 1976 in Eisenach. Studium der Germanistik, der Interkulturellen Wirtschaftskommunikation und Psychologie an der Friedrich-SchillerUniversität in Jena, Promotion 2009; von 2004 bis 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. Seit 2009 Stellvertretender Direktor der New York University in Berlin. Jüngste Buchpublikation: Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte. Heidelberg: Winter 2009.
BREIDBACH, OLAF, geb.1957 in Monheim im Rheinland. Studierte Kunst, Philosophie, Biologie und Paläontologie an der Universität Bonn. Er ist Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik an der Friedrich-SchillerUniversität Jena und Direktor des Museums »Ernst-Haeckel-Haus«. Seit 2007 Sprecher des Sonderforschungsbereichs 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«.
GOLZ, JOCHEN, geb. 1942 in Stettin. Studium der Germanistik und Indonesienkunde in Jena. 1965–1977 Lektor im Aufbau-Verlag Weimar; 1978–1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische Deutsche Literatur in Weimar; 1991–1993 Direktor für Germanistische Editionen an der Stiftung Weimarer Klassik; 1994–2007 Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs der Stiftung Weimarer Klassik; seit 1999 Präsident der Goethe-Gesellschaft und Teilprojektleiter im Sonderforschungsbereich 482; Veröffentlichungen u.a. zu Goethe, Schiller, Jean Paul und zur Editionswissenschaft; Mitherausgeber des Goethe-Jahrbuchs (seit 1999), Herausgeber der historischkritischen Ausgabe von Goethes Tagebüchern.
GRIMM, ANDREAS, geb. 1976 in Jena. Studium der Philosophie sowie der Germanistischen und Anglistischen Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2007–2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialgeographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2009 Sekretär des International Secretariat »United Nations International Year of Global Understanding«. Arbeitstitel des Dissertationsprojektes: »Das Konzept der ästhetico-ethischen Maxime«.
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Über die Autoren
GROCHOWINA, NICOLE, geb. 1972 in Hamburg. Studierte von 1992 bis 1997 Geschichtswissenschaft und Japanologie an der Universität Hamburg und promovierte 2001 mit der Arbeit Indifferenz und Dissens in der Grafschaft Ostfriesland im 16. und 17. Jahrhundert (Frankfurt am Main: Peter Lang 2003). 2002 Post-Doc-Stelle in der Nachwuchsgruppe »Eigentums- und Besitzrechte von Frauen in der Rechtspraxis des Alten Reiches, 1648–1806« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von Oktober 2005 bis Dezember 2008 Leitung des Teilprojekts A4: »Geschlechterbeziehungen und Aufklärung« im Sonderforschungsbereich 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. 2007 Habilitation über Das Eigentum der Frauen. Konflikte vor dem Jenaer Schöppenstuhl im ausgehenden 18. Jahrhundert. Köln: Böhlau 2009. HEINZ, JUTTA, geb. 1962 in Kassel. Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Promotion 1995: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1996; Habilitation 2003: Narrative Kulturkonzepte. Wielands ›Aristipp‹ und Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Heidelberg: Winter 2006; Akademische Rätin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jüngste Buchpublikation: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2008.
HÜHN, HELMUT, geb. 1961 in Bad Hersfeld. Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte an der Philipps-Universität Marburg und der Freien Universität Berlin. Promotion mit der Arbeit Mnemosyne. Studien zu Hölderlins Denken, die mit dem Ernst-Reuter-Preis der Freien Universität Berlin ausgezeichnet wurde. Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Lehrbeauftragter für Philosophie an der Freien Universität Berlin und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2007 Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. Seit Juli 2010 Wissenschaftlicher Geschäftsführer der neugegründeten »Forschungsstelle Europäische Romantik« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jüngste Buchpublikation in Vorbereitung: Gemeinsam mit James Vigus (Hrsg.), Symbol and intuition. Comparative Studies in Kantian and Romantic-Period Aesthetics. Oxford: Legenda 2011.
IMMER, NIKOLAS, geb. 1978 in Berlin. Studium der Germanistischen Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Promotion 2008; von 2004 bis 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Germanistischen Institut der Universität Trier. Jüngste Buchpublikation: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg: Winter 2008.
K ASZTNER, BENIGNA CAROLIN, geb. 1980 in Kaufbeuren. Studierte 2001 bis 2005 Europäische Kulturgeschichte (B.A.), Neuere, Neueste Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Augsburg und 2005 bis 2007 Geschichtswissenschaften (Mag. phil.), Neuere, Neueste Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Wien. Seit 2007 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« (Teilprojekt D1: »Strukturen der Naturforschung in Jena«). Das Promotionsvorhaben trägt den Arbeitstitel »Zur Dynamik des mineralogischen Wissenstransfers zwischen Materialität und Sprache. Mineralogie in Weimar-Jena um 1800«.
K REUTZMANN, MARKO, geb. 1977 in Jena. Studium der Neueren Geschichte, Politikund Medienwissenschaft in Jena. Von 2004 bis 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. Promotion 2007, seitdem Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Friedrich-
Über die Autoren
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Schiller-Universität Jena im Rahmen des von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Forschungsprojekts: »Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins: Soziales Profil, Karrieremuster und politisch-kulturelles Selbstverständnis einer neuen Funktionselite zwischen Einzelstaat und Nation (1834–1871)«. Jüngste Buchpublikation: Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt: Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770– 1830. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008.
MANGER, K LAUS, geb. 1944 in Thüringen. Studium der Theologie, Philosophie, Germanistik und Geschichte in Würzburg, Heidelberg, Göttingen und Aachen. Staatsexamen 1973. Promotion 1976, Habilitation 1984 an der Universität Heidelberg. Professur für Neuere deutsche Literatur 1986 an der Universität Heidelberg, 1989 an der Universität Erlangen-Nürnberg, seit 1992 an der Friedrich Schiller Universität Jena. 1998–2006 Sprecher des Sonderforschungsbereichs 482: »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. Seit 2007 Projektleiter der historisch-kritischen Wieland-Edition.
MAURER, MICHAEL, geb. 1954 in Tennenbronn/Schwarzwald. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Tübingen und London, Promotion Tübingen 1986, Habilitation Essen 1993. Seit 1997 Professor für Kulturgeschichte an der FriedrichSchiller-Universität Jena, seit 2001 Teilprojektleiter im Sonderforschungsbereich 482: »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« (A5: »Zeitkultur: Feste und Feiern«). Präsident der International Herder Society 2007–2009. Jüngste Buchpublikationen in Vorbereitung: Herder und seine Wirkung / Herder and His Impact. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag 2010; Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010.
MÜLLER, GERHARD, geb. 1953 in Erfurt. 1974–1978 Studium der Geschichte und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 1982 Promotion zum Thema Die Gesellschaft für soziale Reform 1897/98–1914, 1998–2004 Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Ereignis-Weimar-Jena. Kultur um 1800«, in dieser Zeit Veröffentlichung von Aufsätzen zur Geschichte der Freimaurerei, zum Verhältnis von Kultur und Politik und anderen Themen der Geschichte des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach in den Jahrzehnten um 1800 sowie der Monographie Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena. Heidelberg: Winter 2006; 2005–2007 Mitarbeiter am Ausstellungsprojekt »Ereignis Weimar« an der Klassik-Stiftung Weimar, seit 2008 unter Leitung von Professor Dr. Hans-Werner Hahn (Jena) Bearbeiter des Bandes Thüringische Staaten im Editionsprojekt »Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten« der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. OSTERKAMP, ERNST, geb. 1950 in Tecklenburg. Studierte in Münster Germanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie. 1977 Promotion an der Universität Münster. 1988 Habilitation im Fach Deutsche Philologie (Neuere deutsche Literaturwissenschaft). Seit 1992 Professor für Neuere deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2008 Sprecher des Fachkollegiums Literaturwissenschaft der DFG.
SANDKAULEN, BIRGIT, geb. 1959 in Koblenz. Studium der Philosophie und Germanistik in Tübingen, Poitiers (Frankreich) und München. Promotion 1989 in Tübingen, Habilitation 1999 in Heidelberg; seit 2000 Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt auf dem Gebiet des deutschen Idealismus an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. TAUSCH, HARALD, geb. 1965 in Würzburg. Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Würzburg, Promotion Würzburg 1997, Privatdozent für Neuere deutsche Literaturgeschichte und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Gießen 2006, zwei Semester Vertretung einer Professur für Literaturtheorie und Gegen-
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Über die Autoren
wartsliteratur an der Universität Erlangen-Nürnberg 2007/2008, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« an der Universität Jena und Leiter des DFG-Projekts »Edition der Briefe Carl Ludwig Fernows« (zusammen mit Professor Dr. Reinhard Wegner). Publikationen zu Fragen der Intermedialität, Ekphrasis, Wissensordnungen, Kulturanthropologie, Gedächtnis- und Erinnerungsforschung, 17.–19. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt Aufklärung, Klassizismus und Romantik.
THADDEN, ELISABETH
VON, geb. 1961 in Göttingen. Studium der Literatur und Geschichte in Freiburg, Paris und Berlin. 1992 Promotion über Goethes Erzählen als Ausdruck seiner Naturforschung, dann Wissenschafts-Redakteurin der »Wochenpost« in Berlin, seit 1999 bei der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« als Redakteurin für das wissenschaftliche Sachbuch im Ressort Literatur, seit 1. April 2009 verantwortlich für das Politische Buch. Arbeitsschwerpunkte: Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften, Ökologie, Psychoanalyse, Wissenschaftsgeschichte, Bildung und Familienpolitik. Veröffentlichungen u.a.: Erzählen als Naturverhältnis. München: Fink 1993; Familiäre Gründe. Berlin: Berlin-Verlag 2000.
URBICH, JAN, geb. 1978 in Gera. Studierte Germanistische Literaturwissenschaft, Philosophie, Anglistische Literaturwissenschaft und Neuere Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl »Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft« (Gerhard R. Kaiser). 2009 Dissertation Das Konzept der Darstellung in Walter Benjamins ›Erkenntniskritischer Vorrede‹ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Literaturtheorie; Kunst und Erkenntnis, Theorie der Darstellung; Walter Benjamin und die Kritische Theorie; Frühromantik; Hölderlin. Jüngste Buchpublikation: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hrsg. mit Alexander Löck. Berlin, New York 2010.
WEGNER, REINHARD, geb. 1953 in Speyer. Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in Heidelberg. Promotion 1982 in Heidelberg. 1991 Habilitation in Darmstadt, seit 2000 Professor für Neuere Kunstgeschichte in Jena, seit 1999 leitet er das Teilprojekt C2: »Ästhetische Weltsicht« des Sonderforschungsbereichs 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«, seit 2007 arbeitet er im Vorstand des Sonderforschungsbereichs. Leiter der neugegründeten »Forschungsstelle Europäische Romantik« an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Jüngste Buchpublikation: Landschaft am »Scheidepunkt«: Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800. Göttingen: Wallstein 2010.
ZANTWIJK, TEMILO VAN, geb. 1966 in Haarlem. 1985–1989 Studium Duitse Taal- en Letterkunde, Rijksuniversiteit Utrecht; Promotion 1998 (Universität Essen), Habilitation 2008 (Friedrich-Schiller-Universität Jena). Seit 1998 Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 482 »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. Seit 2004 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen zur klassischen deutschen Philosophie, zu Anthropologie und Psychologie. Jüngste Buchpublikation: Heuristik und Wahrscheinlichkeit in der logischen Methodenlehre. Paderborn: Mentis 2009.
Personenregister Abeken, Bernhard Rudolf 151, 155ff., 160, 162, 181 (Anm. 9), 434 (Anm. 5 und 6), 439, 444ff., 450 Adorno, Theodor W. 196 (Anm. 11), 200 (Anm. 35), 205 (Anm. 54), 210, 214, 218 (Anm. 121) Aischylos 222 Allen, Woody 461 (Anm. 14) Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar und Eisenach 28, 384, 435f. Aristoteles 56, 149 (Anm. 5), 171 (Anm. 123) Arnim, Bettina von (s.a. Brentano, Bettina) 6 (Anm. 20) Arnim, Ludwig Achim von 6f., 12 (Anm. 55), 120 (Anm. 112), 126, 220, 334f., 347, 441 (Anm. 32), 450 (Anm. 84), 455 (Anm. 99) Asser, Rose, geb. Levin 433 (Anm. 2) Bardeleben, Heinrich Karl Ludwig 433 Basile, Giambattista 50 (Anm. 7) Batt, Philipp Anton 451 (Anm. 87) Benjamin, Walter 3 (Anm. 1), 5ff., 22 (Anm. 113), 160 (Anm. 65), 162, 171 (Anm. 120), 177 (Anm. 2), 181, 189 (Anm. 37), 194ff., 200, 210ff., 242 (Anm. 12), 263f., 266f., 271, 367, 369, 434 (Anm. 6), 485 Bergman, Torbern Olof 152, 387 Berthollet, Claude-Louis 16, 387ff. Bion, Wilfred R. 239, 241 (Anm. 11), 256 Boccaccio, Giovanni 50ff., 55f. Boisserée, Melchior 112, 115 (Anm. 87) Boisserée, Sulpiz 112f. 115 (Anm. 87), 165 (Anm. 89) Bolzano, Bernardus Placidus Johann Nepomuk 282 (Anm. 30) Borch, Gerard ter 226, 233f. Borzone, Luciano 221f. Böttiger, Carl August 352, 440 (Anm. 25f.), 443 (Anm. 44), 445 (Anm. 49), 448f.
Braunschweig, Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 222 Breem, Ernst 434 (Anm. 5), 448f. Brentano, Bettina (s.a. Arnim, Bettina von) 7 (Anm. 22), 8 (Anm. 31), 12 (Anm. 55), 334 (Anm. 39), 455 (Anm. 99) Brentano, Clemens 6f., 220, 448 (Anm. 72) Bürger, Gottfried August 67 Carl August, Herzog, seit 1815 Großherzog von Sachsen-Weimar und Eisenach 116, 170, 351, 355ff., 359ff. Carlyle, Thomas 74 Celan, Paul 3 (Anm. 2), 211f. Conrad, Joseph 193f. Conz, Karl Philipp 159 (Anm. 57), 383, 449–452 Correggio, Niccolo da 59 (Anm. 52) Cotta, Johann Friedrich 52, 67, 70, 439 (Anm. 22), 441, 443f. Creuzer, Georg Friedrich 12 (Anm. 55) Dalberg, Carl Theodor von 117, 119, 349 Dante Alighieri 68 Davy, Humphry 13 De Man, Paul 195 (Anm. 9), 198, 200 Delbrück, Johann Friedrich Ferdinand 444f., 453 (Anm. 95) Derrida, Jacques 194, 196, 200f., 211ff., 215f. Dyck, Anton van 221 Eckermann, Johann Peter 8ff., 59 (Anm. 55), 146, 157, 177f., 246 (Anm. 23), 385, 429 (Anm. 32), 438f., 447 (Anm. 60) Eco, Umberto 204 (Anm. 46), 446 (Anm. 38) Eichstädt, Heinrich Carl Abraham 443f., 455 (Anm. 98) Einsiedel, Emilie von 324
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Personenregister
Einsiedel, Johann August von (Bergrat) 324, 351 Engel, Johann Jakob 448 (Anm. 68) Eybenberg, Marianne von, geb. Meyer 433, 435 (Anm. 9), 456 Faulkner, William 459 Fernow, Carl Ludwig 28, 118f., 135, 220 Fichte, Johann Gottlieb 233, 276, 281 Ford, Ford Madox 460 Franz II. Joseph Carl (letzter Kaiser des Heiligen Römischen Reichs) 129, 330 Freud, Anna 237 (Anm. 2) Freud, Sigmund 200 (Anm. 37), 237ff., 241, 246, 249, 256, 259, 260 Friedrich I., Barbarossa (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) 113, 116, 120, 122, 126, 129 Fritsch, Carl Wilhelm Freiherr von 356, 358, 361 Frommann, Carl Friedrich Ernst 7, 52, 68, 357, 442 (Anm. 37), 444, 453 (Anm. 93) Frommann, Friedrich Johannes 7 (Anm. 23) Frommann, Johanna Charlotte 442 (Anm. 37), 453 Frühwald, Wolfgang 7 (Anm. 27), 19 (Anm. 93), 150 (Anm. 10), 169 (Anm. 109) Gabriel, Gottfried 9 (Anm. 39), 22 (Anm. 111), 23, 147, 160 (Anm. 60), 203 (Anm. 44), 373 (Anm. 30) Gadamer, Hans-Georg 59 (Anm. 56), 196 (Anm. 10), 203 (Anm. 42) Geßner, Charlotte 23 (Anm. 115), 434 (Anm. 5) Geßner, Salomon 101, 131 Goethe, Christiane von, geb. Vulpius, 28, 71, 351f., 435f. Goethe, August von 351 Görres, Joseph von 220, 441, 450 Göschen, Georg Joachim 52 Gries, Johann Diederich 155 (Anm. 29), 444 Grimm, Jacob 113 (Anm. 86), 120, 126 (Anm. 126), 129 (Anm. 127), 157 (Anm. 39), 159, 168 (Anm. 107), 436 (Anm. 13), 442 (Anm. 36) Grimm, Wilhelm 120, 126 (Anm. 126), 129 (Anm. 127), 159, 168, 436, 442 (Anm. 36), 445 Gundolf, Friedrich 166 (Anm. 93), 384 (Anm. 5)
Haller, Albrecht von 306 Hamann, Johann Georg 212 (Anm. 92) Handke, Peter 59, 461–465, 467f., 475 Hauptmann, Gerhart 27 Haydn, Joseph 453 Hederich, Benjamin 51 (Anm. 12), 75 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4f., 22, 170, 205 (Anm. 54), 285f., 291, 300 (Anm. 22), 447 (Anm. 60) Heidegger, Martin 204f., 211f. Heißenbüttel, Helmut 461 Hensler, Dorothea (Dore), geb. Behrens 449f. Herder, Johann Gottfried 52 (Anm. 17), 183–186, 188, 192, 215 (Anm. 113), 323, 351, 384, 412 (Anm. 44) Herzlieb, Christiane Fredericke Wilhelmine 31, 68, 313, 399 Hirt, Aloys Ludwig 116, 130 (Anm. 132) Hölderlin, Friedrich 205, 218 Hölscher-Lohmeyer, Dorothea 27 Homer 159 Houellebecq, Michel 472 Huber, Therese, geb. Heyne 441 Hufeland, Friedrich 17 (Anm. 78) Humboldt, Alexander von 305 Humboldt, Caroline von 171 (Anm. 120), 449 (Anm. 80) Humboldt, Wilhelm von 6, 14 (Anm. 65), 30, 68, 102 (Anm. 50), 107 (Anm. 65), 171, 327 (Anm. 1), 436 (Anm. 13), 483 Hundeshagen, Helfrich Bernhard 109, 113–127, 130 Husserl, Edmund 282f. Iffland, August Wilhelm 158 (Anm. 50) Irving, John 461 Jacobi, Friedrich Heinrich 4ff., 181ff., 187, 442, 446f. James, Henry 460 Jean Paul s. Richter Johnson, Uwe 461 Kafka, Franz 459f. Kant, Immanuel 14 (Anm. 68), 18 (Anm. 84), 137, 154, 158, 166 (Anm. 97), 170, 177f., 182 (Anm. 13), 185, 203, 205 (Anm. 51), 239, 247ff., 275f., 281, 370 (Anm. 17), 372ff., 378, 461 (Anm. 10)
Personenregister Karl I., seit 1625 König von England 142–145, 147, 255, 364 Kleist, Heinrich von 169 (Anm. 111) Knebel, Henriette von 448 (Anm. 74) Knebel, Karl Ludwig von 19 (Anm. 92), 351, 443, 448f., 479 (Anm. 2), 483 Kodalle, Klaus-Michael 22 (Anm. 111) Koethe, Friedrich August 354 Köppen, Karl Friedrich 4ff., 181 (Anm. 10), 442 (Anm. 38) Lampe, Jutta 22 (Anm. 111) Lavater, Johann Caspar 16 (Anm. 78), 372 (Anm. 29) Lessing, Gotthold Ephraim 141f., 236 Levetzow, Ulrike von 353 Levin, Rahel 433 (Anm. 2) Lichtenberg, Georg Christoph 112 (Anm. 80), 145 (Anm. 18) Linné, Carl von 301 Luise von Hessen-Darmstadt, Großherzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach 224 Mann, Thomas 55, 386, 460f. Marivaux, Pierre Carlet de 14 (Anm. 67), 60 Mayer, Hans 459, 475 Mereau, Friedrich Carl Ernst 323 Mereau, Sophie 323 Meyer, Johann Heinrich 30, 91, 15ff., 119, 129, 131, 134f., 220, 435 Moritz, Karl Phillip 107 (Anm. 65), 297, 307 (Anm. 45) Mozart, Wolfgang Amadeus 86 Müffling, Carl Ferdinand Freiherr von 362 Müller, Adam Heinrich 335ff. Müller, Friedrich von (Kanzler) 91, 150 (Anm. 8), 170, 356ff. Müller, Friedrich, gen. Maler Müller 450f. Müller, Johannes von 117, 120 (Anm. 112) Müller, Johannes Peter 305f., 308 Musil, Robert 60 Napoléon I. Bonaparte 55, 68f., 84, 122, 129, 170f., 222, 224, 239, 330f., 333, 349f., 352f., 355ff., 360f., 385 Navarre, Marguerite de 50 (Anm. 7) Niebuhr, Barthold Georg 449f. Nietzsche, Friedrich Wilhelm 144, 215 (Anm. 110), 467 (Anm. 47)
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Novalis (eigentlich: Hardenberg, Georg Friedrich Philipp Freiherr von) 12 (Anm. 80), 145 (Anm. 18) Paquet, Alfons 237 Parmenides von Elea 62 Passow, Franz 383, 434 (Anm. 5), 448f. Plinius Secundus, Gaius 131, 133ff. Pope, Alexander 61 Poussin, Nicolas 76, 90, 222ff. Rehberg, August Wilhelm 161, 447f. Reich-Ranicki, Marcel 461 Reil, Johann Christian 281 Reinhard, Carl Friedrich von 5 (Anm. 13), 239, 384 (Anm. 3), 436, 439, 454 Reinhold, Karl Leonhard 441 (Anm. 28) Repton, Humphry 227–233, 235f. Richter, Johann Paul Friedrich 199 (Anm. 27), 220, 308, 443, 468 (Anm. 51) Riemer, Friedrich Wilhelm 8 (Anm. 31), 10, 75, 91f., 96f., 146, 169, 313, 326, 328, 396, 398, 435f., 444, 479 (Anm. 2) Rilke, Rainer Maria 214f. Ritter, Johann Wilhelm 304f., 388f. Rochlitz, Johann Friedrich 7 (Anm. 25), 10 (Anm. 47), 383, 443, 445ff., 449, 453 Rosenfeld, Herbert 246 Rousseau, Jean-Jacques 102ff., 375, 378 Sartorius, Georg Friedrich Christoph 353 Sartre, Jean Paul 205 (Anm. 53) Savigny, Friedrich Carl von 12, 120, 157 (Anm. 39), 448 Schafer, Roy 238 Schardt, Sophie von, geb. Gräfin Bernstorff 303f., 324 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 4, 9 (Anm. 39), 16 (Anm. 78), 18 (Anm. 84), 154f., 157, 281, 288 (Anm. 48), 299, 302, 442, 447 (Anm. 60) Schiller, Charlotte von 12 (Anm. 55), 352, 441 (Anm. 30) Schiller, Johann Christoph Friedrich von 11 (Anm. 49), 28ff., 50 (Anm. 8), 53, 68, 95, 104 (Anm. 56), 106ff., 135f., 150 (Anm. 7), 154–158, 161, 207 (Anm. 67), 276, 293 (Anm. 4),
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Personenregister
328f., 345 (Anm. 104), 352, 384ff., 400, 406, 433, 449, 453f., 456, 473 (Anm. 77), 482 Schlegel, August Wilhelm von 67, 155 (Anm. 26), 225 Schlegel, Friedrich von 23 (Anm. 117), 112 (Anm. 80), 145 (Anm. 18), 167 (Anm. 100), 205, 441, 450 Schleiermacher, Friedrich 466 Schmidt, Arno 60 Schopenhauer, Adele 92 Schopenhauer, Arthur 352 (Anm. 9) Schopenhauer, Johanna 352 Schubarth, Karl Ernst 166 (Anm. 95) Schuchardt, Johann Christian 93, 119, 132ff., 435 (Anm. 8) Schütz, Wilhelm von 161f. Schultz, Carl Heinrich 281–286 Scotin, Louis-Gérard 221f. Seckendorff, Leo von 74 Seebeck, Thomas Johann 13 Segal, Hanna 239 (Anm. 5), 241 (Anm. 11) Seidensticker, Johann Anton Ludwig 357 Seidler, Luise 352f., 358 (Anm. 25) Shakespeare, William 53 (Anm. 25) Sieveking, Johanna Margaretha 442 (Anm. 34) Sieveking, Karl 442 Sloterdijk, Peter 140 (Anm. 5), 144, 217 (Anm. 119) Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 12 (Anm. 55), 151, 156–162, 245, 334, 445, 447f. Solms-Laubach, Elisabeth Charlotte Ferdinande Reichsgräfin von 4f., 450 (Anm. 86), 481 (Anm. 9) Sophokles 158, 161, 172 (Anm. 124) Spinoza, Baruch de 71 (Anm. 15), 111 (Anm. 77), 182–192, 269–273, 278 Stein, Charlotte von 299, 324, 352 Stein, Friedrich Karl vom und zum Stein 294, 333 Stein, Peter 22 (Anm. 111) Sterne, Laurence 59 (Anm. 52) Stoll, Joseph Ludwig 74 Strauß, David Friedrich 7 Studnitz, August von 433 (Anm. 3) Theunissen, Michael 150 (Anm. 9), 156 (Anm. 31), 162 (Anm. 79), 167 (Anm. 99) Tieck, Ludwig von 8, 157 (Anm. 38) Truffaut, François 461 (Anm. 14) Tschechow, Anton Pawlowitsch 60
Varnhagen von Ense, Karl August 433 (Anm. 4) Voigt, Amalie Henriette Caroline von 324 Voigt, Christian Gottlob von d.J. 324, 349, 355, 357, 441, 448, 456 Voß, Johann Heinrich 12 (Anm. 55), 70, 443 Wagner, Gottlob Heinrich Adolph 445 (Anm. 49), 451f., 456 Wagner, Johann Ernst 433 (Anm. 3) Walser, Martin 53, 459, 462, 465–470, 475 Weinbrenner, Friedrich 129, 131–136 Welcker, Friedrich Gottlieb 6 (Anm. 21), 107 (Anm. 65), 383, 436 (Anm. 13), 449 Wellershoff, Dieter 59, 462, 470–475 Werner, Zacharias 68, 158, 304 (Anm. 29), 433 Werthern, Amalie Christiane Phillipine 351 Werthern, Christian Ferdinand Georg Freiherr von (Baron) 324, 351 Wieland, Christoph Martin 4f., 23 (Anm. 115), 28, 50–55, 60f., 110, 135 (Anm. 142), 139 (Anm. 5), 384, 434 (Anm. 5), 436 (Anm. 14), 439–442, 450, 481 Wilder, Thornton 459 Winckelmann, Johann Joachim 115 (Anm. 87), 130, 220 (Anm. 2), 392 Winkler, Henriette, geb. Hansen 443 (Anm. 42) Wittgenstein, Ludwig 15 (Anm. 75), 204 Wolzogen, Friederike Sophie Caroline Augusta 13 (Anm. 63) Wolzogen, Wilhelm Ernst Friedrich von 349 (Anm. 2), 355 (Anm. 20), 357 Zauper, Joseph Stanislaus 438 Zelter, Carl Friedrich 5 (Anm. 11), 9f., 15 (Anm. 71), 20 (Anm. 95), 29f., 70, 72, 88 (Anm. 82), 151 (Anm. 10), 169 (Anm. 109), 178, 220, 252, 349 (Anm. 1), 362, 430, 437, 444 (Anm. 48), 452f., 455 (Anm. 100) Ziegesar, August Friedrich Carl Freiherr von 335, 350ff., 361f. Ziegesar, Silvie von 98, 313, 335, 350, 353f. Zischler, Hanns 22 (Anm. 111) Zola, Émile 150
Stichwortregister Abhängigkeit 42, 71, 111, 154, 156, 195 (Anm. 7), 244, 255, 259, 268, 279, 283, 407, 446, 463 (Anm. 19), 474 Adel 55, 91, 296, 314f., 320, 327–347, 358, 363f., 446 Adelsroman 314f. Affekt 15, 18, 153f., 166, 179, 185f., 189f., 192, 205f., 268ff., 276ff., 288 Affinität, s.a. Anziehung; Attraktion; Wahlanziehung, Wahlverwandtschaft 16, 152, 291f., 297, 299, 301, 304f., 309, 387ff. Aggregat 53, 285, 302 Ähnlichkeit, doppelte, s.a. Ebenbildlichkeit, doppelte 5, 251, 318 Alchimie 16, 199 Allegorie 31, 194ff., 203, 219 Allgemeine, das, s. Besonderes / Allgemeines Ancien Régime 222, 330, 332 Anekdote 50ff., 55f. Angst, s.a. Bangigkeit; Schuldangst 8 (Anm. 34), 166, 172, 225, 240, 245f., 364, 395, 411, 419, 463 (Anm. 19), 470, 488 Anthropologie, s.a. Mensch 3, 17, 61, 64, 154, 157, 215 (Anm. 113), 247, 270, 273, 293f., 296, 403, 454f. Anthropomorphismus 13, 152, 154, 179 Antike 95f., 106, 149f., 157ff. Antike / Moderne 28, 74f., 95f., 106, 117, 149–173, 220, 362, 488 Anziehung, s.a. Affinität; Attraktion, attractio electiva; Wahlanziehung, Wahlverwandtschaft 13, 44, 57, 60f., 152f., 182ff., 188, 257, 266, 297, 299–302, 305, 325, 332, 374, 387ff. Architektur 33ff., 63, 77, 89–136, 227, 231 Archiv 56 (Anm. 40), 64, 342, 383, 385, 391, 396ff. Attraktion, attractio electiva 13f., 152f., 156 Attraktion / Repulsion 60, 63, 153 Augenblick 7, 40, 54, 58, 63f., 80f., 83, 86, 129, 142f., 167, 187f., 202, 233,
249f., 255, 258, 349, 364, 405, 414, 419f., 423f., 430, 440, 464, 483, 485, 488 Auslegung, unendliche 9, 157 (Anm. 37) Außerzeitlichkeit, s.a. Überzeitlich; Zeitenthobenheit 420f. Autonomie 105ff., 116, 154, 274ff., 339, 346f., 438 Bangigkeit 8 Bedeutung, Bedeutsamkeit 15, 95, 101f., 107, 147f., 157, 170, 194–218, 220, 236, 238, 246, 249, 265, 368, 404, 434 (Anm. 6), 480 Bedürfnis 17, 115, 206 (Anm. 60), 259, 346, 451 Beobachtung, Beobachter 15, 17, 58, 62f., 156, 233, 293f., 334 Beschleunigung, s.a. Langsamkeit 79, 102, 247, 331, 397, 409f., 429f., 480f., 488 Besonderes / Allgemeines 12, 16, 272, 283f., 350, 415, 438 Bild, s. Ebenbildlichkeit, doppelte; Einbildung; Einbildungskraft; Gegenbild; Idol, idola; Imaginatio, Imagination; Imagologie, soziale; Kippfigur; Klappbild; Scheinbild; Selbstbild; Tableaux vivants 59, 63, 129, 215, 219f., 224, 231ff., 341, 392, 412 Bild / Wirklichkeit, s.a. Wirkliche, das 6, 18f., 59, 62, 104f., 167f., 186, 227, 231ff., 369 Charakter 6, 159, 168, 207 (Anm. 66), 239, 243–248, 263, 287, 309, 350, 386, 392, 427, 445 Chemie, Chemismus, s.a. Reagenzglas 13f., 42, 53, 152, 300f., 304f., 307, 309, 372 (Anm. 27), 383, 387f., 448, 471, 481, 488 Chemie-Gespräch, s.a. Gleichnis, Gleichnisrede 184, 209, 265, 387, 389, 481, 486 Code Napoléon 356f.
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Stichwortregister
Dämonische, das 65, 67, 69, 151, 399ff. Darstellung, Darstellungsform 4f., 9ff., 14f., 17ff., 59, 144f., 149, 151, 162f., 177f., 181ff., 190f., 198, 211, 213f., 216f., 236, 264ff., 293f., 297f., 299ff., 306ff., 326, 336, 434 (Anm. 6), 450, 464f., 474 Dazwischenkunft eines Dritten 7, 167, 245, 316ff., 337f., 397, 470 Denken, psychotisches, s.a. Symbol, psychotisches 240ff. Denken, unbewusstes 18, 44, 215, 238–260, 364 Denkmal 19, 63, 107, 135f., 341, 487 Denkstörung, individuelle / kollektive 237ff. Determination, Determinismus 13, 15, 151, 156, 166, 179, 184, 186, 203, 263, 265ff. 277ff., 336, 390f., 471, 474 Deutung 9, 16ff., 61, 149ff., 163ff., 171, 189, 198–217, 328, 330, 347, 416, 480, 488 Dichtung, Poesie 11, 30, 49, 74, 89, 237, 264, 329, 411, 438, 451, 464, 483 Dilettantismus 38, 77, 87, 101 (Anm. 47), 105ff., 111, 246, 389, 399, 482 Distanz, s.a. Symbol, Symbolisierung 3, 10, 20, 28, 30, 103f., 108, 151, 165, 168, 181, 190, 208, 214, 271, 288, 342, 395, 438, 444f., 475 Drama, Dramatik 31, 54, 60, 150, 157 (Anm. 39), 159, 170, 186, 389, 409, 416, 471 Ebenbildlichkeit, doppelte, s.a. Ähnlichkeit, doppelte 5, 16, 240, 243f., 248, 251f., 287 Egoismus 83, 140 (Anm. 5), 275, 284, 288f. Ehe, s.a. Konventionsehe 12, 32–36, 58, 103, 160, 240f., 243f., 252f., 292f., 315ff., 320ff., 336ff., 350ff., 362, 390, 441, 454 Ehebruch 4, 6, 54, 61f., 110, 187, 206, 233, 243, 250, 252f., 278, 320ff., 350f., 422, 442f., 448, 460 (Anm. 4), 467, 481 Eheroman 9, 460 Eile, s. Übereilung Einbildung, Einbildungskraft, s.a. Imaginatio; Imagination; Phantasie 5f., 16ff., 50, 62, 64, 107, 112, 115, 178, 185, 206f., 225, 233, 236, 248f., 270, 342, 379, 412f., 454, 482, 484, 487
Einsamkeit, s.a. Verlassenheit 7, 27–45, 71, 165, 193, 206 (Anm. 61), 384ff., 399f., 413, 436, 464 Elektrolyse 13, 302 Endlich / unendlich 6, 9, 15, 38f., 50, 60, 81f., 88, 157 (Anm. 37), 161 (Anm. 72), 168, 184, 192, 209, 215 (Anm. 110), 234, 245, 247, 253, 403, 445, 450 Entbehrung 31f., 43f., 70f., 74 (Anm. 20), 129 Entsagen, Entsagung, s.a. Verzicht 6 (Anm. 20), 27–45, 63, 65, 70, 81, 83, 103, 126, 160f., 181, 189, 257, 276, 279, 322, 325, 338, 362f., 383f., 469f. Epopöe 57, 157 Epos 157, 447 Ereignis Weimar-Jena 3, 9, 20ff., 327, 355, 403, 405 Erfahrung 3, 12, 15, 19, 29, 36, 63, 69, 137f., 158, 171, 188, 235, 281f., 289, 302, 305, 375f., 389ff., 428, 441, 453, 480, 482f. Erfahrung, ästhetische 147, 177 Erfahrungsseelenkunde 297f., 307 Eros 71f., 81, 83, 87, 471f. Erzählen, s.a. Experiment; Faden, roter; Fiktion; Präsens; Überraschung; Tempuswechsel; Vergegenwärtigung, literarische 5ff., 13–18, 22, 41, 50–64, 104 (Anm. 55), 141ff., 149ff., 159, 165–172, 187, 189, 198, 203f., 210, 235, 270, 288f., 313, 379, 428, 430, 435f. Erzähler, Erzählinstanz 5, 32, 38, 79, 96, 103f., 106, 108–112, 129ff., 134, 136ff., 151, 167f., 190f., 201, 214, 245, 248, 251, 259, 265ff., 271, 287ff., 347, 362, 393–401, 463ff., 474f., 485f. Ethik, s.a. Moral; Sittlichkeit 3f., 29, 45, 148, 166, 177–192, 216f., 243, 263–289, 395f., 437 Ewigkeit 84 (Anm. 65), 86f., 141, 155f., 284 (Anm. 37), 338, 396, 418, 424, 430, 446, 452, 483, 487 Experiment, Versuch, Versuchsanordnung, s.a. Beobachtung, Beobachter; Reagenzglas; Reaktion 13ff., 17, 27, 36ff., 41f., 44f., 55, 71, 109, 147, 157, 168, 171f., 183ff., 275, 291, 293ff., 301f., 304ff., 383, 392, 395, 399, 401, 406, 410, 412, 416, 482f. Experimentalroman 27, 54
Stichwortregister Faden, roter 57, 59, 134f., 137, 146f., 394, 436, 440 (Anm. 27) Farbenlehre 285 (Anm. 37), 385–393, 395f., 400, 482f. Fatalismus 151, 156, 161f., 170, 183f., 211 Fatum, s.a. Schicksal; Verhängnis 107, 155–162, 170f. Feier 85, 403ff., 409f., 412, 420f., 424ff. Fest 91, 203, 403–416, 425 Festspiel 31, 74ff., 84, 88 Figur des Dritten, s. Dazwischenkunft eines Dritten Fiktion 11, 14f., 50, 54, 56, 58, 62, 64, 103, 165, 168, 172, 238, 313, 401 Fleck, blinder 17f., 165, 168, 172, 192 Flüchtigkeit, s.a. Übereilung 480, 482 Französische Revolution 55, 169, 227 (Anm. 16), 239, 327f., 330, 356, 364, 416, 428f., 479 Freiheit, s.a. Autonomie; Gemütsfreiheit; Handlungsfreiheit; Vernunftfreiheit; Wahl, Wählen; Willensfreiheit; Willkürfreiheit 22, 41, 70 (Anm. 12), 154ff., 166, 179ff., 203f., 210, 216, 245, 274f., 296, 298, 309, 316, 345, 390, 437 (Anm. 18), 453 Freiheit, endliche / abhängige 15, 279 Freiheit, negative 274f. Freiheit, positive 274 Freiheit, praktische, s. Handlungsfreiheit Freiheit, transzendentale 275 Frieden von Posen 1806 351 Frieden von Tilsit 1807 333, 361 Fügung 151, 163, 267, 288, 367 Fürstentag zu Erfurt 1808 170, 349, 353 Gabe 70f., 82, 86, 88, 212–217, 359f. Ganzes, s. Teil / Ganzes; Mereologie Garten, Gartenkunst, Gartentheorie, s.a. Irrgarten, Landschaftspark; Park, Parkgestaltung 76f., 94, 96, 98– 108, 121, 204 (Anm. 49), 227, 231ff., 338f., 387, 391, 415, 481f., 487f. Geburtstag 403–416, 423ff. Gegenbild 234, 266, 345, 367ff. Gegenwart, s.a. Wirkliche, das 3, 5f., 11f., 17, 19f., 50, 62ff., 86f., 106, 108, 152, 172, 215, 220, 224f., 227, 231, 233, 241, 247ff., 275, 327, 337, 341, 389ff., 400f., 418ff., 426, 429, 479–488 Gegenwartsroman, s.a. Zeitroman 5, 157f., 162, 169, 172, 260
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Geheimnis 13 (Anm. 61), 49, 110, 156, 167, 178, 190, 239, 362, 395, 437, 446, 454 Gemütsfreiheit 161 Geschichte, Historie 5 (Anm. 13), 12, 19, 117, 144, 330, 386ff., 392, 400, 415, 429 Geschick, s.a. Schicksal 7 (Anm. 25), 31, 69f., 159ff., 266 Geschlechterbeziehungen 313–326, 350 Geschlechterroman 315f., 319, 326 Geselligkeit 27, 32, 36ff., 41, 390, 405, 426ff. Gesellschaft, s.a. Ordnung, soziale; Konflikte, soziale; Sozialgefüge; Verhältnisse, soziale 11f., 30, 36f., 40, 60, 68, 82, 204 (Anm. 46), 238ff., 252, 315, 321, 346f., 349, 364f., 412ff., 426ff. Gesellschaftsroman 9, 314f., 460 Gewalt 31, 35, 39, 43, 64, 71, 80f., 153, 160f., 170, 239, 243, 245ff., 249f., 350, 372 (Anm. 26), 399, 430 Glaube 17, 109 (Anm. 71), 151, 240, 248, 251f., 259f. Gleichnis, Gleichnisrede 13f., 61, 65, 153, 178f., 197, 207, 265f., 271, 273, 332, 359, 388, 395f., 400f., 437, 484, 486 Gleichsetzung, symbolische, s.a. Symbol, psychotisches 248–252, 257, 259 Glück 7f., 31ff., 43, 64, 70, 72, 79, 81ff., 105, 163f., 253, 255, 264, 273, 287f., 296, 322, 334, 338, 410, 419, 453, 455 Handeln, Handlung 15, 17, 86, 88, 102, 110, 137ff., 150f., 153f., 159, 165ff., 171, 179, 183, 186, 192, 202ff., 210f., 247, 249, 263–289, 304, 315f., 347, 383, 392, 395, 407, 416, 430, 447 Handlungsbeschreibung, Handlungsbewertung, Handlungserklärung 268–279 Handlungsfreiheit 153, 210, 275, 286f. Handlungstheorie 204, 263–289 Herausgeberfiktion 400 Historie, s. Geschichte, Historie Hoffnung 20 (Anm. 95), 43f., 54, 73, 79f., 82f., 163ff., 168, 172, 187, 213, 242, 251, 254, 256, 287, 289, 318, 347, 354, 370, 385, 394, 413, 485
534
Stichwortregister
Ich, poetisches 70ff. Identität 42, 164, 167, 209, 263, 282, 469 Idol, idola 18, 101 (Anm. 47), 207f., 210 Imaginatio, Imagination, s.a. Einbildung, Einbildungskraft; Phantasie 18, 38, 185–192, 206ff., 266, 268–271, 273, 276f., 288, 482 Imagologie, soziale 210 Individuation 280f., 284ff., 299, 307, 399 Individuum 240, 264, 280ff., 339, 378, 385, 389f., 408, 412, 439 Intertextualität 94, 98ff., 130f., 136, 459ff., 466 Intimität 33–37, 40, 72, 247, 350, 404 Ironie 32, 36f., 71, 73, 88, 94, 108, 126, 188, 233, 266, 271, 294, 363, 470, 483 Irrgarten, s.a. Garten, Gartenkunst, Gartentheorie 101f., 131 Jahreslauf, Jahreszeiten 403, 406ff., 416, 421ff. Jena und Auerstedt, s. Schlacht bei Jena und Auerstedt Katastrophe, s.a. Veränderungen, katastrophische 7f., 12, 27, 37ff., 44, 83f., 88, 106f., 149, 162, 165ff., 171, 233, 247, 258, 288, 363f., 407, 421, 426f., 474 Kippfigur, s.a. Tournez s’il vous plaît 219, 227, 233f., 236 Klappbild 219, 227, 230f., 233, 236 Klassik, Klassisches, Klassizität 22f., 95, 103–109, 116, 129f., 196, 225, 383, 433, 438, 440, 446, 449–455, 470 Klassik / Romantik 9, 55, 79, 107, 455 Kommunikation, s.a. Reden / Schweigen 34f., 39f., 44, 72, 162, 201ff., 206f., 210, 392, 410, 428, 454, 467f. Konflikte, soziale, s.a. Ordnung, soziale 3, 5, 10ff., 21, 45, 75f., 87, 162, 166, 172, 238, 241, 313–317, 321–326, 328, 418f., 428 Konstitution der vereinigten Landschaft der Herzoglich Sachsen-Weimarund Eisenachischen Lande vom 20. September 1809 361f. Konventionsehe 351f. Kopfweh, s.a. Schmerz 180, 367–379 Kultur, s.a. Natur / Kultur; Zeitkultur
19, 27, 75f., 140, 144, 162, 202ff., 210ff., 260, 321f., 328, 335, 344 Kunst, Kunstwerk VI, 9ff., 16f., 19f., 28, 49, 59, 70, 73f., 90, 105, 157, 159, 194f., 204 (Anm. 49); 213f., 216, 219f., 227, 238f., 438f., 447, 451, 482 Kunst / Wirklichkeit, s.a. Gegenwart; Wirkliche, das VI, 10, 15–20, 31, 54f., 57f., 88, 157, 170ff., 213, 218, 263f., 313f., 427f., 430, 447, 451, 464 Kunstroman 9, 460, 488 Labyrinth 98–136, 298 Landschaft 10, 32, 76, 94ff., 108, 136, 202f., 205f., 225, 227, 230f., 235, 245, 394, 398, 442 Landschaftskollegium zu Weimar 361 Landschaftspark, s.a. Park, Parkgestaltung 89, 92, 99, 108, 131, 227, 339, 353f. Langsamkeit, s.a. Beschleunigung 430, 480 Leben, s.a. Organismus 14, 33f., 38f., 41, 49, 57, 63f., 81, 84f., 90, 105f., 131, 137–147, 153f., 156f., 160ff., 188, 202f., 209, 215f., 247, 256ff., 264, 267, 280–286, 289, 301ff., 396, 403, 414f., 435, 441f., 445–456, 462, 483, 488 Leben, neues 63, 67ff., 105, 292, 297, 399f. Lebende Bilder, s. Tableaux vivants Lebenskrise 68, 71 Lebenslauf 7, 12, 172, 403, 405, 407 Lebenswelt 137f., 144ff., 201ff., 210f., 404f., 416, 428f., 454, 456 Leidenschaft 8, 11, 40, 43f., 50, 68, 152ff., 179–192, 246ff., 258, 269ff., 291, 316, 345, 347, 358, 373, 416, 420, 437 Lesen 5 (Anm. 13), 23, 49, 141, 146, 155, 197f., 235, 393, 435f., 439ff., 445f., 449 (Anm. 77), 454, 479, 484, 488 Licht 59, 85, 121, 169, 234, 267, 376, 392, 446 Liebe 7, 39f., 44f., 50f., 53ff., 70ff., 79ff., 88, 101f., 139, 155, 159, 161, 167, 187, 191, 206ff., 239–258, 264, 268, 270, 277, 279, 289, 291f., 308, 353, 369f., 374, 378f., 399f., 412f., 418f., 423, 441, 448, 470ff., 486ff. Magnetismus 13, 166, 299–302, 304f. Magnetismus, tierischer 16
Stichwortregister Maß, Maßlosigkeit 69, 74f., 81, 87, 103, 244, 247, 258, 280, 346, 374, 419, 473 Mausoleum 129–136 Maxime 5, 45, 58, 86, 112, 137–148, 248, 275f., 441, 464 Mensch, s.a. Anthropologie 18f., 22, 34, 36f., 55f., 59, 61ff., 69, 76, 153ff., 159, 161 (Anm. 71), 166, 188, 190, 213, 215, 217, 241, 257, 259f., 270ff., 287, 293, 299ff., 339, 341, 344, 357, 371ff., 388, 403, 412, 414, 416, 421, 437, 446f., 487 Mereologie 281ff. Mesmerismus 17, 369, 374 Metamorphose 63f., 224, 284ff., 293, 299ff., 304, 306, 308f., 480 Metapher 14 (Anm. 65), 179, 197, 219, 303, 308, 480 Mode 19f., 331, 355, 387, 479ff. Modellstaaten, napoleonische 356 Moderne, modern, s.a. Antike / Moderne 27, 31, 36f., 41, 76ff., 82, 88, 131, 144 (Anm. 15), 150, 155ff., 167 (Anm. 100), 169ff., 214, 220, 225, 289, 292, 330, 361, 387, 399, 447, 459f., 473, 480, 482, 488 Moral, s.a. Ethik; Sittlichkeit 4, 8 (Anm. 34), 9, 11f., 17, 42, 44f., 51, 153ff., 160f., 166, 181, 184f., 192, 243f., 256, 263ff., 270f., 275f., 289, 294f., 365, 437f., 442f., 446, 451ff., 473 (Anm. 77) Morphologie 10f., 16, 19, 22, 272, 280, 285, 287, 398 Mythos, Mythologie 16f., 74f., 109, 187, 198f., 209f. Nachahmung 115ff., 142f., 224, 326, 475, 482 Nachvollzug 142f. Narzissmus 18 (Anm. 85), 33f., 38, 42, 105, 209, 240, 244ff., 257f. Natur 11 (Anm. 51), 14, 55, 60, 63, 77, 81f., 84 (Anm. 65), 129f., 153ff., 159ff., 179, 184f., 192, 198, 210, 242, 270, 272, 280–287, 299–309, 375, 396, 437, 446, 479 Natur / Kultur, s.a. Kultur 12, 62f., 76ff., 87, 204, 369, 375ff., 407, 485 Naturforschung 3, 11, 13f., 16, 19, 22, 152, 154, 156, 265f., 281, 293, 299, 401 Naturwissenschaft 293, 308, 310, 481 Notwendigkeit 44, 70, 79, 155, 165f.,
535
171, 179–191, 211f., 216f., 257f., 264, 278, 297f., 316, 399, 429, 453, 461, 474 Novelle 4, 52f., 58, 101, 110, 112, 169, 268ff., 275, 279, 390f., 425, 460, 462, 484, 487f. Ontologie 192, 281ff. Opfer 44, 149, 160, 162f., 165, 256, 287 Ordnung 15ff., 40f., 51, 69, 74f., 134, 149, 165, 184, 192, 215, 230, 267, 292, 298, 301, 303 (Anm. 28), 309, 316, 335ff., 343ff., 364, 383–401, 403f., 410, 427, 474 Ordnung, soziale, s. Sozialgefüge; Verhältnisse, soziale Organik 282ff. Organisation 15, 254, 281ff., 306, 384, 386, 389, 400 Organismus 281ff., 300, 480 Paar, Paarbildung 32f., 35, 51, 84, 103ff., 160, 168, 189, 258, 291f., 296, 324, 337, 368, 424, 467, 469, 472f., 475 Parabel, s.a. Weltparabel 220, 454 Park, Parkgestaltung, s.a. Landschaftspark 36, 79, 87, 89–136, 227, 230f., 295, 335, 338ff., 353f., 363, 391, 399, 481f., 485ff. Phantasie, s.a. Imaginatio, Imagination; Einbildung, Einbildungskraft 18 (Anm. 84), 31, 38, 63, 101, 110, 185, 187, 206 (Anm. 60), 208f., 248f., 298, 374, 435, 451, 481 Physiologie 4, 285, 301, 305f. Physique sociale 14 Poesie, s. Dichtung, Poesie Polarität 13, 84, 299, 303ff., 396, 455 Präsens, s.a. Tempuswechsel 52f., 55, 57f., 61f., 64, 191, 409, 420, 488 Projektion 17f., 64, 163, 165, 172, 248, 250f., 463 Prozess, Prozessualität 14, 17, 38, 40, 53, 58, 76, 151f., 162f. Reagenzglas, s.a. Chemie, Chemismus 53f., 56, 65 Reaktion, s.a. Experiment; Versuch, Versuchsanordnung 13, 291–309, 414 Realismus 20, 214, 238, 252f., 257 Realität, s. Wirkliche, das Redaktor 62f. Reden / Schweigen, s.a. Kommunikation 39f., 65, 162, 265f., 273, 276f., 410ff.
536
Stichwortregister
Reflexion 10, 15, 17ff., 57, 60, 137, 144, 165, 188, 202, 215f., 231f., 399, 435, 447 Reflexionstechnik 58 Reflexivität, Selbstreflexivität 3, 19, 31, 58, 90, 168, 216, 438 Reformpolitik 327, 330f., 333, 335, 342, 349–365 Refraktion 50, 54f. Religion 14 (Anm. 65), 17, 240, 251, 258–260 Revolution, s. Französische Revolution Revolution, territoriale 359 Rezensionen 151, 443ff. Rezeption, s.a. Wirkungsgeschichte 3, 6, 53, 60f., 138, 143, 145, 147f., 231, 433–457, 459f. Rheinbund 330f. 333, 355ff. Roman, s.a. Adelsroman; Darstellung, Darstellungsform; Eheroman; Erzählen; Gegenwartsroman; Geschlechterroman; Gesellschaftsroman; Kunstroman; Zeitroman 13, 15 (Anm. 73), 53, 150, 155, 157, 159, 169, 177, 279 (Anm. 24), 386, 440, 447, 450, 454, 470, passim. Roman, tragischer, s.a. Tragik; Tragödie 7, 149–173, 447, 452–454 Romantik, s.a. Klassik / Romantik 23, 55, 112ff., 119, 157f., 169, 183, 204f., 219f., 225f., 235, 239, 242, 258, 294, 335, 347, 353, 434, 451 Ruhe, ruhen 7, 33, 53f., 57, 70, 72, 79, 88, 90, 129, 136, 141, 149, 167, 182f., 206 (Anm. 55), 208 (Anm. 71), 245, 247, 256, 259, 325, 341, 419, 453 (Anm. 95), 467 (Anm. 48), 481f., 487f. Scheidung, s.a. Verbindung / Trennung 152, 184, 321ff., 363, 462 Scheinbild 323 Schicksal, s.a. Fatum; Geschick; Triebschicksal; Verhängnis 59, 103f., 150–172, 187, 191, 203, 208ff., 241, 255, 337, 383, 442 (Anm. 37), 453 (Anm. 95), 461, 471, 474 Schlacht bei Jena und Auerstedt vom 14. Oktober 1806 222, 330f., 334, 349f., 352f., 355, 358 (Anm. 25), 360 Schmerz, s.a. Kopfweh 7f., 28ff., 39ff., 45, 74 (Anm. 20), 80, 83f., 142f., 161 (Anm. 72), 172 (Anm. 124), 186, 240, 256, 259, 277, 453 Schönheit 31, 51f., 76, 78ff., 86ff., 140,
191, 233, 240, 246f., 335, 362 Schrift 193f., 196ff., 209ff., 235, 247 Schuldangst 240, 256, 258–260 Schweigen, s. Reden / Schweigen Sein / Schein 19f., 172, 225, 326, 344ff. Selbstbild 18 Selbstdeutung 17, 164, 206, 208f., 217 Sinn 6 (Anm. 16), 197f., 211 (Anm. 89), 217, 273, 285 Sinnbild, s.a. Symbol 69, 87, 326, 422f. Sittlichkeit 153f., 159, 164, 166, 179, 182, 197, 211 (Anm. 91), 213, 263f., 267, 271, 301, 316, 321, 326, 336, 400, 437, 441ff., 452, 455, 460 Sonett, Sonett-Zyklus 31, 67ff., 87, 399f. Sozialgefüge, s.a. Ordnung, soziale; Verhältnisse, soziale 292ff., 336 Spiegelung 15, 58, 67, 76, 79, 84, 136, 304, 334, 400, 413, 437, 484 Spinozismus 71, 111 (Anm. 77), 154, 182ff., 213, 269ff., 279, 437 Steigerung 13, 72, 84, 353, 414, 455 Symbiose 34, 38 Symbol, Symbolisierung, s.a. Distanz; Sinnbild; Welterschließung, symbolische 10ff., 14 (Anm. 65), 15–20, 69, 75, 84, 87, 95, 103ff., 107, 139f., 149, 152, 169, 172f., 195f., 212, 215f., 219, 238ff., 313, 327–347, 353, 364f., 396, 398ff., 405, 413f., 423, 436f., 450, 453 Symbol, psychotisches, s.a. Gleichsetzung, symbolische 240, 243f., 248, 252 Sympathie 16f., 27, 145, 155, 188, 304, 446, 451 Tableaux vivants 19, 51, 59, 79, 87, 110, 207, 221ff., 233f., 253, 265, 407, 482 Tagebuch 39, 53, 56ff., 63, 72, 112, 137f., 145ff., 188, 202, 258, 279, 319, 392, 411f., 422, 447, 481, 487 Tätigkeit 29, 36, 41, 77f., 85ff., 106, 110, 139, 188, 201, 334, 340, 343, 345, 384ff., 400, 415, 423 Tausch 51, 53, 55, 197, 202, 211ff., 364, 427 Teil / Ganzes, s.a. Mereologie 22, 271, 281ff. Tempuswechsel, s.a. Präsens 58, 191 Theodizee 154, 185, 188, 192 Tod 6f., 28ff., 38ff., 43f., 51, 53ff., 59, 61, 63, 79f., 87f., 103, 111, 120, 130, 149, 161, 163f., 167, 170, 188f., 243f.,
Stichwortregister 252ff., 258f., 264ff., 272, 278, 280, 318, 324ff., 341, 347, 351, 364f., 369f., 403, 425, 442, 448, 460, 469f., 474, 487f. Totalität 11, 15, 168, 207, 213, 281ff., 328 Tournez s’il vous plaît, s.a. Kippfigur; Wende 115, 227, 234, 236 Tragik, s.a. Roman, tragischer 7, 53, 79, 111, 149–173, 189, 211, 234, 296, 322, 326, 352, 363, 399, 447ff., 452f., 455 Tragödie 65, 150, 155, 157f., 161, 167 (Anm. 100), 169ff., 222, 383, 389, 425, 448, 452f. Triebschicksal, s.a. Schicksal 161f. Trost 41, 45, 54, 71, 83f., 255, 257, 265f., 416 Übereilung, s.a. Flüchtigkeit 268, 399, 430, 479–488 Überraschung 67ff., 139f., 235, 254, 399f., 411, 413, 484, 487f. Überzeitlich 335f., 338, 346, 363 Überzeugungen, wahnhafte, s.a. Wahn 240ff. Umbruch, s.a. Wandel, sozialer 12, 74, 75f., 79, 172, 239, 316, 320f., 328ff., 336f., 349, 364, 468 Unbewusste, das 17f., 44, 161, 206 (Anm. 60), 215, 238ff., 251, 253, 256, 364 Unerträglichkeit 240ff., 246, 253f., 256f., 259 Ungeheure, das, s.a. Wirkliche, das 6f., 62ff., 68, 87, 111, 160, 191, 225, 249, 428, 462, 465, 481, 486 Urteilskraft 14f., 18 Veränderungen, katastrophische, s.a. Katastrophe 239 Verbindung / Trennung 7, 13, 41, 57, 59, 152f., 294, 304, 347, 389, 474 Verblendung 160, 166, 171, 267 Verfassung, s. Konstitution 355–362 Vergangenheit 19f., 62, 76f., 95, 112, 215, 220, 224, 234, 238f., 291f., 338f., 347, 376, 390f., 399f., 415f., 418, 420, 483, 488 Vergegenwärtigung, literarische 4f., 11, 18, 22, 56ff., 211, 224, 388, 398 Vergesellschaftung 41, 45 Verhältnisse, soziale, s.a. Gesellschaft; Konflikte, soziale; Ordnung, soziale 10f., 14, 75, 87, 328, 436
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Verhängnis, s.a. Fatum; Schicksal 41, 149, 165, 167, 191f., 210, 267, 398f., 447 Verlassenheit 28f., 40, 245f., 251, 253, 256f., 268 Vernunft 18, 31, 115, 154f., 158, 163, 233, 316, 373 Vernunftfreiheit 18, 22, 153ff., 179ff., 186, 190ff., 437, 442 Verrätselung 5, 49 Verstrickung, s.a. Verblendung 167, 172, 181, 185ff. Versuch, Versuchsanordnung, s. Experiment Verwandtschaft, s.a. Wahlanziehung, Wahlverwandtschaft 13f., 153ff., 159, 284, 295, 306, 387f., 390, 446, 462 Verzicht, s.a. Entsagen, Entsagung 28f., 42, 44, 257 Vieldeutigkeit 4f., 27, 168, 201, 220, 224, 233 Vorstellungsart 16f., 19, 153 Vorurteil, Vorurteilsbildung 5, 11, 18, 240–244, 248, 259, 339 Wachstum 244, 251, 269, 286, 439 Wahl, Wählen, s.a. Freiheit 13f., 152ff., 188, 390, 415 Wahlanziehung, Wahlverwandtschaft, s.a. Affinität; Anziehung; Attraktion, attractio electiva; Verwandtschaft 13f., 152ff., 179, 182ff., 386ff., 474 Wahn, s.a. Überzeugungen, wahnhafte 7f., 73, 81, 83, 163, 172, 240ff., 248ff., 254, 256f., 259f., 323, 364 Wahrheit, Wahrheitsgehalt 196, 213, 239, 246, 254, 329, 434 (Anm. 6), 438f., 450f. Wahrnehmung 16ff., 59, 185f., 202, 208, 214, 216, 219, 227, 231, 235f., 249, 251, 376, 390f., 424 Wandel, sozialer, s.a. Umbruch 327–347 Weltbild, Weltbildzerfall 16, 19 Welterschließung, symbolische 17 Weltparabel, s.a. Parabel 65 Wende, Umwendung, s.a. Tournez s’il vous plaît; Kippfigur 22 (Anm. 95), 43, 215 (Anm. 110), 227, 233f., 236, 268, 339f., 349, 405, 428, 480 Widerspruch 4f., 147 Willkür 82, 159 (Anm. 57), 184, 186, 482
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Stichwortregister
Willensfreiheit 153, 274ff. Willkürfreiheit 180, 207, 210, 216f. Wirkliche, das, s.a. Bild / Wirklichkeit; Gegenwart; Kunst / Wirklichkeit; Ungeheure, das 5ff., 15ff., 31, 83, 151f., 163, 165, 172, 186f., 198, 203f., 206f., 210, 225, 238–260, 270, 273, 412, 435, 487 Wirkungsgeschichte, s.a. Rezeption 237, 433–457 Wissen 20, 23, 60, 153, 194f., 210, 265f., 269 (Anm. 12), 272, 279, 302, 308, 376 (Anm. 49), 391, 396, 437, 480f. Wissenschaft 15ff., 74, 270, 301f., 355, 388, 396, 479, 482 Wissenschaftsgeschichte 3, 19, 386ff., 395f., 400 Witz 14 Wollen 73, 82, 172, 399 Wunsch 5, 11, 18, 34f., 37f., 58, 73, 82, 104f., 130, 164, 166, 172, 206 (Anm. 60), 246, 250f., 253, 256, 259, 390
Zeichen 54, 74, 83, 136, 188, 193–218, 266, 369 Zeit, s.a. Augenblick; Außerzeitlichkeit; Ewigkeit; Langsamkeit; Überzeitlich 12, 19f., 53, 56, 63, 90, 103, 129f., 157, 162, 170, 188, 202f., 209, 220, 227, 235f., 242, 331, 338ff., 356, 358, 363, 403, 406f., 414ff., 417–430, 479–488 Zeitbewusstsein 331, 403, 417, 421, 480f., 484ff. Zeitenthobenheit 414, 416, 420 Zeitkunst 235 Zeitkultur 403, 417f. Zeitlichkeit 63, 103, 240, 403, 421, 429 Zeitroman 9, 62, 64, 157, 429 Zeitstillstand 414, 420 Zerstörung, Selbstzerstörung 8, 70, 77, 95f., 149, 171, 222, 242f., 315 Zufall 107, 159, 171, 186, 255, 264, 279 (Anm. 24), 471 Zukunft 19, 44, 53f., 215, 231, 242f., 251, 260, 330, 334, 343, 391, 419f., 424, 483, 488