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German Pages [712] Year 1991
Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis
Herbert Uerlings
Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis Werk und Forschung
J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttgart
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Uerlings, Herbert Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis : Werk und Forschung / Herbert Uerlings.
— Stuttgart : Metzler, 1991
ISBN 978-3-476-00779-7 ISBN 978-3-476-03377-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03377-2
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© 1991 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1991
Inhalt
NOVALIS, NOVALIS-FORSCHUNG UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTE ..........sesenseneneenenenennennnonensanenensnnn 1 NOVALIS-REZEPTION
1800-1943 .................uueensssenssenermsosenen 15
Novalis-Rezeption bis 1890 ...............r20cssnsennesesossesenusnenssnsnsnnsnenunnenennenenssnennennensnnnnne Frühe Wirkungsgeschichte .............useessnenesuessenesnesersnnsonnnnnnnnnonnnnennennnnnenssnseseesersenn Novalis in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts... Exkurs: Novalis-Rezeption in England und Amerika ...............uusesesseenesnesesnsenennen Fazit: Romantischer Messias .......uu.csessssesnsnesuenennsunnsnonnnnnnonunsensenessennssennnnanssasnnnennne
17 17 28 75 78
Novalis-Rezeption 1890-1945 .......uueessesesssssnssnensnenssnnnsnenensensnnnnonssornenensnsnnsnronsnnenene 82 Novalis und das neue Jahrhundert ..........unsessssessssssonsssssnsnnsensssensessssssennennenenessssnne 84 Christliche Novalis-Deutung Kritische Würdigungen ...............rsusnessesessesensennssnsnensesnsnnnsonsnnunnunnunssussssnennnnenssessenene Exkurs: Novalis-Rezeption in Frankreich ...........cesessssosrsessnersonssensensonnnonennenensonen 100
DAS THEORETISCHE WERK
1: GRUNDLEGUNG
DER
PHILOSOPHIE .............nnsssssssnesensasensnssononsunnessnsnsonsnnnnnonensonensensnnennunn nenne 105 »Fichte-Studien< ..............unesenescessnsssesesssnssnenenosnsnnennnenonunnennsnssennnnsnnsnnssennsorsnsnnnsensnensne 115 Hemsterhuis-Studien ...........ueessussessesssessnessensnssssnnnsnnnsenunensnnorsonansnnnsnnnsssssenssnossnnannsene 120 Kant-Studien .................2222020222002220000000snesnenennsnensnuensansnsnsssensnnssnnasnnnnsssnnsnsennnansnnssserane 124 Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen. ................ennersereesenenuene 126 Das »Allgemeine Brouillon« .............uesrsessesrenenusnossessnsnenassnsnnssesnennnnunsnnsosssnenennnnenn 131 Zu einzelnen Aspekten .......uscensennssonnossorsesosensnorsntnnsnnsnnnnnsnnsnrsnennensssossnsoessesenannnenn 136 Intellektuelle und intellektuale Anschauung .........usessesssersensensnnnnssnesennseesnnnesnnnn 136 Einbildungskraft und Poesie .................2.0020000000000nnnnnenesnennnnnnanennenossnnnnnnesnnensenssenne 140 DAS
THEORETISCHE
WERK
2: NATURPHILOSOPHIE
................ 147
Grundlegung .................2u00s00000s0eneseonsesssnesusnsnnsonnnnesssnnsnennnnennssensnnesssnssanssssnennenesseseene 149 Zu einzelnen Wissenschaften .........uesenscssnessnensnesesnennnennnenesnenenenssnsnsensensnenerarasnenennn 164 Medizin .........u.2ussssonsnesunsnennennennssessessennsssenenntsnsnensnssnnnsnnnnsnsnsssnunnnnennsnsssensensesseneessesen 166 Mathematik ...........0.2002002002n00nnonnnennenennnsnenaensnntnnnnernnnnnsnnsnensnsnnunsnnenessenssenssosnassnnsennen 178 Enzyklopädistik ....................202222000020000002000000000401020000nB0n0nnnnnennensnnnnssnsnansssnsrsnsnsnersnnen 184
VI
DAS
THEORETISCHE
WERK
3: ASPEKTE
DER ÄSTHETIK
......... 197
Sprachtheorie .....neeesssossesenssnsnsnsosnnaonunonnensnnnsnnensnsnensonsanasnsunnssenennsnnnensnssannsnsntssnnsnnn
Fragment-Ästhetik ZWISCHENRESÜMEE:
Narrative Konstruktion immanenter Transzendenz ... 229
Jugenddichtung und Jugendlyrik (1788-1794) ............ueresesesesesnssesonnesnsnenonnnnnnnne 234 Tennstedt und Grüningen (1795-1797)
......unausersessonssorsensnonnenonnsnennonensenennesensn essen 241
Freiberger Lyrik (1798/99) ......uuesenssesessensnssssnnnsennenenenonnsnnnsnennuosnansunnsnennansnnnannnnsennn 245 >Geistliche Lieder ........ccccsseeesessesesssannsonensennnensnennnsennseunassnssnnnnnunnsensssennssannensesannsnnne 250
Entstehungszusammenhang ........ssessessessesesonsnssnsnesnnennsnnensnnnnnsnnonnensennsnnsnssnssnnnnennne 252 Zu einzelnen Liedem ...............220002220000200000000s0nnnnnenennssnnennenzennnnennnnnersenenensnnssnennsennnn
»Hymnen an die Nacht«...........uesesssssssnssssssssnsunsnsnsonnentonsonennnnnnennnnnnnnnnnensenennnenn Entstehung und Deutung Gesamtdeutungen .......nnesunessesnesnesnnsnnnonseennnsonnensnsonnonen Zyklus und Struktur ........enesssesnsssensssenesnesenssnnennn Einzelfragen ...........crsessensssenssssssnosnsnnsnnuensnusnsunsusnanensenessenanssnenersnsensssusnenesnensänsnnnnen Romantiker/Klassiker .........uusssesssnsnsnsnsosnsonansnnononnenennensorneneneronmeoranneronnennensonnennaen Prosagedicht au BR BR Mythos, Geschichtsschreibung oder Poesie? ..............ounessonsnssesensenerennennnonenenen nenne 302
Exkurs: Narrative Konstruktion immanenter Transzendenz in der 5. »Hymne an die Nacht« Späte Lyrik ........uueeseesssessnsnssnnsnsenssnnunnnnsonnansonssnesarnosnnnnennnee Kontext und Modemität ........neeeessseessseseressnseensssensnnsennnnnnensnenessnnnnnnnsnennsnneennnnanennnnnen
>Die Lehrlinge zu Sais< ......ueenesssesssensessnsenennsnensensnansnsnenensesunensnsenenansnsonenensasane Zur Einheit des Textes .............nennennnnnne Das Märchen von Hyazinth und Rosenblüte Neuere Gesamtinterpretationen ........uussssesensenesesnenssnnnennenenosnnnnsnnnennsnnnnsnnnnnsnsneonennnn Theorie des Märchens .................20s22000useseeeneaneensannnnnneneennnnnnneneennennunennenanenennnnennnnnenne
»Heinrich von Ofterdingenc ..............nnese Linien der Forschung .............nsenesn Der Traum von der blauen Blume
Zur Form des »Heinrich von Ofterdingen« ..........esnesnesnssnenesnnonsasensansensnasanenasensensnnonene Dichtungsauffassung im Roman ............... Poetik des Romans...
»Wilhelm Meisters Lehrjahre< .................. »MeisterSeher« und »Eingeweihter«, das Weiterleben seiner Gedichte im Bergmannslied und im evangelischen Gemeindegesang und die Signalwirkung, die bezeugt wird durch TShirts
mit
dem
Aufdruck
des
Gedichtes
»Wenn
nicht
mehr
Zahlen
und
Figuren«,
durch Slogans wie »Schlagt die Germanistik tot/ Macht die blaue Blume rot« oder durch den Namen
der (erfolgreichen)
Popgruppe
»Novalis«. Es gibt einen »Novalis-
Verlag« und eine »Novalis-Hochschuleblauen Blume«, >des< Symbols der Romantik, der >politischen Romantik«, der Vorstellung von der »göttlichen Sprache der Dichter« und des »Dichter-Priesters«, an den Beitrag der Märchen und
märchentheoretischen Äußerungen zur Begriffsbestimmung des Kunstmärchens und den der Gedichte zum Begriff der Lyrik, an die Diskussionen um das »klassische Symbol« und die romantische Allegorie«. Angemessen verstehen läßt sich das nur in Verbindung mit einer Aufarbeitung der Kanonisierung der »Goethezeit«, der Nationalisierung der Literatur um 1800 und der Schulbildungen innerhalb des Faches sowie der diversen Filiationen. Welchen Anteil hatte die Romantik an der Entstehung der Germanistik in der ersten Hälfte des 19. ? Vietta, Silvio: Frühromantik und Aufklärung. In: Die literarische Frühromantik. Hg.v. Silvio Vietta, Göttingen 1983 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1488), S. 7-84, S. 9.
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
3
Jahrhunderts? Woraus erklärt sich die tendenzielle Gleichsetzung von Romantikforschung
und
Germanistik
(»Deutschkunde
auf völkischen
Grundlagen«)
in den
2oer
und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts? Welche Rolle spielte dabei die Berliner Schule, aus deren Mitte heraus Petersen
1926 sein Werk
mit dem sprechenden Titel »Die
Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft« veröffentlichen konnte? Welche Funktion hatten der GermanistenVerband und die Preußischen Schulbehörden in diesem Prozeß? Wie läßt sich mit Blick auf die Romantikforschung die Schlüsselrolle der deutschen Philologie bei der historischen Fundamentierung der Nationalbildung beschreiben? Welche wissenschaftsgeschichtliche Funktion erfüllt die seit dem Anfang dieses Jahrhunderts Kontinuierlich gestellte (und immer wieder kontrovers und mit unterschiedlichsten Argumenten beantwortete) Frage nach der »Modernität« der Romantik, die so an die Klassik nie gestellt wird? Diese Themen sind so komplex, daß sie beim gegenwärtigen, sehr dürftigen Stand der Erforschung der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik hier nicht umfassend behandelt werden können. Sie sind derzeit wohl nur in Projekten (oder dem seit längerem geforderten Max-Planck-Institut für Literaturwissenschaft) sinnvoll zu bearbeiten.? Über die Klassik ist in diesem Sinne immer wieder aus unterschiedlicher Sicht reflektiert worden. Für die Romantik stehen entsprechende Arbeiten noch weitgehend aus, nicht zuletzt mit der Konsequenz, daß die Romantikforschung sich relativ planlos ereignet, d.h. fast ausschließlich Einzelstudien zu einzelnen Autoren oder Themen er-
scheinen, umfassendere wissenschaftsgeschichtliche Überlegungen aber selten und vor allem fast immer retrospektiv gehalten sind.* Leider hat es die Romantik-Forschung, obwohl sie zu den Kernbereichen des Faches gehört, das seine Gründung der Romantik verdankt, nicht verstanden, sich ein permanentes Forum zu verschaffen wie es (de facto) die Aufklärungsforschung in der interdisziplinär und international besetzten >»Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des
18.
Jahrhunderts
Gesellschaft zur Erforschung der Romantik< gibt oder wenigstens ein entsprechend angelegtes Publikationsorgan, ist 3 Die 1972 am Marbacher Archiv eingerichtete Arbeitsstelle für Geschichte der Germanistik ist wichtig, aber nach der Besetzung mit nur einer einzigen wissenschaftlichen Kraft eben auch ein Dokument gegenwärtiger Grenzen. Der einzige nennenswerte, über Studien zu einzelnen Germanisten hinausgehende Ansatz ist das von der DFG geförderte Projekt zur Wissenschaftsgeschichte unter der Leitung von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Es ist allerdings so dimensioniert und angelegt, daß die Romantikforschung bisher kein Thema war. * Die wichtigsten Überblicke seit 1945 sind: Mayer: Fragen der Romantikforschung. In: Ders.: Zur deutschen Klassik und Romantik, 1963, S. 263-305; Brinkmann: Romantik als Herausforderung. In: Romantik in Deutschland, 1978, S. 7-37; Weiland: Politische Romantikinterpretation. In: Zur Modernität der Romantik, 1978, S. 1-59 und Peter: Einleitung. In: Romantikforschung seit 1945, 1980, S. 1-39. Für neuere Tendenzen vgl. von Bormann: Wie aktuell ist die deutsche
Romantik?
In: Euphorion
78,
1984,
S. 401-414.
— Zum
Thema
Wissen-
schaftsplanung in der Germanistik vgl. Lämmert, Eberhard: Wissenschaftsgeschichte und Forschungsplanung. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Hg.v. Walter Müller-Seidel. Stuttgart 1974, S. 663-685.
4
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
ein Luxus, der die Forschung
um
einige Jahre hinter ihrem möglichen
Stand hinter-
herhinken läßt und dem Zufall überantwortet, was geplant und koordiniert werden
sollte. Im Falle Hardenbergs verschärfen sich die Probleme. Beim exemplarischen Romantiker ist die Diskrepanz zwischen Forschung und Forschungsreflexion am größten. Ein Forschungsbericht zu Novalis existiert nicht, der letzte größere Versuch, der für das Sonderheft »Forschungsreferate< der »Deutschen Vierteljahrsschrift< (1973) vorgesehen war, konnte wegen des frühen Todes von Hannelore Link nicht fertiggestellt werden. Im Unterschied zu Heine, Eichendorff oder Hoffmann existiert keine Gesellschaft, die der Forschung ein Forum bieten, mittels eines Jahrbuchs wenigstens die elementaren Aufgaben des Bibliographierens und der Besprechung von Ausgaben und Forschungsliteratur wahrnehmen und schließlich einen Beitrag zur Erhaltung und angemessenen
Nutzung
des Geburtshauses,
Schloß
Oberwiederstedt,
leisten könnte.
Statt eines Forschungsberichts sind vor längerer Zeit gelegentlich knappe Literaturberichte erschienen.® Arbeiten, die einen gründlichen Überblick über die Forschung wenigstens zu ihrem Spezialthema bieten, sind selten. Ein wirklich nennenswertes, wenn auch angreifbares Forschungsreferat enthält eigentlich nur die Arbeit von Kurzke.? Mit ihrer eher zunehmenden Nichtbeachtung der Forschungslage bilden die Arbeiten zu Novalis (oder zur Romantik) keine Ausnahme.
Das Phänomen ist als »Publish,
republish or perish!< seit längerem geläufig, die Gründe und Folgen sind bekannt: »Wird jedoch, wie gegenwärtig, der Konkurrenzdruck allzu vieler, um Arbeitsplätze ringender Wissenschaftler seinerseits zur causa prima der individuellen wissenschaftlichen Bewährung, dann tritt, während die Publikationen sich häufen, eine Wissenschaft oft unvermerkt auf der Stelle, Säbelkämpfe um Haaresbreiten beherrschen die Szene, und ein Nomenklaturbarock verbirgt
mehr
oder
minder
notdürftig
die
thematische
Harmlosigkeit
vieler
Auseinandersetzun-
gen.«3 Hinzu kommt, daß die anwachsende Publikationsflut begleitet wird vom Schwund jener Instanzen, deren Aufgaben Orientierungssicherung und Qualitätskontrolle sind. 5
Daran
ändern auch die Symposien
zur (Früh-) Romantik
nur sehr begrenzt etwas;
sie bele-
gen eher, wie sinnvoll eine stärkere Zusammenarbeit sein kann. Vgl. die Sammelbände: Romantik in Deutschland, 1978; Die literarische Frühromantik, 1983 und: Die Aktualität der Frühromantik, 1987. 6 Vgl. Walzel: [Sammelbesprechung]. In: Euphorion 15, 1908, S. 609-634 und S. 792-819; Müller-Seidel: Probleme neuerer Novalisforschung. In: GRM 3, 1953, S. 274-292 und Tamabayashi: Novalis. In: Jahresberichte des germanisch-romanischen Instituts von Kwanseigakuin Universität 2, 1959, S. I-XVI. Tamabayashis Aufsatz ist eine reine Bibliographie. Vgl. außerdem: Wilhelm: Das Novalis-Bild in der Literaturwissenschaft der DDR. In: Zu einigen Positionen der Romantik-Forschung in der DDR-Literatur. Hg. v. Horst Hartmann, 1980, S. 49-60. ? Vgl. Kurzke: Romantik und Konservatismus, 1983, S. 50-66. Auch die beiden Eingangskapitel bei Kurzke lassen sich als Forschungsreferat zum Thema >Novalis und der Konservatismus< lesen. — Erwähnt sei auch noch die Einleitung von Schulz in: Novalis, 2. Aufl. 1986, S. VIO-XXI. $ Lämmert, Eberhard: Die Geisteswissenschaften in der Hochschulpolitik des letzten Jahrzehnts. Zur Eröffnung des deutschen Germanistentages 1984. In: Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hg.v. Georg Siötzel. Berlin, New York 1985, 1.Teil, S. 1-23, S. 14.
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
5
Schon seit Jahren werden immer weniger Forschungsberichte geschrieben, und die Besprechungsteile in den Fachzeitschriften sind — wie die Zahl der Zeitschriften selbst — derart zusammengeschmolzen, daß von einer die aktuellen Publikationen des Faches in großer Breite räsonierend begleitenden Kritik kaum noch gesprochen wer-
den kann. Es ist aber nicht nur die stereotyp beklagte Fülle der Publikationen, die auch die Novalis-Forschung so unübersichtlich und schwer durchschaubar macht, sondern auch und vor allem die Divergenz, die Widersprüchlichkeit und die Geschichtlichkeit der Forschungsrichtungen, die auch heute noch sehr selten auf ihren jeweiligen hermeneutischen Status und auf die Grenzen ihrer Tragfähigkeit und Reichweite reflektieren. Vor dem bisher skizzierten Hintergrund ist die Auffassung, man könne, genügend Aufräumarbeit vorausgesetzt oder durch einfache Nicht-Beachtung von Teilen der Forschung, das Werk eines Autors wie Hardenberg >»immer besser< verstehen oder zu einem »wahren« Verständnis vordringen, pointiert gesagt, epistemologisch naiv. Es gibt eine Vielzahl möglicher und zum Teil auf keine Weise synthetisierbarer Perspektiven, und wer interpretiert, tut dies immer nur im Rahmen bestimmter, eigener, prinzipiell überholbarer Voraussetzungen. Die Zusammenhänge sind im Falle Hardenbergs so komplex, daß es einerseits möglich und notwendig ist, seine Deutungsgeschichte als Teil der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik (nicht nur der Romantikforschung) zu beschreiben, andererseits aber damit sofort die Entscheidung gefallen ist, nicht mehr über den Autor, sondern über das Fach zu arbeiten. Anders geht es nicht. Das für diese Arbeit ursprünglich ins Auge gefaßte zweigleisige Konzept — Darstellung der Novalis-Forschung und/als Wissenschaftsgeschichtsschreibung — hat sich als nicht sinnvoll und nicht praktikabel erwiesen. Die unumgängliche Entscheidung wurde zugunsten des Autors gefällt. Aber natürlich bildet die Wissenschaftsgeschichte
den
immer
wieder
reflektierten
forschung im Sinne eines Teilbereichs onsgeschichte und Konzeptbildung)«? der Die vorliegende Arbeit verfolgt zwei Beschreibung von Geschichte, Stand und
Horizont,
und
es wird
versucht,
Novalis-
»Textsystem (im Sinne von InterpretatiWissenschaftsgeschichte zu beschreiben. Ziele. Sie möchte (1) die erste umfassende Perspektiven der Novalisforschung geben,
und sie versucht (2), die erste umfassende,
nicht auf ein einzelnes Thema
(wie das
»goldene Zeitalter«, die »Ästhetik« etc.) eingeschränkte Deutung des Gesamtwerkes!” vorzulegen. 9 Voßkamp, Wilhelm: Für eine systematische Erforschung der Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gesellschaft. Hg.v. Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1987 (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderheft 1987), S. 1*-6*, S. 2*, Voßkamp konzipiert Wissenschaftsgeschichte als zusammengesetzt aus drei Teilbereichen: Sozialsystem, Textsystem und kulturelles und Erziehungssystem. 10 Ich sehe dabei ab von den zahlreichen, durchweg als erste Einführung gedachten »Leben und Werk«-Darstellungen. Brauchbar, weil am Stand der Forschung orientiert, sind vier davon: Schulz: Novalis in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1969; Neubauer: Novalis, 1980;
6
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
Geschichte, Stand und Perspektiven der Forschung Ausgeblendet bleibt also die nichtwissenschaftliche, insbesondere rische Rezeption, abgesehen von den — nicht seltenen Fällen —
auch die litera, in denen wir-
kungsgeschichtlich wichtige theoretische Äußerungen vorliegen. Die Bedeutung denbergs für Musil ist kein Gegenstand dieser Arbeit, wohl aber Thomas Manns rufung auf Hardenbergs »Christenheit oder Europa< im Interesse der Weimarer publik und, in diesem Zusammenhang, das Novalis-Bild in seinen Essays und manen. Unter welchen Voraussetzungen wird hier Forschungsgeschichte geschrieben? schrieben werden soll zum einen, welche Deutungslinien es gab und gibt, welche gen gestellt und welche nicht gestellt wurden und wie die Antworten aussahen.
HarBeReRoBeFraDie
Geschichte(n) dieser Strategien soll(en) erklärt, Kontroversen herausgearbeitet, offene
Fragen gestellt und diskutiert werden. Die Reichweite und Tragfähigkeit älterer und neuerer Ansätze und ihre grundsätzliche Angemessenheit soll geprüft werden. Läßt sich also doch von einem »Fortschritt in den Geisteswissenschaften< sprechen und, wenn ja, nach welchen Kriterien? Die kritisierte >epistemologische Naivität« bezog sich auf eine hermeneutisch unauflösbare Problematik, die übrigbleibt, wenn eine Reihe anderer Fragen geklärt ist. Es gibt Kriterien für die Beurteilung der Angemessenheit von Theorieentwürfen und
Interpretationen!!. Einige konkrete Rahmenbedingungen lassen sich schon hier nennen. Eine außerordentlich große Rolle spielen für die Novalis-Forschung die Editionslage und die Datierung der Werke und Notizen: Seit der Edition der Historisch-kritischen Ausgabe ab 1960 ist vieles aus der Forschung seit den 2oer Jahren unhaltbar geworden. Ähnliches gilt, wenn auch in kleinerem Umfang, für die Ausgabe von 1929 gegenüber der älteren Forschung. Ein zweites Kriterium ergibt sich aus der Frage nach der Basis bestimmter Deutungsstrategien. So macht das heutige Wissen um die fachwissenschaftliche Ausbildung Hardenbergs und seine Berufstätigkeit den dominanten älteren Topos vom schwärmerischen Jüngling, dessen fragmentarisches Werk folgerichtiger Ausdruck einer sich ganz in Traum, Liebe und Poesie verzehrenden Existenz zum Tode ist, gegenstandsios (ohne daß bis heute eine Untersuchung vorläge, die der Bedeutung der Berufslaufbahn ganz gerecht würde).'? Ein drittes KriMähl:
Friedrich von Hardenberg
(Novalis).
In: Novalis.
Werke
in einem
Band,
1981,
S. 652-
695, und Kurzke: Novalis, 1988. Zur Kritik der großen älteren Darstellungen und von Hiebels »Novalis< (1951/1972) vgl. das folgende Kapitel. 11 Für die Grundlagenreflexion vgl. immer noch Mecklenburg, Norbert/ Müller, Harro: Erkenntnisinteresse und Literaturwissenschaft. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1974. Zur Offenheit der Werke und zur Unabschließbarkeit der Interpretation vgl. zuletzt die — von sehr unterschiedlichen Voraussetzungen her geschriebenen — Beiträge des Bandes: Text und Interpretation. Deutschfranzösische Debatte mit Beiträgen von Jacques Derrida, Philippe Forget, Manfred Frank, Hans-Georg Gadamer, Jean Greisch und Francois Larulle. Hg.v. Philippe Forget. München 1984 (Uni-Taschenbücher, Bd. 1257).
12 Auch die Quellenlage zu diesem Thema ist seit dem Fund der 410 Seiten umfassenden »Salinenschriften< in der Bibliotheka Jagiellonska in Krakau wieder im Fluß. Die Veröffentlichung dieser Manuskripte steht noch aus, ebenso die Auswertung und zum größten Teil auch die Pub-
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
7
terium ergibt sich aus der Form des Werkes. Es gilt als außerordentlich schwierig und unüberschaubar, weil es zum größeren Teil aus kurzen Aufzeichnungen besteht, deren
Sinn, Zusammenhang und Status oft nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Das führt in einem Teil der Forschung zu Zitatmontagen und Zitatschlachten, die Novalis in den Verruf gebracht haben, mit seinem Werk ließe sich alles belegen, weil nichts eine klare Kontur habe. Um ein Problem wird die Novalis-Forschung dabei nie herumkommen, weil es dafür keine grundsätzliche Lösung gibt: Linien im Werk aufzuzeigen heißt manchmal
immer auch, bestimmte Notizen stärker zu gewichten als andere, und fehlt einfach die Möglichkeit, solche Entscheidungen zu begründen, weil
elementare Fragen nicht zu beantworten sind: Ist die Notiz eine Gedächtnisstütze (zustimmenden oder ablehnenden Charakters?) oder ein Exzerpt, bezieht sie sich (inhalt-
lich oder terminologisch) auf eine vorangegangene Lektüre oder formuliert sie unabhängig davon eine eigene Einsicht? Welcher Gestus liegt der Notiz zugrunde: Ironie, Polemik, Sprechen im »>als ob«, die »Gewalt der rhetorischen Behauptung« oder eine andere Form der vom Autor gepflegten »Tropen- und Räthselsprache«? Viele Aufzeichnungen
haben
einen
offensichtlichen
experimentellen
Charakter,
wollen
die
Tragweite einer Idee ausloten, verknüpfen eher assoziativ als logisch-diskursiv; andere sind vom Autor wieder durchgestrichen worden. In wesentlich höherem Maße als bei anderen Autoren läuft der Interpret von Hardenbergs Werk Gefahr, einzelnen Aufzeichnungen eine Bestimmtheit zu geben, die ihnen im Kontext nicht zukommt. Die Sensibilität für solche Zusammenhänge und Fragen ist inzwischen gewachsen, und die Historisch-kritische Ausgabe hat Maßstäbe für den Umgang mit den Notizen gesetzt, hinter die die Forschung nicht zurückfallen darf. Interpretationen müssen zunächst einmal die Berührungs- und Übergangspunkte zwischen den einzelnen Vorstellungen nachzeichnen!?; sie müssen aber auch versuchen, was vor allem für die philosophischen Aufzeichnungen erst seit einigen Jahren gemacht wird, durch Kontextbildung Konsistenzprüfung zu ermöglichen, und sie müssen eine solche Prüfung auch betreiben, also etwa nach der Verbindlichkeit der philosophischen Notizen fragen.
Aus der Werkstruktur ergibt sich auch die Darstellungsweise dieser Arbeit. Die Forschung wird primär im Blick auf bestimmte Texte, nicht Themen Hardenbergs diskutiert, um so die Argumentation nachvollziehbar und damit kontrollierbar zu halten. Zum Umfang der eingearbeiteten Forschung ist zu sagen, daß die Literatur in deutscher, englischer und französischer Sprache in möglichst großer Breite erfaßt und erschlossen wird. Der Flut der Sekundärliteratur wird in Forschungsberichten häufig mit pragmatischen Ausgrenzungen begegnet. Deren wichtigste ist die Nicht-Berücksichtigung ungedruckter, nur maschinenschriftlich bzw. auf Mikrofilm vorhandener Dissertationen. Das ist verständlich, da die Einbeziehung solcher Arbeiten in die Dis-
kussion diese schnell zu einem »Geistergespräch< werden läßt. Die vorliegende Arbeit likation des 502 Seiten umfassenden Jugendnachlasses, der gemeinsam mit den »Salinenschriften< neben dem Varnhagen-Nachlass gefunden wurde. Die »Salinenschriften< wurden in Regestenform in den 1988 erschienen Band V der »Schriften< aufgenommen. 13 Bahnbrechend war die Studie von Mähl: Novalis und Plotin. In: JFDH 1963, S. 139-250.
8
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
verfährt nicht so und hat dafür gute Gründe: Viele ungedruckte, auch ältere Dissertationen - insbesondere die Arbeiten von Schmid, Schulz, Löffler, Malsch und Paschek - enthalten nach wie vor wesentliche Erkenninisse!*, die einiges, was später geschrieben wurde, gegenstandslos machen; die ungedruckte, aber qualitativ bemerkenswerte Magister-Arbeit von Janet Gardiner ist bis heute die einzige größere Untersuchung zur späten Lyrik Hardenbergs; die beiden Dissertationen von Langhammer und Kuenzli aus den USA sind wichtige rezeptionsgeschichtliche Studien. Natürlich kann und soll nicht alles besprochen werden. Fragestellungen und Themen müssen ausgewählt, vieles kann nicht oder nicht erschöpfend oder systematisch behandelt werden. Die Kriterien dafür ergeben sich aus dem, was für Werk und For-
schung von zentraler Bedeutung war oder ist, und daraus, daß es um eines nicht gehen kann: um »die« Interpretation.
Gesamtdarstellung Um »die< Interpretation kann es nicht gehen, weil Hermeneutik nur gedacht werden kann als eine ohne Logozentrismus. Daß dem nicht so sei und er mit der unhaltbaren Vorstellung einer Präsenz von Sinn operiere, hat Gadamer schon dem Frühromantiker Schleiermacher vorgehalten. Dieser Vorwurf wird heute von Poststrukturalismus und Dekonstruktion gegenüber »der« Hermeneutik und gegenüber Hardenbergs Werk wiederholt, letzteres in einer wissenschaftsgeschichtlich
bemerkenswerten Übereinstim-
mung von Angehörigen der älteren mit solchen der jüngsten Generation: Was die ÄIteren als »Dichter-Priester< feierten, verdammen die Jüngeren als >narzißtische Verkennung«. Vice versa ergeben sich auf der Ebene hermeneutischer Selbstreflexion bemerkenswerte, aber auch merkwürdige Schulterschlüsse auf differenztheoretischer Basis, etwa zwischen Derrida und Brinkmann.
Zu zeigen, daß diese Novalis-Interpretation so falsch ist wie Gadamers Vorwurf gegenüber Schleiermacher es war, ist eine grundlegende Intention der hier in der Auseinandersetzung mit der Forschung vorsichtig entwickelten und verfolgten Deutung. Heuristisch gewendet bedeutet dies: Gefragt wird nach Momenten der Alterität und Differenz, nach antiidealistischen und antiteleologischen Impulsen, nach dem utopischen Charakter des Werkes und nach den Besonderheiten dieser frühromantischen Form der Utopie. Wissenschaftsgeschichtlich bedeutet dies, die vor allem durch Dieter Henrichs Studie zu »Urtheil und Seyn< zunächst in der Hölderlin-Forschung angeregten, inzwischen von einem größeren Teil der Romantikforschung ausgearbeiteten Fragestellungen und Erkenntnisse auch auf Novalis zu beziehen und ebenso zu prüfen wie die Reichweite differenztheoretischer und poststrukturalistischer Hypothesen und Einsichten,
die durchaus
Neues
bringen,
deren
zwei
Varianten
— »Verken-
nung« und »fröhlicher Positivismus< — sich die utopischen Züge des Werkes aber auch widersetzen. 14
Die Arbeit von Striedter: Die Fragmente des Novalis als »Präfigurationen< seiner Dichtung,
1953, ist nach mehr als 30 Jahren im Druck erschienen (1984). Zu Recht.
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte Was
hier vorerst aus aktueller Perspektive und nur im Ansatz
9
entwickelt wurde
und weiter zu begründen ist, das ist, wie gesagt, nicht >das< alles homogenisierende Konzept dieser Arbeit, sondern ihr mal dichter, mal lockerer geknüpfter roter Faden. Daneben werden andere Perspektiven entwickelt und bleibt Raum für Divergentes, Offenes und für Widersprüche, aus denen möglichst Perspektiven für die weitere Forschung formuliert werden. Um
»den« Novalis geht es aber nicht nur aus hermeneutischen,
sondern auch aus
ganz simplen forschungspragmatischen Gründen nicht: Viele Fragen sind noch gar nicht wirklich gestellt, große Teile des Werkes nicht oder nur unzureichend erforscht. Immer wieder wurden die beiden zur Weltliteratur gehörenden Texte, die »>Hymnen an die Nacht< und der »Heinrich von Ofterdingen«, sowie die politische Rede »Die Christenheit oder EuropaAllgemeinen Brouillon< und zu weiten Teilen der Notizen, die das theoretische Werk bilden (ausgenommen
die »Fichte-StudienJ). Metho-
dologisch bemerkenswert ist das (begrüßenswerte) große Interesse der philosophischen Forschung und das beinahe vollständige Fehlen von Arbeiten aus sozialgeschichtlicher Sicht, aus der Frauenforschung oder der Psychoanalyse sowie der Mangel an neueren Untersuchungen über das Verhältnis zur Spätaufklärung, zum Sturm und Drang und zu Herder. Eine auf hohen Touren laufende Forschung also, aber hoch spezialisiert, mit signi-
fikanten blinden Flecken und meist ohne gründliche Diese Situation dürfte auch verantwortlich sein für merkenswerteste Desiderat. Seit Ernst Heilborn 1901 Romantiker< veröffentlichte, ist keine nennenswerte
wechselseitige Kenntnisnahme. ein weiteres, vielleicht das beseine Biographie »Novalis, der größere Biographie mehr veröf-
fentlicht worden.!> Die vorliegende Arbeit kann und will unter dieser Voraussetzung
eines nicht lei-
sten: die Verknüpfung der Werkinterpretation mit Leben und Persönlichkeit des Autors. Ohne eine umfassende, verläßliche wissenschaftliche Biographie ist dieser Anspruch nicht zu erfüllen, und eine solche Arbeit liegt nicht vor. Trotzdem ist die Deutung nach dem »Leben-und-WerkKlassik und Romantik«,
»Aufklärung und/oder Romantik< und Spaltungen wie der zwischen einem »frühen« und einem »späten< Hardenberg, einem Philosophen und einem Poeten, einem Bergbauingenieur und einem Dichter, einem exoterischen, lebenszugewandten und einem
esoterischen, todgeweihten Novalis, zwischen der »fröhlichen Wissenschaft von der Poesie< und der »narzißtischen Verkennung< usw. usf. — Das sind Themen und Muster, denen im Verlauf dieser Arbeit nachzugehen ist, zumal sie oft neue Aspekte des
Werkes erschließen. Auch gegenwärtige Deutungskonzepte kreisen um die Spannung zwischen Subjektivität und Wirklichkeit: Das Zentrum von Mähls bedeutenden Arbeiten ist das Verhältnis von Mystik und Geschichte; Kurzkes »PositivierungsGlauben und Liebe< einher, und die Hardenberg-Rezeption im deutschen Konservatismus der 2oer und 30er Jahre ist gespalten in eine Richtung, die den Vertreter einer organischen Staatslehre feiert und seine angebliche Orientierung am Mittelalter für die Begründung eines modernen Ständestaates heranzieht, und eine andere, die den Konservatismus
endlich von
subjektivistischen romantischen
Occasio-
nalisten wie Hardenberg befreien möchte. Soweit der Grund für die Vielfalt der Positionen im Werk selbst zu suchen ist, dürfte
er darin
liegen,
daß
die Pole
»Poesie
und
Geschichte
geschichtsphilosophisch« werden in dieser Arbeit in Verbindung mit Hardenbergs Werk ausschließlich thematisch verwendet, bestimmte Implikationen und Vorentscheidungen sind damit ausdrücklich nicht gemeint. »Politisch< meint nicht »operativ«, sondern »bezogen auf Fragen gesellschaftlicher Ordnung und Machtg; »geschichtsphilosophisch« meint vorläufig nur »Reflexion über die Logik von Geschichtsverläufen«, nicht »teleologisch oder logozentrisch gedachte Universalgeschichte< im Sinne Hegels oder der Aufklärungsphilosophie.
12
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
Textklassen »Dichtung< und »expositorische (d.h. insbesondere politisch-geschichtsphilosophische) Texte< aufteilen lassen, sondern beide Klassen durch die Spannung zwischen beiden Polen gekennzeichnet sind. Auch diese neuralgische Verbindung von Subjektivität und Wirklichkeit resp. Poesie und Geschichte hat ihre Wissenschaftsgeschichte, ja, sie ist in gewisser Weise die Geschichte dieser Wissenschaft, und zwar von deren Ursprüngen an. Ohne den Glauben, daß »die Poesie die eigentliche Stifterin des Nationalgeistes sei«!’, wäre die Germanistik nicht entstanden. »Da Herder nun gleichfalls, wie viele nach ihm und nicht zuletzt die Brüder Grimm, die Poesie als den reinen Ursprungszustand der Sprache auffaßte, den Unschuldsstand also, in dem Klang und Sinn noch einig und Wahrheit demgemäß sinnlich erfaßbar war, so mußte deutsche Dichtung, so weit sie nur ursprünglicher Schöpferkraft entsprang, die tiefsten, ja die eigentlichen Wahrheiten über das deutsche Wesen aussagen. Ein solcher Glaube an die unmittelbar wahrheitskündende Kraft des Dichterworts führt geradlinig dahin, den Dichter als ein vor anderen begnadetes Individuum zu achten und ihn vor anderen vom Volksgeist als dem Individuum höherer Potenz durchtönt zu sehen.«(23)
Für die Germanistik gilt also: »Ihre Anfänge sind nicht denkbar ohne jene Erhebung der Poesie zum unmittelbaren Organ der Wahrheitsverkündigung, die ihr eine quasi religiöse Offenbarungsmacht anlastete.«(28)
Das ist richtig. Die Frage ist nur, wer die Auffassung vom Dichter-Priester in Umlauf setzte. Lämmert
läßt keinen Zweifel
daran, daß dies die romantischen
Autoren
selbst, nicht ihre germanistischen Interpreten gewesen seien. Für Lämmert, der als einer der ersten den Wandlungen und Entstellungen der Germanistik seit ihrer Gründung, ihrer Geschichte als »deutscher Wissenschaft« nachgegangen ist, steht fest, daß es eine substantielle Verbindung gibt zwischen Romantik und »Deutschkunde«. In die-
sem Sinne wird auch Hardenbergs Werk in affirmativer wie kritischer Sicht immer wieder gelesen, und zwar — auch dies ein Grund, die Ergebnisse des besseren Teils der Forschung einmal zusammenzudenken, gesammelt zu präsentieren und fortzuschreiben - bis heute. So hat Raimund Kemper 1984 eine lange ideologiekritische Abrechnung mit der völkisch-nationalen Indienstnahme der älteren deutschen Literatur durch Vertreter des Faches vorgelegt. Schon der Titel verbindet in programmatischer Weise den Anfang von Hardenbergs »Die Christenheit oder Europa« mit der faschistischen Nationalisierung des Geistes: »Es waren schöne glänzende Zeiten< oder »Der Geist, der den Arm der Deutschen stählt««!3. Zitate aus Hardenbergs Rede liefern den roten Faden für die Wissenschaftsgeschichte und ihren Legitimationsgrund. Kempers assoziative Denunziationsphilologie verzichtet auf die Kenntnisnahme der Forschung
17 Lämmert, Eberhard: Germanistik — eine deutsche Wissenschaft. In: Germanistik — eine deutsche Wissenschaft. Beiträge von Eberhard Lämmert, Walther Killy, Karl Otto Conrady und Peter von Polenz. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1970 (Edition Suhrkamp, Bd. 204), S. 7-41, S. 24. 18 Kemper: »Es waren schöne glänzende Zeiten« oder >Der Geist, der den Arm der Deutschen stählt«. In: Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Hg.v. Stötzel, 1985, Bd. 2, S. 241-301.
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
13
(nicht aber deren Nachweis) und nimmt Hardenberg, die Romantik (einschließlich einer >nationalen Romantik vor der Romantik), den Wilhelminismus und den Fa-
schismus in Sippenhaft. Rückwärtsgerichtetes utopisches Denken, patriotischer Blutund Wundenkult, Verherrlichung des Irrationalen und Absage an die Vernunft, Bewunderung für Führerfiguren, universale Restauration — all dies sei schon bei Har-
denberg vorhanden. Das Pamphlet bezeugt
einen
Wissenschaftsgeschichtsschreibung,
beschämenden
Niedergang
ideologiekritischer
und es wäre nicht der Rede wert, wenn es nicht,
als längstes Referat überhaupt, auf dem Deutschen Germanistentag 1984 vorgetragen worden wäre, der auch noch ausgerechnet dem Thema >Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven< gewidmet war. Kempers »Methodik« ist ein Einzelfall, nicht aber seine Hardenberg-Interpretation. Deren Kern findet sich auch in anderen repräsentativen germanistischen Veröffentlichungen. So erschien 1982 der Band 14 des »Neuen Handbuchs der Literaturwissenschaft«. Herausgeber des ersten von insgesamt 3 Bänden über >»Die europäische Romantik< war Karl Robert Mandelkow. In einem seiner — insgesamt ausgezeichneten — Beiträge brachte er Hardenbergs »Europa« in Verbindung mit der romantischen Abkehr von der Vorbildfunktion der Antike und urteilte: »Diese Verabschiedung der Antike bedeutete zugleich die Absage an das emanzipatorisch-politische Element ihrer Rezeption im Zeichen der Französischen Revolution, war Ausdruck eines
gegenrevolutionären Bewußiseins, das dem republikanischen Ideal der antiken Polis das hierarchisch-ständisch gegliederte, feudale Mittelalter als Gegenbild gegenüberstellte. Wackenroders »Herzensergießungen«, Novalis’ Aufsatz »Die Christenheit oder Europa< (1799; gedruckt 1826), sein Roman >Heinrich von Ofterdingen< und Ludwig Tiecks Einleitung zu »Die altdeutschen Minnelieder< (1803) präludieren den ästhetisch-politischen Paradigmenwechsel«.!?
Ähnliches ist in der jüngsten literarhistorischen Gesamtdarstellung der deutschen Literatur zwischen 1789 und 1815 zu lesen, im Band 4 »Klassik und Romantik< der von Rolf Grimminger
herausgegebenen
>Sozialgeschichte
der deutschen
Literatur«.
Gert
Uedings Interpretation der »Europa< gipfelt in dem Satz: »Novalis entwirft in ihr das idealisierte Vorbild des christkatholischen Mittelalters als Muster für die Wiederherstellung
Europas.[...]
Die
Rede
kulminiert
in
der
prophetischen
Vision
von
der
Wiederkunft dieses Zeitalters.«2? Schon
in den Ausführungen
Lämmerts
wurde
erkennbar,
daß
solche politischen
Interpretationen des Werkes, gleich welcher Couleur, untrennbar verknüpft sind mit Annahmen darüber, was Hardenberg unter >»Poesie< verstanden hat.
Es ist ein wichtiges Ziel dieser Arbeit, in der Auseinandersetzung mit der Forschung zu zeigen, daß »Poesie< bei Hardenberg nicht als >absolutes Sprechen« ver-
19
Mandelkow, Karl Robert: Kunst- und Literaturtheorie der Klassik und Romantik. In: Euro-
päische Romantik
I. Wiesbaden
1982
(Neues
Handbuch
der Literaturwissenschaft,
Bd.
14), S.
49-82, S. 72.
20
Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Re-
volution 1789-1815. München, Wien 1987 (Hansers Sozialgeschichte vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 4), S. 120off.
der deutschen
Literatur
14
Novalis, Novalis-Forschung und Wissenschaftsgeschichte
standen werden kann und daß die referierten Deutungsmuster zwar fast immer einen Aspekt des Werkes erfassen, letztlich aber ausnahmslos auf Alternativenbildungen zurückgehen, die dem Werk unangemessen sind und hinter Hardenbergs Problembewußtsein zurückfallen. Dabei geht es nicht darum, einmal mehr blindlings die ‚wahre Modermnität« des Autors zu feiern, sondern es soll eine neue, differenziertere Perspektive angeboten werden: »Romantisierung< als narrative Konstruktion immanenter Transzendenz.
NOVALIS-REZEPTION
1800-1945
Novalis-Rezeption bis 1890
Frühe Wirkungsgeschichte Seit der um 1890 einsetzenden Novalis-Renaissance ist immer wieder behauptet worden, Novalis sei im 19. Jahrhundert ein vergessener Autor gewesen. Ganz zutreffend ist diese Ansicht nicht. Sie entstand aus dem Interesse von Neuromantik und Lebensphilosophie an einer emphatischen Abgrenzung gegenüber dem neunzehnten, dem »positivistischen< Jahrhundert. Demgegenüber hat schon der unvoreingenommene Ernst Heilborn seinen kurzen wirkungsgeschichtlichen Abriß eingeleitet mit dem Urteil: »Seine Todesstunde war zugleich die Geburtsstunde des Ruhmes des Novalis.«! Für dieses Urteil lassen sich gute Gründe anführen. Die von Schlegel/Tieck 1802 in zwei Bänden herausgegebenen >Schriften< verkauften sich offenbar gut.” 1805, 1815, 1826 und 1837 erschienen neue, erweiterte Auflagen und 1846 schließlich noch ein von Eduard von Bülow herausgegebener 3. Band. Dieser ohne Mitwirkung Hardenbergs entstandenen Edition, die das Novalis-Bild des 19. Jahrhunderts prägte, lag allerdings eine ganz einseitige und tendenziöse Auswahl und Bearbeitung der Werke zugrunde. Schlegel und vor allem Tieck, dem die Hauptverantwortung zufiel, wählten aus der Handschriftenmasse des Nachlasses zahlreiche Notizen aus, die nicht für eine Veröffentlichung bestimmt waren, bearbeiteten sie und strichen aus längeren Texten z.T. ganze Passagen, so daß eine Fülle von »Fragmenten« entstand, die dann, losgelöst von der chronologischen und sachlichen Ordnung, nach thematischen Gesichtspunkten geordnet wurden. Zu allem Überfluß wurden dann auch noch die von Hardenberg selbst veröffentlichten echten Fragmentsammlungen »Blüthenstaub« und »Glauben und Liebe< nicht geschlossen veröffentlicht, sondern ebenfalls zersplittert und aufgeteilt. Ebenso wurde mit der unveröffentlichten Rede »Die Christenheit oder Europa« verfahren. Im Zusammenhang erschien sie erst in der 4., »vermehrten< Auflage von 1826, wurde von Tieck aber in der 5. Auflage (1837) wieder gestrichen. Da die Herausgeber nicht zwischen den wenigen echten Fragmenten und der Masse der Heilborn: Novalis, der Romantiker, 1901, S. 1. ? Zur Vorgeschichte dieser Ausgabe vgl. Samuel: Zur Geschichte des Nachlasses Friedrich von Hardenbergs. In: JDSG 2, 1958, S. 301-347. Dokumente zur Entstehungsgeschichte der Erstausgabe sind gesammelt in V,125-187. Die von Tieck und von Bülow zusammengestellten Fragmentsammlungen sind wieder gedruckt worden in V,189-361. Zur Geschichte des Nachlasses vgl. auch Behrens: Der Kampf um den Novalis-Nachlaß. In: Ernst Beutler: 1885-1960. Hg. v. Christoph Perels, 1985, S. 59-72. Zum Charakter der Bearbeitung des Nachlasses durch Schlegel und Tieck vgl. Samuels »Vorwort« in II, S. V-XII, S. Vf., Mähl: Goethes Urteil über Novalis.
In: JFDH,
1967,
S.
130-270,
S.
175-190,
Schlegels Werken. In: ZfdPh 99, 1980, S. 187-198.
und
Behler:
Zwei
Miszellen
zu Friedrich
18
Novalis-Rezeption 1800 — 1945
Lektürenotizen unterschieden, entstand das Bild vom »Fragmentisten< Novalis. Eine zweite Tendenz der Bearbeitung war die Nicht-Veröffentlichung rational klingender, auf Verstand, Vernunft, Besonnenheit,
Objektivität und Nüchternheit
sich beziehen-
der Äußerungen, die zum großen Teil erst mit Bülows Ergänzungsband (1846) nachgeliefert wurden. Dieser Band enthielt außerdem die wichtige Biographie Justs, die ein wesentlich anderes Bild entwarf als die (ebenfalls wieder abgedruckte) »Vorrede< Tiecks zur 3. Auflage. Die ersten Auflagen der »Schriften« stilisierten Novalis zum Mystiker und Schwärmer. Neben dem Erfolg der »Schriften< gibt es weitere Belege für eine breitere Hardenberg-Rezeption im 19. Jahrhundert. Auf die Zeugnisse aus dem Freundeskreis und die
Äußerungen nicht-romantischer Autoren sowie auf Erwähnungen Hardenbergs in nach-romantischen Romanen des 19. Jahrhunderts wie Holteis »Christian Lammfell« (1853), Spielhagens »Problematische Naturen< (1860) oder Fontanes »Vor dem Sturm«
(1870) ist inzwischen mehrfach hingewiesen worden.’ Es liegen insgesamt so viele Rezeptionsdokumente vor, daß Haussmann geurteilt hat, »that in the first quarter of the nineteenth century Novalis enjoyed wide popularity«*. Das wiederum dürfte übertrieben sein. Zwar haben Hardenbergs »Schriften< mehr Auflagen erlebt als die seiner frühromantischen Freunde, doch die Höhe der Auflagen scheint nicht sehr groß gewesen sein. Nach einigem Zögern, ob überhaupt eine Ausgabe gewagt werden sollte, riskierte Reimer für die erste Auflage nur 500 Exemplare.’ Bei der zweiten Auflage waren es dann offenbar immerhin schon 800 Exemplare.® Damit lag die Auflagenhöhe immer noch um 200 unter derjenigen, die für Bücher von einiger Bedeutung um 1800 üblich war. Die Höhe der späteren Auflagen ist nicht bekannt und dürfte sich, da die Verlagsunterlagen verbrannt und andere Dokumente nicht bekannt sind, kaum
noch verläßlich feststellen lassen.’ Von der 3. Auflage er-
3 Vgl. neben Heilborn und den im folgenden genannten Arbeiten von Haussmann und Borst vor allem den als »Appendice« gedruckten Überblick über »Novalis devant la critique< in Spenle: Novalis, 1904. Spenle zitiert auch viele Literarhistoriker und sieht bereits klar die frühe Legendenbildung um Novalis. Die zeitgenössischen Zeugnisse sind zusammengestellt worden in IV,529-684. Vgl. auch: Novalis in Zeugnissen seiner Zeitgenossen Friedrich Schlegel, Karl von Hardenberg, Ludwig Tieck, August Coelestin Just. Nachwort von Heinz Ritter, 1973. * Haussmann: German estimates of Novalis from 1800 to 1850. In: Modern Philology 9,1911/ 12, S. 399-415. Vgl. Haussmann: Die deutsche Kritik über Novalis von 1850-1900. In: JEGP 12, 1913, S. 211-244. 5 Vgl. den Brief Friedrich Schlegels an seinen Bruder August Wilhelm vom 15.7.1805. In: Krisenjahre der Frühromantik. Briefe an den Schlegelkreis. Hg. v. Josef Körner. Bd. 1. Brünn, Wien, Leipzig 1936, S. 213-217, S. 217. 6 Vgl. den Brief Friedrich Schlegels an Reimer vom 24.2.1806. In: Die Brüder Schlegel. Briefe aus frühen und späten Tagen der deutschen Romantik. Hg.v. Josef Körner. Bd. 1: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Berlin 1926, S. 74. — Diese Auflage scheint immerhin für den Bedarf von über acht Jahren ausgereicht zu haben. 7 Vgl. Borst: Fr. v. Hardenbergs Wirkungen in der zweiten und dritten Phase der deutschen Romantik, 1954, S. 74. - Dem Thema hat zuletzt Konrad Feilchenfeldt eine akribische und sehr erhellende Detailuntersuchung gewidmet: »Da sang ich, reich treulich die Hände«. Zur Überlieferungsgeschichte eines Novalis-Zitats im Freundeskreis Luise Hensels. In: Romantik und Moderne. Hg. v. Erich Huber-Thoma und Ghemela Adler, 1986, S. 135-159.
Novalis-Rezeption bis 1890
19
schienen Nachdrucke in Wien (1820) und Stuttgart (1826), und auch die 4. Auflage wurde gleich zweimal kopiert, in Stuttgart (1837) und Paris (1837).8 Bereits 1819 erschienen außerdem in der >Etui-Bibliothek der Deutschen Classiker« zwei Bände >No-
valis Schriften. Auswahl«.? Nicht ganz zu klären sind die Umstände, unter denen Heinrich von Kleist eine Novalis-Edition plante. Er veröffentlichte im »Phöbus< drei bislang ungedruckte Gedichte Hardenbergs (»An Dora«, »An M. und S.< und »Zur Weinlese»Poesien und Fragmente«.
10 Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe. Hg.v. Helmut Sembdner. München 1964, Bd. 7, S. 60. 1! Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Erweiterte Neuausgabe. Hg.v. Helmut Sembdner. Frankfurt am Main 1977, S. 190, Nr. 232a.
12 Vgl. Anm. 7.
20
Novalis-Rezeption 1800 -
1945
Im folgenden stehen also die literaturgeschichtlichen Darstellungen von Leben und
Werk Hardenbergs im Mittelpunkt. Vorangestellt wird jedoch ein Abschnitt über die frühe außerwissenschaftliche Wirkungsgeschichte, denn auf sie bezieht sich, wissend oder unwissend, kritisch oder affirmativ, die literaturgeschichtliche Rezeption das ganze Jahrhundert über. Die erste umfassende Würdigung Hardenbergs war die Biographie, die sein ehemaliger Vorgesetzter und Freund Just 1805 im >Nekrolog der Teutschen< sowie als Separatdruck veröffentlichte.!? Diese sehr sorgsam und gründlich angefertigte Darstellung war eine ausgezeichnete Leistung Justs, der Hardenberg ebenso gut kannte wie seine eigenen Grenzen. Deshalb ist bei Just über die Dichtungen und das theoretische, insbesondere das philosophische Werk nichts Näheres zu erfahren, und über
Hardenbergs religiöse Haltung sprechen die Briefe eine etwas andere Sprache. Dennoch entsteht ein Gesamtporträt Friedrich von Hardenbergs, das in vielerlei Hinsicht
bemerkenswert ist. Just beschrieb Hardenberg wegen seiner auffallenden Gabe, sich die unterschiedlichsten Bereiche des Wissens
mit Leichtigkeit wirklich zu eigen zu machen,
als ein
»Genie« (536) ohne den Fehler der Oberflächlichkeit: »Alles wollte er gründlich und wissenschaftlich erlernen, und keinen Gegenstand des menschlichen Wissens schloß er davon aus« (537). Gleichzeitig sei er ein »guter Praktiker« (537) gewesen. Dieses Urteil aus eigener Anschauung begründete Just durch eine recht detaillierte Beschreibung der universalen Bildung Hardenbergs, seines Bildungsweges, seiner Art der Lektüre, seiner Berufstätigkeit, seines Fleißes und seines Pflichtbewußtseins. »Consequenz im Denken und Handeln, Aesthetische Schönheit, und Wissenschaft« (540) nennt Just als die drei Dinge, für die Hardenberg bis an seine Lebensende »entschiedene Vorliebe« (540) hatte. Für ersteres werden die begrenzte Wertschätzung Robespierres, für das zweite und dritte die völlige Vertrautheit mit dem »Geiste der critischen Philosophie«
(539)
und der ästhetisch-poetischen
Theorie
von
»Jena und
Weimar« (539) genannt. »Der Zeitgeist brachte aber eben damals auch die Ideen von Freyheit und Gleichheit, von Menschenrecht und dem Grunde der Staatsverfassungen in Umlauf. Darum mußten nun Philosophie, schöne Wissenschaften und Künste, und Politik in diesem Sinn des Worts, seine Lieblingsfächer seyn.« (539) Bemerkenswert ist ferner, wie Just, der auch hier aus eigener Kenntnis berichtete,
das später zur Legende verklärte Verhältnis Hardenbergs schreibt. Das
von Just gezeichnete
zu Sophie von Kühn be-
Bild stimmt gut mit dem
zusammen,
was einem
unvoreingenommenen Leser sich aus den heute vorliegenden Dokumenten ergibt. Sophie ist »ein Mädchen, das damals schon Charakter, gleich einem Erwachsenen besaß; das mit dem Reiz und der Anmuth
einer schönen Jugend, Geist und Würde ver-
einigte, wie sie wenigen zu Theil wird« (541). Während spätere Biographen die Beziehung Hardenbergs zu Sophie ganz unter die Vorzeichen von reiner Liebe, Krankheit und Tod der Braut stellten, wird die Liebe bei Just ausschlaggebend für Novalis’ 13 Just: Friedrich von Hardenberg. In: Nekrolog der Teutschen für das neunzehnte Jahrhundert, Bd. 4, 1805, S. 187-241. Separatdruck u.d.T.: Andenken an Friedrich von Hardenberg, 1805. Im folgenden wird zitiert nach dem Druck in IV, 536-550.
Novalis-Rezeption bis Entschluß »zum praktischen Leben«
1890
21
(541), also zur Existenzgründung und damit zur
letzten Vorbereitung auf die Arbeit auf den Salinen. Auch Sophies Tod erscheint bei Just in einem anderen Lichte: »Und hiermit schien sein Lebensplan vernichtet. Er war es aber nicht, sondern nahm nur einen Umweg, eine andere Richtung« (543). Just zu unterstellen, wie dies später gelegentlich geschehen ist, er sei einfach zu nüchtern gewesen,
als daß er hätte nachvollziehen können,
was
sich hier ereignet habe, ist un-
angemessen. Just beschreibt eingehend und einfühlsam Hardenbergs lange Trauerarbeit, und er kann in diese sowohl die Heiterkeit und die philosophischen Studien wie auch die Beschäftigung mit den »Reliquien« (544) sinnvoll integrieren, bei der Novalis »doch
immer
der Vernunft
die Obergewalt
ließ, die ihr gebühret«
vorläufigen Abschluß erreiche diese Trauerarbeit schon im Herbst
(544).
Einen
1797. Zu dieser
Zeit fühlte Hardenberg sich, wie Justs bemerkenswertes Urteil lautete, »wieder in den
Zustand der Freyheit zurückversetzt, in dem er war, ehe er Sophien kennen lernte« (544). Neben Bildung, Beruf und Braut ist das von Hardenberg gezeichnete Charakterbild der dritte bemerkenswerte Aspekt dieser Biographie. Phantasie, Vernunft und Herzlichkeit sind Justs Leitworte. Hinzu kommen die Fähigkeit zuzuhören und das die Zuhörer fesselnde und schon von Friedrich Schlegel bemerkte »Bedürfniß, daß er sich ausreden konnte« (549).
Justs Biographie ist hier nicht nur wegen ihrer Qualität so ausführlich gewürdigt worden, sondern auch um zu dokumentieren, daß es die Chance einer »anderen< No-
valis-Rezeption gegeben hätte als der, die sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat. Justs Biographie zeichnete ein wesentlich anderes Bild als die schwärmerischen Berichte Tiecks, Karl von Hardenbergs, Friedrich Schlegels oder Schleiermachers, und sie paßte seinerzeit weder in das Novalis-Bild der Freunde des Verstorbenen noch das der Gegner und Romantik-Kritiker. Justs Darstellung wurde deshalb entweder nicht zur Kenntnis genommen oder mit entsprechenden Kommentaren bedacht. So schrieb der ehemalige Freund Hardenbergs Hans Georg von Carlowitz an seine Frau Jeanette
1806, er werde ihr diese Schrift, »die ganz hauptsächlich zu Deiner eigenen Bekehrung bestimmt war, — nicht einmal geben, weil Du gar nichts daraus sehen würdest«, denn dieses Buch habe ein »prosaischer Geschäftsmann« verfaßt.!*
Für das romantische Novalis-Bild charakteristisch ist der Kommentar, mit dem Justinus Kerner Ludwig Uhland einen Auszug aus Justs Biographie übersandte: »Es macht aber eine sonderbare Wirkung und stört doch, wenn man sich den Novalis als Amtshauptmann oder als Salzbeisitzer denkt. Das ist entsetzlich!! Ich hätte mir sein Leben doch viel anders vorgestellt. Die Jungfer Charpentier stört auch so die Poesie.
Aber sein Tod ist schön und noch vieles schön.«!? Für die Novalis-Rezeption ausschlaggebend wurde also leider nicht die Biographie Justs, sondern eine andere Sicht auf Novalis. Schon kurz nach dem Tode des Autors setzte eine Kanonisierung und epigonale Nachfolge ein, die bereits vom Zeitgenossen Baggesen »Novalismus< genannt wurde. Sie provozierte seit etwa 181o eine Gegen14 Der Brief vom 15.7.1806 ist abgedruckt in IV,550. 15 Der Brief vom 25.1.1810 ist abgedruckt in IV,550.
22
Novalis-Rezeption 1800 —
1945
bewegung, die sich nicht nur gegen die Epigonen richtete, sondern auch Novalis selbst meinte. Zum Novalismus gehörten der Rückgriff auf die Topoi Hardenbergs und der Versuch, seine Werke,
vor allem den »OfterdingenNovalisten< in diesem Sinne waren die beiden Brüder Hardenbergs Georg Anton (Sylvester) und Gottlob Karl Albrecht (Rostorf«),
der Verfasser der >Pilgrimmschaft
nach
Eleusis
Arnstadt< statt »Tennstedt«, kannte also diesen für Hardenberg so wichtigen Ort aus dessen Erzählungen nicht und hatte auch Mühe, Karl von Hardenbergs Schrift zu entziffern. Außerdem fällte Tieck ein merkwürdiges Fehlurteil über Hardenbergs Literaturkenntnisse: »In der Poesie war er eigentlich eben so Fremdling, er hatte nur wenige Dichter gelesen und sich mit der Kritik und den hergebrachten Systemen der Dichtkunst nicht beschäftigt.« (559) Möglicherweise ist dieses Urteil zurückzuführen auf Tiecks erkennbares Bestreben, seine eigene und Hardenbergs »Wilhelm MeisterSchriften< — zu relativieren. Im Anschluß an das obige Zitat jedenfalls fährt Tieck fort: »Göthe war lange sein Studium gewesen, vor allen andern Werken hat er den Wilhelm Meister geliebt, so wenig man dies auch aus seinem strengen Urtheil über dieses Werk in seinen Fragmenten schließen sollte« (559).
Den Bildungsgang Hardenbergs, sein Studium und seine Berufstätigkeit, seine Dichtungen und seine philosophischen Studien ließ Tieck weitgehend aus. Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht vielmehr Sophie, die er gar nicht kannte. Tieck war es, der die bis heute nachwirkende Sophien-Legende
geschaffen hat, die Auffassung, die
unstillbare Sehnsucht nach der verstorbenen Braut habe Hardenbergs ganzes Leben und seine Werke geprägt: »Aus der Heiligkeit des Schmerzes, der innigen Liebe und der frommen Todessehnsucht erklären sich sein Wesen
und alle seine Vorstellungen,
auch ist es wohl möglich, daß diese Zeit durch tiefe Trauer den Keim des Todes in ihn pflanzte, wenn es nicht überall schon sein bestimmtes
Schicksal war uns so früh
entrissen zu werden« (554). Auf diesen Satz hin ist die ganze Biographie geschrieben, alles andere, auch die Beschreibung der äußeren Erscheinung, ist darauf ausgerichtet. In Tiecks Biographie vor allem erhielt Novalis jene Züge, die den Blick auf seine Person und sein Werk bis ins 20. Jahrhundert verstellt haben. Tieck reduzierte ihn auf eine welt- und lebensferne, völlig durchgeistigte Gestalt, kanonisierte ihn um der Heiligkeit seines Schmerzes willen, verband durch den Sophien-Mythos Liebe, Tod und Dichtung und stilisierte ihn so zum romantischen »Dante«, der »wie dieser einen unergründlichen mystischen Gesang« (559) vorträgt. 18 Tieck: Vorrede zur dritten Auflage. In: Schriften, 3. Aufl. 1815, S. XI-XXXVIII, im folgenden zitiert nach dem Druck in: IV, 551-560.
24
Novalis-Rezeption 1800 — 1945
Auf Tiecks Biographie haben sich fast alle Literarhistoriker des 19. Jahrhunderts gestützt, und sie haben seine Novalis-Legende entweder aufgenommen und variiert oder, häufiger, attackiert, dabei aber Legende und Novalis meist identifiziert. So spottete Gervinus über Hardenbergs Freunde, »die mit Einstimmigkeit auf den Todten wie auf den heiligen Offenbarer der Romantik hinsehen«!?. Sie schien es »zu befremden, daß er sich ganz bald nach dem schweren Verluste seines Herzens mit einem andern Mädchen verlobte.. Wie mit dieser Thatsache, so ergeht es uns mit seinem Bu-
che.« (536) Das wäre Anlaß genug zur Revision der Verklärung und der üblichen Novalis-Lektüre;
dies aber fand beim
Novalis-Kritiker Gervinus
ebenso
wenig
statt
wie bei Hardenbergs Freunden. Das veränderte politische und ideologische Klima, die tendenziöse Auswahl
und Zusammenstellung
der »Schriften«, die romantische Nova-
lis-Verklärung, all dies trug dazu bei, daß Tiecks Legende so außergewöhnlich wirksam wurde. Ob Tieck sich nicht selbst der Einseitigkeiten und der Unangemessenheit seines Bildes bewußt geworden ist, sei dahingestellt. Ein Indiz dafür wären die Brüche in der Darstellung des »Wilhelm MeisterConversations-Lexikons< (1812-26; Bd. 4, 1814, S. 228-230). Sie tauchen später auch in »Meyer’s Conversations-Lexicon
poeti-
schen«, übersinnlichen Welt. Görres spielt also Poesie und Ökonomie gegeneinander aus. Damit wird er weder dem >Ofterdingen< gerecht noch Hardenbergs >Meister«Kritik, denn beide orientieren sich am Ideal einer Vermittlung von Poesie und Ökono-
mie. Eine ähnliche Kritik trifft Molitors Aufsatz >Ueber die Tendenzen
des jetzigen
Zeitalters< (1808).?” Wie Görres erklärt Molitor in Anlehnung an Hardenbergs »Meisterneue Epoche< war nicht mehr die frühromantische. Deren »ästhetische Träumerei, dieser unmännliche pantheistische Schwindel, diese Formenspielerei müssen aufhören; sie sind der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen« (156f.). Ablehnung des Bezuges auf das revolutionäre Frankreich, der utopischen »Träumerei< und des »Pantheismus«, — das läßt sich auch positiv formulieren: An die Stelle und den »allgemeinen In seinen noch vor delberger Jahrbücher
der Frühromantik sollen »die feste Rücksicht auf Gott« (157) deutschen Sinn« (156) treten. der Abreise aus Köln (1808) verfaßten Beiträgen für die Heider Literaturdas letzte freie Waldlied der Romantik«, und ich bin ihr letzter Dichter«. (447)
Damit war der >Atta Troll« gemeint, aber Heine dürfte Romantiker in einem höhern Grade gewesen sein, als er es selbst hier ahnte. Schon die Stilisierung Hardenbergs zum repräsentativen Romantiker und die anschließende Anverwandlung enthielten ein Bekenntnis zur Romantik. Und hier schon handelte es sich, bei aller Wahlverwandtschaft, um eine dialektisch-kritische Aufnahme und Fortsetzung der Tradition: Die »romantischen< Themen und die Rhetorik werden angereichert mit Spott, Satire und Ironie. In literaturgeschichtlicher Hinsicht ließe Heine sich also durchaus als kongenialer Fortsetzer der von Novalis mitbegründeten Frühromantik bezeichnen, einen Erben, der sie durch verschiedene Brechungsverfahren gewissermaßen »materialisiert«. Aus der Sicht der Novalis-Forschung sind allerdings auch kritische Einwände zu erheben. Heines Novalis- und Romantik-Interpretation bestritt erstmals grundsätzlich jeden Zusammenhang zwischen Romantik und Aufklärung und schuf damit einen 52 Clasen, Herbert: Heinrich Heines Romantikkritik. Tradition — Produktion — Rezeption. Hamburg
53
1979 (Heine-Studien), $. 121.
Heine: Geständnisse. Geschrieben im Winter 1854. In: Heine: Sämtliche Schriften, 1981,
Bd. 11, S. 443-513, S. 446.
Novalis-Rezeption bis 1890
43
zweiten zentralen, bis etwa 1960 nachwirkenden Deutungstopos, der den unvoreingenommen Blick auf Werk und Epoche versperrte. Gestrichen wurden auch der Zusammenhang zwischen Frühromantik und französischer Revolution und, im Falle Hardenbergs, die brillante Intellektualität dieses Mannes wie seine Berufstätigkeit. Peter Uwe Hohendahl hat darauf aufmerksam gemacht, daß Heine bei seiner Frage nach den Bedingungen und der Möglichkeit von Kunst in der modernen Gesellschaft
»in der Sache an die rebellische Frühromantik«°* anknüpfte. In der Tat lassen sich einige Themen angeben, die freilich bei Heine oft profilierter herausgearbeitet sind: die Korrelation von ästhetischer und politischer Revolution; die Verbindung zur romantischen
Dichtungstheorie,
die Nähe
Heines
zum
>Charakteristischen«
und
»Inter-
essantenOfterdingen« Kritik: Der Roman sei »das ganze zauberische Wunder
[...], welches ihm die Dichtung war, das Wunder, welchem nur die Vermitte-
lung mit dem Menschen und darin der Stempel des Verstandes fehlt« (155). Das sei allerdings nicht dem Autor, sondern dem Fragmentcharakter des Romans zuzuschreiben, wie der Blick in die Fragmente und die Fortsetzungspläne zeige: »Seine Bildung schwebte hiernach übrigens nicht so in schwankender Luft, wie sich in seiner Produktion darstellt. Es war auf eine Erschöpfung des wirklichen Verstandes abgesehen, aus und über welchem sich der poetische Flug erheben sollte. Solcher Wink läßt es unendlich beklagen, daß dieser Mann nicht älter als neun und zwanzig Jahre geworden« (156).
Ähnlich wird die »Christenheit oder Europa« beurteilt. Sie zeuge bei aller »jugendlichen Ueberschwenglichkeit« und berechtigten Kritik doch von der Anerkennung des »protestantischen
Processes«
(157).
»Darum
ist er [Novalis
— H.U.]
der Nation
so
werth geworden, und sie hat sich willig seinem Schwunge hingegeben, wie unverbunden er oft erscheinen mag. Ein tieferer Trieb nach ächter Verbindung ist bei diesem Dichter herausgefühlt worden, als bei manchem Anderen«. (157) Diese Würdigung war wohl nur möglich nach der bei Laube ab 1835 einsetzenden Lösung von den literaturtheoretischen Konzepten des Jungen Deutschland mit ihrer engen
Verbindung
von Literatur und Politik.
Statt der Literatur ihre Tatenlosigkeit
vorzuhalten, erscheint jetzt, im Blick auf Hardenberg, die Idee der Antizipation: »Hier haben wir in milder Kühnheit eine reizende Konsequenz der Romantik, die naive, schöne Jugend derselben, weiche im Wunsche vorausgreift, was als gegliederte That begründet sein will« (157).
Rehabilitierte Laube Jena gegenüber der späteren politischen Romantik, so ging Theodor Mundt noch einen Schritt weiter und verband die Frühromantik in seiner
Geschichte der Literatur< (1842) mit der Französischen Revolution.°° Damit knüpfte er, ohne es zu wissen und in einem ganz anderen als dem ursprünglich gemeinten Sinne, an das Selbstverständnis der Frühromantiker an; ironischerweise erschien seine
Literaturgeschichte als »Zweiter Theil« von Friedrich Schlegels »Geschichte der alten und neuen Literaturc«. Mundt trennt die Frühromantik scharf von der Kirche, dem Katholizismus und Konfessionalismus. Es sei »ein Irrthum, die Romantik ihrem Grundwesen nach für gleichbedeutend zu setzen mit dem katholischen und reactionären Princip« (71).
56 Mundt: Geschichte der Literatur der Gegenwart, 1842. Der Untertitel lautete: »Vorlesungen. (Friedrich von Schlegel’s Geschichte der alten und neuen Literatur. Bis auf die neueste Zeit fortgeführt von Theodor Mundt. Zweiter Theil. Die Literatur der Gegenwart, von Th. Mundt.)«.
Novalis-Rezeption bis 1890
45
Die Romantik wird als neue und zeitgemäße Form der Literatur begrüßt, die das achtzehnte Jahrhundert beende, für dessen Gipfel und dessen Abschluß der »Wilhelm
Meister« steht. Zeitgemäß ist seitdem, was in Verbindung steht mit der »Entwickelung des dritten Standes durch die Revolution«
(3). Das bedeutet keine unmittelbare
Identifikation von Politik und Poesie, sondern beides wird vermittelt über den Begriff des »Volksgeistesäußeren< Formen. »So kann man sagen, daß das Volksleben gewissermaßen durch die Romantik das Feudalwesen bezwungen, indem es sich mit den Ketten des Gemüths an den Staat festhängt und ihn zu sich herunter und in seiner Mitte zieht« (32f.). Das ist eine durch und durch idealistische Konzep-
tion, die mehr über den jungdeutschen Begriff vom Volk und die völlige Überschätzung der Wirkungsmöglichkeiten der Literatur deutlich macht als über die Romantik. Mundt verklärt die Romantik zur »Freiheit des Mittelalters« (31). Von einem romantischen Subjektivismus kann in dieser Sicht keine Rede sein: Romantik setzt die An-
erkennung der »objektiven< Formen voraus. Romantik sei stets und überall das Streben nach Freiheit gewesen, und dies gelte auch für die romantische Schule«. »Die Romantik stützte sich auf dieselbe volksthümliche und nationale Kraft, durch welche die Revolution den Sturz des Feudalstaates unternahm. Und war das romantische Bewußtsein von einer idealen Lebenseinheit ausgegangen, in die es Alles versenkte und verschmolz, so strebte die Revolution, aus demselben idealen Drang des Volksgeistes heraus, nach Einheit und Auflösung der Widersprüche in Staat und Nationalleben.« (35) Bis zu diesem Punkt kann Mundt den Schein der Plausibilität wahren, aber dann bricht der Widerspruch auf: »Es ist wahr, die Revolution hat die Romantik vernichtet, insofern sie der letzteren ihre Aufgabe, die an den Feudalformen haftete, fortnahm« (35f.).
Diesen Widerspruch hat Mundt nicht mehr lösen können. Die neue Romantik mit der Moderne und der Revolution über den Umweg durch das Mittelalter und den »Volksgeist< verknüpfen zu wollen, dieses Unternehmen war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Am Rande gibt es bei Mundt auch andere, angemessenere Ansätze, die er aber nicht ausgeführt hat. So würdigt er den Kampf der romantischen
46
Novalis-Rezeption 1800 - 1945
Ironie gegen eine »seichte und rationalistische Aufklärung«, »die alle Lebenspoesie ausrottet, um
eine Art von Polizeistaat der Vernunft
einzurichten«
(36). Diese
Ra-
tionalitätskritik wird dann auch noch mit der Schellingschen Identitätsphilosophie konsequent verbunden: »Das Schelling’sche Subject-Object suchte eine ausgeglichene Wirklichkeit darzustellen, indem es die wahre Realität in der Einheit des Gegenstandes mit dem es erkennenden Geiste behauptete, und in dieser kühnen Auflösung
der Wirklichkeit durch den Geist dem allgemeinen Drang des Revolutions-Zeitalters gehorchte« (37). Daß der Geist der Kritik, der Analyse und der Auflösung zur Revolution wie zur Romantik geführt habe und beide verbinde, das dürfte ein bis heute gültiges Urteil sein. Mundt selbst besaß aber weder die literaturtheoretischen noch die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen dafür, diese Position wirklich zu entfalten. Die zweite, nach dem Scheitern der Revolution von 1848 bearbeitete Auflage der »Geschichte der Literatur der Gegenwart< von 1853 verändert die Konzeption der Literaturgeschichte erheblich?’ Der Bezug zwischen Romantik und Revolution wird getilgt: »Die neue Romantik wurde freilich nur eine Restauration des christlich-germanischen Princips« (62). Zwischen dem fortschrittlichen Frankreich und den zurückgebliebenen deutschen Verhältnissen wird scharf getrennt. In Deutschland seien die Reformangebote der Fürsten (!) zeitgemäß gewesen, aber das Volk habe versagt und dies nicht aufgegriffen. Die Romantik erscheint jetzt auch nicht mehr als Gegenbewegung gegen Goethe, sondern als Fortsetzung seines unpolitischen Idealismus’. In der zweiten Auflage wird auch der Unterschied zwischen Früh- und Spätromantik und Romantik und Restauration durch die »Katholisierung< der Frühromantik wieder eingeebnet. In diesem Sinne wird auch der (analytisch ganz unergiebige) NovalisAbschnitt überarbeitet. Wurde in der ersten Auflage ausdrücklich gesagt, daß die Geistlichen Lieder< »frei von allen katholicistischen Spielereien« (75) seien, so heißt es in der zweiten Auflage nur noch, sie seien »frei von allen Spielereien« (125). Novalis wird in einem längeren Einschub jetzt als katholisierender Autor vorgestellt.
Möglicherweise verdankt er diese Umdeutung seiner Freundschaft mit Schlegel, denn der Hinweis auf den Katholizismus Hardenbergs fällt in Verbindung mit dem Namen Schlegel, zu dem in der ersten Auflage gar keine Beziehung hergestellt wurde: »In der Verbindung des pantheistischen Elements mit der Glorification des Katholicismus (obwohl der Katholicismus der gerade Gegensatz alles Pantheismus ist) war er seinem Freunde Friedrich Schlegel vorangegangen, der in seinen philosophischen Richtungen wesentlich den Eingebungen des Novalis folgte und dieselben, wie aus einer höheren Inspiration geflossen, als maaßgebend für sich aufzunehmen schien« (121).
Friedrich Schlegel aber ist in excellence, und sein Weg von der Romantik schlechthin. Die sich daher auch nicht mehr als
der zweiten Auflage für Mundt der Romantiker par Jena/Berlin über Paris nach Wien ist für ihn der Weg zweite Auflage der »Geschichte der Literatur< versteht Fortsetzung der Vorlesungen Schlegels.
37 Mundt: Geschichte der Literatur der Gegenwart, 2., neu bearb. Aufl. 1853.
Novalis-Rezeption bis 1890
47
Konservative Literaturgeschichtsschreibung (Menzel, Eichendorff, Gelzer, Vilmar) Wolfgang Menzels Novalis- und Romantikbild änderte sich mit seiner Wandlung vom gemäßigten, nationalromantischen Liberalen zum antiliberalen, patriotischen Anwalt von Religion und Sitte und zum Verteidiger der restriktiven staatlichen Literaturpolitik. Menzel begann als Kritiker des bücherversessenen, aber tatenarmen Vaterlandes und brach mit der Ästhetik der »Kunstperiode«, verband dies aber im Unterschied zu Heine von Anfang an mit einem Nationalstolz auf den deutschen Geist. In seiner einflußreichen Abhandlung über >Die deutsche Literatur< (1828) beschrieb er die
Romantik als zum Teil berechtigte »poetische Opposition gegen die Modemität«°®, wobei zu letzterer insbesondere die französische Revolution gehöre. Menzel greift also das schon in Friedrich Schlegels Wiener Vorlesungen angelegte Muster auf und setzt es fort: Zuerst Entpolitisierung der Frühromantik, dann ihre Interpretation als Gegenbewegung. Die politische Bewertung wird in der 2. Auflage (1836) noch verschärft. »Die zu ihrer Zeit so provozierende intellektuelle und ästhetische Modernität vor allem der Frühromantik ist bei Menzel unter dem Parteiungsdruck der Restaurationsepoche völlig in Vergessenheit geraten. Die Romantik rückt in die Traditionslinie des Konservatismus, oder, wie es bei Menzel heißt, der »servilen Partei< ein.«°?
Nun ist mit diesem Urteil Menzels Novalis-Bild gerade noch nicht erfaßt. Politisiert wird die Romantik in der Sicht Menzels erst mit dem späten Schlegel (vgl. 161f.), deshalb spielen politische Aspekte und Wertungen bei der Novalis-Interpretation keine Rolle. Nicht einmal die sonst der Frühromantik mit viel Nachsicht hoch angerechnete Rückbesinnung auf das deutsche Altertum wird im Abschnitt über Novalis (154-161) erwähnt. Dafür steht Tieck ein, der als der eigentliche Frühroman-
tiker gilt. Novalis erfüllt eine andere Funktion in Menzels Romantik-Konstruktion: »In ihm aber sollte der mystische Tiefsinn der alten Romantik wiedergeboren werden« (155). Die folgende Novalis-Interpretation ist unschwer als Variation des Topos vom nach universaler Vermittlung strebenden Poeten zu erkennen, wie sie etwa Adam Müller vorgelegt hatte. Bei Menzel allerdings werden die utopischen Züge gekappt und als Hybris bezeichnet. Er stellt Novalis’ Dichtung in die Geschichte der großen Weltgedichte, der Kosmogonien. Vor allem der »Ofterdingen« sei eine »wunderbare Weltallegorie«
(161). Andererseits
aber habe Novalis nicht die Kraft beses-
sen, dieses Programm auszuführen, von dem ohnehin zweifelhaft ist, ob es ausführbar ist! »Schon früher ist angedeutet worden, daß Novalis den Gott Fichtes in die Poesie übersetzt hat. Jenes göttliche Ich, was bei Fichte der strengen Arbeit der Selbstschöpfung oblag, feiert bei Novalis den ersten Sabbath und sitzt auf dem Thron der Herrlichkeit, um sich versammelnd alle Zauber des Himmels und der Erde, die ihm in Andacht dienen. Was bei Fichte der männliche Wille, das war bei Novalis die Liebe des Menschen, beide gleich ursprünglich, frei, unendlich, göttlich.
58 59
Zitiert wird nach: Menzel: Die deutsche Literatur, 2., verm. Aufl. 1836, 4. Theil, S. 131. Kurzke: Romantik und Konservatismus, 1983, S. 20.
48
Novalis-Rezeption 1800 - 1945
Doch wurde der allzukühne Dichter von der Fülle seines Stoffes überwältigt und wie der Titan, da er Gott seyn wollte, von den Gebürgen, die er selber aufgethürmt hatte, zerdrückt« (160).
Auch diese Behauptung, Hardenberg habe Fichtes absolutes Ich durch das empirische Ich des Dichters ersetzt, ist zu einem Topos der Kritik geworden.
In seinem Alterswerk »Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit« (1858/59) setzte der zum Konservativen gewordene Menzel ganz andere Akzente.60 Jetzt gilt Novalis als der eigentliche Repräsentant der Romantik, dann folgt Friedrich Schlegel, während Tieck ganz an den Rand gedrängt wird: »Friedrich Schlegel [...] schritt geradeaus dem Ziele der Romantik zu, von dem sich Tieck so weit entfernte. In Tieck glauben wir eine halbslavische, leichtblütige, kobold- und
elbenartige, mehr der heidnischen sie zugeneigte Natur zu erkennen, sche Festigkeit offenbart« (310). blem des Konservatismus mit der
Märchenwelt als der mittelalterlichen Kirchenpoewährend Schlegel mehr die deutsche, niedersächsiSchon diese Einschätzung offenbart das GrundproFrühromantik: Das >Positive»Hieroglyphenschrift«. Alle drei Elemente werden in einer bewußten Wendung gegen Novalis auf die christliche Offenbarung und deren katholische Exegese bezogen und verpflichtet. Eichendorff griff bei seiner Novalis-Darstellung auf eine andere bereits vorliegende konfessionelle Deutung zurück, auf Heinrich Gelzers »Die deutsche poetische Literatur seit Klopstock und Lessing< (1841). Allerdings schrieb Gelzer aus protestantischer Sicht und hatte deshalb manche Probleme mit Novalis nicht, die sich aus Eichendorffs katholischer Umdeutung ergaben. Andererseits lassen sich aber auch bei Gelzer die Schwierigkeiten und Widersprüche einer konfessionellen Novalis-Deutung nachweisen. Gelzer hat die Geschichte der neueren (nachreformatorischen) Literatur als innere
Geschichte des Protestantismus beschrieben. Die Bedeutung der Reformation für dieses Projekt einer Nationalliteratur ergab sich für Gelzer daraus, daß seit dieser Zeit religiöse Prinzipien das Volk zur Nation zusammenschließen. Das hat auch für die Literaturgeschichtsschreibung Konsequenzen: »Seit der Reformation ist es ausgemacht, daß die geistige Arbeit Deutschlands eben so sehr eine religiöse wie eine wissenschaftliche Aufgabe habe; in der Vereinigung beider liegt die wahre Bedeutung der Mission des deutschen Geistes« (4).
Gelzer hat seine Darstellung angelegt als »vergleichende Gegenüberstellung der christlich-ethischen Weltansicht mit derjenigen der modernen deutschen Bildung« (VID.
Damit
war eine Frontstellung
markiert:
»Alle,
die jene
Kluft zwischen
dem
Ermste christlicher Überzeugung, und den ächten Resultaten moderner Bildung für eine unübersteigliche halten — werden mir in den leitenden Grundgedanken zur Seite stehen« (IX). Von Gelzers Christentum aus führt kein Weg
»zu dem selbstbewußten
modernen Heidenthum, dem philosophischen und poetischen« (Xf.). An dieses Programm hat Gelzer sich gehalten. Literaturgeschichtsschreibung bedeutet bei ihm die Prüfung von Autoren und Werken auf ihre Stellung zum Christentum hin und ihre entsprechende Bewertung. Im Novalis-Kapitel (S. 386-403) geht es denn auch ausschließlich um das Thema Religiosität. Die Romantik versucht Gelzer als Wiederentdeckung der Religion in Deutschland
zu
beschreiben,
und
Novalis
gilt ihm
als
»der
tiefsinnigste
62 Vgl. Köhnke: Eichendorff und Novalis. In: Aurora 45, 1985, S. 63-90. 63 Gelzer: Die deutsche poetische Literatur seit Klopstock und Lessing, 1841.
und
be-
52
Novalis-Rezeption 1800 — 1945
zeichnendste
Repräsentant
der
modernen
Romantik«
(386).
Gelzers
Hauptproblem
besteht nun darin, ein Werk, in dem ihm ständig Zeugnisse für den »Pantheismus< und »Katholizismus< des Autors und seine >Gegnerschaft zur Reformation< begegnen, als Teil der inneren Geschichte des Protestantismus zu deuten. Gelzers Lösungsstrategien finden sich so oder ähnlich bei allen konfessionellen Interpreten: Was nicht paßt, aber auch nicht zu leugnen ist, wird nicht ernst genommen, indem der Interpret daran »einen anderen Maßstab« (387) legt als an das, was er für »die schönsten Offenbarungen« (387) hält, es abtut als »augenblickliche Eingebungen«
(387)
oder es abwertet
als etwas,
das nur »zuweilen
neben
dem
Reinsten
und Höchsten in einzelne Aeußerungen hervorbricht, die [nur] einem strenger sittlichen und religiösen Urtheile als verwerflich erscheinen müssen« (386). Im Mittelpunkt steht die >Christenheit oder Europa«, die, wie bei anderen Autoren, primär als religiöser, nicht als politischer Text gelesen wird. Gelzer verwendet viel Mühe darauf, den vermeintlichen Katholizismus dieser Rede zu tilgen oder als Ergebnis »un-
reifer« (392) Überlegungen abzuwerten. Das Ergebnis dieses protestantischen Zugriffs ist dann von dem Eichendorffs kaum noch zu unterscheiden. Bei beiden wird Novalis reduziert auf eine allgemeine religiöse Erneuerung und auf die »heitere Ahnung dessen, was kommen wird und muß« (396), nur daß das damit jeweils Gemeinte von den Interpreten herangetragen wird und ganz konträr ausgefallen ist. Gelzers Literaturgeschichte erlebte in Deutschland nur zwei Auflagen, sie wurde aber in mehrere Sprachen übersetzt. Im deutschsprachigen Raum wesentlich erfolgreicher war Vilmars
>Geschichte der deutschen National-Literatur
(1844).
Vilmars
Buch wurde bis 1913 27mal aufgelegt und war wohl die erfolgreichste Literaturgeschichte aus der Zeit vor 1848. Wie Gelzer war Vilmar protestantischer Theologe, und auch politisch standen sich die beiden sehr nahe. Zu Recht hat Reinhard Behm sie als »Vertreter eines politisch rückschrittlichen, militant-antiaufklärerischen und antidemokratischen Protestantis-
mus«®° bezeichnet; diese Einschätzung ist gedeckt durch politisch-publizistische ÄuBerungen und die politischen Aktivitäten der beiden. Bei Vilmar sind die politischen und nationalen Töne stärker als bei Gelzer. Er begreift, im bewußten Gegenzug zur linkshegelianischen und jungdeutschen Kritik, die Romantik vom Gedanken der »Einheit der Poesie und des Lebens« (275) her, die verstanden wird als »Einheit der Sitte, Einheit der Sprache, der Lebensanschauungen,
des Strebens, und vor allem Einheit des Glaubens im Volke« (276). Das habe Novalis »zurück zum christlichen Glauben« (277) geführt und die romantische Schule insgesamt, »aus rein poetischem Bedürfnis, zurückgeleitet (...) zu der Anerkennung der al-
64
Vilmar: Geschichte der deutschen National-Literatur, 1844. Im folgenden wird zitiert nach
der 7., vermehrten Aufl. 1857, Bd. 2.
%
Behm, Reinhard: Aspekte reaktionärer Literaturgeschichtsschreibung des Vormärz. Darge-
stellt am Beispiel Vilmars und Gelzers. In: Germanistik und deutsche Nation 1806-1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Hg. v. Jörg Jochen Müller. Stuttgart 1974 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften, Bd. 2), S. 227-271 und S. 346-352, S. 230.
Novalis-Rezeption bis
1890
53
ten Staatsformen, zur Anerkennung der altehrwürdigen Königsherrschaft und der Vasallentreue, als dem feststehenden Symbol aller weltlichen Würde, Ehre und Größe« (277). Wäre Novalis tatsächlich, wie oft behauptet wird, im Vormärz der ideologische Hoflieferant des politischen Konservatismus und der Reaktion gewesen, so hätte ein Rückgriff Vilmars auf die politischen und geschichtsphilosophischen Texte Hardenbergs nahegelegen. Genau darauf verzichtet Vilmar aber. Er erwähnt Novalis nur kurz (S. 282) und lobt beiläufig die Geistlichen Lieder«. Der Grund dafür ist, daß Vilmar
die Romantik letztlich doch nicht zu den »klassischen< Perioden der Nationalliteratur zählt und in ihr nicht den geeigneten Ausgangspunkt für die Erneuerung der »angebornen Weltherrschaft« (VD) deutschen Geistes sieht. »Klassische< Perioden in diesem Sinne waren nur das Mittelalter und die Zeit von Klopstock bis zu Goethes Tod. Die Romantik kann nicht dazugehören, denn letztlich sei es wohl doch so gewesen, »daß
die Romantiker das Volksmäßige, das Heilige, überhaupt das Positive, von dem sie reden,
weniger
selbst beseßen,
weit mehr
als etwas
Fremdes
anerkannt,
gelobt und
gepriesen« (230) hätten. »Auf dem Boden einer solchen, wenn gleich halb unbewußten Ironie« (281) Kann keine Nationalliteratur in Vilmars Sinne entstehen. Was als Zurückweisung der linkshegelianischen und jungdeutschen Kritik begann, endete also in der Wiederholung des Vorwurfes der mangelnden Substantialität< und der Trennung von Kunst und Leben«. Die konfessionellen Interpreten waren diesem Problem nur scheinbar dadurch entgangen, daß sie Hardenbergs Werk als Ausdruck einer ungestillten Sehnsucht nach dem Protestantismus oder Katholizismus deuteten. Vilmars nationalkonservative Deutung weicht den Problemen, die sich dabei ergeben, letztlich lieber aus, indem sie auf die Vorbild-Funktion der Romantik verzichtet. Der
politische Konservatismus entledigt sich also Hardenbergs, und zwar mit Argumenten, die auch später noch, vor allem bei Carl Schmitt, vorgetragen werden. Der religiöse Konservatismus übernimmt zwar die aus der frühen Rezeption überlieferte Vorbildfunktion
Hardenbergs,
gerät aber bei der Umsetzung
in große
Schwierigkeiten
und Widersprüche. Diese ergeben sich vor allem daraus, daß die literaturtheoretischen Konzepte der religiösen Literaturgeschichtsschreibung die ästhetischen und poetologischen Implikationen der frühromantischen Dichtung übergehen und den Texten daher nicht gerecht werden; so wird die »Christenheit oder Europa« als realhistorische Abhandlung verstanden, und die »Geistlichen Lieder< werden in der Tradition der Lied-
dichtung des 16. Jahrhunderts gelesen, nicht als genuin frühromantische Lyrik. Insofern die frühromantische Poetologie nicht mitgelesen wird, handelt es sich bei den bisher besprochenen literaturgeschichtlichen Darstellungen nicht um angemessene Novalis-Interpretationen; sie endeten außerdem in Widersprüchen, die den Interpreten nicht verborgen blieben. Es wird zu prüfen sein, ob dies auf der Gegenseite, bei der linkshegelianischen und liberalen Literaturgeschichtsschreibung des Vormärz, anders ist.
54
Novalis-Rezeption 1800 - 1945
Liberale und linkshegelianische Literaturgeschichtsschreibung (Gervinus, Echtermeyer/Ruge, Prutz, Schmidt, Hettner)
Wesentlich wichtiger und folgenreicher als die frühe konservative Interpretation ist die Romantik- und Novalis-Kritik geworden, die von Gervinus, der jungdeutschen, linkshegelianischen und liberalen Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Das gilt sowohl für die Urteilsgeschichte wie für die Methodologie. Am Anfang dieser Reihe steht das für die Entstehung der Literaturgeschichte als Wissenschaft wichtigste Werk, Gervinus’ »Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen< (1836-41). Für Gervinus war die Literaturgeschichte mit der
Klassik zu einem Höhepunkt und Abschluß gekommen. Damit erfüllte sie die Voraussetzung für die Darstellung, im Unterschied zur politischen Geschichte, die in Deutschland gerade erst in ihre eigentliche Phase trete. Aufgabe der Geschichtsschreibung der Nationalliteratur sei es, das politische Handeln einzuleiten und einen Beitrag zu dessen Theorie zu liefern. Zu Recht gilt Gervinus heute als (einer) der Begründer
der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung. Er konzipierte sie als Wissenschaft nicht mehr von der philosophischen Ästhetik, sondern von der Geschichte her und öffnete damit den Weg zu einer Historisierung der Ästhetik. Aus seiner Konzeption ergaben sich aber für die Erfassung der nachklassischen Kunst unlösbare Probleme, denn diese Literatur hatte in Gervinus’ literaturgeschicht-
licher, ästhetischer und geschichtsphilosophischer Konzeption eigentlich keinen Platz. Mit der Romantik hat Gervinus sich im Schlußabschnitt seiner umfangreichen »Geschichte der Deutschen Dichtung< dennoch befaßt, allerdings jeden Anspruch auf Vollständigkeit ablehnend.°° Die Idealisierung der Weimarer Klassik führt zur Abwertung der nachfolgenden Generation, deren größte Leistung die Popularisierung Goethes und Schillers gewesen sei (vgl. 530). Die Romantik, das war die Jugend, die auf eine in voller Blüte stehende literarische Welt stieß, sie sich oberflächlich aneignete und sie zu überbieten versprach, noch bevor sie sie recht zur Kenntnis genom-
men hatte. Schuld daran, daß die neue Generation nicht »an die Gegenwart mit einer realistischen Tendenz angeschlossen« hat, hatten freilich nicht nur die Autoren, sondern mehr noch die »trüben politischen Verhältnisse, unter denen diese Schule aufwuchs« (538).
In Gervinus Romantik-Darstellung erhält Novalis eine Zentralstellung ganz besonderer Art: »Wer so große Entwürfe faßt, dünkt sich gar bald, sie schon halbwegs ausgeführt zu haben, und es kostete daher die ersten Romantiker nichts, ihren Märtyrer
Novalis über Goethe hinauszurücken« (529). Die Romantik wird weitgehend von ihrem Anspruch her beurteilt, Goethe zu überbieten, und Novalis nimmt dabei als Goethe-Kritiker und als von den Romantikern selbst auf den Schild gehobene Symbolfigur die exponierte Stellung des Repräsentanten der ganzen Bewegung ein. %
Im folgenden wird zitiert nach: Gervinus:
Geschichte der Deutschen
Dichtung, 4., verb.
Aufl. 1853, Bd. 5. »Romantische Dichtung« ist das XTV. und letzte Kapitel überschrieben 518-667); es beginnt mit Novalis und endet mit dem Alterswerk Goethes.
($.
Novalis-Rezeption bis 1890
55
Die Romantik »knüpfte sich völlig an die Lehren an, auf denen wir Schiller und Goethe mit so vielem Gewichte haben haften sehen, an die Lehren von Verbindung des Aeußeren und Inneren, von Versöhnung des Realismus und Idealismus« (535).
Gervinus versteht wie die Brüder Schlegel, Adam Müller und später etwa Vilmar den Universalitätsanspruch
der frühromantischen
Dichtung
also ausdrücklich
so, daß sie
»auf eine größere Ausdehnung der Poesie, auf eine gesteigerte Wirksamkeit derselben, auf eine allgemeinere Theilnehmung an ihren Segnungen« (533) aus ist und »nach
Einflüssen
auf das
öffentliche
und
auf alle Zweige
des
Privatlebens«
(534)
strebt. Allerdings sei die Romantik dem Ausgangspunkt — der Klassik — und ihrem ursprünglichen Interesse nicht gerecht geworden. Nicht zufällig demonstriert Gervinus gerade an Hardenbergs »Ofterdingen« das, wie er meint, rein Literarische der romantischen Versöhnung: »Göthe hatte die äußere Gestalt des Lebens im Meister noch viel zu viel erachtet, und sein Ro-
man durfte sich daher in der Gegenwart bewegen; er war mit dem ganzen derben Realismus versöhnt, mit dem, was die neue Schule nach Novalis das Evangelium der Oekonomie nannte, mit der Aufklärung sogar [...]. Novalis in seinem Romane war mit unserer gegenwärtigen Welt nicht so versöhnlich, er brauchte das Mittelalter für seine Gestaltungen, er behandelte die »Oekonomie< aufs schnödeste, und Alles, was nach Freude am Realismus aussah, verwarf er; er setzte das Christentum verklärend gegen den abgeklärten Bodensatz der Illuminaten, Alles um ein poetisches Leben im ganzen Umfange des Wortes zu gewinnen« (536).
Hardenbergs »MeisterSehnsucht« einen bereitliegenden Topos aufgriff und ihn andererseits verstärkte. Die romantische Ironie ist in Hegels seit 1817 gehaltenen Vorlesungen über die Ästhetik als »allseitige Vernichtungskunst« mit einer »innern unkünstlerischen Haltungslosigkeit« notwendig verbunden. Dies gelte für »Novalis z.B.[,] eines der edleren Gemüther«, dessen Sehnsucht »sich zum wirklichen Handeln und Produciren nicht herablassen will, weil sie sich durch die Berührung mit der Endlichkeit zu ver-
unreinigen fürchtet, obschon sie ebenso sehr das Gefühl des Mangels dieser Abstrak-
tion in sich hat.«® Das prägnanteste Urteil Hegels über Novalis findet sich in der Solger-Rezension (1828). Es verbindet die bisher genannten Aspekte und anerkennt das partielle Recht der Ironie und der Sehnsucht. Novalis und Kleist gelten als Autoren, die wesentlich durch die »in der Entzweiung bleibende Reflexion« gekennzeichnet sind. Diese Betonung des Verstandes ist ein bemerkenswerter Aspekt in Hegels Urteil über Novalis: 67
Vgl. dazu Pöggeler, Otto: Hegels Kritik der Romantik. Bonn 1956.
68 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Hegel: Sämtliche Werke. Hg. v. Hermann Glockner. Stuttgart 1968, Bd. 19, S. 641. 6 Alle Zitate aus den »Vorlesungen über die Ästhetik«, Sämtliche Werke Bd. 12, S. 221.
Novalis-Rezeption bis 1890
57
»Denn was sich als die Individualität von Novalis zeigt, ist, daß das Bedürfnis des Denkens diese schöne Seele nur bis zur Sehnsucht getrieben, und den abstrakten Verstand weder zu überwinden, noch ihm auch zu entsagen vermocht hat. Dieser ist dem edlen Jüngling vielmehr so in’s Herz geschlagen, mit solcher Treue kann man sagen, daß die transcendente Sehnsucht, diese
Schwindsucht
des
Geistes,
sich durch
die Leiblichkeit durchgeführt,
und
dieser konse-
quent ihr Geschick bestimmt hat.«”
Hegels Novalis-Bild ist also auch ein Reflex der Legende von der Einheit von Leben und Werk. Hegels Äußerungen über Novalis waren kurz, aber deutlich, und nicht zuletzt des-
halb haben sie auch dort nachgewirkt, wo der systemphilosophische Kontext verändert oder verlassen wurde. Die erste gründlichere Auseinandersetzung mit Novalis, in der sein Werk in seiner Eigenständigkeit anerkannt und in seinen geschichtlichen Zusammenhängen kritisch gewürdigt wurde, fand in Echtermeyers und Ruges berühmter Abhandlung »Der Protestantismus und die Romantik« statt, die die beiden Linkshegelianer 1839 in den
»Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst« veröffentlichten.’! Novalis erscheint als führender Vertreter einer von Echtermeyer und Ruge grundsätzlich begrüßten Gegenbewegung zum Fichteschen Idealismus und als Repräsentant der Epoche. »Die nähere Charakteristik dieses Mannes trifft daher in allen Punkten in das Herz unserer Gegenwart.« (2) Dieser repräsentative Charakter ist zu verstehen im Zusammenhang einer hegelianischen Konstruktion der Weltgeschichte: »Novalis’ Leben und Wirken, ja sein Herz und Gemüth ist selbst der bewegende Punkt, in dem der Weltgeist mit höchster Energie sich ansetzt« (2). Einmal mehr wird also der unmittelbar nach dem Tode Hardenbergs etablierte Topos der Einheit von Leben und Werk aufgegriffen, aber jetzt nicht, um ein Bild in sich bleibender Privatheit zu zeichnen, sondern um die Beziehung zu dem herzustellen, was für die Linkshegelia-
ner die objektive Bewegung des Geistes ist: Novalis wird als wichtiger Vorläufer Hegels gewürdigt, weil zentrale Ideen aus dessen Philosophie schon bei dem Romantiker im Mittelpunkt ständen: die Geschichte als Selbstdurchdringung des Geistes, die Einheit von Logik und Metaphysik und die Entdeckung des Absoluten in seiner Innerlichkeit. Dieser Idealismus wird ausdrücklich gewürdigt: »Ein großes Bewußtsein, dessen Wahrheit der Gedanke
ist: keine Freiheit sei eine befriedigende, als allein die
in der absoluten Region des reinen Geistes selbst errungene« (9). Die Grenze Hardenbergs liege da, wo diese Innerlichkeit nicht mehr
mit der
Äußerlichkeit, der Weltgeschichte, vermittelt wird. Dies ist »seine Unfreiheit: daß er
seine neue Freiheit und ihre geistige Realität wegwirft an eine todte, nur phantastisch wirkliche Form der Vergangenheit« (5). Dieser Einwand wird an der »Christenheit
”% Alle Zitate aus der Rezension von »Solgers nachgelassenen Schriften, Sämtliche Werke Bd. 20, S, 196. 71 Echtermeyer/ Ruge: Der Protestantismus und die Romantik. In: Hallische Jahrbücher für deutsche
Wissenschaft
und
Kunst,
1839,
Sp.
1953-2480
(mit Unterbrechungen).
Das
Kapitel
über Novalis (Sp. 2136-2152) wird im folgenden zitiert nach dem Druck in: Novalis, hg.v. Schulz, 2., erw. Aufl. 1986, S. 1-19.
58
Novalis-Rezeption 1800 — 1945
oder Europa< entwickelt. »Hier tritt die absurde Doctrin der altdeutschen Unfreiheit noch ganz naiv als Ziel der Freiheit auf.« (6) Innerlichkeit und Subjektivismus sind also Leistung und Grenze Hardenbergs. Ihretwegen ist »der Eine Novalis die ganze Romantik« (18) und »eine Grundlage und eine Vorbedeutung der gegenwärtigen Philosophie« (18), wobei »Wahres und Unwahres in seiner Darstellung zu sondern darum so schwer fiel, weil es nothwendig war, daß das
neue Princip zuerst in mangelhafter, in mythisch, mystisch, mährchenhafter Form, eingehüllt in das individuelle Gemüth und seine Phantasien erscheinen mußte« (19). Diese Konzeption ist sehr geschlossen und scheint, wenn man die philosophischen Voraussetzungen, die auf den hegelianischen Vorwurf der »mangelhaften Substantialität< führen, einmal akzeptiert hat, unangreifbar zu sein. Sie enthält aber einen Widerspruch. Echtermeyer und Ruge halten Novalis einerseits vor, sich »an eine fremde, vergangene Objectivität, an eine starre äußerliche Nothwendigkeit« wegzuwerfen; andererseits sehen sie bei ihm eine »Freiheit, welche bis zum Exceß Welt und Geschichte vor ihren Phantasieen niederwirft — Beides wirft sich nun aber weg an »die Wiederkunft der Hierarchieromantische Schule< und die Klassik werden gemeinsam im 2. Band unter dem Obertitel »Die doctrinäre Romantik< besprochen. Schon Goethes >Faust« wird interpretiert als Ausdruck des Selbstverlustes der Subjektivität und der romantischen Ironie, denn schon hier zeige sich »das unendliche Streben selbst, ohne weiteren In-
halt und ohne Erfüllung, als das letzte Ziel« (375). Die Darstellung endet mit dem Jahre 1806, denn durch die Schlacht bei Jena »wurde das deutsche Volk auf eine sehr ernste und herbe Weise an die Realität der Dinge erinnert« (321). Novalis und Friedrich Schlegel erscheinen als die »Häupter der jungen Schule« (323). Von einem politischen Konservatismus bei Hardenberg ist nicht die Rede, das politisch-geschichtsphilosophische Werk bleibt außer Betracht. Stattdessen werden seine phi73
Schmidt:
1848.
Geschichte
der Romantik
in dem
Zeitalter der Reformation
und der Revolution,
Novalis-Rezeption bis 1890
63
losophischen Leistungen gewürdigt, und seine Dichtung gilt — natürlich vom Standpunkt der Romantik
aus betrachtet — als »vielleicht das Höchste, was die Romantik
hervorgebracht hat« (454). Sein Werk zeige, »daß auch das Unsinnliche eine gewisse Plastik zuläßt« (454). Viel mehr läßt sich Schmidts Werk, das er später selbst verleugnete, kaum entnehmen. Die >Geschichte der Romantik< wurde eine voluminöse und kaum lesbare Philippika gegen »das Romantische, eine rein geschichtsphilosophische Abhandlung, die Zeiten, Autoren, Werke und Gattungen so wenig Kontur gewinnen und eine eigene Haltung so wenig erkennen ließ, daß selbst den Freunden Ruge, Fröbel und Echtermeyer Schmidts Position ganz unklar blieb.’* Wesentlich wichtiger und erfolgreicher wurde die nach 1848 vorgelegte Neu-Konzeption der Literaturgeschichte, die von Schmidt bis zum Ende des Jahrhunderts im-
mer wieder neu bearbeitet wurde.’ Die Tendenz dieser Bearbeitung ist offensichtlich. Schmidt tritt nach 1848 nachhaltig für eine konstitutionelle Monarchie ein und geht davon aus, daß mit dem Aufbau eines Nationalstaates die Dualismen der Moderne und damit auch die »Romantik« verschwinden. Von dieser Position aus kritisiert Schmidt in seiner >Geschichte der Deutschen
Literatur im neunzehnten
Jahrhundert
Geschichte der alten und neuen Literatur«. Schmidt zitiert die entsprechende Passage bei Schlegel, streicht aber die Novalis betreffenden Teile, so daß als Kronzeuge für die katholische Tendenz nur noch Stolberg erscheint. Auch dies war ein Beitrag Schmidts zur Ablösung Hardenbergs von der tatsächlich katholisch und reaktionär gewordenen Romantik. Schmidts Bemühungen um Novalis fanden ihren Abschluß in der Herausgabe des »Heinrich von Ofterdingen< (1876), den er als bedeutendste und wirkungsreichste Dichtung der Romantik würdigte und den deutschen Lesern erstmals außerhalb der
Novalis-Rezeption bis 1890
65
»Schriften< zugänglich machte.’€ Gelesen wurden offenbar eher die Gedichte. Schon 1857 war ein Band »Gedichte von Novalis< erschienen, und 1869 gab Beyschlag erneut eine Sammlung >Gedichte< heraus, die 1877 und 1886 neu aufgelegt werden konnte. Allerdings hat auch Schmidts Novalis-Darstellung ihre Grenzen, und sie sind mit der positiven Würdigung unmittelbar verbunden: »Es war nicht Drang der Erkenntniß, sondern ein poetisches Bedürfniß, was ihn zur Speculation trieb: das Bestreben,
Kunst und Wissenschaft auf ein gemeinsames Princip zurückzuführen, und alle Wissenschaften und Künste zu einem organischen Ganzen ineinander zu weben« (409). Der »poetische Glaube« (497) wird also erkannt und anerkannt, aber um den Preis
seiner Trennung von der Wirklichkeit. Die Romantik habe spekulative Ideale entwickelt, »aber sie nahm, so lange sie nicht die Besinnung verlor, für diese Ideale keine Gültigkeit innerhalb der wirklichen Welt in Anspruch« (497). Das war ganz sicher ein Fehlurteil über die Frühromantik. Anders als in der »Geschichte der Romantik« wird die Idealität der Frühromantik jetzt gewürdigt — trotz, ja gerade nur unter der Bedingung ihrer völligen Wirklichkeitsferne. Eine differenzierte Sicht auf den Wirklichkeitsbezug der frühromantischen Utopie dürfte nicht zuletzt der staatspolitische Pragmatismus Schmidts verhindert haben. In literaturtheoretischer Hinsicht Korrespondierte damit die Ausbildung des ‚Realismusgemeiner
Realismus
Geschichte der Deutschen Literatur< hatte Hermann Hettner sein Buch über »Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Göthe und Schiller< (1850) veröffentlicht.’ Das kurze Vorwort eröffnete Hettner
mit einem programmatisch gemeinten Novalis-Zitat: »Formeln für Kunstindividuen zu finden, durch die sie im eigentlichsten Sinne erst verstanden werden, macht das Geschäft
des
artistischen
Kritikers
aus,
dessen
Arbeiten
die Geschichte
der Kunst
vorbereiten.«’®
76 Vgl. Schmidt: Friedrich von Hardenberg und die romantische Schule. In: Heinrich von Ofterdingen. Von Novalis. (Friedrich von Hardenberg.) Mit Einleitung und Anmerkungen hg. v. Julian Schmidt. Leipzig 1876 (Bibliothek der Deutschen Nationallitteratur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 38), S. V-XXII, S. V.
77 Hettner: Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Göthe und Schiller, 1850. 78 Hettner, ebda. 0.S. — Hettner zitierte das 53. »Blüthenstaub»subjektiver Idealismus< oder »Idealismus< und »Phantastik«. Diese Unterscheidung geht im Verlaufe der Untersuchung verloren, weil Hettner Goethes »Wilhelm Meister< eine Vorbildfunktion zuerkennt. Zur vollständigen Begriffsumkehrung kommt es dann in der Auseinandersetzung mit Hardenbergs »Polemik gegen den Göthe’schen Realismus« (144). »Der Wilhelm Meister hat die ideale Versöhnung mit der Wirklichkeit als Ziel und Gipfelpunkt aller Bildung hingestellt, und überall der ruhigen Harmonie eines geistig besonnenen werkthätigen Lebens gegenüber die Gefahren und Unzulänglichkeiten aller idealistischen von der prakti-
Novalis-Rezeption bis 1890
67
schen Wirklichkeit abgezogenen Richtungen herausgehoben. Dieser ernsten Lehre versperrt sich die Romantik der Natur der Sache nach. [...] Der Wilhelm Meister wird als »>Candide gegen die Poesie«, als plattes »Evangelium der Oekonomie« verschrieen. Die Romantik will nicht, daß die alte Schwiegermutter Weisheit das zarte Seelchen Phantasie beleidige.« (52)
Mit derselben vollständigen Ablehnung begegnet Hettner dem »Ofterdingen«, denn der sei »das romantische Gegenmanifest gegen den Wilhelm Meister« (83). Gegen Goethes »Entsagende< (»WanderjahreGeistlichen Lieder«. Auch hier greift er ältere Deutungstraditionen auf, fällt aber hinter Schmidt, dessen Literaturgeschichte er kannte und schätzte, zurück.
Novalis-Rezeption bis 1890
qı
Der Preis dieser christlichen Deutung ist die völlige Abtrennung der »Geistlichen Lieder« vom übrigen Werk Hardenbergs. Es entsteht »der große Gegensatz zwischen seinen dargelegten wissenschaftlichen Gedanken über Religion und Christentum und seinen »geistlichen Gedichten«« (221).
Aber nicht nur die christliche Interpretation ist fragwürdig, sondern auch die der »wissenschaftlichen Gedanken«. Das Stichwort »Realpsychologie< wird inhaltlich kaum gefüllt und spielt bei Novalis selbst auch so gut wie keine Rolle. Hinzu kommt, daß Dilthey in einer späteren Nachschrift auch noch den offensichtlichen Widerspruch zwischen Hardenbergs philosophischer Position und der Lebensphilosophie abzutun versucht hat mit der Bemerkung, dessen Fragmente behielten ihren Wert, einen »Wert, der unabhängig ist von dem transzendentalphilosophischen Standpunkt in der Begründung der Geisteswissenschaften, den Novalis einnimmt« (325). Angesichts der großen Bedeutung, die die damit verbundenen Konzepte haben, liegt der Schluß nahe, daß die Authentizität und die »Realpsychologie« nicht zuletzt die Funktion von Lückenbüßern in Diltheys System haben. Diltheys Beitrag zur wissenschaftlichen Novalis-Rezeption bleibt ambivalent. Einerseits etablierte er Novalis endgültig zwar nicht als klassischen, aber als kanonischen Autor. Ferner betonte er erstmals nachdrücklich die Bedeutung des theoretischen Werkes,
allerdings dessen Relevanz
für die Einzelwissenschaften bestreitend
und unter völligem Ausschluß des von Echtermeyer/Ruge gewürdigten philosophischen Teils. Diltheys Darstellung war eine für die spätere Forschung bahnbrechende Leistung. Andererseits blieb sein Novalis eine private, ganz in der eigenen Subjektivität befangene Figur.* Diltheys Dichtungsbegriff ebnete die Differenzen zwischen Frühromantik und Klassik weitgehend ein, ähnlich wie die Aufklärung auf eine »Vorklassik< reduziert wurde. Die Abtrennung der Kritik vom Verstehen ließ die Frage nach dem Bezug der Hardenbergschen Dichtung zur geschichtlichen Wirklichkeit gar nicht mehr aufkommen.
Haym Rudolf Hayms »Die romantische Schule< (1870) teilte mit Dilthey den spürbaren Abstand von den Auseinandersetzungen des Vormärz, nicht aber den Verzicht auf Kri-
tik.8 »Die Zeit [...] liegt hinter uns, in der die stimmführende
Mehrheit
unsres Volkes
mit Leiden-
schaft und Haß dem Romantischen den Krieg machte und sich desselben gleichsam mit Feuer und Schwert glaubte erwehren zu müssen. Noch allzu gut ist uns die Periode unsrer neueren
8 Das gilt trotz des Urteils, die »Christenheit oder Europa« sei »die unhistorische Anschauung, welche der heiligen Allianz ein christliches Gewand lieh« (207). Dieses einzige kritische und politisch motivierte Urteil steht ganz am Rande und ist Teil einer widersprüchlichen, in Fragen endenden Interpretation. Dilthey selbst gesteht wenig später, es scheine »freilich, als ob jener vollkommene Zustand außer aller Zeit gelegen hätte« (208). 85 Haym: Die romantische Schule, 1870. Zitiert wird nach dem Nachdruck 1977.
72
Novalis-Rezeption 1800 — 1945
Geschichte im Gedächtnis, in welcher Wissenschaft, Staat und Kirche sich von einer durch die
Macht gestützten Invasion romantisch aufgefärbter freiheitsfeindlicher Ideen bedroht sah. [...] Das Reactionäre war romantisch, und ein Romantiker hieß uns daher Jeder, der, der neugewordenen Zeit zum Trotz, sich auf eine vergangne Bildungsform steifte, um sie durch künstliche Mittel wieder in’s Leben zu rufen.« (3)
Diese Zeit sei vorbei, und daher könne der Literarhistoriker jetzt »ohne Leidenschaft,
weil ohne Furcht« (4), die Romantik beschreiben: »Mit Gleichgültigkeit, wie von einem theoretischen Wesen, welches uns nichts mehr anhaben könne« (4).
Damit seien die Voraussetzungen gegeben, »dem romantischen Wesen in rein historischer Haltung nachzugehn, das Entstehen der romantischen Schule zu erklären, den Gehalt und Werth, das Bleibende und das Vergängliche derselben unbefangen zu würdigen« (4).
Unter diesen Voraussetzungen entstand die bislang umfangreichste Darstellung der Frühromantik. Oskar Walzel besorgte noch mehr als ein halbes Jahrhundert später, 1928, die 5. Auflage; 1949 erschien eine 6. Auflage, und die 1961 und erneut 1977 erschienenen Nachdrucke der 1. Auflage belegen, daß auf Hayms »Romantische Schule< wegen ihres Materialreichtums bis heute nicht verzichtet werden kann. Ganz so unbefangen historistisch aber, wie Haym ankündigte, waren Programm und Ausführung denn doch nicht. Haym schrieb durchaus aus der Sicht eines Nationalliberalen und Befürworters einer Einigung Deutschlands »von oben«. Die Kämpfe der Aoer Jahre lagen auch in dieser Hinsicht weit zurück. »Ein viel ernsterer und praktischerer Kampf, die zuversichtlich frohe Arbeit des Fortschritts auf dem wie durch ein Wunder errungenen Boden machtstolzer nationaler Selbstständigkeit hat begonnen.« (4) Das schafft nicht nur Distanz zur Frühromantik: »Auch das gehört zu den Pflichten dieser fortschrittslustigen Zeit, sich volle Klarheit über die Vor-
bedingungen ihrer Entwicklung, über die aus früheren Tagen ihr überkommene geistige Erbschaft zu verschaffen« (4f.). Wie bei Dilthey geht es darum, die Romantik und das Zweite Kaiserreich in Beziehung zu setzen. Hayms Bezugsrahmen bilden aber nicht die >Geisteswissenschaften
Gefühl von sich« sprechen kann und muß, zeigt, daß Gefühl und Reflexion immer schon latent dialektisch aufeinander bezogen sind. Es gibt kein nicht-thetisches Bewußtsein ohne Thesis und keine Thesis ohne nicht-thetisches Bewußtsein von sich. Das
»reine
Sein«,
der
»Zustand«,
ist kein
Gegenstand
theoretischen
Wissens
im
Sinne der Reflexion: »Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Filosofie« (1,114:15). Die absolute Identität soll aber verständlich gemacht, dargestellt werden. Das ist nur in einem »Scheinsatz«
(I1,104:1) möglich:
»Wir verlassen das /dentische
um es darzustellen« (II,104:1). Das Resultat dieser ersten Reflexion — die >intellektuale Anschauung< — hat Hardenberg mit der Verkehrung verglichen, mit der ein Maler sein Selbstporträt von einem Spiegel kopiert. Die Repräsentation des Identischen in dieser ersten Reflexion ist ein Schein, der in einer zweiten Reflexion aufgelöst werden soll. 26
Frank/Kurz: Ordo inversus. In: Geist und Zeichen, 1977, S. 75-92, S. 76. — Hier wie in der
gesamten Arbeit werden Quellenangaben innerhalb des Zitates aktualisiert. - Den transzendentalphilosophischen Gehalt des Terminus »Gefühl« bei Hardenberg übersehen alle Interpreten, die seine Abkehr von der Philosophie im Zeichen von »Gefühl«, »>Gemüt« und »Emotion< behaupten. Vgl. noch: Weier: Die Verwandlung der idealistischen Abstraktion in die Emotion bei Novalis. In: EG 23, 1968, S. 548-573.
»Fichte-Studien«
117
»Die vollständige, durch Selbstnegation des Scheins oder der Reflexion korrigierte Offenbarung kann darum paradox als »Resultat des Resultats< (vgl. II,107:3) bezeichnet werden: Von der je schon geschehenen Uroffenbarung im Gefühl (Resultat) auf sich selbst als Thematisierung derselben sich zurückbiegend, negiert de Reflexion jene Verkehrung und stellt die Wahrheit negativ als ein Resultat her, das auf das erste Resultat scheinbar paradox als auf seine
tatsächliche »Voraussetzung« aufbaut.“?? Die Einsicht, daß das Denken »Schein« ist, wird also nicht zum Sprungbrett in eine andere Welt und führt nicht zur Absage an die Reflexion, sondern deren Kritik wird selbst wieder durch
die Reflexion
geleistet;
»[...] weder
wird die Endlichkeit
über-
sprungen noch anders als im Ausgang von der Erfahrung endlicher Selbstvermittlung auf ein »transreflexives Sein< geschlossen«?®. »Urhandlung< und »intellektuale Anschauung« sind also substantiell identisch. Sie werden erst durch die Reflexion in zwei Momente des Selbstbewußtseins getrennt, die sich zueinander invers verhalten. Ein und derseibe Sachverhalt erscheint einmal unter dem Exponenten des »Gefühls< (Urhandlung), einmal unter dem der »Reflexion«
(intellektuale Anschauung). Die Synthese beider kann als solche nicht gewußt werden. »Gefühl scheint das Erste — Reflexion das Zweyte zu seyn. Warum?« (I,114:16) Ursprünglich ist die intellektuale Anschauung vor der Urhandlung, denn für uns beginnt das Bewußtsein mit der Reflexion, und in der Reflexion auf die ursprüngliche Einheit entsteht die intellektuale Anschauung. Jene kann ohne diese nicht eingesehen werden. »Sie begründet dieselbe — secundario ist es umgekehrt. Es ist das ähnliche Verhältnis, wie zwischen reinem und reflectierten Bewußtseyn« (II,119:22).?? Anders als bei Fichte wird
das
»absolute
Ich«
(vgl.II
15,1ff.)
also als Einheit zweier Mo-
mente gedacht, als Wechselwirkung von intellektualer Anschauung und Urhandlung. Novalis
deduziert
also die intellektuale Anschauung
aus dem
Absoluten,
das in ihr
nur »Mittelbar« (I1,119:22) angeschaut wird. Das Absolute bleibt also auch in der intellektualen Anschauung transzendent. Anders als bei Fichte setzt sich das »Ich« nicht mehr ein »Nicht-Ich< entgegen, sondern Thesis und Antithesis sind beide >im Ich«, im
Prozeß seiner Selbstvermittlung durch die Wechselrelation von Gefühl und Reflexion. Beide haben einen absoluten Beziehungsgrund in dem »Trieb Ich zu seyn, der beyde in sich vereinigt, der beydes ist und doch keins von beyden« (I1,125:31). Diese Bewußtseinstheorie und der Ordo inversus waren Hardenbergs ureigenste Leistung, deren er sich auch bewußt war. Streng genommen wird bei ihm das Absolute nicht mehr als Ich gedacht: Es soll ja gerade kein Selbst-»Bewußtsein< mehr sein, sondern relationsloses Einssein: »Das Ich können wir nun wegstreichen — freye Theorie — freye Praxis beyder im Ich für das reflectirende (theoretische) Ich« (I1,150:96). Selbstsicher formuliert Hardenberg daher: »Spinotza stieg bis zur Natur — Fichte bis 27” 28
Frank/Kurz: Ordo Inversus. In: Geist und Zeichen, 1977, S. 75-92, S. 77. Frank/Kurz: Ordo Inversus. In: Geist und Zeichen, 1977, S. 75-92, S. 79.
2 Zu Hardenbergs Terminologie in dieser Passage, besonders zum Begriff der »Reflexion«, vgl. Frank: Das Problem der »Zeit« in der deutschen Romantik, 1972, S. 146f. — »Gefühl« wird später durch >Gedächtnis< ersetzt, um so der Tatsache Rechnung zu tragen, daß im »Gefühl« Transzendenz sich schon geoffenbart hat, also nicht erst die Reflexion das »Gefühl« bzw. die absolute Urhandlung konstituiert.
118 zum
Das theoretische Werk 1: Grundlegung der Philosophie Ich, oder der Person. Ich bis zur These Gott« (1,157:151).
»Gott< ereignet sich
zwar in jeder konkreten Synthesis des Subjekts. Dieses »hat« das Absolute, ohne das es nicht wäre, aber nie als Absolutes, sondern immer nur als reflektiertes Gefühl. Das
Subjekt hat sich also nie als sich: »Das reine Ich ist überall und nirgends — Es läßt sich nie von sich selbst kriegen — Sucht das Subject es im Unbeschränkten, so ist es im Beschränkten et sic porro.« (1,131:41) Reflexiv erfasse ich immer nur ein relati-
ves Sein: »Gott sind wir — als Individuum denken wir« (II,168:218). Das Subjekt ist gekennzeichnet
durch einen Mangel
an Sein, eine »Lücke«
(III,334:460), die durch
die immer schon stattgehabte Differenzierung der ursprünglichen Einheit des Seins entstanden ist. Der Ordo inversus ist der Versuch einer Negation jeder Bestimmtheit ohne völlige Auflösung des Objekts: »Negation ist mehr, als Mangel; es ist das Setzen des Entgegengesezten.« (11,226:329) Nur in der Aufhebung der jeweiligen konkreten Synthesis überschreitet Subjektivität den Gegenstand: »Ich bin nicht inwiefern ich mich setze, sondern inwiefern ich mich aufhebe« (II,196:278). Solche Reflexion der Reflexion vollzieht sich als »Gefühlk«. Der Unterschied zwischen den Novalis-Deutungen von Haering und Dick einerseits und Frank andererseits ist fundamental: In der Sicht Franks repräsentiert sich das Absolute nicht in der Dialektik von Wahrheit und Schein, Substanz und Akzidenz, Wesen und Eigenschaft, sondern diese Struktur ist das höchste der Reflexion zugängliche Wissen um das Absolute, das sich zugleich zeigt und verbirgt, offenbart und verschleiert. »Das philosophierende Ich steigt also nur bis zur negativen, abstrakten Anschauung des Absoluten. Die in den zu erklärenden Dingen vorgefundene dialektische Struktur ist nur empirisches Symbol der absoluten Einheit aller Gegensätze im absoluten Grunde, den ich bloß als heuristisches Prinzip der Philosophie ge-
brauchen kann«°®. Soll das Absolute mehr als ein heuristisches Prinzip sein, so müßte es sich deduzieren lassen. Diese Deduktion aber ist, wie Hardenberg gezeigt hat, nicht möglich. Die äußerste Form der Rede vom Absoluten ist die »Darstellung«. Für die Interpretation der späteren Dichtungen bleibt die Frage offen, ob Hardenberg geglaubt hat, mit dem Wechsel von der Philosophie zur Poesie diese Grenze überspringen zu können. Ganz ohne Zweifel sind die Grenzen der Erfahrung ein zentrales Thema der Dichtungen, und immerhin gelingt es Hardenbergs Hyazinth, um ein immer wieder angeführtes Beispiel aufzugreifen, das Bild der Göttin zu Sais zu entschleiern und — im Unterschied zu Schillers Jüngling — diese Erkenntnis zu überleben und sogar sein ganzes weiteres Leben darauf zu gründen. Die Frage ist nur, was Hyazinth eigentlich erkennt. Hardenbergs Philosophie jedenfalls darf von Anfang an als poetische Philosophie« in genau dem Sinne verstanden werden, daß sie ihren eigentlichen Gegenstand, das Absolute, nur »darstellenmagischen Idealismus«. In: Euphorion 63, 1969,
S. 88-116, S. 94.
»Fichte-Studien«
119
Es mag sein, daß Hardenberg die von ihm aufgezeigten Zusammenhänge in verlo-
rengegangenen Manuskripten systematischer entfaltet hat.’! Entscheidend aber für den Romantiker Novalis ist die als »Ordo inversus< bezeichnete Methode gegenläufigen Denkens geworden, die als »>Hin und herVon unten hinauf und von oben hinunter«, als »Transitus< und »Wechselrepräsentation< die gedankliche und formale Struktur des Gesamtwerkes sehr weitgehend bestimmt. Das »Fundament« dieser Philosophie ist also keine Letztbegründung im klassischen Sinne der Rückführung auf einen eindeutigen unwiderleglichen Satz, sondern eine gegenläufige Bewegung. An ihrer Schnittstelle entsteht das Selbst oder die »SeeleSimon, ou des facultes de j’äme< (1780) und Alexis, ou de l’äge d’or< (1782) die Idee der Liebe mit der Vorstellung von der Wiederkehr des goldenen Zeitalters verknüpft. Diese hat er abhängig gemacht von der Ausbildung eines »moralischen Organs«, das zur Aufnahme des Göttlichen befähige, »jene allmählich wachsende, innere Fähigkeit der Empfindung, die in den verborge32 Das Zitat enthält eine aufschlußreiche Korrektur durch die Herausgeber der Historisch-kritischen Ausgabe. Die ältere Lesart lautete »das Amen des Universums«.3 Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, 1965, S. 268.
34
Die Abhandlung erschien zusammen mit Herders Übersetzung von Hemsterhuis’ >Lettre sur
les Desirs< im »Teutschen Merkur«, dann, ohne die Übersetzung, wieder in den »Zerstreuten Blättern< (1785), die sich 1790 unter Hardenbergs Büchern befanden.
Hemsterhuis-Studien
nen Zusammenhang,
in die ewige
Harmonie
und Ordnung
121
des Universums
schon
jetzt sich einzufühlen, alle isolierten Ideen und Vorstellungen zu verbinden und so die
»Coexistenz der Dinge« ahnend zu erfassen vermag«°°. Hemsterhuis hat diesen Zusammenhang als die »moralische< Seite des Universums (la face morale de l’universGlückseligkeit< als höchstem Zweck des Universums Hemsterhuis kritisiert wird durch die »Hervorkehrung eines aktiv-schöpferischen Wesenselementes im Menschen«°°, ein Zug, der wesentlich durch Fichtes Aufforderung
zur Selbsttätigkeit vermittelt ist. 35
Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, 1965, S. 278f£.
36 Mähl: Einleitung. In: II,299-344, S. 314. 37 Der von Hemsterhuis hervorgehobene Antagonismus von Attraktions- und Zentrifugalkraft, der ein Grundgesetz des körperlichen wie des seelisch-geistigen Lebens sein sollte, taucht noch im selben Jahr wieder auf in den Grundkräften der Materie, die sich Novalis notiert aus Eschenmayers »Sätzen aus der Natur-Metaphysik auf chemische und medicinische Gegenstände angewandt« (1797), dem Versuch, zwischen Philosophie und angewandten Wissenschaften (Chemie, Medizin) eine »Natur-Metaphysik< einzuschieben. 38 Die Bedeutung dieser Differenz wird in der Darstellung von Dick: Die Entwicklung des Gedankens der Poesie in den Fragmenten des Novalis, 1967, S. 201-22, verkannt.
39
Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, 1965, S. 281. — Vgl. insbe-
sondere die Notiz zum »Alexis< (IL,372ff.).
4
Diese Differenzen wurden in der älteren Forschung übersehen. Vgl. Lützeler: Novalis und
Hemsterhuis. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 1, 1925, S. 212-221. — Eine originelle Neuinterpretation der Hemsterhuis-Rezeption Hardenbergs hat Stadler unternommen in seiner Arbeit »Die theuren Dinge«, 1980, S. 157-78. Stadler bringt Hemsterhuis’ »moralisches Organ< in Verbindung mit Reflexionen Hardenbergs über das >direkte< und »>indirekte< bzw. »wundertätige< Werkzeug, über das Verhältnis von Mittel und Zweck sowie Teil und Ganzem. Stadler behauptet eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Hemsterhuis und Hardenberg, die sich auf die Vorstellung einer »Beziehung vermittelter Unmittelbarkeit« (155)
122
Das theoretische Werk 1: Grundlegung der Philosophie
Bei Hemsterhuis ist es neben der Liebe vor allem die dichterische Einbildungskraft, die die Wiederkehr des goldenen Zeitalters befördern soll durch ihre besondere
Sensibilität für die Harmonie des Universums. Auch diesen Zug hat Hardenberg in charakteristischer Weise aufgegriffen und umgedeutet. Zum einen bleibt, wie gesagt, die Harmonie eine aufgegebene. Deshalb »bildet« die Dichtung für Novalis die »schöne Gesellschaft, oder das innere Ganze« (11,372:32), während sie bei Hemsterhuis als von Göttern verliehene Sprache des erhabenen Enthusiasmus gedacht wird. Zweitens ist bei Hardenberg die Einbildungskraft nicht ausschließlich eine äs-
thetische.* Die Dichtung aber wird in den Hemsterhuis-Studien, entsprechende Überlegungen aus den »Fichte-Studien< aufnehmend, weiter als transzendentalpoetische Darstellung des »schönen Ganzen« entwickelt. In ihrer transzendentalen, der Dialektik von Schein
und Wahrheit verpflichteten Darstellung »wird die höchste Sympathie und Coactivitaet — die innigste, herrlichste Gemeinschaft wircklich« (II,373:32). Das Vermögen
solcher Synthesis ist schon bei Fichte die Einbildungskraft. Sie schwebt per definitionem zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem und bringt in diesem Schweben ihr Produkt hervor. In diesem Punkt ist Hardenberg Fichte gefolgt. Deshalb ist das, was die romantische Dichtung demonstriert, weniger eine spezifisch ästhetische denn eine allen Menschen »eigenthümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes« (1,287).
Die
Hemsterhuis-Studien
sind
also
in vielfacher
Hinsicht
geprägt
durch
den
Wunsch, Fichte weiterzudenken. Mähl hat zu Recht geurteilt, es sei »das Bestreben unverkennbar [...], den einen der beiden Denker durch den anderen zu interpretie-
ren«*2. Nach der philosophischen Verbindlichkeit des Ergebnisses dieser Wechsellektüre ist aber bisher kaum gefragt worden. Eine solche Untersuchung wäre aber notwendig, weil Hardenberg offenkundig nach theoretischen Erkenntnismöglichkeiten sucht, die die Grenzen Fichtes bewußt überschreiten, andererseits sich aber gegenüber
dem mystischen Neuplatonismus deutlich abgrenzt. Wenn nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, sondern Kontinuität und Kohärenz des Werkes bis zum Beweis des Gegenteils nachgespürt werden soll, dann muß also verständlich gemacht werden, wie die >»Liebe< bei Hardenberg im Unterschied zu Hemsterhuis mit der Betonung der Endlichkeit, den Konzepten des Absoluten und des Ordo inversus sowie der Abgrenzung von der Mystik zu vereinbaren ist und so-
gar zu einem Schlüsselbegriff werden kann.® zwischen Subjekt und Objekt bezieht. Die von Mähl behauptete Kritik Hardenbergs an Hemsterhuis, deren erkenntnistheoretischer Gehalt Stadler entgangen ist, wird weitgehend zurückgewiesen. Das führt, trotz mancher Einsichten über die Bedeutung des »Werkzeuges< bei Hardenberg und des Verhältnisses von Aktivität und Passivität bei Hemsterhuis, für die Novalis-Interpretation zu äußerst fragwürdigen Interpretationen. Vgl. dazu die Diskussion der Arbeit von Stadler im »OfterdingenGedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« (1747), die »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft« (1786) und die soeben mit ihrem 2. Teil erschienene »Metaphysik der Sitten«. Die Lektüre stand im Zeichen eines Rückgangs auf die Ursprünge der Transzendentalphilosophie. Leitend war die Frage, die über allen Studien des Jahres 1797 stand: »Giebt es noch außersinnliche Erkenntniß?« (II,390:46). Mähl hat die entscheidende Bedeutung der Kant-Studien für die Entstehung romantischen Philosophierens betont und die Umdeutungen Kants im einzelnen aufgezeigt.*° Aus der Vorrede zur 2. Auflage der >Kritik der reinen Vernunft« greift Hardenberg zu Beginn seiner Studien die bekannte Passage über die mathematische Konstruktion des Triangels als Beispiel für theoretische Vernunfterkenntnis a priori auf. Diese Form der mathematischen Erkenntnis durch Konstruktion wird dann später häufiger zur Erläuterung des Genies und des >poetischen Philosophen« herangezogen. Bei Kant steht es im Kontext der kritischen Einschränkung des Geltungsbereiches objektiver Vernunfterkenntnis. Hardenberg kommentiert ein entsprechendes Exzerpt dagegen: »Die Vernunft versteht die Natur nur, insofern diese Vernünftig ist — und mithin mit ihr übereinstimmt.« (11,386:44)
Nicht von Kants Natur innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung wird hier gesprochen, sondern umgekehrt von einer für sich bestehenden Natur, von der die Ver-
nunft nur das erkennt, was vernünftig ist. Solche modifizierenden Kommentare zu den Exzerpten sind typisch. So hatte Kant festgehalten, daß das notwendig geforderte »Unbedingte< kein Inhalt theoretischen Wissens und Erkennens sein könne, sondern als transzendenter Begriff von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in die Postulatenleh-
re der praktischen Vernunft, in den Bereich des Glaubens gehöre. Hardenberg deutet demgegenüber die Möglichkeit einer Erweiterung der theoretischen Erkenntnisfähigkeit über die von Kant gesetzten Grenzen möglicher Erfahrung hinaus durch »außersinnliche Erkenntnis< an. Verständlich wird das vor dem Hintergrund der Hemsterhuis entlehnten
»moralischen
Seite des Universums«.
Das Unbedingte
muß
nicht, wie bei
Kant, jenseits der Grenzen der Erscheinungswelt gesucht werden, sondern es liegt in dieser als ihre unsinnliche Seite verborgen. *
Zum folgenden vgl. Mähl: Eine unveröffentlichte Kant-Studie des Novalis. In: DVJS 36,
1962, S. 36-68.
Kant-Studien
125
Mit dieser Neuorientierung hängt eine zweite wesentliche Differenz zu Kant zusammen: eine zumindest teilweise Aufhebung des Unterschiedes zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Mit Blick auf die Erkenntnis des Unbedingten notiert Hardenberg: »Wir erkennen es nur, insofern wir es realisiren.« (11,386:44) Analog ist der
Satz
zu
verstehen:
»Wo
das
Wissen
aufhört,
beginnt
der Glaube.«
(II,387:44)
Hatte Kant behauptet, jenseits des theoretischen Wissens gebe es nur noch die Postulatenlehre, so setzt Hardenberg dagegen einen theoretischen Gebrauch des Glaubens. Gemeint ist damit eben jene schöpferische Erkenntnis durch einen Glauben, der das Wissen weiterführt, indem er konstruiert, was vorerst auf Annahmen beruht.
Wenn man mit Mähl dergestalt die Studien gegen die Vorlage hält, wird das revolutionär Neue gegenüber Kant sofort deutlich. Vor dem Hintergrund der >FichteStudien« aber fallen umgekehrt die Konsistenz und die Sorgfalt ins Auge, mit der bestimmte Grundunterscheidungen durchgehalten werden. Das »Wir erkennen es nur, insofern wir es realisiren< greift eine ähnliche Formu-
lierung aus den Hemsterhuis-Studien auf: »Wir wissen nur, insoweit wir machen« (11,378:39). Die Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben führt die von Anfang an gesehene Dialektik von Reflexion und Anschauung, Gedanke und Gefühl fort, und
die
Betonung
der
»Glaubensconstruction
—
Construction
durch
Annahmen«
(11,387:44) unterstreicht die Unmöglichkeit unmittelbaren theoretischen Wissens vom
Absoluten und den unaufhebbaren Abstand zwischen »Construiren< und »göttlichem Schaffen«. Daran ändert auch eine weitere Akzentuierung der Kant-Studien grundsätzlich nichts,
die Mähl
veranlaßt
haben,
von
der
»Geburtsstunde
des Romantikers
Nova-
lis«*’ zu sprechen. Die Poesie — genauer: die produktive Einbildungskraft - soll die Einheit des theoretischen und praktischen Vermögens sichern. Schon in den »FichteStudien< hatte Hardenberg klar gesagt: »Practische Vernunft ist reine Einbildungskraft« (I1,258:498), und er hatte deren entscheidende Rolle schon dort betont. Jetzt wird, von Kant herkommend, derselbe Gedanke neu entwickelt: »Sollte practisch und
poetisch eins seyn — und lezteres nur absolut practisch in specie bedeuten?« (11,390:45) Und wieder zielt das einerseits auf eine »poetische Behandlung der Wissenschaften< (vgl. III,390:45), andererseits, den spezifischen Zusammenhang zwischen Einbildungskraft und Dichtung nutzend, auf eine sinnbildliche Darstellung des »schönen Ganzen«. Im Blick auf die spätere Enzyklopädistik und das geschichtsphilosophische Werk erscheinen die Kant-Studien vor allem als Versuch, den Ordo inver-
sus über die Verknüpfung werden zu lassen.
47
mit der Postulatenlehre als Methode praktisch wirksam
Mähl: Eine unveröffentlichte Kant-Studie des Novalis. In: DVIS
36, 1962, S. 36-68, S. 68.
Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen
Die 1798 während des Studiums in Freiberg entstandenen »Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen«< setzen den in den »Fichte-Studien< begonnenen Versuch fort, über die Profilierung der Einbildungskraft ein Bewußtsein zu konzipieren, das nicht an der Dialektik von Gefühl und Gedanke
scheitert. Die Affinität zur
Poesie bleibt, läßt sich aber auch umakzentuieren zu einer »poetischen Philosophie«: »Das Po&m des Verstandes ist Philosophie — Es ist der höchste Schwung, den der Verstand sich über sich selbst giebt — Einheit des Verstandes und der Einbildungskraft. Ohne Philosophie bleibt der Mensch in seinen wesentlichsten Kräften uneins — Es sind 2 Menschen - Ein Verständiger — und Ein Dichter. Ohne Philosophie unvollkomner Dichter — Ohne Philosophie unvollkommner Denker — Urtheiler.« (IL531:29)
Geschichtsphilosophisch an der Zeit sei die »Vereinigung« (II,524:10) bloß »mechanischen< und nur >»dynamischen< Denkens durch die Fähigkeit zur »produktiven Imagination« (11,525:13), die es vermag, »sich im Moment des Übergehns von Einem Gliede zum andern schwebend zu erhalten und anzuschauen« (a.a.0.). Dieser Wechsel war schon in den »Fichte-Studien< Ziel und Wesen der »Philoso-
phie kat exochin« (11,525:13). Bereits die dritte Aufzeichnung Hardenbergs hielt das fest und bestimmte als Thema der Philosophie das »Leben«, nicht das reine Absolute: »Solite es noch eine höhere Sfäre geben, so wäre es die zwischen Seyn und Nichtseyn — das Schweben zwischen beyden — Ein Unaussprechliches, und hier haben wir den Begriff von Leben. Leben
kann nichts anders
seyn — der Mensch
stirbt — der Stoff bleibt — das Mittelglied,
wenn ich so sagen darf, zwischen Stoff und Vernichtung ist weg — der Stoff wird bestimmungslos — Jedes eignet sich zu, was es kann. Hier bleibt die Filosofie stehn und muß stehn bleiben — denn darinn besteht gerade das Leben, das es nicht begriffen werden kann.« (ll, 106:3)
Die Bewegungen dieses Lebens als Schwebe zwischen Sein und Nicht-Sein kann, so die »Vorarbeiten«, nur »jene lebendige Reflexion« nachvollziehen, »die sich bey sorgfältige[r] Pflege nachher zu einem unendlich gestalteten geistigen Universo von selbst ausdehnt« (11,525:13). Das ist zu verstehen als eine utopische Projektion oder eine >Construction«: »Es ist der Anfang einer wahrhaften Selbstdurchdringung des Geistes die nie endigt.« (11,526:13)
Damit wäre »das große Räthsel im Grunde gelößt«, die Philosophie wäre »lebendige Theorie des Lebens« und ihre früheren »Hoffnungen und Ahndungen« wären zu »symbolischen Prophezeyungen« (I1,528:19) geworden. Der »iebendigen Theorie des Lebens«, deren Bezug zur als »Eros< gedachten Liebe offenkundig ist, ist Hardenberg weiter nachgegangen über biologische Erklärungen des Lebens durch den organischen Bildungstrieb und über medizinische Modelle von
Vorarbeiten zu verschiedenen
Fragmentsammlungen
127
der Physiologie der Lebenskräfte.*3 Auch die romantische Dichtung bleibt bezogen auf die Darstellung dieses Lebens, deshalb ist die transzendentale Poesie »aus Philosophie
und
Poesie
gemischt«
(11,536:47)
und
arbeitet darauf hin,
»die Gesetze
der
symbolischen Construction der transscendentalen Welt« (11,536:48) zu begreifen. Vor diesem Hintergrund wird die berühmte Definition der Poesie als Teil romantischer »Lebenskunst« verständlich: »Poesie ist die große Kunst der Construction der transscendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transscendentale Arzt. Die Poesie schaltet und waltet mit Schmerz und Kitzel — mit Lust und Unlust — Irrthum und Wahrheit — Gesundheit und Kranckheit — Sie mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke - der Erhebung des Menschen über sich selbst.«(IL,535:42)
Solche »Erhebung« ist also kein Sprung in ein transzendentes Jenseits oder ein philosophisches Nichts und Nirgendwo, sondern der Versuch, den philosophisch konsequent entwickelten
identischen Wechsel,
den Ordo inversus, in der Poesie erfahrbar
zu machen. Die sich in Zeit und Endlichkeit zersetzende Unendlichkeit hat Hardenberg sich auch als philosophischen »Diffferential] und Int[egral]-calcük (IIL,330:448)
verständlich
gemacht.
Jedes Endliche
läßt sich unendlich
zerlegen,
so
daß jeder Teil sich zu dieser Endlichkeit verhält wie diese zur umfassenden Unendlichkeit: »Die Endlichkeit ist das Integral der Einen (Kleinen.) Unendlichkeit — und das Differential der andern (Großen) Unendlichkeit — dasselbe, was Eins ist.« (IIL,291:290) >Eins< sind alle Einheiten sub specie aeternitatis, in Beziehung aufs Ab-
solute. Die gleiche Verbindung zwischen Ordo inversus und Mathematik liegt der berühmten Bestimmung des »Romantisierens< zugrunde: »Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualitfative] Potenzierung.[...] Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles
Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es — Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche — dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt — Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.« (I,545:105) Die besondere
Rolle, die der Einbildungskraft
dabei zukommt,
hat mit der Willkür
der Phantasie, die Hardenberg bei Schlegel ja gerade kritisiert, nichts zu tun. Romantische Poesie wird konzipiert als Ergebnis dreier Vermögen: »Die Vernunft sezt, die Fantasie entwirft — der Verstand führt aus« (IL,544:99). Diese Poetik wird noch in den Gesprächen Heinrichs mit Klingsohr und Sylvester im »Ofterdingen« beibehalten.
# Zur romantischen Symphilosophie vgl. das ironische Bild: »Baader, Fichte, Schelling, Hülsen und Schlegel möcht ich das philosophische Directorium in Deutschland nennen. Es läßt sich noch unendlich viel von diesem Quinquevirat erwarten. Fichte praesidirt und ist Gardien de la Constitution.« (II,529£.:25)
128
Das theoretische Werk 1: Grundlegung der Philosophie
Nur ein einziges Mal spricht Hardenberg in den »Vorarbeiten< vom »magischen Idealism«, und zwar eher beiläufig in einer der Notizen zur Geschichte der Philoso-
phie, die endet: »Von da gehts zu den Schwärmern — oder den transscendenten Dogmatikern — dann zu Kant — von da zu Fichte — und endlich zum magischen Idealism.« (II,605:375) Ähnlich aussagekräftig sind die beiden einzigen weiteren Erwähnungen im Gesamtwerk, zwei kurze Sätze im >Allgemeinen Brouillon< (vgl. 111,315:399 und TI,430:826). Daß der magische Idealismus< trotzdem in der älteren Forschung das Schlagwort zur Charakterisierung Hardenbergschen Philosophierens werden konnte, und zwar bei Freunden wie Feinden, hat, wie gesagt, zum einen wis-
senschaftsgeschichtliche Gründe. Es ist andererseits aber auch darüber hinaus bezeichnend für die Hardenberg-Rezeption. Dem Autor, dessen »Fichte-Studien< kaum bekannt waren und nicht verstanden wurden, wurde immer schon eine besondere Affinität zum Absoluten, zum Jenseits, zur Mystik und Magie nachgesagt, und er wurde dann entweder als orphischer Seher gefeiert oder als phantastischer Schwärmer abgetan. Diese Charakterisierung glaubte sich auf einige Aufzeichnungen stützen zu können, die Hardenberg der Magie als der »Kunst, die Sinnenwelt willkührlich zu gebrauchen« (I1,546:109), gewidmet hat. Manfred Frank hat diese Notizen in einem kla-
ren und bündigen Aufsatz untersucht, der ihre Kohärenz mit der Philosophie des Ordo inversus nachweist und darüber hinaus zeigt, daß Hardenberg der »Magie< sehr kritisch gegenübersteht. Das Thema — Hardenberg als »magischer Idealist< — darf seit-
her als geklärt gelten.* Eine »absolute Magie< kann es für Hardenberg nicht geben, da sie nur im absoluten Ich möglich wäre, von dem das endliche Bewußtsein ohnehin immer nur in der intellektualen Anschauung, nicht im Handeln Zugang hat. Das läßt sich am Kern der Magie, der Rede vom Menschen als Gott, präzise zeigen. »Wir müssen Magier zu werden suchen, um recht moralisch seyn zu können. Je moralischer, desto harmonischer mit G o tt - desto göttlicher — desto verbündeter mit Gott.« (III,250:61) »Gott will Götter« (IL,584:248), um sich in ihnen wiederzuerkennen. Die komplementäre
Forderung lautet dann: »Der Mensch soll ein vollkommnes und Totales werckzeug
Selbst-
seyn« (II1,297:321). Doch auch das ist nur ein Postulat zur Beförde-
rung der »Moralisierung«, und der Gott der Magie ist nicht das Absolute. »Der moralische Gott ist etwas weit Höheres, als der magische Gott« (III,250:60). »Während aber das göttliche Sein noch vor aller Möglichkeit existiert und erst durch einen freien Akt sich zur Selbstrepräsentation entschlossen hat, ist das Ich (selbst auf der höchsten Stufe seiner Potenzierungen nur bis zum Repräsentanten steigend), in dem [...]
alle Verhältnisse genau »umgekehrt< (T1,226:330) sind, wohl ein Symbol des in die Erscheinung aufgefalteten Gottes, seinem Sein geht aber die Möglichkeit voraus (vgl. 11,452:87), die bei Gott liegt.« (105)
Von dieser »absoluten< Magie lassen sich drei weitere Formen unterscheiden. Die »Illusionistische Magie«, »illudierendes Einflußnehmen auf die Dinge durch das Me4 Vgl. Frank: Die Philosophie des sogenannten magischen IdealismusEk-
stase< durch Fichtes logische Selbstentfaltung des Ich. Schon Plotin selbst hatte die ‚Ekstase< als Anschauung des absoluten Einen gedeutet (und dieses wiederum mit einer
von
Hardenberg
ebenfalls
aufgegriffenen
philosophischen
Licht-Theorie
ver-
knüpft). Und er hatte das Wesen des Verstandes als Rückkehr des ersten Wesens auf sich selbst beschrieben, als Reflexion also, durch die das Bild des obersten Wesens, die Intellektualwelt entsteht. Die Beziehung
zu Fichte liegt auf der Hand,
und Har-
denberg setzt denn auch Plotins »Ekstase< mit der »intellektualen Anschauung« gleich. Fichtes Ich-Prinzip in seiner logischen Selbstentfaltung und Plotins höchstes Wesen mit seinen göttlichen Hypostasen entsprechen einander. Allerdings liegt in Plotins ‚Ekstase< etwas, das über Fichtes »intellektuelle Anschauung« hinausgeht und das Mähl nur als »religiöse Entrückung« (193) bezeichnen konnte. Es läßt sich im Kontext der Fichte-Kritik und der Schelling-Rezeption präziser fassen: Hardenberg hat mit Plotin einen über Fichte hinausweisenden Begriff der »intellektualen< Anschauung verbunden, und dieses Hinausweisen bezog sich darauf, daß die »intellektuale Anschauung« für Hardenberg (wie für Schelling) im Unterschied zu Fichte nicht mehr identisch ist mit dem Selbstbewußtsein, sondern eine irreflexive Einheit über allem Bewußtsein verbürgt. Daher kann die »Ekstase< auch den Begriff der »intellektualen Anschauung« als »Schlüssel des Lebens« ablösen: »Ekstase — Innres Lichtphaenomen = intellectualer Anschauung.« (TIL,440:896)
Das »Allgemeine Brouillon«
schaffender Betrachtung< und diese mit dem Spinozismus verbunden werden: »Die Hypostase versteht Fichte nicht — und darum fehlt ihm die andre Hälfte des schaffenden Geistes. Ohne Ekstase — fesselndes,
alles ersetzendes
B[ewußt]S[eyn]
— ist es mit der ganzen Philoso-
phie nicht weit her. (Spinotzas Zweck.)« (II,465:1067) Es ist äußerst schwierig zu erfassen, was Hardenberg hier in immer neuen Anläufen
als »thätigen Empirismusschaffenden Betrachtung«. Mähl hat die Verbindung zu Plotin gesehen und dazu eine weitreichende Behauptung aufgestellt: »Denn aus der intelligiblen Welt Plotins leitet sich in gleicher Weise die geistig erfaßbare Struktur des menschlichen Verstandes als eine Mannigfaltigkeit ihnen adäquater Begriffe ab. Auf diesem doppelten Aspekt der »Ideen< beruht die Möglichkeit der echten Experimentierkunst. Indem der Verstand die abstrakten Begriffe erfaßt und mit ihnen »poetisch« experimentiert, d.h. ihnen durch die Einbildungskraft Bilder zuordnet, versteht er sie >im thätigen, producirenden Sinn«, erkennt in ihnen die bildenden Formen und beseelten Ideen der Sinnenwelt und tritt hinüber in die transzendente Sphäre des schaffenden Grundes, der hinter allen Naturerscheinungen wirkt.« (201)
Daß der Verstand in die »transzendente Sphäre< hinübergeht — und zwar in einem die bisherigen Grenzen der Hardenbergschen Philosophie überschreitenden Sinne - ,
dürfte kaum zutreffen.’
Wie wäre sonst die Überbietung Plotins erklärlich, die Har-
denberg im Brief an Caroline Schlegel vom 20.1.1799 in Aussicht stellt und als »Aheiligen Weg zur Physik« (TV,276) bezeichnet, auf dem Fichte (!) »noch seine Freunde beschämen« werde? Völlig zu Recht hat Mähl ja das Fazit gezogen, dieser Weg sei
»die schon bei Plotin und bei den neuplatonischen Denkern des 16. Jahrhunderts angetroffene >theologische Physik«, die in einem >höhern Style< zur Aufgabe der künftigen Physiker wird.« (205) Dieser >höhere Styl« dürfte untrennbar verbunden sein mit dem Verzicht auf ein Hinübertreten des Verstandes in eine »transzendente Sphäre«. Genauer: Diese seit den »Fichte-Studien« stets mitgedachte Sphäre wird der Horizont bleiben, auf den hin sich die »schaffende Betrachtung« entwirft, der Ermöglichungsgrund für den theoretischen Gebrauch der Postulate und regulativen Ideen. %3 Vgl. schon die einschränkenden Formulierungen bei Mähl selbst: »Diese Welt [des Kunstwerks — H.U.] ist freilich imaginativ hervorgebracht, ist ein »Machwerck«, das aber mit den Naturprodukten verglichen und zum Verständnis der produzierenden, von innen her bildenden und gestaltenden Naturkraft führen kann« (199), und in der entsprechend verfahrenden Physik wisse der Forscher »sich in seinem Erkenntnisprinzip dem schöpferischen Weltgeist verwandt« (203).
134
Das theoretische Werk 1: Grundlegung der Philosophie
An diesem Punkt vor allem scheitern auch die sonst sehr umsichtigen Darlegungen Stefan Summerers zur Fichte-Rezeption bei Hardenberg und Friedrich Schlegel.’* Summerer beschreibt die Philosophie Fichtes, die Spinoza-Rezeption der Frühromantiker und ihre Rückgriffe
auf Hemsterhuis
und Plotin als Versuche,
den Kantischen
Dualismus von Ich und Welt in unterschiedlichen Anläufen zu lösen. Dabei werde der Fichtesche Primat der Handlung durch eine Objektivität des Ästhetischen ersetzt. Das Scheitern des frühromantischen Ansatzes zeige sich am deutlichsten bei der unterschiedlichen Funktion der Teleologie. Hardenberg sei gezwungen, aus Kants regulativer Idee ein »kosmisches Prinzip« (213) zu machen, ein »allgemeines, synthetisches Prinzip, das einer weiteren Analyse des Empirischen überhaupt enthebt« (214). Aus dem regulativen Reflexionsbegriff werde also eine Konstitutive Idee. Das ist sicher nicht richtig. Die Idee einer Selbstorganisation der Natur bleibt eine regulative, und es ist bezeichnend, daß Summerer eine Differenz zwischen Hardenberg und
Schlegel behaupten muß, wo es keine gibt: Novalis sei »trotz aller Kritik am Dualismus der Denkweise Kants verhaftet geblieben« (263). Das komme zum Ausdruck in der Unfähigkeit zur Vermittlung zwischen dem endlichen Ich und einer »genialisier-
ten Vernunft«, die »fähig zur Realisation des Unbedingten« ist (vgl. 265).°° Hardenbergs mißglückter »Romantisierung der Welt durch das geniale Ich« (264) wird dann Schlegels Position gegenübergestellt, die über ein »weiteres Wahrheitskriterium der Spekulation« (263) verfüge, das der Schlegelschen Ironie zugrundeliegende Modell von >Ausflug und Rückkehrpraktische»Hin und her Direction< in immer wieder neuer Terminologie als >»Wechselrepräsentation< oder als Entsprechung von Geist und Natur durchdacht. Die wirkliche Synthese ist auch hier kein möglicher Erkenntnisgegenstand. Sehr pointierte Aussagen zu diesem Thema enthalten die parallei zum »Allgemeinen Brouillon« notierten Bemerkungen zu F.A.C. Grens »Grundriß der Naturlehre« (1797), aus denen hier nur aus einer Passage zitiert sei: »Die Idealische Natur wird uns vielleicht, wie die /dealgr[öße] die Mathematiker, aus den gröBesten Schwierigkeiten ziehn müssen.[...] Eine Wirckliche Natur auf dem Approximationswege construiren.[...] Vollk[ommne] W[ahrheiten] helfen uns nichts — unser x ist eine unendliche Reihe unvollk[ommner] Wahrheiten - je steiler, je besser. Wir wollen die Wahrheit selbst nicht — aber ein relatives Proximum.« (II,174£.)
Von einer erkenntnistheoretisch vergleichbaren Position aus wird im >Allgemeinen Brouillon« das »Experimentiren in Gott« als regulative Idee beschrieben: »Wir werden erst Physiker werden, wenn wir imaginative — Stoffe und Krfäfte] zum regulatl[iven] Maaßstab der Naturstoffe und Kr[äfte] machen.« (III, 448:934) Die absolute Synthesis ist nie konkret herstellbar, sondern, wie unter dem Titel »ENC[YCLOPAEDISTIK]} ausdrücklich festgehalten wird, immer nur Fluchtpunkt indirekter »Construction«: »So
kommt das höchste von Selbst, wenn alle Bedingungen seiner Erscheinung vorhanden sind. (Indirecte Construction der Synthese.) (Die Synthese erscheint nie in
ter
konkre-
Gestalt).« (II,347:488)°’ Das gilt auch dann, wenn das Absolute Gegenstand
der Experimentierkunst wird, sei es nun in der poetischen Konstruktion oder in der ‚Betrachtung Gottes»Mathematischen
Fragmenten
ist zeitlos und geschichtslos« (S.95). Das Absolute ist
immanent in einer Wirklichkeit, die weder logischen noch rationalen Sinn hat. Es gibt also für Novalis weder >Naturwissenschaft«, noch systematisches Wissen, nur ein >Ahnden< vom geheimnisvollen Sein der Dinge ($. 329). Dieses mysteriöse Wesen der Wirklichkeit wird als Zufall, durch Assoziationen und im Märchen intuitiv geschaut.« (312 A.35)
Neubauer wendet dagegen zu Recht ein, daß so Hardenbergs Suche nach systematischem
Wissen,
seine
von
Dick
kaum
erwähnte
»Enzyklopädistik«,
die naturwissen-
schaftlichen Bemühungen und die sehr stringente »Logik< der Dichtungen überhaupt nicht mehr verständlich werden. Statt nun aber die Interpretation von Dick zu verabschieden und mit ihr die These vom immanenten Absoluten — was zu einem Überdenken des Spinoza-Einflusses
führen müßte — , lastet Neubauer das Dilemma
Harden-
berg an: Er sei dem »Zusammentreffen von zwei verschiedenen Traditionen und phi6
Fichte hatte die intellektuelle Anschauung allerdings an anderer Stelle schon früher einge-
führt, in seiner >Rezension des Aenesidemus
System des transzendentalen Idealismussittliche Grazie< gedeuteten ästhetischen Synthesis, die in der ekstatischen »Empfindung« erfahren wird.* 62
Vgl. Strack: Im Schatten der Neugier, 1982.
% Zu Stracks Romaninterpretation vgl. das Kapitel über den »Ofterdingen«. 6 Stracks gelegentliche Hinweise auf Schiller haben Ulrich Gaier dazu provoziert, statt einer Rezension eine kleine Abhandlung zu schreiben und gegen Strack (!) Hardenberg ganz von
Zu einzelnen Aspekten
141
Der Tod Sophies soll dann einmal mehr eine entscheidende Wende in Hardenberg ausgelöst haben, »nicht mehr die indirekte Darstellung des Absoluten im >Herausgehen«
und dessen
sinnliche Konkretion,
sondern
das Vernehmen
des Absoluten
im
Grund wird zum entscheidenden Problem seiner weiteren Überlegungen.« (137) Das Neue soll darin bestehen, daß die »freye Thätigkeit< sich nach 1797 nur noch in der Innerlichkeit des Gemüts abspielt, daß die Produktivität der Einbildungskraft nicht mehr in die Sphäre der empirischen Anschauungen entlassen und daß auf eine »negative< Darstellung des Absoluten verzichtet werde (vgl. 140). Der Ordo inversus wird von Strack dabei stillschweigend fallengelassen — mit der Konsequenz, daß die Argumentation widersprüchlich wird. Einerseits spricht Strack von nur methodisch forcierten »Offenbarungen des Geistes« (144) und teilt mit Frank die Auffassung, daß »Novalis auch nach dem
Sophienerlebnis
[...] nicht zu einer totalen Vermittlung des Ich
mit sich gelangt« (145 A.236). Andererseits soll gelten: »Entscheidend bleibt, daß Novalis die »Grenzepraktischen Tätigkeit< entwickelt. Da begrenzung der praktischen Vernunft entfallen sei, werde ungehemmten Entfaltung des rationalen Subjekts« (176), Moral
zur Welteroberung
ansetzt«
(177). Kurzum:
Die Natur wird zur »Maitresse«
(178) des Geistes und »Moral wird Technik« (183). Dem korrespondiert die vergleichsweise schlichte theoretischen Neugierde««
(189) habe zum
Einbildungskraft ein neues dabei die kantische Selbstdie Vernunft »zur »freien«, das »unter dem Banner der
These,
der
»Dämon
der
»Sündenfall des modernen Bewußtseins«
Schiller her zu lesen. Gaier listet eine Fülle echter oder vermeintlicher Parallelen auf. Die schlichte Umkehr, es gehe bei Novalis nicht um eine Theoretisierung von Moral, Religion und Poesie, sondern um eine Ästhetisierung der Theorie, Moral und Religion, die universalisiere, was bei Schiller in Ansätzen schon zu finden sei, überzeugt allerdings nicht. Gaiers Hinweise zeigen aber, daß eine Untersuchung der Schiller-Rezeption ein Desiderat ist. Gaiers Rezension findet sich in: Arbitrium 3/1983, S. 279-283.
142
Das theoretische Werk 1: Grundlegung der Philosophie
(180) geführt, der allein behoben werden könne durch die »Erkennung
und Achtung
jenes Gesetzes, das über alle subjektiven Interessen und Zwecke erhaben ist.« (181) Die weiteren Ausführungen sollen belegen, daß die in den poetischen Texten häufig gestaltete »Einkehr< in den Grund des Selbst nur »der Stärkung des Eigenwillens dient« (226) und daß auch das Böhmesche Wiedergeburtsschema in diesem Sinne umgedeutet werde. Dabei wird dann natürlich von Strack auch der Ordo inversus anders gesehen: Das von Böhmescher Metaphorik geprägte Traumbad Heinrichs zeuge »nicht
mehr
von
Böhmes
Demutsbewußtsein,
sondern
nur
noch
von
unendlicher
Sehnsucht und von Verlangen nach unendlicher Erweiterung«. (246) Dies alles wird, wie gesagt, gewertet als Ausdruck von Hardenbergs Unfähigkeit, christliche Tradition und kritische Philosophie wirklich zu verbinden — so, als sei dies seine Absicht oder seine Aufgabe gewesen. Die Schuld daran soll letztlich die Hybris einer der absoluten Tätigkeit des Ich unterstellten Einbildungskraft tragen, die zur absoluten, jeder Kontrolle und Grenze enthobenen Vernunft erhoben worden sei. — Eine kaum haltbare These, die sich weniger dem Werk, sondern den Prämissen des Interpreten verdanken dürfte, einer Mischung aus Christentum, Kantianismus, »Dia-
lektik der Aufklärung< und unreflektierter Übernahme der alten These vom subjektivistisch übersteigerten »Fichteanismus< Hardenbergs. Nicht nur Linkshegelianer oder Marxisten dürften Probleme haben, in dem Initiator »konsequenten Planungsdenkens technizistischer und totalitaristischer Prägung« (199) noch Friedrich von Hardenberg zu erkennen. Die Arbeit von Strack legt es nahe, die produktive Einbildungskraft nicht vom absoluten Ich her zu denken, sondern erneut im Ausgang vom Problem der Begründung des Selbstbewußtseins. Manfred
Frank
hat
gezeigt,
daß
die
eigentliche
Entdeckung
frühromantischen
Philosophierens die der Zeitlichkeit des Selbstbewußtseins gewesen ist.6° Noch vor Schelling, F. Schlegel, Sinclair und Hölderlin entwickele Hardenberg als erster die Unmöglichkeit der reflexiven Letztbegründung des Selbstbewußtseins als Philosophie der Endlichkeit, die, aus frühromantischer Sicht hinreichend, als Zeitlichkeit bestimmt
werde. Damit seien strukturell und der Sache nach die späteren Positionen Husserls und Sartres weitgehend vorweggenommen. Ich und Nicht-Ich werden auf Unendliches bezogen, aber nicht als mit ihm identisch gedacht, sondern als unendliche prozessuale Selbstvermittlung: »Den Bewußtseinsmodi >Erinnerung«< und »Sehnsucht« sind Vergangenheit und Zukunft zugeordnet, deren Dichotomie selbst nur ein Ausdruck des als Zeit thematisierten »Mangels< im Innern der Ichheit ist.« (20) Insofern nun die Einbildungskraft als Zeit »nichts ist als der
Prozeß
des
Sich-mit-sich-selbst-Zusammenschließens,
ist die
Einbildungskraft
noch in sich aufs Ewige bezogen. Sie kopuliert das >»Außerzeitliche< mit dem im engem Sinne »Zeitlichen« — ist also selbst nichts anderes als das Offenbarungsgeschehen der Verzeitlichung im Selbstbewußtsein.« (21) Franks Beschreibung der Einbildungskraft als Zeitlichkeit eröffnet die Möglichkeit, die philosophischen Studien mit dem später zentralen Konzept vom »Goldenen 65
Zum folgenden vgl. Frank: Das Problem der »Zeit« in der deutschen Romantik, 1972.
Zu einzelnen Aspekten
143
Zeitalter< zu verbinden. Die »Selbstberührung« der Einbildungskraft erzeugt eine Triadik zeitlicher Selbstvermittlung zwischen Vergangenheit und Zukunft, wobei »die Gegenwart [...] die Schwebung« ist, »gleich einem Gefäße, das einen aufnehmenden und einen abführenden Gang hat« (II,449:942). Gegenwart, »das Differenzial der Funktion der Zukunft und Vergangenheit« (IIL,475:1132), ist also immer nur unvollkommene Synthesis. »Vollk[ommne] Gegenwart« (II,61) wäre zeitloses, ewi-
ges Zugleich von »Starre< und »Flüssigkeit< — wie die zentralen Metaphern Hardenbergs lauten. In dieser »vollkommenen Gegenwart< wären »beyde Opposita gänzlich Jrey« (HI,60). Diese absolute Gegenwart wäre aber gerade aufgrund der »gänzlichen wechselsfeitigen] Durchdringung« (a.a.O.) für uns »insensibel« (a.a.O.). Diese »Sfäre der gebildeten goldnen Zeit« (III,384:634) kann ich nur realisieren, »indem ich die polare Sfäre ausbilde« (a.a.0.) und die in der Gegenwart als Differential hergestellte Kontinuität transparent werden lasse für die vollkommene Gegenwart. Einbildungskraft als Zeitlichkeit zu denken, ermöglicht ferner die Auflösung eines vielfach behaupteten Widerspruchs und die Zurückweisung des »SubjektivismusKraft«.” Was die Kunst, jedenfalls die romantische Transzendentalphilosophie, dem voraushaben soll, ist das Bewußtsein der Täuschung, der bewußte Gebrauch der Wahrheit und Schein verbindenden Einbildungskraft. Romantische
Kunst
KRITIIK].
Über das neuere Princip der Nachahmung
enthält
das
Wissen
um
diese
Dialektik:
»K[UNST]L[EHRE].
der Natur. Realisirung des
Scheins.« (III,244:38)
Die von Roland Heine’! getroffene Unterscheidung zwischen einer >ästhetischen« Transzendentalpoesie Schlegels, die auf die Grenzen der Poesie reflektiere, und einer
»ontologischen« Transzendentalpoesie Hardenbergs, die die Grenzen der Fiktion auflöse und das Symbolische »nicht ästhetisch, sondern ontologisch« (79) definiere, ist daher kaum haltbar. Hier unternimmt der Interpret, um einmal Kant zu variieren, ge-
nau jene »ontologische Erschleichung«, die Hardenberg expressis verbis zurückweist. Kein
Wunder,
wurf endet:
daß die Interpretation
»Novalis
des >Heinrich von Ofterdingen
»Gefühl«, der gegenüber Kant und Fichte behaupteten Möglichkeit außersinnlicher Erkenntnis (vgl. I,390:46). Hardenberg hat sie als ein »Factum« bezeichnet, aber angemerkt: »Darthun läßt sich dieses Factum nicht. Jeder muß es selbst erfahren. Es ist ein Factum höherer Art, das
nur der höhere Mensch antreffen wird. Die Menschen sollen aber streben es in sich Vorstufen zur Dichtung und geht der Fichte-Rezeption in der Verbindung der Einbildungskraft mit Zeit, Zufall und Zeichen nach. In der Sache bringt das wenig Neues.
69
Frank: Die Philosophie des sogenannten >magischen Idealismus«. In: Euphorion 63, 1969,
S. 88-116, S. 93.
”0
Vgl.
II,168:219,
wo
Hardenberg
bild[ungs]K[raft] qua solche« geben.
7!
Heine: Transzendentalpoesie, 1974.
die
Annahme
widerlegt,
es
könne
eine
»Ein-
Zu einzelnen Aspekten
145
zu veranlassen.« (I1,529:21) Der »höhere Mensck« ist derjenige, der in der Erfahrung des Objekts vom
thetischen Moment
absehen
kann, dergestalt, daß ihm
sein atheti-
scher Grund präsent wird. Die gesuchte ursprüngliche Identität des Seins wird nun von Hardenberg als »transzendentale Vergangenheit der Ichheit« (166) gesetzt. Das Begründungsverhältnis wird also durch seine temporale Interpretation mit einer Fiktion verknüpft. In diesem Sinne wird bereits die Notiz über das »Factum« eingeleitet mit der Wendung: »Es giebt gewisse Dichtungen in uns [...]« (IL,528:21). Faktum und Fiktion sind zwei Seiten einer Medaille. Denselben Sachverhalt bezeichnet die für Hardenbergs Poetologie charakteristische Notiz: »Alle Mährchen sind nur Träume von jener heymathlichen Welt, die überall und nirgends ist.« (II,564:195) Schon von
daher ist die dargestellte Vergangenheit im poetischen Werk zunächst als transzendentale Erinnerung, nicht als Realgeschichte zu begreifen. Entsprechendes gilt für die Darstellung der Zukunft, die ja nur den Grund als Zweck liest. Hardenberg hat diesen Zusammenhang mehrfach in die Formel von der »Ewigkeit a parte post und a parte ante« (IL,144:78; 198:280 u.ö.) gefaßt. Die Rolle der »Fantasie« (III,298:327) und ihre Verbindung zur Einbildungskraft hat Küster genauer bestimmt: Als Vermögen der inneren Anschauung der unmittelbaren Einheit von Subjekt und Objekt sei die Phantasie nicht an die Bestimmtheit eines Objekts gebunden und könne so Bedingung für die sinnliche Objektivierbarkeit des Absoluten
werden.’?
Diese
Phantasie bleibe bezogen
auf die Einbildungskraft,
was
ihre Abhebung von der häufig kritisierten freien, willkürlichen Phantasie erkläre. Phantasie und Einbildungskraft »intendieren — als reine Form von Synthesis oder als reines Ideal — einen Endzustand, der im Absoluten notwendig begründet, in der Poesie als ideal möglich, im Geschichtlichen selbst aber unwirklich ist.« (217)
»Unwirklich«, aber nicht unwirksam: »Der utopische Charakter der Einbildungskraft gründet sich nicht auf eine vernunftunabhängige Willkür der Einbildung des Endlichen ins Unendliche, sondern auf die Praktizierung ihrer Synthesis als Vernunftidee im Wirklichen.«
(218) Mit Hardenbergs Worten:
»Practische Vernunft ist reine
Einbildungskraft.« (II,258:498) Überblickt man Hardenbergs Konzeption der Einbildungskraft, ihre Stellung und ihre Funktion im philosopischen Grundriß, sowie die Forschung dazu, dann liegt ein Fazit nahe, das sich bei der Interpretation der poetischen Werke bestätigen wird: Der seit Carl Schmitt gegenüber der romantischen Kunst erhobene Vorwurf des »ästhetischen Absolutismus«’? übersieht entscheidende Voraussetzungen frühromantischer Ästhetik.
Der Vorwurf besagt, daß, um
die Kunst
als Garanten
der Einheit der Er-
fahrung bestimmen zu können, die ästhetische Produktivität als ein Absolutum gedacht werde mit der Konsequenz einer Ästhetisierung des Lebens. Der entscheidende Bruch zwischen der romantischen und der klassischen Kunstauffassung soll dabei in der Überschreitung der von Kant gezogenen und noch von Schiller respektierten Grenzen der Erfahrung liegen. Dieser Vorwurf ist nicht haltbar: 72 Küster: Transzendentale Einbildungskraft und ästhetische Phantasie, 1979. Zu Novalis vgl. S. 188-227. Küster kommt für die Einbildungskraft zu ähnlichen Ergebnissen wie Frank. 73 Vgl. Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft, 1972
146
Das theoretische Werk 1: Grundlegung der Philosophie
1. Bei Hardenberg (und wohl auch Hölderlin und Fr. Schlegel) wird die Anschauung des Absoluten in der Kunst grundlegend anders konzipiert als etwa bei Schelling. Dieser hatte im >System des transzendentalen Idealismus< (1800) die ästhetische Anschauung als die objektiv gewordene intellektuelle und deshalb die Kunst als das einzig wahre Organon der Philosophie bestimmt. Genau diesen Charakter einer Versöhnung aller Gegensätze hat die Kunst bei Novalis nicht. Sie macht die Einheit, das Ganze nur »fühlbar«, objektiviert es aber nicht. Das Kunstwerk schließt bei ihm immer beides in sich zusammen,
Vermittlung und Divergenz, und ist daher immer Aus-
druck der Distanz vom >Seyn«. In dieser Sicht enthält jedes (frühromantische) Kunstwerk immer auch das Bewußtsein der eigenen Vorläufigkeit gegenüber der ans Ende der Zeit projizierten Aufhebung aller Gegensätze. Es gibt also bei Novalis eine selten bemerkte Selbstbegrenzung des Ästhetischen, durch die das Kunstwerk auf die Offen-
heit der Geschichte verweist. 2. Die produktive Einbildungskraft bezieht sich nicht ausschließlich auf die Kunst, sondern gleichermaßen auf die Wissenschaften und — als übergreifender Sphäre — die »Lebenskunst«.
Statt das Leben
zu ästhetisieren, wird das Ästhetische — von »Schön-
heit< ist bezeichnenderweise selten und meist kritisch die Rede - als regulatives Ideal konzipiert, das Praxis anleiten soll.
DAS THEORETISCHE WERK 2: NATURPHILOSOPHIE
Grundlegung
Die einzelwissenschaftliche und philosophische Auseinandersetzung der Romantiker mit der Natur ist eines der schwierigsten und ungeklärtesten Kapitel der Romantikforschung. Bis heute ruft das bloße Stichwort romantische Naturphilosophie« Aversionen hervor wie kein zweites Thema. Die Sache selbst, »Naturphilosophie< als Einheit
von
Empirie
und
Spekulation,
läßt sich heute
kaum
noch
vermitteln,
auch
wenn sie seit kurzem, etwa in ihrer von Schelling vorgelegten Form, im Zusammenhang mit der These von den zwei Kulturen, der Rolle systemischer Beziehungen in der Natur und der Suche nach neuen Denkmodellen für die Beziehung zwischen Mensch und Natur wieder stärker beachtet und aufgearbeitet wird. Die Gründe für die lange Nichtbeachtung sind vor allem in der Wissenschaftsgeschichte zu suchen, in der scharfen Ablehnung der Naturphilosophie durch die seit den 3oer Jahren des 19. Jahrhunderts sich formierenden »exakten Naturwissenschaften. Im Jahrhundert der klaren Scheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, wie sie Dilthey dann auf den Begriff brachte, galt die synthetisch angelegte Naturphilosophie eher als unzulässige Grenzüberschreitung und als die Binnendifferenzierung störendes Relikt. Diese Sicht hat die Einschätzung der Naturphilosophie Hardenbergs, der neben Goethe als der naturwissenschaftlich kompetenteste Schriftsteller seiner Zeit gelten, hinsichtlich seiner philosophischen Qualifikation aber durchaus in die Nähe des jungen Schelling gerückt werden darf, lange bestimmt. Bezeichnend und einflußreich war die von Dilthey selbst entwickelte Novalis-Interpretation: Die Notizen zu Mathematik,
Medizin,
Physik
etc.
seien
wissenschaftlich
wertlos,
hier würden
die Dis-
ziplinen »durch eine grenzenlose Verallgemeinerung zum leeren, durch kein besonnenes Studium gestützten Spiel«!. Stattdessen wird die Bedeutung Hardenbergs für die >Realpsychologie< und damit die Geisteswissenschaften betont. Dabei stützt sich Dilthey auf andere Passagen des theoretisch-philosophischen Werkes, dessen transzendentalphilosophische Fundierung ausdrücklich für belanglos erklärt wird (vgl. 325). Dilthey schrieb in diesem Punkt die Tieck-Legende fort. Ihr waren schon seit dem Tode Hardenbergs alle Zeugnisse kompetenter Freunde, Lehrer und Vorgesetzter hoffnungslos unterlegen. Repräsentativ war die bereits zitierte Reaktion Justinus Kermers auf die Biographie, die August Coelestin Just über seinen Freund und Referendar am Kreisamt Tennstedt veröffentlicht hatte: »Es macht aber eine sonderbare Wirkung und stört doch, wenn man sich den Novalis als Amtshauptmann oder als Salzbeisitzer denkt. Das ist entsetzlich!! Ich hätte mir sein Leben doch viel anders vorgestellt« (an Uhland, !
1810; IV,550).
Dilthey: Novalis. In: Ders.: Das Erlebnis und die Dichtung, 1970, S. 187-241 und S. 323-
326, S. 211.
150
Das theoretische Werk 2: Naturphilosophie
Die erste gründlichere Untersuchung zu den naturwissenschaftlichen Ansichten Hardenbergs wurde 1905 von Olshausen vorgelegt.” Olshausen wies auf fast alle Themenkomplexe hin, die dann z.T. erst in den letzten Jahren intensiv aufgearbeitet wurden: Hemsterhuis und sein »organe morale»Physik« (i.S. der übergreifenden Naturlehre) — Natur als Objekt — zu klären und begreiflich zu machen. Insofern ist romantische Naturphilosophie keine Alternative zur Empirie und auch kein davon unabhängiges Komplement, kein naturwissenschaftlich zu »stützendes< oder lediglich durch naturwissenschaftliche »Metaphorik< illustriertes Ideengebäude, sondern es geht um die verbindliche Klärung fundamentaler Fragen, die sich aus den empirischen Wissenschaften — ihrem Objektverständnis, ihrem Gesetzesbegriff, ihrer Methodologie und Axiomatik — ergeben und ohne deren Beantwortung diese Disziplinen auf unsicherem Boden stehen. Hardenberg hat in Kants »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« (1786) eine der anspruchsvollsten Formen zeitgenössischer philosophischer Reflexion über die Natur kennengelernt. Kant ging es um die Bedingungen a priori, unter denen Materie überhaupt möglich ist. Materie, Natur als Objekt der Naturwissenschaften, wird
dabei
vorausgesetzt.
Die
transzendentalkritische
Analyse
erarbeitet
als
Be-
dingungen dann die Raumerfüllung, die Zurückstoßungskraft und die Anziehungskraft. Hardenbergs Naturphilosophie geht aber, wie jedes romantische Naturverständnis, wesentlich weiter, ihre Fragen teilt sie mit der Philosophie Schellings.® Schelling fragt auch noch nach den Bedingungen a priori der von Kant nicht mehr hinterfragten Grundkräfte, was zu einer bewußten Überschreitung der von Kant gezogenen Grenzen führt, Wie
Materie
(oder Natur)
als Produkt
möglich
ist, das ist eine von Kant
zwar ebenfalls aufgeworfene, von ihm aber für nicht beantwortbar gehaltene Frage. Schelling hat eine solche Erklärung der transzendentalen Genesis der Natur als Produkt versucht. Es lassen sich also drei zusammenhängende, ineinandergreifende und wechselseitig aufeinander verweisende Theorie-Ebenen unterscheiden: die physikalischen Theo8 Novalis kannte außer den Schriften Schellings zur Naturphilosophie auch die früheren Arbeiten »Vom Ich als Princip der Philosophie< (1795) und die »Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus< (1795).
154
Das theoretische Werk 2: Naturphilosophie
rien der Einzelwissenschaften,
die transzendental-analytisch verfahrende
Metaphysik
der Natur (Kant) und die transzendental-synthetisch verfahrende spekulative Rekonstruktion
der transzendentalen
Genesis
der Materie
(»Konstruktion
der Natur»Potenzen< unterscheiden. Das erlaubt nicht nur die Erklärung der Einheit der Natur, sondern erklärt auch die durchgängige Analogie zwischen allem Hervorgebrachten. Das universale Analogiedenken Hardenbergs ist also keine willkürliche, theoretisch ungesicherte Spielerei, sondern eine notwendige Implikation. Es lassen sich unendliche Reihen bilden, die kein Zentrum und kein Ende haben, sondern sich nur perspektivisch ordnen lassen. Alle Potenzen sind gleichermaßen Selbstdarstellungen der absoluten Tätigkeit. Das ist nicht nur für Hardenbergs Natur-, sondern auch für seine Geschichtsphilosophie relevant. Es erklärt, daß und warum die romantische Triade nicht eindeutig bestimmten realge-
° Zu dieser Unterscheidung vgl. Krings, Hermann: Natur als Subjekt. Ein Grundzug der spekulativen Physik Schellings. In: Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Referate, Voten und Protokolle der II. Internationalen Schelling-Tagung Zürich 1983. Hg.v. Reinhard Heckmann, Hermann Krings und Rudolf W. Meyer. Stuttgart, Bad Cannstatt 1985 (Problemata, Bd. 106), S. 111-128.
Grundlegung
155
schichtlichen Epochen zugeordnet werden kann, sondern diese Zuordnungen im Werk beständig wechseln. Hardenberg ist mit dieser Naturphilosophie nicht in vorkritische Ontologie zurückgefallen. Jedenfalls hat er, wie Fichte und Schelling, die absolute, sich in sich differenzierende Tätigkeit nicht als metaphysische Entität vorausgesetzt, sondern als Setzung behandelt, die nur innerhalb der philosophischen Gesamtkonstruktion Sinn macht. Diese Argumentationsfigur wird auch in Hardenbergs Geschichtsphilosophie eingehend entfaltet. Man muß sie kennen, um zu verstehen, daß er nicht »dogmatisch« im Sinne Kants gewesen ist. Ob er in Fichtes Sinn >»dogmatisch< war, ob er also epistemologisch oder transzendental nicht Abgesichertes in seine Philosophie eingeführt hat, das muß hier offen bleiben. Die Beantwortung dieser Frage hängt nicht zuletzt davon ab, was man als zureichende Sicherung ansieht und inwieweit »philosophische Konstruktion< als plausibles und zureichendes Begründungsverfahren gilt.!0 Nicht zureichend geklärt sind auch einige speziellere Fragen. Hardenberg entwickelt Naturphilosophie — anders als Schelling - nicht nur als theoretische, sondern auch als ethische Philosophie. Hier fließt vor allem das auch für die Geschichtsphilosophie wichtige Telologie-Denken Kants mit ein. In dieser Sicht muß praktisch-notwendig die Gesamtheit der Natur als ein nach Zwecken zusammenhängendes Ganzes vorausgesetzt werden, auch wenn das Ganze theoretisch nicht begriffen werden kann. Wie wird das
im einzelnen verbunden mit den von Fichte und Schelling übernommenen Impulsen, mit dem Primat der praktischen Vernunft wirklich ernst zu machen, eine Natur zu denken, in der Freiheit realisierbar ist und eine Geschichte des Selbstbewußtseins zu
explizieren? Schließlich: Wie ist das Verhältnis zwischen der Rekonstruktion der transzendentalen Genese der Natur und empirischem Wissen? Solche Fragen, die sich alle aus der nach der philosophischen Verbindlichkeit des Hardenbergschen Ansatzes ergeben, sind bis heute in der Forschung kaum gestellt, geschweige denn beantwortet worden. Natürlich ist klar, daß Hardenberg wie viele andere
Galvanismus,
Elektrizität
und
Magnetismus
als
Bestätigung
seiner
Ein-
heitsidee gewertet hat, aber was bedeutet das in systematischer Hinsicht? Es sei die These riskiert, daß Hardenberg sich vom »transzendentalen Triumvirat« Ritter-Baader-
Schelling in einem Punkt unterscheidet: Er hielt die hier versuchte experimentelle Verifikation der romantischen Idee einer organischen Einheit der Natur für unmöglich. Anders: Er unterschied wesentlich sorgfältiger zwischen transzendentaler Konstruktion und Empirie. Deutlich wird das vor allem gegenüber Ritter, dessen »Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß im Thierreiche begleite< (1798) Hardenberg kannte und mit dessen Verfasser er seit November 1799 auch persönlich bekannt und befreundet war. Ritters Einheitsbemühungen gipfelten in seinen sinnesphysiologischen Experimenten, die einen elektrischen Ursinn nachweisen sollten, einen Einheitssinn, der allen Sinnesorganen zugrundeliegt und dem auf der Phänomenseite eine Inter10 Zu den Details und dem Anspruchsniveau dieser Diskussion vgl. die Diskussion um Schellings Naturphilosophie wie sie dokumentiert ist in dem Sammelband »Natur und Subjektivität« (vgl. die vorstehende Anm.); dort insbesondere die kritischen Beiträge von Düsing und Lauth.
156
Das theoretische Werk 2: Naturphilosophie
pretation aller Wahrnehmungen als Schwingungen korrespondiert, die, je nach Frequenz, als Licht, Ton, Geschmack oder Geruch erscheinen. So intensiv Hardenberg auch Ritters Ergebnisse rezipiert hat: Letzten Endes lagen zwischen dem elektrischen Ursinn und Hardenbergs »heiligem Sinn< Welten. Und hier dürfte die Antwort auf die bislang offengebliebene Frage zu suchen sein, warum es zwischen Ritter und Hardenberg zwar vielerlei Beziehungen gibt und Ritter sich nach des Freundes Tod als Testamentvollstrecker des »magischen Idealismus< fühlte, warum Ritter aber gleichwohl dem »Novalismus«, der epigonal-empfindsamen Novalis-Nachfolge nach dem Tode des Dichters zuzurechnen ist.!! Die Ergebnisse von Ritters Experimentalphysik mag Novalis als Bestätigung romantischer Naturphilosophie angesehen haben, — an deren Niveau und Reichweite kamen sie gleichwohl nicht heran, sondern sie bedeuteten gleichzeitig ihre Reduktion auf experimentell Nachweisbares. Die vorgefundene dialektische Struktur nur als empirisches Symbol einer absoluten Einheit aller Gegensätze im absoluten Grunde aufzufassen und diesen selbst wiederum nur als ein heuristisches Prinzip zu verstehen — solche sorgfältigen Grenzziehungen blieben Ritter ganz fremd.
Die durch
die philosophische
Konstruktion
entstandene
Verbindlichkeit,
Of-
fenheit und Weite der Naturphilosophie hat er ebensowenig verstanden wie ihre Einbindung in die utopische »Lebenskunstlehre«, in individuelles und staatliches Leben. Gegenüber Schelling sind die Verhältnisse wesentlich komplexer und komplizierter. Hardenberg schreibt am 26.12.1797 an Friedrich Schlegel: »Schelling hab ich kennen gelernt. Freymüthig hab ich ihm unser Misfallen an seinen Ideen erklärt — Er war sehr damit einverstanden und glaubt im 2ten Theile einen höhern Flug begonnen zu haben. Wir sind schnell Freunde geworden.
tendenz in ihm — wahre
[...] Er hat mir sehr gefallen — ächte Universal-
Strahlenkraft — von Einem
Punct in die Unendlichkeit hinaus. Er
scheint viel poetischen Sinn zu haben.« (TV, 242)
Die Begeisterung bezieht sich auf Schellings grundsätzlichen Ansatz, während die Kritik der »Ideen< sich auf die überhasteten Versuche beziehen dürfte, das philosophische Konzept naturwissenschaftlich abzusichern. Hardenberg war zu sehr Philosoph und — im Gegensatz zu Schelling — Naturwissenschaftler, um das zu tolerieren. Hardenbergs Schelling-Kritik geht aber noch weiter. Im Spätsommer und Herbst 1798 setzte er sich gründlich mit Schellings »Von der Weltseele, eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus< (1798) auseinander und schrieb am 9.(?)9.1798 an Caroline Schlegel: »Je tiefer ich in die Unreife von Schel-
lings Weltseele eindringe — desto interressanter wird mir sein Kopf — der das Höchste ahndet und dem nur die reine Wiedergebungsgabe fehlt« (IV,261). Die >Studien< zu Schellings Abhandlung (M,102-114) beiegen Hardenbergs intensive Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Ausführungen in der »Weltseele«. Sie enthalten aber auch das Exzerpt »Erklärung der Einwirckung des Geistes auf den Körper und umgek[ehrt] ist nach Grundsätzen der Transscendentalphil[osophie] unmöglich.«
Il
Diese Frage wird gestellt bei Wetzels: Johann Wilhelm Ritter, 1973, S. 118-120.
Grundlegung
157
medizinischen Kontext noch einen spezifischen Sinn erhält, hat Schulz zutreffend erläutert. Hardenberg sei, bei aller Sympathie, die »Weltseele< als »unreif« erschienen, weil er selbst dabei war, »immer stärker das Einende, Verbindende der Natur zu entdecken, während es Schelling — wenn ihm auch das Gleichgewicht als ein regulatives Prinzip vorschwebte - in erster Linie um den »allgemeinen Dualismus der Natur« ging, um die Duplizität und strenge Entgegensetzung, die sich mit Hilfe des Geistes nicht überbrücken lasse.« (III, 19£.)
Das ist angesichts dessen, was Schelling bis dahin veröffentlicht hatte — in seiner Terminologie eher »Natur-< als »Transzendentalphilosophie< — verständlich. Die Differenz läßt sich noch weiter präzisieren. Novalis exzerpierte aus der »Weltseele< auch die Sätze: »Der Grund des Lebens ist in entgegengesezten Principien enthalten, davon das Eine Positive außer dem lebenden Individuo, das Andre, negative, im Individuum selbst zu suchen ist. Das Negative Princip ist das Individualisirende.« (III,112)
Das wird kommentiert in einer Spätsommer 1798 stammt:
längeren
Aufzeichnung,
die
ebenfalls
aus
dem
»Weltpsychologie. Den Organismus wird man nicht ohne Voraussetzung einer Weltseele, wie den Weltplan nicht ohne Voraussetzung eines Weltvernunftwesens, erklären können. Wer bey der Erklärung des Organism keine Rücksicht auf die Seele nimmt und das geheimnißvolle Band zwischen ihr und dem Körper, der wird nicht weit kommen. Leben ist vielleicht nichts anders, als das Resultat dieser Vereinigung - die Action dieser Berührung. [...] Die individuelle Seele soll mit der Weltseele übereinstimmend werden. Herrschaft der Weltsee-
le und Mitherrschaft der individuellen Seele.« (II,643:453) Hier konzentriert
sich die Kritik
an
Schellings
»Weltseele
System des transzendentalen IdealismusSuite«, »Variationhöheren«, einem »philosophischen Grad«. Das erste Ergebnis einer solchen Potenzierung oder Gradierung etwa der Physik wäre dann die philosophische Physik«, die wiederum Teil der »höheren Wissenschaftslehre< wäre. Werner und Fichte waren wohl die wichtigsten Stützen für Hardenbergs Idee des Zusammenhangs aller Wissenschaften als einer Wechselrelation (vgl. II,269:155 und 111,336:464). In der »Enyzklopädistik< fließen aber noch weitere Argumentationsstränge zusammen, etwa die Gedankenexperimente mit Kants Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori (vgl. IIL388:650) und die Bemühungen um eine mathematische Fundierung des Wissens: »Die Basis aller Wissenschaften und Künste muß eine Wissenschaft] und Kunst seyn — die man der Alg&ber vergleichen kann« (II,257:90). Darin traf er sich mit Lambert, mit dessen »Neuem Organon« er sich ja ebenfalls auseinandersetzte, und mit Condorcet, aus dessen »Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes< (dt. 1796) Novalis eine
Passage über den Infinitesimalkalkül exzerpierte. Die Notizen im Umfeld belegen ein Interesse für den »Gang der Wissenschaften, wie ihn Condorcet hier für die Zukunft entwirft,
seine kühnen
»Combinationen
»Magie< hier einzubringen: »Die magischen WJissenschaften] entspringen, nach Hemsterhuis, durch die Anwendung des moralischen Sinns auf die übrigen Sinne - i.e. durch die Moralisirung des Weltalls, und der übrigen Wissenschaften« (II,275:197). Den Zusammenhang zwischen Mathematik, Enzyklopädistik und Poetik in der Frühromantik hat Neubauer als Teil der Geschichte der dichterischen »ars combinatoria« beschrieben, wobei im Mittelpunkt die frühromantische Aneignung der Leib-
nizschen Kombinatorik steht.” Leibniz hatte die kombinatorischen Arbeiten Ramon Lulls aufgegriffen, die Begriffsbuchstaben durch algebraische Zeichen ersetzt und die Kombinatorik auf die Syllogistik angewendet. Dieser Umformung lag das Interesse an einer »Logik der Er6 70
Mähl: Novalis und Plotin. In: JFDH, 1963, S. 139-250, $. 212. Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik, 1978.
190
Das theoretische Werk 2: Naturphilosophie
findungskunst< zugrunde, die aus Grundbegriffen und ihren Kombinationen bestehen und einen universal anwendbaren und metaphysisch gesicherten Begriffskalkül liefern sollte. Die frühromantische Leibniz-Rezeption hebe das produktive, neues Wissen erzeugende
Moment
der ars combinatoria hervor, das auf der Verbindung
von Erzeu-
gungsregel und Verzicht auf bestimmte semantische Gehalte beruhe: »Das Zahlensystem ist Muster eines ächten Sprachzeichensystems — Unsre Buchstaben sollen Zahlen, unsre Sprache Arythmetik werden« (III,50). Die Notizen zur »Enzyklopädistik«, vor allem die zu d’Alemberts Vorrede, zeigen,
daß die frühromantische Konzeption bestimmt wird durch die synthetisierende Tätigkeit der Einbildungskraft, die auf Gedächtnis und Verstand so bezogen wird, daß eine
»combinatorische< Verbindung von Anschauung und Begriff entsteht: »Das Abstracte soll versinnlicht, und das Sinnliche abstract werden« (II,299:331). Neubauer liest das
als Erweiterung Kants durch Leibniz zugunsten einer neuen »ars inveniendiSinnlichkeit überhaupt«) hat Hardenberg »Plastisirungsmethode« oder »ächte Experimentalmethode« (III,123) genannt. Komplemetär dazu gibt es eine »Begreifungs, oder Erkenntnismeth[ode]«, die »ächte Beobachtungsmethode« (a.a.0.). Ihre Aufgabe besteht »in Bildung reiner Gedanken — in Fixirung des Anschauens (Sinnens) durch Gedanken«
(a.a.O.). Die erste Methode arbeitet mit »Figu-
ren«, die zweite mit »Worten«, d.h. sprachlosen Begriffen. Die Verbindung beider ergibt »Figurenworte«, die »die innern Bilder etc. die IdealWorte der übrigen Gedancken oder Worte sind — indem sie alle innre Bilder werden sollen«. Die »Figurenworte« sind also Bewußtseinsinhalte. Sie können abstrakt bis zur völligen Unbildlichkeit sein, wie z.B. Zahlen, algebraische Buchstaben oder musikalische Töne, es kann auch um vorsprachliche begriffliche Gedanken gehen — eine Möglichkeit, von der Fichte in seiner von Hardenberg studierten Abhandlung »Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprunge der Sprache< (1795) gesprochen hatte -, »Figurenworte< können aber auch nicht-kognitive vorsprachliche Bewußtseinsinhalte sein. Neubauers Rückführung der »Enzyklopädistik< auf eine Leibniz und Kant verbindende Kombinatorik, die Begriffe in der Anschauung konstruiert, wirft viele Fragen und Probleme auf. Was gilt eigentlich als Element des Kalküls? Ein Begriff? Ein Zeichen? Ein Wort? Ein größerer »Begriffskomplex« (81)? Wie ist die Gültigkeit des Kalküls zu sichern? Bei Leibniz sind die Zeichen arbiträr, aber »ihre logischen Bezie71 Hardenbergs Kalkül der Kategorien ist natürlich ganz unkantisch: »Die Kategorieen sind das Alphabet cogitationum humanarum— worinn jeder Buchstabe eine Handlung begreift — eine philosophische Operation - einen höhern (mathematischen) Calcül« (III,281:238). Immerhin gibt es aber gewisse Ansätze schon bei Kant, in seinen Überlegungen zu einer Kombinatorik der Kategorien oder der aus ihnen abgeleiteten Begriffe, den Prädikabilien des reinen Verstandes.
Enzyklopädistik
191
hungen müssen wahre Sachverhalte repräsentieren« (61). Auch bei Hardenberg sollen die »Zeichen [...] den Dingen nur aufgrund einer prästabilierten Harmonie zwischen Bewußtsein und Welt entsprechen« (69). Das ist in dieser Form sicher nicht haltbar. Mit der metaphysischen Erklärung konkurriert daher bei Neubauer die transzendentalphilosophische: »Die physikalische Welt ist eine Projektion des Geistes, nicht
eines
göttlichen
Verstandes
im
Leibnizschen
Sinne,
sondern
eines
transzen-
dentalen Bewußtseins im Sinne von Kant und Fichte.« (103) Jetzt spiegeln die Zeichen »nicht mehr die Verhältnisse der Dinge, sondern die Bewegungen des Bewußtseins« (103).’? Und was ist schließlich mit der »Konstruktion der Begriffe in der An-
schauung a prioric gemeint? Die von Neubauer gebrachten Beispiele, insbesondere die Bedeutung, die Hardenberg Sophie von Kühn zuspricht, lassen sich darauf kaum beziehen. Man wird solche Widersprüche nicht auflösen können, ohne den durch Leibniz und Kant/Fichte bezeichneten Rahmen zu verlassen und Hardenbergs Fichte-Kritik sowie seinen Begriff von >»Construction< hinzuzunehmen. Neubauer hat die Kombinatorik verglichen mit der generativen Grammatik Chomskys, ein ganz erhellender Bezug, der das Verhältnis
von Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur und die Bedeu-
tung der Transformationsregeln anschaulich macht (vgl. S. 91f.). Das Beispiel ist aber außerdem in epistemologischer Hinsicht aufschlußreich. Der Anspruch der generativen Grammatik und der ihr verpflichteten Linguistik ist der, »unter allen denkbar möglichen Algorithmen denjenigen zu finden, der aus möglichst wenigen Grundannahmen die Strukturen jeder möglichen menschlichen Sprache ableitbar macht.«’? — Ein schönes Beispiel zunächst für die von Hardenberg in die »Enzyklopädistik< übernommene Auffassung d’Alemberts »L’esprit syst&matique est l’esprit de Reduction ou de Simplification«
(III,301:336)
und
die Unterscheidung
zwischen
»le veritable
esprit systömatique« und dem bloßen »esprit de systöme«: »Also nicht ein Algorithmus, sondern den Algorithmus, der als theoretisches Modell für die Sprachfä-
higkeit des Menschen gelten kann«’*. Andererseits bleibt es eine offene Frage, ob dieser Algorithmus »der tatsächlichen Struktur im Innern unseres »schwarzen Kastens< »Sprachfähigkeit< isomorph ist« (a.a.0.). Die Struktur dieses Arguments ist völlig analog zu dem, was oben als naturphilosophische Rekonstruktion bezeichnet wurde; das gleiche gilt für die in der Biologie diskutierte teleonome Struktur. Solche Muster lassen sich weder mit Leibniz noch mit Kant begründen. Entsprechendes gilt für die These, die Romantiker hätten »die gesprochene Sprache in eine Tonkombinatorik bedeutungsloser, musikalischer Laute, und die Schrift in 72 Dieser Widerspruch kehrt wieder in Neubauers Bewertung der »Mathematischen Fragmente< (II1,593f.). Sie zeugen »statt von einer transzendentalphilosophischen von einer mystischen Auffassung der Mathematik«: »Die Mathematik ist keine menschliche Konstruktion, sondern eine von Menschen unabhängige metaphysische Wirklichkeit, die nicht konstruierbar, sondern nur durch mystisch-passive Versenkung verständlich ist« (121).
73 Lenerz, Jürgen: Über das Erkenntnisinteresse der Linguistik. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 107, 1985, S. 325-343, S. 340.
74
Lenerz a.a.0.
192
Das theoretische Werk 2: Naturphilosophie
eine Kombinatorik unbestimmter algebraischer Buchstaben verwandeln«
(67) wollen.
»In beiden Fällen zeigt es sich als ein Hauptanliegen der Romantiker, die Sprache als Signifikans von jeglichem Signifikat zu lösen, sie als strukturimmanente Bedeutung zu definieren.« (67) Diese in der Forschung vielfach variierte These bezieht sich auf
die von Hardenberg
in seinen Aufzeichnungen
von Sprache, Mathematik und Musik.
Was
oft angesprochene
Strukturanalogie
hier skizziert wird, ist ein Ideal, das be-
wußt als Gegenpol zu einer engen, abbildrealistischen Sprachauffassung entworfen wird.
Poetisches
Sprechen
bewegt
sich in dem
Raum
zwischen
den beiden
Polen,
deshalb müßte die poetische Kombinatorik nicht als eine der reinen Signifikanten beschrieben werden, sondern behutsamer als Poetik, die sich stärker auf die bedeutungs-
bildende Kraft der syntaktisch-funktionellen Zeichenbeziehungen stützt, auf Kosten des mimetisch-repräsentativen Moments. Diese Sprachform ist wie das Hardenbergsche Interesse an der Kombinatorik letztlich nur zu verstehen, wenn als Horizont die frühromantische Utopie mitbedacht wird.
Sie dürfte, wie das Beispiel der Medizin gezeigt hat, vielleicht sogar die entscheidende Dimension sein, denn nicht ohne Grund sind die bisherigen Versuche, die Kombinations- und Permutationsregeln der Kombinatorik anzugeben, recht dürftig ausgefallen.’5 Die »Enzyklopädistik< war der »Versuch eines Instruments zum ewigen Frieden (im Reiche des Wissens.)« (IIL346:486), und in dieser geschichtsphilosophischen Di-
mension
liegt die entscheidende Differenz zu der Sprachartistik der französischen
Symbolisten, deren Nähe zur Romantik auch von Neubauer betont wird. Deutliche Beziehungen zur Geschichte der Kombinatorik sind vorhanden,
aber
man wird ihnen kaum gerecht werden, wenn man das Eigentümliche von Hardenbergs Theorie-Verständnis, seine »poetische Theorie< nicht berücksichtigt. Hardenberg hat August Wilhelm Schlegel im Brief vom 24.2.1798 die noch gar nicht begonnene »Enzyklopädistik« als »Poesie< angekündigt: »Künftig treib ich nichts, als Poesie — die Wissenschaften müssen alle poetisiert werden — von dieser realen, wissenschaftlichen Poesie hoff ich recht viel mit Ihnen zu reden.« (IV,252) >Poetische Theorie< wäre der
treffende Ausdruck für die Theoriekonzeption, die Hardenberg sich bei diesem Unternehmen erarbeitet. Er selbst verwendet den Terminus einmal im >Allgemeinen Brouillon»complettieren«: »Die vollendete Speculation führt zur Natur zurück. Das ganze Geheimniß des Philosophirens liegt in der generalisirten Baconischen Sentenz — Philos[ophia] abducit et reducit — die Abducktion ist der Reduktion wegen.« (III, 402£.:702) »Poetisch« ist diese Theorie, weil zur Erkenntnis die Einbildungskraft, die Phanta-
sie herangezogen werden muß und weil Subjekt und Objekt der Erkenntnis als in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehend gedacht werden: Beide »machen« sich gegenseitig, so daß der alte Wortsinn von »poein« reaktiviert wird. Diese »poetische< Qualität der Hardenbergschen Theorie soll abschließend noch einmal aus einer anderen Perspektive beleuchtet werden. Der Titel der romantischen Wissenschaftslehre, »Enzyklopädistikdynamisiertobjet« sichernde, aber unbeweisbare metaphysische Voraussetzung seines Systems, die er >instinct< nannte. Nur durch ein solches »Vermögen«, dessen Leistung der Verstand nicht übernehmen kann, ist der Zusammenhang von Außenwelt und Innenwelt zu sichern. Hardenberg greift das auf und setzt an die Stelle des »Instinkts« die Poesie. >Instinkt« ist für ihn »das Gefühl des Bedürfnisses, des Incompletten — ist zugl[feich] das Gefühl des Zusammenhangs, dier] Stätigkeit« (III,442:904). Novalis fühlt sich also durch
d’Alemberts Annahme eines >Instinkts< darin bestärkt, die Poesie an die Spitze der Philosophie zu stellen. Andererseits löst er gleichzeitig das Dilemma des aufgeklärten Enzyklopädisten, gegen unbeweisbare Annahmen des alten Glaubens auf Basis ihrerseits unbeweisbarer Prämissen argumentieren zu müssen, indem er seinen neuen, TOo-
mantischen Begriff vom >Glauben« einfügt, der es ihm gestattet, die Enzyklopädistik eine »scientifische Bibel« (III,363:557) zu nennen. An die Stelle des »instinct< tritt ein »transitorisches — Punctähnliches Ich« (II,442:904), die Wechselbestimmung von Subjekt und Objekt. Philosophiegeschichtlich gesprochen: Unter dem Eindruck Plotins werden die sensualistische Rezeptivität/ Passivität und die fichteanische Spontaneität/Aktivität so miteinander verknüpft, daß die Außenwelt, Fichtes »Material der Pflicht«, als Subjekt, als »>Du< verstanden werden
kann (vgl. III,429£.:820). In diesem System wird aus dem Prinzip der Individuation, indem es sein ewiges »Unbefriedigtsein< erkennt, das »ächte gemeinschaftliche und liberale universelle Prineip — es ist eine Einheit, ohne Schrancke und Bestlimmung] zu seyn.« (IIL,429f.:820) Das vollständig ausgeführte System, von dem Hardenberg mit seiner »Enzyklopädistik< nur die Einleitung, die Methodik, und dann nur noch Hinweise auf den Geist des Ganzen geben wollte, wäre ein »/deen Paradies« (TIL,446:929). Novalis fährt fort: »Das Paradies ist das Ideal des Erdbodens [...]. Das Paradies ist gleichsam üb[er] d[ie] ganze Erde verstreut und daher so unkenntlich etc. geworden — Seine zer-
streuten Züge sollen vereinigt — sein Skelett soll ausgefüllt werden. Regeneration des Paradieses.« (ITI,446£.:929) Diese »Regeneration des Paradieses< war die höchste Aufgabe der »Enzyklopädistikutopischen Überschuß« auf allen Ebenen der Beschreibung wäre gar nicht verständlich geworden, wie z.B. eine >romantische Medizin< sich auf den ganzen Bereich von der Pathologie bis zur Lebenskunstlehre beziehen soll. Völlig undarstellbar mußte in dieser theoretischen Perspektive das vollständige Ineinandergreifen aller Disziplinen und Wirklichkeitsbereiche erscheinen. Bezeichnenderweise dachte Hardenberg sich bereits seine »Enzyklopädistik< als ein Buch, das die verschiedensten Gattungsformen verbindet: »Jedes Stück meines Buchs, das in äußerst verschiedner Manier geschrieben seyn kann In Fragmenten — Briefen — Gedichten — wiss[enschaftlich] strengen Aufsätzen etc. — Einem oder einigen meiner Freunde dedicirt.« (III,450:945; vgl. 11,278:218)
Diese Darstellungsprobleme, die mit einer Abkehr vom Programm oder einer Resignation nichts zu tun haben, dürften das wichtigste Motiv für die Ergänzung der »Enzyklopädistik< durch die Poesie gewesen sein. Die beiden Romanfragmente belegen das. Sie enthalten in Struktur, Thematik und Bildlichkeit so vieles aus Hardenbergs Naturphilosophie, daß sie ohne diese gar nicht zu denken sind.$? Beide Romane zeigen aber vor allem, wie sich dem Helden die enzyklopädische Intention allmählich erschließt,
in den
>Lehrlingen